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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur.
27. Jahrgang.
II. Semester. II. Band.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Friedr. Wilh. Gmnow,)
18K8.
Lwäss Zur l'^peur as ig, Russie. 10. ZÄuäo: 1s Mrimoins An xsuxls L. v.
8odöäo-I>'si'i'0ti. (Lorlin eliW Look. 1868.)
Bei der in Deutschland ziemlich allgemeinen Unbekanntschaft mit russischen
Dingen hat nicht ausbleiben können, daß der Name des Schriftstellers, der
sich hinter dem Pseudonym Schedo-Ferroti verbirgt, in der deutschen Lese¬
welt ebenso selten, wie in der russischen und französisch-belgischen häufig ge¬
nannt worden ist. Seine Studien über die Zukunft Rußlands erregten
gleich bei dem Erscheinen des ersten Bandes (1861) in der gebildeten russi¬
schen Gesellschaft bedeutendes Aufsehen, weil sie trotz der schroffen Stellung,
die sie gegenüber dem alten System einnahmen, die von Herzen ausgehende
radicale Strömung bekämpften und inmitten einer leidenschaftlich bewegten Zeit,
in der nur die Extreme Geltung hatten, die Sprache eines ruhigen und
maßvollen Liberalismus führten und außerdem eine genaue Kenntniß russi¬
scher Zustände und Eigenthümlichkeiten bekundeten. Zu einem der bekann¬
testen in Rußland wurde der Name Schedo-Ferroti's aber erst im Jahre
1864. Während die Fluthen des nationalen Fanatismus gegen das besiegte
Polen dank der Thätigkeit Katkow's so hoch gingen, daß Niemand den
Namen Polen ohne Hinzufügung einer Verwünschung auszusprechen wagte,
veröffentlichte der Autor ein Buch, welches dem Despotismus der Tages¬
meinung kühn die Stirn bot, dem Katkow'schen Uniformitätssystem den
Fehdehandschuh hinwarf und die Unmöglichkeit und Unthunlichkeit der beab¬
sichtigten Russification des ehemaligen Königreichs Polen (von den litthaui-
schen und westrussischen Ländern der alten Republik war nicht die Rede) vom
russischen Standpunkt aus nachwies. Diese Schrift führte den Titel: „Hus
tera-t-on as 1s. ?v1oMe?" (vier Auflagen) und war ein halbes Jahr lang
der Gegenstand fast täglicher erbitterter Angriffe der Moskauschen Zeitung
und ihrer Clientel. Die westeuropäische Presse, namentlich die Journalistik
Frankreichs (die Revue ach äeux monäes widmete der Schrift eine kurze,
aber sehr anerkennende Besprechung) erklärte sich, soweit sie auf die Sache ein¬
ging, einstimmig für Schedo-Ferroti, der die Aufrechterhaltung einer Sonder-
Verwaltung Polens sowie Schonung der katholischen Kirche und der polnischen
Nationalität dringend empfahl. Indem wir noch erwähnen, daß 1867 ein
neuntes Heft der Studien (1,6 UiKilisms en liussie, 2. Auflage) erschien,
welches gleichfalls ein russisches Tagesinteresse in freimüthiger und geistreicher
Weise besprach und den Zusammenhang des sogenannten Nihilismus mit
den excentrischen Nationalbestrebungen nachwies, gehen wir auf des Autors
neueste Schrift über, die ihrem Gegenstande nach sicher die wichtigste von
allen bisher erschienenen Publicationen Schedo-Ferroti's zu nennen ist, weil
sie die Grundlage des russischen Agrarsystems, den ungeteilten Gemeinde¬
besitz behandelt.
Vor wie nach Aufhebung der Leibeigenschaft hat es in Nußland be¬
kanntlich keinen individuellen Besitz des Bauern an Grund und Boden ge¬
geben. Die Gesammtheit aller der Bevölkerung eines Dorfes zugewiesenen
Grundstücke steht im Eigenthum, beziehungsweise im Pachtbesitz der gesamm-
ten Gemeinde und wird periodisch (gewöhnlich alle 9 oder 12 Jahre) zu
gleichen Theilen an alle verheiratheten Gemeindeglieder vertheilt, sodaß
ein Unterschied zwischen selbständigen Bauern und bäuerlichen Knechten,
größeren und kleineren bäuerlichen Bodeninhabern nicht besteht, sondern über
Allen das Gesetz strenger Gleichheit waltet. Diese Verkeilung geschieht ent¬
weder nach der in der Gemeinde vorhandenen Anzahl Seelen oder nach
Wirthschaftseinheiten (Tjäglo's). Im ersteren Fall erhält jeder Hausvater
ein Grundstück, das der Zahl seiner von ihm abhängigen Gemeindeglieder
entspricht, indem per Kopf eine gewisse Anzahl Dessätinen angenommen wird;
im letzteren Fall wird das Areal unter die einzelnen wirthschaftlich selbstän¬
digen Familien vertheilt und jeder Einzelantheil je nach der Zahl der Aspi¬
ranten bei der neuen Vertheilung vergrößert oder verkleinert. Für den Be¬
griff „Tjciglo" gibt es keine authentische Interpretation; während man in
früherer Zeit eine gewisse Anzahl Personen (3—4—S) auf jedes Tjciglo an¬
nahm, versteht man neuerdings in der Regel ein Ehepaar darunter; je nach¬
dem mehrere Familien (z. B. ein Vater mit erwachsenen Söhnen) zusammen
wirthschaften, wird ein einfaches, doppeltes, dreifaches u. f. w. Tjciglo an¬
genommen. Bei jeder Neuvertheilung werden alle neu begründeten Haus¬
haltungen berücksichtigt und einzeln in Rechnung gezogen, da jeder Bauer
ein selbständiger Wirthschaftsunternehmer ist. Die Vertheilung geschieht durch
die Gemeinde selbst; ist der Termin der Neuvertheilung herangerückt oder
Wird auf denselben durch das Vorhandensein neuer noch nicht versorgter
Familien provocirt, so schreitet die Gemeinde zuvörderst zu einer Classifici-
rung des gesammten Ackerlandes. Dieses Ackerland ist je nach seiner Ent¬
fernung von den Wohnstätten (dem Dorf) in nahes, entferntes und ganz
entferntes Land getheilt (unter der letzteren Kategorie versteht man „wüstes"
oder „wildes" Land). Der so classificirte Boden wird dann noch nach seinem
Ertragswerthe abgeschätzt und in „Wannen" oder „Säulen" (provinziell liv-
ländisch: Schnurländereien) getheilt und zwar so, daß jede Wanne einen einiger¬
maßen in jenen Beziehungen homogenen Bestandtheil bildet. Von jeder
Wanne bekommt jeder Antheilnehmer in der Gemeinde vermittelst Verloosung
einen langen schmalen Streifen von 3—6 Faden Breite auf 100—500 Faden
Länge, sodaß der Antheil eines jeden in lauter verschiedenen, von einander
getrennten Streifen besteht. „In jeder Gemeinde" so berichtet Haxthausen in
seinen Studien, „soll es gewandte Agrimensoren geben, die traditionell aus¬
gebildet das Theilungsgeschäft mit Einsicht und zur Zufriedenheit ausführen.
Es wird gerühmt, daß dabei die größte Gerechtigkeit und Billigkeit herrsche
und nie Streit entstehe."
Die Mängel und Schäden dieses eigenthümlichen Systems, dessen wesent¬
lich socialistischer Charakter auf der Hand liegt, leuchten Jedem, der mit dem
ABC der Volkswirthschaftslehre bekannt ist, so deutlich ein, daß sie des
Nachweises kaum bedürfen. Bei dem Mangel alles individuellen Besitzes
am Grund und Boden fällt für die zeitweiligen Parcelleninhaber jedes In¬
teresse, ja jede Möglichkeit eines Interesses an der gesteigerten Produktivität
desselben weg. Da die Pareelle, auf welche der Einzelne sein Capital und
seinen Schweiß verwandt hat, bei der nächsten Neuvertheilung in fremde
Hände kommt, hat der jeweilige Inhaber gar keinen Grund, dieselbe ratio¬
nell oder auch nur ordentlich zu bewirthschaften — die Früchte seiner Melio¬
rationen fallen nicht ihm, sondern seinem muthmaßlichen Nachfolger in den
Schooß. — Eine fernere Folge des Parcellirungssystems ist die Unmöglichkeit
der Herstellung eines wirthschaftlich geordneten Organismus. Der Antheil
des Einzelnen besteht aus einer Anzahl zusammenhangsloser Stücke, zu
deren Bearbeitung ihm nur die eigenen Hände und höchstens die seiner noch
unerwachsenen Kinder zu Gebote stehen — sobald dieselben zu ihren Jahren
gekommen sind, treten sie selbst in die Reihe der bei der nächsten Verloosung
zu berücksichtigenden Personen.
Nur eine Consequenz der wirthschaftlichen Abhängigkeit des Einzelnen
von der Gemeinde ist es, daß die Steuern nicht von den einzelnen Indivi¬
duen, sondern nur von der Gesammtgemeinde erhoben werden, die Glieder
derselben für einander solidarisch verhaftet sind. Für den Trägen, der zah¬
lungsunfähig geworden, wird der Fleißige ohne Weiteres in Anspruch ge¬
nommen, und die Gemeinde, ohne deren Zustimmung Niemand seinen Wohn¬
sitz verändern darf, hat die natürliche Tendenz, ihre tüchtigen Glieder in stren¬
ger Anhängigkeit zu erhalten, ihnen die Entfernung von der Heimath mög¬
lichst zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.
Diese Uebelstände, welche die wirthschaftliche Entwickelung des russischen
Landmanns ebenso verhindern, wie sie seine freie Bewegung und die Nutz¬
barmachung seiner Kräfte schmälern, sind seit Aufhebung der Leibeigenschaft
besonders unerträglich geworden, denn sie haben die wohlthätigen Folgen der
bäuerlichen Freiheit fast völlig erstickt. Nachdem der Arbeitszwang, den die
Gutsherrn in früherer Zeit ausübten, weggefallen, nehmen bei dem Mangel
eines Sporns zu erhöhter Thätigkeit und Production Trägheit und Lieder¬
lichkeit in den russischen Landgemeinden allenthalben zu und es ist eine offi-
ciell anerkannte Thatsache, daß nicht nur die russische, Landwirthschaft seit
1861 erheblich zurückgegangen ist, sondern daß die Hungersnoth des vorigen
Winters wesentlich durch die Lässigkeit des Landvolks verschuldet worden,
das seine Aecker zum Theil unbearbeitet ließ und die in den Magazinen ge¬
sammelten Vorräthe früherer Jahre leichtfertig durchbrachte.
Nichtsdestoweniger hält die Mehrzahl der Anhänger der mächtigen
russischen Nationalpartei an den Instituten des Gemeindebesitzes und der soli¬
darischen Haftbarkeit aller Markgenossen mit schwärmerischem Eifer fest. Sie
sehen darin nicht nur einen Eck- und Grundstein der russischen Volkseigen¬
thümlichkeit, sondern zugleich die Lösung der socialen Frage und die festeste
Garantie gegen die Bildung eines Proletariats. Aus dem Gemeindebesitz
werden ein allgemeines Menschenrecht auf gleichen Antheil am Grund und
Boden und die Verwerflichkeit jedes individuellen Eigenthums an der Mutter
Erde abgeleitet, und nach panslavistischer Vorstellung ist dieses socialistische
Institut die Waffe, mit welcher der slavisch-russische Stamm die Welt erobern
wird, allenthalben von der Masse der Besitzlosen unterstützt und als Befreier
mit Jubel begrüßt.
Das vorliegende Buch bildet unseres Wissens die erste zusammenhängende
und selbständige Behandlung dieses für die Zukunft Rußlands eminent wich¬
tigen Gegenstandes. Der Verfasser beleuchtet die russische Landgemeinde und
ihre eigenthümliche Organisation von der wirthschaftlichen wie von der poli¬
tischen Seite, indem er sämmtliche für und wider dieselbe geltend gemachten
Argumente aufzählt, analysirt hub im Einzelnen beurtheilt. Natürlich ge¬
langt er zu der Corwlusion, daß die Aufrechterhaltung dieses Prokrustesbetts
aller selbständigen Thätigkeit unmöglich sei, wenn sie nicht mit dem Preise
eines vollständigen wirthschaftlichen Ruins in Rußland und ewiger Kindheit
der russischen Landwirthschaft bezahlt werden solle. Sodann geht er in einem
besonderen und sehr ausführlichen Capitel auf die Mittel zur Abhilfe über,
in dem er die Grundlinien eines vollständigen Reformsystems entwirft.
Den seit unvordenklicher Zeit in der russischen Volksanschauung be¬
gründeten Glauben an das Besitzrecht der Gemeinde und die Nothwendig¬
keit ihrer wirthschaftlichen Einheit glaubt der Verfasser nicht direct antasten
oder als Aberglauben bei Seite schieben zu dürfen. Er schlägt vor, das Eigen-
thun der Gesammtgemeinde an ihrer Mark im Princip aufrechtzuerhalten, aber
die Auswüchse desselben wegzuschaffen, die Consequenzen zu ändern und dadurch
dieses nationale Institut allmählich von Innen auszuhöhlen. Während die Ge¬
meinde nach wie vor Eigenthümern des Grund und Bodens bleibt, wird derselbe
nach einer sorgfältigen Abschätzung unter die vorhandenen Gemeindeglieder zum
erblichen Nießbrauch verpachtet und dem Einzelnen das Recht eingeräumt,
seine Parcelle zu veräußern, zu vergrößern oder zu verkleinern. Der Pachtsatz
wird durch die Gemeinde selbst je nach den Bedürfnissen und Abgaben derselben
fixirt, — durch Nichtbezahlung desselben verwirkt der Einzelne sein Inhaberrecht
und mit diesem seine Stimme in der Gemeindeverwaltung. Sache der Ge¬
meinde ist, die vacant gewordenen Parcellen anderweitig zu verpachten. Diese
Umgestaltung bedingt zugleich eine veränderte Stellung der einzelnen Ge¬
meindeglieder zu der Gemeinde selbst. Die solidarische Haftbarkeit für Leistung
von Steuern und öffentlichen Lasten hört von selbst auf, ebenso das Recht
der Gemeinde, ihre Glieder an dem Verzicht auf ihre Parcelle, an dem
Austritt und der Auswanderung zu hindern.
Auf das Detail dieser Vorschläge gehen wir ebenso wenig ein wie auf
eine Beurtheilung derselben — die Hauptbedeutung der Schedo-Ferroti'schen
Schrift beruht darin, daß das Institut des russischen Gemeindebesitzes über¬
haupt zum Gegenstande eingehender Beobachtung und Kritik von berufener
Seite und vor dem gesammten europäischen Publikum gemacht
worden, — daß das Schweigen gebrochen worden ist, mit welchem der Terro¬
rismus der nationalen und panslavistischen Partei dieses angebliche National-
heiligthum bisher zu umgeben und aller eingehenden Kritik zu entziehen
wußte. ^
Wir haben es für Pflicht gehalten, den Inhalt der Ferroti'schen Bro¬
schüre seinen Hauptpunkten nach hervorzuheben. Aus den verschiedensten
Gründen erscheint es wünschenswert!), das Interesse sür den in ihr be¬
handelten Gegenstand auch in weiteren Kreisen anzuregen. Und zwar ebenso
im russischen wie im occidentalen und namentlich im deutschen Interesse.
Der Wahnglaube, der der russischen Landgemeinde eine welterlösende Kraft
und kosmopolitische Bedeutung zumißt, ist wesentlich dadurch gefördert wor¬
den, daß trotz der provocatorischen Weise, in welcher der Gemeindebesitz als
neue Formel der Civilisation ausgeschrieen worden, Niemand im westlichen
Europa eine Erwiderung für nothwendig gehalten hat und der einzige
Deutsche, der davon Act genommen, der Freiherr v. Haxthausen, ein begei¬
sterter Anhänger jener Einrichtung ist. Ohne eingehendere Kenntniß von dem
Wesen und den Eigenthümlichkeiten der russischen Landgemeinde ist ein Verständ¬
niß auch nur für die neueren Vorgänge in Rußland und Polen so gut wie un¬
möglich. Namentlich für Oestreich und Ungarn, woder Kampf gegen den Pan-
slavismus und gegen die Anlehnung der westlichen Slaven an das Russen-
thum auf der Tagesordnung ist, wäre dringend zu wünschen, daß die öffent¬
liche Meinung sich eingehender mit einem Gegenstande beschäftigte, den die
Russen selbst als das Urphänomen ihres Volkslebens bezeichnen*) und der
— nach den Vorgängen in Litthauen und russisch Polen — zunächst unter
den Ruthenen in nicht allzuferner Zukunft eine wichtige Rolle spielen muß.
Wir halten das französische Buch, welches zu den vorliegenden Bemerkungen
die Veranlassung gegeben, für besonders geeignet, die in Rede stehenden Ver¬
hältnisse occidentalen Verständniß zu vermitteln.
Wir führen unsere Leser diesmal zur Vervollständigung des in Ur. 38
gegebenen Bildes der Jahdeanlagen an die Hafenstraße. — Noch stehen
Werkstätten und Magazine um den Binnenhafen nicht da, noch enthält der¬
selbe kein Wasser und wir können daher auf dem Boden des ungeheuern
Bassins trockenen Fußes in den Hafencanal treten, der in ganz kolossaler
Ausdehnung aus dem Bassin gerade nach Osten führt und dessen Sohle in
gleichem Niveau mit dem Boden des Hafenbassins und der Docks liegt. Wie
zwei Berghänge begleiten uns zu beiden Seiten die hohen schwarzen Erdufer
des Canals; fast eine halbe Stunde Weges von der See hat man das Bin¬
nenhafenbassin angelegt, um ein Bombardement von Seiten einer feindlichen
Flotte oder eine wirksame Landung unmöglich zu machen, und so lang mußte
demnach der Camen sein, der von hier in das Seewasser des Jahdebusens
führen sollte. Der eigentliche Hafencanal hat nun im Ganzen eine Länge
von 400 Ruthen, und ohne den zum Binnenhafen gehörigen Theil 310
Ruthen (3720 Fuß), bei sechs Ruthen (71 Fuß) Breite in der Sohle, acht-
zehn Ruthen (216 Fuß) Breite im Wasserspiegel (222—260 Fuß oben, hun¬
dert Fuß in mittlerer Tiefe) und wird beiderseits gegen das umliegende
niedrige Land durch mächtige Deiche abgeschlossen.**)
Wie Binnenbassin und Vorhafen hat auch der Canal 28—30 Fuß Ge°
sammtwassertiefe bei 12 Fuß Wasserstand des Hafenpegels. Während wir
theils auf seiner Sohle, theils rechts auf seinem Rande nach Osten zu gehen,
fällt uns drüben am linken Ufer ein mächtiger Einschnitt auf, wie ein an¬
schließendes viereckiges Bassin, das für den künftigen Liegehafen bestimmt
ist, und hinter ihm schimmert die schöne Caserne herüber sowie Gebäude für
die Hafenoffiziere. Diesseits zieht auch ein enormes Gerüst, von den Ar¬
beitern Kladderadatsch genannt, auf der Höhe des Canalrandes unsere Auf¬
merksamkeit auf sich, von dem aus die herangekarrten wasserdichten Erdschich¬
ten direct in den Flankengraben des Canals gestürzt werden, um diesen vor
dem jetzt fortwährend durchsickernden Wasser zu schützen. Weiterhin passiren
wir die auf dem Südufer des Hafeneanals selbst gelegenen einfachen niedrigen
Häuschen mit Wohnungen und Bureaux der Hafenbau-Techniker und Be¬
amten, an die sich hinten das Lazarett), eine kleine Schule und Arbeiter¬
wohnungen anschließen. Diese Gebäude konnten so nahe der See angelegt
werden, da eine Gefährdung derselben nicht zu erwarten stand und auch
wenig geschadet hätte, und sie mußte andererseits der See so nahe sein, damit
die Techniker bei den Arbeiten der Hafeneinfahrt stets zur Hand und die Ge¬
bäude selbst den späteren Werftanlagen am Binnenhafen nicht im Wege
waren. — Nach einer Strecke macht der Hafencanal eine kleine Biegung
nach Süden hin und läuft dann geradeswegs ostsüdöstlich der See oder viel¬
mehr dem Jahdebusen zu. Er durchschneidet dabei den großen Deich, welcher
bisher, an dieser Stelle von Nordost nach Südwest laufend, das Jahdegebiet
vor den Fluthen der See schützte und tritt dann auf das Außendeichland
hinaus, welches, früher ganz ungeschützt, sich flach in die See verliert.
Nach unserer Beschreibung der Situation des Jahdebusens bildet dessen
nördliche Kante eine von West nach Ost laufende gerade Linie, und da der
Ausstrom aus der Mitte dieser Kante nach der offenen See gerade nord¬
wärts läuft, bleiben zu beiden Seiten desselben rechtwinklige Ecken stehen.
Auf der westlichen folgt nun der das Land gegen die See schützende ursprüng¬
liche Deich den Conturen des Landes nicht bis zur Spitze, sondern er schneidet
die Ecke ab und läßt also die Spitze als rechtwinkliges Dreieck ungeschützt
stehn. Diesen Winkel, den dauensfelder Groden, hat nun die preußische
Regierung durch zwei „Schutzdeiche"abgeschlossen, welche von der Spitze als
Katheten des Dreiecks gerade nach Norden und nach Osten gehn und in dem
alten Deich, soweit er nicht die Ecke abschneidet, beiderseits ihre gerade Fort-
sehung finden: wo jedoch dieser die Hypotenuse des Dreiecks bildet, bricht
fast durch seine Mitte der aus dem Binnenland kommende Hafencanal
und geht (zuerst Hafencanal, dann Vorhafen, dann Hafeneinfahrt genannt)
gerade auf die Spitze des rechtwinkligen Dreiecks los (gleichsam als dessen
mathematische Höhe), indem er beiderseits von zwei Erddämmen („Flügel¬
deichen") begleitet wird, welche in der Spitze selbst mit den beiden Schutz¬
deichen zusammen laufend als Molenköpfe so zu sagen die Pfosten des Ein¬
trittsthors zum ganzen Hafen bilden. Doch sind diese Flügeldeiche (je 240
Ruthen I., 28 Fuß über der mittleren Ebbe des Jahdepegels)") nicht genau
parallel, sondern in ihren Ausgangspunkten (die in dem die Ecke abschneiden¬
den Hauptdeich liegen) zweihundert Ruthen von einander entfernt und con-
vergiren dann natürlich nach der Spitze des beschriebenen Dreiecks, ohne
indessen bei dieser zusammenzutreffen, da die Wasserstraße zwischen ihnen hin¬
durchgeht und behufs Gewinnung von Platz für die Baugruben zu der Ein¬
fahrt und dem Vorhafen ihre Enden mit einem Kreisbogen ausgeweidet wer¬
den mußten. Sie schließen außer dem Canal auch noch ein Stück des dauens-
felder Grodens ein und beschützen es. — Die oben erwähnten Schutzdeiche laufen,
als Katheten des dreieckigen Außendeichlandes, etwas außerhalb seiner Grenze
im Watt, auf dem zur Fluthzeit überschwemmten Meeresboden. Der eine
geht von der heppenser Batterie bis zur Spitze des dauensfelder Grodens,
der andere von hier bis zum bandter Groden. Sie haben zusammen 427,000
Thlr. (bis Ende 1866 362.000 Thlr.) gekostet und sind außer zum Schutz
des Ufers auch zur Beförderung der Verschickung des Watts bestimmt: denn
da sie in der Mitte durchbrochen sind und je einen Durchlaß haben, ermög¬
lichen sie ein Ansetzen des Schlicks auf ihrer Binnenseite und vermindern
somit einerseits die Gefahr der Verstopfung in der Hafeneinfahrt, während
sie andererseits Land gewinnen und den Groden stärken helfen, indem sie den
dahinter liegenden Damm als Wellenbrecher schützen. Natürlich sind beide,
da der Fluthandrang auf sie wirkt, (welcher bis Ende 1866 ihnen Be¬
schädigungen verursacht hat, deren Ausbesserung 29.000 Thlr. kostete) ganz
mit Steinen beziehentlich Steindämmen bekleidet, und hinter dem südlichen
ist außerdem von seiner Lücke gerade auf das Land los im Waldboden eine
Rinne dreizehn Fuß tief ausgebaggert, welche als „interimistischer Liege¬
hafen" dient, d. h. als Zufluchtsort für die Vermessungsfahrzeuge und für
die Bagger der Rhede. und of die Kauffahrteischiffe, welche Holz, schwedischen
Granit. Steine u. s. w. bringen, ihre Ladung löschen oder fassen können.
Auf dem Flügeldeich zunächst dem Liegehafen, der 43.000 Thlr. gekostet hat,
befindet sich auch das Stationshäuschen der Lootsen (deren Gehälter übrigens
seit 1865 mit 3230 Thlr. etatifirt sind) mit wehender norddeutscher Lootsen-
flagge, und von hier bis zum Hafeneattal lagern gewaltige Materialmassen.
Die Wasserstraße zum Binnenhafen durchbricht den alten Deich als
„Hafeneanal" von 216 Fuß Breite mit Erdböschungen und geht dann ge¬
rade fort; plötzlich verengt sie sich, wir Passiren die 60 Fuß breite Binnen¬
schleuse mit kolossalen Eisenthoren und prachtvollen Steinpfosten und finden
hinter derselben die Wasserstraße bis auf 400 Fuß verbreitert. Dieser Theil
— 600 Fuß lang — ist der „Vorhafen", zur ersten Aufnahme der
Schiffe bestimmt und natürlich von gleicher Tiefe wie Hafeneanal und
Binnenbassin. Gewaltig erhebt sich der saubere Steinbau dieser massiven
Quaimauern, die schon seit mehr als Jahresfrist völlig vollendet sind und
mit ihren Krönungen einen stattlichen Anblick gewähren. — Wir Passiren
den Vorhafen bis zu seinem äußeren Ende, dann die Außenschleuse, wo die
Deiche anschließen, und haben nun vor uns ein neues, dem Vorhafen ganz
ähnliches Bassin, den letzten Abschnitt der Hafenstraße. In einer Breite von
ca. 350 und einer Länge von ca. 700 Fuß zieht es sich zwischen den impo¬
santen, völlig vollendeten, senkrecht abfallenden hohen Quaimauern dahin:
es ist aber am Ende nicht abgeschlossen, in voller Breite von 240 Fuß tritt
die Wasserstraße zwischen den beiden mächtigen Vorköpfen in die Jahde hin¬
aus. Diese „Hafeneinfahrt" hat natürlich gleiche Tiefe wie Vorhafen, Hafen¬
eanal und Binnenbassin und seine Wände (28 Fuß hoch über der Ebbelinie)
gehen nicht blos bis zur Grenze von See und Land, sondern noch ein weites
Stück als Molen in den Jahdeausstrom hinein, bis auf 9 Fuß Tiefe unter
dem Ebbeniveau, wo sie auf das Watt bis auf 30 Fuß unter dem gewöhn¬
lichen Hochwasser (12 Fuß des Hasenpegels) gegründet, in kolossaler Breite
und Höhe und macht! ^r Wölbung in dem halbrunden Abschluß als gewal¬
tige „Vorköpfe" mitten im Strom enden, wie breite runde Festungsthürme
einer mittelalterlichen Stadt. -
Die massiven Umfassungs- und Quaimauern*) haben mit den Hafen¬
dämmen (Quais der Hafeneinfahrt) und Vorköpfen zusammen nicht weniger
als 1680 Fuß Länge (wegen der Biegung bei den Schleusen u. s. w.)").
Wenden wir uns jetzt noch einmal zu den beiden Schleusen zurück, von
denen die eine, die Binnenschleuse, den Vorhafen gegen den Hasencanal, die
andere, die Außenschleuse, aber denselben gegen die Hafeneinfahrt abschließt
und damit dem dahinter liegenden Vorhafen stets 12 Fuß Wasser des Hafen¬
pegels , also die mittlere Fluthhöhe sichert. Beide sind vollständig gleich
(Länge zwischen den Stirnmauern 142^2 F-, Höhe der Mauerkrone 28 F.,
Kosten zusammen 1,236,000 Thlr.). Jede hat ein paar Fluth- und ein paar
Ebbethore, die des Bohrwurms wegen von Eisen sind, und ihre Fundament¬
sohle, die infolge des schlechten Sandgrundes auf Belon gegründet werden
mußte, liegt 41 Fuß unter dem gewöhnlichen Hochwasser von 12 Fuß des
Hafenpegels, damit der Unterdrempel (untere Horizontalbalken eines Rah¬
mens) 27 Fuß unter Hochwasser kam und so bei 66 Fuß lichter Weite
zwischen den Thorsäulen auch den größten Panzerschiffen Eingang gestattete*).
Von den erwähnten eisernen Doppelthoren springt das Fluththor nach außen,
das Ebbethor nach innen vor, sodaß sie durch den Druck des Wassers selbst
geschlossen werden. Die Thore bestehen aus hohlen Zellen von starkem
Eisenblech, in drei nebeneinander liegenden Abtheilungen, und die zu jeder
Abtheilung gehörigen Zellen communiciren von oben nach unten durch Maur¬
ischer mit einander. Dieselben sind zur Beschwerung mit Wasser gefüllt, so¬
bald sie fertig waren; das Oeffnen und Schließen der Thore geschieht durch
Menschenkraft mittelst Ketten und Vorlegehaspeln, doch wünscht man diese
Einrichtung älterer Construction durch eine hydraulische Maschinerie, wie in
Geestemünde und bei den meisten anderen modernen Hafenanlagen, ersetzt zu
sehen. Uebrigens klang in der Zeit, wo die Thore eingesetzt und vermietet
wurden, wochenlang ein dumpfes und doch schmetterndes Dröhnen über die
ganze Hasenanlage dahin, daß man in der Nähe einer Eisenschiffbauanstalt
zu sein glaubte.
Da, wo die convergirenden Deiche mit den Quaimauern zusammen¬
treffen , ist auf jeder Seite der Einfahrt im Winkel ein halbkreisförmiger
kleiner durch Erdwall und Kehlpallisadirung gedeckter Geschützstand ein¬
gerichtet, der kaum über die Deichkrone hinwegschaut und die Einfahrt
durch Frontalfeuer schützen soll. Vom Deich aus aber hat man einen präch¬
tigen Ueberblick über die weite Wasserfläche des Jahdebusens und die Hafen¬
arbeiter auf dem Groden. Zu unseren Füßen plätschern die Wellen in der
Hafeneinfahrt und um die Mauern der Vorköpfe; hinter uns nach Westen
hin begrenzen die langgestreckten monotonen Dämme den Horizont, und
diesseits in dem durch Deiche coupirten Terrain tummeln sich die Schaaren
der Arbeiter. Vor uns aber zieht der breite Jahdeausstrom von rechts nach
links dahin, jenseits in einer Ferne von 6000 Schritt durch das flache Ufer
von Eckwarden begrenzt, und dieser Strom, dessen Ende nach Norden wir
nicht absehen können, geht an der Spitze des Ufers, auf der wir stehen,
selbst in den Jahdebusen über, dessen Wasserfläche in kolossaler Breite weit
nach Süden hinabreicht; die Tiefe desselben, in !der Mitte 10—11, an der
Südspitze 4 Faden, soll streckenweise 20 Faden d. h. 120 Fuß erreichen.
Ein Arm der tiefen Stelle geht bis nach Eckwarden hinüber, ein zweiter
geht nach Süden bis nach Arngast herunter, und das Gros bildet ein um¬
fängliches Bassin an der Südküste des preußischen Etablissements. Der weite
blaue Spiegel bildet hier eine kostbare Rhede, die man nicht mit Unrecht
Brest und Portsmouth hat an die Seite stellen wollen.
Von unsrem Aussichtspunkt auf der Mole steigen wir auf einer Treppe
herab zu dem Hauptfangedamm, einem gewaltigen rostartigen, massiven
Balkengerüst, das sich vom Lande aus um den Molenkopf herum und quer
vor der Einfahrt wegzieht, bis es am andern Molenkopf vorbei wieder ans
Land anschließt. Wir wandern den ganzen Fangedamm entlang und haben
von hier einen höchst stattlichen Anblick der Hafeneinfahrt mit ihren Vor¬
köpfen von der Seeseite, wie man sie künftig nur vom Schiffe aus wird
sehen können — denn der ganze Damm ist provisorisch. Er hat viel Geld
und Mühe gekostet; mehrmals haben bei Sturmfluthen die Wellen das müh¬
same Werk von Monaten in einer Nacht durchbrochen und fortgeschwemmt:
jetzt aber ist die Natur bezwungen. Uebrigens sind wir Norddeutschen es
nicht allein, die in dieser Beziehung von der Ungunst der See zu leiden ge¬
habt haben: auch die große Schlußmole (äiFue.) des Hafens von Cherbourg
ist von der See mehrmals im Bau gestört oder -zerstört worden und noch
vor Kurzem ist den Engländern eins ihrer mitten in der See zum Schutz
der Rhede von Spithead errichteten Forts sast ganz, unterwühlt .worden und
eingestürzt. — Wir wandern um beide Molenköpfe herum, besteigen den
Deich, der gerade nach Norden der offnen Nordsee zuführt, und werden
nun innerhalb der Flügeldeiche der Schmieden und der Blockhäuser,
welche den Arbeitern als Wohnung dienen, innerhalb des Hauptdeichs aber des
Commissions-, des Speisehauses und der Hafenwache inne und bemerken gleich¬
zeitig, wie man auf den Schutz der Einfahrt bedacht ist, indem nicht weniger
als drei Schanzen hier angelegt sind oder werden, unweit des umwallten
Pulvermagazins in der grünen Marschfläche, das der Nässe wegen verlegt
werden mußte. — Einen mannichfaltigeren Anblick haben wir aber, wenn wir
von den Molen auf dem Deich gegen Osten schreiten. Hier präsentirt sich
in der durch Brechung der Deichlinie gebildeten kleinen Bucht der proviso-
rische Liegehafe, in welchem sich mehrere kleine Dampfer und Bagger so¬
wie eine Anzahl Kauffahrteischiffe befinden, welche Materalien herbeibringen;
reges Leben herrscht hier: durch ein Thor (Scharte) im Deich schafft man
die Steine nach den Wänden des Hafencanals hin, über dem bunten Ge¬
wirr aber erhebt sich hoch die Flaggenstange der Lootsenstation (vorläufig
sieben Lootsen) mit der norddeutschen Ankerflagge (2 blaue Anker links unten
im Feld). An dieser Stelle d. h. an der Nordseite des breitesten Theils
des Jahdebusens wird man vermuthlich auch dereinst den Handelshafen an¬
legen, wenn die Verhältnisse so weit gediehen sind und die Ansiedlung des
Kriegshafens sich von den jetzigen Verwaltungsgebäuden südlich bis an das
Wasser erstreckt haben wird. Handelshafen und Kriegshafen sind dann ganz
von einander getrennt, wie es die Praxis als das Zweckmäßigste gezeigt hat,
die Befestigungen der Mündung oder vielmehr Rhede des Kriegshafens decken
zugleich den Handelshafen vollständig mit, und die Tiefe des Fahrwassers
gerade an dieser Stelle wurde uns, wie oben erwähnt, von Erfahrnen sehr
gerühmt; für Schiffe die nicht in den Kriegshafen wollen, ist hier eine präch¬
tige Rhede, von großer Tiefe und mit Schutz vor allem directen Einfluß der
Winde. (Allerdings könnten dann feindliche leichte Schiffe dem Binnenhafen-
hier viel näher kommen, als 450 Ruthen, eine Distanz, die man doch sür
so nothwendig gehalten hat, daß man lieber den theuren langen Hafencanal
bauen als sie missen wollte.) — Der Kriegshafen selbst aber wird für die
deutsche Nordseeflotte eine vorzügliche Station bilden, namentlich da die ört¬
lichen Verhältnisse eine Ausdehnung der Bassins nach Norden und vollends
nach Westen gestatten, wenn auch bei der Nothwendigkeit künstlicher An¬
lagen und den Wasserverhältnissen der Hafen nie so geräumig werden wird
als Kiel mit seinem natürlichen Bassin. Doch liegt die Jahdestation wieder
strategisch günstiger: denn eine Flotte auf dieser Station beherrscht die
sämmtlichen deutschen Flußmündungen der Nordsee.
Was übrigens die Arbeiten am Jahdebusen angeht, so ist für Weg¬
schaffung der Erde das Baggern nachdem Wasser eingelassen ist, dem Graben
bevor Wasser eingelassen ist ebenso vorzuziehen wie beim Suezcanal. Denn
obgleich jeder Schöpfeimer des Baggers bis zur Wasserfläche eine Masse
Wasser mit emporheben muß, während dem Grabenden die freie Luft keinen
nennenswerthen Widerstand entgegensetzt, so ist doch die Arbeit insofern viel
günstiger, als unter Wasser das Gewicht der Schlickmasse bedeutend geringer
ist. Man hat deshalb beim Suezcanal, selbst als die Sohle desselben noch
zehn Fuß über dem Meeresspiegel lag, dennoch das Wasser des höherliegen¬
den Süßwassercanals hingeleitet, um mit Baggern arbeiten zu können.*)
Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Geschichte des Baues
zurück, die um so interessanter ist, als man bisher vielfach geglaubt hat, die
Langwierigkeit und Kostspieligkeit der Bauten habe ihren Grund in mangel¬
hafter Leitung. Wie wir oben erwähnten, konnten vor Feststellung des defi¬
nitiven Plans nur vorbereitende Arbeiten in Angriff genommen werden:
sobald 1866 die Feststellung erfolgte, ging man rüstig ans Werk. Es war
vorab bestimmt, daß die Mündung des Hafens in die Spitze des dauens-
felder Grodens gelegt werden sollte, wo sich das tiefe Wasser (über 10 Faden
^ 60 Fuß) dem Lande am meisten nähert, daß von hier aus Hafenein¬
fahrt, Vorhafen mit zwei Schleusen und Anfang des Hafencanals gerade
nach Nordwesten geführt und der letztere dann gebogen und 3600 Fuß ge¬
rade nach Westen weitergelegt werden sollte, um in einem Binnenhafen, der.
von massiven Quaimauern eingefaßt und von den nöthigen Werkstätten und
Magazinen umgeben, das „Marineetablissement" bilden sollte, seinen Abschluß
zu finden. Natürlich waren auch die Dimensionen aller dieser Theile be¬
stimmt sowie die Anlage von Schutzbauten für den Groden gegen die See,
und zugleich war festgesetzt, daß die nur für die Zeit des Baues benutzten
Wohnungen der Beamten, Baumeister, Lootsen und Steuerleute mit Lazareth
und Schule dahinter auf dem Südufer des Hafencanals ihren Platz östlich der
Werkstätten und Magazine finden sollten. In den sechs Jahren nun von
1857—1862 wurden eine ganze Anzahl Arbeiten von unscheinbarem Aeußeren
aber grundlegender Wichtigkeit fertig. Die beiden steinernen Schutzdeiche,
welche im rechten Winkel divergirend dem dauensfelder Groden eine feste
Grenze geben bis zu ihrem Anschluß an die Eckpunkte der Hauptdeichfront
waren schon 1865 begonnen und wurden 1861 vollendet; sobald die An-
schlickung ein genügendes Maß erreicht hat, soll der Hauptdeich, der jetzt die
Ecke abschneidet, dicht hinter sie verlegt werden und dann den ganzen
dauensfelder Groden beschützen, dessen theilweise Eindeichung beim Anfang
des Baues in einer Länge von 420 Ruthen 160.000 Thlr. gekostet hat
(Flügeldeiche). Ein anderes Werk von allergrößter Wichtigkeit, das wir
bisher noch nicht näher besprochen haben, weil es nur provisorischer Natur
ist und mit Eröffnung des Hafens spurlos verschwunden sein wird, ist der
gleichfalls beim Anfang des Baues zum Schutz der Baustelle begonnene
Hauptfangedamm, d. h. ein doppelter Fangdamm aus Spundwänden,
dessen Erbauung und Unterhaltung beziehentlich Wiederherstellung bis Ende
1866 fast 339.000. bis jetzt sogar 342.000 Thlr. (Anschlag) gekostet hat.
Man war nämlich behufs Herstellung der Hafeneinfahrt und ihrer Vorköpfe
d. h. ihrer Fundamentirung und Ausführung genöthigt, gerade vor der
Spitze, in welcher die Hafeneinfahrt liegen sollte, eine Pfahlwand in den
Meeresgrund zu rannen, welche ein fast kreisförmiges Bassin vor dieser
Spitze und die letztere selbst mit einschloß. Erst nach Auspumpung des
Wassers aus diesem Bassin war es möglich, vor der Spitze auf dem Meeres¬
grund die Fundamente sür Hafeneinfahrtsmauern und Vorköpfe zu legen.
Natürlich wurde diese Fundamentirung und die Aufführung der Mauern bei
jeder Sturmfluth, welche den Fangedamm gefährdete, erheblich bedroht, und
die Wuth von vier ausnahmsweise hohen und gewaltigen Wintersturm-
fluthen hat denn auch oft die Arbeit gestört und außerdem, namentlich in
den Jahren 1860 und noch mehr 1864 beträchtlichen Schaden gethan. Aber
wenn auch mit Schwierigkeit, ist es doch 18S9 glücklich gelungen, den Damm
zu vollenden und späterhin den angerichteten Schaden wieder auszubessern,
wobei allerdings die Reparaturen im Jahre 1860 42,000 Thlr, gekostet
haben. Jetzt nun ist die Hafeneinfahrt vollendet-und vermag jedem Sturme
zu trotzen, der Fangedamm. der eben nur zur Abschließung des Bauplatzes
bestimmt war, hat seine Dienste vollständig gethan und wird demnächst be¬
seitigt werden. Da er die Hafeneinfahrt mit den Vorköpfen (außer auf der
Landgrenze) ganz umschließt, ist es natürlich gegenwärtig unmöglich, in
erstere mit einem Schiffe einzulaufen, und seine Wegschaffung ist deshalb un¬
umgänglich nöthig. Indessen ist dies durchaus keine leichte Arbeit: er hat
eine Länge von 1297 Fuß. eine Höhe von 24—28 Fuß und eine Breite
von 18 Fuß, exclusive der Verstrebungen, und zwar besteht er aus drei
Wänden von Spundpfählen aus Ganzholz nebst Zwischenfüllungen und einer
Pfahlreihe mit Verstrebungen auf der Binnenseite. Ueberdies hat man aber
auch, um den Bruch von 1864 zu stopfen, hier eine große Masse Steine ver¬
senkt, an deren Hebung durch Baggern wohl schwerlich zu denken ist; viel¬
mehr erscheint die Anwendung von Taucherarbeit weit zweckmäßiger, z. B.
in der Art. daß (wie seit einiger Zeit im Hafen von Brest) gleichzeitig 40
Arbeiter unter einem Caisson von 2400 Kubikmeter Inhalt in comprimirter
Luft auf dem Meeresboden Hantiren. Außer der Anlage der Schutzdeiche
und des Hauptfangedammes, d. h. also der Abschließung des gesamm-
ten Bauterrains gegen die See, wurden nun in den ersten Jahren
des Baues namentlich noch die Communicationsrvege geschaffen, d. h.
es wurden zwei Deichscharten (durch den Damm führende Thore) im Haupt¬
deich und zwei in den Flügeldeichen behufs Herstellung bequemer Verbindung,
sodann der interimistische Liegehafen für die Material zuführenden Schiffe
und die Dampfbagger und Transportprahme als Winterlager eingerichtet,
und endlich die Klinkerstraße von der oldenburger Chaussee nach dem küns¬
tigen Binnenhafen und dem Liegehafen fortgeführt.
Die folgenden beiden Jahre 1863 und 1864 waren hauptsächlich der
Herstellung der Wasserstraße für den Hafen gewidmet, soweit sie im
dauensfelder Groden, also außerhalb des alten Hauptdeichs liegt. Man
mauerte daher die Quaimauern der Hafeneinfahrt*), des Vorhafens und der
beiden Schleusen auf und grub und baggerte die Sohle dieser Theile der
Hafenstraße aus, in einer Länge von 140 Ruthen: die Aufführung der
Mauern während dieses Zeitraums kostete 910,000 Thlr., die Fertigstellung
der 1868 Fuß langen massiven Umfassungsmauern des Vorhafens 20—28
Fuß über dem Pegel angeblich noch außerdem 508,000 Thlr. Arge Schwie-
keiten verursachte dabei für den Bau der ersten Seeschleuse die Unterwaschung
einzelner Theile der Betonfundamente sowie das Eindringen des feinen
Triebsandes in das Innere der Schleusenbaugrube, während überdies die
Zufuhr des Materials zeitweise durch den dänischen Krieg gestört wurde.
Auch im Hafencanal selbst ward schon gebaggert, der Anschluß der Schutz-
und der Flügeldeiche (noch innerhalb des Fangedammes) hergestellt, einige
Klinkerstraßen und einige Beamtenwohnungen vollendet und der erste arte¬
sische Brunnen gebohrt, indem man zunächst Röhren von 10 Zoll Durch¬
messer, in der letzten Tour aber 7zottige Röhren hinabtrieb, die bet 670 Fuß
Tiefe endlich auf eine starke Quelle stießen und bis Ende 1866 fast 73,000
Thlr. gekostet haben. Nach zweijähriger Vorarbeit und acht Jahren wirk¬
lichen Baues (1857—1864) waren im Ganzen 5,835,000 Thlr. verausgabt,
während das ganze Etablissement inclusive der Straßenbauten und der Be¬
soldungen für die Beamten auf 10,900,000 Thlr. veranschlagt war.
In den beiden folgenden Jahren 1863 und namentlich 1866 ging man
hauptsächlich an die Herstellung der innerhalb des alten Hauptdeichs lie¬
genden Hafentheile, an die Quaimauern des Binnenhafens und die beiden
Trockendocks, während im Hafencanal Erde beseitigt und auch der Strand¬
hafer ausgebaggert wurde. Bis Ende 1866 waren auf Ausschachtung des
Hafeneanals über 233,000, auf die des Binnenhafenbassins über 44,000, auf
den Bau der Quaimauern des letzteren fast 230,000, endlich auf den Bau
der beiden großen massiven Trockendocks über 647.000 Thlr. verwandt wor¬
den, was in Verbindung mit den Kosten für Schutz des Grodens und Bau
der Wasserstraße in demselben als Gesammtausgabe bis Ende 1866 6,626,550
Thlr. ergiebt.
Ende 1867 standen, abgesehen von den Schutzbauten für das Terrain,
ganz vollendet: sämmtliche Bauten an den Vorköpfen, der Hafeneinfahrt, des
Vorhafens, der beiden Schleusen (einschließlich Vernietung und Einsetzung
ihrer acht Flügelthore) and die Ausbaggerung des Hafeneanals auf drei
Strecken bis fast zur erforderlichen Tiefe. Dagegen blieben noch auszu¬
führen: die Beseitigung der den Hafencanal durchschneidenden Dämme (an
die man aber erst gehen kann, wenn die Docks und die Quaimauern des
Binnenhafens fertig sind), die Wegschaffung der inneren Thon- und Beton¬
fängdämme in dem übrigen (äußeren) Theil der Hafenstraße und seine Aus¬
baggerung, und endlich, die Beseitigung des Hauptfangdammes. Hieran wer¬
den sich außerdem schließen: der Bau des dritten, kleineren Docks, der beiden
gedeckten Hellinge, der nördlichen und eines Theils der östlichen Quaimauer
im Binnenhafen sowie der Bau des Bootshafens, eines Mastenkrahns und
dreier gewöhnlicher Drehkrahne.*)
Die Gesammtkosten, auf welche die Herstellung des Kriegshafens veran¬
schlagt ist, berechnen sich sonach aus den einzelnen Posten, welche wir als
für jedes einzelne Object veranschlagt oben angaben, wenn man noch die
Kosten für Beschaffung der Werkzeuge und Maschinen hinzunimmt. Ein
kleines Baggerfahrzeug für Aufhaltung des Strandhafens, ursprünglich auf
zehn Jahre (bis 1866) berechnet, eine Zeit die sich aber infolge der unver-
muthet hervorgetretnen Schwierigkeiten sehr verlängert und die Eröffnung
des eigentlichen Hafens immer mehr hinausgeschoben hat (136.000 Thlr.),
ein großes Dampfbaggerfahrzeug („Hercules"), welches 30 Fuß tief arbeitet,
für Austiefung der Hafeneinfahrt, des Vorhafens und des Canals, ein Bug¬
sirboot, das auch für Peilungen benutzt wird und dreizehn Jahre (bis 1869)
dienen soll (58,500 Thlr.), die Baumaschinen, -Geräthe und .Fahrzeuge, wie
36 Transportprahme, 4 große Dampframmen, 12 Kunst- und Zugrammen,
3 Dampfbaggermaschinen zu 24 und 30 Pferdekraft, 8 kleine und Hand-
baggermaschinen, 2 Traßmühlen, 2 Mörtelmühlen, 6 Wasserhebungsmaschinen
(die letzteren 10 durch Dampf getrieben), 2 Holzkrahne, 1 eiserner Bugsir¬
dampfer, 1 großes gedecktes Segelboot für Materialientransport (zusammen
533,000 Thlr.) bringen durch die Kosten ihrer Anschaffung und Erhaltung
den Anschlag sämmtlicher Wasserbauten auf 7,926,000 Thlr.^). Rech¬
net man hierzu die oben specificirten Landbauten mit 1,849,000 Thlr. und
die Straßenbauten, so erhält man einen Gesammtanschlag von 10,900,000
Thlr. — doch werden schließlich die Kosten 11 Millionen Thlr. sicher nicht
unbedeutend übersteigen. Nach der Vorlage, welche dem Reichstag 1867
gemacht wurde, waren bis Ende 1866 verausgabt 6,626,550 Thlr., und man
hoffte, mit weiteren 4 Millionen in den Jahren 1868—70 die eigentlichen
Hafenbauten vollenden zu können, während man außerdem mit 3 Millionen
in den Jahren 1868—1874 die Befestigungen zu Ende bringen wollte (eine
sturmfreie Enceinte zur Abhaltung feindlicher Handstreiche, sodann detachirte
Forts auf der Landseite zur Abhaltung eines ernsten Angriffs oder Bombarde¬
ments durch eine Landarmee, endlich Strandbefestigungen im rüstringer Land
und bei Eckwarden zur Abhaltung einer feindlichen Flotte)."") Diese 7 Mil¬
lionen sollen in den genannten 7 Jahren dem Extraordinarium des auf
8 Millionen Thlr. jährlich normirten Marinebudgets entnommen werden.
Indessen scheint uns zweifelhaft, ob man trotz der solchergestalt gewährten
Mittel in der angegebnen Frist völlig zum Ziele kommen wird, nachdem
infolge des unglücklichen Zerwürfnisses zwischen Negierung und Reichstag
gelegentlich der Marineanleihe die Arbeiten eine Zeit lang halb geruht ha¬
ben. Jetzt allerdings herrscht wieder reges Leben und man arbeitet mit
allen Kräften — 4000—5000 Arbeiter sind gegenwärtig beschäftigt (dabei
ausfallend viel Schlesier) — auch ist für dieses Jahr, wie ursprünglich festgesetzt
war, ein Betrag von 918,376 Thlrn. ausgeworfen und angewiesen worden.
Ferner ist noch zu berücksichtigen, daß bei Weitem die größten Schwierig¬
keiten bereits überwunden sind: die örtlichen Verhältnisse, der schwere Klei¬
boden, das Grundwasser, lauter Dinge, die sich während des Baues un¬
endlich viel ungünstiger gezeigt haben, als anfangs erwartet werden konnte,
und die erst nach und nach hervortraten; sie können die meisten ferneren
Bauten wenig mehr beeinträchtigen. Uebrigens ist der schnellere Bau nicht
blos insofern sparsamer, als der Hafen früher benutzbar wird, sondern auch
deshalb, weil man bei den dabei reicher fließenden Mitteln günstige Chancen
der Fluth und der Witterung voll ausnutzen kann/)
Bald wird denn Deutschlands Achillesferse einem Feinde wie Frankreich
gegenüber, d. h. neben Wismar die Nordseeküste, vollständig sicher gestellt
sein. Bisher konnte Frankreich mit seiner Dampftransportflotte, die auf
einmal 40,000 Mann und 12,000 Pferde zu tragen vermag, die deutsche Nord¬
seeküste widerstandslos überfallen und die allergefährlichste Diversion machen;
sobald aber die Jahdebefestigung und die Schanzen an Elbe, Weser und
Ems fertig sind, hat Deutschland von dieser Seite nichts mehr zu fürchten.
Den Erbauern des Jahdehafens aber wird man, mögen auch mancherlei
Mißgriffe vorgekommen sein, das Zeugniß nicht versagen können, daß sie ein
Werk geschaffen haben, welches der jetzt wieder so viel verschrieenen preußi¬
schen Bureaukratie Ehre macht, indem sie wahrhaft ungeheure Schwierig¬
keiten mit verhältnißmäßig wenig Mitteln überwunden haben, dank der
preußischen pedantisch strengen Sorgsamkeit, Redlichkeit, Genauigkeit und
Sparsamkeit. Außer den Mündungen der Ems, der.Jahde, der Weser und
der Elbe hat unsere deutsche Nordseeküste wegen ihrer Watten keine für
eine Landung günstigen Punkte: die Jahde aber ist für den Kriegshafen der
günstigste Punkt, insofern sie fast genau in der Mitte dieser Küste liegt und
da von ihr aus die Flotte schneller als von jeder andern Flußmündung
die hohe See gewinnen kann und dann auf der Höhe von Helgoland eine
gleichmäßig alle Flußmündungen beherrschende Position findet, um so mehr
als sie mit seltnen Ausnahmen das ganze Jahr hindurch für Dampfer offen
ist. Künftig wird dann dieser Hasen namentlich als Aus- und Abrüstungs¬
station der in Dienst gestellten Schiffe wichtig sein, da die Einfahrt in die
Ostsee oft schwierig ist, wenn auch seine Eröffnung noch nicht, wie anfangs
beabsichtigt, 1869 wird erfolgen können.
Der Name Wismar ist bei Vollziehung des Anschlusses der Großher-
zogthümer Mecklenburg an den deutschen Zollverein viel genannt worden.
Die Stadt suchte sich mit Aufbietung aller Kraft der ihr zugedachten Ein¬
schließung in den Zollgrenzbezirk zu erwehren und hat auch jetzt, nachdem
ihre Anstrengungen erfolglos geblieben sind und sie durch die Zollbinnenlinie
von dem übrigen Lande abgeschieden worden ist, den Muth und den Willen
nicht aufgegeben, eine Aenderung dieser Maßregel, in welcher sie die größte
Benachtheiligung für ihren Handel und Wohlstand erblickt, herbeizuführen.
Sie beruft sich dabei auf ihre Privilegien, welche ihr das Recht gewährten,
bei der Bestimmung der Zollbinnenlinie mitzuwirken, und auf vertrags-
, mäßige Verpflichtungen, welche die Landesherrschaft nicht blos ihr, sondern
auch der Krone Schweden gegenüber eingegangen sei. In einer Druckschrift,
welche „die rechtliche Stellung Wismar's in der Grenzbezirkfrage" zum Gegen¬
stand hat, wird geradezu behauptet: so lange Wismar seine Zustimmung
noch nicht ertheilt hat, ist die Ausdehnung der Zollvereinsgesetzgebung auf
diese Stadt und ihr Gebiet für dieselbe dem Rechte nach nicht bindend, wenn
sie sich auch thatsächlich derselben unterwirft. Mag nun diese Behauptung
sich als begründet erweisen oder nicht, die rechtliche Stellung einer Stadt,
welche zu solcher Auffassung führen kann, ist unter allen Umständen eine
ganz ungewöhnliche. Dazu kommt^noch ein internationales Rechtsverhältniß
besonderer Art, welches schon bei der Gründung deutscher Kriegshafen und
Marinestationen mehrfach in Frage gekommen ist und die deutsche Presse
wiederholt beschäftigt hat. In diese eigenthümlichen Rechtsverhältnisse wollen
wir im Folgenden einen Einblick zu geben versuchen.
Im Mittelalter war Wismar ein kräftiges Mitglied des Hansabundes,
innerhalb dessen es mit Lübeck, Hamburg, Rostock. Stralsund und Lüneburg
eine engere Verbindung unterhielt. Es waren dies die sogenannten sechs
wendischen Städte. Mit Lübeck und Rostock theilte es im Allgemeinen den
Gang der inneren Verfassungs - und Rechtsentwickelung und die äußere
Politik in Frieden und Krieg. Der Kampf der Zünfte gegen die Geschlechter
wurde in Wismar mit fast noch größerer Erbitterung als in Lübeck und
Rostock geführt. Zwei den Geschlechtern angehörige Rathsmitglieder, der
Bürgermeister Banzkow und der Rathsherr van Harem, von dem Führer
der Zünfte, dem Wollenweber Claus Jesup. des heimlichen Einverständnisses
mit dem Könige von Dänemark, init welchem die verbündeten Städte im
Kriege lagen, angeschuldigt, wurden im Jahre 1427 auf dem Markte zu
Wismar enthauptet.
Die inneren Unruhen in Verbindung mit den allgemeinen Ursachen,
welche die Schwächung und schließlich den Verfall des Hansabundes bewirkten,
untergruben auch die Kraft und die Haudelsblüthe Wismars. Während des
dreißigjährigen Krieges wurde es von den Kaiserlichen besetzt und im Jahre
1631 von den Schweden belagert und durch Capitulation eingenommen. Die
Stadt blieb seitdem, in den Händen der Schweden und wurde nebst den
Aemtern Poet und Neukloster im westphälischen Frieden an diese Macht abge¬
treten. Im Huldigungsreceß vom 14. Juni 1653 wurde ihr zugesichert, daß
sie bei ihren Privilegien und namentlich bei dem Rechte der statutarischen
Gesetzgebung gelassen werden solle, nur daß die Anwendung dieses Rechtes
dem Landesherrn nicht zum Nachtheile gereichen dürfe. Von den zerrüttenden
Einwirkungen des dreißigjährigen Krieges, welcher durch einen sechsjährigen
Zeitraum die Schifffahrt vollständig lahm gelegt hatte, konnte Wismar sich
um so weniger erholen, als es demnächst von den schwedischen Kriegen gegen
Dänemark viel zu leiden und wiederholte Belagerungen zu erdulden hatte.
Als später die schwedische Macht mehr und mehr in die zweite Linie trat,
lag derselben an dem Besitze von Wismar nicht mehr viel und es ging daher
ohne Schwierigkeit auf eine Verhandlung mit Mecklenburg-Schwerin ein,
welche die Verpfändung der Stadt nebst zugehörigen Aemtern an letzteres
zum Gegenstand hatte. Der Pfandeontract wurde am 26. Juni 1803 zu
Malmö in Schweden abgeschlossen. Bald darauf (Is. Aug.) erfolgte die
Auswechslung der Ratificationen, am 18. und 19. August die Uebergabe
und am 29. August 1803 hielt der Herzog Friedrich Franz I. seinen feierlichen
Einzug in die nach 1SS jähriger Trennung nunmehr wenigstens pfandweise
wieder mit Mecklenburg vereinigte Stadt, welche unter schwedischer Herrschaft
so sehr heruntergekommen war, daß sie im Jahre 1795 nur noch S000 Ein¬
wohner zählte und die Straßen mit Gras bewachsen waren.
Dem mittelst des malmöer Pfandvertrages abgeschlossenen Geschäft lag
der Gedanke zu Grunde, daß der Werth des Pfandes dem dafür gezählten
Pfandschilling in dem Sinne entspreche, daß letzterer sich durch die Einkünfte
verzinse. Der Herzog von Mecklenburg verzichtet daher in dem Vertrage,
unter Anerkennung der Uebereinstimmung des Werthes des Pfandes mit dem
gezählten Capital, ausdrücklich auf das Recht, wegen einer zwischen den
Interessen des Capitals und den Einkünften des Pfandes sich etwa ergebenden
mehr oder minder erheblichen Ungleichheit auf eine Entschädigung anzutragen.
Stadt und Herrschaft Wismar nebst den Aemtern Poet und Neukloster wer¬
den dem Herzog zu vollem, unbeschränktem genieß bräuchlichen Besitz auf
hundert Jahre mit dem Vorbehalt des Wiedereinlösungsrechts nach Ablauf
dieser Zeit von dem Könige von Schweden verpfändet. Macht der König
dann von diesem Rechte keinen Gebrauch, so soll die Vereinbarung so an-
gesehen werden, als sei sie noch auf weitere hundert Jahre erneuert worden.
Der Pfandschilling beträgt 1,250,000 Nthlr. Hamburger Banco (— 3,750.000
Mark Banco ^ 1.875,000 Thlr. pr. Cre.). Die vereinbarte Einlösungs¬
summe besteht in dem ursprünglich gezählten Pfandschilling nebst drei Procent
Zins und Zinseszins, unter alljährlicher Zuschlagung der Zinsen zum Capital.
Hiernach berechnet sich das zur Einlösung nach hundert Jahren erforderliche
Capital auf ca. 36 Millionen Thaler; nach zweihundert Jahren, also im
Jahre 2003, würde Schweden die verpfändete Stadt nebst Aemtern nur um
den Preis von 691 Millionen Thaler wieder einlösen können.
Der Herzog verpflichtet sich, die ihm blos zu Pfand und Genießbrauch
übertragene Besitzung nicht zu veräußern, zu verkaufen, zu verpfänden, zu
legiren, noch auf irgend eine Art an einen anderen Staat zu überlassen. Die
nach der Abtretung entstehenden Zufälle trägt der Pfandinhaber und sie
alteriren seine Zahlungsverpflichtung nicht. Der Herzog macht auf Titel
und Wappen von Wismar keinen Anspruch, da diese äußeren Kennzeichen
einer unveräußerlichen Landeshoheit auf die Eigenschaft eines genießbräuch-
lichen Besitzes nicht wohl anwendbar zu sein scheinen.
An diese in den ersten 14 Artikeln des malmöer Vertrages enthaltenen
Bestimmungen schließen sich dann als Artikel 15 und 16 folgende Stipula-
tionen: „Da Se. Majestät der König von Schweden durch eine mit einer
anderen Macht vorzeiten eingegangene und noch bestehende Vereinbarung
sich verbindlich gemacht haben, weder die Stadt Wismar noch deren
Hafen auf irgend eine Art noch unter welchem Vorwande es sein möchte
zu befestigen und die hohen Contrahenten sich für überzeugt halten, daß
durch eine blos hypothekarische Cession diese durch einen älteren Vertrag über¬
nommene Verpflichtung nicht entkräftet werden könne, so haben Se. Durch¬
laucht der Herzog von Mecklenburg-Schwerin kein Bedenken getragen, besagte
Seiner schwedischen Majestät Verpflichtung für Sich und für Ihre Nachfolger
auf die volle Dauer des Pfandtermins ohne alle Einschränkung zu über¬
nehmen. Es ist ferner die wechselseitige Vereinbarung getroffen worden, daß
der Hafen der Stadt Wismar wie zu einem Kriegs Hafen zum Gebrauch
irgend einer fremden Macht oder eines anderen Staates bestimmt werden
könne. Die hohen Paciscenten verstehen unter einem Kriegshafen einen
solchen, in welchem bewaffnete Schiffe, von welcher Größe, Bauart oder Be¬
nennung sie sein mögen, stationirr sind oder kraft eines es sei ausdrück¬
lichen oder stillschweigenden Vertrages hierzu berechtigt wären."
Sodann werden in Artikel 17 die wohlerworbenen Rechte der abgetrete¬
nen Besitztheile und ihrer Bewohner gesichert: „Des Herzogs von Mecklen¬
burg-Schwerin Durchlaucht verbinden Sich förmlichst, die Stadt und Herr¬
schaft Wismar, die Aemter Poet und Neukloster nebst Zubehörungen und
deren Eingeborenen, sowohl Stadt- als Landbewohner, in allen ihren wohl¬
erworbenen Gerechtsamen, Privilegien und Freiheiten zu handhaben und sie
auf keine Art, in keinem Falle und aus keinem irgend scheinbaren Grunde
in deren Genusse zu beeinträchtigen."
Die folgenden Artikel beschäftigen sich mit den seitens der neuen Herr¬
schaft gegen die Beamten, Pächter u. f. w. zu übernehmenden Verpflichtungen,
mit den Modalitäten der Auszahlung der stipulirten Summe und mit einigen
sonstigen Aeußerlichkeiten. Nur der Artikel 23 macht davon eine Ausnahme,
indem er auf die Nothwendigkeit der kaiserlichen Bestätigung des Pfandver¬
trages Bezug nimmt, welche jedoch, soviel bekannt, nicht erfolgt ist. Der
Artikel lautet: „Da auch ein über Reichslehen geschlossener Vertrag ohne
Vorwissen dessen höchsten Oberhauptes nicht vollzogen werden soll, so ver¬
sprechen Se. Majestät der König von Schweden, gegenwärtige Vereinbarung
zu Seiner kaiserlichen und königlichen Majestät Kenntniß zu befördern und
bei Seiner kaiserlichen, königlichen und apostolischen Majestät solche zweck¬
dienliche Anträge zu machen, als der hohen Paciscenten gemeinschaftliches
Interesse und Ihre wechselseitige Sicherheit erfordern dürfte."
Die Ordnung des Verhältnisses der Stadt zu den mecklenburgischen
Landständen und ihre Wiedereinfügung in den Organismus der Landesver¬
fassung, dem sie vor dem Uebergange an Schweden angehört hatte, lag
außerhalb der Rechtssphäre des Pfandvertrages und blieb daher der Verein¬
barung zwischen den Betheiligten überlassen. Der Wiedereinsetzung der Stadt
in das Recht der Landstandschast war nicht der Umstand hinderlich, daß sie
durch den Pfandvertrag nur für eine bestimmte Zeit an Mecklenburg hin¬
gegeben wurde. Denn wenn auch der Fall der Wiedereinlösung stets im
Auge behalten werden mußte, so konnte die Stadt doch jedenfalls für die
Zeit, wo sie sich im mecklenburgischen Pfandbesitz befand, in den ständischen
Organismus wieder eintreten. Die Schwierigkeit lag darin, daß die mecklen¬
burgische Verfassung während der Zeit, wo Wismar in schwedischen Besitz
war, sich weiter entwickelt hatte und daß die Rechte und Pflichten der stän¬
dischen Corporationen im Verhältnisse zur Landesherrschaft und zu einander
durch neue Verträge genauer festgestellt waren. Der Eintritt eines neuen
Gliedes war ohne Störung des mühsam gefundenen Gleichgewichts schwer
zu bewirken. Andererseits verlangte auch die Stellung und das Selbstbe¬
wußtsein Wismars bei dem Eintritt in den ständischen Organismus mancher¬
lei Vorsichtsmaßregeln zur Wahrung der Sonderrechte. Ungeachtet wieder¬
holter Versuche ist es daher bis auf diesen Tag nicht gelungen, über die der
Stadt Wismar innerhalb der ständischen Verfassung einzuräumenden Rechte
zu einem allseitigen Einverständnisse zu gelangen und Wismar ist noch jetzt
ohne Sitz und Stimme auf den Landtagen und ohne Mitwirkung bei der
allgemeinen Gesetzgebung und Besteuerung. Nur auf dem außerordentlichen
Landtage von 1848, dessen Beschlüsse den konstitutionellen Staat anbahnten,
wurden durch Erkenntniß des Landtags und unter Zustimmung des Gro߬
herzogs wismarsche Magistratsdeputirte zur Theilnahme an den Verhand¬
lungen zugelassen. Diese eröffneten aber ihre Wirksamkeit auf dem Landtage
mit der Erklärung, daß die Stadt Wismar, da sie ohne amtliche Kunde
hinsichtlich der Vorschläge wegen Reform der Landesvertretung geblieben sei,
ihre Deputirten mit bestimmten Instruktionen in Bezug auf diesen wichtigen
Gegenstand nicht habe versehen können. Die Deputirten würden daher nur
ihre persönliche Ansicht äußern und wollten durch ihre Theilnahme an den
Verhandlungen ihre Committenten in keiner Weise gebunden haben, behielten
vielmehr der Stadt Wismar die freieste Entscheidung über die Frage vor,
ob sich dieselbe der neuen Landesvertretung anschließen wolle. Durch ein
großherzogliches Rescript vom 13. Mai 1848 wurde hierauf den Ständen
eröffnet: daß, da die zu errichtende Repräsentativ-Verfassung alle Bestand-
theile des Landes umfassen und diese zu einem constitutionellen Staate ver¬
einigen müsse und werde, hieraus von selbst folge, daß auch die Seestädte
Rostock und Wismar aller aus solcher Verfassung entstehenden Rechte und
Verbindlichkeiten theilhaftig, mithin der allgemeinen Gesetzgebung des Landes
unterworfen würden und ihre bisherigen Privilegien und vertragsmäßigen
Rechte nur so weit in Wirksamkeit verbleiben könnten, als sie mit dem
Wesen der neuen Verfassung und deren nothwendigen Consequenzen sich ver¬
einbar zeigen würden. Zwischen den besonderen Gerechtsamen der Seestädte,
welche hiernach in Wegfall kommen müßten, und denjenigen, welche fernerhin
Bestand behalten könnten, jetzt im Voraus die Grenze zu ziehen, sei schon
deshalb unthunlich, weil die künftige Verfassung in ihren einzelnen Zügen
noch nicht vorliege, sondern erst mit den durch Wahlen zu bildenden neuen
Ständen vereinbart werden solle; daß aber die Seestädte zu einer jene Cor»
Sequenz anerkennenden Erklärung bereit sein würden, sei um so mehr zu er¬
warten, als bis dahin, wo im Wege der Gesetzgebung auf Grund der neuen
Verfassung ein Anderes beschlossen sein werde, der status puo unalterirt
bleibe und das Vertrauen gehegt werden dürfe, daß bet Feststellung dieser
neuen Verfassung selbst als auch bei der demnächstigen Gesetzgebung auf die
eigenthümlichen Verhältnisse der Seestädte allenthalben werde Rücksicht ge¬
nommen werden. Die Stände hielten durch vorstehende landesherrliche Er¬
klärung den vertragsmäßigen Rechtsboden für die besonderen politischen Vor¬
rechte der Seestädte nicht genügend gewahrt und machten in ihrer Antwort
auf die Landtagsproposition die Auflösung der bestehenden Landesvertretung
von der ausdrücklichen Bedingung abhängig, daß die Seestädte Rostock und
Wismar sich der Landesgesetzgcbung unterwürfen und daß ihre bisherigen
Privilegien und vertragsmäßigen Rechte nur insoweit in Wirksamkeit bleiben
könnten, als sie mit dem Wesen der neuen Verfassung und ihren nothwen¬
digen Consequenzen sich vereinbar zeigen würden. Die Seestädte behielten
sich hierüber besondere Erklärungen vor. Diese Erklärung wurde seitens der
Stadt Wismar unter dem Is. August 1848 dahin abgegeben, daß die Stadt
den Anschluß an die künftige Landesverfassung von folgenden Bedingungen
abhängig mache: 1) daß aus der Geltung dieser Verfassung für die Stadt
niemals ein Recht der Staatsgewalt hergeleitet werde, die bisherigen poli¬
tischen Sonderrechte der Stadt ihr ohne ihre Zustimmung, also anders denn
im Wege der Vereinbarung zu entziehen; 2) daß der Stadt zugleich mit den
Rechten, deren sie sich auf dem eben bezeichneten Wege entäußere, auch die
entsprechenden Lasten und Verpflichtungen abgenommen werden; 3) daß sie
für alle Rechte von pecuniären Werth, die sie aufgebe, vollständige Ent¬
schädigung erhalte; und 4) daß die Frage, ob und wieweit der Stadt hier¬
nach Entschädigung gebühre, auch nur im Wege der Vereinbarung, eventuell
durch einen von beiden Theilen gemeinsam zu erwirkenden Schiedsspruch be¬
stimmt werde. Außerdem ward der Antrag hinzugefügt, daß ein Theil der
Schulden Wismars auf das Land übertragen werde. Ein großherzogliches
Rescript vom 22. August 1848 erklärte die Aufgebung der mit der neuen
Verfassung unverträglichen Sonderrechte für selbstverständlich. Wenn aber
der Magistrat seine Bereitwilligkeit dazu an gewisse Voraussetzungen knüpfe
und für einen Theil, der aufzugebenden Rechte Vergütung beanspruche, so
werde eine nähere Bezeichnung dieser Rechte und des Maßes der Vergütung
nöthig, um der neuen Vertretung, mit welcher die das ganze Land um¬
fassende konstitutionelle Verfassung vereinbart werden solle, von den An¬
sprüchen der Stadt die richtige Anschauung zu geben. Es erschien demnächst
ein großherzoglicher Commissarius, um über diesen Gegenstand mit städtischen
Deputirten zu verhandeln. Die letzteren aber weigerten sich, bindende Er¬
klärungen abzugeben und suchten dem Kommissar die Verpflichtung zuzu¬
schieben, die Vorrechte bestimmt zu bezeichnen, deren Aufgebung gefordert
werde. Die Verhandlungen führten zu keinem Resultat. Aber die gro߬
herzogliche Regierung war sich bewußt, daß in Ansehung der Seestädte allen
auf dem außerordentlichen Landtage gestellten Bedingungen genügt worden
sei. Sie schritt daher, nach erfolgter Vereinbarung des neuen Staatsgrund¬
gesetzes unter dem 10. Oct. 1849 zu dessen Publication und machte der
Stadt Wismar davon Anzeige, indem sie dieselbe zugleich aufforderte, ihre
Ansprüche wegen der Einbuße etwaiger Sonderrechte zusammenzustellen und
Deputirte für Verhandlungen mit einem landesherrlichen Commissarius zu
ernennen. Der Rath forderte den Bürgerausschuß zur gemeinsamen Er¬
hebung eines Protestes gegen die neue Verfassung auf, was dieser durch die
an den Rath erlassene Aufforderung zu einer gemeinsamenMnerkennung
der neuen Verfassung erwiderte. Gegen den Widerspruch des Bürgeraus¬
schusses legte nun der Rath für sich allein den Protest ein, worauf der
letztere dem Staatsministerium seine Mißbilligung dieses Schrittes erklärte.
Bei der Vernichtung des Staatsgrundgesetzes durch die in Freienwalde zu¬
sammengetretenen Schiedsrichter wurde auch auf diesen Protest Gewicht ge¬
legt. Seit der factischen Wiederherstellung der alten Verfassung nahm
Wismar wieder seine alte Stelle außerhalb derselben ein.
Die städtischen Sonderrechte, welche dem Magistrat so großen Werth
zu haben schienen, daß er lieber das Staatsgrundgesetz zurückwies und zu
dessen Vernichtung mitwirkte, als daß er jene Rechte aufgab, finden ihren
Ursprung theils in der früheren hansestädtischen Verbindung, welche der
Stadt dem Landesherrn gegenüber eine große Selbständigkeit verlieh, theils
in der förmlichen oder factischen Erwerbung während der schwedischen Herr¬
schaft. Die Verwaltung der städtischen Angelegenheiten unterliegt zwar der
landesherrlichen Oberaufsicht, wird aber im Uebrigen von dem Rath unter
Mitwirkung eines nach mehrfachem Wechsel der Organisation seit dem Jahre
1853 aus Grund einer Eintheilung der Bürgerschaft in gewisse Berufsclassen
gewählten Bürgerausschusses ganz unabhängig besorgt. Die Mitglieder des
Raths werden unter Betheiligung des Bürgerausschusses gewählt, ein Be¬
stätigungsrecht besitzt die Regierung nicht. Der Magistrat hat die volle Ge¬
richtsbarkeit in Civil- und Criminalsachen, welche er durch ein Niedergericht
und ein Obergericht übt. Letzteres fungirt unter Zuziehung von drei Pastoren
zugleich als Ehegericht. Dem für die Untersuchung bestimmter schwererer
Verbrechen begründeten großherzoglichen Criminalcollegium zu Bützow, welches
nach der neuen Criminalproceßordnung auch Spruchgericht erster Instanz ist,
hat Wismar sich im Vertragswege zwar unterstellt, jedoch mit dem Vor¬
behalt, in einzelnen Fällen die Untersuchung und Aburtheilung den eigenen
Gerichten zu überweisen. Die. Verhältnisse zum großherzoglichen Oberappel¬
lationsgericht und die Beiträge zu dessen Erhaltung sind gleichfalls im Ver¬
tragswege geordnet. Die Stadt besitzt das Polizeirecht in vollem Umfange,
eine Einmischung der großherzoglichen Gensdarmen in das städtische Polizei¬
wesen kann nur auf besondere Requisition der Stadtbehörden erfolgen. Die
Kirchen und Schulen der Stadt stehen unter städtischem Patronat und in
den Kirchengemeinden ist ein besonderes wismarsches Gesangbuch in Ge¬
brauch. Die Stadt übt ferner ein unbeschränktes Besteuerungsrecht über
ihre Angehörigen, nur daß bei dessen Anwendung der „fremde Mann" ohne
landesherrliche Genehmigung nicht ergriffen werden darf. Hinsichtlich neuer
Landessteuern beansprucht die Stadt das Recht der Zustimmung, da sie, als
auf Landtagen nicht vertreten, sich durch Landtagsbeschlüsse nicht gebunden
hält. Ihre bisherigen Beiträge zu allgemeinen Landeslasten hat sie, soweit
sie nicht auf Vereinbarung beruhen, nach ihrer Auffassung nur freiwillig,
ohne rechtliche Verpflichtung geleistet. Bis zum Jahre 1863 bestanden auch
ausschließliche Rechte der Bürger auf Benutzung des Hafens und auf Han¬
delsbetrieb in der Stadt. Die Ertheilung von Concessionen zum Gewerbe¬
betrieb und von Zunftrollen liegt in den Händen des Magistrats. Bis zum
Erlasse des Bundesfreizügigkeitsgesetzes erfreute sich die Stadt auch des durch
ihre statutarische Gesetzgebung festgestellten Rechtes, keine Juden aufzunehmen.
Von alter Zeit her besitzt sie das Münzrecht, welches sie noch jetzt durch
Ausprägung von Dreilingen und Pfennigen geltend macht.
Mit der politischen Sonderstellung der Stadt war bis zum Jahre 1863
auch eine Abgeschlossenheit in Bezug auf Handel und Verkehr verbunden,
welche der Stadt zum großen Nachtheil gereichte. Auf dem Seewege für
Ein- und Ausfuhr mit einem landesherrlichen Zoll („Licent") und für den
gesammten Handel außerdem mit einer städtischen Accise belastet, mußten die
Waaren bei ihrer Versendung von Wismar in die Landstädte hier noch den
vollen Betrag der Handelssteuer entrichten.
Dieser drückenden Absperrung von dem übrigen Lande machte erst die
neue mecklenburgische Steuer- und Zollgesetzgebung, welche am 1. Oct. 1863
ins Leben trat, ein Ende. Wismar hatte durch einen Vertrag mit der Re¬
gierung vom 19. März 1863 sich der neuen Gesetzgebung angeschlossen. Die
Hauptbestimmungen dieses Vertrages waren folgende:
Wismar unterwirft sich dem zwischen Landesherrn und Ständen verein¬
barten neuen Zollsystem. Die rücksichtlich des Eingangszolls im Wege der
Landesverfassung zu Stande kommenden Gesetze (das Zollgesetz, der Zolltarif
u. s. w.) erhalten sür Wismar volle Gültigkeit. Sie ist daher den Be¬
stimmungen dieser Gesetze gleich den anderen Landestheilen unterworfen und
gibt rücksichilich derselben ihre bisherige Sonderstellung auf. Die Stadt
Wismar darf sich auf ihre Kosten durch einen Deputirten des Magistrats,
der aber nur berathende Stimme hat, mit der Stadt Rostock abwechselnd an
der Revision und Visitation der Centralzollbehörde betheiligen und erhält
von allen Zusammenkünften der Visttationscommission vorgängige Anzeige.
„Wird hierdurch der Stadt schon Gelegenheit gegeben, von den Aenderungen
in der Zollgesetzgebung Kenntniß zu nehmen, welche in der Visitationscom-
Mission zur Vorbereitung verfassungsmäßiger Verhandlung werden berathen
werden, so sollen derselben doch auch noch, so lange sie in den ständischen
Verband nicht aufgenommen sein wird, die bezüglichen an den Landtag zu
bringenden Vorlagen rechtzeitig mitgetheilt werden, um ihre etwaigen Wünsche
zur Erwägung und eventuellen Vertretung derselben dem Staatsministerium
vortragen zu können." Die Verwaltung des Eingangszolles wird auch für
Wismar eine rein landesherrliche, ohne alle und jede Betheiligung der Stadt
an derselben. Die Stadt verpflichtet sich, an und eventuell in ihrem Hafen
die Stationirung landesherrlicher Zollwachen zu gestatten, auch den Requi¬
sitionen der großherzoglichen Zollbehörden stets und unweigerlich Folge zu
geben. Als Zollgericht fungirt in Wismar das städtische Niedergericht kraft
eines allgemeinen Auftrages. Die Rechtsmittelinstanz für dasselbe ist das
städtische Obergericht. Die Stadt Wismar verzichtet auf die fernere Erhebung
einer eigenen Waarenaecise, auf das Recht der ausschließlichen Benutzung des
Hafens durch wismarsche Bürger und auf einige andere die Beschränkung
des Handels Fremder in der Stadt betreffende Rechte. Sie empfängt dafür als
eine nach ihrem Ermessen zu Bedürfnissen der Stadt, des Hafens u. s. w.
zu verwendende Entschädigung eine jährliche Aversionssumme von 16,000 Thlrn.
Cre. „Im Uebrigen behalten die Gerechtsame der Stadt Wismar, in so
wett sie durch diesen Vertrag nicht ausdrücklich aufgehoben oder abgeändert
sind und sie solche zu behaupten vermag, ihren unveränderlichen Bestand.
Insbesondere gilt dies von der ihr zuständigen eigenen Erhebung einer
Mahl- und Schlachtsteuer und darf folgewetse diese Steuer auch von allem in
Wismar zum dortigen Consum, gleichviel woher, eingeführten Mehl, Malz
und Schrot, sowie von gebackenem Brote und geschlachteten Fleische ge¬
nommen werden." —
So lagen die Verhältnisse, als die Ereignisse des Jahres 1866 eintraten
und außer den übrigen norddeutschen Staaten auch Mecklenburg nöthigten,
den Bündnißvertrag mit Preußen zu schließen, welcher schon die Bestimmung
enthielt, daß die verbündeten Staaten ein gemeinsames Zoll- und Handels¬
gebiet bilden und daß die Zoll- und Handelsgesetzgebung in diesem Gebiet
zu den Attributen der Bundesgewalt gehören solle. Der Bündnißvertrag
wurde den mecklenburgischen Ständen vorgelegt, welche ihm mit dem Vor¬
behalt zustimmten, daß ihnen demnächst die vereinbarte Bundesverfassung zur
Erklärung zugehe. Um der Stadt Wismar Gelegenheit zu geben, etwaige
auf den Vertrag bezügliche Wünsche dem Staatsministerium vorzutragen,
wurde auch ihr die Landtagsproposition zugefertigt, worauf sie den Wunsch
zu erkennen gab, daß statt der Ausdehnung des bestehenden Zollvereins auf
Mecklenburg eine neue Zolleinigung der verbündeten Staaten angestrebt
werden möge, außerdem aber auch die „übrigens selbstverständliche" Respec-
tirung der aus der Vereinbarung vom 19. März 1863 der Stadt Wismar
zuständigen Rechte bedang.
Es folgten nun die auf die Wahl zum Parlamente bezüglichen Re-
gierungsaete, später die Vorlage der vereinbarten Bundesverfassung an die
Stände und die zustimmende Erklärung der letzteren, sodann die landesherr¬
liche Publication der Bundesverfassung, welche mit der ausdrücklichen Be-
Stimmung verbunden war, daß dieselbe im ganzen Lande „mit Einschluß der
Städte Rostock und Wismar" am 1. Juli 1867 in Kraft treten solle. Am
8. Juli 1867 wurde der Vertrag wegen der Fortdauer des Zoll- und Han¬
delsvereins abgeschlossen und nach Erledigung der anfangs noch entgegen¬
stehenden Hindernisse am 11. August 1868 der Anschluß Mecklenburgs an
den Zollverein vollzogen.
Bis zu diesem letzteren Zeitpunkte hatte Wismar der Entwickelung der
Dinge ruhig zugesehen. Als aber im Anfang August dieses Jahres die
Kunde sich verbreitete, daß die Binnenlinie südlich von Wismar laufen und
dieses demnach in den Grenzbezirk fallen solle, gerieth die ganze Bevölkerung
der Stadt, indem sie die Zerstörung des Handelsverkehrs als die nothwen¬
dige Folge dieser Anordnung ansah, in eine fieberhafte Aufregung. Ver¬
sammlungen wurden gehalten, Petitionen und Deputationen in Bewegung
gesetzt; der Magistrat, der Bürgerausschuß, die kaufmännischen Korporatio¬
nen, die gesammte Bürgerschaft richteten an den Großherzog, an das gro߬
herzogliche Ministerium, an das Bundeskanzleramt, an den Zollvereins-
Bundesrath die nachdrücklichsten Vorstellungen. Namentlich zeigte der Bürger¬
ausschuß sich eifrig um die Abwehr der Anordnung bemüht, indem er die¬
selbe nicht nur als eine schwere Benachtheiligung der Stadt, sondern auch
als eine schreiende Verletzung ihrer Rechte auffaßte. Kaum war die Ver¬
ordnung wegen der Binnenlinie erschienen, so richtete er (7. August) an den
Rath die Aufforderung, „unter Protest gegen die erfolgte willenlose Hinein¬
ziehung Wismars in den Zollgrenzbezirk eine Rechtsverwahrung wegen
aller durch solchen Act verletzten Privilegien.der Stadt" gemeinschaftlich mit
der Bürgerschaft einzulegen, wozu indessen der Rath, ungeachtet mehrmals
erneuerten Antrags, die Hand zu bieten sich weigerte.
Der von dem Bürgerausschuß erhobene Anspruch einer Mitwirkung der
Stadt bei der Bestimmung der Binnenlinie, wenn auch nur in Form einer
der Entscheidung vorangehenden Aeußerung ihrer Wünsche, geht von dem
Rechte der Stadt aus, in allen ihre Zoll- und Steuerverhältnisse berühren¬
den Fragen mindestens gehört zu werden. Da die Stadt bisher nicht un¬
bedingt ihre Unterwerfung unter die Zollgesetzgebung erklärt habe, so habe
sie das Recht gewahrt, die Bedingungen zu bestimmen, unter welchen sie
dem Zollverein sich anschließen wolle. Als solche Bedingung wird nun die
Mitwirkung der Stadt bei Bestimmung der Zollbinnenlinie, soweit dabei die
wismar'schen Verkehrsinteressen in Frage kommen, aufgestellt. Zur Ver¬
stärkung dieses Anspruches wird dann noch geltend gemacht, daß die Zoll¬
gesetzgebung auch noch anderweitig in die der Stadt vertragsmäßig gesicherten
Rechte eingreife, namentlich in deren Gerichtsbarkeit und Polizeirecht. Der
Bürgerausschuß beruft sich dabei theils auf den malmöer Vertrag vom
26. Juni 1803, theils auf die Vereinbarung mit dem Großherzoge vom
19. März 1863.
Der malmöer Vertrag ist außerhalb Wisma-rs niemals so aufgefaßt
worden, als solle er der Stadt das Recht verbürgen, allgemeinen, ganz
Mecklenburg ergreifenden Aenderungen der politischen Institutionen durch
Berufung auf Sonderrechte, die dadurch verletzt würden, zu wider¬
sprechen oder sich von denselben auszuschließen, — nur die Pflicht einer Ent¬
schädigung für materielle Nachtheile, die der Stadt aus dem erzwungenen
Verzicht auf gewisse Rechte erwuchsen, hat man. für einen solchen Fall als
begründet anerkannt. Ueberdies kommt zur Erwägung, daß Wismar selbst
nicht vertragschließender Theil bei dem malmöer Vertrage ist. Wenn die
mecklenburgische Regierung in demselben Pflichten übernommen hat, die nach
Behauptung des wismar'schen Bürgerausschusses verletzt worden sind, so
würde nur Schweden zur Erhebung einer Beschwerde deswegen berechtigt
sein. Schweden in diese Angelegenheit hineinzuziehen, wird jedoch in Wis¬
mar, einer wiederholten und glaubwürdigen Versicherung der Beschwerde¬
führer nach, nicht beabsichtigt, und in der That würde es einer deut¬
schen Stadt schlecht anstehen. Schutz ihrer Rechte bei einer fremden Macht
zu suchen.
Die Vereinbarung vom 19. März 1863 hat Wismar dem neuen mecklen¬
burgischen Zollsystem einverleibt und bei dessen weiterer Entwickelung zwar
Gehör, aber keine entscheidende Stimme zugesichert. Der Anschluß Mecklen¬
burgs an den deutschen Zollverein ist aber nicht eine Entwickelung der Lan¬
deszollgesetzgebung, sondern ein Theil und eine Folge einer die gesammten
Verhältnisse Mecklenburgs in dessen Beziehungen zu Deutschland ergreifenden
politischen Umgestaltung. Die neuen Zollgesetze stehen daher nicht unter den
Regeln und Verpflichtungen, welche die Vereinbarung vom 19. März 1863
unter ganz anderen Voraussetzungen aufstellt. Wismar mußte es sich ge¬
fallen lassen, seine vertragsmäßigen Rechte so weit dahinschwinden zu sehen, als
dies eine Folge der neuen Bundesverpflichtungen des Großherzogthums war.
Ist aber die mecklenburgische Regierung berechtigt gewesen, die Stadt Wismar
selbst wider ihren Willen in die neuen durch den Bund begründeten Ver¬
hältnisse hineinzuziehen, so verschwindet vollends jeder Grund zum Vorwurf
der Vergewaltigung, wenn, wie die Geschichte der vorbereitenden Verhand¬
lungen lehrt, Wismar mit seiner vollen Zustimmung in die neue Gestaltung
der Bundes- und Zollverhältnisse eingetreten ist.
Obgleich die mecklenburgische Regierung nicht dazu verpflichtet war, da
die Vereinbarung vom 19. März 1863 nur die Fortbildung der mecklen-
burgischen Zollgesetzgebung zum Gegenstand hat, so gab sie doch der Stadt
Wismar Gelegenheit, ihre Wünsche hinsichtlich des Bündnißvertrages kund-
zuthun, und die Stadt hat diese Gelegenheit auch benutzt. Sie hat dabei
aber gegen die Uebertragung der Zoll- und Handelsgesetzgebung auf die zu
begründende neue Bundesgewalt keine Einwendung erhoben, sich auch an
allen Acten, welche in der Vereinbarung der Bundesverfassung ihren Ab¬
schluß fanden, ohne Widerspruch oder Vorbehalt betheiligt und daher selbst zu
dem Zustandekommen der Bundesverfassung und ihrer einzelnen Bestimmungen
mitgewirkt. Wenn darüber geklagt worden ist, daß die vereinbarte Bundes¬
verfassung zwar den Ständen zur Erklärung vorgelegt, der Stadt Wismar
aber „nicht einmal zur Kenntnißnahme und Abgabe ihres rathsamer Erach-
tens" mitgetheilt worden sei, so wäre doch in der That eine solche Mitthei-
lung ganz zwecklos gewesen, da es sich nach erfolgter Vereinbarung der
Bundesverfassung in den einzelnen Staaten nur um Annahme oder Ableh¬
nung derselben im Ganzen handeln und es der Regierung nicht einfallen
konnte, eine einzelne Stadt um ihren Willen in dieser Beziehung zu befra¬
gen. Eine Vernehmung von Wünschen, nach Anleitung der auf den vorliegen¬
den Fall nicht anwendbaren Vereinbarung vom 19. März 1863 dem Staats¬
ministerium zur Erwägung und eventuellen Vertretung vorgetragen, wäre
in diesem Stadium auch deshalb ganz an unrechter Stelle gewesen, da die
Regierung an die Bundesverfassung, so wie sie vorlag, unbedingt gebunden
war. — Aus der Geltung der Bundesverfassung für Wismar folgt auch die
Geltung des auf Grund dieser Verfassung abgeschlossenen Zollvereins¬
vertrages. Soweit nach diesem Vertrage die Zollgesetzgebung reicht, hat
sich ihr jede mecklenburgische Stadt zu unterwerfen, auch in denjenigen Punk¬
ten, durch welche frühere vertragsmäßige Rechte derselben aufgehoben werden.
Nur wenn sich nachweisen ließe, daß die mecklenburgischen Ausführungs-
Verordnungen zum Nachtheile von Wismar über die durch den Zollvereins¬
vertrag gezogenen Grenzen hinausgreifen und willkürlich die Rechte der Zoll¬
verwaltung ausdehnen, würde eine Beschwerde begründet sein. Es scheint
ein solcher Vorwurf aber nicht erhoben werden zu können und eine Er¬
füllung des wismarschen Wunsches bezüglich einer Aenderung des Laufes der
Binnenlinie nur nach Aenderung der normirenden Bestimmungen der Zoll¬
vereinsgesetzgebung möglich zu sein.
Gewiß ist die Lage innerhalb des Zollgrenzbezirks für eine Handelsstadt
wie Wismar mit großen Unbequemlichkeiten und Nachtheilen verbunden,
selbst bei milder Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen. Wir sind weit
entfernt, dies zu verkennen, aber wir fürchten, daß die Berufung auf angeb¬
lich gekränkte Sonderrechte Wismars ein wenig geeigneter Weg sei, um
Aenderung herbeizuführen. Nicht außerhalb der Zollvereinsverfassung, son¬
dern nur auf dem Rechtsboden dieser Verfassung stehend wird Wismar die
Mittel aufzusuchen haben, durch welche es eine Modifikation der Zollbinnen-
linie für sich selbst oder eine allgemeine Umgestaltung der Grenzbezirksein-
richtung im deutschen Zollverein erreichen kann.
Der unglückliche Einfluß des Jahres 1866 auf die „freiheitliche Ent¬
wickelung" Deutschlands ist ein vielbeliebtes Schlagwort unserer radicalen
Parteien. Richtig verstanden hat dasselbe eine gewisse Wahrheit, nur sitzen
die Hemmungen der Freiheit nicht da, wo die verbündeten Legitimisten, ver¬
schämten und offenen Republikaner sie suchen. Der Alp, der auf der Brust
unseres öffentlichen Lebens liegt und alle Bestrebungen zu Gunsten eines
freiheitlichen Aufbaus im norddeutschen Bundesgebäude lähmt, ist die aus¬
wärtige Politik, der prekäre Zustand, in welchem der preußisch-deutsche Staat
sich dem Auslande gegenüber befindet. Wir sind in die Reihe der großen
Staaten Europas getreten, aber wir haben unter ihnen noch nicht Platz ge¬
nommen und müssen die Hand am Degen halten, um unsere Position zu
behaupten und zu consolidtren. Unter den gegebenen Verhältnissen wäre
jeder andere Staat, dem ein plötzlicher Machtzuwachs zu Theil geworden,
in derselben Lage. Weil Preußen sich selbst geholfen und ohne schützenden
Patron aus der Lage zwischen Thür und Angel herausgekommen, hat es alle
kontinentalen Großmächte (Italien zählt unter diesen nicht) zu offenen oder
geheimen Gegnern — für alle sind die Ereignisse von 1866 unerwartet und
schon darum unerwünscht gekommen. Hier murren die Völker, dort die Re¬
gierungen darüber, daß die letzte der europäischen Großmächte zur ersten ge¬
worden ist und nur dem Umstände, daß die im Occident gleichartigen In¬
teressen unserer Nachbarn sich im Orient kreuzen, haben wir es zu danken, wenn
wir nicht all' unsere starken Nachbarn zu Feinden haben. Dazu kommt,
daß die Mehrzahl europäischer Mittelstaaten von der Furcht der Großen vor
dem preußisch.deutschen Staat mit angesteckt ist und von einer Gefährdung
ihrer Interessen fabelt, der jede thatsächliche Begründung fehlt: der skandi¬
navische Norden hat die Sache Dänemarks wenigstens moralisch zu der sei¬
nigen gemacht, die Länder an der Rheinmündung fürchten zum Compen-
sationsobject bei einer möglichen französisch-preußischen Auseinandersetzung zu
werden, Italien und Spanien, denen ein Gegengewicht gegen den französi¬
schen Supremat nur zum Vortheil gereichen kann, sind von inneren Schwie¬
rigkeiten geknebelt und die Türkei zählt in der europäischen Politik schon
seit lange nur noch als Ambos mit.
Daß eine Concentration auf die inneren Fragen und eine Parteibildung
nach der Stellung zu diesen angesichts einer so schwierigen auswärtigen Lage
unmöglich ist. hat sich in den letzten Wochen mit besonderer Deutlichkeit ge¬
zeigt. Wären wir nicht durch eine unglückliche Vergangenheit daran ge¬
wöhnt, die Frage nach der äußeren Stellung und der Würde unseres Staa¬
tes regelmäßig außer Augen zu setzen und, sobald es sich um die Durchführung
unserer speciellen Parteimeinungen handelt, taub und blind dafür zu sein, ob
der innere Hader unseren Feinden zu Gute kommt oder nicht — wir würden
es für selbstverständlich halten, daß die innere Entwickelung in. einer Zeit,
die täglich zu einem auswärtigen Kriege führen kann, alle Augenblicke ins
Stocken geräth. Kriege werden bekanntlich mit Geld und mit Soldaten ge¬
führt, für diese zu sorgen ist die erste Pflicht und zwar eine Pflicht, bet
deren Erfüllung nicht erst gefragt werden kann, ob und wie sie mit anderen
Pflichten zu vereinigen ist. Preußen hat es nicht verschuldet, daß die euro¬
päischen Völker sich so vollständig daran gewöhnt hatten, das deutsche Volk
als unmündiges Kind anzusehen, daß ihnen die gewichtige Stimme, in deren
Gebrauch wir uns 1866 gesetzt haben, wie eine freche Provocation, die
deutsche Machtstellung wie eine Anmaßung erscheint. Uns bleibt nichts übrig,
als des großen Friedrich's Mahnung: „lou^jours en veäette" zum Wahl¬
spruch zu nehmen, bis wir zu den legitimen großen Nationen gezählt werden
und unsere Großmachtstellung außer Frage steht.
So ereignißvoll der Septembermonat des Jahres 1868 für die aus¬
wärtige Politik gewesen, so wenig kommt er für das innere deutsche Leben
in Betracht. Von den Beziehungen des deutschen Nordens zu den Staaten
südlich vom Main ist seit dem Schluß des Zollparlaments nicht mehr die
Rede. Der Pessimismus, mit welchem wir am Ausgang dieser Versamm¬
lung behaupteten, sie habe bewiesen, daß wir von den stolzen Hoffnungen der
Jahre 1866 und 1867 so weit zurückgeworfen seien, daß uns selbst der Maß-
stab sür unsere innere Lage abhanden gekommen sei — er hat leider Recht
behalten. Die süddeutsche Frage ist von der nationalen Tagesordnung so voll¬
ständig verschwunden, als hätte sie niemals auf derselben gestanden, die Kluft
zwischen Norden und Süden ist so breit und so tief geworden, daß Frank¬
reich, wenn es den Eintritt Badens in den norddeutschen Bund als einen
CÄLus delli bezeichnet, damit eine Friedensgarantie zu bieten glaubt. Die Ge¬
danken an eine Annäherung der süddeutschen Länder an den Norden sind so
vollständig außer Curs gesetzt, daß selbst die Tagespresse von denselben nicht
mehr redet, sich kaum die Mühe gibt, die Bedeutung der gegenwärtig lager¬
ten süddeutschen Militärcommission näherer Erwägung zu unterziehen. Und
dieses Verhältniß ist wesentlich das Product der inneren Lage und hat zu¬
nächst noch nichts mit den Schwierigkeiten zu thun, welche Preußen franzö-
sischerseits im Fall einer Ueberschreitung der Mainlinie bereitet würden. Im
Norden steht die Sache so, daß die wärmsten Freunde der nationalen Sache
am wenigsten geneigt sind, die Heranziehung des Südens zu beschleunigen.
Die Mängel und Schwierigkeiten, welche die Reorganisation der Verwaltung
in den neuen Provinzen begleitet haben, die tausend Jnconvenienzen, zu
denen der Mangel fachmäßig geordneter Bundesministerien in den Preußen
verbündeten Kleinstaaten Veranlassung gegeben hat, sobald es sich um kon¬
sequente Durchführung von Bundesbeschlüssen handelte, haben denen, welche
einen tieferen Einblick in die Verhältnisse gethan, allen Muth benommen, den
Pflichtenkreis für die nationale Arbeit zu erweitern. Man fragt sich nicht
nur, wo die Kräfte herkommen sollen, die Reorganisationsarbeit zu über¬
nehmen, man fragt zugleich, wie auf wirkliches Verständniß und tactvolle Be-
Handlung süddeutscher Eigenthümlichkeit gerechnet werden könne, wo selbst das
Organ für eine richtige Behandlung der Altpreußen wesentlich näher ver¬
wandten neuen Provinzen zu fehlen scheint. Die Pfusch- und Flickarbeit der
Provisorien, welche als Nothbrücken zwischen den neuerworbenen Ländern
und der Centralverwaltung dienen sollen, hat nirgend Glück gemacht, weder
in den alten noch in den neuen Landestheilen, und das allgemeine Mi߬
trauen, mit welchem man den Eulenburg'schen Vorschlägen für Neugestaltung
der Provinzial- und Kreisverfassung und der Selbstverwaltung entgegensieht,
läßt dennoch fürchten, daß die Feststellung mit der Volksvertretung verein¬
barter Definitiv« noch lange auf sich warten lassen wird.
Dazu kommt endlich eine ministerielle Praxis, die selbst den an „obrig¬
keitliche" Bevormundungen reichlich gewöhnten ehemaligen Kleinstaatlern
unerträglich dünkt und alles Behagen an den neuen Verhältnissen gleichsam
in der Geburt erstickt. Die Taktlosigkeit, mit welcher die Mehrzahl der
berliner Centralstellen die Communalverhältnisse in den neuen Provinzen,
Anstellung neuer Lehrer und Beamten u. s. w. behandelt, erscheint um so
unbegreiflicher und unverzeihlicher, als jeder politische Schulknabe weiß und
wissen muß. daß die große politisch indifferente oder leicht bestimmbare Masse
der Bevölkerung sich allenthalben nach diesen Dingen ihr Urtheil über den
Staat und dessen Lenker bildet. Die berliner Officiösen haben die Sache so
dargestellt, als werde seitens der nationalen Partei systematisch und lediglich
aus Parteirücksichten gegen die Minister des Innern und des Cultus ge-
schürt. Ist man an maßgebender Stelle wirklich schlecht genug unterrichtet,
um nicht zu wissen, daß die nationale Partei die Situation genugsam über¬
schaut, um mit den vorhandenen Größen zu rechnen. soweit das überhaupt
möglich ist? Weiß man wirklich nicht, daß die nationale, d. h. preußische
Partei durch Geschichten wie die Kreyssig'sche um die Möglichkeit einer
gedeihlichen Wirksamkeit in den neuen Provinzen gebracht wird und daß die
wesentliche Quelle der Unzufriedenheit dieser Partei aus dem Unmuth dar¬
über herrührt, daß dieselbe die preußische Regierung gegen das eigene
Fleisch wüthen sieht? Welche sind denn die Factoren,'auf die das Mi-
nisterium sich stützen will, wenn die nationalen Führer in Hannover, Hessen
und Nassau um ihren Einfluß gebracht werden? Haben die Herren v. Muster
und v. Eulenburg in den annectirten Provinzen etwa bessere Freunde der
preußischen Sache aufzuweisen, als die Benningsen, Miquöl oder Braun?
Wo sind die Ministeriellen quavä nome zu finden, die man diesen Män¬
nern bei dennächsten Wahlen entgegenzustellen gedenkt?
So lange auswärtige Gefahren immer wieder die Fäden der inneren
Entwickelung zerschneiden und Wechselfälle im Tuileriencabinet und in den
pariser Zeitungsbureaus darüber entscheiden, welche innere Politik in
Deutschland getrieben werden kann, dürfen wir auf diese Fragen schwerlich
Antwort erwarten. Die Unberechenbarkeit der in Paris jeweilig herrschenden
Stimmungen und Tendenzen springt immer wieder zwischen Frage und Ant¬
wort störend ein, und wir wissen aus einer langen Reihe von Erfahrungen,
daß die Männer, welche Preußens innere Politik machen, zum Dienst der
wahren Interessen des Staats gezwungen werden müssen und von jeder Ge¬
legenheit, sich diesem Zwang zu entziehen, den weitesten Gebrauch machen! Die
stete Beunruhigung der öffentlichen Meinung durch pariser Allarmnachrichten
gibt ihnen immer wieder freie Hand und ein Ende derselben ist auch
gegenwärtig schlechterdings nicht abzusehen.
Die neueste Phase der französischen Kriegsmanifestationen ist von ihren
Vorgängerinnen dadurch wesentlich verschieden gewesen, daß selbst der Schein
eines wirklichen Kriegsvorwandes gefehlt hat. Grade der Mangel eines solchen
war es, der die Börsen ängstigte: „Geschieht das am grünen Holz gänzlicher
Abwesenheit von Differenzpunkten" — so calculirte man nicht unrichtig —
„was ist dann nicht zu fürchten, wenn die Interessen auch nur scheinbar auf
einander platzen?" Eine Sprache wie die Girardin's und der beiden Cas-
sagnac war nur erklärlich, wenn hinter diesen Regierungsmänner standen,
welche die Vollmacht hatten, einen plötzlichen Bruch vorzubereiten. Das
Uebergewicht der sog. spanischen Partei am Tuilerienhof, das sich in der
Abweisung der italienischen Forderungen und der Aufnahme des Grafen
von Girgenti documentirte, ließ darauf schließen, daß an Beruhigung der
Gemüther durch freiheitliche Concessionen nicht zu denken sei und der wesent¬
lich gouvernementale Ausfall der Wahlen unterstützte diese Annahme wenig¬
stens indirect. An die Alternative Krieg oder Freiheit hatte man sich längst
gewöhnt — warder Würfel jetzt geworfen? Das vieldeutige Wort, das der
Kaiser zu Chalons gesprochen und das nicht eben beruhigend klang, ließ sich in
diesem Sinne deuten. Gleichzeitig schlug die Sprache der wiener Preßorgane
eine veränderte Tonart an, und die Pessimisten hatten leichtes Spiel, wenn
sie diese einzelnen Thatsachen in Zusammenhang brachten und zu Ungunsten
der Aufrechterhaltung des Friedens deuteten.
Für uns Deutsche ist dieser Zeitpunkt allgemeiner Gespanntheit der
Gemüther und Verhältnisse mit einem Ereigniß zusammengefallen, das von
der Eider bis zu den Alpen mit Selbstgefühl begrüßt worden ist: mit der Rede
des Königs in Kiel. Auf die unerwartet günstige Aufnahme, welche der
greise Fürst an der Nordgrenze seines Staats gefunden, konnte keine bessere
Antwort ertheilt werden, als der Hinweis auf diejenige Frucht des Jahres
1866, in deren freudiger Anerkennung Alle einig sind, welche auf den Namen
von Patrioten Anspruch machen: die Berufung darauf, daß es keine Gefahr
gebe, der das neue Deutschland nicht stolz und ruhig ins Auge sehen könne.
Gerade in Schleswig.Holstein, wo der Verzicht auf die Realisirung in das
Volksbewußtsein übergegangener Lieblingshoffnungen besonders tief einge¬
schnitten hatte, weil die Erfahrung von der UnHaltbarkeit der ersehnten klein¬
staatlichen Existenz fehlte, hat das Bewußtsein, daß durch die gebrachten Opfer
mindestens ein Resultat, die Machtstellung des Vaterlandes erreicht worden
ist, eine wichtige Mission. — Die Art und Weise, wie das königliche Wort
in Paris interpretirt worden, beweist, daß es auch in Beziehung auf das
Ausland zur rechten Zeit und in der richtigen Tonart gesprochen worden
ist. Es gab beiden um die öffentliche Meinung Frankreichs streitenden Par¬
teien die gebührende Antwort und die famose Ministerialerklärung, welche
Rouher der Börse über seine Auffassung der kieler Rede mittheilen ließ, führte
zum Ueberfluß den Beweis, daß man auch in dem Vaterlande hochmüthigen
Selbstgefühls Regungen der Furcht nicht ganz unzugänglich sei. Es ließe
sich schwerlich nachweisen, daß jemals früher ein von einem deutschen Fürsten
gesprochenes Wort so nachhaltigen Eindruck in der französischen Hauptstadt
gemacht und einer beruhigenden Interpretation durch die Staatsleiter her¬
vorgerufen hätte!
Ein günstiges Geschick hat gewollt, daß der Höhepunkt der französischen
Kriegsdrohungen zugleich der Augenblick ihres Verstummens gewesen ist. Der
plötzliche Ausbruch der spanischen Revolution hat die preußischerseits angeord¬
nete Zurückstellung von Rekruten und Entlassung eines Theils der waffenfähigen
Mannschaft gerechtfertigt und als richtigen Calcul ausgewiesen. Fraglich kann
höchstens sein, ob der Aufstand in unserem und seinem eigenen Interesse nicht zu
früh ausgebrochen ist, ob er uns zu anderer Zeit nicht noch bessere Dienste ge¬
leistet hätte. Die Unberechenbarkeit seines Ausgangs muß zur Zeit als gün¬
stiges Moment angesehen werden, denn daß sich die Resultate der bisherigen
spanischen Erhebungen in der Regel vorausberechnen ließen, hing mit ihrer
Schwäche ziemlich eng zusammen. Die Aufmerksamkeit der Pariser ist fürs
Erste an die Wechselfälle des spanischen Bürgerkrieges gebannt, die Regie¬
rung durch die Besorgniß vor einem Siege des Hauses Orleans oder der
Bildung eines iberischen Einheitsstaats genugsam genirt — davon nicht zu
reden, daß die in Aussicht genommene eventuelle Besetzung Roms durch
spanische Truppen auch für den Fall eines Sieges der Königin Isabella un¬
möglich geworden ist. Der Zusammenhang zwischen einzelnen der spanischen
und französischen Parteien macht die Sache sür den Kaiser besonders bedenk¬
lich. Die bekannten Sympathien der Kaiserin Eugenie für „ihre Souveränin"
bringen außerdem eine Spaltung zwischen den bisher verbündeten Regierungs-
sractionen zuwege. — Der spanische Aufstand selbst bietet im Augenblick noch
das Bild eines unentwirrbaren Knäuels, dessen einzelne Fäden auch von dem
Auge des Zunächststehenden nicht unterschieden werden können. Siege die
Revolution und sind die Tage der spanischen Bourbonen ebenso zu Ende
wie die ihrer neapolitanischen und französischen Vettern, so scheint ein lang¬
jähriger innerer Krieg zwischen den siegreichen Parteien am wahrscheinlich¬
sten; die Behauptung, daß der Herzog von Montpensier keine Neigung hege,
der Nachfolger seiner unglücklichen Schwägerin zu werden, klingt nicht un¬
wahrscheinlich und zu einem friedlichen Austrag durch das von den Aufstän¬
dischen vorgeschlagene LulkraZs univorsel dürften in Spanien alle Vorbedin¬
gungen fehlen. Vielleicht daß der Partei der iberischen Unitarier, welche
gegenwärtig wenig zahlreich ist und im eigentlichen Volk keinen Boden hat,
vorbehalten ist, im Augenblick der Ermattung der übrigen Fractionen sieg¬
reich hervorzutreten und die Früchte der Umwälzung im Interesse des Hauses
Braganza zu pflücken. Das Einverständniß der Regierung des jungen Königs
von Portugal mit den Führern der Jberier in Spanien war schon vor Jahr und
Tag Gegenstand von Klagen in der clericalen Presse Frankreichs und Deutsch,
lands. — Daß die Königin Jsabella II. zu Gunsten ihres unmündigen
Sohnes des Prinzen von Asturien resignirt, ist wohl selbst für den Fall wahr¬
scheinlich, daß die Regierung die Oberhand gewinnen sollte; die Ausbreitung
des Aufstandes über die verschiedensten Punkte der Monarchie, der feste An¬
halt, den derselbe an der Flotte hat, das Einverständniß beinahe aller her¬
vorragenden Politiker des Landes und aller unzufriedenen Parteien werden
den General Concha auch im günstigsten Fall zu einem Compromiß dieser
Art zwingen. Die Annahme desselben verliert freilich von Tag zu Tage
an Chancen. Der veränderte Ton, in welchem die pariser Officiösen neuer¬
dings von den Fortschritten des Aufstandes zu reden begonnen haben, be¬
weist, daß es mit der Anfangs gezeigten Zuversichtlichkeit der Partei der
Kaiserin zu Ende geht und daß die kaiserliche Regierung sich auf einen ihren
Interessen ungünstigen Ausgang gesaßt macht.
Für Italien wird die spanische Revolution mindestens ebenso wichtig
sein wie für Frankreich. Das Papstthum verliert an der Tochter Christines
eine warme Freundin, der neapolitanische Exkönig die einzige Verwandte,
die noch über Land und Leute zu gebieten hatte, und die zuversichtliche
Miene, welche der italienische Legitimismus während des letzten Sommers zu
zeigen begann, wird sich unter den veränderten Verhältnissen der Gegenwart
nicht mehr behaupten lassen. Für die Sache der italienischen Regierung ist
damit freilich noch nicht viel gewonnen; de Moustier's entschiedene Erklärung,
daß an eine Räumung Roms noch nicht zu denken sei, hat den General
Menabrea um die Möglichkeit gebracht, den nach der Parlamentsauflösung
nothwendig gewordenen Neuwahlen unter Vortritt auch nur eines wichti¬
geren Resultats entgegen zu gehen und die Dämpfer, welche den Unzufrie¬
denen Neapels einerseits durch die spanische Revolution und andererseits
durch das Scheitern der Ratazzi'schen Pläne für ein süditalisches Gegenpar¬
lament aufgesetzt worden sind, bewirken höchstens, daß der Heerd der regie¬
rungsfeindlichen Partei aus Süd- nach Mittelitalien verlegt wird. In den
Hofkreisen wird der erbitterte Kampf zwischen Lamarmora und Cialdini, den
Anhängern Frankreichs und denen Preußens, noch immer fortgeführt, in Rom
ist einer der Mitunterzeichner des züricher Friedens, und eifriger Anhänger
des äowimum temporale, Herr v. Banneville, an Stelle des bisherigen
französischen Gesandten Sartiges getreten, vielleicht um symbolisch anzu¬
deuten, daß die Gerüchte von neuen Angriffsplänen der Aetionspartei gegen
Rom die Entschlossenheit Frankreichs nur gesteigert, nicht herabgestimmt
haben. Im Uebrigen herrscht im patriotisch-italienischen Lager die frühere
Apathie und Niedergeschlagenheit. Aus eigener Kraft über die obwaltenden
Schwierigkeiten hinwegzukommen, hat man längst aufgegeben — man lebt
von der Hand in den Mund und hofft, die gegebenen Verhältnisse werden
wenigstens bis zum nächsten Zusammenstoß in Mitteleuropa vorhalten und
die Eventualität offen lassen, diesen zur Befreiung von der französischen
Vormundschaft auszubeuten.
Die längere Zeit hindurch ziemlich weit verbreitete Annahme, Frankreich
habe es auf einen Winterfeldzug gegen Deutschland abgesehen und dieser
werde im italienischen Interesse benutzt werden können, hat durch die neuesten
Vorgänge in Oestreich beträchtlich an Wahrscheinlichkeit verloren. Noth¬
wendige Vorbedingung einer Verwirklichung von Plänen dieser Art ist die
Zustimmung des wiener Cabinets, das sich mindestens anheischig machen
müßte, Rußland zu beschäftigen. Die unaufhörlichen Schwankungen in der
inneren Politik des Kaiserstaats schließen aber gegenwärtig jeden Gedanken
an eine äußere Action desselben aus. All' die Schwierigkeiten, mit denen
der Dualismus von Hause aus zu kämpfen hatte, sind in dem verwiche-
nen Monat zusammengetroffen, um die Stellung des Ministeriums und
des Reichskanzlers zu erschüttern. Die strengen Maßnahmen, mit denen das,
Ministerium Giskra-Auersperg gegen die ezechische Presse vorging, sind ver¬
geblich geblieben und haben nur Oel in das Feuer des böhmischen National¬
fanatismus geschüttet, der prager Provinziallandtag ist durch die Zurück¬
haltung der czechischen Partei zu einem Rumpfparlament geworden, das trotz
seiner Beschlüsse für Umgestaltung der Beleredi'schen Gesetze und trotz des
guten Willens, den die liberalen Deutsch-Böhmen im Uebrigen bewiesen haben,
dem Ministerium keine erheblichen Dienste leisten kann. Zieht die Regierung
das factische Verhältniß, nicht den demselben gegebenen formalen Ausdruck
in Betracht, so hat es in Prag Fiasco gemacht. In den deutschen Kron¬
ländern, welche zu Gunsten der Verfassung eingetreten, erheben die rennenden
Bischöfe das Haupt so trotzig, daß ihre Bändigung alle disponiblen Kräfte
in Anspruch nimmt und nicht daran gedacht werden kann, einen Ueberschuß
derselben gegen die andringenden slavischen Elemente ins Treffen zu führen.
Während auf diese Weise in den Ländern, wo die Regierung am stärksten
ist, freundliche und feindliche Einflüsse einander die Wage halten, erleidet
das Ministerium Giskra-Auersperg an den exponirten Punkten Niederlage
über Niederlage. Die schlimmste, weil unerwartetste und unverdienteste der¬
selben ist der Regierung von der Thorheit der Polen Galiziens bereitet worden.
Während Oestreich wegen des Schutzes und guten Willens, den es den Polen
bewiesen, von Rußland ebenso angefeindet wird wie von der Mehrzahl der
panslavisirenden Westslaven, während das Cabinet den Polen zu Liebe alle
Sympathien unter den Treusten der Getreuen Habsburgs, den Ruthenen,
eingebüßt hat, benutzen die Führer des lemberger Landtags die prekäre Lage
der k. k. Hofburg, um mit Ansprüchen hervorzutreten, deren Verwirklichung
Mit der Aufhebung der cisleithanischen Reichsverfassung gleichbedeutend wäre.
Wie empfindlich der Stoß ist, der dem liberalen Ministerium dadurch be¬
reitet worden, sehen wir aus dem Rücktritt des Fürsten Auersperg, der
trotz des Verzichts auf die galizische Kaiserreise aufrechterhalten worden ist
und trotz aller kaiserlichen Versprechungen einen Niedergang der konstitutio¬
nellen Einflüsse bedeutet.
Nicht minder unheilvoll haben die Mißerfolge des liberalen wiener Ca-
binets in Ungarn gewirkt. So scharf die Grenzlinie auch ist, welche die un¬
garische Opposition zwischen den Ministerien der beiden Neichshälften zieht
— es hat nicht ausbleiben können, daß die Unfälle des einen die Stellung
des andern Cabinets geschädigt und die Einflüsse der Linken gesteigert haben,
trotzdem daß Graf Andrassy ein neues wichtiges Resultat, die Annahme
seiner kroatischen Ausgleichsvorschläge durch den Pesther Landtag aufzuweisen
hat. Mögen die Leichtblütigen unter den Gliedern der ungarischen Oppo¬
sition immerhin des Glaubens sein, Ungarns Sache könne durch den Sturz
des gegenwärtigen Cabinets nur gewinnen, mögen sie wähnen, die polnische
Drohung. Galizien werde sich Ungarn anschließen, wenn es mit Oestreich nicht
handelseinig geworden, lasse sich im Interesse erhöhter Selbständigkeit der
Stephanskrone ausbeuten — den deutschen Freunden der ungarischen Sache
ist niemals zweifelhaft gewesen, daß der ungarische Einfluß auf die wiener Ent¬
schließungen in demselben Maße abnimmt, in welchem er sich von seiner
eigentlichen Aufgabe, Garant einer friedlichen auswärtigen Politik Oestreichs
und — was gegenwärtig mit dieser identisch ist — einer liberalen inneren
Politik zu sein — entfernt. Vergebens schauen die Pesther Oppositions-
männer nach Osten aus. bald von einem Bündniß mit den Rumänen die
Erweiterung der magyarischen Machtsphäre hoffend, bald mit den Serben
verhandelnd (vgl. Ungarische Monatsschrift, H. III., S. 85, 93 u. s. w.). —
Ungarn kann die Aufgabe, welche es bei dem Ausgleich von 1867 übernom¬
men, nur durchführen, wenn es im Westen das Heil sucht und sich durch
treue Unterstützung der deutsch-östreichischen Friedens- und Freiheitspolitik
Anspruch darauf erwirbt, in seiner inneren politischen und wirthschaftlichen
Arbeit unterstützt zu werden. Die Spekulation auf Erweiterung der ungari¬
schen Selbständigkeit durch eine Ministerveränderung, ist grundfalsch. 'Ein
gerechten ungarischen Ansprüchen geneigteres cisleithanisches Ministerium,
als das Cabinet Giskra - Auersperg, wird in Deutsch - Oestreich nicht zu
finden sein — eine ungarische Regierung, die links von dem Andrassy'-
schen Programm Stellung nimmt, ist mit dem Fortbestande der östreichischen
Monarchie nicht wohl vereinbar. Wenn ungarischerseits dennoch auf den
Rücktritt des Reichskanzlers und der beiden Ministerien in Pesth und Wien
speculirt wird, so muß das als Verstoß gegen die politische Logik angesehen
werden.
Trotz der Wirren in Spanien und trotz der empfindlichen Schläge,
welche der östreichische Liberalismus, dieser Haupthalter des Friedens in
Mitteleuropa, erfahren hat, schließt der Monat September unter beruhigenden
Auspicien. So furchtbar haben sich die auf der wiener Regierung lasten¬
den Schwierigkeiten gehäuft, daß es fraglich erscheint, ob selbst die Feinde der
neuen Verfassung im Fall eines Sieges sobald in der Lage wären, einen Krieg
wollen zu können. — Die Fortdauer der Bandenbildung an der rumänisch¬
bulgarischen Grenze würde unter anderen Umständen und angesichts der
türkischen Drohung mit dem Einschreiten großherrlicher Truppen für ein ge¬
fährliches Symptom gelten dürfen, nur haben gegenwärtig das in einer neuen
Krisis begriffene Oestreich und Rußland, das allen Nachdruck auf Durchfüh¬
rung seiner Maßregeln zur Russificirung der katholischen Kirche in Polen
und Litthauen zu legen begonnen, das gleiche Interesse daran, die Gelegen¬
heit zu Conflicten an der unteren Donau hinwegzuräumen. Das Journal
6e Le. ketersdourA hat sich noch neulich direct dahin ausgesprochen, daß
Rußland im Interesse seiner türkischen Glaubensgenossen eine Fortdauer der
bulgarischen Wirren gegenwärtig nicht wünsche.
Fürs Erste wirken die beiden ehemals durch eine Tyrannei verbundenen
Außenposten westeuropäischer Cultur — Spanien und Ungarn — jenes
trotz seiner Unruhe, dieses vermöge seiner einsichtigen Ruhepolitik als ein¬
ander äguirende Wagschalen.
„Gespräche mit Goethe in den letzten fahren seines Lebens." Bon I. P. Ecker¬
mann. 3 Bände. Dritte Ausgabe/ (Leipzig bei F. A. Blockhaus.)
Mit der Herausgabe einer neuen Auflage dieses Buches ist dem Bedürfniß
eines großen Leserkreises entsprochen worden, der dasselbe zwar noch aus der Tra¬
dition kennt, aber nicht die Gelegenheit zu gründlicherer Vertiefung mehr gehabt
hat. Als besonderer Vorzug ist anzusehen, daß nunmehr das gesammte Werk in
einer Ausgabe zu haben ist, da die Verlagsfirma auch das Eigenthum des dritten
Bandes erworben hat. Dieser dritte Band war elf Jahre nach den beiden ersten
Bänden und zwar inmitten der Wirren des Revolutionsjahres 1848 zu Magdeburg
erschienen und aus diesem Grunde übersehen und vergessen, ehe er gehörig bekannt
geworden. — Der Werth von Aufzeichnungen nach Art der Eckermann'schen hat das
mit dem des Weins gemein, daß er von Jahr zu Jahr zunimmt. Was den Zeit¬
genossen ausschließlich wegen seiner Beziehung zu dem großen Dichter von In¬
teresse war, hat für die neuere Generation, die an die zweiundzwanzig Jahre später
erschienene Ausgabe geht, zugleich culturgeschichtliche Wichtigkeit. Die Physiognomie
unseres öffentlichen Lebens hat sich seit jenem Zeitpunkt so vollständig verändert,
daß es einer Orientirung bedarf, um zu richtigem Verständniß der Zustände zu ge¬
langen, die den Dichter umgaben. Gerade für diese Orientirung ist das Eckermann'-
sche Buch von unschätzbarem Werth. Wenn es sein Inhalt auch wesentlich mit
Goethe's Stellung zu künstlerischen und wissenschaftlichen Fragen zu thun hat, die
an und für sich von den Zeitverhältnissen und deren Wechsel unabhängig sind, so
fehlt es doch nicht an Episoden, welche zugleich Streiflichter auf die concreten Zu¬
stände der deutschen Gesellschaft der zwanziger und dreißiger Jahre werfen. Eine
der interessantesten dieser Episoden ist bekanntlich der durch Eckermann erhaltene
Ausspruch Goethe's über die Bedingungen zur Einigung Deutschlands und das
ahnungsvolle Wort, das der Dichter damals von der Nothwendigkeit sprach, zu¬
nächst die Hemmnisse des Verkehrs und Wirthschaftslebens zu beseitigen und dem
Deutschen dadurch die Empfindung zu geben, daß er außerhalb seiner speciellen Hei¬
math überhaupt zu Hause und unter Deutschen sei — dieses Wort, das dem vor¬
märzlichen Liberalismus oft genug zum Gegenstand der Klage über des „Geheim¬
raths politische Urtheilslosigkeit" gedient hat, muß in unserer Zeit, der die
Erfüllung dessen zu Theil geworden, was damals Gegenstand kühner Wünsche war,
von besonders schlagender Wirkung sein. — Gerade die letzten Lebensjahre
Goethe's sind von seinen Biographen (auch Lewes nicht ausgenommen) sehr viel
flüchtiger behandelt, als die Abschnitte bis zu Schiller's Tode, freilich weil diese
ganz abgesehen vom Helden einen Stoff bieten, neben dem eigentlich jeder Roman
zu kurz kommt. Dieser romanhafte Charakter fehlt den letzten dreißig Jahren
natürlich vollständig. So vertraut die Nation mit dem leipziger Studenten, dem
Gast in Sesenheim, dem Nechtspraktikanten von Wetzlar und dem Genossen
Schiller's ist: der Greis Goethe steht ihr ferner und wird wesentlich nach den Ein¬
drücken beurtheilt, die er neugierigen und schreiblustigen Besuchern und Touristen
zurückließ. Goethe's große Zeitgenossen, denen wir einen nicht geringen Theil der
Kunde von seinen früheren Lebensjahren zu danken haben, waren damals sämmtlich
todt und die Vermittler dessen, was das größere Publikum von ihm erfuhr, waren
Fremde, die nicht selten ohne Pietät, noch öfter ohne feineres Verständniß waren. Gerade
aus diesem Grunde begrüßen wir das Erscheinen der neuen Ausgabe der „Ge¬
spräche" mit besonderer Genugthuung. Bilden diese doch das vorzüglichste aller
vorhandenen Mittel, um auch den Altmeisterin das deutsche Volks- und Fami¬
lienbewußtsein einzuführen.
Mit vorliegendem Hefte Ur. 40 beginnt diese Zeitschrift ein
neues Quartal, welches durch alle Buchhandlungen und
Postämter zu beziehen ist.
Leipzig, im September 1868.Die Verlagshandlung.
Die arbeitenden Classen Englands in socialer und politischer Beziehung von I, M.
Ludlow und Lloyd Jones. Aus dem Englischen v. Julius von Holtzendorff. Berlin.
I. Springer 1868.
Der gewaltige Aufschwung der englischen Industrie datirt von der im An¬
fang dieses Jahrhunderts beginnenden Masseneinfuhr der amerikanischen Baum¬
wolle und von der fast gleichzeitigen Erfindung der Dampfmaschine, welche
ausgedehnte Fabrikanlagen in den Städten ermöglichte, denen die Wasser¬
kraft fehlte. Aber die großen Vermögen, welche die Unternehmer nun meist
rasch gewannen, beruhten nicht blos auf der Anwendung von Maschinen,
sondern auch wesentlich auf einer übertriebenen Ausbeutung der Arbeiter, die
von ö Uhr früh bis Abends spät mit kurzen Unterbrechungen beschäftigt,
schlecht genährt und gekleidet waren und in kümmerlichen schmutzigen Woh¬
nungen fast ohne Unterricht hinlebten; besonders verwerflich war die Be¬
schäftigung der Kinder, welche oft schon mit fünf, immer mit neun Jahren
in die Fabrik geschickt wurden. Die Folgen hiervon machten sich bald gel¬
tend durch eine rasche allgemeine Verschlechterung der Constitution, zahlreiche
Krankheiten und große Rohheit, bedingt durch die fast vollständige Unwissen¬
heit. Diese Uebelstände wurden noch vermehrt durch das vielfach herrschende
Trucksystem (truck, frz. troo Tausch). Viele Fabrikanten übernahmen darnach,
um den nomineller Lohn noch weiter herabzudrücken, für die Bedürfnisse
ihrer Arbeiter zu sorgen und lieferten ihnen Lebensmittel. Kleider, oft auch
Wohnungen in möglichst schlechter Qualität und zu möglichst hohem Preise.
Eine andere Plage der Arbeiter waren die Mittelmänner (miäcHc-mon, buttiLs),
welche die Auszahlung der Löhne übernahmen und dann einen Theil der¬
selben einbehielten, den die Arbeiter im Trinken durchbringen mußten; der Rest
wurde in Wirthshäusern ausbezahlt, die der tutt? hielt und die neuen An¬
laß zum Trunk gaben. Erwachsene und Kinder waren nach der übermäßigen
Tagesarbeit erschöpft und unfähig zu geistiger Anstrengung und suchten ihre
Erholung in wüsten Lustbarkeiten; von Zeit zu Zeit machte sich der Haß der
Unterdrückten dann durch Aufstände, Brandstiftungen und Morde Luft. Mr.
Lloyd Jones war gegenwärtg als 1828 eine der.Fabriken in Manchester durch
Feuer zerstört ward. „Das brennende Gebäude war umlagert von Tausenden
aufgeregten Volkes, deren Gesichter, geröthet durch die aufsteigenden Flammen,
eine ungestüme und wilde Freude ausdrückten. Als das Feuer seinen Weg
nahm von Raum zu Raum, herausschlagend aus den langen Fensterreihen,
wurde ein Freudengeschrei von dem Haufen auszestoßen und als es endlich
durch das Dach brach und prasselnd zum Himmel aufstieg, tanzte die rasende
Menge in Lust, jauchzte und klatschte in die Hände wie in ungezügelten
Dankgefühl für einen großen Sieg."
Den ersten Anstoß zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen
gaben Huskissons Finanzreformen und die Aufhebung der Coalitionsgesetze.
Bis 1826 waren die Vereinigungen der Arbeiter unter sich, um höheren Lohn
zu erzielen, ganz verboten, wodurch dieselben natürlich nicht gehindert, son¬
dern nur zur Heimlichkeit und oft zu gewaltsamen Ausbrüchen getrieben
wurden. Damals wurden diese repressiven Gesetze (eomdillatiou 1s,>of) auf¬
gehoben und den Arbeitern die Freiheit gegeben, sich zu vereinigen und
eine Verständigung zu erzielen, um den Lohn und die Stunden festzusetzen,
wofür sie ihre Arbeit anbieten wollten. Diese Maßregel mußte einen großen
und wohlthätigen Einfluß ausüben. Das Schicksal des Arbeiters hängt von
den Bedingungen ab, unter denen er über seine Arbeit verfügt, er findet,
daß er als Einzelner, ohne Reservefonds, von der Hand in den Mund lebend,
durch seine Mittellosigkeit fest an die Scholle gebunden, nur einen schlechten
Handel mit dem Unternehmer machen kann, der ihm in jeder Beziehung
überlegen ist. Er muß annehmen, was ihm geboten wird und leidet unter
niedrigem Lohn, langer Arbeitszeit und schlechtem Arbeitsraum. Anders
aber wird es, wenn er sich mit seines Gleichen zusammenthut und mit ihnen
über die Bedingungen einigt, welche sie von den Arbeitsgebern fordern
wollen; eine solche genossenschaftliche Gliederung hilft dem Arbeiter, sich auf
gleichen Fuß mit dem Capitalisten zu stellen, indem er nun Bedingungen
machen und Zumuthungen verweigern kann. Die Mitglieder verbinden sich,
ihre Lebensfragen, Lohn und Arbeit, zu discutiren, sich den Beschlüssen
der Majorität zu unterwerfen und bilden, um diese durchsetzen zu können,
einen gemeinsamen Fonds durch regelmäßige Beiträge aus ihrem Lohn.
Wollen die Unternehmer ihre Bedingungen nicht annehmen oder nicht ein¬
halten, so remonstrirt die Genossenschaft, und hilft das nicht, so kündigen sie
alle auf einmal (strike) und werden aus den Fonds unterstützt bis die
Krisis beseitigt ist und entweder die Unternehmer oder sie selbst nachgegeben.
Dies Princip wurde die Grundlage der freien Innungen, rracles IImons,
welche trotz ihrer großen später zu besprechenden Schattenseiten wesentlich
zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen beigetragen haben, indem
sie eine Schranke gegen die Selbstsucht der Unternehmer bildeten.
Demnächst sind die Fabrikgesetze (taetoi^ u-elf) zu nennen, zu denen der
Grund bereits 1819 gelegt wurde, die aber erst allmählich in Wirksamkeit
traten und bis 1864 durch Additionalaete, (deren berühmtester die Zehnstun¬
denbill von 1847 war) immer mehr erweitert wurden. Es ward- durch diese
Gesetze vor allem die Arbeit von Kindern und Frauen in der Art beschränkt,
daß denselben Zeit für Erholung und Essen blieb, indem die Arbeitsstunden
junger Leute unter 18 Jahren und weiblicher Personen auf 10 Stunden
täglich und 58 wöchentlich als Marimum festgesetzt wurden. Kinder unter
acht Jahren dürfen (später sind ärztliche Zeugnisse nothwendig, um sie zur
Fabrik zuzulassen) nur in einzelnen Ausnahmsfällen überhaupt beschäftigt werden,
die Rastzeiten müssen zwischen 7 V2 Uhr Vormittags und 6 Uhr Nachmittags lie¬
gen, wenigstens IV2 Stunden betragen und die Mahlzeiten dürfen nicht in den
Fabrikräumen eingenommen werden. Die Letzteren sollen billigen sanitätischen
Bedingungen entsprechen, namentlich hinsichtlich der Ventilation; das Ma¬
schinenwerk soll überwacht werden, um Unglücksfällen vorzubeugen; für den
Unterricht der Kinder wird besser gesorgt, er ist obligatorisch für alle, die
48 Stunden wöchentlich arbeiten. Sonnabend Nachmittag wird um 2 Uhr
geschlossen, um Ausflüge und Spiele im Freien zu ermöglichen, und das Aus¬
zahlen der Löhne im Wirthshause ist verboten. Vom Staate angestellte
Jnspectoren halten darauf, daß diesen Vorschriften genügt wird.*)
Entsprechend den Fabrikgesetzen ward auch die Arbeit in den Bergwerken
und Kohlengruben geregelt. Hier verbot ein Gesetz von 1842 die Beschäf¬
tigung von Frauen und Mädchen gänzlich, weil diese Arbeit für ihr Geschlecht
unpassend sei, ebenso von Knaben unter 10 Jahren. Knaben zwischen 10—12
Jahren dürfen nur dann beschäftigt werden, wenn sie, lesen und schreiben
können, junge Leute dürfen zur Aufsicht über Maschinen erst mit dem 18.
Jahre angestellt werden. Jnspectoren sind auch hier bestellt, die namentlich
sogleich über jeden Unfall zu berichten haben.
Auch Schornsteinfeger, Bäcker, Matrosen und Arbeiter in ähnlichen Ge¬
werben sind entsprechend geschützt, Matrosen hauptsächlich durch Vorschriften
für die Gesundheit und die Sicherheit der Schiffe.
Alle diese Gesetze sind in hohem Grade wohlthätig gewesen. Die Gegner
derselben, vornehmlich die Fabnkherren behaupteten, sie würden die Löhne
Herabdrücken, die Production vermindern und die Arbeiter würden ihre
Mußestunden in Müßiggang und Trunk vergeuden; aber gerade das Gegen¬
theil ist eingetroffen. Vor allem hat sich der Gesundheitszustand in den Fabrik-
districten merkwürdig gehoben, die Krankheiten, die in ihnen früher specifisch
waren, sind fast ganz verschwunden. Man sieht wenig krumme Beine, spitze
Schultern und bleiche Gesichter, namentlich die Frauen und Mädchen sind
jetzt blühend und stark. Bevor die Fabrikgesetze durchgesetzt waren, hatten
nur wenige Kinder Gelegenheit, die Schule zu besuchen — jetzt arbeitet jedes
Kind unter 13 Jahren nur einen halben Tag in der Fabrik und besucht 3
Stunden die öffentliche Schule. 1843 erhielten nur 19°/g der Fabrikkinder
solchen öffentlichen Unterricht, 45"/^ besuchten Frauenschulen, die kaum den
Namen verdienten, der Rest gar keine, — jetzt frequentiren 70°/« öffentliche und
14°/«, Privatschulen, die von Männern gehalten werden. Die Verbindung
von mäßiger Arbeit und Lernen hat sich speciell bewährt und man hat ge¬
funden, daß diese Kinder durchschnittlich mehr lernen, als die welche 5—6
Stunden in der Schule festgehalten werden. Ebensowenig haben durchschnitt¬
lich die Erwachsenen die gewonnene Zeit vergeudet; ihre Intelligenz hat sich
gehoben, ihre Wohnungen sind sauberer, die Lebensmittel besser geworden,
die Trunkenheit hat im Ganzen abgenommen, Abendschulen sind eingerichtet
und fleißig besucht, vernünftigere Vergnügungen haben mehr und mehr die
rohen verdrängt und die Sittlichkeit hat sich dermaßen gehoben, daß in
einer Fabrik, welche 500 Mädchen beschäftigt hat, durchschnittlich nur 3
uneheliche Kinder geboren haben. Die beste Probe des sittlichen Fortschritts
hat die Bevölkerung von Lancashire durch ihre Haltung in der Baumwollen¬
noth gegeben.
Aber auch die Fabrikherren haben anerkannt, daß die Gesetze durchaus
wohlthätig gewirkt. „Viele von uns (sagt Mr. Potter S. 83) haben sie als
einen ungerechten Eingriff in Capital und Arbeit erklärt und sich demgemäß
widersetzt. Sie sind aber in socialer Beziehung wohlthätig gewesen , die
Baumwollendistrictbevölkerung hat sich in rascher und gesunder Weise ver¬
vollkommnet, diese Legislation war dem Baumwollengewerbe sogar eine
wesentliche Kräftigung. Vollendetes Maschinenwesen verlangt regelmäßig be¬
schäftigte, wohleingeübte Hände und eine gute physische Beschaffenheit."
Die Fabrikherren haben eben eingesehen, daß die verbesserte Qualität
der Arbeiter weit wichtiger ist als die Länge der Arbeitszeit und acceptiren
daher gern das fernere Eingreifen der Gesetzgebung, sowie sie selbst die An¬
legung von Schulen, Parks, Bädern, Waschanstalten u. f. w. fördern. Die
Ergebnisse sind dem entsprechend günstig, die Löhne stiegen von 1844—1860
durchschnittlich um 10°/<>, die in der Baumwollenindustrie beschäftigten Spin¬
deln von 17 Millionen im Jahre 1830 auf 30 Millionen im Jahre 1865.
die Bevölkerung von Lancashire selbst wuchs in 10 Jahren um 20"/<,. 1841
belief sich die Zahl der in den Bergwerken Großbritanniens beschäftigten
Arbeiter auf 193,823, von denen 118,233 in Kohlengruben waren. Im Jahre
1861 war die Zahl dieser letzteren allein auf 235,000 gestiegen, 1866 aus
307,000; der gesammte Werth der Bergwerksproducte stieg von 18S3—1864
beinahe um 69°/<,, also mehr als 6^ jährlich.
Parallel mit dieser Entwickelung der schützenden Fabrikgesetzgebung geht
das Bestreben des Parlaments, den Arbeitern Erleichterungen für ihr selb¬
ständiges Unterkommen zu gewähren durch Ausbildung des Sparkassen¬
wesens, Gründung von Unterstützungscassen, Baugesellschaften, Schulen. Lese¬
zimmern, Volksbibliotheken, Museen und Sammlungen aller Art, Muster¬
schutz u. s. w. Alle diese Maßregeln hatten einen wohlthätigen Einfluß; die
Spcircasseneinlagen haben sich in progressiven Maße vermehrt, besonders
seitdem das Gelddepartement der Post sich mit ihrer Verwaltung befaßt. Die
Bau- und Landgesellschaften haben einer immer wachsenden Zahl von Arbei¬
tern eigene Häuser verschafft, indem sie große Güter ankauften und sie par-
cellirten; im Jahre 1861 wurden die Mitglieder der sämmtlichen Baugesell¬
schaften in England auf 100,000 und ihr Capital auf 6 Mill. Pfd. Sterl.
geschätzt. Der Fortschritt des Unterrichts ist im Verhältniß zu dem der Be¬
völkerung noch ungenügend und wird es auch bleiben, so lange man sich in
England nicht entschließt, allgemeine Schulpflicht einzuführen. Der frühere
Unterrichtsminister Bruce gibt selbst zu, daß, während 2 Millionen Kinder die
Schule besuchen sollten, nur 8—900.000 dieser Pflicht genügen. Nichtsdesto¬
weniger ist auch hier der Fortschritt unverkennbar, denn erst durch die Ver¬
minderung der Arbeitsstunden wurde den Kindern Zeit und Kraft gegeben,
die Schule zu benutzen. Auch für den Unterricht Erwachsener ist viel ge¬
schehen, namentlich durch Förderung der Musterzeichenschulen, welche einen so
günstigen Erfolg lieferten, daß die französischen Arbeiterdelegirten, welche zur
Ausstellung von 1862 hinübergesandt wurden, erstaunt waren über die Fort¬
schritte der englischen Industrie seit 1851. Das South-Kensington-Museum,
von Prinz Albert gegründet, hat in dieser Beziehung ungemein .viel gewirkt,
und an Institute dieser Classe schließen sich die Gewerbeschulen an, die über fast
ganz England verbreitet, aber besonders zahlreich in Lancashire und Yorkshire
sind, wo sie sich, meist unter einander verbunden, gegenseitig durch Lehrer
und Utensilien aushelfen; die Yorkshire-Universität zählt 138 Institute, von
welchen 90 Abendclassen hatten, die von mehr als 9000 Schülern besucht
wurden. Höher strebende Arbeiter können ihre Bedürfnisse in den ^Vorlm^
Uhr's lüollciges befriedigen, in welchen alte und neue Sprachen, Trigono¬
metrie. Algebra, Botanik, Physik und Buchhaltung gelehrt wird.
Die öffentlichen Bibliotheken haben einen außerordentlichen Aufschwung
genommen; die 1852 in Manchester gegründete hatte nach siebenjährigen
Bestehen 27,000 Bände für Lesende und 22.000 für Entleihende, sie hatte
an erstere 602,000 Bände und leihweise 39,000 ausgegeben, der Totalverlust
für verlorene und verletzte Bücher war in dieser Zeit nur 3 Pfd. Sterl.
Besonders haben sich die Arbeiterlesezimmer vermehrt, seit die Herabsetzung
des Stempels die Entwickelung der Pennypresse ermöglichte; während 1829
die sämmtlichen in London täglich erscheinenden Zeitungen in ca. 35,000 Exem¬
plaren verbreitet wurden, wird jetzt der Daily Telegraph allein nach be¬
glaubigter Angabe in 138,700 Exemplaren abgezogen. Im Zusammenhang
hiermit ist die Einführung des Pennyporto unstreitig der Arbeiterclasse für
ihre geistige Ausbildung ebenso zu Nutze gekommen wie für ihre materielle
Entwickelung die Durchführung des Freihandels und die Herabsetzung der
Abgaben auf die nöthigsten Lebensmittel wichtig geworden ist.
Alle diese Maßregeln treten indeß an Bedeutung zurück gegen die Ver¬
bindungen der Arbeiter unter sich zum Zweck des Schutzes und der Förde¬
rung der Arbeit selbst. Hier sind in erster Reihe die Consume-, Rohstoff-
und Vorschußvereine zu nennen, in welchen zuerst das Princip der Associa¬
tion, welches in den modernen Actiengesellschaften so Großes geleistet, seine
fruchtbaren Wirkungen für die unteren Classen zeigte. Die Consum- und
Nohstoffvereine gewähren dem Arbeiter den Vortheil, seine Bedürfnisse in bester
Qualität zu den billigsten Preisen anzuschaffen, der kleinsten Haushaltung werden
alle Vorzüge der großen Oekonomie und so vieler in ihr allein anwendbarer
Erfindungen zu Theil, ohne daß eine Uebervortheilung der Mittelsleute,
Krämer, Müller u. s. w. zu fürchten wäre. Die Vorschußvereine gewähren
dem Arbeiter Credit, welchen er allein nie oder doch zu unerschwinglichen
Bedingungen erhält. Der Gewinn, der sich schließlich ergibt, wird unter die
Mitglieder des Vereins vertheilt. Solche Genossenschaft stärkt die geistigen
Elemente ebenso wie die materiellen, nur sittlich und ordentlich Lebende
werden als Mitglieder aufgenommen; Spirituosen sind bei den Consumver-
einen meist ausgeschlossen, die Einzelnen fühlen sich als Genossen eines größe¬
ren Ganzen,- für dessen Förderung zu arbeiten ihr eigenes Interesse ist. Die
^«MtcMv ?ionöM'8 in Rochdale begannen diese Bewegung 1844 mit einem
Capital von 28 Pfd. Sterl.. 1866 betrug dasselbe 99,989 Pfd. Sterl. und
die Anzahl der Mitglieder 6246. Jetzt bestehen 651 solche Vereine mit
148,586 Mitgliedern. In zweiter Linie sind die obenerwähnten er-rcivs uruonL
zu nennen, welche in letzter Zeit die öffentliche Aufmerksamkeit in England
so sehr beschäftigt haben. Ihr Zweck ist, wie wir sehen, die Arbeiter durch
genossenschaftliche Gliederung gegen die Uebermacht des Capitals und der
Unternehmer zu schützen; sie sichern ihren Mitgliedern zwar auch Unter¬
stützungen im Fall von Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit und Alter, aber
wesentlich geht ihr Ziel auf die Regelung des betreffenden Gewerbes. Sie
suchen die Stunden der Arbeitszeit, die Höhe des Lohnes und die Zahl der
Lehrlinge festzusetzen und sie vertreten den Arbeiterin Fällen des Conflicts mit
dem Unternehmer; das Mittel hierzu ist die Massenkündigung: der Strike.
Dieser bindet aber natürlich nur die Mitglieder der Union und der Ein¬
fluß auf andere nicht zu ihr gehörige Arbeiter hängt von dem Maßstab ab,
in welchem die Mitglieder Geschicklichkeit in dem speciellen Handwerk re-
prcisentiren. Ist ihre Kunst nicht groß, so werden Andere sich wenig um
ihre Forderungen kümmern und die Meister leicht außer der Union Arbeiter
finden — umfaßt dieselbe aber alle Handwerker erster Classe, so werden ihre
Forderungen auch für die Nichtunionisten von entscheidenden Einfluß werden.
Da also die Macht der Union auf ihrer Ausdehnung beruht, so erklärt es
sich leicht, weshalb ihre Mitglieder die Draußenstehenden mit allen Mitteln
zum Beitritt zu nöthigen suchen, eventuell aber verfolgen. Letzteres verbietet
nun freilich das Gesetz, welches mit drei Monaten Gefängniß den Arbeiter
bedroht „der sich gegen Meister oder Mitarbeiter irgend einer Gewaltsamkeit,
betreffe sie Personen oder Eigenthum, oder der Drohung. Einschüchterung,
Beschwerung oder Hinderung schuldig macht;" aber einerseits gibt es
manche Mittel, welche nicht direct gegen diese gesetzlichen Verbote verstoßen
und sich doch sehr wirksam erweisen, Arbeiter wie Meister einzuschüchtern,
(anonyme Drohbriefe, Ausschließung aus Wirthshäusern u. s. w.) und anderer¬
seits haben die Untersuchungen der königlichen Commission ans Licht gebracht,
in welch' furchtbarem Maße jene Gesellschaften durch festgeschlossene Organi¬
sation das Gesetz bisher straflos verletzen und wahrhaft verderbliche Grund¬
sätze durchführen konnten. Als leitendes Princip ist nämlich meistens auf¬
gestellt, daß alle Arbeiter gleich bezahlt werden sollen und keiner mehr
arbeiten darf, als was der Durchschnitt (g,vel'ÄW) genannt wird, ein Mini¬
mum von Arbeit, welches durch die Innung als das, was ein gewöhnlicher
Arbeiter ohne Anstrengung fertig bringen kann, festgesetzt wird. Der Arbeiter,
der mehr oder dasselbe in kürzerer Zeit fertig bringt, wird bestraft und wenn
er sich dem nicht unterwerfen will, von der Union ausgeschlossen. Ebenso ist
alle Stückarbeit untersagt, weil dabei die weniger geschickten Leute gegen die
ihnen überlegenen zu kurz kommen würden. Die Genossenschaft duldet nicht,
daß Leute, welche außerhalb der Union stehen, von Unternehmern beschäftigt
werden, und legen sämmtlich ihre Arbeit nieder bis Jene entlassen sind.
Es soll mit einem Wort alle Concurrenz unter den Arbeitern abgeschafft
werden, fleißige und geschickte Gesellen sollen nicht mehr verdienen dürfen als
schwerfällige und träge. So verderbliche Grundsätze, welche den elementarsten
Principien der Nationalökonomie widersprechen und alles Interesse des Ar¬
beiters an der Güte seiner Arbeit vernichten, können eben nur gewaltsam
durchgeführt werden, und die Zeugenaussagen in Sheffield haben gezeigt.
daß die Unions auch nicht vor dem Morde zurückschreckten. Widerspenstige
wurden zuerst durch Wegnahme ihrer Werkzeuge heimgesucht, half das nicht,
so beschädigte man ihre Häuser, legte Pulverminen, die von selbst exvlodiren
mußten, und blieb auch dies ohne Erfolg, so ward beschlossen, sie um jeden
Preis arbeitsunfähig zu machen. Der Secretär eines Vereines von Säge¬
schleifern, Broadhead, gestand d^le intellectuelle Urheberschaft von einer Reihe
von Morden und schweren Verwundungen ein. Die Ausführung des Geschäfts
ward förmlich licitirt: in einem Falle fordert der Gedungene erst 20 Pfd.
Sterl. und acceptirt Is Pfd. Sterl., wenn er 3 Pfd. Sterl. auf Abschlag
erhält, dafür verspricht er: „Linley so zuzurichten, daß er nie wieder arbeiten
könne." Er verfolgt nun sein Opfer sechs Wochen lang und als er findet,
daß er das Verbrechen mit einem Revolver nicht begehen könne ohne entdeckt
zu werden, schießt er Linley mit einer Windbüchse an, sodaß derselbe bald
darauf stirbt. Broadhead nahm das Blutgeld aus der Vereinscasse und
duchte es als geheime Dienstausgabe, fand auch beim Verhör nicht, daß er
Unrecht gethan, da doch alles zum Heile der Union geschehen sei. Er beklagte,
daß er kein gesetzliches Mittel gehabt, Linley zu bestrafen, er habe nicht be¬
absichtigt, denselben todten zu lassen, sondern nur zur Arbeit unfähig zu
machen, denn „er schadete unserem Verein der Sägeschleifer!" Was dem
Jesuiten sein Orden ist diesem Mann seine Union: um ihre Vorschriften auf¬
recht zu erhalten ist jedes Mittel recht.
Es ist behauptet worden, daß Sheffield eine Ausnahme bilde und solche
Gräuel anderswo nicht vorgekommen, und bis zu einem gewissen Grade ist das
wahr. Die dort betriebenen Gewerbe sind meist sehr gefährlicher Art und wer¬
den deshalb hoch bezahlt, die Gefahr erzeugt bei den Arbeitern Gleichgültig¬
keit gegen das Leben und der hohe Lohn andererseits fördert die Rohheit
durch Trunk und Ausschweifung. Um so mehr macht sich dann der Geist des
Monopols geltend, welcher den Vortheil des hohen Lohns allein für die kleine
Zahl der Unionisten sichern will. Verbannten die Unionisten doch die neuer¬
fundene Schutzmaske gegen das Eindringen des Stahlstaubes in die Lungen,
weil die dadurch herbeigeführte größere Gefahrlosigkeit der Arbeit einen
größeren Zufluß von Concurrenten veranlaßt hatte. — Aber auch wenn man
zugibt, daß diese Umstände besonders gravirend in Sheffield gewirkt haben,
so sind doch auch an andern Orten, wie Glasgow, Manchester. Dublin und
dem sogenannten dlaell counti-^ genug Beispiele der gröbsten Einschüchterung
bewiesen. Es ist dies auch ganz begreiflich, denn unnatürliche Grundsätze wie
die obengenannten können nur durch unnatürliche Mittel aufrechterhalten
werden. — Ebenso klar ist aber auch, daß der Staat einer solchen Arbeiter-
vehme gegenüber nicht gleichgültig bleiben kann, daß er vielmehr verpflichtet
ist. nicht blos jene Gewaltsamkeiten zu unterdrücken. sondern auch die Aus-
Stellung von Principien, die zu denselben führen müssen, nicht zu dulden. Der
eigentliche Zweck fast aller ^raach uiüons ist, den Arbeitslohn zu steigern, indem
sie die von einem Manne zu leistende Arbeit auf ein gewisses Maß fixiren und
andrerseits die Zahl der Leute beschränken, welche eine bestimmte Arbeit thun
dürfen. Auf diese Weise wird natürlich weniger producirt und das Wenige
erheblich theurer verkauft. Bei den seinen Sheffield-Stahlwaaren mag das zu
ertragen sein, aber bei Maurern, Ziegelstreichern und Zimmerleuten ist es
weit bedenklicher, und man hat berechnet, daß durch jene Beschränkungen der
Unions der Preis der Wohnungen um 10—20°/« erhöht wird. Noch schlim¬
mer steht die Sache in Bezug auf Kohlen: die Mitglieder der Lollieis unions
arbeiten oft nur drei oder vier Tage in der Woche und bestimmen, daß
nicht mehr als eine gewisse Menge Kohlen zu Tage gefördert werden soll.
Das hat zur Folge, daß der Preis bei unbeschränkter Concurrenz fast um die
Hälfte sinken würde. Aber wenn auf diese Weise auch die inländische Concurrenz
beschränkt wird, so reicht die Macht der Unionen doch nicht bis ins Aus¬
land, und die letzte pariser Ausstellung hat gezeigt, daß eine Uebermacht der
englischen Industrie nur noch in wenigen Zweigen besteht; je theurer man
zu Hause producirt, desto mehr können auswärtige Concurrenten nicht blos
in neutralen Märkten auf Erfolg rechnen, sondern auch mit Nutzen nach Eng¬
land importiren, und dies geschieht bereits in erheblichem Maße. Die Arbeiter
suchen dem freilich entgegen zu wirken, indem sie ihre Organisation auf
andere Länder wie z. B. die Colonien, Frankreich, Belgien auszudehnen
streben. Die 1864 auf Lassalle'sche Principien gegründete internationale Asso¬
ciation verfolgt diesen Zweck und zählt ihre Mitglieder bereits nach Hundert¬
tausenden; aber es liegt auf der Hand, daß auswärtige Concurrenz auf diese
Weise niemals wirklich auszuschließen ist. Hörte sie in Europa auf, so
Würdeste aus Amerika kommen. Endlich kommt in Betracht, daß die Mit¬
glieder jener Innungen schließlich wenig Vortheil von ihrem Terrorismus
haben. Den Satz des Lohnes halten sie allerdings durch das factische Mono¬
pol, welches sie sich anmaßen, sehr hoch, aber die Gesammteinnahme der Ar¬
beiter an Lohn steigt darum noch keineswegs, denn einmal arbeiten Wenigere
und andererseits wird der hohe Lohn derselben sehr geschmälert durch die
Beiträge, welche sie hiervon in die Unionscasse zahlen müssen, — Steuern,
die von ö bis 20°/<, der Wvchenlöhne betragen. Die amalMm-rtvä foci<ze? ok
Lugineers verausgabte in 15 Jahren für Strikes 279,840 Pfd. Sterl., eine
Summe, die doch durch die Shillings und Pence des Arbeiters gesammelt
werden mußte. Der „Vconvinis^ hat berechnet, daß selbst bei erfolgreichen
Strikes der Verlust an Arbeitslohn während des Feierns zusammengenommen
mit der Summe der erhobenen Beiträge gewöhnlich so groß sei, daß jahre¬
lang erhöhter Lohn nöthig wäre, um ihn wieder auszugleichen. Sind die
'
Strikes nun gar erfolglos, so ist der Verlust ohne alle Compensation. So
kündigten die Schneider im vorigen Sommer in Masse, die Unternehmer
ließen sich aber nicht einschüchtern, ließen viele auswärtige Arbeiter kommen
und wußten dieselben vor den Verfolgungen der Unionisten zu schützen, die
nach viermonatlichem Feiern und nachdem sie ihre sämmtlichen Fonds aufge¬
zehrt, wieder zum früheren Satz zu arbeiten sich bequemen mußten. Im letzten
Winter sahen einige große Schiffsbauer in London sich wegen schlechter Con-
juncturen genöthigt, den Lohn von 6 auf 5 Shilling pro Tag herabzusetzen;
die Arbeiter wollten sich das nicht gefallen lassen und kündigten: nachdem
der Strike einige Zeit gedauert, boten die Unternehmer 6 Sh. 6 P. und be¬
wiesen den Delegirten der Union, daß sie dabei positiven Schaden haben
würden und das Anerbieten nur machten, um sich die Arbeiter zu erhalten.
Die Unionisten lehnten aber ab, weniger als 6 Shill. zu nehmen, faullenzten,
ließen sich durch die gemeinsame Casse erhalten, so lange etwas darin war,
und verlangten dann Armenunterstützung.
Alles das sind Symptome eines durch und durch ungesunden Zustandes
und es fragt sich: was kann geschehen um ihn zu bessern?
Zunächst wird keine Rede davon sein können, die Arbeiterinnungen zu
verbieten oder die alten Regressivgesetze wieder einzuführen, — im Gegentheil,
man muß die Hindernisse, welche der gesetzmäßigen Wirksamkeit der Unions
noch entgegenstehen, beseitigen, ihnen freien Spielraum geben, so lange sie
nicht die Freiheit Anderer schädigen, sie aber dasür auch unter die Controle
voller Oeffentlichkeit stellen. Sie sind bisher nur als krienäl^ Societies be¬
trachtet worden d. h. als Vereine für gegenseitige Unterstützung in Krankheits-,
Alter- und Sterbefällen, eine Thätigkeit, mit der sie sich allerdings auch be¬
fassen, die aber sehr zurücktritt gegen die der Lohngarantie. Die Innungen
müßten auch in letzterer Eigenschaft anerkannt werden und ihnen dieselbe
Macht über ihre eigenen Mitglieder gegeben werden, wie jeder anderen frei¬
willigen Vereinigung, d. h. sie müßten berechtigt sein, ihre Mitglieder zur
Erfüllung der von der Genossenschaft selbst aufgestellten Vorschriften zu
nöthigen, soweit letztere die Natur eines Contractes haben. In diesen
Grenzen mögen die Arbeiter volle Freiheit haben, mit den Unternehmern
zu unterhandeln, Höhe des Lohns und Zeit der Arbeit zu bestimmen, die
sie innehalten wollen. Mehr aber können sie nicht verlangen; sie müssen
darauf verzichten, irgend welchen Zwang auf Nichtunionisten zu üben und
dürfen ebensowenig Unionisten nöthigen, wider ihren Willen in der Innung
zu bleiben. Neuer gesetzlicher Vorschriften wird es dazu, nur insofern be¬
dürfen, als die Strafen zu schärfen Mren. Die verübten Gräuel beweisen,
wie elend die Sicherheitspolizei gehandhabt ist und daß die Gerichte die Sache
zu leicht genommen; jeder, auch der leiseste Versuch einer Einschüchterung muß
streng geahndet werden; auch werden die Unions zu nöthigen sein, ihre Sta¬
tuten der geeigneten Behörde, also etwa den Loarä ok vorks mitzutheilen.
Es bleibt noch eine wichtige Frage offen. Die Innungen verfolgen meistens
zwei ganz verschiedene Zwecke zugleich: sie wollen ihre Mitglieder den Capi-
talisten gegenüber vertreten und sie wollen sich unter einander bei Krankheit,
Unvermögen u. s. w. beistehen. Der Deoiwmist hat Ende vorigen Jahres
in mehreren Artikeln treffend ausgeführt, ,wie verderblich diese Vermischung
zweier ganz heterogener Functionen sei; die eine Chance, die der Unter¬
stützung, ist statistisch zu berechnen, die andere, die der Strikes, nicht, und doch
zahlt der Arbeiter wesentlich deshalb seinen Beitrag zur Unionseasse, um im
Falle des Unvermögens aus ihr unterstützt zu werden; wie kann aber die
Casse das leisten, wenn sie durch langandauernde Strikes erschöpft wird?
Nach Ansicht der Untersuchungscommission sind fast alle Iraäes Ilmous
factisch bankerott, insofern sie nicht im Stande sein würden, ihre contraetlichen
Verpflichtungen zu erfüllen, nachdem sie den Wohlthätigkeitsfonds zu Gunsten
des Garantiefonds angegriffen habere. Um dies in Zukunft zu vermeiden,
braucht man nicht so weit zu gehen wie Einige, welche verbieten wollen, daß
ein und dieselbe Union beide Zwecke verfolge, sondern man kann einfach vor-'
schreiben, daß diese beiden Fonds zu trennen sind und von den Beiträgen
ein bestimmter Theil für die Krankencasse reservirt werden soll, um dieselbe
solvent zu erhalten.
Hiermit, glauben wir, ist Alles erschöpft, was der Staat direct thun kann;
aber die eigentliche Frage zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ist damit
nicht gelöst, sondern nur in die gesetzlichen Grenzen gewiesen, innerhalb deren
sie auszutragen ist. Sehen wir, wie das möglich ist.
Jede Industrie muß wenigstens die Zinsen des Anlagecapitals und den
gezählten Lohn decken; thäte sie das nicht, so würde sich das Capital von
ihr abwenden. Aber außer dieser nothwendigen Deckung bringt jede schwung¬
haft betriebene Industrie noch einen Ueberschuß an Gewinn und um
diesen kämpfen Unternehmer und Arbeiter mit einander. Der Erstere gebietet
über größere Geldmittel und Intelligenz, die Arbeiter dagegen haben als
Einsatz meist nur die Geschicklichkeit ihrer Hände. Um diese möglichst hoch
zu verwerthen und den Unternehmer zu nöthigen, jenen Ueberschußgewinn,
den sie mit schaffen helfen, auch mit ihnen zu theilen, verbinden sie sich unter
einander durch eine feste Organisation, die Genossenschaft, die Union: dies ist
vollkommen in der Ordnung — nur muß man sich die Bedingungen des
Kampfes auch vollständig klar machen. Die Arbeiter, welche, indem sie Thei¬
lung des Ueberschußgewinnes verlangen, damit thatsächlich fordern, Theil-
nehmer am Geschäft zu werden, müssen einsehen, daß sie in einem gewissen
Grade dies bereits sind. Jener Ueberschußgewinn nämlich wird nicht rea-
lisirt, bis die Waare fertig, verkauft und bezahlt ist, worüber meist ein
Jahr vergeht. Darauf kann aber der capitallose Arbeiter nicht warten, er
muß für sein Tagewerk gleich bezahlt werden, ehe der Unternehmer noch
irgend welchen Gewinn eingestrichen, ja ehe es überhaupt noch feststeht, ob
sich ein Gewinn ergeben wird und nicht vielmehr ein Verlust. Er kann sich
auch nicht auf einen fluctuirenden Gewinn einlassen, sondern muß auf eine
feste Wocheneinnahme rechnen können, um sich und seine Familie zu erhalten.
Der Capitalist, indem er dem Arbeiter Lohn zahlt, schießt also demselben
den Antheil am Fabricationsgewinn vor, den er sich durch seine Hand er¬
worben. Er thut dies nach einer Wahrscheinlichkeitsberechnung seines Ge¬
winnes, aber gibt den Arbeitern natürlich etwas weniger, als wenn sie — wie er
— warteten, bis die Waare bezahlt ist; dies ist auch ganz billig, denn einmal
verliert er die Zinsen des gezählten-Lohns und andererseits läuft er die Ge¬
fahr, daß die Operation nicht den gehofften Gewinn, ja vielleicht Verlust
bringt: für beides muß er einen Abzug machen. Der Arbeiter ist also Theil¬
haber am Geschäft, er bezieht seinen Antheil am Gewinn nur in anderer
Form, indem er selbst verlangt, statt des vielleicht größeren aber unsicheren,
jedenfalls wechselnden und spät eingehenden Gewinnes des Capitalisten ein
geringeres aber festes Einkommen zu haben. Wenn also jetzt die Arbeiter
Theilnahme am Geschäft begehren, so kann das nur heißen, daß sie andere
Formen dieser Theilnahme fordern, als die, welche schon bestehen. Sie verlangen
in Wirklichkeit fluctuirenden Gewinn statt festen Lohnes, denn, wie sie ganz
richtig sagen, nur wenn sie die wechselnden Chancen des Geschäftes theilen,
werden sie sicher sein, jenen verhältnißmäßigen Antheil am Gewinn zu er¬
halten und eben deshalb erst dann das lebhafte Interesse an der Arbeit neh¬
men, welches allein den größtmöglichen Vortheil für beide Theile verspricht.
Aber es ist klar, daß, wenn diese Forderung nach einem höheren
aber unsicheren und wechselnden Gewinn erfüllt werden soll, der Arbeiter
nicht zugleich den Vortheil des vorerwähnten festen Lohneinkommens fordern
kann, oder doch nicht in demselben Maße, wie bisher; denn wenn der
Unternehmer jenen endlichen Ueberschuß mit den Arbeitern theilen sollte,
womit sollte er die Zinsen des vorgeschossenen Lohnes und die Verluste schlechter
Conjuneturen decken? Will der Arbeiter diesen Antheil an dem wechselnden
Endgewinn des Geschäfts haben, so muß er. da er den festen Lohn nicht
entbehren kann, sich dazu verstehen, einmal einen geringern Lohn zu nehmen,
andererseits sich mit einem solchen Antheil an dem Nettogewinn zu begnügen,
welcher dem Unternehmer erlaubt, die Verzinsung des Lohnes und die un¬
günstigen Geschäftschancen zu übertragen, und nur in dieser Combination
scheint die wahre Lösung zu liegen. — Suchen wir dies an einem concreten Fall
deutlich zu machen. Ein Arbeiter hat bisher in guten Jahren 1 Pfd. Sterl.
pro Woche als festen Lohn empfangen, also 32 Pfd. Sterl. jährlich. Er
nimmt nun an, daß wenn er an dem schließlichen Gewinn Antheil hätte,
derselbe sich auf 70 Pfd. Sterl. belaufen müßte. Er muß aber andererseits
schlechte Conjuncturen in Anschlag bringen, bei denen sein Schlußgewinn
vielleicht nur 30 Pfd. Sterl. betragen hätte; will er dieses Risico nicht laufen
und seine sichere Wocheneinnahme festhalten, ohne doch der Aussicht auf einen
Gewinn nach Abwickelung des Geschäftes ganz zu entsagen, so muß er sich
zuerst zu einer Reduction des Lohnes verstehen, also z. B. auch in guten
Zeiten mit 17—18 Shilling zufrieden sein. Andererseits kann der Unternehmer
auch bei einer solchen Lohnherabsetzung nicht jedem Arbeiter gleichen Antheil
am Schlußgewinn geben wie sich selbst, denn wenn er z. B. 100 Arbeiter
beschäftigt und durch eine wöchentliche Reduction des Lohnes um 2 Shilling
eine Ersparniß von 620 Pfd. Sterl. jährlich macht, so reicht das bei weitem
nicht hin, um ihn für die Zinsen des bezahlten Lohnes und, das Verlustrisico
zu decken, das er am Ende des Jahres mit seinen Arbeitern nach Kopfraten
theilen könnte. Das Geschäft soll ja auf der Basis geführt werden, daß der
Arbeiter seinen etwas geringeren aber festen Lohn jedenfalls erhält; verlieren
kann er bei der Schlußabrechnung Nichts, schon aus dem einfachen Grunde,
weil er Nichts zu verlieren hat. Der Capitalist also muß Verluste allein
tragen, folglich kann der Antheil am schließlichen Gewinn für den Arbeiter
immer nur verhältnißmäßig gering sein. Aber dies ist auch ganz genügend,
um in dem Verhältniß beider Theile einen wohlthätigen Umschwung hervor¬
zubringen. Zunächst würden die Arbeiter durch eine solche Theilnahme die
Einsicht gewinnen, wie wechselnd der Gewinn des Unternehmers ist und wie
sehr derselbe im Ganzen oft überschätzt wird. Sodann würden sie sich ganz
anders anstrengen, jede Beschädigung des Materials vermeiden und ökono¬
misch arbeiten, weil alles das den Gewinn vermehren muß, an dem sie ja
Antheil haben. Aus demselben Grunde würden Strikes so gut wie ganz
aufhören, weil sie den Gewinn vermindern müßten und weil, wenn die Lage
des Geschäftes an sich eine Erhöhung der Löhne zuließe, der Vortheil hier¬
von den Arbeitern doch am Ende des Jahres in Gestylt einer höheren Divi¬
dende zu Gute käme. Die Arbeiter würden auf diese Weise die Aussicht
haben, bei tüchtiger Anstrengung selbst Capitalien zu werden, wenn sie
ihren Jahresgewinn als Ersparnisse anlegen und vermehren wollten. Damit
fiele dann auch das ganze Unwesen der rraäss vuions, wo stets eine ent¬
entschlossene Minorität die Majorität ausbeutet, weg.
Für die Ausführung dieses Princips bieten sich verschiedene Formen;
die weitgehendste ist die reine Productivassaciation, die, nur aus Arbeitern
gebildet, dieselben als Actionäre zu gleichen Theilen am Gewinn Participiren
läßt. Der Gewinn ist so natürlich am größten, aber diese Form hat auch
wieder große Schwierigkeiten. Das Anlagecapital muß zum größten Theile
geborgt werden, was immer unvortheilhaft wirkt, wenn schlechte Zeiten
eintreten, während welcher doch Zinsen gezahlt werden müssen. Sodann kann
ein Geschäft niemals erfolgreich durch einen Ausschuß betrieben werden und
die Arbeiter haben selten Einsicht genug, die Leitung in die Hand eines
würdigen Mannes zu legen und denselben dann frei schalten zu lassen,
auch ist ein solcher, falls der gute Wille dazu da wäre, nicht leicht zu
finden. Nichtsdestoweniger liegen eine Reihe von Beispielen solcher Produc-
tivassociationen vor, welche vortrefflich gedeihen; so vor allem die L.oeKä«,Is
Pioneers, welche mit Ersparnissen aus ihrem Consumverein eine große Spinne¬
rei und Weberei gründeten, deren geringes Capital in einer kurzen Reihe von
Jahren auf nahezu 70,000 Pfd. Sterl. gewachsen war; ähnlich die Xortli ok
LnZIanÄ ^nolesg-Is Ooopsrativö Loeiet.7, welche nach zweijährigem Bestehen
jetzt ein Geschäft von 230,000 Pfd. Sterl. macht; die 'Wolvei'damxtou unä
Lievooä Industrie! ana ?roviäölit ?1ale! I^vein UWiMeturinA Loeiet?,
welche nach verzweifeltem Kampfe jetzt Chubb und Brauch Concurrenz
macht; die ^VorlcwA tZMorL, lailors, Lalcerg, Oadinot makeiö ^.ssoeiations
u. A. — Im Ganzen aber werden die Productivassociationen, welche übri¬
gens in Frankreich mehr Prosperiren. als in England und Deutschland,
noch die Ausnahme bilden, weil sie sowohl eine hohe Bildung und Tüchtig¬
keit aller Arbeiter, als auch besonders begabte Geschäftsführer erfordern, welche
sich doch mit mäßigem Gewinn begnügen, und obwohl Schulze - Delitzsch mit
Recht diese Form der Kooperation als die Blüthe seines ganzen Systems
bezeichnet, so werden doch die Illäustrial karwerLnips, die Associationen der
Fabrikanten mit ihren Arbeitern, nach den obenerwähnten Grundsätzen für
die Zukunft die Regel bleiben. Drei verschiedene Modalitäten eines solchen ge¬
meinsamen Geschäftes liegen bis jetzt vor.
1) Der Unternehmer gibt festen Lohn und vertheilt von dem Reinge¬
winn einen Theil unter die Arbeiter, oder
2) der Unternehmer gibt festen Lohn und vom Reingewinn 10°/» des
gezählten Lohnes als Bonds.
3) Der Unternehmer macht sein Geschäft zur Actiengesellschaft, reservirt
sich eine große Zahl Actien sowie die freie Leitung und die Arbeiter werden
nach und nach Actionäre, die verhältnißmäßig an der Dividende theilnehmen.
Diese Form setzt schon eine weit vorgeschrittene Entwickelung der Arbeiter
voraus, da dieselben um Actien zu erwerben, selbst wenn dieselben sehr klein
sind, schon ein gewisses Capital besitzen müssen.
Alle drei Arten arbeiten mit ausgezeichnetem Erfolg, der Industrin,!
?artnorslup8 ^eeorä gibt die Abrechnung des letzten Jahres von acht coo-
perativen Firmen, welche durchschnittlich eine Dividende von 24°/« gegeben
haben; Sir Francis Croßley, der große Teppichfabrikant, der das Princip der
Kooperation zuerst eingeführt, gab seinen Arbeitern in den letzten Jahren
20«/o Dividende und ist dabei selbst Millionär geworden; seit 24 Jahren
hat kein Strike bei ihm stattgehabt.
In der Ausbildung dieses eooperativen Princips sehen wir die Lösung
der Arbeiterfrage, soweit dieselbe organisatorisch angefaßt werden kann.
Die Unternehmer werden mehr und mehr einsehen, daß, ebenso wie es zu
ihrem Bortheil gereichte, wenn der Staat durch Beschränkung der Arbeits¬
zeit die Arbeiter hob, es in ihrem eigenen Interesse sein muß, die Arbeiter
am Gedeihen des Geschäftes direct zu interessiren; die Arbeiter dagegen
müssen auf diese Weise die Borstellung aufgeben, daß sie erbarmungslos
vom Capital ausgebeutet werden. — Es ist nicht wahr, daß die moderne Ent¬
wickelung der Arbeit durch den Großbetrieb an sich die Lage derjenigen
Classen verschlechtern müsse, welche wesentlich auf ihre Hände angewiesen sind;
im Gegentheil liegt im Maschinenwesen für sie ein befreiendes Moment, indem
hierdurch der Mensch immer mehr von der grob mechanischer Arbeit emancipirt
wird. Nur das ist wahr und zu beklagen, daß sich durch die Schuld aller
Theile, der Unternehmer und des Staates wie der Arbeiter selbst, die ver¬
derblichen Folgen der an sich unvermeidlichen Auflösung überlebter socialer
Zustände dauernd haben geltend machen dürfen, ehe man auf die rechte
Hilfe gekommen ist. Es dünkt uns wahrscheinlich, daß die schlimmste Zeit
jenes Uebergangs hinter uns liegt, namentlich in England, und daß dort
die Gräuel der Iractes vnious mehr noch das letzte Aufflammen der alten
schlechten Leidenschaften gewesen sind, als daß sie ein drohendes Symptom
für die Zukunft bilden, ebenso wie wir in Deutschland hoffen dürfen, die
Hohlheit der Lassalle'schen Bewegung bald zu überwinden. Der Fortschritt
wird in demselben Maße wachsen, in welchem alle drei Theile ihre Pflicht thun.
Der Staat muß nicht nur die Freiheit der Arbeit im weitesten Sinne wahren,
sondern auch nach Kräften helfen, Bildung und Wohlbefinden der arbeitenden
Classen zu fördern, er muß dieselben nicht nur gegen Ausbeutung der Capita-
listen durch Regelung der Arbeitszeit und Behandlung schützen, sondern er
darf auch nicht den wohlhabenderen Classen Monopole geben, deren Last
vornehmlich auf die unteren fällt. Zu solchen Monopolen gehören immer
Schutzzölle, hohe Besteuerung der nothwendigsten Lebensmittel, Erlaubniß
durch Ausgabe von Papiergeld zinslos Capital zu machen, ebenso in den
häufigsten Fällen Concessionen, welche eine Art Monopol in sich schließen,
und Zinsgarantien.
Die Unternehmer müssen sich zu der Auffassung erheben, daß sie ihr
eigenes Interesse am besten wahrnehmen, wenn sie die Arbeiter nicht aus¬
beuten, sondern durch Betheiligung am Gewinn heben; die Arbeiter müssen
einsehen, daß sie mit socialistischen Theorien und Plünderung der Reichen
nicht aus ihrer gedrückten Lage heraus, sondern erst recht ins Elend hinein
kommen würden, daß vielmehr ihr Heil nur darin liegt, mit den Unternehmern
Hand in Hand zu gehen und dadurch selbst kleine Capitalien zu werden,
während andererseits Consum- und Bauvereine ihnen zu einer bessern äußern
Existenz, Schulen, Volksbibliotheken und Erholungsanstalten zu einer höhe¬
ren Bildung helfen und in demselben Maß die ihnen eigenthümlichen Lasten
erleichtern müssen.
Auf diese Weise werden die arbeitenden Classen mehr und mehr zu
einem sittlichen und menschenwürdigen Dasein gelangen und es wird schlie߬
lich so wenig von einem vierten Stand die Rede sein, als man heute noch
von einem dritten sprechen kann. —
Das Buch, das zu diesen Ausführungen Veranlassung gegeben, enthält
reiches Material über die Zustände der arbeitenden Classen in England,
und ist, wie so häufig bei ähnlichen englischen Werken, sehr unüber¬
sichtlich zusammengestellt; der Uebersetzer würde sich daher durch eine syste¬
matischere Umarbeitung ein Verdienst erworben haben. Außerdem gibt
die Uebertragung an einzelnen Stellen zu positiven Mißverständnissen
Anlaß.*) Was das Original betrifft, so scheint es uns nicht ganz von
Parteilichkeit für die arbeitende Classe frei, welche dem Verf. „das Herz
und die Hoffnung der Nation" ist; wir freuen uns mit ihm der Fortschritte,
welche die Arbeiter gemacht haben, aber bei aller Anerkennung derselben durfte
nicht so leicht über die Schattenseiten weggegangen werden, und es wäre
zu wünschen gewesen, daß der Uebersetzer die Enthüllungen von Sheffield
sowie den wichtigen Bericht ausführlicher berücksichtigt hätte, welchen die
Commission über die Oracles Unions Anfang des Jahres erstattet hat.
Am 20. September hat sich in Braunschweig der allgemeine deutsche
Frauenverein, der von Leipzig aus geleitet wird und dessen Organ die
„Neuen Bahnen" sind, zu einem sogenannten Frauentag versammelt. Vier
Wochen später, am 17. October, sollte in Stuttgart die zweite deutsche Frauen-
conserenz stattfinden. Am 1. October ist in Berlin die allgemeine Frauen¬
industrieausstellung eröffnet worden, welche der dortige Verein zur Ausdeh¬
nung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts veranstaltet hat, und
an deren Anziehungskraft für die betheiligten Kreise sich die Erwartung
knüpft, daß auch diejenige Gruppe von Vereinen, zu welchen der unter dem
Protektorat der Kronprinzessin von Preußen stehende berliner gehört, in
einen gewissen bleibenden nationalen Zusammenhang trete.
Wo eine zeitgenössische Agitation sich gleichzeitig in vielen Brennpunkten
sammelt, mag es wohl gelegen sein, ihren Stand und ihre Aussichten auf
Erfolg einmal kritisch zu mustern. Entgegengesetzt der stürmischen Ueber-
stürzung, mit welcher .die „Emancipation der Frauen" sich vor mehr als
zwanzig Jahren in Deutschland zuerst ankündigte, ist die Bewegung seit ihrem
Wiederauftauchen vor drei Jahren ziemlich geräuschlos dahingeschlichen, so
daß gewiß recht viele Landsleute, von ihrem Vorhandensein unter uns
kaum eine Ahnung haben.
Wie das Temperament, so hat auch das Programm der Agitation sich
bei ihrem zweiten Anlauf merklich ermäßigt. Von Attentaten auf einen
solchen Grundpfeiler der gesitteten menschlichen Gesellschaft wie die Ehe ist
keine Rede mehr. Die Annahme männlicher Tracht und männlicher Sitten,
wie z. B. des Rauchers und des flotten Biertrinkens, hat aufgehört, die
besser gereifte weibliche Einbildungskraft zu reizen. Nicht einmal die poli¬
tische Gleichberechtigung, nach welcher amerikanische und englische Damen neuer¬
dings wieder mit allen Kräften trachten, findet unter den Zielen der deut¬
schen Bewegung eine Stelle. Es handelt sich für sie lediglich um wirth¬
schaftliche Gleichberechtigung. Das weibliche Geschlecht soll denselben unbe¬
schränkten Zutritt zu allen Erwerbszweigen haben, denen es sich selbst ge¬
wachsen fühlen mag, wie das männliche Geschlecht. Die Agitation rüttelt
daher nicht sowohl an Staatsgesetzen und Grundeinrichtungen der Gesell¬
schaft, als an diesen oder jenen Vorurtheilen der Ueberlieferung, welche sich
der Verwendung von weiblicher Arbeitskraft in gegebenen Fällen entgegen¬
stellen. Die verschiedenen Zweige der Bewegung sind in dieser weisen Selbst-
beschränkung mehr oder weniger einig.
Worin sie nicht einig sind, das ist hinsichtlich der Recrutirung ihrer
streitenden Heere. Die von Leipzig aus geleitete Verbindung hat auf ihre
Fahne „Selbsthilfe der Frauen" geschrieben, und nur eine Jungfrau von
Orleans, ein weiblicher Fähnrich soll sie aufnehmen und vorantragen dürfen.
Frauen allein schreiben die Wochenschrift, welche das literarische Organ dieser
Partei ist, die „Neuen Bahnen", Frauen allein führen im Vorstande die
Zügel, versammeln sich alljährlich zum deutschen Frauentage. Dahingegen
wird das Organ der deutschen Frauenconferenz, die in Stuttgart heraus-
kommende allgemeine Frauenzeitung, von einem Manne, dem Kapitän a. D.
Korn redigirt, und auch in den Vereinen der norddeutschen Großstädte,
welche sich weder Leipzig noch Stuttgart angeschlossen haben, in Berlin,
Breslau, Hamburg, Bremen, Hannover, Königsberg, Danzig u. s. s, wirken
durchgängig Männer und Frauen gemeinschaftlich. Wie es bei einer so
jungen und noch überwiegend localisirten Bewegung natürlich ist, tritt die
männliche Mitwirkung an dem einen Orte mehr zurück, an dem anderen in
den Vordergrund. Letzteres gilt z. B. von Berlin, wo trotz des hohen weib¬
lichen Protektorats das männliche Element die Hauptrolle spielt; während
in Hamburg und Bremen der Damenthätigkeit alles das überlassen zu sein
scheint, was man ihr nicht zu entziehen braucht, ohne den praktischen Erfolg
der Agitation zu gefährden.
Der bisherige praktische Erfolg der Agitation — das sollte denn auch in
der That der Maßstab sein, nach welchem allenthalben das gegenseitige Ver¬
hältniß der beiden Geschlechter in ihrem Zusammenwirken bemessen würde.
Von rein theoretischem Gesichtspunkt aus muß man ohnehin behaupten, daß
es sich bei diesen Bestrebungen entweder um eine wahre Angelegenheit der
Menschheit handle, an der beide Geschlechter gleichmäßig interessirt sind,
oder auch nicht um das echte Interesse des weiblichen Geschlechts. Man kann
höchstens zugeben, daß die Sache den von öffentlichen Aufgaben bisher ziem¬
lich unbehelligten Frauen etwas näher liegt als den damit überhäuften Män¬
nern; daß folglich eine Beschränkung des Beistands der letzteren auf das
schlechthin nothwendige Minimum natürlich und gerathen erscheint. Zu dem¬
selben Schlüsse aber wird wohl auch die praktische Berechnung führen. Alles
was viel Zeit und Hingebung erheischt, ohne eine besondere Vertrautheit
mit der Praxis des öffentlichen Lebens vorauszusetzen, die tägliche innere
Arbeit der Vereine, bleibe den Frauen ausschließlich oder vorzugsweise über¬
lassen; der männliche Rath trete hinzu, wenn es sich um öffentliches Auf¬
treten, um Einwirkungen auf die regierende oder gesetzgebende Gewalt des
Staates handelt.
Nicht anders scheint man anfänglich die Frage auch hier in Leipzig an¬
gesehen zu haben. Aber die compromittirenden Extravaganzen des Mannes,
mit welchem man sich damals hauptsächlich eingelassen hatte, des jetzt von
Stuttgart aus agitirenden vormaligen Honvedhauptmanns Korn, brachten die
entgegengesetzte Anschauungsweise auf. Das Kind wurde mit dem Bade
ausgeschüttet — der förmliche Grundsatz aufgestellt, daß die Frauen sich
selbst helfen müßten. Der Glaube an die wunderbare Kraft, an eine Art
Alleinberechtigung der Selbsthülfe war dazumal gerade im höchsten
-Schwang und wurde nach alter Erfahrung demgemäß mitunter auch auf
Verhältnisse und Lagen angewandt, in denen er. jenseits gewisser enger
Grenzen wenigstens, sinnlos wurde.
In der Idee könnte man sich allenfalls eine nicht ganz erfolglose Thä¬
tigkeit vorstellen, bei welcher nur Frauenhände mitwirkten. Man könnte sich
denken, daß es einem Verbände energischer, opferwilliger, begüterter und an¬
gesehener Damen z. B. gelänge, eine Art Hochschule für das weibliche Ge¬
schlecht oder eine medicinische Facultät für Studentinnen herzustellen. So
hohen Flug jedoch haben' auch die leipziger Führerinnen bisher nicht ge¬
nommen. Ihre Unterstützung des weiblichen Ringens nach wirthschaftlicher
Selbständigkeit beschränkt sich auf dieselben rein örtlichen Anstalten, wie sie
die gemischten Vereine anderer größerer Städte mit gleichem oder selbst noch
besserem Erfolg ins Leben gerufen haben. Ueber Leipzig hinaus wirken sie
blos literarisch anregend durch ihr Blatt und einmal im Jahre etwas stärker
durch den Frauentag. Was sie sowohl auf diesem als sonst im Laufe des
Jahres thun, um lästige Schranken niederzureißen, läuft im Wesentlichen dar¬
auf hinaus, Behörden und Körperschaften bittweise um dies oder das zu er¬
suchen. Alle die so angegangenen Körperschaften und Behörden bestehen aus
Männern. Hier findet die „Selbsthülfe der Frauen" also ihre Grenze. Wäre
es da nicht zweckmäßiger, die Heranziehung des männlichen Beistands schon
im Stadium der Berathung eintreten, das andere Geschlecht theilnehmen zu
lassen an der Ueberlegung. welcherlei Ziele zunächst und überhaupt ins Auge
gefaßt, welche Wege zu denselben hin eingeschlagen werden sollen? Es würde
darin doch wohl eine Bürgschaft mehr für die Wirkung solcher Schritte
liegen, wie sie bisher ziemlich erfolg- und eindrucklos gethan worden sind,
z. B. wegen Anstellung von Frauenzimmern im norddeutschen Post- und
Telegraphendienst oder wegen ihrer Zulassung zu den Prüfungen praktischer
Aerzte.
Alles in Allem genommen beschränken sich die Ergebnisse der deutschen
Bewegung bis jetzt aus einige Erleichterung der Lage des weiblichen Ge¬
schlechts in einer Anzahl meist größerer deutscher Städte. Anstalten zur
Nachweisung weiblicher Arbeitskraft und lohnender Beschäftigung für solche,
vorübergehende oder dauernde Ausstellungen weiblicher Arbeitsprodukte,
Schulen zur geschäftlichen Ausbildung junger Mädchen — das sind so ziem¬
lich überall die Unternehmungen, welche von den bestehenden Vereinen zuerst
in die Hand genommen und mit dem meisten Glücke verfolgt worden sind.
Höhere und umfassendere Erfolge wird man wohl dann erst erwarten dürfen,
locum es gelingt, die jetzt isoltrt arbeitenden Vereine der norddeutschen Groß-
tädte in einer passenden Form zu ständigen Zusammenwirken zu verbinden.
Daß solche Erfolge möglich sind, daß es auch ohne jedes phantastische
Pinüberschweifen auf das politische oder sociale Gebiet für die Verbesse-
rung der Lage des weiblichen Geschlechts unter gewissen regelmäßig wieder¬
kehrenden Umständen noch reichlichenSpielraum gibt, lehrt ein Blick auf Eng¬
land. Wir wollen nur auf einige der dortigen Bestrebungen andeutungsweise
aufmerksam machen.
Ende Mai dieses Jahres ging von Liverpool ein Segelschiff in See,
das hundertundzehn junge Frauenzimmer nach Canada bringen sollte. Ihre
Führerin, Miß Rye, die schon früher ähnliche Transporte nach Australien
begleitet hat, war vorab mit den colonialen Regierungsbehörden in Verbin¬
dung getreten und hatte sich so vergewissert, daß ihre Pflegebefohlenen in
Quebec, Montreal, Toronto und anderen kanadischen Städten willkommen
sein würden. Die Wichtigkeit dieser Art von Auswanderung kann nicht
leicht zu hoch angeschlagen werden. Sicherer, handgreiflicher als jede andere
hilft sie jenseits einem Mangel und diesseits einem Ueberfluß ab, erfüllt
also den wahren Zweck alles Austausches zwischen verschiedenen Zonen und
Völkern. Sie verpflanzt weibliche Arbeitskraft aus einem Lande, wo sie
überreichlich vorhanden ist, folglich niedrig im Preise steht, nach einem ande¬
ren Lande, wo das gerade Gegentheil der Fall ist. Und woher, rührt es
denn, daß im Vergleich zu männlicher Arbeitskraft weibliche Arbeitskräfte
in England (und ebenso in Deutschland) so überreichlich vorhanden ist?
Von der regelmäßigen Auswanderung so vieler ihr Glück suchender junger
Männer nach anderen Welttheilen. Was also kann richtiger sein als Ver¬
anstaltungen treffen, um ihnen die entsprechende Anzahl junger Frauenzimmer
nachzusenden? Da es im Allgemeinen noch nicht Mode ist, daß Mädchen sich
entschließen, allein und auf gut Glück übers Meer zu gehen, so muß eine
Vermittelung wie die der wackeren Miß Rye dazwischen treten. Die Auswan¬
derungslustigen müssen gesammelt, von einer geeigneten Führerin begleitet
und drüben womöglich gleich in vorab eröffnete Stellen hineingewiesen wer¬
den. Der einzige Fehler jener Veranstaltung ist, daß sie nicht mit noch
größeren Zahlen auftritt. Hundert oder zweihundert Mädchen im Jahre auf
ein Land wie England verringern das Angebot von weiblichen Arbeitskräften
noch nicht sehr fühlbar. In Deutschland, dessen continentale Lage obendrew
Nachschub aus den Nachbarländern bequem gestattet, würden sie es selbstver¬
ständlich noch weniger thun. Es wäre denn, daß das Beispiel und die Be¬
richte der zuerst ausgewanderten Frauenzimmer mit der Zeit zu massenhafterer
Nachfolge Veranlassung gäben.
Eine sehr heilsame, den deutschen Großstädten zu empfehlende Einrich¬
tung ist die des in London gegründeten Clubs für Arbeiterinnen. Dort
finden die zahlreichen Frauen und Mädchen, welche allein stehen und sich an teil
befriedigendes Familienleben anzuschließen vermögen, zu jeder Zeit einen an¬
ständigen, von Versuchung freien, behaglichen Aufenthalt, mit Gelegenheit
zu lesen, zu schreiben, sich zu unterhalten, sich zu erfrischen, unter Umständen
auch die Nacht zuzubringen. Wer, der sich jemals um die Zustände des
niedern Volks gekümmert hat, wüßte nicht, welche Gefahren in der leeren Muße
des Sonntagnachmittags schlummern! Im besseren Falle ist sie fruchtbar an
verfrühten Ehen; im schlimmeren an Unordnungen aller Art, Prostitution
und Trunksucht. Die Darbietung eines angenehmen Aufenthaltsortes würde
zahlreiche Mädchen dieser Gefahr des reinen Müßiggangs entziehen und für
einen Theil derselben die Aussicht eröffnen, daß sie sich vermöge eigener An¬
strengung über ihre angeborene Niedrigkeit und Ungesittung erheben.
Geglückt ist ferner in England das Streben, die Universitätsprüfungen
auch Mädchen und Frauen zugänglich zu machen. Wenn der Ausfall der
ersten gemeinsamen oder gemischten Prüfungen die Organe der Fraueneman¬
cipation zu Dithyramben begeistert hat, weil die weiblichen Examinanden sich
den männlichen im Durchschnitt überlegen zeigten, so ist das freilich etwas
gedankenlos; denn im Anfang werden natürlich nur die muthigsten und tüch¬
tigsten jungen Damen in diese neue Arena eingetreten sein, und erst die Er¬
fahrung späterer Jahre kann das wahre Verhältniß der Geschlechter zu ein¬
ander in dieser Beziehung herausstellen. Im Uebrigen ist damit eine weite
Bahn geöffnet; die Studien blühen, die Geister erwachen — könnte man mit
Hütten jetzt von der englischen Frauenwelt sagen, in die ein merkwürdiger
Drang nach neuem Wissen und neuem Thun gefahren ist. Eine Miß Thome
hat neulich das Apothekerexamen aufs Glänzendste bestanden, eine Miß Gar¬
rett hält in London Vorlesungen über Physiologie und Hygiene speciell für
das solcher Aufklärung sehr bedürftige weibliche Geschlecht. Wie lange wird
es dauern, so erheben sich irgendwo in Londons Nähe die stattlichen Räume
einer Hochschule für das weibliche Geschlecht, nicht wie die zu Poughkeepsie
in den Vereinigten Staaten von einem Einzelnen ins Werk gerichtet,
sondern durch Selbstbestimmung einer großen Zahl von englischen Frauen
und Mädchen gegründet und nach Erziehungsideen eingerichtet, die unmittel¬
bar aus dem vorwärtsströmenden geistigen Fonds der Zeit geschöpft, nicht ver¬
alteten Schablonen entlehnt sind? Vielleicht daß daraus selbst der Unter¬
richt des männlichen Geschlechts auf seinen höchsten Stufen einen Anstoß zu
gründlicher Revision empfängt.
M
Hochschule nach Hamburg-Altona zu verlegen, besprochen und von den Be¬
theiligten theils mit Widerspruch, theils aber auch mit lebhafter Billigung
begrüßt worden. Es sei vergönnt, an dieser Stelle die entscheidenden Gründe
für diese Maßnahme wie sie aus Betrachtung an Ort und Stelle gesammelt
sind, vorzutragen. Eben der gegenwärtige Augenblick, wo eine Reihe wich¬
tiger akademischer Institute mit neuen zeitgemäßeren Baulichkeiten versehen
werden soll, entscheidet auch in jener vornehmsten unserer Universitäts¬
fragen. Denn wenn erst das neue Auditoriengebäude, eine neue Anatomie,
ein zoologisches Museum, ein neues chemisches Laboratorium, ein physiologi¬
sches Institut, eine Sternwarte, ein neues Bibliotheksgebäude fertig stehen,
würde die Cardinalfrage, ob das Verbleiben der Akademie in Kiel für diese
selbst auch wünschenswert!) wäre, kaum noch ein theoretisches Interesse ge¬
währen.
Bevor im Jahre 1665 die Universität in Kiel von dem gottorpischen
Herzoge Christian Albrecht gestiftet ward, ist großer Zweifel gewesen, ob
dieselbe besser in der Stadt Schleswig, der fürstlichen Residenz, oder aber
in Kiel zu gründen sei. Es mag heute dahingestellt bleiben, welchen Ein¬
fluß eine Universität in der Stadt Schleswig auf die Mischung der Nationali¬
täten im Herzogthum hätte gewinnen können, und ob wir Epigonen dann
noch eine nordschleswigsche Frage zu studiren brauchten. Jedenfalls ist die
Errichtung einer Hochschule in dem gottorpischen Theile Schleswig-Holsteins
ein Act von wesentlicher politischer Tragweite geworden: die Geschichte der
Christiana-Albertina während der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ist dafür
ein ebenso glänzender wie ehrenvoller Beweis. All das schwere Leid, welches
die Dänenkönige auf das blutsverwandte gottorpische Fürstenhaus gehäuft,
ist ihnen von der Universität Kiel, dem Lieblingskinde dieses erlauchten
Hauses, ehrlich heimgezahlt worden.
Aber diese hervorragende politische Bedeutung unserer Universität ist ge¬
schwunden, ihre politische Rolle ward im Grunde schon mit der Nieder¬
werfung der Herzogthümer im Jahre 1831 beschlossen. Der schwere ver¬
nichtende Schlag, welchen die dänische Regierung mit der Absetzung der
neun Professoren gegen die Universität führte, der unersetzliche Verlust, den
sie durch den Tod Fakel's und Joh. Christiansen's bald nacheinander
erlitt, der stete lastende Druck, die geflissentliche Vernachlässigung aller wissen-
schaftlichen Interessen, dazu die Auswahl neu zu berufender Kräfte seitens
der Regierung mit besonderer Rücksicht auf Nichtbefähigung zu politischer
Opposition — alle diese Umstände zusammen lähmten den Widerstandsgeist,
und die Universität verlor in der Zeit von 1851—1863 nicht blos an poli¬
tischem Gewichte. Die politische Aufgabe ward damals von den besten
Kräften des Bürger- und Bauernstandes selbst aufgenommen, deren Führer
Th. Lehmann in den nationalen Bestrebungen des überelbischen Deutsch¬
lands im Anfang dieses Jahrzehnts eine Stütze suchte und fand.
Seit 1863 mag die Universität wieder als ein bedeutenderer Factor in
den politischen Kämpfen wenigstens den Fernerstehenden erschienen sein. Der
Ausgang dieser Kämpfe ist bekannt; immerhin hat die Universität ihrer Pflicht
als deutsche Hochschule lediglich genügt, als sie sich den auf Trennung der
Herzogthümer von Dänemark gerichteten Bestrebungen anschloß. Wenn aber
dieselbe nachher sich verleiten ließ, als Corporation in den Streit, ob preußisch,
ob augustenburgisch einzutreten, so hat dies viele Fernstehende über die wirk¬
liche Sachlage derzeit nur irregeführt.
Erwies sich diese fortgesetzte Theilnahme an den politischen Dingen nach
vollendeter Lösung der nationalen Aufgabe schon als ein Mißgriff, so kann
ganz selbstverständlich jetzt von einer politischen Bedeutung der kieler Univer¬
sität nicht mehr und nicht weniger die Rede sein als bei ihren gelehrten
Schwestern in den älteren Provinzen. Dies scheint so natürlich, daß eine
fernere Täuschung Einzelner hierüber nur einer gewissen Überspanntheit ent¬
springen kann, welche Jene die an sich selbst verspürte Berufung zur Politik
irrthümlich auf das Ganze der Corporation übertragen läßt; die kieler Uni¬
versität ist aber nicht mehr die deutsche Universität im dänischen Gesammt-
staate, und damit ist auch der hauptsächliche Grund hinweggefallen, welcher sie,
die geistige Festung der Herzogthümer in Kiel zu halten nöthigte. Und dieser
Beweggrund war seinerseits so überaus gewichtig, daß dawider alle sonstigen,
auch triftigen Erwägungen stets zurückgehalten werden mußten.
Hamburg-Altona mit etwa einer Viertelmillion Einwohner, die natür¬
liche Hauptstadt der Herzogthümer, wohin die Bevölkerung Schleswig-Hol¬
steins ihre wichtigsten Handelsbeziehungen hat und wo die Einzelnen am
häufigsten persönlich verkehren, die Stadt wohin die Herzogthümer Jahr aus
Jahr ein die Blüthe ihrer Jugend in die Comptoirs zur Ausbildung ent¬
senden, mit der sie durch unzählige Bande des Blutes und der Interessen
verknüpft sind, von wo aus endlich ganz Schleswig-Holstein fast ausschlie߬
lich mit den täglichen Erzeugnissen der Presse versorgt wird — Hamburg-
Altona, obgleich der geistige und commercielle Mittelpunkt dieser Lande, muß
der Universität doch entbehren. Daß die Elbherzogthümer diesen inneren
Widerspruch bisher weniger empfunden haben, läßt sich allein, aber auch
vollständig aus jenem nationalen Interesse erklären, welches sie selbst an die
fortdauernde Erhaltung der Universität in der Stadt Kiel band. Der
Widerspruch tritt zunächst darin hervor, daß die Universität gleichwie das
Leben und die Anschauungsweise der ganzen Schleswig-holsteinischen Provinz
lediglich unter dem bestimmenden Einfluß der hamburgischen Metropole selber
steht, während diese von der Universität hinwiederum gar Nichts zurück¬
empfängt; auch hat die manchmal spießbürgerliche Konfiguration der Wissen¬
schaft und ihrer Träger an kleinen Universitäten dem Geschmacke und der
Denkungsart des Großstädters wenig Behagliches. Ganz anders könnte es
sein, wenn in der deutschen Welthandelsstadt ein Centrum der Wissenschaft,
eine große Universität thätig wäre, welche, die materialistische Richtung ver¬
edelnd, die ungleich überlegneren großartigen Impulse des inneren und äuße¬
ren Lebens dieser Stadt und somit der Nation erhöhte und erweiterte. Wer
würde es denn erträglich finden, wenn etwa Berlin, das Herz Deutschlands,
das mächtige Fabrik- und Handelsemporium, ohne Hochschule sein sollte? Und
sind die Anrechte und Bedürfnisse Hamburgs so viel geringer? Auch den
Elbherzogthümern selbst würde die Hamburger Universität mehr werden als
eine Vorbereitungsanstalt Eingeborener behufs der Examina. Charakteristisch
ist z. B. für die kieler Universität, daß es von dort aus noch nicht versucht
worden ist, vor dem Publikum Hamburgs wissenschaftliche Vorträge zu halten,
während in Berlin die Mitglieder der Universität mit den Angehörigen der
übrigen wissenschaftlichen Anstalten hierin wetteifern. Und doch gibt es,
soviel uns bekannt, für solche Vorträge in ganz Deutschland kaum ein dank¬
bareres, lernbegierigeres Publikum als gerade dasjenige Hamburgs. Auf
bedeutende und tiefer liegende Mängel endlich deutet der Umstand, daß die
Hamburger ihre Söhne fast niemals in Kiel studiren lassen.
l Die wissenschaftlichen Leistungen der kieler Hochschule während der letzten
Jahrzehnte einer eingehenden Würdigung zu unterziehen, ist nicht unsere
Absicht; schon weil wir selbst von dem guten Willen der Betheiligten so
viel verlangen, möchten wir hier nichts Hartes gesagt haben. Ohnehin
dürfte sich schwerlich gegen die Behauptung Widerspruch erheben, daß
eine Reihe wichtiger und umfassender Wissenszweige in Hamburg einer viel
größeren Entfaltung fähig wäre, als solche bisher in Kiel stattgefunden.
Der Umfang des Materiales, welches dort sich bietet und jetzt theils unbe¬
nutzt bleibt, theils nur ungenügend verarbeitet wird, ist außerordentlich. Wer
z. B. die Gebäude des allgemeinen Krankenhauses in der Vorstadt Se. Georg
gesehen, der weiß, was gemeint ist. Hier findet sich ein Reichthum des
Materials, mit welchem verglichen dasjenige, was in den kieler Hospitälern
vorkommt, nur als dürftig erscheint und wodurch der Lernende so wenig wie
der Lehrer selbst schließlich sich befriedigt fühlen kann. Derselben Fülle des
Stoffes wie die Medicin würden die Naturwissenschaften im weiteren Sinne
sich erfreuen. Was hierin die große Handelsstadt zu gewähren vermag, zeigt
allein schon der botanische und der zoologische Garten Hamburgs; fast sämmt¬
liche Fächer der Naturwissenschaft dürften aus den Welthandelsbeziehungen
dieser Stadt Förderung gewärtigen. Was ist dort im Vergleich mit Kiel
sür die Botanik, die Zoologie, Geologie und Mineralogie, die Erdkunde, die
Meteorologie zu leisten, zu gewinnen! Um nur eins der entlegensten Fächer,
die Pharmakognofie herauszugreifen, sür dasselbe fände sich eine nie versie¬
gende Auswahl bester, stets neu zu ersetzender Stoffe.
Der großartige, wahrhaft patriotische Sinn der Bürger Hamburgs,
welcher an den beiden Instituten des zoologischen und botanischen Gartens
sowie den übrigen mit dem dortigen akademischen Gymnasium verbundenen
Anstalten in immer steigendem Maße sich bewährt hat, er würde sicherlich auch
den umfassenderen naturwissenschaftlichen Aufgaben und Bedürfnissen einer
Universität gegenüber nicht fehlen. Keine Wissenschaft, am wenigsten die
Naturwissenschaft kann, um ihre Gegenstände zu gewinnen, nützlicher persön¬
licher Verbindung entrathen. Hier vermag schon der einzelne Kaufmann und
Rheder, welcher seine Schiffe in die fernsten Welttheile entsendet, der Wissen¬
schaft segensreiche Unterstützung zu gewähren. Rühmliches ist in dieser Rich¬
tung von Hamburg geschehen. Außer dem öffentlichen naturhistorischen Mu¬
seum birgt die Stadt über 30 bedeutendere naturwissenschaftliche Privat¬
sammlungen.
Nicht minder günstige Bedingungen würde die juristische Facultät vor¬
finden; hinsichtlich der handelsrechtlichen Disciplinen versteht sich dies von
selbst. Nicht zu unterschätzen aber wäre auch, daß die Lehrer aller Rechts¬
disciplinen, mitten im Verkehre des Welthandels, aus den unmittelbaren
Eindrücken des Rechtslebens, wie solches sich thatsächlich gestaltet, täglich
fruchtbare Anregung für sich würden schöpfen können. Welcher der Leser
etwa den Sitzungen des Handelsgerichts zu Hamburg beigewohnt hat, der
wird uns hierin seine Zustimmung nicht versagen. Gewiß ist es verkehrt,
den Lernenden aus der Universität gleichzeitig auch zum praktischen Geschäfts¬
manne ausbilden zu wollen; aber auch ohne eigentliches Studium, schon aus
der Berührung mit dem täglichen Leben allein würde der Rechtsbeflissene in
Hamburg sich soviel des praktischen Verständnisses von selber anzueignen Ge¬
legenheit haben, als er dem erreichten Bildungsgrade nach aufzunehmen be¬
rechtigt ist. Wie oft und schmerzlich vermißt der Hörer an der kleinen Uni¬
versität bei der Mehrzahl seiner Rechtslehrer eine wirklich praktische An¬
schauung, ein eigenes lebendiges Verständniß des mitgetheilten Lernstoffs.
Das ist ein Mangel der Verhältnisse selbst; wie könnte der Lehrer denn
solchen Vorzug gewinnen in den kleinen deutschen Universitätsorten, wo
vielleicht nur des strebsamen Ackerbürgers Unternehmungen der täglichen Be-
trachtung Stoff gewähren. Zur Lösung der großen gesetzgeberischen Aus-
gaben, welche die Rechtsentwickelung Deutschlands für die nächsten Jahr¬
zehnte stellt, bedarf die Nation eines reichlichen Nachwuchses, bei dem viel¬
seitige und umfassende Gesichtspunkte mit gründlicher Rechtskenntniß sich ver¬
einigt finden. Und solcher Männer würde die Universität Hamburg viele
bilden.
Es bleibt übrig, daß wir der historischen und Staatswissenschaften in Kürze
gedenken. Hamburg ist die Stadt, wo einst die Handelsschule des trefflichen
Büsch Männer wie Barthold, G. Niebuhr und Andere erzogen hat; hier er¬
öffnet sich ein weites nur wenig angebautes Feld für Ausbildung der Lehren
vom Staate und des Verkehrslebens. Wir erinnern an die Arbeiten des
verdienten Professor Wurm; wie wenig ist seitdem geschehen, und was könnte
doch gerade hier geleistet werden. Hamburg erleichtert die Anknüpfung an
die wissenschaftlichen Bestrebungen anderer Länder und Welttheile, und dies
ist von großer Bedeutung. Die Stadt besitzt zudem in ihrer Commerz¬
bibliothek gerade für eine staatswissenschaftliche Facultät eine schöne Grund¬
lage. Und nicht blos daß in allen Zweigen der Volkswirthschaftslehre, in
der Statistik und Politik, Handels- und Finanzwissenschasten, der Kunde und
Geschichte fremder Nationen, von dem Forscher in der Theorie Erhebliches
geschaffen würde; nicht minder groß dürfte die Rückwirkung der Wissenschaft
auf die Handel- und gewerbtreibende Bevölkerung Hamburgs sein. Hierfür
ist in Hamburg ein fruchtbarer Boden bereitet. Der Hinweis auf die öffent¬
liche Gewerbeschule und die Schule für Bauhandwerker mit zusammen circa
700 Schülern und Is Lehrern mag genügen, der reichen Zahl praktisch¬
wissenschaftlicher Vereine zu geschweigen. Fast möchte man zweifeln, ob eine
Universität Hamburg diesem Boden mehr geben, denn aus ihm empfangen
kann, wäre es nicht, daß gerade die Wechselwirkung Beider die edelsten
Früchte verspräche*).
Wie die Verlegung der kieler Universität auszuführen ist, läßt sich in
verschiedener Weise denken. Sei es nun, daß dieselbe, wie minder ent¬
sprechend vorgeschlagen ist, in Altona eingerichtet würde, sei es, daß sie eben
in Hamburg selbst ihren Sitz erhält, als ein Preußen und Hamburg gemein¬
schaftliches Institut, verschmolzen mit dem akademischen Gymnasium — soviel
steht uns fest, daß die Universität in Kiel nicht bleiben kann, daß der Staat
im Begriff steht, hier ein Capital anzulegen, welches auf dem frischeren
Boden Hamburgs der deutschen Nation einen ungleich reicheren geistigen
Ertrag verspricht. Es mag hierfür noch ein Umstand besprochen werden, der
scheinbar fernliegend, doch von einiger Tragweite ist. Hamburg ist die Haupt-
stadt nicht blos von Schleswig-Holstein, sondern der ganzen cimbrischen Halb-
insel. Die Stadt Kiel kann sich in dieser Beziehung mit Hamburg auch nicht
im Entferntesten messen, ihre künftige Größe als deutscher Kriegshafen steht
auf völlig anderem Felde. Kiel liegt nun ganz abseiten der großen cim¬
brischen Verkehrsbahn, während mit deren Vollendung die Bedeutung und
das Gewicht Hamburgs dagegen noch gesteigert erscheint. Das stille thätige
Walten deutscher Gesittung, deutschen Fleißes längs unserer Halbinsel würde
von Hamburg aus durch ein großes Centrum deutscher Wissenschaft mächtig
unterstützt werden. Die Universität Kiel wird der kopenhagener niemals
ebenbürtig, geschweige denn überlegen sein.
Nicht ohne Betrübniß — denn auch wir sind der Christian« Albertina
zum Danke verpflichtet — erwähnen wir zum Schlüsse des Siechthums. wel¬
ches im Laufe der letzten Jahre die Universität gezeigt hat. Seitdem das in
Kiel abzuhaltende Biennium für Anstellung in den Herzogthümern kein ver¬
pflichtendes Erfordernis; mehr ist, seitdem die Schleswig-holsteinischen Juristen
und Aerzte in der ganzen Monarchie den Ort ihrer Examina frei wählen
dürfen, ist eine Abnahme der in Kiel Studirenden hervorgetreten. Nach¬
stehende Zusammenstellung läßt darüber keinen Zweifel:
Die Zahlen" der Theologen und Philosophen sind in dem bezeichneten
Zeitraum constant geblieben, erstere schwanken zwischen 58 und SS, letztere
zwischen 30 und 34.
Wie dem Schwinden der Studentenzahl zu steuern, ist schwer erfindlich;
ein unübersteigliches Hinderniß liegt vornehmlich in der großen Theuerung
der Lebensbedürfnisse. Kiel ist notorisch eine der theuersten Städte Deutsch¬
lands, und dies veranlaßt selbstverständlich die Studirenden, sich nach anderen
Universitätsorten zu wenden, wo sie einerseits weniger Geld brauchen, anderer¬
seits auch wohl für diesen geringeren Aufwand mehrere und reichere Bildungs¬
mittel zu Gebote stehen als in Kiel. Für die Theologen und Philosophen
liegen die Verhältnisse dadurch etwas anders, daß bei ihren Facultäten sich
Stipendien finden, mittelst welcher einer gewissen Anzahl armer Studenten
die Existenz gesichert wird; die hierdurch gegebene Ernährungsgrenze wird
natürlich nicht überschritten. Ebenfalls ist durch die herrschende Theuerung
die Berufung neuer, resp, das Festhalten bereits vorhandener Lehrkräfte sehr
erschwert.
Wenn hier nun nicht zu helfen ist. so möge man das Unvermeidliche bald
sich bekennen und demgemäß handeln. Die westliche Hälfte der deutschen
Ostseeküste ist ohnehin mit den drei Universitäten Greifswald, Rostock und
Kiel allzu reichlich versehen, und von diesen hat Kiel eine besonders ungün¬
stige Lage. Will man die Universität Kiel nicht verlegen, so ist kein Grund,
weshalb sie noch ferner erhalten bleiben soll.
Endlich noch Eins. Der Grund, welcher der Anlage von Universitäten
in großen Städten meist entgegengehalten wird, ist bekannt; es ist die Fülle
sinnlicher Genüsse, deren Verlockungen man die Jugend nicht ausgesetzt wissen
will. Aber wenn es möglich war, daß in einer Stadt wie Berlin,, welche
solche Bedenken nicht minder treffen, die Universität und zahlreiche andere
große Bildungsanstalten zu so glänzender Blüthe gelangt sind, so wird Jenes
auch Hamburg nicht entgegenstehen. Es bedarf für die Gründung der Uni¬
versität in Hamburg eines großartigen Willens, eines Entschlusses wie der,
welchem die berliner Universität ein preiswürdiges Dasein verdankt.
Staatengeschichte der neuesten Zeit. Vierzehnter Band. Erste Hälfte.
Geschichte Spaniens vom Ausbruch der französischen Revolution bis auf unsere
Tage. Von Hermann Baumgarten. Zweiter Theil. Erster Halbhart.
Leipzig, S. Hirzel. 1868.
Die letzte Katastrophe in Spanien ist von einer ungeheuren Majorität
der Deutschen mit lebhafter Freude begrüßt worden. Zuerst natürlich wegen
der Spanier selbst. Dann, weil auch für uns eine Niederlage der französischen
Chauvinisten und der Ultramontanen in diesem Augenblick die Bedeutung
eines siegreichen Erfolges hat.
Endlich sei hier verstattet, noch eine kleine Privatfreude über die große
Krisis auszusprechen, und zwar im Interesse des deutschen Geschicht¬
schreibers spanischer Schicksale. Denn seiner Geschichte Spaniens wird durch
die Ereignisse jetzt ein Abschluß geschaffen, wie ihn der Historiker sich
nicht besser wünschen kann. Und da wir nicht möchten, daß diese Ge¬
lehrtenfreude über die Förderung, welche die Arbeit eines Einzelnen erfährt,
vor dem großen Strom politischer Ereignisse unsern Landsleuten frivol er¬
scheine, soll hier angedeutet werden, weshalb unser Publikum Ursache hat, dies
Behagen zu theilen. Bekanntlich ist die Aufgabe des Historikers, das geschicht¬
lich Gewordene nach dem Maß der Kenntnisse und des Verständnisses, welches
ihm seine Zeit und sein Volk an die Hand gibt, zu beurtheilen. Die ethi¬
schen und politischen Gesichtspunkte, nach denen er urtheilt, ja seine ganze
Auffassung eines fremden Volksthums sind in dem letzten Grunde abhängig
von dem Ethos und der Einsicht, welche ihm sein eigenes Leben unter seinen
Zeitgenossen vergönnt hat. Nun ist eine oft bewährte Eigenschaft der
Deutschen, deren sie sich wohl als eines Vorzuges rühmen dürfen, daß sie
Respect vor fremder Tüchtigkeit, ehrfurchtsvolle Betrachtung der großen
Culturprocesse jeder Nation, ein inniges Verständniß für das Charakteristische
der Fremden zu ihrer Geschichtschreibung mitgebracht haben. Nicht ebenso
groß war in vergangener öder Zeit die Sicherheit ihres politischen Urtheils,
und wir haben bei namhaften Historikern entweder Stumpfheit in der Auf¬
fassung geschichtlicher Verschuldung, oder launische Willkür im Urtheil, oder
den polternden Eifer erlebt, welcher von vergangenen Menschen die aufge¬
klärte Zeitbildung späterer Geschlechter forderte, oder endlich eine unheimliche
Objektivität, welche zwar bemüht war, ein historisches Leben aus den Cultur¬
verhältnissen seiner Zeit zu erklären, aber darüber vergaß, daß der Geschicht¬
schreiber zwar die Menschen nach dem Maßstabe ihrer Zeit und Cultur, jede
Zeit aber nach dem Maßstabe der eigenen Zeit und Cultur zu richten hat.
Das ist in der letzten Generation besser geworden, auch nach dieser Richtung
haben wir uns eines großen Fortschritts zu freuen. Und unter den Werken,
welche uns durch Festigkeit, Unbefangenheit und edle Humanität des Urtheils
belehren, steht das vorliegende Buch in erster Reihe. Hier ist ein deut¬
scher Gelehrter, der es zu einer Aufgabe seines Lebens gemacht hat, die
seltsamen und verworrenen Verhältnisse Spaniens seit der Zeit, wo die
matten Strahlen der Ausklärung und der Sturm der französischen Re¬
volution über dies Land fuhren, zu schildern. Das Werk, über welchem
er schafft, wurde durch die Entfernung des Landes und die Unzugänglich¬
keit vieler Geschichtsquellen sehr erschwert; außerdem dadurch, daß für
wichtige Jahre der spanischen Entwickelung die geschriebenen und gedruckten
Quellenschriften überhaupt spärlich vorhanden sind. Finden sich doch z. B.
bedeutsame Zeitberichte und Flugschriften aus der Zeit des napoleonischen
Krieges in den viel geplünderten und verwüsteten Archiven und Bibliotheken
Spaniens gar nicht oder sehr fragmentarisch vor.
Der Verfasser war bemüht, durch Reisen in deutsche Archive und Biblio¬
theken sowie in Spanien selbst, und durch persönlichen Verkehr mit den
letzten Zeugen der frühern spanischen Revolutionen das irgend Erreichbare
mit deutschem Fleiß zu sammeln. Das Beste des neuen Materials waren
ihm nächst den im Lande selbst gewonnenen Anschauungen wohl die fremden
Gesandtenberichte, zumal im preußischen Archive. Und wir dürfen an¬
nehmen, daß manche Einzelheiten, verworrene Fäden elender Hofintriguen
und Betheiligung einflußreicher Menschen daran in der Zukunft durch Acten¬
stücke, welche jetzt unzugänglich sind, in helleres Licht treten werden. Aber der
Verlauf der spanischen Geschichte seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ist
in Wahrheit so, daß Correcturen in Einzelheiten verhältnißmäßig geringe Be¬
deutung haben, denn wenn irgendwo, wirkt dort über schwachen Personen
und kleinem Egoismus ein ungeheures Verhängnis), die Wucht aufgehäufter
Schuld aus frühern Jahrhunderten, welche die Politiker entsittlicht, die Re¬
formen ohnmächtig macht, alle Versuche staatlicher Regeneration verdirbt.
Es ist der Raubsinn der Conquistadoren. die katholische Reaction und die
Pfaffenherrschaft, welche von dem 16. Jahrhundert ab ihre schwarzen Schatten
über ein Volk gelegt, haben, dessen Stämme seit der Völkerwanderung einige
der edelsten Seiten germanischer Narur mit der zähen Lebenskraft der Urein¬
wohner und orientalischem Wechsel von Trägheit und Leidenschaftlichkeit ver¬
bunden zeigen. Dem Fluche alter Schuld verfällt das Geschlecht der spanischen
Habsburger und nach ihm das der Bourbonen, die Fürstenkrankheit, jener
grauenhafte verkehrte Wahn der Schrankenlosigkeit, umfängt den Sinn fast aller
Regierenden und schafft dort eine Reihe von besonders auffallenden Gestalten,
widerwärtig durch eine Mischung von mönchischer Bigotterie und zügelloser Sinn¬
lichkeit, von dummer Unehrlichkeit und Tücke mit jähem Wechsel von Hochmuth
und Niederträchtigkeit. Kaum einer der Fürsten bewahrt sich in der ungesunden
Luft die Reste einer bessern Natur. Und wie die Krankheit der spanischen Könige
ist der Verderb der Staatsmänner ohne Beispiel in der neuern Geschichte.
Auch den Besten ist unmöglich, die Versöhnung zwischen den humanistischen
Theorien der Aufklärungszeit und den verrotteten Zuständen des Landes zu
finden. Die ehrlichsten Reformversuche scheitern immer wieder, die beste Ten¬
denz verwandelt sich bei ungeschickter und halber Ausführung in das Gegen¬
theil. Wie dies Alles kommen mußte, hat Baumgarten in ausgezeichneter
Weise dargestellt, und bei jedem Abschnitt seiner Erzählung erfreut sein
Scharfsinn in Beurtheilung der Menschen und Verhältnisse, die sorgfältige
spannende Erzählung und ein fein empfindendes Gemüth, welches die Geheim¬
nisse des historischen Werdens bis zu den letzten uns erreichbaren Bildungen
zu schauen befähigt ist.
Es war Resignation zur Uebernahme einer solchen Arbeit nöthig. Denn
ein Jahrzehnt nach dem andern zieht über dieses Volk, die Personen wechseln,
und doch immer wieder das alte trostlose Spiel von vergeblichen Anläufen
zum Besseren und von Rückfall in Möncherei und vornirte Willkür, ein un¬
aufhörliches Feilschen und Abenteuern Ehrgeiziger um den Staat; die heule
Generäle, Minister und Lieblinge der Herrscher sind, werden morgen unzu¬
friedene Verschwörer. Und doch birgt sich hinter dieser scheinbaren Stag¬
nation des Landes und ohnmächtigem Jntriguenspiel der Regierenden ein
langsamer aber unablässiger Fortschritt zum Besseren. Die alte Wahrheit,
daß die schlechteste Regierung nicht so viel ruiniren kann, als das Culturvolk
durch die stille Arbeit von Millionen Kleiner gewinnt, gilt auch in Spa¬
nien, obgleich dies Land so reich an anspruchsvollen Müßiggängern ist. Wer
die Cultur Spaniens im Jahre 1868 mit den Verhältnissen im Anfang des
Jahrhunderts vergleicht, Handel, Städteleben, sogar die Schulen und die
Landwirthschaft, Staatsfinanzen, die Richter, die Verwaltung, Heer und
Flotte, der wird, wenn er den Maßstab seines weiter fortgeschrittenen Volkes
anlegt, überall zuerst auffällige Schäden finden und doch nicht leugnen, daß
trotz Allem gegen die Zeit Napoleon I. und Ferdinand VII. sehr viel ge¬
bessert ist. Auch in den Charakteren der Politiker ist der Fortschritt deut¬
lich. Politische Ueberzeugungen, welche zu Anfang des Jahrhunderts nur
in wenigen der Intelligentesten lebten, sind jetzt Gemeingut geworden. Eine
gesetzliche Grundlage für den Staatsorganismus ist gewonnen, sogar die
reagirenden Gewaltmaßregeln der Könige und der Pfaffen sind humaner ge¬
worden. Bei den inneren Kämpfen der Gegenwart handelte es sich nicht
mehr um absolute Königsherrschaft oder Verfassung, nur um die Hinterlist
und das böse Gewissen der Regierenden, welche gültiges Gesetz escamotiren
wollten. Die öffentliche Meinung, wie sie in der Presse ihren Ausdruck
findet, ist noch schwach, und die Controle, welche sie über die Ehrlichkeit der
Politiker ausübt, ist selten kräftig genug, um Eigennutz und rohen Egoismus
zu bändigen, aber sie übt ihr lästiges Censoramt doch immer wieder und
ihre Unterdrückung war die verhängnißvollste Ungesetzlichkeit des gestürzten Re¬
giments. Die geistige Jsolirung der Spanier hat aufgehört; wer über die
Menge hervorragt, dem liegt daran, die gute Meinung des Auslandes zu
gewinnen und zu behalten, nicht mehr fremder Regierungen, welche geheime
Dienste bezahlen, sondern der Nationen, welche vom Politiker Patriotismus
und Ehrlichkeit, von dem Gelehrten die moderne Wissenschaftlichkeit for¬
dern. Dampfmaschinen und Eisenbahnen, Staatsgläubiger und Comptoir-
briefe, Revue-Artikel und Kammerreden, die Einwanderung Fremder und die
Reisen Eingeborener, vor Allem die Arbeit der Werkstatt und die Lehren der
Schulstube haben im Bunde mit den verhängnißvollen Erfahrungen der
letzten hundert Jahre an Charakter und Sitten der Spanier ihre segensreiche
Arbeit gethan. Für den Geschichtschreiber ist es vielleicht die schwierigste
Aufgabe, solche Fortbildung, die zwischen Hemmnissen aller Art von Jahr
zu Jahr wirksam ist, zu schildern und in ihren Resultaten zu würdigen.
Daß in dem vorliegenden Werke das Auge des Verfassers unablässig auf
diesen realen Gewinn der Nation, die tröstliche Kehrseite des leidvollen poli¬
tischen Lebens gerichtet ist, vermag man bereits aus den vorliegenden Theilen
des Werkes zu erkennen.
Die Herausgabe des neuen Halbbandes kommt zu gelegenster Zeit. Der¬
selbe enthält die Restauration des bourbonischen Königthums unter Ferdi¬
nand VII., vom Sturze Napoleon's 1814 bis 1820, und den Beginn der
Militärrevolutionen und Wiedereinführung der Verfassung, welcher die franzö¬
sische Intervention durch den Herzog von Angoulöme folgte. Die hier ge¬
schilderte Zeit bildet Boden und Grundlage sür die Zustände und Partei¬
verhältnisse. welche bis zur Gegenwart das Schicksal Spaniens bestimmt
haben, es ist auch die erste Jugendzeit der meisten Staatsmänner, welche
jetzt die Geschicke Spaniens zu entscheiden haben. Der ruhmlose Fall der
Verfassung von 1812, der unsinnige Enthusiasmus, mit welchem die Spanier
sich ihrem elenden Könige zu Füßen warfen, der Charakter Ferdinand's VII,,
die höchst kläglichen Charaktere und Intriguen seiner reactionären Staats¬
männer, der Kampf Englands und Rußlands um die Herrschaft an einem
sittenlosen und ohnmächtigen Hofe, und der erste Ausbruch der Enttäuschung
und Unzufriedenheit in dem betrogenen Volke sind erzählt. Der Verfasser
bewährt auch hier Wissen, Kunst und gute Natur, welche an dem ersten
Band seiner Geschichte zu rühmen waren, er überzeugt, indem er belehrt, und
er gibt dem Leser sicheres Vertrauen zu seinem Urtheil und die sympathische
Empfindung, welche einzuflößen das Vorrecht eines hochgesinnten und guten
Mannes ist.
Möge ihm Lust und Kraft bleiben, das treffliche Werk, dessen wir
Deutsche uns rühmen, bis zum Ende, d. h. bis zu der Katastrophe neuester
Gegenwart, fortzusetzen, und möge ihm selbst dabei die schönste Freude
werden, welche einem deutschen Geschichtschreiber werden kann, die Freude,
daß sein ehrlicher Sinn in den letzten Resultaten der Zeit und des Volkes,
welche er schildert, einen dauernden Fortschritt erkennt, der seinem eigenen
Herzen wohlthut.
Z
haben die Vorgänge auf dem letzten lemberger Landtage die Veranlassung
gegeben — das ist eigentlich Alles, was bisher über den Rücktritt des Minister¬
präsidenten Fürsten Carlos Auersperg zuverlässig bekannt geworden. Fest
zu stehen scheint außerdem nur noch, daß der Rücktritt des bisherigen Leiters
des cisleithanischen Cabinets mit gewissen Schwankungen in der kaiserlich
königlichen Meinung vom Werth constitutionellen Regiments zusammen
gefallen ist. Das sagt uns ebenso die ängstliche Besorgniß des deutsch¬
östreichischen Liberalismus, wie die Sprache, welche gewisse mit den Regierungs¬
kreisen zusammenhängende Journale über einzelne Glieder des Ministeriums
führen.
Einen schlimmern Stoß hat der politische Credit des Polenthums nicht er-
leiden können, als den, welchen er sich selbst durch seine gegen die östreichische
Verfassung gerichteten Angriffe zugefügt hat. Es scheint, die Smolka, Adam
Sapieha u. s. w. haben der Welt beweisen wollen, daß sie an Urtheilslosig-
keit und Kurzsichtigkeit den Männern an der Weichsel Nichts nachgeben,
welche sich für ihren Aufstand gegen die russische Herrschaft keinen günstigeren
Augenblick zu wählen wußten als den, in welchem zum ersten Mal nach
Decennien ein polnischer Patriot an der Spitze der Administration des König¬
reichs stand. Dieselbe Leichtfertigkeit, mit welcher damals des russischen Kaisers
versöhnliche Absichten und des Marquis Wielopolski wohlgemeinte Rathschläge
verworfen wurden, offenbart sich heute in der Politik des lemberger Land¬
tags und hat, soweit sich bis jetzt beurtheilen läßt, zu durchaus analogen
Folgen geführt: das freisinnige wohlwollende Ministerium, welches ohne
Rücksicht auf die wachsende Verstimmung der Ruthenen und das Grollen
der russischen Nachbarschaft dem in der übrigen Welt proscribirten oder un¬
möglich gewordenen Polenthum eine Freistatt eröffnete, ist ins Schwanken
gebracht, der nationale Statthalter Goluchowski zum Rücktritt gezwungen
worden.
Welche Eventualitäten standen den Polen offen, als sie sich am Bor-
abend des kaiserlichen Besuchs in Galizien zu einer directen Herausforderung
des constitutionellen Oestreich entschlossen?
Wie uns scheint waren nur zwei Möglichkeiten gegeben, mit welcher
die Majorität des lemberger Landtages rechnen konnte: Rückkehr zum Föde-
ralismus oder — wie sie selbst drohend geltend gemacht haben — Anschluß
an die transleithanische, ungarische Reichshälfte.
In dem Drängen nach Sprengung der gegenwärtigen östreichischen Ver¬
fassung und dem Bestreben, den Kaiserstaat in eine Anzahl selbständiger Land¬
schaften aufzulösen, begegnen die Polen sich mit den übrigen Slaven der
östreichischen Monarchie, nur daß die Chancen auf Erfüllung ihrer letzten
Wünsche und Hoffnungen dabei in demselben Maße fallen, als diejenigen der
Czechen, Slovenen. Croaten u. a. steigen. In allen westslavischen Ländern geht
die panslavistische Strömung gegenwärtig höher, als jede andere und damit
ist zugleich gesagt, daß die polnischen Hoffnungen mit den Tendenzen der
übrigen Stämme dieser Völkerfamtlie unvereinbar sind. Der Panslavismus
von heute ist nicht mehr das verschwommene, phantastische Ding, das er im
I. 1848 war und für das ihn noch zehn Jahre später der Marquis Wielo-
polski zu nehmen schien, als er eine russisch-polnische Föderation gegen das
nach Osten vordringende Germanenthum empfahl. Seit den letzten Jahren
steht die Bewegung in der slavischen Welt so direct unter russischen Ein¬
flüssen, daß die Begriffe Panslavist und Anhänger Rußlands nahezu' identisch
geworden sind. Das Polenthum aber ist die directe Verneinung der pansla-
vistischen Idee. Weder wollen die Polen etwas von einem Anschluß oder
einer Unterordnung unter das russische Banner wissen, noch sind sie mit
den übrigen Slavenstämmen in der Abneigung gegen die westeuropäische
Civilisation und den schwärmerischen Wünschen für Herstellung einer selb¬
ständigen neuen Cultur einig. Ihr Stolz ist von jeher gewesen, das Boll¬
werk des Abendlandes gegen den Osten gebildet zu haben und der Anspruch,
welchen sie auf Wiederherstellung der königlichen Republik erheben, gründet
sich vornehmlich auf ihre Verdienste um die Sache der westeuropäischen Civi¬
lisation. Ihre entschiedensten Gegner sind darum auch nicht die russischen
Gouvernementalen, sondern die Anhänger panslavistlsch-nationaler Politik,
welche in Moskau ihren Sitz haben und in den Lenden die Störenfriede der
slavischen Einigkeit verfolgen. Diese sind es, welche von den Westslaven
immer wieder eine Unterstützung der Ruthenen gegen die galizischen Polen
als Unterpfand künftigen Zusammengehens fordern.
Was hat das Polenthum unter solchen Umständen mit den übrigen
slavischen Föderalisten der östreichischen Monarchie gemein, was hat es von
einem Siege derselben zu erwarten? Absolut Nichts. numerisch schwächer
als die übrigen Stämme, von ihnen durch ihre leidenschaftlichen Antipathien
gegen Rußland geschieden, bei ihnen durch ihre Händel mit den galizischen
Ruthenen übel renommirt, haben die Polen von dem Siege des slavischen Ele¬
ments in Oestreich Nichts zu erwarten: sie bekommen nur noch in den Kauf,
was ihnen im Kaiserstaat bisher erspart blieb: den Haß des wirklich herr¬
schenden und maßgebenden Elements, der Deutschen. Der Deutschöstreicher
sieht im Föderalismus den gefährlichsten Feind zugleich seiner Freiheit und
Bildung und seiner Nationalität, er weiß aus alter und neuer Erfahrung,
daß dieses System sich nur auf ein Bündniß des Slaventhums mit Feudalen
und Clericalen stützen kann, daß der Verlust seiner nationalen Präponderanz
zusammenfällt mit dem Einsturz gebildeter und freiheitlicher Staatsformen.
Auf deutsche Bundesgenossenschaft haben die Polen mithin nicht zu rechnen,
wenn sie sich nach Herstellung des föderalistischen Systems im Kampf mit den
differirenden Interessen der übrigen slavischen Stämme behaupten wollen —
die Gefahr, auf Unkosten ihrer liebsten Wünsche majorisirt und ihrem nume¬
risch stärkeren, von Rußland eifrig patromsirten Feinde im eigenen Land, dem
Ruthenenthum, geopfert zu werden, ist in einem von slavischen Einflüssen
beherrschten Oestreich sogar größer, als in dem konstitutionellen Verfassungs¬
staat der Gegenwart.
Diesen nahe liegenden Erwägungen scheinen sich selbst die Heißsporne des
lemberger Landtags nicht ganz verschlossen zu haben. Wenn sie zunächst auch
nur gegen die centralistische Structur der Constitution und für die Autono
mie Galiziens ins Feuer gingen, so ließ sich doch durchsehen, daß die in der
Presse wiederholt und nachdrücklich ausgesprochene Drohung mit einem even«
knellen Anschluß an die transleithanische Reichshälfte in den Köpfen, nament¬
lich der entschiedenen Oppositionsmänner, eine beträchtliche Rolle spielte.
Wie nun die Magyaren selbst von der Eventualität eines Anschlusses Ga¬
liziens an Ungarn denken, ist in Norddeutschland nicht bekannt. Aus An¬
deutungen der die Anschauungen der Linken des pesther Landtags vertreten¬
den „Ungarischen Monatsschrift" läßt sich nur ersehen, daß die vorgeschrittene
Partei jede Erweiterung der ungarischen Machtsphäre gern sehen würde.
Daß sich aber die maßgebenden ungarischen Politiker mit der Ungeheuerlich¬
keit einer Assimilation Galiziens jemals befreunden könnten, ist geradezu un¬
denkbar. Für Ungarn ist das Vorhandensein einer in einzelnen Comitaten
prävalirenden slavischen Bevölkerung bereits gegenwärtig eine Calamität,
denn wesentlich ihm ist es zuzuschreiben, daß der Panslavismus in dem Ma-
gyarenthum seinen Todfeind bekämpft. In den eompact magyarischen Lar«
besehenen liegt der Schwerpunkt des ungarischen Staats; daß es außerdem
Provinzen gibt, in denen die Magyaren die herrschende Classe vertreten und
eine slavische Landbevölkerung unter sich haben, mag dem Nationalstolz Ein¬
zelner schmeicheln, trägt zur Kräftigung des Ganzen aber sicherlich nicht bei.
Von dem Polonismus ist das Magyarenthum ^ja eben dadurch fundamental
unterschieden gewesen, daß es eine-wirkliche Nationalität, die Summe aller
zu einem Staatsganzen erforderlichen Elemente repräsentirte und seinen ur¬
sprünglich wesentlich aristokratischen Charakter zu überwinden und loszuwerden
wußte. Wird Galizien dem ungarischen Staate zugefügt, so treten doppelte
Schwierigkeiten ein. Der östliche Theil Galiziens, der geographisch Ungarn
am nächsten liegt, ist der Majorität seiner Bevölkerung nach von Ruthenen
(Kletnrussen) bewohnt. Je inniger die Verbindung ist, in welche die Polen
mit den Magyaren treten, desto unvermeidlicher erscheint eine Interessenge¬
meinschaft zwischen Ruthenen und mißvergnügten ungarischen Slaven und
der ständisch-nationale Gegensatz, der der Fluch Galiziens und bereits gegen¬
wärtig die schwache Seite Ungarns ist, überträgt sie auf den größten Theil
der unter der Stephanskrone stehenden Länder 'und frißt die Gesundheit des
gesammten Staatslebens an. Die Vortheile einer unläugbar bereits vor¬
handenen Interessengemeinschaft zwischen Polen und Magyaren werden durch
den Umstand, daß diese Gemeinschaft zugleich einen Gegensatz gegen die
Forderungen und Tendenzen der Ruthenen bedeutet, mehr wie aufgewogen.
Dazu kommt, daß diese Ruthenen durchweg eifrige Anhänger der griechischen
Kirche sind und schon an dem katholischen Charakter Ungarns Anstoß nehmen
müssen. Die westliche jenseit des Flüßchens San belegene Hälfte Galiziens,
welche hauptsächlich von Polen bewohnt wird und altpolnisches Land ist,
ist zugleich die von den ungarischen Centren weiter abliegende und kleinere und
kommt darum erst in zweiter Reihe in Betracht.
Das schlimmste Brautgeschenk, das die galizischen Polen Ungarn, zu¬
brachten, wäre aber der volle Haß des bereits gegenwärtig entschieden anti¬
magyarisch gesinnten Rußlands. Eine Fusion Ungarns mit den „Erbfeinden"
der nationalen russischen Idee würde Rußland ebenso wenig dulden, wie die
Unterordnung der Ruthenen unter magyarische Einflüsse — Ungarn würde die
russische Feindschaft, an welcher Oestreich jetzt zu tragen hat, mit doppelter
Schwere auf sich nehmen.
So sprechen alle Gründe dagegen, daß Ungarn sich jemals auf die von
den Polen gewünschte oder doch als Drohung Verlautbarte Combination
einlassen werde. Zieht man endlich die praktischen Schwierigkeiten in Be¬
tracht, erwägt man, daß die cisleithanische Reichshälfte und die wiener Re¬
gierung sich einer Abtretung Galiziens an Ungarn aufs Aeußerste widersetzen,
dieselbe erforderlichenfalls mit Gewalt verhindern werden und dabei auf die
thatkräftige Unterstützung von Millionen aufgebrachter Ruthenen rechnen
können, so erscheint der bloße Gedanke an eine Verschiebung der Territorial¬
machtverhältnisse, wie sie von polnischen Enrage's geträumt wird, als Utopie,
die für praktische Politiker eigentlich nicht in Betracht kommen kann.
Dann bliebe den Polen, selbst in dem unwahrscheinlichen Falle, daß sie
aus dem thörichten Kampf gegen den östreichischen Verfassungsstaat und das
Cabinet Giskra als Sieger hervorgehen sollten, keine andere Wahl, als ein
Experiment mit dem Föderalismus, der ihren Todfeind, den Panslavismus,
zum eifrigsten Verbündeten, das deutsche Element zum geschworenen Gegner
hat, und zugleich den materiellen Interessen aller Theile der östreichischen
Monarchie ebenso schädlich ist, wie der geistigen Cultur und der Wehrkraft des
Staates nach Außen.
Franz Joseph hat den lemberger Landtag nicht aufgelöst, die ver¬
sprochene Kaiserreise nach Galizien ist — wenigstens nach polnischen Nach¬
richten — nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben worden. Die polni¬
schen Galizier haben somit die Möglichkeit ihrer Stellung zum östreichischen
Verfassungsstaat noch ein Mal in Erwägung zu ziehen und die Eventualitäten,
die für den Fall eines offenen und vollständigen Bruches mit dem gegenwär¬
tigen System offen blieben, der Revision zu unterziehen. Wohl läßt sich schon
gegenwärtig absehen, daß ein vernünftiges Einlenken zur elften Stunde
wenig wahrscheinlich ist und man polnischer Seits versuchen wird, die Sache
aus die Spitze zu treiben; zweifelhaft aber kann nicht sein, daß die Polen
damit die Niederlage ihrer Sache selbst und vielleicht für immer unterschrieben
halten. Es zeigt von einer Selbstüberschätzung, für welche man um den Aus¬
druck verlegen sein könnte, wenn dieser im eignen Lande die Minorität bil¬
dende Stamm wegen des Vorschubs, der ihm durch Oestreichs gegen Ru߬
land laufende Interessen geleistet worden, in den Wahn gewiegt worden ist.
er sei der eigentliche Meister der Situation und nur nach einer Verständigung
mit ihm könne Oestreich hoffen, das Werk seiner Neugestaltung zu vollziehen.
Daß das Verhältniß das umgekehrte ist, liegt für Jeden, der die Lage mit
irgend nüchternen Augen ansieht, so sehr auf der Hand, daß alle Nachweise
dafür überflüssig scheinen. So gering auch die Hoffnungen sind, welche wir für
eine continuirliche Fortentwickelung des constitutionellen Lebens in Oestreich
hegen, so genau wir auch wissen, daß dasselbe immer wieder Gefahr laufen
wird, von absolutistischen und clericalen Velleitäten gekreuzt zu werden — daß
die Polen Galiziens nicht die Leute sind, Oestreich aus den Angeln zu heben,
in welche es durch die liberale innere Politik der letzten Jahre gehängt worden
ist, versteht sich von selbst.
Es gibt geschichtliche Nothwendigkeiten, welche sich unerbittlich und ohne
jede Rücksicht darauf, wie groß die Opfer sind, welche auf Unkosten der Hu¬
manität gebracht werden, vollziehen. Man hat die Vernichtung des polnischen
Elements zu diesen Nothwendigkeiten gerechnet. Wenn irgend Etwas geeig¬
net ist, diese Auffassung zu unterstützen, so sind es die Capitel der polnischen
Geschichte, welche in den Jahren 1853 und 1868 in Rußland und Oestreich
gespielt haben. Daß es kaum fünf Jahre nach den furchtbaren Erfahrungen, ^
die Polen seit dem Bankerott des Wielopolski'schen System's gemacht, möglich
gewesen, politische Thorheiten wie die des letzten lemberger Landtags zu er¬
leben, schlägt denen, welche an die Möglichkeit einer Wiederherstellung dieses
Staates geglaubt haben, empfindlicher ins Gesicht, als Alles was unter den
Lesczinsky und Poniatowski gesündigt worden. So frische Erfahrungen so
rasch und so vollständig in den Wind zu schlagen, vermag bloß die'unbelehr¬
bare und unverbesserliche Leichtfertigkeit, und wenn Oestreich dereinst dieselbe
Polenfeindliche Politik adoptirt, in welcher Rußland gegenwärtig das Heil
sucht, so wird seine Berufung auf die Erfahrungen von 1868 bei der Mehr¬
zahl der Zeitgenossen keine ganz vergebliche sein.
Der der „Bibliothek geographischer Reisen und Entdeckungen" zu Grunde lie¬
gende Gedanke, durch die Herausgabe einer Sammlung älterer und neuerer Reise¬
werke von Werth die wesentlichsten Resultate der in den letzten Jahrhunderten durch
den Forschungseifer kühner Reisender erweiterten Erdkunde in ein Ganzes zusammen¬
zufassen, hat zu viel natürliche Berechtigung, um nicht in weiteren Kreisen Anklang
und Anerkennung zu finden. Ueber Plan und Reihenfolge dieses auf eine größere Anzahl
von Bänden angelegten Werkes ist in der Ankündigung leider nichts gesagt: den
ersten Band bildet Hayes' „Offenes Polarmeer", den zweiten eine in der That sehr
gediegene Uebersetzung des portugiesischen Reisewerks von Pinto, an dritter Stelle
soll Bakers Expedition an die Quellen des Nil und den Albert-Nyanza folgen. So
vortrefflich diese Einzelwerke sind und so zuverlässig die Namen der Herausgeber eine
solide Bearbeitung verbürgen, so scheint uns doch bedauerlich, daß dieselben in keiner
bestimmten, durch den Inhalt bedingten Reihenfolge erscheinen. Am empfehlens-
werthesten wäre in dieser Beziehung eine chronologische Anordnung des Stoffes ge¬
wesen; durch diese würde den Lesern die erwünschte Gelegenheit geboten werden, die
Geschichte der geographischen Wissenschaft und ihrer Erweiterung seit dem 16. Jahr¬
hundert kennen zu lernen. Statt dessen werden wir durch das erste der genannten
Werke zur Theilnahme an einer Expedition eingeladen, welche vor noch nicht zehn
Jahren in das nördliche Polarmeer unternommen wurde, während Pinto's Reisen
uns in die asiatische Welt (China, Tartarei, Siam, Pegu) des 16. Jahrhunderts
versetzen. I. I. Hayes' war der Schiffsarzt des Schooners „Grinnell" gewesen,
auf welchem Kane im Jahre 18S3 in das nördliche Eismeer vordrang; nach dem
Tode dieses kühnen Forschers, im Juli 1860, rüstete Hayes selbst ein Schiff aus,
mit dem er weiter nach Norden gelangte, als vor ihm irgend ein Bewohner der
Culturwelt. Am 2V. August 1860 war er bis nach Uppernawik an der grönlän¬
dischen Küste vorgedrungen; von hier aus setzte er seine Expedition zu Schlitten bis
zu 82" 30' nördliche Breite fort, um wirklich bis an das offene Polarmeer zu
kommen. Hier mußte er umkehren, weil seine Vorräthe erschöpft waren. Die Theil¬
nahme an dem nordamerikanischen Bürgerkriege, den der Autor als Militärarzt mit¬
machen mußte, hat denselben gezwungen, seine Reisebeschreibung erst mehrere Jahre
später aufzusetzen und zum Abschluß zu bringen. — Für das deutsche Publicum
wird dieses Werk in dem gegenwärtigen Augenblicke von besonderem Interesse sein,
da Hayes' Forschungen dem Petermann'schen Plane zur Grundlage gedient haben,
mit dessen Ausführung eine von deutschen Seeleuten geleitete Expedition den ver¬
gangenen Sommer über beschäftigt war.
Des Fernand Mendez Pinto (eines im I. 1509 in der Provinz Beira zu,
Montemor o Velho geborenen Portugiesen) abenteuerliche Reise durch China, die
Tartarn, Siam und Pegu war zuerst um 1614 erschienen, 1671 zu Amsterdam
verdeutscht und seitdem dem deutschen Publicum nur durch einen mangelhaften,
flüchtig gearbeiteten Auszug zugänglich gemacht worden. Das Schicksal dieses Werks
ist dadurch besonders interessant, daß es Jahrhunderte lang für ein Fabelbuch ge¬
golten hat und erst durch die Ergebnisse neuerer Forschung rehabilitirt worden ist.
Im I. 1539 hatte Pinto sein Baterland als Flüchtling verlassen und erst im
September 1568 kehrte er nach einer Reihe von unerhörten Abenteuern in die
Heimath zurück, wo er im I. 1583 trotz seiner Verdienste um die Erweiterung
des portugiesischen Handels als armer und unbekannter Mann verstarb. Pinto's
Aufzeichnungen waren zunächst nicht für die Oeffentlichkeit, sondern zur Belehrung
der Kinder des kühnen Reisenden bestimmt. Erst einunddreißig Jahre nach seinem
Tode wurden sie gedruckt; das Aufsehen, das sie erregten, beruhte hauptsächlich auf
der stilistischen Mustergültigkeit der Darstellung, da der Inhalt, wie oben erwähnt,
längere Zeit hindurch für fabelhaft und unzuverlässig galt, ein Umstand, den der
Verfasser selbst durch einzelne, übrigens unwesentliche Uebertreibungen und Aus¬
schmückungen verschuldet hatte. Im I. 1620, also schon sechs Jahre nach dem
ersten Erscheinen, wurden Pinto's Aufzeichnungen durch Francisco da Herera Mal-
donado ins Spanische übertragen, acht Jahre später ins Französische und seitdem
in fast alle übrigen europäischen Cultursprachen.
Die Geschichte dieses Buchs ist das beste Zeugniß, das zu Gunsten desselben
angeführt werden kann und wird in unserer Zeit sicher nicht weniger Interesse er¬
regen, als vor 250 Jahren, da es nur für einen Reiseroman galt und doch allent¬
halben verschlungen wurde. Wie schon die Vorrede bemerkt, ist ein großer Theil
der von Pinto genannten Ortsnamen nicht mehr verständlich, da derselbe ihre Auf¬
zeichnung vornahm, ohne mit den Sprachen der Völker bekannt zu sein, unter denen
er lebte. Dr. Külb, der kenntnißreiche Uebersetzer und Herausgeber, hat dieselben
leider nur zum Theil in der richtigen Version wiedergegeben und dadurch dem
Scharfsinn des Lesers mehr überlassen, als dieser in der Regel zu leisten im Stande
sein'wird. Die Uebersetzung selbst ist vortrefflich, leicht und fließend zu lesen und
enthält dieselben Vorzüge, welche den Ruhm des Originals begründet haben.
Wider unsern Willen erfüllen wir erst spät die Pflicht, auf das vorliegende
Buch hinzuweisen. Es verdient alle Beachtung in hohem Grade und zeichnet sich
durch eine außergewöhnliche Lebendigkeit der Darstellung, durch großen Scharfsinn
und eine Selbständigkeit des Urtheils aus. die sich in einer vorurtheilslosen Behand¬
lung bereits erkannter und in erfolgreichem Nachweise noch nicht erkannter, neuer
Probleme zu erkennen gibt. Man muß sagen, daß es die für die Geschichte der
Dichtkunst und ihrer Theorie überaus wichtige Erkenntniß von Aristoteles' Poetik
sehr wesentlich gefördert hat und somit auch außerhalb des engen Kreises der Fach¬
genossen Beachtung beanspruchen darf. Auf die zum Theil überraschenden Resultate,
welche es bietet, ist schon von competenten Beurtheilern hingewiesen worden (so auf
Cap. XVII. durch T—k in Zarncke's Centralblatt, 1868, Ur. 6, S. 134); ganz be¬
sonders interessant aber ist der Abschnitt, in welchem eine neue Auffassung von der
aristotelischen Lehre über das ^xos, die Länge von Tragödie und Epos, nieder¬
gelegt ist. Teichmüller wendet sich nämlich gegen die Ansicht, daß Aristoteles in der
Poetik 5, 8 unter Melos die Zeit der erdichteten Handlung verstehe, und daß er
also die Vorschrift gebe, die Handlung einer Tragödie müsse die Einheit der Zeit
festhalten und dürfe nicht das Maß eines Tages überschreiten, wie denn allerdings
die meisten antiken Tragödien innerhalb des Zeitraums eines Tages zu spielen
scheinen und die französischen Dramatiker hierauf einen wesentlichen Punkt ihrer
dramatischen Theorie gegründet haben. Teichmüller hingegen stellt die Ansicht auf,
daß „^xos" hier den äußeren Umfang eines Dichterwerkes, also die Zeit be¬
zeichne, welche seine Aufführung oder Vorlesung beanspruche, wornach also die Vor¬
schrift besagen würde, daß eine Tragödie nur so lang sein dürfe, daß sie innerhalb
eines Tages aufgeführt werden könne. Der mit diesen Fragen Vertraute wird er¬
kennen, wie wichtig und eingreifend diese neue Auffassung ist und daß sie auch für
die Frage nach der Tetralogie, die Art der Aufführung und Vertheilung wett-
kämpsender Tragödien auf die drei Tage der dramatischen Frstspiele Bedeutung
gewinnt, und der Verfasser hat sich auch die nothwendigen Konsequenzen, welche
sich aus seiner Erklärung für jene Fragen ergeben, nicht entgehen lassen (vgl. S. 384 ff.).
Die neue Ansicht hat außerordentlich viel Wahrscheinliches, und mehrere früher un¬
gelöste Schwierigkeiten beseitigt sie auf das glücklichste. Wer aber wie. Referent
sich nicht zu der Schöll'schen Hypothese von durchgängiger trilogischer oder tetra¬
logischer Komposition der griechischen Tragödie bekennt, sondern die Anschauung
festhält, daß z. B. Sophokles in späterer Zeit zwar ebenfalls drei, aber durch¬
aus selbständig nebeneinander stehende Tragödien zusammen aufführte, der wird
darin noch ein gewichtiges Bedenken gegen die Hypothese des Verfassers finden.
Denn wenn die Worte des Aristoteles in ihrer neuen Deutung sehr wohl auf eine
Tragödie oder auf eine vollkommene Trilogie passen, so sind sie weit schwerer auf je drei
Tragödien zu beziehen, deren hauptsächliche Verknüpfung nur darin zuliegen scheint,
daß sie von einem Dichter geschrieben und an einem Tage aufgeführt wurden. —
Wenn Aristoteles a. a. O. zum Schlüsse sagt, daß diese Differenz zwischen Epos
und Tragödie nicht bestanden habe, so erklärt dies der Verfasser S. 180 in einer
Weise, mit der Res. nicht einverstanden ist. Tragödien, in denen die Dichter ihren
Stoff mehrere Tage hintereinander rhapsodisch fortspinnen wie die homerischen Rhapso¬
dien — dies streitet ebenso sehr gegen, das Wesen des griechischen Dramas, wie
gegen das, was wir von seiner historischen Entwickelung kennen. Weit eher möchte
man geneigt sein, dem ältesten Epos eine ähnliche zeitliche Beschränkung zuzu¬
schreiben, wie sie der Tragödie von Anfang an innewohnt. — Dem folgenden
Bande, welcher unter Anderem auch das vielbehandelte Problem von der Katharsis
enthalten wird, sehen wir mit Verlangen entgegen.
Mit der schottischen und irischen Reformbill ist der große Act des
vorigen Jahres zum Abschluß gebracht und das Land rüstet sich zu den
Wahlen, welche das erste Parlament nach dem neuen System versammeln
werden. Der Zeitpunkt darf als günstig gelten für eine umfassende Rück-
und Vorschau.
Während des großen Kampfes, welchen das Parlament gegen die Stuarts .
führte, war dasselbe naturgemäß auf die alte Praxis der maintknaueö ok tds
la-As a,na reell'WL ok Fi-iovlwcöL beschränkt gewesen. Nach der Revolution von
1868 und namentlich unter den beiden ersten schwachen Königen der hannö-
verschen Dynastie wuchs das Haus der Gemeinen rasch heran zum bestim¬
menden Factor des Staatslebens. Es war natürlich, daß sich bei dieser zu¬
nehmenden Bedeutung das Augenmerk bald auf die sehr ungleiche Verthei-
lung des Wahlrechts lenkte, denn wie groß auch die Dienste waren, welche
das Unterhaus der Sache der nationalen Freiheit und Unabhängigkeit ge¬
leistet, niemand konnte behaupten, daß es eine auch nur annähernde Ver¬
tretung des Volkes biete. Freilich die englische Auffassung der Volksver¬
tretung war nie die der Kopfzahl, sondern immer die der Repräsentation von
örtlichen Gemeinschaften gewesen, aber zahlreiche Plätze, welche einst Bedeu¬
tung gehabt, waren gesunken, andere zu blühenden Städten erwachsen und
doch waren jene vertreten, diese nicht. Schon in der Mitte des 17. Jahr¬
hunderts war dies Mißverhältniß offenbar geworden und Cromwell bewies
seinen staatsmännischen Blick, indem er 72 kleinen Flecken ihr Wahlrecht
nahm, es Manchester, Leeds und Halifax verlieh und die Zahl der Grafschafts¬
mitglieder vermehrte. Aber die Restauration gab 36 dieser abgeschafften
Flecken ihr Wahlrecht wieder, nahm es jenen größeren Städten und mit
der Zeit wurden die Mängel immer augenscheinlicher. Die erste und größte
Anomalie waren die Nominationsflecken; unbedeutende Orte, oft kaum
Dörfer zu nennen, sandten einen Vertreter ins Parlament, der thatsächlich
einfach von den großen Eigenthümern dieser Flecken ernannt ward; so ver¬
fügte der Herzog von Norfolk über 11 Sitze, Lord Lvnsdale über 9, Lord
Darlington über 7 u. f. w. Im I, 1793 saßen 70 Mitglieder für 33 Flecken,
in denen es so gut wie gar keine Wähler gab, 90 Mitglieder vertraten 46
Ortschaften mit weniger als 60 Wählern und 37 Mitglieder wurden von
19 Flecken gesandt, die nicht mehr als 100 Wähler hatten. Fast eben so
fehlerhaft war die Vertretung der Städte; in den meisten sollte nach ge¬
meinem Recht jeder Hausbesitzer das Wahlrecht haben, thatsächlich aber ward
es meist nur von der Corporation, dem Mayor und den Aldermen geübt, in
Bath z. B. von 35, in Salisbury von 66 Personen, in anderen stand das
Wahlrecht Allen zu, welche Schoß bezahlten oder welche Mvallers waren,
d. h. allen denen, die in dem Orte selbst kochten. Es liegt auf der Hand,
daß unter solchen Umständen die Bestechung eine große Rolle spielen mußte;
bei den faulen Flecken wurde das Wahlrecht einfach unverkauft, der Ehr-
geiz der „Nabobs", der Leute, die aus den Colonien mit großem Vermögen
zurückkehrten und nun ins Parlament wollten, trieb die Preise zu enormer
Höhe; der Kampf um Southampton soll 1868 30.000 Pfd. Sterl. gekostet
haben, die Corporationen der Städte verkauften ihre Stimmen meistbietend
und da, wo ein größerer Wahlkörper bestand, bot man der Masse Bier und
Branntwein, wodurch es meist zu den wildesten Pöbelexcessen kam. Die
Wahlmänner der Grafschaften waren zahlreicher, weniger bestechlich und
repräsentirten noch am ersten wirklich die ländliche Bevölkerung; aber sie
standen doch sehr überwiegend unter dem Einfluß der großen Grundherren
und ein Wahlkampf in ihnen ward oft mehr durch die Nebenbuhlerschaft
großer Häuser der verschiedenen Parteien als durch verschiedene Ansichten
veranlaßt. Im Ganzen sollen Anfang dieses Jahrhunderts nicht weniger
als 218 Mitglieder der Burgflecken und Grafschaften durch Ernennung oder
Einfluß von 87 Lords im Unterhaus gesessen haben. — In Schottland stand
es womöglich noch schlimmer, Edinburgh und Glasgow hatten jedes eine
Wählerschaft von 33 Personen, die gesammten berechtigten Wähler Schott¬
lands beliefen sich auf kaum 4000. Im irischen Parlament, das bis 1801
getrennt bestand, herrschte dasselbe System, welches durch die Gesetze gegen
die Katholiken sich noch gehässiger gestaltete und im Wesentlichen auch nach
der Union mit dem englischen Parlament in Kraft blieb.
Wenn nun gleich in der Wirklichkeit die Sachen sich oft besser machten,
namentlich der Parteikampf der Whigs und Tones mehr Leben in die Ver¬
hältnisse brachte, wie der öftere Umschlag der Wahlen in großen nationalen
Kreisen zeigte, so war doch ein derartiger Zustand zu abnorm, um auf die
Länge unangefochten zu bleiben. Lord Chatham's Scharfblick erkannte, daß
Hand ans Werk gelegt werden müsse und er prophezeite, daß bis Ende des
Jahrhunderts das Parlament entweder sich selbst reformirt haben müsse oder
zur Strafe von außen reformirt werden würde: sein Borschlag (1770) war,
den Grafschaften ein drittes Mitglied zu geben, um ein Gegengewicht gegen
die bestochenen und käuflichen Flecken zu schaffen. Auch ein Mann wie Burke,
der mit leidenschaftlicher Vorliebe an den altenglischen Institutionen hing
und fürchtete, daß durch die Verbesserung offenkundiger Fehler das Gleich¬
gewicht der Verfassung gestört werden möchte, mußte 1780 zugeben, daß sich
eine tiefe Verstimmung des Volkes bemächtigt habe l>v are grovu out ok
llumcmr Unit elle LouiZtituticm itselt').
William Pitt nahm den Plan seines Vaters wieder auf. er brachte 1783
Resolutionen ein, wonach jeder Flecken, in welchem die Majorität der Be¬
stechlichkeit überführt war, sein Wahlrecht verlieren sollte, während die Zahl der
Vertreter der Grafschaften und Londons vermehrt werden sollten. Die
faulen Flecken selbst anzugreifen wagte er noch nicht, weil sie ihm zu sehr
mit der ganzen Verfassung verwachsen schienen. Mit einer Mehrheit von
142 Stimmen geschlagen, nahm er die Idee wenige Jahre später als Minister
wieder auf. Er hatte dabei mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; der König
war jeder Reform abgeneigt und seine Collegen dachten ebenso oder waren lau.
aber er beharrte fest bei seinen früheren Gedanken, die er einerseits zu erweitern,
andererseits praktischer zu gestalten suchte. In der großen Rede, mit der er
1783 seine Bill „die Vertretung des englischen Volkes im Parlament zu
verbessern" einführte, ging er davon aus, daß die Vertretung je nach den
Umständen wechseln müsse; sie habe dies von Eduard I. bis Karl II. fort¬
während gethan, die Krone habe die Befugniß gehabt, zum Parlament zu
entbieten wen sie wolle, nach dem Princip, daß nur solche Plätze, welche im
Volksleben wirkliche Bedeutung hätten, vertreten sein sollten. Noch Jakob I.
habe bei der Berufung^ seines ersten Parlaments den Sheriffs geboten, solche
Flecken nicht wählen zu'lassen, die in offenbarem Verfall seien, die Entziehung
des Wahlrechts, welche Cromwell gegen 72 Flecken geübt, habe selbst Claren¬
don gebilligt und bei der Restauration sei jenes Recht nur der Hälfte zurück¬
gegeben ; die jetzt bestehende Anzahl der Wahlkörper könne daher nicht unan¬
tastbar sein. Pitt schlug daher vor, 36 Flecken das Wahlrecht zu entziehen
und die 72 Mitglieder, welche sie entsandten, auf die Grafschaften und Lon¬
don zu vertheilen, ebenso das Recht von 10 städtischen Corporationen auf die
Bürgerschaft zu übertragen, auch sollten in den Grafschaften neben den Frei¬
sassen die Erbpächter das Wahlrecht erhalten. Die schwache Seite dieses
Planes war, daß Pitt, um den Widerstand im Parlament zu überwinden,
sich dazu hatte verstehen müssen, für die Entziehungen des Wahlrechts eine
Entschädigung zu bieten, die er damit begründete, daß die Wahlberechtigung
den Flecken unbestreitbar einen höheren Werth gebe, er wollte auf diese
Weise allmählich auch Stimmen für die unvertretenen großen Städte ge¬
winnen. Es ließ sich hiegegen unzweifelhaft viel sagen; gleichwohl bleibt
es sehr zu bedauern, daß der Versuch, eine allmähliche Aenderung des Wahl¬
rechts zu erwirken, zu der Zeit mißlang, wo er schon geboten und doch noch
nicht ungestüm gefordert ward.
Die französische Revolution verdrängt bald alle Reformpläne; die An¬
träge von G. Erskine und Fox fanden so gut wie keine Unterstützung. Denn
die conservative Reaction, welche die Ausschreitungen der Revolution in Eng¬
land hervorrief/,steigerte sich, je länger der Kampf gegen Napoleon dauerte und
das schroffe Toryregiment, welches auf Pitt folgte, behauptete sich noch
lange nach dem Frieden gegen die allmählich erstarkende Bewegung für
eine gerechtere Vertretung der Bevölkerung. An die Spitze dieser Be¬
wegung traten die Whigs, ursprünglich ebenso starke Anhänger des alten
Systems wie die Tories, weil namentlich in den Grafschaften die Zusammen¬
setzung des Unterhauses ihren Häuptern, den sogenannten grva,t Revolution
tamilivL, die Staatsleitung gesichert hatte. Seitdem diese aber unter dem Druck
der auswärtigen Politik auf ihre Gegner übergegangen war, lag für sie die
einzige Chance, wieder zur Macht zu gelangen, in einer Reform des Hauses
der Gemeinen. Wären die Tories weise gewesen, so hätten sie sich der Noth¬
wendigkeit einer Reform, die schon vor 80 Jahren anerkannt war, nicht ver¬
schlossen; es war ein Widersinn, daß Städte wie Manchester, Leeds und
Birmingham, welche bereits das Wahlrecht vorübergehend besessen, als sie
vergleichsweise unbedeutend waren, jetzt wo sie zu blühenden Großstädten
herangewachsen, ohne Vertretung dastanden. Aber unter dem Einfluß des
Herzogs von Wellington blieb die regierende Partei blind in ihrem Kampfe
für das Bestehende und verweigerte jede, auch die bescheidenste Abschlags¬
zahlung. Als das Unterhaus auf den Antrag Lord John Russell's, der jetzt
seine Reformlaufbahn begann, dem Flecken Gremprund wegen unverbesser¬
licher Bestechlichkett das Wahlrecht entzog, weigerten sich die Lords, dasselbe
auf Birmingham zu übertragen; andere notorische Fälle der Corruption
wurden durch den Uebergang zur Tagesordnung todtgemacht und die ge¬
mäßigtsten Vorschläge einer allgemeineren Reform abgelehnt, welche noch da¬
mals der Bewegung die Spitze würde abgebrochen haben. Der eiserne Herzog
blieb unbeweglich, obwohl mit Huskisson, Palmerston, Lord Dudley und
anderen Ministern, die einer nach dem andern zurücktraten, sein Cabinet
der besten Kräfte beraubt ward. Wellington war aber mehr General und
Minister, als konstitutioneller Staatsmann, er fand, es lasse sich vortrefflich
mit dem gegenwärtigen Hause regieren, folglich sei ein Wechsel im System
unnöthig. Auch das Avertissement der Julirevolution, welche in England
einen starken Rückschlag zu Gunsten liberaler Grundsätze übte, ließ er unbe¬
achtet, ja als Lord Grey in der Adreßdebatte seine Hoffnung ausdrückte,
daß die Reformfrage nicht wie die Katholikenemancipation so lange hinaus¬
geschoben werden möge, bis die Regierung dem Druck der Umstände das
nachgeben müsse, was sie grundsätzlich verweigert, erklärte Wellington, das
Land besitze nach seiner Ansicht eine Verfassung, welche alle Zwecke einer
guten Gesetzgebung vollständig befriedige und das volle Vertrauen der Be¬
völkerung genieße; er werde nicht nur keine Reformmaßregel vorschlagen,
sondern sich jeder von Anderen vorgeschlagenen widersetzen. Diese unvor¬
sichtige Erklärung, welche der Reform alle Aussicht abschnitt, so lange die
Tones am Ruder blieben, wurde von seiner eigenen Partei als ein Fehler
empfunden; im Volke wirkte sie wie eine Herausforderung. Ein großer Sturm
brach jetzt los, überall gab es Aufstände, die feierliche Auffahrt des Königs
in der City mußte aufgegeben werden, weil man Beschimpfungen fürchtete,
die Neuwahlen, welche der Tod Georg's IV. herbeigeführt, hätten unter
dem Einfluß der Ereignisse in Paris und Brüssel stattgefunden, die Majo¬
rität im Unterhause war sehr verändert, das Cabinet hatte an SO Stimmen
verloren und trat auf Peel's Rath zurück,' als es in einer Abstimmung über
die Civilliste geschlagen ward, um nicht bei dem schon angekündigten Antrag
Brougham's auf Reform zu unterliegen. Earl Grey übernahm die Auf¬
gabe, das erste Whigministerium seit 60 Jahren zu bilden und that dies,
indem er sich vom Könige Vollmacht ausbedang, die Reform zum Gegen¬
stand einer eingreifenden Maßregel zu machen. Er war zur Vermittelung
der sich schroff entgegenstehenden Ansichten besonders geeignet. Von Jugend
auf ein eifriger Whig und Freund von Fox hatte er seine freisinnigen
Grundsätze an der Hand der Erfahrung gemäßigt, ohne sie aufzugeben; kein
Liberaler konnte füglich gegen diesen bewährten Kämpfer für Reform oppo-
niren, andererseits bot er dem wohlgesinnten aber etwas ängstlichen König
Garantien gegen zu weitgehende Schritte. Am 1. März 1831 brachte Lord
John Russell seine Bill ein. Bisher lag die Beschickung des Hauses in den
Händen
1) der Grafschaften, wo die Wähler Landedelleute und kleine von diesen
abhängige 40 Shilling.Freisassen waren,
2) der Burgflecken, welche unter dem unbedingten Einfluß der Aristo¬
kratie standen,
3) der Burgflecken, welche in der Hand der Regierung waren,
4) der größern Städte, in denen wesentlich die Municipalbehörden die
Wahl entschieden.
Jetzt sollten
1) alle Flecken unter 2000 Einwohner das Wahlrecht verlieren und alle
unter 4000 nur einen Vertreter behalten. Von den so verfügbar gewordenen
Sitzen sollten 8 London, 34 größeren Städten und 55 den Grafschaften
zufallen,
2) die bunten Abstufungen des Wahlrechtes in den Städten sollten ab¬
geschafft und dafür eine Qualifikation von 10 Pfd. Sterl. jährlichem Mieth¬
zins eingeführt werden.
Die Maßregel ging weiter als Freunde gehofft und Feinde gefürchtet
hatten; groß war der Beifall, den sie in der Masse der Bevölkerung fand, um
so lebhafter aber die Opposition nicht nur bei denen, die in ihrem bisherigen
Besitz bedroht waren (im Unterhaus allein 107 Mitglieder), sondern auch bei
vielen Gemäßigten, welche eine Untergrabung des Gleichgewichts der Ver¬
fassung von der Bill fürchteten. Guizot erzählt, daß ihm damals ein ein¬
sichtiger und hochgeachteter Whig geschrieben, die Strömung gehe seit langer
Zeit zur Demokratie, aber er sehe nicht ein, warum man diesen Wechsel noch
beschleunigen solle, statt ihn sich langsam vollziehen zu lassen. Eine weniger
einschneidende Maßregel würde den ganzen urtheilsfähigem Theil der Nation
befriedigt haben. Die Gegner der Maßregel führten im Wesentlichen Fol¬
gendes an.
1) Das bisherige System habe auf beiden Seiten jedem politischen Talent
einen Platz gesichert. Jeder aufstrebende Kopf, welcher der Regierung oder
der Opposition von Nutzen sein konnte, sei sicher gewesen einen Sitz zu finden;
fast alle Staatsmänner, welche sich einen Namen in der parlamentarischen
Geschichte erworben, seien zuerst für kleine Flecken eingetreten; die Regierung
habe auf diese Weise jede Stelle mit dem Bestgeeigneten besetzen können.
2) Das System habe auch eben durch die Zugänglichkett der kleinen
Flecken jedem großen Interesse der Nation eine Vertretung gesichert, während
bet offener und freier Wahl manche bedeutende Classen der Gesellschaft doch
nicht die Majorität in den einzelnen Wählerschaften erreichen würden.
3) Das System habe der jedesmaligen Regierung eine feste Majorität
gesichert und doch, wie die Geschichte zeige, keineswegs stationäre Zustände ge¬
schaffen. Wenn ein Ministerium durch Mißgriffe gefallen, so erhielten seine
Nachfolger, welche vielleicht mit wenigen Stimmen gesiegt, eine feste Majo¬
rität durch die Flecken, welche in den Händen, der Regierung als solcher
waren. Dadurch aber sei die verderblichste Eventualität des-parlamentari¬
schen Wesens beseitigt, nämlich die, daß das Cabinet nicht im Stande sei, eine
Maßregel durchzuführen und doch die Opposition nicht fähig war an seine
Stelle zu treten. >— Gewiß waren diese Einwürfe nicht ohne Gewicht,
wollte doch auch der eifrigste Reformer im Grey'schen Ministerium, Lord
Brougham, die Regierungswahlflecken (pocket borougliL) erhalten. Es wird auch
nicht geleugnet werden können, daß, ehe diese Bill eingebracht war, die offene-
liebe Meinung mit geringeren Zugeständnissen zu befriedigen gewesen wäre. Aus
solchen Gründen opponirte auch unzweifelhaft Sir Robert Peel der Bill, obwohl
er jene herausfordernde Erklärung des Herzogs von Wellington entschieden
getadelt und sich wohl gehütet hatte, jede Reform abzulehnen; er bekämpfte
die Maßregel, weil sie unter dem Einfluß des revolutionären Geistes stehe,
welcher aus Frankreich wehe; wenn das englische Volk von seiner augenblick¬
lichen Aufregung wieder zu sich komme, werde es den Ministern vorwerfen,
die Verfassung umgestürzt zu haben, unter der das Land groß geworden sei.
„Ich werde" sagte er, „diese Bill bekämpfen, weil ich sie verhängnißvoll für
unsere glückliche gemischte Regierungsform halte, verhängnißvoll für das Haus
der Lords, verhängnißvoll für jenen Geist der Mäßigung, welcher England
das Vertrauen der Welt erworben hat, verhängnißvoll für die Regierungs¬
weise, welche, indem sie Eigenthum und Freiheit der Individuen mit Nach¬
druck schirmt, doch der Staatsgewalt eine Kraft verliehen, welche jeder
andern Zeit und jedem andern Lande unbekannt geblieben ist."
Richtiges war in dieser Kritik; aber an den Tones rächte sich jetzt der Starr¬
sinn, der jede Reform abgewiesen hatte, als es noch Zeit war; auch jetzt
war ihre Taktik falsch, indem sie nicht einzelne zu weit gehende Clauseln be¬
kämpften, sondern mit Leidenschaft die Verwerfung der ganzen Bill ver¬
fochten. Peel selbst scheint die UnHaltbarkeit eines solchen Verfahrens ge¬
fühlt zu haben, denn als schließlich, nachdem Neuwahlen dem Ministerium
eine große Majorität gegeben, die Bill im Oberhause gefallen war und
Lord Grey seine Entlassung eingereicht, weigerte er sich, als Premier an die
Spitze eines Toryministeriums zu treten. Er sah ein, daß die Reform eine
Nothwendigkeit geworden war und daß er selbst eine ähnliche Maßregel vor¬
schlagen müßte, wie die, welche er im Princip bekämpft, und zog es daher
vor, seinen Gegnern die Durchführung zu überlassen. So übernahm Grey
wieder den Posten des Premiers, nachdem er die Ermächtigung vom König
erhalten, den Widerstand der Lords eventuell durch einen Pairsschub zu
brechen. Es ist bekannt, daß es dazu nicht kam, da sich auf den Wunsch des
Königs eine hinlängliche Anzahl von Lords der Abstimmung enthielt, und
so ward die Bill Gesetz. Das wesentlichste Verdienst um ihr Zustandekommen
hat Earl Grey; er allein war im Stande, den redlichen aber zögernden König
festzuhalten und den feindlichen Einflüssen des Hofes und der Tories die
Spitze zu bieten*); er theilte schwerlich die Ansichten der begeisterten Refor¬
mer wie Macaulay, er berief sich in der großen Rede, mit welcher er die
Maßregel im Oberhause einführte, einzig auf ihre Nothwendigkeit: die Lage
sei eben eine solche, daß ein großer und kühner Schritt zugleich der weiseste sei,
daß nur ein solcher den Frieden wieder herzustellen vermöge. Daß die Re-
formbill dies gethan, ist unzweifelhaft und ebenso, daß nachdem sie einmal
vorgeschlagen, sie durchgesetzt werden mußte. Es ist aber eine andere Frage, ob
sie auf die Dauer die Aufgabe gelöst hat, und dies kann schwerlich behaup¬
tet werden, sonst hätte nicht nach kaum einem Menschenalter das Bedürfniß
nach einer neuen Maßregel Raum gewinnen können.
Sehen wir die Bill selbst näher an, so läßt sich nicht leugnen, daß sie
den Charakter einer Parteimaßregel trägt und zwar nicht blos weil sie einige
whtgistische Wahlflecken sorgfältig erhalten hat. sondern namentlich weil sie
dem städtischen Element, das fortan durch 405 Abgeordnete vertreten war,
ein gewaltiges Uebergewicht über das ländliche gegeben, welches nur 253
Vertreter zählte, obwohl die Grafschaften den bei weitem größten Theil der
Bevölkerung umfaßten; überdies waren die Städte nicht scharf gegen das
Land abgegrenzt, sodaß sie durch ihre Vorstädte auch die Grafschafts¬
wahlen beeinflußten. Die Whigs hatten auf dem Lande sogar nur eine
Erweiterung des Wahlrechts an die Erbpächter und an Zeitpächter, die auf
21 Jahre oder mehr wenigstens 50 Pfd. Sterl. zahlten vorgeschlagen, und
gaben erst auf Andringen der Opposition die sogenannte Chandos-Clausel,
nach welcher alle Pächter von 50 Pfd. Sterl. Wähler wurden.
Was sodann die städtischen Wählerschaften betrifft, so begünstigte die Bill
ausschließlich die niedrigere Mittelklasse, in welcher die Dissenters beson¬
ders stark sind und die immer sehr whigistisch gewesen war. Eine Wahlquali-
fication nach dem Miethzins wird immer besonders günstig für die kleinen
Händler und Ladeninhaber sein, weil sie im Verhältniß zu ihrer gesellschaft¬
lichen Stellung, ihrem Vermögen und ihrer Einsicht eine höhere Miethe
zahlen als die andern Classen. Die 10 Pfd. Sterl. Qualifikation schloß
fast alle diese ein und schloß damals fast alle eigentlichen Arbeiter aus. Auch
läßt sich manches gegen jenen einförmigen Satz sagen, denn ein Miethzins
von 10 Pfd. Sterl. ist offenbar in London oder Manchester etwas ganz
Andres als in Ehester oder Salesbury, und in der Hauptstadt selbst je nach
den Stadttheilen durchaus verschieden. Auch läßt sich überhaupt sehr wohl
bezweifeln, ob die Miethe einen richtigen Gradmesser für die politische Stel¬
lung eines Mannes gibt. Jedenfalls unterliegt jener feste Satz allen Ein¬
würfen, die gegen einen in Zahlen ausgedrückten Census geltend gemacht
werden; die Agitation wird immer suchen, denselben herabzusetzen und es ist
kein fester Halt zu finden, bis man nicht bei dem allgemeinen Wahlrecht an¬
gekommen.
Ebensowenig läßt sich behaupten, daß durch die Reformbill die Bestech¬
lichkeit erheblich vermindert ward; sie blüht noch heute, wie die fortwährenden
Untersuchungen beweisen und im Wesentlichen wird der Unterschied nur der
sein, daß vor 1832 der Kandidat dem Besitzer des Wahlfleckens eine runde
Summe zahlte, während er jetzt den verschiedenen Personen, welche wahlbe¬
rechtigt sind, kleinere Summen oder auch nur frei Bier gibt.
Diese Mängel wurden gleich bei Erlaß der Neformacte hervorgehoben und
vorausgesagt, andere haben sich erst später mehr und mehr herausgestellt.
Es liegt einmal im System der parlamentarischen Regierung, wie sie sich
in England gebildet hat, daß nicht blos die Minister, sondern auch die
Unterstaalssecretäre, Kronanwälte u. s. w. Mitglieder eines der beiden
Häuser sein müssen; die Minister selbst sind allerdings meist bekannt genug,
um einer Wahl sicher zu sein, es macht aber nach Abschaffung der Regierungs¬
wahlflecken oft erhebliche Schwierigkeiten, um für jüngere Leute, welche vor¬
trefflich als Verwaltungsbeamte, aber politisch unbekannt sind, einen Sitz im
Unterhause zu finden. Die Minister müssen daher nehmen nicht wen sie für den
tauglichsten halten, sondern wen sie bekommen können. Auch kann nicht geleugnet
werden, daß mit der Reformbill eine Zersetzung der Parteien begonnen hat*),
welche oft das parlamentarische Regiment überhaupt in Frage zu stellen
drohte; wir haben es seitdem mehrmals erlebt, daß ein Ministerium nicht
leben und nicht sterben konnte; hat sich doch auch gegenwärtig das Disraeli-
sche Cabinet. obwohl in der Minorität, behauptet, weil die Opposition zu
uneinig war, um ein anderes aus ihrer Mitte zu bilden. Dies ist eine be¬
denkliche Erscheinung in einem Lande, wo keine unabhängige königliche Ge¬
walt neben, der Legislative steht und wo die Regierung nur dadurch stark
ist, daß die Minister im Parlament hinreichende Autorität haben, um den
Gang der Geschäfte zu leiten. Je schwächer ein Ministerium ist, desto weniger
wird es die Verantwortlichkeit großer Maßregeln auf sich nehmen wollen,
sondern geneigt sein, sie auf das Parlament abzuwälzen, wodurch die Verant¬
wortlichkeit illusorisch wird, weil eine große Versammlung, welche nicht ge¬
führt wird, unsicher in ihrem Verfahren und unstät in ihren Beschlüssen ist.
Und mit dieser Zerfahrenheit der Parteien hat die Tüchtigkeit ihrer Führer
abgenommen, die Zeit von 1832—60 hat wesentlich von den Staatsmännern
gelebt, welche schon vorher „auf die Bühne getreten waren, wie sehr aber
mangelt es an Nachwuchs! Die Mittelclassen haben wenig Männer von
Bedeutung und keinen einzigen Staatsmann in großem Stil hervorgebracht.
Wir sind weit entfernt, der Reformbill allein die Schuld dieser Uebel¬
stände zuzuschreiben und verkennen keineswegs, daß sie, wie einmal die sieu-
ation durch den Starrsinn der Tories geworden war, eine überwiegend wohl¬
thätige Maßregel war, weil ihr eine Reihe anderer, namentlich wirthschaftlicher
Reformen zu verdanken sind, welche ohne sie schwerlich durchzusetzen gewesen
wären Durch diese hat das Parlament das Vertrauen der Bevölkerung wieder¬
gewonnen, welches es vor 1832 sehr verloren hatte. Aber ebensowenig lassen
sich die genannten Uebelstände in Abrede stellen und am wenigsten hat sich
die Voraussage Lord John Russell's bewahrheitet, daß die Bill den Abschluß
der Frage bringen werde, daß sie eine emal meaLurs sein solle. Der
großen Aufregung des Kampfes folgte allerdings eine Periode der Ruhe,
in der sich die Parteien wieder zu organisiren suchten. Sodann nahmen die
wirthschaftlichen Fragen alles Interesse in Anspruch, und nur so lange die
Korngesetze dem Volke das Brod vertheuerten, fanden die Chartisten mit
ihren abstracten Programmen für allgemeines Stimmrecht, gleiche Wahlbe¬
zirke, geheimes Stimmrecht und jährliche Parlamente einen gewissen Anhang
unter den arbeitenden Classen. Aber schon 1852 taucht die Frage einer
neuen Parlamentsreform auf. Der Anstoß ging diesmal keineswegs aus
einer Bewegung im Volke hervor, sondern aus Parteimotiven und zwar war es
derselbe Lord John Russell, der die Bill von 1832 für endgiltig erklärt hatte,
welcher, um sein schwaches Ministerium durch eine populäre Maßregel zu
stärken, eine weitere Ausdehnung des Wahlrechts vorschlug. Danach sollte
in den Grafschaften die Qualification der Wähler von 50 auf 20 Pfd. Sterl.
herabgesetzt werden und der städtische Satz von 10 Pfd. Sterl. Miethe auf
5 Pfd. Sterl. Gemeindeschätzung*) (rating); außerdem sollten die kleinsten
Wahlkörper zu gemeinsamen Bezirken gruppirt werden. Der Vorschlag ward
gleichgiltig aufgenommen und der Fall des Ministeriums ließ es zu keiner
Entscheidung kommen. Als dann zwei Jahre darauf Lord John im „Mini¬
sterium aller Talente" von Aberdeen saß, glaubte er in Rücksicht auf
seine „vorgeschrittenen" Collegen Sir W. Molesworth und Milner Gibson
weiter gehen zu müssen. Nun sollten 13 kleinere Flecken das Wahlrecht
ganz, 33 theilweise verlieren, die Qualification der Pächter sollte von S0
auf 10 Psd. Sterl., der städtischen Wähler von 10 Pfd. Sterl. rentg-I auf
6 Pfd. Sterl. rating herabgesetzt werden, 46 de^ verfügbar werdenden Sitze
sollten den Grafschaften zufallen, 12 den Städten, daneben sollten die Rechts¬
schulen (Inns ot Lourt) und die londoner Universität vertreten werden.
Außerdem brachte die Bill von 1854 den Vorschlag der Vertretung der
Minoritäten. Eine solche war von Seiten politischer Schriftsteller warm
empfohlen als Gegengewicht gegen die ausschließliche Herrschaft der Majori¬
täten; Lord John schlug nun vor, den reicheren Classen, welche die Minder¬
zahl der Wählerschaft bildeten, ein Separatvotum zu geben. Endlich sollten,
um dem vielgerügten Mangel der Miethqualification abzuhelfen, welche den
sKoMsepors ein zu großes Gewicht gab, eine Reihe sogenannter kalte^ tra,n-
düsW eingeführt werden, um auch den Gebildeteren, welche nicht ein eigenes
Haus bewohnen, die Chance des Wahlrechts zu geben: danach wäre dasselbe ,
jedem geworden 1) der einen festen jährlichen Gehalt von wenigstens 100
Pfd. Sterl. bezog; 2) der 10 Pfd. Sterl. an festen Zinsen und öffentlichen
Fonds erhob; 3) der 2 Pfd. Sterl. jährliche Steuern zahlte; 4) der 50 Pfd.
Sterl. in der Sparcasse hatte.
Auch diese Bill ward sehr kühl aufgenommen und bald von ihrem Ur¬
heber wegen des Ausbruchs des orientalischen Krieges zurückgezogen.
Der nächste Schritt geschah 1869 unter dem Ministerium Lord Derby's,
welcher einst ein Hauptkämpfer für die Bill von 1832 gewesen war, sich aber
später zu den Tones gewandt hatte, weil die Whigs eine der Staatskirche
feindliche Tendenz verfolgten. Die Bill, welche Disraeli in seinem Namen
vorlegte, entzog keinem Flecken das Wahlrecht ganz, aber nahm 15 unter 6000
Einwohnern ein Mitglied, wovon 8 den Grafschaften und 7 neuen Städten
zufallen sollten. Die städtische Qualification von 10 Pfd. Sterl. Miethe
ward festgehalten, aber auf die Grafschaften ausgedehnt, außerdem eine Reihe
ähnlicher er-modisch vorgeschlagen wie 1854 von Russell. Aber sowohl die
liberale wie die alteonservative Partei opponirte jener Gleichstellung von Land
und Stadt und Disraeli ward geschlagen. 1860 brachte Russell noch einmal
eine Bill ein, welche ebensowenig Erfolg hatte und von da an ruhte die
Reform, weil Lord Palmerston ihr feindlich war. Er war an die Spitze der
Geschäfte gerufen, weil Niemand so wie er die nothwendigen Eigenschaften
für die oberste Leitung vereinigte, aber seine Majorität bestand aus hete¬
rogenen Elementen; ein bedeutender Theil derselben war durchaus conser-
vativ, die Radikalen dagegen vertagten mürrisch die Verwirklichung ihrer
Wünsche, weil Palmerston's Sturz die Tories ans Ruder gebracht hätte.
Nach seinem Tode (1865) mußte eine Scheidung der Parteien eintre-
ten; die beiden bedeutendsten gemäßigten Liberalen, welche Anspruch auf
die Nachfolge gehabt hätten, Lord Herbert und Sir Cornwall Lewis,
waren im besten Mannesalter gestorben, Lord Grey, der Sohn, hatte sich
theils aus Kränklichkeit, theils aus Abneigung von den Whigs zurückge¬
zogen. Es blieb daher nur übrig, den nomineller Vorsitz dem greisen Lord
Russell, die eigentliche Führung aber Gladstone zu geben. Derselbe hatte
sich schon unter Palmerston, dessen Dictatur seinem Ehrgeiz lästig gewesen war,
den Radicalen genähert, wahrscheinlich auch denselben bereits weitgehende
Versprechungen gemacht, welche nun eingelöst werden mußten. Alle Aus¬
sichten schienen dem Ministerium günstig, denn es gebot über eine Majo¬
rität von 65 Stimmen; auch schien Gladstone ganz der rechte Mann für
eine Reform, denn während seiner langsamen Umbildung vom Hochtory zum
Liberalen hatte er sich weder für noch gegen dieselbe gebunden. Hätte er sich nun
im Anfang der Session einfach verpflichtet, eine ernsthafte aber gemäßigte Ma߬
regel vorzulegen, sich dann die Zeit genommen, sie sorgfältig auszuarbeiten
und zu Ende der Session zur ersten Lesung einzubringen, so hätte sich wäh¬
rend der Ferien das Urtheil des Publicums darüber gebildet, das Ministe¬
rium hätte gesehen, was es etwa zu ändern gehabt und hätte wahrscheinlich
im Laufe 1867 sein Werk sicher durchgeführt. Aber Gladstone verdarb alles
durch seine falsche Taktik. Zunächst hüllte er sich in Schweigen, dann ließ er
sich nicht die Zeit, ein vollständiges Project auszuarbeiten, sondern brachte
dasselbe stückweise vor. Dies gab den offenen und geheimen Gegnern der Reform
einen günstigen Angriffspunkt, da sie mit Recht sagen durften, daß eine der¬
artige Maßregel nur als ein Ganzes durchgeführt werden könne, weil ein
Theil derselben den anderen bedinge. Als daher der Schatzkanzler eine Bill
einbrachte, welche die gesammte Wählerschaft um etwa eine halbe Million
erweiterte, aber die 49 Sitze, welche durch Aufhebung des Wahlrechts von
kleinen Flecken verfügbar wurden, nicht vertheilte, war die Unzufriedenheit so
allgemein, daß sie nur durch das Versprechen der Regierung, alsbald auch
eine Bill für die Vertheilung der Sitze vorzulegen, einigermaßen beschwich¬
tigt werden konnte. Nichtsdestoweniger ward bei zweiter Lesung nur eine
Majorität von L Stimmen erzielt, während das Ministerium bei anderen Ma߬
regeln 70 gehabt hatte. Abgesehen von jener falschen Taktik war dies den
schon bei dieser ersten Hälfte hervortretenden Spaltungen der Liberalen zuzu¬
schreiben. Es war klar geworden, daß Gladstone in der Reformfrage
wesentlich unter dem Einfluß Bright's stand, dessen Ansichten der großen
Mehrheit des Hauses zuwider waren; seine Vorschläge hätten in den Städten
den arbeitenden Classen einen überwiegenden Einfluß gegeben. So schied sich
die aristokratische Fraction der Liberalen, die der vielverspotteten Adullemiten,
von ihrem Führer und stimmte mit den Tories; Gladstone aber, höchst er¬
bittert über diesen Abfall, ließ sich zu heftigen Aeußerungen hinreißen und
machte die Sache noch schlimmer. Die Bill über die Vertretung der Sitze,
die er in Hast einbringen mußte, war nicht glücklicher, indem sie eine wenig
gerechte und praktische Gruppirung kleinerer Flecken vorschlug, welche
Disraelt und Lord Stanley mit Recht angreifen konnten, und schließlich
blieb die Regierung in der Minorität. Lord Derby ward Premier und
unter ihm trat jetzt Disraeli als Führer hervor.
Die spanische Revolution hat rascher gesiegt, als man nach früheren
Vorgängen für wahrscheinlich hielt und ihr negatives Resultat, die Entthro¬
nung der Königin, steht bereits fest. Daß es dazu früher oder später
kommen müsse, war Einsichtigen längst klar; die Regierung Jsabella's war
für Spanien das geworden, was die Karl's X. in Frankreich war. Die all¬
gemeine Unzufriedenheit ging nicht gegen diese oder jene Maßregel, sondern
gegen den ganzen Charakter der Regierung, welche sich mit den schlech¬
testen Traditionen der Bourbons, jenes Geschlechts, das so unverbesserlich
scheint wie das der Stuart, identificirte. Die Spanier sind ein durch und
durch katholisches Volk, aber die Bigotterie der Königin, welche das Geld
des verarmten Landes mit vollen Händen für kirchliches Schaugepränge,
Wiederherstellung geistlicher Orden und Unterstützung des Pabstes wegwarf
und die Politik von den Einflüsterungen einer fanatischen Nonne abhängig
machte, war ihnen um so widerwärtiger, als die Kehrseite im Privatleben
von einer Unsittlichkeit war, welche nicht einmal den äußeren Schein zu
wahren wußte. Der Spanier ist kein Rigorist, aber er hält darauf, daß die
Formen des Anstands beobachtet werden. Man darf vielleicht Jsabella nicht
zu scharf beurtheilen, wenn man erwägt, in welchen Umgebungen sie groß
geworden und wie, ehe sie noch einen Willen hatte, die Politik mit ihr ge-
spielt. Die schwerste Schuld hierbei trifft unstreitig Guizot, dessen Intri¬
guen 1846 die sechzehnjährige Infantin an den traurigen Franz von Assise
verheirathete, der nie einen Versuch gemacht, seine Ehre zu wahren und von
dem jetzt bei der Entthronung seiner Gemahlin Niemand spricht. Aber auch
Palmerston's Politik, welche gegen die Heirath mit einem Sohne Louis
Philipp's protestirte, hat sich nicht bewährt. Wäre der Herzog von Aumale
Jsabella's Gemahl geworden, so hätte sie sich wohl sehr anders entwickelt
und diese Heirath, weit entfernt Frankreichs Uebergewicht herbeizuführen,
hätte ein werthvolles Gegengewicht gegen den Imperialismus gebildet. Wie
sich die Dinge nun einmal gestaltet haben und nachdem mit der Verbannung
Montpensier's und der Generäle der Despotismus in seiner nacktesten Gestalt
hervorgetreten, mußte es früher oder später zum Bruche kommen. — Es war
von vorn herein sehr charakteristisch, daß der Aufstand in der Marine begann,
welche bisher einen durchaus konservativen und monarchischen Charakter be¬
wahrt und sich nie an den Aufständen betheiligt hatte. Gonzales Bravo aber
hatte die Flotte verletzt, indem er ihr Budget stark beschnitt, die Armee war
gegen ihn erbittert, weil sie keinen Civilisten an der Spitze der Geschäfte
leiden kann: so fehlten eigentlich alle Kräfte zum Widerstand und die Revo¬
lution siegte fast ohne Blutvergießen.
Aber wenn Jsabella keine Sympathie verdient, so wird man auch zu denen,
welche sie vertrieben, wenig Zutrauen haben können. Unter diesen Generälen,
von denen so manche ohne irgendwelche militärische Verdienste Marschälle
wurden, ist kein einziger, der das Vertrauen des Landes hat, sie haben sich
unter einander bekämpft, verfolgt, verbannt, je nach den Conjuncturen des
Augenblickes, sie haben für einen Augenblick gemeinsame Sache gemacht, aber
sie werden der Welt nicht lange Zeit das Schauspiel der Einigkeit bieten.
Die Bevölkerung ist deshalb auch im Ganzen passiv, alle Welt hielt die
Dynastie für unverbesserlich und ihren Sturz für nothwendig, aber Niemand
sieht jetzt ab, woher eine bessere Negierung kommen soll. Wäre ein Prätendent
an die Spitze des Aufstandes getreten und die Nation wäre ihm gefolgt,
so hätte man ein Haupt, nun aber ist eine absolute Leere, Alles ist mög¬
lich und darin liegt die ungeheure Gefahr für das Land. Die Proclamation
der provisorischen Regierung läßt außerdem befürchten, daß keine der Thor¬
heiten, zu denen der Jubel über den Fall eines verhaßten Regiments ein
politisch nicht vollständig reifes Volk verleitet, unterlassen werden wird und die
Nation dürfte noch zu ihrem Schaden lernen, daß es weit leichter ist, eine
schlechte Regierung zu stürzen, als eine bessere zu gründen. Wie es heißt, soll
das Volk über seine Zukunft durch das nicht mehr ungewöhnliche Mittel
einer allgemeinen Abstimmung entscheiden. Es liegt indessen auf der Hand,
daß dies wenig mehr als eine Form sein wird und alles darauf ankommt,
was von Denen, die an der Spitze der provisorischen Negierung und der
Armee stehen, zur Abstimmung gestellt wird. Die vorliegenden Möglichkeiten
sind 1) die Berufung des Herzogs von Montpensier; 2) die Erwählung des
Königs von Portugal; 3) die irgend eines anderen Fürsten; 4) die Republik.
Für Montpensier spricht die ehrenwerthe Haltung, welche er der Wirth¬
schaft Jsabella's gegenüber bewahrt, aber gegen ihn der Entschluß, der fast
allgemein zu sein scheint: „fort mit den Bourbonen". Man hat eben zu schlechte
Erfahrungen mit ihnen gemacht; außerdem dürften die Führer wohl Anstand
nehmen, den einzigen Candidaten vorzuschieben, welcher bei Napoleon persona.
ingratissima sein würde. Für den König von Portugal spricht die Idee der
iberischen Union, gegen ihn, daß es den spanischen Stolz verletzen würde, von
einem Portugiesen beherrscht zu werden; auch ist es fraglich, ob Portugal einer
solchen Vereinigung beider Kronen, wenn sie auch bloße Personalunion wie
die schwedisch-norwegische bliebe, günstig wäre. Irgend ein anderer Prinz,
wie der Herzog von Aosta, ließe sich wohl finden, aber freilich haben Neapel,
Griechenland und die Donaufürstenthümer hinlänglich gezeigt, wozu diese im-
portirten Fürsten, die im Lande keine Wurzel haben, führen. Es bliebe end-
lich noch die Republik, und obwohl diese das Thörichtste wäre, was man
wählen könnte, so ist es doch sehr möglich, daß man dazu kommt. Einmal
weil die Nation so überaus schlechte Erfahrungen mit ihren absoluten wie
konstitutionellen Monarchen gemacht hat, sodann weil jeder der Revolutions¬
generale hoffen könnte, in dieser Staatsform die erste Rolle zu spielen. Kommt
es zur Republik, so kann man sich mit Sicherheit auf den gewöhnlichen Kreis¬
lauf von einer unpraktischen Verfassung zur Anarchie und schließlich zur Dik¬
tatur gefaßt machen. Aber auch wenn ein König gewählt wird, so wird er
schwerlich nach seiner Tüchtigkeit erkoren, sondern je nachdem die Generale
hoffen können, ihn zu beherrschen. Dazu kommt die traurige finanzielle Lage;
der Schatz ist leer, die vorige Ernte ist ungenügend, die diesmalige so schlecht,
daß große Kornzufuhr von außen nöthig sein wird. Alles genommen wird
man gut thun, kein schnelles Definitionen von der Revolution zu hoffen und
zunächst abzuwarten, ob die Nation zeigt, daß sie etwas durch ihre Vergan¬
genheit gelernt hat und daß die Eisenbahnen auch moderne Ideen ins Land
gebracht haben.
Eine andere Seite der Bewegung ist die, welchen Einfluß sie auf die
europäische Politik haben wird; wir glauben, daß man denselben überschätzt.
Daß die Revolution augenblicklich dem Kaiser Napoleon sehr ungelegen kam und
als ein Ableiter wirkt, ist nicht zu leugnen, aber wir halten es für fraglich,
ob diese Einwirkung lange dauern wird. Frankreich seinerseits wird sich passiv
verhalten. Niemand denkt an eine Intervention, die Wahl des einzigen Can-
didaten, welche eine offensive Seite für die napoleonische Dynastie hätte, des
Herzogs von Montpensier. ist zur Zeit noch wenig wahrscheinlich; Spanien
seinerseits wird zu viel mit sich selbst zu thun haben, um Zeit und Geld für
europäische Politik übrig zu behalten, und weder ein neuer König noch eine
Republik wird daran denken können, Napoleon durch actives Eingreifen
Schwierigkeiten zu bereiten. Für diesen würde sich also der ganze Ausfall dar-
auf beschränken, daß er die projectirte Ersetzung der französischen Garnison
Roms durch eine spanische aus seinen Plänen zu streichen hat und dieser Ausfall
ist nicht groß, zumal zweifelhaft erscheint, ob ein solcher Wechsel der Garnison
nicht für den Kaiser zu unangenehmen Weiterungen mit Italien geführt hätte,
das keinen Septembervertrag mit Spanien abgeschlossen hat. Ebenso wenig
können wir viel auf das Argument geben, daß die Revolution einen großen
Rückschlag auf die innern Zustände Frankreichs üben werde. Das würde
richtig sein, wenn der Aufbau eines festen, wirklich freiheitlichen Staatswesens
in Aussicht stände. Sind aber erst die schönen Zeiten der Programme und
des Füllhorns ihrer Versprechungen vorüber, so dürfte der innere Zustand
Spaniens wenig beneidenswerth werden und auch die pariser Opposition das
Beispiel schwerlich zur Nachahmung empfehlen können. Wir werden also gut
thun, die Schwierigkeiten, welche die Revolution Frankreich bereitet, nicht zu
hoch anzuschlagen und uns nicht im Vertrauen darauf falscher Sicherheit zu
überlassen. Wir wünschen Spanien das Beste, dürfen aber nicht dauerhafte
Mäßigung von einem Lande hoffen, das durch jahrhundertlange Mißregie¬
rung heruntergebracht ist. Nur ein Resultat ist vorläufig sicher und dies kann
uns allerdings willkommen sein: die spanische Revolution ist eine neue gründ¬
liche Niederlage des schlimmen Feindes deutscher Einheit, des Ultramontants-
mus. Die Welt hat aufs neue Gelegenheit zu sehen, wohin das Pfaffenregiment
führen muß, die Königin Jsabella wird Muße haben, über den Werth der
Rathschläge des Paters Claret und der Schwester Patrocinio nachzudenken, die
Spanier aber haben jetzt Gelegenheit zu zeigen, ob sie sich von dem Gängel¬
bande ihrer Priester frei zu machen verstehen.
Wir fügen der vorstehenden Mittheilung eines verehrten vieljährigen
Correspondenten den Abdruck eines zweiten uns bezüglich der spanischen Re¬
volution zugegangenen Schreibens hinzu. Obgleich dasselbe eine theilweise ab¬
weichende Anschauung vertritt, wird es den Lesern als Mittel zur Orientirung
willkommen sein.
„Mit dem Sturze der spanischen Bourbonen, des letzten Dynastenzweiges
jenes Geschlechtes, das nichts gelernt und nichts vergessen, ist die spanische
Thronfolge eine offene Frage geworden. Die Bourbons haben ähnlich den
Stuarts mit unvergleichlicher Frivolität die leicht zu erwerbende Volks¬
gunst verscherzt. Trotz der härtesten Bedrückungen, in denen die spanischen
Monarchen seit Jahrhunderten unter einander wetteiferten, trotz des un¬
seligsten Denk- und Glaubenszwanges, der engherzigsten Beschränkung poli¬
tischer und persönlicher Freiheit hat sich das spanische Volk stets einen un¬
verwüstlichen Kern von Loyalität und Ergebenheit gegen seine Monarchen
bewahrt bis auf das Frauenregiment Maria Christina's und ihrer Tochter.
Seit der Aufhebung des salischen Gesetzes für die spanische Thronfolge ist
die schöne Halbinsel mehr als vierzig Mal von aufständischen Bewegungen
erschüttert worden. Das Glück und die unglaublichste Verblendung der
Monarchie haben dieses Mal die Jnsurrection siegen lassen. Ruhig vollzieht
sich die neben der Thronentsetzung Ottos von Griechenland unblutigste aller
Revolutionen unseres Zeitalters. Jene furchtbare Verschwörung, die, wie
der pariser „Monde" verkündet, von Mazzini und Nattazzi, Prim und —
dem Grafen Bismarck angezettelt, durch preußisches Geld unterstützt wird und
nach dem clericalenBlatte die spanische Revolution gemacht hat, ist durchgedrun¬
gen. Und der „Monde" hat nicht Unrecht. Es besteht eine europäische Ver¬
schwörung, die auch an der spanischen Revolution Schuld ist. Die besten
Geister der Zeit, die Männer, welche den Geist ihrer Zeit begriffen, stehen,
gleichviel welcher Parteischattirung angehörig, im Bunde gegen die Bornirtheit
und die Bedrückung im Denken und Handeln. Wie sie jetzt auf der iberischen
Halbinsel gesiegt haben, so werden sie auch über kurz oder lang eine andere
Prophezeihung des „Monde" erfüllen. „Wenn der spanischen Revolution"
klagt der entsetzte Monde, „ihre Sache glückt, so wird demnächst Rom in
die Hände des revolutionären Italiens fallen, während man Frankreich im
Namen der Freiheit in Aufregung stürzen wird."
Die Nächstliegende Frage ist die nach der Thronfolge in Spanien.
Wird die Abstimmung des spanischen Volkes, oder das dictatorische Votum
der Junta darüber entscheiden? Und wer wird von der Volksstimme oder
von der der Delegirten zum Throncandidaten auserlesen werden? Die erste
Zeitung, die authentische und detailirte Nachrichten über den spanischen
Aufstand brachte, war die „Times". Mit kluger Vorsicht äußern sich ihre
spanischen Korrespondenten, aufmerksamstes Ohr leihen sie der Stimmung
des Volkes, über dessen Schicksal sie referiren. „Spanien — meint ein Korre¬
spondent vom 26, September — wird sich für eine Republik nicht eignen.
Zwar gibt es eine republikanische Partei, gerade wie es Parteien für die
Erhebung eines italienischen oder englischen Prinzen auf den spanischen Thron
gibt, Parteien für eine Vereinigung mit Portugal unter dem Hause Bra-
ganza-Coburg, für Montpensier, den Prinzen von Asturien. Aber jede dieser
Parteien betrachtet die andere als wahnwitzig." Als ein paar Namen von
Mitgliedern der madrider Junta bekannt wurden, mußte es dem Einsichtigen
klar werden, daß sich bei der Verschiedenheit der Parteien, die jene Namen
vertreten, schwer eine baldige Einigung für eine Regierungsform und deren
Spitzen finden würde. Unionisten, wie Cantero, Progressisten, wie Olozaga
und Figuerola, Radikale wie Rivero finden sich in jeder Provincialjunta
gewiß ebenso zahlreich wie in Madrid. Was nun die madrider Junta be¬
trifft, so wird sie nicht ohne großen Einfluß auf die constituirenden Cortes,
die über die neue Regierungsform entscheiden sollen, bleiben. Die Freunde
der Republik haben nicht viel Chancen für sich. Die englische Presse, die sich
in langer Schulung politischen Lebens einen freien Blick für politische Zustände
fremder Völker erworben hat. spricht sich in ihrer Majorität gegen die Re¬
publik aus. Nur Daily Telegraph und das Wochenblatt spectator sind der re¬
publikanischen Form günstig gesinnt. Die Bestätigung der Abfassung eines
republikanischen Programms, das eine Föderativrepublik verlangen soll, ist
noch abzuwarten. Von den Führern des Aufstandes scheint General Pierrad
der einzige Republikaner zu sein, der nach einer ebenso unverbürgten Nachricht
seinen Soldaten sogar den Eid auf die Republik abgenommen haben
soll.*) Die übrigen londoner Organe glauben dagegen nicht an die Constituirung
eines spanischen Freistaates. „Star" und „Daily News" bezweifeln die Qua-
lification der Spanier zu Republikanern. „Post" und „Globe", „Herald"
und „Standard" wollen noch weniger etwas von der Republik wissen. Die
„Saturday Review" glaubt, ehe das geschähe, würde die Königin wieder¬
eingesetzt werden.
Als ganz grundlos müssen die Gerüchte bezeichnet werden, die einen bour-
bonischen Prinzen zum spanischen König machen. Ein Regent aus dem¬
selben Stamm, über dessen jüngsten Negentensproß die empörte Nation zur
Tagesordnung der Freiheit übergegangen ist, dürfte in einem Lande, das
unter den Bourbonen noch mehr als unter den Habsburgischen Regenten
gelitten, unmöglich sein. Damitfällt die Candidatur Alfons' XII. (des Prin¬
zen von Asturten) unter der Vormundschaft des Grafen von Girgenti, ebenso
zu Boden wie die Karl's VII., des Grafen Montemolin (Don Carlos' Enkel).
Die Candidatur Anton's I., des Herzogs von Montpensier (Louis Philipp's
Sohn), immerhin eines Bourbon, wenn auch von der orleans'schen Linie, ist viel¬
leicht populärer, allein die Realisirung dieses Planes würde, wie die officiöse
„Patrie" andeutet, in den Tuilerien nimmermehr geduldet werden. Alle
Combinationen über die etwaigen bourbonischen Thronfolger, alle Hoff¬
nungen der Prätendenten selbst sind jedoch durch den Erlaß der Junta von
Madrid vom 30. September vernichtet, der in dürren Worten „die Un¬
fähigkeit aller Bourbonen, den Thron zu besteigen" erklärt.
Die Romanen haben in unserem Zeitalter kein Glück bei der Besetzung
europäischer Throne, der Zug der Zeit ist für die Germanen. Die deutsche
Fürstenfamilie der Coburger, die schon vier Throne inne hat, hat jetzt Aus¬
sicht den fünften zu besetzen. Der Könige von Portugal und Algarbien gibt
es jetzt zwei: den Titularkönig Ferdinand und dessen Sohn Ludwig, den
jetzt regierenden König, beide aus dem Hause Coburg-Kohary. Es ist nicht
unwahrscheinlich, daß die spanische Krone Ferdinand VIII. oder Ludwig I.
zu Theil wird. Ludwig I. würde dann der Schöpfer einer iberischen Perso¬
nalunion werden: Portugal und Spanien erhielten in ihm einen gemein¬
samen Monarchen, ein Ereigniß von großer politischer und wirthschaftlicher
Tragweite. Mit England, ja mit Preußen und durch die Gemahlin Lud¬
wig's mit Italien verschwägert, würde in den vereinigten iberischen König¬
reichen eine westeuropäische Macht geschaffen, die etwaigen französischen Ueber¬
griffen ein Achtung gebietendes Gegengewicht halten würde. Dazu sind die
transpyrenäischen Nachbarn den Spaniern lange verhaßt gewesen, während
England von den napoleonischen Kriegen her in gutem Andenken steht.
Französische Einflüsse im madrider Cabinet sind stets dem Lande verderblich,
englische Rathschläge oft nützlich gewesen. Schon aus der Parteinahme beider
Großstaaten gegenüber der spanischen Bewegung ergibt sich die Natur
ihres Einflusses. Frankreich begünstigte die Moderados, England die Pro-
gressisten. Während die französischen Einflüsterungen den Grund zu den
Unruhen unter Maria Christina legten, war in Espartero's Maßnahmen ein
Anlehnen an die wirthschaftlichen Grundsätze der englischen Politik nicht zu
verkennen. Jetzt, da Espartero von der Volkesstimme wieder als Präsident
der provisorischen Regierung bezeichnet wird, dürfte seine Vorliebe für Eng¬
land, die ihm seiner Zeit einen darauf bezüglichen Spitznamen eintrug, schwer
in die Wagschale fallen. Von englischer Seite nun — in der Presse vertritt
der „Specrator" hauptsächlich diese Ansicht — wird eine Einigung mit Por¬
tugal für das Wünschenswerteste gehalten. Auch französische und deutsche
Organe sprechen sich, anfangs schüchtern, jetzt mehr und mehr bestimmt, in
diesem Sinne aus. In Spanien selbst hat die Verschwörung Alernany's vom
10. Juni 1865 gezeigt, daß man in gewissen Kreisen nach Abschüttelung des
bourbonischen Joches Spanien mit Portugal vereinigt wissen wolle. Wenn man
dagegen fürchtet, Portugal werde von dem viermal größeren und volkreiche¬
ren Spanien erdrückt werden, so kann die Geschichte diese Furcht entkräften.
Sechzig Jahre lang (1S80- 1640) war Portugal eine Provinz der dama¬
ligen Großmacht Spanien: dennoch hat es, durch den Druck der spanischen
Habsburger empört, kräftige Mittel gefunden, sich selbständig zu machen und
bis heute zu behaupten. Das zähe und hartnäckige Portugiesenvolk ist nicht
geeignet in die spanische Nationalität aufzugehen; auch wäre bei einer Per¬
sonalunion jeder nationalen Individualität — wir sehen es an Schweden
und Norwegen — ihr eigenthümliches Recht in ausgedehntem Maße ge¬
wahrt. Selbst das Votum der portugiesischen Kammer, die sich bei Ge¬
legenheit des Prim'schen Aufstandes einstimmig gegen die Einheit Iberiens
aussprach, scheint uns für den Ausgang der Sache noch nicht entschei¬
dend. Die lockende Aussicht ein weites bisher ungenügend exploitirtes
Wirthschaftsgebiet wie Spanien durch das dem portugiesischen Volk eigen¬
thümliche handelsmännische Genie auszunutzen, wie die Aussicht, der iberischen
Halbinsel einen Portugiesischen König zu geben, werden auf die Portugiesen un¬
streitig einen gewissen Einfluß üben, sobald die Thronfolgefrage näher an
sie herantritt. Auch die Könige, Vater und Sohn, verhalten sich abwartend
und deshalb für jetzt ablehnend; es ist der alte Kunstgriff, der bald als
solcher erkannt werden wird.
Sollte das portugiesische Project keinen Erfolg haben, so weist doch die
Meinung der bestunterrichteten Preßorgane auf Throncandidaten germanischen
Stammes. In einem etwas dunkel gehaltenen Artikel der „Times" äußert
das einflußreiche Blatt: „es gäbe noch eine Reihe anderer Prinzen außer den
bourbonischen, denen sich die Augen des spanischen Volkes billigerweise zu¬
wenden und deren Verdienste in Bälde wahrscheinlich lebhaft erörtert werden
dürften." Es ist bei dieser Andeutung der Times wohl in erster Reihe an
den Prinzen Alfred, den Herzog von Edinburgh zu denken. Desgleichen schlägt
die „Liberte" — allerdings in der uneigennützigen Weise, die Herrn von Girar-
din sogleich erkennen läßt — die Candidatur des Königs der Belgier vor, „wenn
dafür — das ist des Pudels Kern — Belgien an Frankreich fiele". In
pariser Kreisen wird jedoch noch allgemeiner der Herzog von Aosta (Victor
Emanuel's zweiter Sohn) als zukünftiger spanischer König genannt; auch hier
vermuthet man preußischen Einfluß und wird Graf Bismarck als energischer
Freund dieser Candidatur bezeichnet. Wir glauben nicht recht an die Realisirung
dieses Planes; ebenso wenig an die Thronfolge des Königs der Belgier. Letzterer
aber wie Prinz Alfred und Ludwig von Portugal sind alle drei Sprößlinge
desselben Hauses, des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha; die Thronfolge eines
dieser drei Kandidaten würde demnach einem sächsischen Ernestiner die Krone
von Spanien bringen, immerhin ein Gewinn sür Deutschland und seine na¬
tionale Politik."
Die große Mehrzahl unserer Leser wird schon die Ueberschrift der Auf¬
zeichnungen, welche wir nachstehend der Oeffentlichkeit übergeben, fremd an-
muthen. Es handelt sich um die Erlebnisse eines der wenigen überlebenden
Theilnehmer des Petersburger Aufstandes vom December 1825, die in Ru߬
land technisch „Dekabristen" d. h. Decembermänner genannt werden (der Mo¬
nat December heißt russisch Dekalier). Den Verfasser, der die Theilnahme an
jener Verschwörung mit vieljähriger harter Verbannung in Sibirien und dem
Kaukasus büßte, hat es gedrängt am Abend seines Lebens ein einfaches,
wahrheitsgetreues Bild seiner Erlebnisse zu entwerfen, und dadurch einen Bei¬
trag zur Charakteristik der Menschen und Verhältnisse zu liefern, welche an
jenem merkwürdigen Ereigniß betheiligt waren. Es kann sich selbstverständlich
nicht um eine Apologie des unseligen Unternehmens vom 14. December 1825
handeln, über welches die Geschichte längst zur Tagesordnung übergegangen ist,
sondern blos um die objective Zusammenstellung interessanter Thatsachen, wie
sie im Gedächtniß eines Greises haftend geblieben waren, der an den An¬
schauungen, Irrthümern und Ueberzeugungen seiner Zeit und Umgebung red-
lich Antheil nahm, ohne auch nur nachträglich den Anspruch auf eine große
Rolle im Kreise der jugendlichen Verschwörer von 1825 zu erheben. Der
selbständigen Veröffentlichung des gesammten Memoirenwerks soll die Mit¬
theilung einiger der interessantesten Episoden desselben vorhergehen, um das
deutsche Publicum mit dem Schauplatz der Handlung und den mitwirkenden
Personen vorläufig bekannt zu machen.
Der erste Abschnitt des für die grünen Blätter bestimmten Theils dieser
Publicationen fällt sogleich meäias in res; zunächst ohne auf die geheime
Gesellschaft und sein Verhältniß zu derselben einzugehen. erzählt der Ver¬
fasser, wie er als junger Premierlieutenant des finnländischen Leibgarde-Re¬
giments bewogen worden, an der Schilderhebung vom 14. December 1825
Theil zu nehmen, und welche Rolle ihm an dem Tage zugetheilt gewesen, der
zugleich der erste Tag der Regierung des Kaisers Nikolaus war. Die spä¬
teren Abschnitte erzählen von der Untersuchung des Komplotts, der Ge¬
fangenschaft und der Verurteilung der Theilnehmer. Sodann wird zu
einem umständlichen Bericht über die Reise nach Sibirien und das Loos
übergegangen, welches die Verurtheilten hier erwartete.
Als bekannt darf vorausgesetzt werden, daß die von den Obristen Pestel
Murawjew-Apostol, dem Dichter Rylijew, Bestushew-Rzumie und Kachowski
geleitete Verschwörung zum Umsturz der bestehenden Regierung und zur Be¬
gründung einer republikanischen Staatsform gleichzeitig an zwei Punkten
in Se, Petersburg und in Südrußland losbrach und daß beide Erhebungs¬
versuche vollständig mißglückter. Ueber die Einzelheiten des Aufstandes und
den Vorwand, welcher zu demselben genommen wurde, lassen wir den Ver¬
fasser selbst reden. Die einfache, schmucklose Art seiner Darstellung trägt das
Gepräge so strenger Wahrheitsliebe, daß die Einzelheiten derselben jeder Be¬
rufung auf die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit anderen
Berichten über die geschilderten Vorgänge füglich entbehren können.
Am 27. November früh Morgens trat ich in den Salon meiner Wohnung
ein. in welchem ich Geräusch gehört hatte; es arbeitete dort ein im Hofe be¬
schäftigter Tischler, den ich gemiethet hatte das Parquet in Ordnung zu hal¬
ten. Mit geheimnißvoller Miene fragte er mich: „Haben Sie von dem großen
Unglück gehört? Der Kaiser ist in Taganrog gestorben!" — Die Personen,
die ich den Tag über sprach, bestätigten mir die Richtigkeit dieser Mitthei¬
lung. Ich schweige von der Bestürzung, die sie allenthalben erregte. — Ge-
gen Abend versammelte sich unser Regiment aus der Straße, unserm Hospital
gegenüber. Der Regimentscommandeur General C. I. Bistram verkündete
mit bebender Stimme den Tod des Kaisers Alexander, beglückwünschte uns zu
dem neuen Kaiser Constantin, schwenkte den Hut und rief Hurrah! Thränen
flössen über seine und vieler Soldaten Wangen, besonders derjenigen, welche
mit Alexander in den französisch-deutschen Feldzügen gekämpft hatten und die
er darum immer nur seine lieben Dienstkameraden genannt. Auf Befehl er¬
schallte das Hurrah des Regiments und wir gingen friedlich, aber betrübt in
unsere Casernen. Mit denselben Gefühlen leisteten alle übrigen Garde-Regi¬
menter den Eid; die Betrübniß überwältigte jedes andere Gefühl. Die Vor¬
gesetzten und die Untergebenen würden ebenso ruhig und unweigerlich dem
Großfürsten Nikolaus den Eid geleistet haben, wenn der Wille Alexanders
ihnen auf eine gesetzliche Weise mitgetheilt worden wäre.
Im Winterpalast war die Trauerbotschaft in demselben Augenblicke an¬
gelangt, in welchem man ein Dankgebet für die angebliche Wiederherstellung der
Gesundheit Alexanders sang. Der Großfürst Nikolaus entschloß sich sogleich, dem
in Warschau weilenden Großfürsten Constantin den Eid der Treue zu schwören,
und empfing persönlich die Eidesleistung für seinen ältern Bruder von
den inneren Wachen des Palastes. Graf Miloradowitsch und Fürst A. N.
Galitzin bemühten sich vergebens, ihn von dieser Handlung abzuhalten; sie
kannten den Inhalt des Testaments Alexander's; — aber der Großfürst ließ
keine Einwendung gelten, sondern sagte kurz: „Wer mir nicht folgt und nicht
meinem ältern Bruder huldigt, der ist mein Feind und Feind des Vaterlan¬
des." Der Eid wurde überall im ganzen Reiche ohne den geringsten Wider¬
stand geleistet. Nichtsdestoweniger war allenthalben bekannt geworden, daß
ein Testament Alexanders bestehe, welches Nikolaus die Regierung übertrage'
und daß Constantin verzichtet habe. Es lag wie ein Alp auf der öffentlichen
Stimmung. Täglich tauchten falsche Gerüchte, Muthmaßungen und Erwar¬
tungen auf, die die Gesellschaft ängstigten und aufregten. Die Mitglieder
des Reichsrathes wußten seit dem Jahre 1823, daß in ihrem Archiv das
Testament Alexander's mit dessen eigenhändiger Aufschrift: „Aufzubewahren
bis zu meiner Aufforderung, aber im Falle meines Todes vor jeder andern
Handlung zu erbrechen" lag. Von diesem Testament waren Copien in den
Archiven des Senats, des Synods und der Uspenski'schen Cathedrale in Mos¬
kau zur Aufbewahrung niedergelegt. Es fragt sich, wem die Schuld dieser
unheilvollen Maßregel zuzumessen ist: Alexander, der zu seinen Lebzeiten den
Thronverzicht Constantin's zu veröffentlichen unterlassen hatte, — dem Reichs¬
rath, der seine Pflicht nicht erfüllte, — oder dem Großfürsten Nikolaus. Viel¬
leicht wünschte dieser jeder Veranlassung zu Unruhen und Unzufriedenheit
vorzubeugen, da er früher, als die Nachricht von Alexander's Tode ankam,
um das Bestehen und das Ziel der geheimen Gesellschaften und die Namen
eines großen Theiles ihrer Mitglieder wußte. Als Privatleute mögen alle
Betheiligten durch ihre Beweggründe gerechtfertigt werden können, politisch
nicht; sie waren verpflichtet nach dem Gesetz zu handeln und jede persönliche
Rücksicht zu beseitigen. Ich kann behaupten, daß mit der Veröffentlichung
des Testaments am 27. November Alle unweigerlich dem Großfürsten Niko¬
laus gehuldigt haben würden; wenigstens hätte der Aufstand nicht die zweite
Eidesleistung zum Vorwand gehabt, jene Eidesleistung, welche den vor sechs¬
zehn Tagen geschworenen Eid auflöste und zugleich erwies, daß der Wille
Alexander's nicht berücksichtigt worden war, wie es den bestehenden Gesetzen
gemäß hätte geschehen müssen.
Vom 27. November bis zum 14. December währte das Interregnum
oder Zwischenreich. Dieser Zeitabschnitt ist nachträglich durch ein Manifest
aus der Welt geschafft worden, welches anordnete, den Tag der Thronbestei¬
gung des Kaisers Nikolaus am 19. November, als dem Todestage Alexanders,
zu feiern. — Der Großfürst Constantin, dem das ganze Reich huldigte,
blieb ruhig in Warschau, fest in seinem Entschluß der Thronentsagung; er
empfing keine Beglückwünschungen, er entsiegelte kein Paket der Minister,
weil die Aufschrift seinem Namen den kaiserlichen Titel hinzufügte. — Der
Großfürst Michael war dem neuen Kaiser entgegengesandt worden; er war¬
tete auf der livländischen Station Umnak auf dessen Ankunft, oder auf eine
genaue Nachricht über dessen Entsagung. In Petersburg war Alles ver¬
stummt inmitten peinlicher Erwartung und Ungewißheit: keine Musik er¬
tönte aus den Wachparaden, die Frauen der höheren und mittleren Stände
trugen Trauerkleider, in allen Kirchen sang man Todtenmessen, Niemand
konnte sich der allgemeinen Niedergeschlagenheit entziehen. —
Ich habe schon gesagt, daß der Großfürst Nikolaus von dem Bestehen
der geheimen Gesellschaft, von deren Zweck und Mitgliedern Kenntniß hatte
und daß auch mehrere Personen seiner nächsten Umgebung davon wußten. Es
liegt nahe zu fragen, welche Maßregeln von ihnen getroffen wurden, um dem
bevorstehenden Aufstand zuvorzukommen? Gar keine. Alles war dem Zufall
überlassen. In Gesellschaften, im Kreise der Offiziere waren Gerüchte in
Umlauf, die sich oft widersprachen; man raisonnirte über das Testament
Alexander's, man urtheilte über das unantastbare Recht Constantin's, über
die Großmuth Nikolaus', der laut Testament das vollkommene Recht auf
den Thron habe, ihn aber nicht besteigen wolle, um dem Rechte seines älte¬
ren Bruders nicht zu nahe zu treten. Nikolaus glaubte nach seinem eigenen
Geständniß, daß er die Liebe des Volkes und der Truppen nicht besitze.
Am 6. December bezog ich die innere Wache im Winterpalast. Wie an
Feiertagen gewöhnlich, standen lange Reihen von Gratulanten. Hofchargen
und Militärs in den Sälen, um die kaiserliche Familie beim Vorübergehen
in die Kirche zu begrüßen. Man hörte keine Gespräche, einzelne Gruppen
traten zusammen und flüsterten einander ängstlich in die Ohren. — Am 10.
December Abends erhielt ich ein Billet von einem DieTistcameraden Capitän
N. P. Repin; er bat mich, augenblicklich zu ihm zu kommen. Es war spät.
Ich fand ihn allein auf und nieder gehend, mit der Uhr in der Hand. Mit
kurzen Worten theilte er mir mit, der längst beabsichtigte Aufstand stehe vor
der Thür, eine geeignete Gelegenheit zum Handeln sei gekommen, um nötigen¬
falls innerer Zwietracht oder gar einem Bürgerkrieg vorzubeugen. Reden
und Betrachtungen führten nicht zum Ziele, man bedürfe einer materiellen
Kraft, brauchte wenigstens einige Bataillone und Kanonen. Er wünschte
meine Mitwirkung zur Erhebung unseres ersten Bataillons, was ich rund ab¬
schlug, da ich in demselben nur einen Zug befehligte; man konnte aus die
Bereitwilligkeit der jüngeren Offiziere rechnen, aber nicht auf die der Com¬
pagnie-Commandeure. Ein Versuch blieb immerhin möglich und konnte um so
leichter gelingen, als man behauptete, daß der Obrist A. F. Moller mit sei¬
nem zweiten Bataillon Theil nehmen werde. — Denselben Abend begab ich
mich mit Repin zu Conrad RrMjew; er wohnte in dem Hause der ameri¬
kanischen Compagnie bei der blauen Brücke. Wir fanden ihn allein mit
einem Buche; wegen Halsschmerzen hatte er sich mit einem großen Tuche
umwickelt. In seinen Blicken, in seinen Gesichtszügen sah man seine Be¬
geisterung sür die große Sache; sein Reden war deutlich und überzeugend,
er wies nach, daß die, bevorstehende neue Huldigung die Soldaten in Ver¬
wirrung stürzen werde und mit leichter Mühe zum Zweck eines System¬
wechsels ausgebeutet werden könne. Bald darauf kamen Bestusbeff und
Tschepin-Rostowsky. Nach Besprechung verschiedener Vorschläge trennten wir
uns, um bei erster Gelegenheit wieder eine Berathung zu halten.
Am 11. December fand ich bei Repin zu meiner großen Unzufriedenheit
sechszehn junge Offiziere unseres Regiments, welche über die Tagesereignisse rai-
sonnirten und' zum Theil in das Geheimniß der Unternehmung eingeweiht
waren. Es gelang mir den Wirth in ein Seitenzimmer abzurufen, wo ich
ihm das Unpassende einer so vorzeitigen Einweihung von Neulingen vorstellte.
Er erwiderte, daß man im Moment des Handelns auf die Zuverlässigkeit der
Anwesenden werde rechnen können. —
Die Jugend läßt sich so leicht begeistern, sie kennt keine Hindernisse,
keine Unmöglichkeiten; je größer die Schwierigkeit, die Gefahr, desto größer
der Thatendurst. — Unter allen Anwesenden befand sich kein einziges Mit¬
glied der geheimen Gesellschaft außer dem Wirth selbst, und doch boten alle
zu dem bevorstehenden Unternehmen bereitwillig die Hand.
Am 12. December wohnte ich einer Berathschlagung beim Fürsten E. P. Obo-
lensky bei, an welcher die in Petersburg anwesenden Häupter der Verschwö¬
rung Theil nahmen. Man besprach sich über die vorhandenen Mittel und die
bevorstehende Unternehmung. Der Oberbefehl über die bewaffnete Macht
war dem Fürsten Trubetzkoy anvertraut, sür den Fall daß nicht aus Moskau
ein erfahrenerer Führer zu rechter Zeit ankäme. Es wurde festgesetzt die
aufständischen Truppen auf dem Senatsplatze zu versammeln, so viel Mann¬
schaft als möglich dahin zu führen und unter dem Vorwande, die Rechte
Constantin's zu wahren, den Gehorsam und die Eidesleistung für den Gro߬
fürsten Nikolaus zu verweigern; schließlich, wenn der Erfolg auf unserer Seite
bliebe, sollte der Thron für erledigt erklärt und eine aus fünf Mitgliedern
bestehende provisorische Regierung eingesetzt werden; zu derselben sollten u. A.
N. S. Mordwinow und Speransky*) gehören. Diese Regierung sollte mit
Hülfe des Reichsraths und des Senats so lange das Ruder des Staates
führen, bis erwählte Männer aus dem ganzen Reiche den Grund zu einer
neuen Verfassung gelegt hätten. — Noch wußte man nicht sicher, über wie
viele Bataillone oder Compagnien und aus welchen Regimentern verfügt
werden könnte. Aber die Verwirrung, welche die neue Huldigung bei dem gemei¬
nen Mann hervorrufen mußte, durste unter keinen Umständen unbenutzt bleiben.
Bei einer hinlänglichen Zahl Truppen sollten der Winterpalast, die haupt¬
sächlichsten Verwaltungslocale, die Banken, das Postamt besetzt werden, um
jeder Unordnung und Eigenmacht vorzubeugen. Falls die Truppenzahl zu
gering wäre und die Unternehmung mißlingen sollte, war ein Rückzug zu
den nowgoroder Militärcolonien beabsichtigt, an denen man einen Rückhalt
haben konnte. Die Maßregeln waren nicht alle genau und bestimmt ge-
troffen; auf alle Einwendungen und Bemerkungen wurde erwidert: „Man
könne zu einem solchen Unternehmen doch keine Probehalten, wie zu Wach¬
paraden." Alle an dieser Versammlung Theilnehmenden waren bereit zu
handeln. — Als ich hörte, daß man auf verschiedene Bataillone meines Regi¬
ments zuversichtlich rechnete, deren Stimmung ich genugsam kannte um die
Grundlosigkeit der gemachten Rechnung übersehen zu können, hielt ich es für
Pflicht, die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit eines so unvorbereitet unternom¬
menen Erhebungsversuchs hervorzuheben. „Ja, es ist wenig Aussicht auf Er¬
folg, aber man muß doch anfangen, man muß Etwas thun; der Anfang
und das Beispiel werden Früchte tragen" lautete die Antwort. Ich höre
jetzt noch die Betonung der Worte: man muß doch anfangen. Der Sprecher
war der enthusiastische Conrad Rylejew. einer der Führer der Verschwörung.
Am 13. December besuchten mich einige Officiere unseres Regiments.
Auf ihre Anfrage, wie sie sich zu verhalten hätten, wenn sie am Tage des
Aufstandes irgendwo die Wache beziehen müßten, antwortete ich kurz und
bündig, daß sie der allgemeinen Sicherheit wegen ihre Posten streng be¬
wahren sollten. So fest auch mein Entschluß war, mich von meinen Freun¬
den nicht zu trennen, so hielt ich es doch für unzulässig, Andere in mein
zweifelhaftes Geschick zu verflechten.
Am Abend des 13. December erhielt ich die Privatmittheilung, daß der
morgende Tag zur Eidesleistung bestimmt sei. In der Nacht brachte ein Bote
aus dem Regiments den Befehl, daß sich sämmtliche Offiziere um 7 Uhr
Morgens in der Wohnung des Regimentscommandeurs zu melden hätten.
Am 14. December mit der Morgendämmerung versammelten sich alle
Offiziere beim Regimentscommandeur, der uns mit einem neuen Kaiser be¬
willkommnete; er verlas hierauf das Testament Alexander's, die Thronentsagung
Constantin's und das neue Manifest. In Gegenwart aller Offiziere trat ich vor
und sagte zu dem General: „Wenn alle von Ew. Excellenz verlesenen Papiere
authentisch sind, woran zu zweifeln ich kein Recht habe, wie ist es da zu er¬
klären, daß wir nicht am 27. November sogleich dem Kaiser Nikolaus den Eid
der Treue geschworen haben?" — Der General antwortete mit sichtlicher Ver¬
legenheit: „Sie urtheilen nicht richtig; das haben Männer, die älter und er¬
fahrener sind, als Sie, schon überdacht. Meine Herren, begeben Sie sich in
Ihre Bataillone, um den Eid zu leisten." — Unser zweites Bataillon unter
Obrist Moller bezog die Wachen im Winterpalast und die Posten des ersten
Stadttheils. Das erste Bataillon leistete den Eid in den Casernen, ausge¬
nommen meinen Scharfschützenzug, der den Tag zuvor die Wache im Ga-
leererchafen bezogen hatte und noch nicht abgelöst war. Aus den Casernen
begab ich mich in den Winterpalast zur Wachparade, die ohne Ceremonien statt¬
fand. Noch war Alles ruhig, keine Bewegung zu spüren. Nach Hause zu¬
rückgekehrt fand ich ein Billet von RylHew, nach welchem man mich im
Hause des moskau'schen Regiments erwartete. Die Uhr war zwischen 10
und 11. Mich der Jsaaksbrücke im Schlitten nähernd, sah ich am andern
Ende derselben eine dichte Masse Volks und auf dem Platze eine im Viereck
aufgestellte Abtheilung des moskau'schen Regiments. Zu Fuß drängte ich
mich durch den Haufen, ging gerade zum Quarre', das jenseits des Denkmals
Peter's I. stand, und wurde mit lautem Hurrah begrüßt. In dem Quarre
stand der Fürst Tschepin-Rostowsky. sich auf seinen Säbel stützend, ermüdet,
erschöpft von dem Kampfe in der Caserne, wo er mit der größten Schwierigkeit
gekämpft, den Eid verweigert, seinen Brigadechef, den Regiments- und den Ba¬
taillonscommandeur schwer verwundet und endlich seine Compagnie mit der
Fahne herausgeführt hatte; ihm folgte die Compagnie von Michael Bestushew
und noch einige Haufen aus den übrigen Compagnien. Beide Capitaine standen
neben einander und warteten auf Hilfe. Am ruhigsten stand im Quarre' I.
I. Puschtschin; er hatte seit zwei Jahren seinen Abschied genommen, und ob-
gleich er in Civilkleidung war, gehorchten die Soldaten gern seinem Befehle.
Auf meine Frage, wo ich den Dictator Trubetzky antreffen könne, sagte er mir:
„Er ist verschwunden; wenn Du kannst, so führe uns noch Mannschaft zu;
wo nicht, so sind auch ohne dich schon genug Opfer hier!"
Eiligst kehrte ich in die Caserne meines Regiments (finnländische Garde-
Jäger) zurück, wo nur das erste Bataillon und mein inzwischen von der
Wache abgelöster Scharfschützenzug anwesend waren. Ich ging durch alle
vier Compagnien, befahl den Leuten sich geschwind anzukleiden, Feuersteine
einzuschrauben, Patronen mitzunehmen und sich auf der Straße in Reih und
Glied aufzustellen, mit dem Hinzufügen, wir müßten unsern Brüdern zu Hilfe
eilen. In einer halben Stunde war das Bataillon bereit, von den Offizieren
fanden sich nur einzelne ein; Niemand wußte, auf wessen Befehl die Soldaten aus¬
gerückt waren. Adjutanten zu Pferde sprengten unaufhörlich hin und her; einer
von ihnen war zu unserm Brigadechef abgeordnet mit dem Befehl, unser Batail¬
lon auf den Jsaaksplatz zu sühren. Wir marschirten in Compagnie-Colonnen.
Bei dem Seecadettencorps begegnete uns der Generaladjutant Graf Komo-
rowsky zu Pferde; er war nach uns abgeschickt. Auf der Mitte der Jsaaks-
brücke beim Wtrthshäuschen wurde angehalten und befohlen, scharf zu laden;
fast alle Soldaten bekreuzigten sich. Von der Fügsamkeit meiner Soldaten voll¬
kommen überzeugt, beabsichtigte ich anfangs, mich mit ihnen durch den vor
uns stehenden Carabinierzug und durch eine Compagnie des Prekbreschenski'-
schen Regimentes, welche das andere Ende der Brücke zum Senatsplatze be¬
setzt hielt, durchzuschlagen. Da ich mich aber kurz vorher persönlich davon
überzeugt hatte, daH der Aufstand keinen Führer habe und jeder Einheit der
Leitung entbehrte und da ich meine Leute nicht zwecklos aufopfern wollte,
zugleich aber auch außer Stande war. in die Reihe der Gegenpartei zu tre¬
ten, so beschloß ich. meinen Zug in demselben Augenblicke stille stehen zu lassen,
indem Graf Komarowsky und der Brigadechef befahlen, vorwärts zu rücken.
Ich wollte auf diese Weise nicht nur verhindern, daß meine Leute gegen
meine Freunde verwandt wurden, sondern zugleich den nacheilenden Regi¬
mentern die Möglichkeit benehmen, die von meinem Zug besetzte Brücke zu
überschreiten und gegen die Aufständischen zu operiren. Beides gelang mir
vollständig. Meine Soldaten schrieen einstimmig Halt! so daß der vor uns
stehende Carabinierzug sich nicht formiren konnte; nur den persönlichen Be¬
mühungen des Capitains A. S. Wiatkin. der seine Fäuste nicht schonte, ge-
lang es, seinen Zug weiter zu führen. Zweimal kehrte der Brigadechef zu-
rück, um meinen Zug nachrücken zu lassen, aber sein Zureden und seine
Drohungen waren umsonst. Der Bataillonscommandeur war verschwunden
und ich beherrschte die Position an der Brücke. Drei ganze Compagnien, die
hinter meinem Zuge standen, waren bereits zum Stillstand gebracht; die
Soldaten dieser Compagnien gehorchten ihren^Capitainen nicht und äußerten,
daß der an der Spitze stehende Offizier schon wisse, was er thue. — Die
Uhr ging auf.zwei. Die Polizei vertrieb das Volk von dem Platze, das
Volk drängte sich an dem Geländer der Brücke vorbet nach Wassily-Ostrow*).
mehrere der Vorbeigehenden baten mich, noch eine Stunde Stand zu halten.
Alles würde dann gut gehen. Mit dem sich zurückziehenden Volke gelang es
dem Capitain unserer dritten Compagnie. D. N. Belewzow. seine Compagnie
zurückzuwenden und mit ihr die Newa von der Akademie zum englischen Quai
hin zu überschreiten und sich mit dem ersten Zuge unsers Bataillons vor der
Brücke zu vereinigen. Er wurde dafür mit dem Wladimirkreuz belohnt. Die
übrigen Colonnen blieben bis zum letzten Augenblick hinter meinem Zuge.
Ueber zwei Stunden dauerte dieser qualvolle Zustand der Erwartung; jeden
Augenblick erwartete ich, meine Freunde würden sich zur Brücke durchschlagen,
damit ich ihnen mit meinen achthundert Mann Soldaten, die bereit waren,
mir überall hin zu folgen, zu Hilfe kommen könne.
Unterdessen hatten auf dem Senatsplatze 1000 Mann von dem auf¬
ständischen moskauschen Regiment ein Viereck gebildet: die Compagnie
M. A. Bestushew's stand dem Admiralitäts-Boulevard gegenüber und bildete
unter seinem Commando drei Seiten des Quarre's, während die vierte (der
Jsaakskirche gegenüberstehend) unter dem Befehl des gänzlich ermüdeten
Fürsten Tschepin-Rostowsky blieb. Dieser Umstand machte es M. A. Bestu-
shew möglich, zwei Escadrons der Garde zu Pferde, welche am Viereck vor¬
sprengten und sich auf halbe Schußweite von demselben aufstellten, vor dem
Feuer seiner Leute zu retten. Die dem Senatsgebäude gegenüberstehende
Fronte des Vierecks legte an, um eine Salve zu geben, wurde aber durch
M. Bestushew, der sich vor die Linie der Face stellte und „legt ab" comman-
dirte, davon abgehalten. Einige Kugeln pfiffen ihm an den Ohren vorbei,
und einige Mann von der Garde zu Pferde stürzten von ihren Pferden zu
Boden. Dann wandten die Reiter um, ohne ihren Angriff zu Ende zu
führen.
Eine gute Stunde später eilte das ganze Bataillon der Garde-Equipage
(Marinesoldaten), durch die Galeerenstraße kommend**), dem aufständischen
moskauschen Regiment zu Hilfe. Als dieses Bataillon im Hofe seiner
Caserne versammelt war, um den Eid zu leisten«, und einige Offiziere, die
sich widersetzt hatten, von ihrem Brigadechef. dem General Schipow, arretirt
wurden, erschien bei der Eingangspforte der Caserne M. A. Bestushew I.
und zwar in demselben Augenblicke, als vom Senatsplatze die Flintenschüsse
gegen den Angriff der Garde zu Pferde zu hören waren, und rief laut:
„Kinder, die Unsrigen werden angegriffen! Folgt mir!" — Alles strömte
ihm nach zum Jsaaksplatze. In der Eile hatte er vergessen einige Kanonen,
die im Bataillonsarsenal aufgestellt waren, mitzunehmen; übrigens hoffte
man auf den Beistand der reitenden Gardeartillerie, die ihre Geschütze mit¬
bringen sollte. Auf dem Platze angelangt, bildete das Bataillon sogleich
eine Angriffscolonne und stellte sich neben das Quarre der Moskaner, dicht
an die zur Jsaakskirche gewandte Colonne.
Wenig später kam weitere Hilfe; zu den aufständischen Regimentern
stießen noch drei Compagnien der Leibgrenadiere, die durch den Lieutenant
A. N. Sutthoff. den Bataillonsadjutanten N. A. Panow und den Unter-
Iteutenant Koschewnikow aus ihrer Caserne auf den Jsaaksplatz geführt
worden waren. Diese Truppen waren im Sturmschritt über das Eis der
Newa gegangen und dann in den inneren Hof des Winterpalastes gerückt,
wo sie Cameraden zu finden hofften. Statt dieser fanden sie den Obristen
Gerun. der sein Garde-Sappeurbataillon aufgestellt hatte. Es wurden von
ihm vergebliche Versuche gemacht, die Grenadiere zum Gehorsam gegen den
neuen Kaiser zu bringen. Die Soldaten, ihr Versehen erkennend, riefen laut:
„Diese sind nicht von den Unsrigen!" und wandten im Hofe um, um auf
den Staatsplatz zu eilen und die übrigen Aufständischen zu unterstützen.
Unterwegs beim Admiralitätsboulevard sahen sie den Kaiser, welcher sie
fragte: „Wohin? Seid ihr für mich, so wendet rechts; wenn nicht, so wendet
links!" — Eine Stimme antwortete: „Links!" und Alle eilten, ohne auch
nur in Reihe und Glied zu bleiben, auf den Jsaaksplatz. Hier wurden die
Grenadiere in das Quarre des moskauschen Regiments ausgenommen, um
unter dem Schutz desselben nach Compagnien geordnet zu werden. Noch
war diese Aufstellung nicht beendet, so trat bereits die entscheidende Kata¬
strophe ein.
In den Reihen der Aufständischen standen bereits über 2000 Mann.
Unter einheitlicher Leitung wäre, im Angesicht des rund herum zu Tausenden
versammelten und zur Mitwirkung bereiten Volkes, mit so beträchtlicher
Mannschaft ein dem Aufstande günstiger Ausgang wohl möglich gewesen,
zumal die Gegenpartei schwankte und verschiedene um den Kaiser versammelte
Regimenter Miene machten, sich den Aufständischen anzuschließen. An einer
wirklichen Leitung fehlte es den Aufständischen aber vollständig und die Sol-
daten mußten in passiver Haltung, bet 10 Grad Kälte und einem scharfen
Ostwinde und nur in Uniform gekleidet. Stunden lang dastehen. Der er,
wählte Dictator, Fürst Trubetzkoy, war nicht zu sehen; seine ernannten Ge¬
hülfen waren auch nicht auf den ihnen angewiesenen Posten, obgleich auf
dem Platze anwesend. Man bot das Commando dem Obristen Bulatow
an; er schlug es aus. Man bot es Bestushew I. an; er lehnte es ab, da
er bloßer Flottencapitän sei und den Jnfanteriedienst nicht kenne. Endlich
drängte man dem Fürsten E. P. Obolensky den Oberbefehl auf. der zwar
nicht Taktiker, aber von den Soldaten gekannt und geliebt war. Es herrschte
vollständige Anarchie; da der Dictator ausgeblieben war. so fehlten alle An¬
ordnungen — Alle commentirten und schrien durcheinander, Alle erwarteten
Hilfe und in Erwartung dieser schlug man die feindlichen Angriffe ab, ohne
aber selbst anzugreifen, was während der ersten Stunden schwerlich ohne
Erfolg geblieben wäre; hartnäckig weigerte man die Uebergabe und stolz ver¬
warf man die versprochene Gnade.
Allmählich versammelten sich die Truppen der Gegenpartei. Die Garde
zu Pferde war zuerst auf dem Platze. Die Bataillone des Jsmcnlow'schen
und des Jägerregiments kamen längst der Wosnessenski'schen Straße zur
blauen Brücke; das Semenow'sche Regiment längs der Erbsenstraße. Am
Admiralitätsboulevard stand das Viereck des Preobrashenski'schen Regiments.
Dort war der Kaiser zu Pferde mit einer zahlreichen Suite sichtbar; im Quarre'
befand sich der Thronfolger, als siebenjähriger Knabe, mit seinem Erzieher.
Vor dem Viereck waren Kanonen von der Brigade des Obristen Nesterowsky
aufgefahren, unter Bedeckung eines Auges Chevaliergarde unter dem Com¬
mando des Lieutenants I. A. Annenkow. Hinter dem kaiserlichen Quarre
stand ein Bataillon der Pawlow'schen Garde, die Sappeure waren, wie be¬
reits bemerkt, im Hofe des Winterpalais aufgestellt. — Die Ergebenheit dieser
Truppen für den Thron war an diesem Tage keine vollständige oder un¬
bedingte; sie wankte in der entscheidenden Stunde. Als das zweite Ba¬
taillon der Gardejäger den Befehl erhielt, über die blaue Brücke weiter vorzu¬
rücken, und sich in Bewegung setzte, commandirte Jakubowitsch: „Linksum!"
— und das ganze Bataillon kehrte um, obgleich die Treue des Bataillons¬
commandeurs, des Obristen W, I. Buße, die zuverlässigste, unbestreitbarste war;
wegen dieses Umstandes wurde Obrist Buße nicht zum Flügeladjutanten des
Kaisers ernannt, eine Auszeichnung, welche den Commandeuren aller Bataillone
der Garde, welche zum Kaiser hielten, an diesem Tage zu Theil wurde,
natürlich meinen Bataillonschef Talubjew, der durch die Haltung meines
Zuges compromittirt war, ausgenommen. Das Jsmailow'sche Regiment
war an diesem Tage auch nicht ganz zuverlässig. Dafür aber attaquirte die
Garde zu Pferde unter Anführung A. I. Orlow's fünf Mal mit Ungestüm
gegen das Quarre des moskauschen Regiments und wurde fünf Mal durch
Bajonnette und Flintenkugeln zurückgeschlagen.
Als die Truppen, so aufgestellt, die Aufständischen von allen Seiten mit
dichten Colonnen umzingelt hatten, verringerte sich die Zahl der um sie ver¬
sammelten Volkshaufen auf dem Platze. Die Polizei wurde in dem Ausein¬
andertreiben des Volks kecker, das anfangs alle drei Theile des Jsaaksplatzes,
die Plätze des Senats, der Admiralität und des Palastes bedeckt hatte; auf den
zwei letztgenannten Plätzen ritt der Kaiser selbst in raschem Trabe hin und her.
bald streng befehlend, bald freundlich bittend, das Volk solle auseinander
gehen und die Bewegung der Truppen nicht länger hindern. Unterdessen
waren verschiedene höhere Offiziere bemüht, die noch unentschiedenen Truppen¬
theile für die kaiserliche Sache zu gewinnen. Der Kaiser selbst war einem
Blutvergießen entschieden abgeneigt und wünschte lebhast die Aufständischen
zum Gehorsam zurückgeführt zu sehen, ehe es zum Aeußersten kam. General
Bistram hielt die in der Caserne gebliebenen Compagnien des moskauschen
Regiments zurück, damit sie sich nicht mit ihren aufständischen Kameraden ver¬
einigten, es gelang ihm sogar dieselben zu vermögen, die Wachen an diesem
Abende zu beziehen. Der General I. O. Suchasonet sprengte mitten in das
empörerische Quarri hinein und bat die Soldaten, auseinander zu gehen, ehe
die Kanonen abgefeuert würden; man antwortete ihm, er möge sich selbst
aus dem Staube machen und schießen!
Dann näherte sich der Großfürst Michail Pawlowitsch, der an diesem Tage
nur wenige Stunden vorher von der Station Umnak (wo er, wie erwähnt, auf
den ruhig in Warschau weilenden Großfürsten Constantin gewartet hatte)
zurückgekehrt war, zu Pferde muthig dem Viereck der Aufrührer und
suchte die Soldaten zum Gehorsam zu überreden. Er war in Gefahr, ein
Opfer seines Muthes zu werden, denn W. K. Küchelbecker, befürchtend, daß
es dem Großfürsten gelingen könnte, die Soldaten vom Aufstande abwendig
zu machen, schoß auf ihn sein Pistol ab, das zufällig versagte. Graf M.
A. Miloradowitsch, der geliebteste Anführer der Soldaten, bemühte sich eben¬
falls, die Aufständischen vom Jsaaksplatz mit sich fortzuführen; Fürst P. E.
Obolensky griff dem Pferde des Grafen in die Zügel, um es aus dem
Quarre' fortzuleiten, und stieß mit dem Bajonnet einer Soldatenflinte in
die Weichen des Rosses, um den Reiter zu retten. In diesem Augenblicke
trafen die Kugeln Kachowsky's und noch zweier Soldaten den tapfern Mi-
loradowitsch, der in unzähligen Schlachten mit Ruhm gekämpft hatte und
nie verwundet worden war, sodaß er sterbend niedersank. — Auch der Com¬
mandeur des Leibgarde-Grenadier-Regiments, Obrist Stürler. fiel von einer
Kugel Kachowsky's, als er eben bemüht war, die Grenadier-Compagnien, die
vom Regiment abgefallen waren, zum Gehorsam zurückzurufen. Endlich erschien
der Metropolit Seraphim in vollem Ornat, begleitet von dem kiew'schen
Metropoliten Eugenius und mehreren Geistlichen. Das geweihte Kreuz in
der Hand haltend, flehte er die Soldaten im Namen der christlichen Liebe
an, in ihre Casernen zurückzukehren; er versprach im Namen des Kaisers, so
wie es vorher der Großfürst und Graf Miloradowitsch gethan hatten, allen
Verschwörern unbedingte Verzeihung, die Urheber der Empörung allein aus¬
genommen. Das Flehen des Metropoliten blieb aber vergeblich; man sagte
ihm: „Geh' nach Hause. Vater, bete da für uns. für Alle; hier hast Du
nichts zu suchen."
Ein Decembertag im hohen Norden währt nicht lange, gegen drei Uhr
begann es zu dunkeln; ohne Zweifel wäre in der Dämmerung das Volk, das
nur mit Gewalt auseinandergetrieben worden war, zu den Aufständischen
zurückgekehrt, aber man gab ihm keine Zeit mehr zur Ueberlegung. Graf
Toll soll es gewesen sein, der sich beim Beginn der Dunkelheit dem Kaiser
genähert und ihm gesagt hatte: „Sire! befehlen Sie, den Platz mit Kanonen
zu säubern, oder entsagen Sie dem Throne."—Der erste Kanonenschuß, blind
geladen, donnerte hervor; die zweite und die dritte Kanone schleuderten Kugeln,
die sich in die Mauer des Senatsgebäudes setzten oder über die Newa in
der Richtung zur Akademie der Künste hinüberflogen. Diesen Schüssen antwor-
teten die Aufständischen mit schallendem Hurrah! Dann wurden die Kanonen
mit Kartätschen geladen; Obrist Nesterowsky zielte gerade in das Quarre' —
der Kanonier bekreuzigte sich, dann commandirte der Kaiser selbst, und Capi-
tain M. Bakunin nahm die Lunte aus der Hand des Soldaten. Einen Augen¬
blick später hagelten Kartätschenkugeln in das dichte Quarre; die Aufrührer
flüchteten in.die Galeerenstraße und über die Newa zur Akademie; die Ka¬
nonen rollten zur Galeerenstraße und zum Newaufer und schleuderten von
hier Kartätschen, wodurch sich ganz zwecklos die Zahl der Getödteten,
Schuldigen und Unschuldigen, Soldaten und zufälligen Zuschauer ver-
dreisachte. Drei Seiten des Vierecks des moskauschen Regiments unter
M. Bestushew III. warfen sich zum Newauser und wurden von Kartätschen¬
kugeln begleitet. Auf der Newa wollte Bestushew die flüchtenden Soldaten
sammeln, da donnerten von der Jsaaksvrücke Kugeln her, welche das Eis des
Flusses zertrümmerten und vielen Soldaten ein feuchtes Grab bereiteten.
Ohne diesen Umstand hätte Bestushew sich noch der Peter-Pauls-Festung be¬
mächtigen können. Die Garde-Equipage, die Leibgrenadiere und ein Theil
des moskauschen Regiments warfen sich in die Galeerenstraße, wohin Ka¬
nonen folgten, welche im Defile viele Soldaten niederschössen.
Seltsam, ja wunderbar ist es, daß von meinen Unglücksgefährten, den
compromittirten Offizieren, Niemand erschossen oder verwundet wurde; meh.
reren derselben waren die Mäntel und Pelze von Kugeln durchbohrt; in dem
Bataillon der Garde-Equipage fielen ganze Reihen Soldaten, die Offiziere
blieben unversehrt. Alles ergriff in den beiden genannten Richtungen die
Flucht; nur einer blieb auf dem Platze stehen trat und zum General Martynow,
um durch diesen dem Großfürsten Michail seinen Degen zu übergeben; —
es war M. K. Küchelbecker, Lieutenant der Garde-Equipage. In diesem
Augenblick sprengte der Obrist Saß von der Garde-Pionnier-Escadron mit
geschwungenem Säbel auf ihn zu, General Martynow hielt den Obristen
auf und sagte! „Tapferer Obrist Saß! Sie sehen doch, daß er mir seinen Degen
schon eingehändigt hat." — Als der Platz gesäubert war, rückte das Regi.
neue der Garde zu Pferde über die Jsaaksbrücke nach Wassily-Ostrow.
Ich führte meinen Zug zur Manege des ersten Cadettencorps. Mein
Regimentscommandeur war unterdessen angelangt und befahl mir, meinen
Zug in dem innern Hofe der Wohnung des Directors des Cadettencorps,
gegenüber der großen Perspective, aufzustellen. Dahin war der Regiments-
geistliche beordert worden, ich wußte nicht warum. Mir wurde angedeutet,
mich vom Zuge zu entfernen. Ich sah, daß meine Soldaten einen Kreis
schlössen, der Geistliche fing an sie zu ernähren; darauf drängte ich mich
durch den Kreis und erklärte laut, daß meine Soldaten in Nichts schuld
seien, daß sie ihrem Vorgesetzten gehorchen müßten; ich entfernte mich, in¬
dessen sie den verlangten Eid leisteten. — Sterne funkelten schon am Him¬
mel; auf allen Plätzen leuchteten Bivouakfeuer, Patrouillen zu Pferde und
zu Fuß durchstreiften alle Straßen. Ich mußte mit meinem Zuge den And-
reew'schen Markt und die Kaufläden daselbst besetzen. Sogleich wurde in die
Kaserne gesandt, um Mäntel zu holen; seit 10 Uhr Morgens befand ich
mich in leichter Uniform. Am andern Morgen sah ich meine Frau nur eine
Sekunde, es war — um mich auf lange von ihr zu trennen. Auf kaiser¬
lichen Befehl wurde ich am Is. Morgens arretirt.
Wenn ich die Ereignisse dieses denkwürdigen Tages noch einmal an
mir vorüber ziehen lasse, so muß ich noch heute der Meinung sein, daß ein
Erfolg des Aufstandes leicht möglich gewesen wäre. Mehr denn zweitausend
Soldaten und eine viel größere Menge Volkes war bereit, den Winken eines
Anführers zu gehorchen. Dieser Führer war ernannt und seine Wahl schien
nicht unglücklich; ich habe mit dem Fürsten Trubetzkoy sechs Jahre zusammen
gelebt, viele meiner Kameraden kannten ihn noch sehr viel länger, Alle waren
darin einig, daß er jederzeit ein tüchtiger und energischer Mann war, auf
den man sich verlassen konnte. Warum er zur bestimmten Stunde nicht auf
seinem Platze war, hat nie Jemand erfahren; ich glaube, er weiß es selbst
nicht, er hatte den Kopf verloren. Dieser eine, vorher nicht zu berechnende
Umstand ist entscheidend gewesen. Fürst Obolenski, der an Trubetzkoy's Stelle
gewählt wurde, wußte selbst, daß er dieser Stellung nicht gewachsen sei.
Während man mit ihm verhandelte und sein Sträuben zu überwinden suchte,
verstrich die kostbarste Zeit und fehlte alle Einheit der Action; die zu
der Fahne des Aufstandes strömenden Offiziere und Soldaten wußten nicht,
an wen sie sich wenden, bei wem sie sich melden sollten, die schon vor¬
handenen Truppen standen passiv da, und doch hatten sie bereits fünf
Attaquen der Garde zu Pferde Widerstand geleistet und weder Bitten, noch
Drohungen, noch Versprechungen nachgegeben, selbst den Metropoliten zu¬
rückgewiesen. Wie von einem Bann gefesselt standen dieselben Leute, die sich
so entschieden gezeigt hatten, unthätig da, als sie mit verhältnißmäßig leichter
Mühe die Kanonen nehmen konnten, die gegen sie geladen waren. Die Ka¬
nonen standen unter der Bedeckung eines Zuges der Chevaliergarde, der von
dem Lieutenant I. A. Annenhoff, einem Mitgliede der geheimen Gesellschaft,
geführt wurde und doch dachte Niemand daran, von diesem Umstände Nutzen
zu ziehen. Ohne Schwierigkeit hätte ferner das Jsmailow'sche Regiment, in
welchem zahlreiche Mitglieder der Gesellschaft und Mitverschworene dienten,
der Sache des Aufstandes gewonnen werden können. In der Nacht nach
dem 14. December erschoß sich' der Capitän Bogdanowitsch, weil er sich von
dem Vorwurf, nicht mitgewirkt zu haben, erdrückt fühlte. Die uns gegen¬
übergestellten Regimenter waren gleichfalls nicht alle zuverlässig; als ein Ba¬
taillon Gardejäger gegen das moskausche Regiment anrücken sollte, com-
mandirte A. I. Jcikubowitsch: links um! und diese Worte wirkten so,
daß nur zwei Compagnien zum Schwenken zu bewegen waren. Aehnlich war
es mit vielen andern Regimentern bestellt. Unbegreiflich erscheint endlich,
warum die Aufständischen nicht die Polizeidiener vertrieben und dadurch das
versammelte, mit Holzhacken und Aexten bewaffnete Volk ihrer Sache erhielten.
Schließlich bemerkte ich noch, daß an diesem Tage die Wache im Winter¬
palast von dem zweiten Bataillon des finnländischen Regiments unter Be¬
fehl des Obristen A. F. Moller. eines vieljährigen Mitglieds der Gesellschaft,
bezogen worden war. Auf dem Admiralitätsboulevard, zwanzig Schritt vom
Kaiser, stand der Obrist Bulatow mit zwei geladenen Pistolen, mit dem festen
Vorsatz, dem Monarchen das Leben zu nehmen, aber eine unsichtbare Hand
hielt ihn zurück. Er hatte Muth und Entschlossenheit genug bewiesen; es
ist bekannt, daß er während des großen Feldzuges 1812 mit seiner Compagnie
wiederholt feindliche Batterien nahm und unter dem Hagel feindlicher Kugeln
stets seiner Compagnie um mehrere Schritte voian war. Als der Kaiser
beim persönlichen Verhör gegen ihn seine Verwunderung äußerte, daß er ihn
unter der Zahl der Empörer sehe, antwortete Bulatow offenherzig, daß im
Gegentheil er verwundert sei, den Kaiser vor sich zu sehen. „Was heißt das?"
fragte der Kaiser. „Gestern stand ich zwei Stunden lang auf zwanzig
Schritte von Ew. Majestät entfernt mit geladenen Pistolen und mit dem
festen Entschluß, Ihnen das Leben zu nehmen; aber jedesmal, wenn ich die
Hand an das. Pistol legte, versagte mir das Herz." Dem Kaiser gefiel das
offene Geständniß, er befahl, den Obristen nicht in die Casemcitten der
Festung einzuschließen, wo wir Uebrigen uns befanden, sondern ihn in
der eigenen Wohnung des Festungscommandanten unterzubringen. Einige
Wochen später brachte sich Bularow durch Hunger um; er überstand den
schrecklichsten Kampf mit sich selbst, indem er alle Speisen zurückwies, als seine
Fingernagel bereits vor Hunger zerbissen waren. Von einem solchen Manne
durfte man erwarten, daß er seinen Vorsatz ausführen würde.
Aus dem Nachlaß Barnhagen's von Ense. Blätter aus der preußischen Geschichte.
2 Bände (Leipzig bei F. A. Brockhaus 1868).
Barnhagen's vielbändige Hinterlassenschaften haben, wesentlich durch die
Schuld der Herausgeberin Ludmilla Ussing, das umgekehrte Schicksal gehabt,
wie weiland die MMnischen Bücher: je mehr ihrer wurden, desto rascher
fielen sie im Preise. Die Veröffentlichung des Briefwechsels mit Alexander
von Humboldt galt ihrer Zeit für ein literarisches Ereigniß, die im vorigen
Jahre herausgegebenen Briefe von Tieck, Chamisso, dem Prinzen Louis Ferdi¬
nand u. s. w. wurden kaum beachtet, weil sie an das Interesse des Puhu.
anas für literarischen Klatsch und Scandal allzu große Anforderungen
stellten.
Anders steht es mit den beiden Bänden aus Barnhagen's Nachlaß,
welche uns gegenwärtig vorliegen und von denen nur zu bedauern ist, daß
sie nicht an die Spitze der gesammten Publication gestellt worden sind. Sie
behandeln einen Zeitabschnitt, in welchem die zufälligen Aufzeichnungen eines
im Brennpunkt der Ereignisse stehenden Zeugen ungleich höheren Werth
haben, als in der nachfolgenden Periode. Der Inhalt der „Tagebücher"
behandelte einen Stoff, für den es an anderen und besseren Quellen keines¬
wegs fehlte; die wichtigeren Ereignisse waren zum großen Theil von der
Tagespresse ausführlich behandelt und zwar in einer Weise behandelt wor¬
den, welche von der grämlichen, verbissenen und einseitigen Art des isolirten
und alternden Tagebuchschreibers vortheilhaft verschieden war. — was der
Tagespresse entgangen, verdiente entweder überhaupt keine Berücksichtigung,
oder doch nicht die Art von Berücksichtigung, welche Varnhagen ihr ange-
deihen ließ, indem er nahezu Alles, was mit seiner Verstimmung gegen das
herrschende System und dessen Vertreter zusammentraf, für baare Münze
nahm.*
Die „Blätter aus der preußischen Geschichte" behandeln einen Zeitraum,
für den überhaupt nicht allzu zahlreiche Quellen flüssig sind und in welchem
es an einer Tagespresse, die der herrschenden Stimmung Ausdruck geben
oder auch nur die Vorgänge registriren konnte, welche die öffentliche Auf¬
merksamkeit beschäftigten, in der preußischen Hauptstadt vollständig fehlte.
Das politische Leben bewegte sich innerhalb abgeschlossener Kreise, welche sich,
mochten sie. der reactionären oder der freisinnigen Richtung huldigen, gegen
die Außenwelt gleich ängstlich abschlossen. Der Hos und was mit diesem zu¬
sammenhing haßte grundsätzlich jede Publicität und der famose Grundsatz,
„daß die Welt denen nicht ins Herz sehen dürfe, welche sie regierten" wurde
in der ausgedehntesten Weise befolgt, vielleicht in dem dunkeln Gefühl,
daß die, die ihm folgten, in der That Ursache hätten, das Tageslicht zu scheuen.
Aehnlich stand es in den liberalen Kreisen und in der Sphäre der Dema¬
gogie, soweit eine solche nach dem Jahre 1818 überhaupt noch vorhanden
war. Die mißtrauische Strenge einer Polizei, welche grundsätzlich zwischen
Handlungen und Gedanken keinen Unterschied machte, zwang Alle, die ihrer
näheren Bekanntschaft aus' dem Wege gehen wollten, zu Vorsicht und
Schweigen gegen Indifferente und Fremde. — Dieser Umstand ist aber nicht
der einzige, der die Varnhagen'schen Aufzeichnungen von 1819 bis 1823
unter einen anderen Gesichtspunkt der Beurtheilung stellt, als die Tage¬
bücher von 1849, 50 u. f. w. Der Verfasser selbst ist noch ein Anderer; er'
lebt in einer Welt, mit der er jung gewesen, mit der er wirklich Vieles ge¬
mein hat, mit der er fühlt und die er nicht nur einseitig vom Isolirschemel
eines abstracten und radicalen Parteistandpunktes aus beurtheilt. Von einem
wirklichen Parteileben ist in den Jahren, aus welchen diese neuesten Auf¬
zeichnungen stammen, überhaupt nicht die Rede; es fehlt darum an der Ver¬
anlassung zu Urtheilen über die Einseitigkeit und Befangenheit der späteren.
Endlich — und das scheint uns die Hauptsache zu sein — trägt die
Reactionszeit von 1819 und 1823, das Zeitalter, in welchem die Jarcke,
Schmalz und Kamptz auf dem Höhepunkt ihres unseligen Einflusses standen
und den Credit der Regierung bei In- und Ausland systematisch herunter¬
brachten, einen Charakter, der die Art und Weise politischer Kritik, welche
Narnhagen übte, in gewissem Sinne zulässig erscheinen läßt. Der negative va¬
terländische Standpunkt, der uns bet den Zeugen der Vorgänge von 1848
und 1849 verdrießt, erscheint in der Periode der demagogischen Umtriebe
nicht nur verzeihlich, sondern sogar natürlich; es ist wesentlich derselbe Stand¬
punkt, den die besten Männer jener erbärmlichen Zeit einnahmen, und das
Urtheil, welches wir aus dem modernen Bewußtsein heraus über dasselbe
fällen, wird mit dem Varnhagens bei weitem in den meisten Fällen zusam¬
mentreffen. Erst jenseit der vierziger Jahre wird das Verhältniß ein ante>
res und scheiden sich die Wege; der Staatsbürger, der die Möglichkeit direc-
ter Betheiligung an den öffentlichen Angelegenheiten hat, darf nicht mehr
raisonnirender Beobachter bleiben und sich lediglich auf die Voraussetzungen
seiner eigenen Bildung, seiner subjectiven Wünsche und Anschauungen
steifen; Charakter und Beruf des Liberalismus haben sich verändert. Es hatte
darum einen gewissen Sinn, wenn die Ueberschwänglichkeit des Jahres 1848
zwischen „vormärzlichen" und zeitgemäßen Liberalen einen Unterschied machte,
nur nicht den Sinn, der dieser Unterscheidung von den Radikalen unterge¬
schoben wurde, die zu den Todten warfen, wer ihre Tollheiten nicht mitmachte.
Was wir den „vormärzlichen" Liberalismus nennen möchten, ist typisch
in Varnhagen vertreten, ganz besonders in dem Varnhagen der „Tagebücher".
In den Jahren 1819 und 1823 erscheint diese Anschauungs-, Auffassungs¬
und Darstellungsweise natürlich und berechtigt; wir brauchen uns mit diesem
Zeitabschnitt nur eingehend zu beschäftigen, um unversehens in dieselbe tiefe
Verstimmung zu gerathen, welche aus jeder Seite der „Blätter zur preußi¬
schen Geschichte" redet und vollständig begreiflich zu finden, daß den Zustän¬
den des damaligen Preußen von einem Combattnnten von 1813 und 1813,
der zugleich gebildeter Staatsmann war, kaum eine Lichtseite abgewonnen
wurde. Und wenn ein gut Theil dessen, was die „Blätter" berichten, aus
Brocken besteht, die in den Vorzimmern des Königs, der Prinzen und der
Minister aufgeschnappt, aus Theater-on-ans und Wachtparade-Flüchen zusam¬
mengesetzt wurden, so läßt sich dagegen kaum Etwas einwenden. Was man
damals politisches Leben nannte, bewegte sich in der That zwischen dem
königlichen Ankleidezimmer und den öffentlichen Orten, an welchen das
Publicum diejenigen anzutreffen pflegte, welche die Leiter der Staatsgeschicke
waren.
Varnhagen's Berichte beginnen mit dem Zeitpunkt seiner Zurückberufung
aus Baden und der erneuten Niederlassung in Berlin. Er sieht sich noch nicht
als definitiv aus dem Staatsdienst ausgeschieden an und beobachtet die Zeit¬
läufte wie ein Mann, der an den Wendungen, welche sie nehmen, direct mit
interessirt ist. Das große Interesse des Tages ist die Entscheidung über die
verheißene Constitution und die allendliche Zusammensetzung des in steten
Krisen und Schwankungen begriffenen Ministeriums. Die Stellung, welche
die verschiedenen Kreise und Schichten der Gesellschaft zur Verfassungsfrage
einnahmen, wird in zahlreichen Episoden und Anekdoten behandelt und das
Bild der Gesammtsituation setzt sich aus einer Fülle klarer Einzelvorgänge
zusammen. Wir erfahren genau, wie die einzelnen leitenden Persönlichkeiten
beurtheilt werden, wie sie selbst urtheilen und welche Kriterien hüben und
drüben den Maßstab bilden. Es ist, als läge eine ganze Reihe kleiner Par¬
teizeitungen vor uns, welche sich über alle brennenden Fragen äußern. Der
Adel sieht in der Verfassungsfrage eine günstige Gelegenheit zur Wiederer¬
langung verlorener ständischer Prärogative, die märkische Ritterschaft bittet
den König direct, sich auf keine Konstitution einzulassen, der schlesische Adel
wünscht die Wiedereinführung der Erbunterthänigkeit. andere Verbände agi-
tiren für die Begründung besonderer Adelsschulen, Allen ist die Abneigung
gegen die Stein'schen Reformen, die französischen Einrichtungen am Rhein
und die constitutionellen Experimente in Süddeutschland gemein. Im Mili¬
tär führen die bürgerlichen Elemente aus der Gneisenau-Scharnhorst'schen
Schule einen erbitterten aber vergeblichen Kampf gegen die aristokratische
Partei, an deren Spitze der Herzog von Mecklenburg steht, in dem niederen
Volk bricht der Unmuth gegen die wiederkehrende Hoffahrt des säbelklirren¬
den Junkerthums bei jeder sich darbietenden Gelegenheit zu hellen Flammen
aus. Das scandaleuse Attentat des jungen Grafen Blücher gegen den
Schauspieler Stich, der „Wolfahrt'sche Handel", in den ein Fräulein von
Altrock verwickelt ist, Ladendiebstähle, auf welchen zwei adlige Damen er¬
tappt werden, führen zu Volksaufläufen, die trotz ihrer Geringfügigkeit die
öffentliche Meinung wochenlang beschäftigen und ängstigen. Wohl treten der
König und die Prinzen, unterstützt von einzelnen würdigen Veteranen, für
die Sache des Rechts ein, um der Zuchtlosigkeit der aufgeblähten jungen
Gardearistokraten zu steuern, aber die gesammte vornehme Gesellschaft stellt
sich auf die Seite der Privilegirten, „schleicht sich auf tausend Wegen in die
Nähe des Königs, der Prinzen und Minister und gewinnt im Voraus An¬
sehen, ehe noch die Dinge von den Staatsbehörden entschieden sind." — Im
gebildeten Mittelstande herrscht die tiefste Verbitterung gegen das herrschende
System, zumal seit das Ausscheiden Humboldt's, Boyen's und Beyme's aus
dem Staatsrath den Sieg der reactionären Ultras und die Wiederaufnahme
der Demagogenriecherei entschieden hat. Die Untersuchungen und Denun¬
ciationen gegen Jahr, Arndt und de Wette halten Alles, was für die Ehre
und den Credit Preußens ein Herz hat, beständig in Athem, Urtheile der
regulären Gerichtshöfe, Cabinetsordres, Ministerialverfügungen bald zu
Gunsten, bald zu Ungunsten der Angeklagten kreuzen einander unaufhörlich
und zeugen für-den Verfall und die Abhängigkeit der einst so hoch geprie¬
senen preußischen Justiz. Männer, deren Namen in der gesammten gebil¬
deten Welt nur mit Achtung genannt werden, sind Gegenstand ängstlicher
Beobachtung der berliner Polizei und werden von der herrschenden Presse in
unwürdigster Weise angefeindet und verlästert.
Wenn Schleiermacher das Voß'sche Schreiben gegen den Grafen Stoll¬
berg gelobt oder Sonntags eine kräftige Predigt gegen Heuchler und Licht¬
feinde gehalten hat. so stecken die Herren in den Ministerien und im königlichen
Empfangszimmer ängstlich die Köpfe zusammen und es ist von Beschlagnahme
der Papiere des einflußreichen Jugendlehrers die Rede. Nach einem Vor¬
trage in der Akademie wird er von einem Offiziere auf offener Straße insul-
tirt. In vertrautem Gespräch gesteht der Geheimerath Schulze, daß auch
Marheineke und Neander „in Gefahr seien" und der Prediger Wilmser hat
wegen der Denunciationen, die ein Tertianer über ihn gemacht, ernstlichen
Verdruß. Der Buchhändler Reimer hat die ganze aristokratische Meute gegen
sich, weil er ein Haus in der Wilhelmsstraße gekauft hat. die für die Domäne der
exclusiver Gesellschaft gilt; er, der bewährte Patriot aus der Franzosenzeit, wird
auf Schritt und Tritt wie ein Demagoge bewacht und chicanirt; der Ban¬
quier Mendelssohn will aus Berlin fortziehen, weil ihm vornehme Herren
ungestraft „Hep, Hep" auf offener Straße nachrufen. Auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens zeigt sich das klägliche Bild absoluter Unfähigkeit und eng¬
herziger Kleinmeisterei'derer, die an der Spitze des Staats stehen und den König
umgeben, dessen gerader Sinn nur selten durch die ausgespannten Jntriguen-
netze bricht. Die feudalen Ultras sind von dem Herabkommen des äußeren
Ansehens und der inneren Kraft der Monarchie ebenso lebhaft durchdrungen,
wie die liberalen Oppositionsmänner. Der Minister v. Brockhausen spricht
von der Verächtlichkeit, dem Ungeschick und der Unbildung der preußischen
Diplomaten, die den Stil ihrer Depeschen französischen Romanen entlehnen,
sich trotz uralter Stammbäume von Leuten „ohne Geburt und Rang" betrü¬
gen lassen und an den Höfen des Auslandes lächerlich werden. Graf Uork macht
dem Könige wegen der zerrütteten Finanzlage in „ziemlich dreisten Worten"
Vorstellungen und meint, wenn die Finanzen schlecht würden, müsse es mit
dem Heer ebenso werden; zwei Herren v. Raumer, beide Mitglieder der Ober¬
censurbehörde, nennen die Censur ein in Preußen unstatthaftes Institut und
die gegen den Buchhändler Brockhaus verhängte Recensur die „dümmste und
abgeschmackteste Maßregel".
Mißmuth und Verstimmung haben sich aller Kreise bemächtigt. Die
Anhänger des Alten ahnen, daß ihre Tage gezählt sind und nutzen die ihnen
gesteckte Galgenfrist dazu aus, das Interesse der Dynastie möglichst eng an
das ihrige zu knüpfen, Volk und Herrscher zu entzweien und dadurch gegen¬
seitig in Schach zu halten. Vertrauen in die Zukunft, Glauben an die
Dauerbarkeit der bestehenden Verhältnisse und den hohen Beruf des mühsam
geretteten, noch immer aus alten Wunden blutenden Staates werden bei
ihnen so wenig gesunden, wie bei der Opposition. Das Bürgerthum fühlt
sich als den Träger der Zeitideen und ist doch nicht im Stande, seine An¬
sprüche zur Geltung zu bringen; die Bureaukratie, aus wehrbaren und junker-
hast-frivolen Elementen zusammengesetzt, wird in die verschiedensten Rich¬
tungen gezerrt und kommt dadurch um alle Würde und alles Selbstgefühl.
„Wir eilen einer neuen Katastrophe wie der von Jena entgegen .... Das
Wohl des Staates, das Interesse der Sachen wird persönlichen Absichten und
Zuständigkeiten immer dreister nachgesetzt .... Die Einheit des Staats
löst sich in verstreuten Privateinrichtungen auf" — so klagen selbst die, welche
in den Geschäften stecken und mit dem herrschenden Winde segeln. Am
deutlichsten offenbart sich der Mangel an Thatkraft und Selbstvertrauen in
der Willfährigkeit, mit welcher Freund und Feind der liberalen Sache den
Vorgängen in Spanien, Griechenland und Italien die höchste Wichtigkeit zu¬
messen. Nicht in Berlin soll darüber entschieden werden, welche Grundsätze
für die Politik des preußischen «Staates und die Zukunft Deutschlands ma߬
gebend sein sollen, sondern in Neapel oder Madrid, am ägeischen Meer oder
M der Seine. An die Abhängigkeit vom Auslande hat man sich so voll-
ständig gewöhnt, daß Preußen keinen Geschäftsträger nach Lissabon zusenden
wagt, ehe in Petersburg und Wien angefragt worden.'
Das ist im Wesentlichen das Bild, welches die Varnhagenschen Blätter
von dem Zustande entwerfen, in welchem Preußen sich zehn Jahr nach der
Schmach der Franzosenzeit befand und wir haben dieses Mal kaum ein Recht,
den Berichterstatter der Parteilichkeit anzuklagen; sein Zeugniß wird von
hundert anderen gleichlautenden Zeugnissen unterstützt. Eine Frage läßt
Varnhagen freilich unbeantwortet, die, wie es möglich gewesen, daß ein so
schwer erkrankter Staat sich durchgearbeitet hat und zu dem Baum geworden
ist, nach dessen Schatten sich schon fünfundzwanzig Jahre später alle die¬
jenigen sehnten, denen es mit ihren Wünschen für ein freies und einiges
Deutschland Ernst war.
Aus Spanien. Von Gustav Körner, Gesandten der Vereinigten Staaten von
Nordamerika zu Madrid in den Jahren 1862, 1863 und 1864. (Frankfurt a. M.
I. D. Sauerländer.)
Bei dem lebhaften Interesse, mit welchem seit der Katastrophe Von Cadiz
den Vorgängen in Spanien zugesehen wird, halten wir es für Pflicht, auf ein
im vorigen Jahre erschienenes Werk über die iberische Halbinsel hinzuweisen, das
den ehemaligen amerikanischen Gesandten in Madrid Gustav Körner zum Verfasser
hat und trotz der Kürze, mit welcher der politischen Verhältnisse der Gegenwart und
der leitenden Persönlichkeiten gedacht wird, in vielfacher Beziehung instructiv ist.
Die Interessen des Autors sind in erster Reihe den reichen in den Museen Mad¬
rids aufgehäuften Kunstschätzen der Heimath Vclasquez's und Murillo's und den
socialen Zuständen Spaniens zugewandt; bei der Stellung, welche er Jahre lang
als Vertreter der mächtigen transatlantischen Republik eingenommen, hat aber nicht
ausbleiben können, daß Herr Körner mit der politischen Lage des spanischen Staats
und den einzelnen leitenden Persönlichkeiten genau bekannt wurde. Seine persön¬
lichen Beobachtungen hat der Verfasser mit der glücklichen rücksichtslosen Offenherzig¬
keit niederlegen können, deren sich ein amerikanischer Diplomat erfreut, sobald er
sein Amt niedergelegt hat. Wir heben in dieser Beziehung vier Abschnitte von be¬
sonderem Interesse hervor: „die Kaiserin Eugenie in Madrid (October 1864)" „M
äos as „Spanische Zustände" (1865) und „Spanische Silhouetten" (1866).
Diese Capitel enthalten neben lehrreichen Excursen über die jüngste Geschichte des
Königreichs eine größere Anzahl kurz gedrängter, aber sehr schlagender Mittheilungen
über die Glieder der königlichen Familie und die hervorragendsten Generale und
Parteiführer, als O'Donnell, Pilen, Serrano, die beiden Concha, Bermudez de
Castro u. s. w. Die gefällige Art der leichten, - anspruchslosen Darstellung wird
dem Buche ebenso viele Leser zuführen, wie der interessante, zum größten Theil mit
erwiesener Sachkenntniß behandelte Stoff.
D
vember angesetzt; mit diesem Tage schließen die politischen Ferien, deren die
politische Welt Deutschlands sich dieses Mal nahezu fünf Monate lang er¬
freut hatte.
Die Constellation, unter welcher die preußische Volksvertretung ihre
Arbeiten wieder aufnimmt, ist von der der letzten Jahre wesentlich verschie¬
den. In der auswärtigen Politik herrscht, soweit dieselbe auf die inneren
Zustände Preußens einwirkt, Windstille. Durch die französischen Rechnungen
hat die spanische Revolution einen so dicken Querstrich gezogen, daß selbst
Herr v, Girardin gestehen mußte, es sei an eine Action gegen Deutschland
für längere Zeit nicht zu denken und das Sprichwort „Aufgeschoben ist nicht
ausgehoben" bilde den einzigen Trost der Kriegs- und Alarmpartei. Das
neuerdings wieder aufgetauchte Project eines französisch-belgisch-holländischen
Handels- und Allianeevertrages befindet sich — wenn es überhaupt in Wen¬
dung ist — in einem Stadium, das Befürchtungen vor Friedensstörung zu¬
nächst ausschließt; wenn Frankreich mit den Niederlanden den Anfang macht,
um Belgien moralisch zum Anschluß zu zwingen, so ist das ein ziemlich weit
aussehender Plan, da die bezügliche Pression aus die Generalstaaten Wochen
und Monate in Anspruch nehmen dürfte und trotz aller holländischen Anti¬
pathien gegen Preußen doch daran zu zweifeln wäre, daß die niederländische
Volksvertretung dem Wagestück einer directen Provocation des östlichen Nach-
barn überhaupt irgend welche materielle Opfer bringt. Oestreich ist durch seine
inneren Wirren so vollständig an Händen und Füßen gebunden, daß sein Ein¬
fluß auf Großdeutsche und Particularisten ebenso rasch abnimmt, wie Frank¬
reichs Hoffnung, Herrn v. Beust in der Aggression gegen Preußen mit fort¬
zureißen. Daran, daß preußischerseits Etwas geschehe, um Frankreich zu einer
definitiven Entschließung zu nöthigen, ist auch nicht entfernt zu denken; obgleich
die während des letzten Sommers unternommenen schüchternen Versuche, die
todtgeborene Südbundsidee zu elektrisiren, in ihren ersten Anfängen geschei-
tert sind, hat sich unser Verhältniß zum Süden seit dem Schluß des Zoll¬
parlaments um kein Haarbreit verändert. Die Trennung zwischen Nord-
uud Süddeutschland geht mehr und mehr in das Volksbewußtsein über und
jeder neue Tag, den sie erlebt, ist ein Bürge ihrer Dauerbarkeit. Wie weit
es mit dem idealen Einheitsbedürfniß der Nation her ist, das sich periodisch
in Schützen- und Turnerbanketten manifestirt, wissen alle verständigen Leute
seit lange. Die zwingenden Einigungsgründe, welche in der früheren wirth-
schaftlichen Zerrissenheit Deutschlands lagen, existiren nicht mehr und der
gegenwärtige Zustand kann, wenn nicht äußere Ereignisse störend eingreifen,
noch lange dauern. Die Geschichte des deutschen Bundes, der seinen eigenen
Stiftern für in jeder Beziehung unhaltbar galt, hat zu deutlich ausgewiesen,
daß den schwächsten und unvollkommensten Organismen oft das zäheste Leben
innewohne, als daß wir logische Argumente für die UnHaltbarkeit des Status Huo
irgend gelten lassen könnten. Ein Ende wird die Zerreißung Deutschlands aller¬
dings ein Mal nehmen, aber nur ein gewaltsames; an ihren „inneren Wider¬
sprüchen" gehen politische Einrichtungen nicht so leicht zu Grunde. — Für den
bevorstehenden preußischen Landtag wird die deutsche Frage um so weniger in
Betracht kommen, als innerhalb wie außerhalb Preußens keine Partei als
solche dabei interessirt ist, dem gegenwärtigen Zustand ein Ende zu machen;
die Fortschrittspartei nicht, weil sie dem Grafen Bismarck überhaupt keinen
Erfolg danken will, die nationale Partei nicht, weil, sie den Mangel an
organisatorischen Kräften zu bitter empfindet, um das Arbeitsmaß der¬
selben zu erhöhen, die Conservativen nicht, weil jeder Schritt weiter den
preußischen Premier in das liberale Lager führt. Für die Regierung selbst
ist natürlich die Rücksicht auf die äußeren Schwierigkeiten maßgebend und
Niemand kann ihr verargen, daß sie eine Pression durch das Volksbedürfniß
abwartet, ehe sie die Thüren des Janustempels öffnet.
So wird die auswärtige Politik keine Veranlassung haben, in den Ver¬
handlungen der nächsten preußischen Landtagssession mitzureden — min¬
destens ist ein fördernder Einfluß auf die Arbeiten unserer Volksvertretung
von derselben nicht zu erwarten. Die Kriegsmöglichkeit bleibt, was sie
gewesen, die dunkle Wolke die am Horizont schwebte und sichere Rechnungen
auf die Zukunft unmöglich machte.
Auf dem Gebiet des inneren Staatslebens zeigt sich die gleiche Regungs¬
losigkeit. In den annectirten Ländern und den verbündeten Territorien hat
der Einfluß legttimistischer Intriguen sichtlich abgenommen; wenn auch der
Kurfürst von Hessen einen g/wapneten Protest gegen die Ereignisse von 1866
erlassen hat, der Herzog von Nassau die Unverjährbarkeit seines Rechts aufs
Neue hervorgehoben hat und Georg V. auf einen „Ministerwechsel" denkt,
der die Ungeduld der treuen Hannoveraner beschwichtigen soll, so steht doch
fest, daß die legitimistischen Hoffnungen sich abgekühlt und daß die offenen
und geheimen Agenten der Expossedirten an Terrain verloren haben.
Grade der Wegfall dieser äußeren und nachweisbaren Hemmnisse einer
gesunden Entwicklung beweist aber, daß es noch vielfach an den positiven Be¬
dingungen zu einer solchen fehlt. Wir sind in ein neues Stadium getreten,
schneller als sich irgend hoffen ließ, ist es mit der Periode des offenen und ten¬
denziösen Widerstandes gegen die neugeschaffenen Verhältnisse auf die Neige
gegangen; grade darum steht zu fürchten, daß der Abschnitt, in dem wir
gegenwärtig stecken und der nicht minder unbehaglich ist, um so länger dauern
werde. Aente Krankheiten sind in der Politik wie in der Medicin leichter
und rascher zu überwinden, als chronische, habituell gewordene Leiden. Und
der Zustand der Apathie und stillen Verstimmung gegen das mit der neuen
Herrschaft identische System hat alle Aussicht ein habitueller zu werden. Wenn
man die gegenwärtige Stimmung in Hessen, Nassau, Hannover !c. tröstend
mit der vergleicht, in welcher die Rheinlande sich nach dem Jahre 1814
befanden, so scheint uns dieser Vergleich nicht besonders glücklich gewählt
zu sein. Ganz abgesehen davon, daß in den ehemaligen geistlichen Kurfürsten-
thümern von dynastischem Gefühl und eigentlichem Staatsbewußtsein nicht
die Rede sein konnte, war die Stellung der preußischen Regierung in jenen
Provinzen wesentlich dadurch erleichtert, daß dieselben gewisse liberale Einrich¬
tungen besaßen, welche in den alten Provinzen fehlten und den Bewohnern
des Rheingaus das schmeichelhafte Bewußtsein gaben, in mancher Rücksicht
vor den Alt-Preußen bevorzugt und von diesen verschieden zu sein. In den
gegenwärtig neu annectirten Provinzen fehlten diese Ableiter des provinziellen
Dünkels. Der Eintritt in den preußischen Staatsverband ist nicht nur noth¬
wendig mit einer Erhöhung der auf dem Volke ruhenden Lasten und Steuern
verbunden gewesen, er hat die Hessen und Nassauer zugleich in die peinliche
Lage versetzt sich an ein ministerielles Bevormundungs- und Einmischungs¬
system zu gewöhnen, das den alten Provinzen durch jahrelange Gewöhnung
erträglich geworden war. Wenn man den Gang der Dinge, wie er sich in
den letzten Monaten gestaltet hat, im Einzelnen nachgegangen ist, so möchte
man glauben, die Ministerien der innern Angelegenheiten und des Cultus
hätten sich das Wort gegeben, einander in der angenehmen Pflicht der Volks¬
verstimmung abzulösen. Kaum daß Graf Eulenburg mit der Nichtbestätigung
von Communalwahlen eingehalten hat, so^ läßt Herr von Muster sich an¬
gelegen sein, durch seine Reorganisation des nassauischen Schulwesens die
dünngesäten Freunde der nationalen Sache abzustoßen. Die Verwandlung
der meisten Schulen dieser Landschaft in konfessionelle und die absichtliche
Förderung clericaler Einflüsse auf das gesammte Schulwesen hat nach über¬
einstimmenden Zeugnissen aller Parteien mindestens ebenso ungünstig gewirkt
wie im vorigen Jahre das Verhalten des Regierungspräsidenten bei den
Wahlen zum Reichstage. Unwillkürlich müssen wir die Frage, die sich uns
schon früher aufgedrängt hatte, noch einmal wiederholen: mit welchem Recht
stößt man die alten und erprobten Freunde zurück, da man sich durch eine
ziemlich langjährige Erfahrung von der eigenen Unfähigkeit, neue Freunde
zu gewinnen, sattsam überzeugt haben muß? Was verschlägt es, müssen wir
weiter fragen, daß die Verhandlungen des hannoverschen Provinzialland-
tages zu relativ befriedigenden Resultaten geführt worden sind, wenn man
gleichzeitig einen wahren Sturm von Unwillen für die nächsten Provinzial-
versammlungenin den südwestlichen Ländern heraufbeschworen hat? Die Stim¬
mung, in welcher die Mehrzahl der neupreußischen Vertreter am 4. Novem¬
ber dieses Jahres nach Berlin kommen wird, dürfte der Regierung sehr viel
minder günstig sein als die des vorigen Jahres, wo die altpreußischen Glieder
der liberalen Parteien durch ihre neuen Kollegen wiederholt zu einem ent¬
gegenkommenden Verhalten gegen das Ministerium veranlaßt wurden. Die
Parole, daß dem herrschenden System Heuer schärfer zu Leibe gegangen werden
müsse, ist dieses Mal in den nationalliberalen Kreisen Hannovers, nicht wie
früher in Berlin oder Breslau ausgegeben worden.
In den alten Provinzen bedingt schon die Waffenbrüderschaft aus der
Zeit des Conflicts daß die nationale Partei der Demokratie näher gerückt
ist als in den Provinzen, wo die Gesinnungsgenossen sich lediglich nach ihrer
Stellung zu der nationalen Frage zusammengefunden haben. Wenn die Ver¬
suche zu einer Coalition der nationalen in der Fortschrittspartei auch dieses
Mal noch viel rascher und empfindlicher zu Boden gefallen sind, als im Som¬
mer des vorigen Jahres, so läßt sich doch absehen, daß die nationalen Ver¬
treter der alten Provinzen dem Ministerium noch reservirter entgegentreten
werden, als während der letzten Session. Was bis jetzt über die gegen¬
seitige Stellung zu der wichtigsten aller für die Tagesordnung bestimmten
Fragen, der nach den Bedingungen'eommunaler und provinzialer Selbstver¬
waltung, bekannt geworden ist, stimmt die Hoffnungen auf freundschaftliche
Verständigung ziemlich tief herab und Budgetdebatten haben noch nie und
nirgend zu einer Annäherung zwischen Regierung und Volksvertretung ge¬
führt. Dazu kommt, daß seit der monatelangen Entfernung des Grasen Bis-
marck von den Staatsgeschäften auch die weiteren Kreise, welche gewohnt sind
nach der äußeren Physiognomie der Dinge zu urtheilen, eine gewisse prickelnde
Ungeduld nach Zerstreuung der häßlichen Wolken zeigen, welche den Him¬
mel des inneren Staatslebens verhängen.
So erscheinen die Conjuncturen, unter denen sich der Beginn des heu¬
rigen politischen Winterfeldzugs vollzieht, als durchweg unerquickliche. Er¬
schütterungen und Conflicte ernsterer Natur sind nicht zu befürchten; aber es
fehlt auch Alles, was zu freudiger Inangriffnahme der neuen Arbeit reizen
und ermuthigen, was die Erreichung des ersehnten Hafens versprechen könnte.
Die im Jahre 1866 geschaffenen Zustände als Definitiv« anzusehen, haben
wir uns noch nicht gewöhnen können, und die Spannkraft, welche uns
helfen sollte, den Sprung über den Main zu wagen, ist doch nicht mehr vor¬
handen. Der eigenthümliche Vorzug deutscher Art ist aber zu allen Zeiten
gewesen, auch ohne starke und begeisternde Impulse in der continuirlichen
Arbeit nicht zu erlahmen und bei lichtlosen Himmel ebenso unerschütterlich
auf dem Posten auszuharren, wie bei strahlendem Sonnenschein und dadurch
auszugleichen, was ihr an Naschheit des Entschlusses und praktischem Geschick
in der entscheidenden Stunde abgeht. Diesen'Vorzug auch unter den gegen¬
wärtigen Conjuncturen zu bethätigen, wird vor Allem Sache der nationalen
Partei sein. Unbeirrt durch alle Mißgriffe der Leiter des Staatsschiffes hat
sie dem Curse treu zu bleiben, den sie seit dem Herbst 1866 eingeschlagen hat.
Grade weil es unserer Partei nicht beschieden war, die entscheidende Wendung
zu dem angestrebten Ziel von sich aus zu bewirken, darf sie sich den Ruhm
nicht entgehen lassen, auf der letzten, ermüdenden Strecke an Ausdauer und
Treue alle übrigen Parteien übertroffen und die Stationen, an denen Halt
zu machen war, nur nach ihrer Entfernung vom Hafen beurtheilt und be¬
handelt zu haben.
Die letzten Ereignisse in Böhmen haben die allgemeine Aufmerksamkeit
wieder auf Prag und die große Landschaft gelenkt, wo drei Millionen Slaven
unter zwei Millionen Deutschen wohnen. Die slavische Partei, welche sich
jetzt die böhmische nennt, während sie noch vor wenig Jahren den Namen
der czechischen beanspruchte, steht unter den sogenannten nationalen Fractio-
rien Europas am ungünstigsten. Es ist ihr nicht gelungen, irgendwo im
Auslande Sympathien zu finden, sogar die russischen Journale, welche sich
den Verbrüderungseifer der Czechen aus Eitelkeit und Politik gern gefallen
lassen, vermögen nicht immer ihre Geringschätzung zu verbergen; im gebildeten
Europa ist das Groteske, Unwahre und Phrasenhafte der gesammten czechischen
Agitation allzu auffällig geworden, sogar die meisten französischen Journale
und die europäische Demokratie, beide nicht wählerisch in ihren Bundesgenossen,
betrachten das Gebahren der böhmischen Slavophilen mit Kälte und Ironie,
In Wahrheit ist in keinem Lande der Versuch, eine Nationalität neu zu be¬
leben, so sehr mit dem Fluch der Lächerlichkeit behaftet gewesen. Bereits in
der Zeit, wo die Agitation einen vorwiegend literarischen Charakter hatte,
wurden die Alterthümler des Landes der Wissenschaft durch wiederholte Fäl¬
schungen lästig, welche die altczechische Literatur vervollständigen sollten. Der
czechischen Jugend mußte ein deutscher Schneider in Prag das National-
costüm erfinden; ungeschickt wurde aus andern Slavensprachen der heimische
Wortschatz ergänzt, zuweilen von Solchen, welche selbst der czechischen Sprache
nicht vollkommen mächtig waren; ohne Wahl wurde zu nationalen Demon¬
strationen benutzt, was sich irgend darbot: der heilige Wenzel und Huß,
Ziska und Libussa, die katholische Kirche und das Theater, die böhmische
Krone und die Taboriten. Das Gebahren der Agitationen war ein Ge¬
misch von Trotz und Schwäche, den Pöbel des Landes und der Stadt zu
Straßencrawallen aufregen und Deutsche insultiren, schien zuweilen der ein¬
zige Zweck; dazu kam ein würdeloses Anlehnen an andere Slavenvölker von
größerer Kraft, heute an die Serben, morgen an die Russen, und ebenso
an andere politische Parteien, an die östreichische Reaction und an die Ul¬
tramontanen. Die größten nationalen Acte waren theatralisch arrangirte
Feste, bei denen kleinstädtische Selbstgefälligkeit und ein geschmackloser
Aufwand von Phrasen auch die löbliche Veranlassung verunstaltete. Und
diese Agitation wurde um so peinlicher, da ihr letzter Grund nicht vernünf¬
tige nationale Forderungen, sondern Widerwille gegen die deutschen Lands¬
leute war, welche sich im Besitz der Intelligenz und des Capitals befanden, zuwei¬
len freilich auch Haß gegen den Bureaukratismus der Regierung. Aber auch
der reale Hintergrund des czechischen Nationalismus, soweit ein solcher über¬
haupt hinter dem Lärm der Volksversammlungen und der kleinen Zeitungen
zu finden ist, widerspricht nicht nur den Lebensinteressen des östreichischen
Staates und in zweiter Linie denen der deutschen Nation, sondern ebenso sehr
dem Vortheil des gesammten civilisirten Europas. Denn wenn den Czechen
gelänge, was unmöglich ist, das Deutschthum aus Böhmen, Mähren und
Oestreichisch-Schlesien zu tilgen und dort einen neuen Chrobatenstaat auf den
Trümmern deutscher Cultur zu gründen, so wäre das ein Culturschaden für
ganz Europa und ein Rückfall in barbarische Zustände, welchen das gemein¬
same Interesse Aller verbietet. Es wäre gleichbedeutend mit einem Fort¬
schritt Rußlands bis an den Main, und weder wir Deutschen noch irgend
eine der Westmächte könnte für diese Verminderung des europäischen Wohl- '
Standes und der Bildung sich dadurch entschädigt fühlen, daß die Czechen
selbst in der kläglichsten Weise von ihren stammverwandten Freunden unter¬
drückt und mit Sibirien zu einem Staatskörper vereinigt werden würden.
Bevor hier über die neusten Vorgänge in Böhmen die jedem Deutschen
naheliegende Betrachtung folgt, wird der Brief eines langjährigen Corre-
spondenten d. Bl. mitgetheilt, welcher uns genau die Stimmung der Deut¬
schen in Böhmen auszudrücken scheint.
Endlich hat der ezechische Leu für seine Tücken eins auf die Pfoten be¬
kommen. Mit andern Worten, die Regierung hat sich gezwungen gesehen,
das Vereins- und Versammlungsrecht nebst einigen anderen Rechten in Prag
zu suspendiren, und Feldmarschall-Lieutenant v. Kollar, seinem Rufe nach ein
zweiter Windischgrätz, thront als Statthalter in der böhmischen Hauptstadt.
Den unmittelbaren Anlaß zu diesen Maßregeln gaben die letzten czechi-
schen Auftritte in Prag. Am 4. Oct. wurde der Versuch gemacht, ein gesetzwidri¬
ges Meeting vor den Thoren zu veranstalten. Vor dem Veto, welches drei
Bataillone Infanterie und eine Schwadron Husaren einlegten, stob die un¬
geheure Volksmasse zwar auseinander, aber sie strömte in das Innere der
Stadt, zerstörte hier die Wohnung eines deutschen Redacteurs und zerschmet¬
terte die Fensterscheiben verschiedener mißliebiger Institute, wie z. B. des
deutschen Castnos, wo ein faustgroßer Kieselstein einen langsam flüchtenden
alten Herrn glücklich am Schädel traf. Die städtische Polizei steht unter dem
von der Gemeinde erwählten Bürgermeister; und da Dr. Claudi, der gegen¬
wärtige Lord-Mayor, ein gewitzigter Mann ist, der wegen einer Anwandlung
von Unparteilichkeit schon einmal in Gefahr schwebte zu täglicher Katzenmusik
und lebenslänglicher UnPopularität verurtheilt zu werden, so sah die Polizei
zu und lächelte. Die Bewegung hatte somit einen nach ezechischen Begriffen
glänzenden Triumph errungen, und den Führern schwoll der Kamm. Sie
forderten ihren Troß zu neuen Meetings desselben Charakters auf, und diesen
Plänen ist von Wien aus ein militärischer Riegel vorgeschoben worden.
Die Wurzel des Uebels liegt darin, daß die ezechische, besser die czechoma-
nische Logik andere Gesetze hat als die deutsche. Es gibt ezechische Begriffe,
die man außerhalb Czechiens kaum für möglich hält. Wenn Einer aber mit
den Patrioten auf dem Lande einigemal politisire, so wird er bald belehrt.
„Wenn's hätten kein Militär geschickt" sagte Czapka, der Instrumenten-
macher, „wär' kein Scandal gewesen." Verzeihung, Herr Czapka, gab es
keinen Scandal in China, keinen in Hochstadt, keinen in Kosteletz und bei
andern Massenmeetings in diesem Sommer? Da erschien überall anstatt des
Militärs ein einzelner wehrloser Beamter, der den Leuten gütlich erklärte,
daß und warum die Versammlung gesetzwidrig sei. Was war die Folge?
Der Bezirksvorsteher, Herr Smolarz, wurde von dem Kaufmann Labskt von
hinten angefallen und mit der Faust niedergeschlagen. Labski spazierte ins
Gefängniß, wird aber von Vielen als- Märtyrer angesehen. „Smolarz war
Spion, abscheulicher" hörte ich von einem czechischen Patrioten; „wär' ihm
recht geschehen, zu werden aufgehenkt. Warum kommt er hin, wenn Mee¬
ting is verboten?" Bei dem halb aus Amazonen bestehenden Meeting bei
Hochstadt entging der Secretär Froreich dem Tode mit genauer Noth. Daß
er durch Steinwürfe halb todt geschlagen wurde, ist bekannt. Nennen Sie
das nicht Scandal? — „Ja, aber wozu Beamte schicken?" entgegnete der
Instrumentenmacher. „Je mehr sie verbieten Meetings, desto mehr werden
sein." —
Wir bekehren Czapka und Genossen nicht, denn er findet es auch furcht¬
bar despotisch von der Regierung, daß sie Leben und Eigenthum in Prag
durch schnöde Gewalt zu schützen sucht. Wenn es sich um ein Meeting (oder
wie sie hier sagen Meting) handelt, verstehen die Czechen keinen Spaß.
Die Volksversammlung unter freiem Himmel ist ihnen zur Leidenschaft ge¬
worden, und das hat seinen guten Grund. Vom Landtage und vom Reichs¬
tage in Wien wollen sie nichts wissen; sie mögen dort nicht mehr mitspielen,
weil sie nicht jedesmal gewinnen. Aus dem Umstände, daß in Böhmen
3,000,000 Czechen und nur 2,000,000 Deutsche Hausen, folgt nach czechisch-
demokratischer Logik der Schluß, daß, wenn eine Erörterung oder Berathung nicht
eine Mehrheit von 3 czechischen Stimmen gegen 2 deutsche ergibt, die Ge¬
schäftsordnung, das Wahlgesetz, die ganze Verfassung falscher Schein und
gröbliches Unrecht ist. Ueberhaupt bilden ja die Slaven die überwiegende
Kopfzahl in Oestreich, und daß drei slovakische Topfbinder auf der politischen
Wage schwerer wiegen, als zwei deutsche Fabrikanten, Gutsbesitzer oder Ge¬
lehrte, ist so klar wie das Einmaleins. Aber beim Massenmeeting unter freiem
Himmel sind die Czechen ihrer Majorität gewiß, daher hat man, so sagen sie,
perfider Weise die Benutzung des Versammlungsrechts an unerhörte Be¬
dingungen geknüpft. Drei Tage vor der Versammlung soll der Zweck der¬
selben nebst den darin zu stellenden Anträgen der Behörde angezeigt werden:
Volksversammlungen unter freiem Himmel sollen sogar einer vorherigen amt¬
lichen Genehmigung bedürfen. Es versteht sich, daß die Czechen, da sie keine
Schlafmützen sind wie die Deutschen, über solche Netze und Fallgruben mit
genialer Leichtigkeit hinwegspringen. Zuweilen wird kein Zweck angezeigt
und nach keiner Erlaubniß gefragt. Ein andermal heißt es: Unser Zweck ist,
uns mit vaterländischen Dingen zu beschäftigen, Näheres ist noch nicht an¬
zugeben, denn die Redner werden aus dem Stegreif sprechen. An einem
Freitag zeigte der Narodni Pokrok ein Massenmeeting auf den kommenden
Sonntag an, mit dem Beisatz, daß über die zu beantragenden Beschlüsse
„schon" fleißig berathen werde. Sind dann die Tausende versammelt, so
donnern die Stegreifredner gegen den deutschen Trug und Druck, zeigen, daß
die wiener Minister Erzfeinde der slavischen Sache, oder daß die Fabriken
der Deutschen und Juden in Prag „Mördergruben" seien. Unterhaltungen
dieser Art pflegen in jedem Klima das Blut gewöhnlicher Leute in Wallung
zu setzen, und selbst in Czechien scheinen Sanftmuth und Weisheit in der
niederen Volksschicht nicht vorherrschend zu sein. Es tauchen von da unten
Gesichter auf, in denen bei viel jesuitischer Kniffigkeit zuweilen auch ein Zug
hussitischer Grimmigkeit lauert. Und in Bezug auf seine Kopfzahl ist der
czechische Pöbel nicht gering zu schätzen. „Jede Bevölkerung hat einen mehr
oder minder dicken Bodensatz" bemerkt ein prager Doctor und Statistiker,
„ist mehr oder minder pöbelhaltig. Wir, z. B., sind 7^/2 bis 9 Percent
pöbelhaltiger als Wien." In wie weit die abschreckenden Eigenschaften dieses
Elements durch die weltbekannte „slavische Weichheit" gemildert werden, ver¬
mag ich nicht genau zu berechnen. Sie trägt vielleicht dazu bei, daß der
durch ein Massenmeeting angefachte nationale Zorn in lauten Jubel über¬
geht, sobald ihm einige kleine Opfer gebracht sind, Hat man aus dem Steg¬
reif einige Hüte eingetrieben, einen Deutschen oder Juden durchgeprügelt,
oder einen Beamten ein Bischen gelyncht, so läuft man vergnügt auseinander
und gibt sich der Hoffnung auf künftige immer größere Erfolge hin. Diese
Nationalvergnügungen werden nun, da der Winter eines gelinden Belage¬
rungszustandes über Prag hängt, jedenfalls in der Hauptstadt und vielleicht
auch auf dem Lande ins Stocken gerathen.
„Ein schönes Loch hat die Verfassung" höhnen jetzt die Patrioten, wenn
sie von der über Prag verhängten Tyrannei reden. Wer das Loch gemacht
hat, ist keine Frage die ihnen in den Sinn kommt. Sie haben ihrem Volke
bewiesen, daß die Verfassung ein Gaukelwerk oder nur für die Deutschen
gegeben ist. Mit einer Hand — sagen sie — bietet man uns das Ver-
fassungsrecht, mit der andern nimmt man es zurück. Den Deutschen gestattet
man, was uns, blos weil wir Slaven sind, streng untersagt wird. Werden
Sie es glauben, daß selbst wohlhabende und von Hause aus ruhige czechische
Bürger sich in dieser Weise äußern? Ich habe Wochen lang mit Männern
dieser Klasse verkehrt, aber mit keiner Silbe verriethen sie eine Ahnung da¬
von, daß das Versammlungsrecht an gesetzliche Bedingungen geknüpft ist,
oder daß es selbst in den freiesten Ländern, wie England und Amerika,
gewissen Beschränkungen unterliegt. Wer sich nicht den Wortlaut der neuen
Gesetze verschafft — eine Gewohnheit die nichts weniger als allgemein ist,
hat wenig Aussicht die Wahrheit zu erfahren. Der Stockczeche glaubt nur
was er in seinen eigenen Organen, Narodni Lisei, Novini, Pokrok u. s. w.
schwarz auf weiß sieht. Verweise man ihn auf die „Bohemia", die wiener
„Presse", auf die Prager Zeitung oder ein anderes nichtslavisches Organ,
so antwortet er regelmäßig: „lo jeht (das ist) Schandblatt". Es gibt auch
deutsch geschriebene Organe des Czechenthums, wie die in Wien erscheinende
„Zukunft" und die prager .Korrespondenz" (früher „Politik" betitelt). Sie
sind auf jenes große zwieschlächtige Publieum berechnet, das der Sprache
nach mehr deutsch als slavisch, der Gesinnung nach aber slavisch und föde¬
ralistisch ist. Sie sind mit Geschick und Hinterlist redigirt und für die Tak¬
tik der Czechomanen sehr charakteristisch. Sie gleichen dem höflichen Dol¬
metscher von dem ein englischer Reisender erzählt. Wenn der Pascha dem
Dolmetsch befahl: „Sage dem verfluchten Franken, daß ich ihn spießen lassen
könnte, aber ihm diesmal noch das Leben schenke", so lautet das in der
Uebersetzung: „Der Pascha liebt dich wie seinen leiblichen Sohn." Und
wenn die Narodni Lisei meint, daß die Czechen allein in Böhmen zu herrschen
und die deutschen Schmarotzer hinauszuwerfen berechtigt seien, so erklärt das
die „Korrespondenz" mit den Worten, daß der Slave in Böhmen nichts sehn¬
licher wünsche, als mit seinem deutschen Landsmann sich zu verbrüdern."
Das Czechenthum erscheint in diesem Organ immer als Opferlamm. Haben
irgendwo ein paar Jünglinge auf deutsche Weiber und Kinder zur Uebung
mit Steinen geworfen, so schweigt die Korrespondenz so lange, bis der Vor¬
fall in einem deutschen Blatte erwähnt wird, und dann seufzt sie: „Zwei
Böhmen gerathen in Streit, und gleich macht man zwei verschiedene Natio¬
nalitäten aus ihnen und will sie mit einander verfeinden." Jeden Deutschen
der sich über eine Unbill beschwert beschuldigt sie daß er setze. Von Einfluß
ist dieses Blatt auf die Haltlosen und Schwankenden unter den Deutschen,
die, ohne einer slavischen Sprache kundig zu sein, sich über die Vorgänge im
gegnerischen Lager zu orientiren wünschen und oft so schön hinters Licht
geführt werden, daß sie die journalistischen Vertreter ihrer eigenen Sache
Störenfriede, Hitzköpfe u. s. w. schelten.
In den deutsch wie in den czechisch geschriebenen Czechenorganen ist das
Verbot jedes gesetzwidrigen Meetings als Willkür und Slavenhaß dargestellt
worden. Welchen Zweck die Agitatoren dabei im Auge hatten, ist leicht zu
errathen. Der demokratische Theil der Regierungsfeinde scheint wirklich dem
Wahn zu huldigen, daß die Slovenen, Ruthenen, Mähren und Slovaken
bestimmt seien im Bunde mit den Czechen dereinst Oestreich slavisch zu
machen oder mit Hülfe Rußlands es aus den Angeln zu heben, und daß
Czechien diesem Bunde durch Groll und Mißvergnügen am sichersten ent¬
gegenreifen werde. Wollen die Thuns und Clam-Martinttze und die ultra¬
montanen Bischöfe dasselbe? Schwerlich, aber mitverantwortlich sind sie für
allen Unfug, den ihre demokratischen Alliirten stiften, so wie die komödian¬
tischen modernen Hussiten an der Frechheit ihrer pfäffischen Gönner mit Schuld
sind. Hussiten, Demokraten, Pfaffen und Großjunker bilden hier zusammen
einen häßlichen Knäuel schwindelhafter Ränke. Oft genug haben ja die
Organe der national-czechischen Partei erklärt, daß zwischen Alt- und Jung-
czechen, zwischen Rieger und Gregr. Palacky und Sladkowski nie eine Spal¬
tung gewesen sei, sondern unzerstörbare Solidarität herrsche. Die reac-
tionären Adeligen und Prälaten liefern, so meint man, den norvus rerum zur
Nährung der Agitation. Eine kleine anarchische Episode als Beweis für die
Lebensunfähigkeit der Verfassung wäre diesen Herrn ohne Zweifel willkommen.
Aber die letzten prager Geschichten verdienen kaum den Namen eines Sprüh¬
teufels. Der Maulwurf muß tiefer wühlen. Vor der Hand scheint kein
bedeutsamer und entscheidender Ausbruch zu erwarten. Der großmäulige
czechische Leu wird dem Stock und Säbel von Koller's gehorchen wie der
Pudel; für die Stimme der Vernunft und Mäßigung aber hat er ein
Trommelfell von Rindsleber.
Die kaiserlichen Regierungsmaßregeln hat der Reichsrath zu legalisiren;
über die Opportunist derselben war man dem Vernehmen nach vor dem
Erlaß im Ministerrath selbst nicht einer Meinung. Uns scheint, daß man
den rohen und trotzigen Unarten nur dann länger Spielraum gestatten durfte,
wenn man die Absicht hatte, dieselben zu radicalen Maßregeln gegen das
ganze czechische Unwesen zu benutzen. Für ein solches Einschreiten ist die Mit¬
wirkung des Reichsraths, ja für einzelne Fälle seine Initiative durchaus nothwen¬
dig. Zwar ist das gesammte Treiben der Czechen von ihrem literarischen Agi¬
tationsmittel bis zu der Wallfahrt nach Moskau und Costnitz und den Massen¬
versammlungen zur Zeit mehr grotesk, als staatsgefährlich. Dennoch ist die
ganze Angelegenheit für Oestreich von furchtbarem Ernst. Denn seit die Zwei¬
theiligkeit des großen Staatskörpers gesetzlich festgestellt ist, sind dem Staats¬
mann und dem Patrioten Oestreichs große Gefahren beseitigt, aber auch
neue geschaffen. Soll der Kaiserstaat in dieser Zweitheiligkeit der Ver¬
waltung gedeihen, so ist dies nur dann möglich, wenn diesseit der Leitha
die Herrschaft deutscher Cultur fest behauptet und, wo sie verloren ist, rück¬
sichtslos wieder eingeführt wird. Die Magyaren sollen da, wo sie als
Herren sitzen, ihre gesetzlichen Rechte unversehrt gebrauchen; sie sind durch die
stärksten Bande mit dem deutschen Oestreich verknüpft, jeder materielle Fort¬
schritt, ja ihr Bestand als Volk hängen an dieser Verbrüderung, es gibt
für sie in der That keine Wahl, als in einem fremden slavischen Volksthum
aufgehen, oder als Bundesgenossen mannhaft zu Deutschland halten. Was
aber diesseits der Leitha auf deutschem Boden liegt, muß deutsch sein, im.
Interesse des Gesammtstaates, wie der Völker diesseit und jenseit der Leitha.
Es gibt, seitdem ein ungarisches Ministerium besteht, für Oestreich keine Wahl
mehr, keine Transaction mit einer dritten, vierten, fünften Völkerschaft.
Der Kaiserstaat ist erkrankt, ja er schien in einem Menschenalter zweimal
seiner Auflösung nahe, weil sich fast in allen Landschaften unter einem geist¬
losen und trotz tyrannischer Bevormundung doch schwachen Regiment die un¬
zufriedenen Stämme einen localen Patriotismus suchten. Ueberall ist das
Deutschthum zurückgewichen, selbst in der Vertheidigung machtlos, im Littoral, in
Welschtirol, in Kärnthen und Krain, in Böhmen, in Mähren. Das war lange
eine Unehre für die Deutschöstreicher, dann wurde es die größte Gefahr für den
Staat. Bitter hat sich gerächt, daß der große Staat durch fast 60 Jahre
den Interessen eines ultramontanen Clerus und einer- reactionären Aristo¬
kratie diente. Noch ist es Zeit, den Fortschritten feindseliger Volkswünsche
und staatsvernichtender politischer Forderungen da zu steuern, wo dies
Fremde mit den letzten Lebensbedingungen des Kaiserstaats in Widerspruch
tritt. Nirgend aber ist dieser Widerspruch auffälliger geworden, als in Böhmen.
Was die Czechen während und nach jener berüchtigten Reise nach Ru߬
land getrieben haben, war schlechtverhüllter Landesverrat!). Denn mit scham¬
loser Offenheit ist die Tendenz hervorgetreten, sich dem russischen Staat an¬
zuschließen; die Russen selbst mußten gegen diese Zumuthung protestiren.
Und dies Unrecht wird nicht besser dadurch, daß die czechischen Führer sich
über das gesetzliche Unrecht und die Illoyalität ihres Thuns nicht klar
waren. Die Ehrfurcht vor der Idee des Staates ist in ganz Oestreich sehr
verringert; es ist Zeit, daß die Regierung das Ihre thut, sie den Völkern
wiederzugeben. Allerdings vermögen Ausnahmsgesetze und Belagerungszu¬
stand dies nicht zu bewirken; man kann dadurch im besten Fall auf einige
Zeit ein Symptom beginnender Zersetzung des Staatsorganismus beseitigen,'
nicht das Uebel selbst. Und die liberalen Stimmen aus Wien haben ganz
Recht, wenn sie auszuführen suchen, daß nur auf freisin niger Grundlage
durch Beschränkung der Priestermacht, durch Hebung des Volksunterrichts
und durch sorgfältige Pflege der realen Interessen Bildung, Wohlstand.
Kraftgefühl des Volkes gesteigert werden können. Wenn aber der Deutsch-
östreicher hofft, daß man durch sein Verfasfungsschema und durch Gesetzgebung
allein oder vorzugsweise das eingewurzelte Uebel bändigen und die Czechen
allmählich von ihrem Separatismus zur Hingabe an den Staat führen
werde, so ist auch er in einem verhängnißvollen Irrthum. Es ist eine acute
Krankheit und energische Gegenmittel sind erforderlich, um der Ausbreitung
des Uebels zu steuern. Die Gewaltherrschaft des Baron Koller ist wahr¬
scheinlich nöthig, um im Augenblick den bubenhaften Trotz zu bändigen, und
es ist schlimm genug, daß sie nöthig geworden ist. Um aber die Czechenkrankheit
zu heilen bedarf es vor Allem der Wiedereinsetzung des Deutschthums in
seinen früheren Stand auf den Gebieten, wo der Staat das Recht hat, an¬
zuordnen. Es fällt uns nicht ein den Czechen ihre Sprache und Volkssitte
zu rauben. Ein solcher Versuch wäre nicht deutsch, sondern russisch, er würde
eine höchst berechtigte Empfindung des Volkes kränken, und deshalb wäre
auch der Erfolg zweifelhaft. Volksschule und Gottesdienst sollen die czechische
Sprache behalten, wo dieselbe altheimisch ist, und die Negierung soll für
tüchtige Volkslehrer sorgen; der nationalen Poesie und den gelehrten Arbeiten
der Czechen soll die Theilnahme und Förderung werden, welche jede ernste
wissenschaftliche Thätigkeit vom Staate beanspruchen darf; im Uebrigen aber
muß die Wahrheit zur Geltung kommen, daß das czechische Landvolk und
der Kleinbürger seit Jahrhunderten unter der Herrschaft deutscher Bildung
stehen, daß der große Grundbesitz, der Großhandel, Fabriken, Beamtenthum
Alles, was Industrie und Geist im Leben unserer Zeit verbindet, seit
Jahrhunder tenir Böhmen deutsch sind, außer dem ein großer Theil des Volkes
selbst. Alle höheren Unterrichtsanstalten, wie sie auch heißen mögen, welche
der Staat direct oder indirect leitet, müssen wieder werden, was sie noch
vor kurzem waren, Anstalten, welche in deutscher Sprache lehren. Die czechi-
schen Gymnasien, höheren Real- und Gewerbeschulen sind sofort zu schließen
und neue zu organisiren. Auch in den Schullehrerseminarien muß die
deutsche Sprache diejenige sein, in welcher die Lehrer gebildet werden. Selbst¬
verständlich in jedem Universttätsvortrag. Diese Maßregel hat die beste innere
Berechtigung, denn der östreichische Staat kämpft durch sie ebenso sehr für
moderne Cultur gegen eine bösartige Barbarei, wie im Gegensatz Rußland
durch eine Russificirung der Ostseeprovinzen einen niedrigeren Culturzustand
an die Stelle eines höher entwickelten Volksthums zu setzen bemüht ist.
Diese Erziehungsmaßregel, in Böhmen fest und consequent durchgeführt,
wird ausreichen, um in zwei Generationen den ganzen wüsten Traum eines
politischen Czechenthums zu beseitigen. Wird diese Maßregel nicht durch¬
geführt, so frißt die Krankheit zerstörend weiter. Man sehe z. B. auf die
beiden wissenschaftlichen Institute in Königgrätz, dem Orte, aus welchem
unser Correspondent seine Briefe datirt. Dort ist bei den Knaben, welche
in der nächsten Generation als Geistliche, Lehrer, Aerzte die Vertreter
der Cultur in kleinen Kreisen des Volkes sein sollen, bereits der beste
Stolz, nickt deutsch zu sprechen. In einer kaiserlichen Festung, unter einer
zum großen Theil deutschen Bevölkerung, ist der Idealismus der jungen
Generation in den weitläufigen Lehranstalten, slavisch und russisch zu sein,
und diese Gesinnungstüchtigkeit wird ihnen die theuerste geistige Habe, welche
sie für das Leben mitbringen, in ein Leben, welches wahrscheinlich zu Halb¬
heit und Unheil bestimmt ist, denn ihre wissenschaftliche Bildung wird ebenso
dürftig, als ihre Ansprüche ungemessen. Dort und auf anderen Bildungsanstalten
der Czechen werden jetzt tausende von czechischen Agitatoren erzogen, welche
in der Zukunft die Stellung Böhmens zum Kaiserstaat zu bestimmen haben.
Die Toleranz der kaiserlichen Negierung gegen dergleichen Entfremdung ihrer
Staatsbürger gleicht der Sorglosigkeit eines Landmanns, der seine Kinder
mit Streichhölzern um das Dach seiner Scheuer spielen läßt. Aber nicht
die Regierung allein, auch die Deutschen des Reichstages und der Presse
laden schwere Schuld auf sich, wenn sie in dieser Frage säumig sind; ihre
Aufgabe ist es, die Regierung, soweit für diese pädagogische Aenderung Acte
der Gesetzgebung nöthig sind, zu unterstützen und die Agitation dafür zu be¬
treiben. Es gibt große Culturinteressen, vor denen eine Regierung den Wider¬
spruch einzelner Landschaften, den aufbrennenden Haß der Verletzten und die
politische Verantwortung ungern auf sich nimmt, und in Oestreich ist diese
Scheu jetzt aus vielen Gründen besonders fühlbar. Um so mehr ist es
Pflicht der deutschen Bevölkerung, der Regierung beizustehen. Für den öst¬
reichischen Kaiserstaat steht aber die Sache so. Noch ist die ezechische Frage
ein Strohfeuer, welches in ungeschickten Händen hin und her flackert. Tilge
man diese Flamme nicht, so wird sie in der nächsten Generation ein Brand,
der Gedeihen und Bestand des Staates in Frage stellt. Und dann wird der
deutsche Norden um seiner Selbsterhaltung willen das Schadenfeuer zu löschen
haben. Unter uns ist nirgend Hoffnung und Wunsch auf solche Arbeit; aber
die Oestreicher können der wärmsten Sympathie und jeder Förderung durch
Deutschland sicher sein, wenn sie ernsthaft das Ihre thun, von der Zukunft
ihres Staates eine große Gefahr abzuwehren.
Am Morgen des Is. December wurde ich, wie bereits erwähnt, verhaftet.
Der Regimentsadjutant war nach mir gesandt worden; mit ihm su'hr ich
nach kurzem Abschied von meiner Frau (ich war erst acht Monate lang
verheirathet) zum Regimentscommandeur, wo ich alle Offiziere unseres
Regiments versammelt fand. Der General fragte: „Wer von Ihnen, meine
Herren, wünscht den verhafteten Baron R. zum Commandanten zu geleiten?"
Niemand erbot sich dazu. Hieraus wandte der General sich zum Dejour-
offizier Capitän D. A. Tulubjew und befahl ihm, mich in seinem Wagen in
die Kommandantur zu geleiten. In der Canzlei des Commandanten nahm
man mir den Degen ab und führte mich auf die im Winterpalais befindliche
Hauptwache, wo ein Bataillon unseres Regiments die Wachehielt. Ich bat
den Obrist Moller um die Erlaubniß, meiner Frau einige Zeilen schreiben zu
dürfen; der Obrist war verlegen und sagte mir offen, daß ihm das unmöglich
sei; wenn ich aber mündlich Etwas zu sagen hätte, würde er es sogleich
meiner Frau mittheilen lassen, was auch geschah. Man führte mich in das
Zimmer der wachehabenden Offiziers. In einem Winkel, der von der
übrigen Stube durch einen langen Tisch getrennt war, schlief ein arretirter
Generalstabsoffizier, K. V. Tschevkin; er wurde geweckt und abgeführt, sein
Platz mir angewiesen. Die Wache wurde abgelöst, es trat der Commandant
Baschuzky ein und erkundigte sich nach den Arrestanten.
Darauf führte man mich in das Vorzimmer der Wachtstube hinter einen
Verschlag mit Glasthüre, wo ich blieb; von diesem Platz aus konnte ich sehen
wie Soldaten vom Preobraschensky'schen Regiment Bestushew umringten,
der sich selbst freiwillig gestellt hatte. Er war festlich wie zum Ball gekleidet
und als das ihm zugegebene Geleit fortmarschiren wollte, commandirte er
selbst Vorwärts! und schritt mit der Mannschaft im Takt. — Nach einer
halben Stunde führte man ebenso I. I. Puschtschin ab. Als er von zwölf
Soldaten umringt dastand, stürzte ein junger Offizier in die Mitte, um den
Arretirten zu-umarmen — es war S. P. Galachow, Adjutant im Leib¬
grenadierregiment.
Es war schon elf Uhr Abends. Wieder erschien ein Geleit von zehn
Soldaten, man sah noch keinen Arrestanten. Hierauf trat der dienstthuende
Stabsoffizier Obrist Mikulin zu mir ein, um mich und den Capitän Repin,
den man mir kurz vorher zugesellt hatte, zu untersuchen, ob wir vielleicht ver¬
steckte Waffen bei uns hätten, und uns sodann anzuzeigen, daß er Befehl habe,
uns zum Kaiser zu führen. Wir wurden von Soldaten umringt und stiegen
mehrere Treppen hinauf; während dessen fühlte ich, daß Jemand an den
Schößen oder der Hintertasche meiner Uniform zupfte — es war der Obrist
Mikulin, der mir ein Blättchen Papier herausgenommen hatte. Im Vor¬
zimmer des Kaisers angelangt, durch welches unaufhörlich General- und
Flügeladjutanten streiften, fragte mich der Obrist, von wem das Billet ge¬
schrieben sei, das er bei mir gefunden; ich verlangte es zu sehen und ant¬
wortete, es sei von meiner Frau. Nach dem Aufhören der gestrigen Kano»
made hatte ich Repin gebeten, meine Frau zu beruhigen; zwei Stunden
später schickte ich einen Soldaten zu ihr, der mir ein Billet mit den Worten:
„Lois tranguille, mon awi, vieu ins soutiemt, in6nahe-de>i" brachte. Mikulin
entgegnete mir, daß das unmöglich sei, oder daß meine Frau kein Französisch
verstehe; es sei offenbar, daß nicht ein Frauenzimmer einem Mann, sondern
umgekehrt ein Mann einem Frauenzimmer geschrieben habe. „Wie kann man
im männlichen Geschlecht das Wort er-unzuille mit zwei 1 und c schreiben?"
wiederholte der Obrist immer wieder, ohne im Geringsten darauf zu achten
daß mir, der zum Verhör vor den Kaiser geführt werden sollte, die Be¬
schäftigung mit grammatiealischen Minutien unerträglich sein mußte. Zu
meinem Glück kam der Adjutant des Kaisers V. A. Browsky und unterbrach
den unangenehmen Wortstreit, indem er dem gelehrten Obrist bemerkte:
„LlöWW äono, woll eluzr, vous äitos ävs dLtisv8." — Aus dem Cabinet des
Kaisers trat der Fürst I. V. Wasiltschikow in Thränen, ihm folgte A. I.
Neithardt, Chef des Stabes; meinen Gruß erwiederten sie höflich und wischten
sich die Augen. Dann erschien ein Flügeladjutant mit der Anzeige, daß der
Kaiser nicht mehr empfangen werde und befohlen habe, mich auf die Haupt¬
wache des Chevaliergarderegiments, meinen Kameraden Repin auf die Haupt¬
wache des Preobraschenski'schen Regiments durch Feldjäger abzuführen.
Acht Tage brachte ich in der Hauptwache des Chevaliergarderegiments
zu, ohne zum Verhör beschieden zu werden. In der Nähe wohnte ein Onkel
meiner Frau, er schickte mir ein Bett und einen Schirm, sodaß ich erträglich
existiren konnte. Am dritten Tage meines Aufenthalts bezog I. A. Annenkow die
Wache, derselbe, der am 14. December die gegen die Aufständischen gebrauchten
Kanonen gedeckt hatte und später als Mitglied der geheimen Gesellschaft zu
ewiger Zwangsarbeit verurtheilt wurde. Die meisten Mitglieder der geheimen
Gesellschaft hatten gerade in der Chevaliergarde, dem der kaiserlichen Familie
am nächsten stehenden Regiment gedient. — Am 21. December Nachmittags
kam ein Feldjäger, um mich zum Verhör abzuholen. Der wachehaltende
Offizier begleitete mich bis zu meinem Schlitten und wünschte mir baldigste
Befreiung.
Im Winterpalais angelangt wurde ich wiederum hinter den Verschlag
mit der Glasthüre geführt, der bereits früher mein Aufenthaltsort gewesen
war, um zu warten, bis die Reihe an mich kam. Um 10 Uhr Abends führte
mich ein Geleit von zehn Soldaten in die inneren Gemächer des Palastes;
nach einer halben Stunde wurde ich zum dejourirenden Generaladjutanten
V. V. Lewaschow geführt. Er saß an einem Schreibtische, begann mich nach
aufgesetzten Fragepunkten zu verhören und schrieb meine Antworten nieder.
Gleich beim Beginn dieses Verhörs öffnete sich eine Seitenthür des Gemachs
und der Kaiser trat ein. Ich ging ihm einige Schritte entgegen, um ihn
zu begrüßen, er sagte mit lauter Stimme: „Halt!" kam aus mich zu, legte
die Hand auf mein Epaulette und wiederholte: „Zurück—zurück — zurück!"
mir folgend, bis ich an meinem frühern Standpunkt angelangt war und
mir die auf dem Tische brennenden Lichter gerade in die Augen schienen.
Dann faßte er mich etwa eine Minute lang scharf ins Auge, erwähnte seiner
Zufriedenheit mit meinem Dienste und daß er mich wiederholt ausgezeichnet
habe; er fügte hinzu, daß schwere Beschuldigungen auf mir lasteten, daß er
von mir ein offenherziges Geständniß erwarte und versprach endlich, Alles
zu thun, was möglich sei, um mich zu retten; dann entfernte er sich wieder.
Das Verhör wurde, sobald der Kaiser das Gemach verlassen hatte, wieder
aufgenommen. Ich befand mich in der peinlichsten Lage; für meine Person
zu leugnen, hatte ich keine Möglichkeit und keinen Grund, aber die ganze
Wahrheit durfte ich doch nicht sagen, insbesondere Niemand von den Theil-
nehmern und Anstiftern nennen. Nach einer halben Stunde kam der Kaiser
wieder herein, nahm dem General Lewaschow den Bogen mit den protokol-
lirten Antworten aus der Hand und las denselben. In meinen Aussagen
war kein Name genannt — mit Wohlwollen sah er mich an und er-
muthigte mich, offenherzig zu sein- Der Kaiser trug, wie er früher als Gro߬
fürst gethan, einen alten Uniformsrock (vom ismailow'schen Regiment) ohne
Epauletten; die blasse Farbe seines Gesichts, die an Entzündung leidenden
Augen zeigten deutlich, daß er viel arbeitete, in Alles eindringen. Alles
selbst hören, selbst lesen wollte. Als er in sein Cabinet zurückgekehrt war,
öffnete er noch einmal die Thüre, und die letzten Worte, die ich von ihm
hörte, waren: „Dich rette ich gern." — Nachdem Lewaschow sein Protokoll
beendet hatte, überreichte er mir das Papier zum Durchlesen, damit ich mit
meiner Unterschrift die Wahrheit meiner Aussagen bezeugen sollte. Ich bat
ihn, mich von solcher Unterschrift zu entbinden und gab ihm zu verstehen,
daß ich die ganze Wahrheit nicht enthüllen könne. „In diesem Falle muß
ich Sie von neuem verhören." Mir blieb nichts übrig, als das Protokoll
doch zu unterzeichnen; meine anfängliche Zögerung wurde dem Kaiser aber
berichtet und soll von ihm als Nichtachtung seines gnädigen Versprechens
aufgefaßt worden sein. Mein Urtheil wurde, wie in der Folge näher aus¬
geführt werden soll, nicht nur nicht gemildert, sondern verschärft.
Diese „ersten Verhöre" im Palais haben alle in die Verschwörung ver¬
wickelten oder der Theilnahme an derselben bezichtigten Personen durchzu¬
machen gehabt. Der Kaiser sah und sprach Jeden von ihnen. Die Generaladju¬
tanten Lewaschow, Benkendorff*) und Toll schrieben nach der Reihe die
Aussagen nieder, am häufigsten Lewaschow, der sich nicht selten einer höchst
eigenthümlichen Methode der Untersuchungsführung bediente. So zum Beispiel
sagte er zu Bestushew-Rjumin, der nicht gleich auf alle seine Fragen ant¬
wortete: „Vous LÄVös, u'g, pu'g. airs un mot et vous aves
veeu". Dem Obrist M. F. Mittkow sagte er: ,Mis it v a ach movens
xour vous taire avousr", sodaß dieser gezwungen war, ihm zu bemerken,
daß wir im 19. Jahrhunderte lebten und daß die Tortur durch ein Gesetz
des Kaisers Alexander aufgehoben worden sei. — Diese ersten Verhöre im
Cabinet des Kaisers konnten unmöglich in alle Einzelheiten der Verschwö-
rung eindringen; sie sollten dem Kaiser Gelegenheit bieten, jeden der Ver¬
schwörer einzeln zu sprechen und zu sehen und die Namen der noch nicht be¬
kannten Teilnehmer in Erfahrung zu bringen. Sobald solche Namen ge¬
nannt waren, wurden sogleich Feldjäger, Gensd'armen, Offiziere aller
Waffengattungen entsendet, um die Angeschuldigten zu verhaften. Eines der
merkwürdigsten Verhöre fand mit N. A. Bestushew statt. Dieser hatte
in der Nacht, welche dem 14. December folgte, sich durch die Flucht retten
wollen und den Weg nach Schweden dazu gewählt; er erreichte den Leucht¬
thurm Tolbuchin, wo die wachehaltenden Matrosen ihn als Gehülfen des
Generals Spasowiew, Directors aller Leuchtthürme, kannten. Er wollte dort
einige Stunden ruhen, wurde aber zu seinem Unglück von der Frau eines
Matrosen als Flüchtling erkannt und angezeigt, sodaß man ihn einholte und
den anderen Tag in den Winterpalast brachte. Entkräftet durch Hunger, Er¬
müdung und Kälte wandte er sich an den ihm begegnenden Großfürsten Michael
mit der Bitte, er möge befehlen, daß ihm etwas Nahrung gegeben werde,
sonst werde er kaum im Stande sein, im Verhöre zu antworten. In dem¬
selben Gemache war das Abendessen für die Dujour-Flügeladjutanten auf¬
getragen; der Großfürst hieß Bestushew sich zu Tische setzen und unterhielt
sich während der Mahlzeit mit ihm. Als Bestushew fortgeführt wurde,
sagte der Großfürst zu seinem Adjutanten Bibikow: „Gott sei Dank, daß
ich mit diesem Manne nicht schon vorgestern bekannt war, er hätte mich am
Ende mit hineingezogen." — Der Kaiser empfing Bestushew milde und
sagte ihm: „Du weißt, ich kann Dir verzeihen, und wenn ich sicher sein
könnte, in Dir künftig einen treuen Diener zu haben, so bin ich bereit, Dir
zu verzeihen." Bestushew antwortete: „Majestät, das ist eben das Unglück,
daß Sie Alles thun können, daß Sie über dem Gesetz stehen; wir wollten
Nichts weiter, als bewirken, daß das Loos Ihrer Unterthanen künftig blos
vom Gesetz abhängig sei, nicht von Ihrer Laune." In demselben Geiste
haben sich auch Andere der Schuldigen vor dem Kaiser gelegentlich des Ver¬
hörs geäußert.
Nach Beendigung meines ersten Verhörs führte man mich wieder in
das Vorzimmer der Hauptwache des Palais hinter die bekannte Scheidewand
zurück. Licht erhielt ich durch die Glasthüre, Wärme durch das obere Ende der
Scheidewand, mithin war es weder hell noch warm, höchstens einige Stunden
lang überhaupt erträglich; ich erwartete jede Minute auf eine andere Hauptwache
oder in die Festung übergeführt zu werden und ergab mich darum mit Geduld
in mein Schicksal. Die Nacht schlief ich auf einem Stuhle, mich mit dem
Arm auf einen Tisch lehnend. Den folgenden Tag vom frühen Morgen an
wurden unaufhörlich neue Arrestanten herein und heraus geführt, Militärs
und Civilisten, Bekannte und Unbekannte. Waren ihrer zuviele auf einmal
angelangt, so wurden einige auf etliche Stunden zu mir hinter die Scheide¬
wand gesetzt, diesen aber eine Schildwache beigegeben, welche darüber wachen
sollte, daß wir nicht mit einander sprachen. So brachten ewige Stunden
der Obrist Poliwanow und Graf Bulgary bei mir zu; am längsten, eine ganze
Nacht saß der Obrist P. O. Grabbe bei mir; er blieb mir besonders er¬
innerlich wegen seiner vollkommenen Gemüthsruhe in Gebärden und Ge¬
sichtszügen. — Weihnachten kam heran, noch immer war derselbe enge,
dunkle Verschlag des Wachtvorzimmers mein Aufenthalt; man ließ mich da¬
sitzen, in hohen engen Bottfort-Stiefeln, wie sie damals zur Uniform gehörten,
und kurzem, unbequemen Uniformsfrack; glücklicherweise hatte ich meinen
Mantel mitgenommen, der mich etwas wärmte. Alle Vorbeigehenden gafften
durch meine Glasthüre, weshalb ich meinen Stuhl so umkehrte, daß ich mit
dem Rücken gegen die Thür saß. Jeden Tag bei Ablösung der Wache be¬
sichtigten mich der Obrist und der Capitän. Den fünften Tag traf die
Reihe das Gardejägerregiment und den Obristen V. I. Busse, meinen frühe¬
ren Dienstkameraden; ich bat ihn, einen Soldaten in meine Wohnung zu
schicken und mir einen Ueberrock, kurze Stiefel und Wäsche bringen zu lassen.
Nach einigen Stunden waren diese Sachen mir zugestellt; meine Frau hatte
ein Sasfianohrkissen mitgeschickt. — So bestimmte lediglich der Zufall darüber,
ob und welche Bequemlichkeiten uns, die wir uns vorläufig nur in Unter¬
suchungshaft befanden, zu Theil wurden.
Im December wird es zeitig dunkel, Licht gab man mir nicht, es war
auch unnütz, da ich kein Buch hatte: durch die Glasthüre drang etwas Be¬
leuchtung aus dem Vorzimmer, ein schwacher Schimmer derselben fiel auf
meine Hinterwand. Die Stimmen der Redenden im Wachtzimmer waren
deutlich zu hören.
In .dieser,, Situation verging eine Reihe von Tagen, die mir endlos
erschien. — Am Nachmittage des dritten Weihnachtsseiertags trat plötzlich
der Großfürst Michail bei mir ein. Er blieb in der Thür stehen und fragte:
„Wie — ist er noch immer hier?" Ich gewann es über mich, weder über
Kälte noch über Hunger zu klagen, obgleich meine tägliche Nahrung sich auf
einen Teller Suppe und ein kleines Stück weißen Brodes beschränkte. Der
Grund davon war in meiner exceptionellen Lage zu suchen. Während die
meisten Verdächtigen, sobald sie nach Petersburg geschafft waren, in das
Winterpalais geführt wurden und hier nur einige Stunden, höchstens einen
Tag auf das Verhör warteten, war mir der Winkel in der Wachtstube des
Palais als vorläufiger Ausenthalt angewiesen worden, der 14 Tage lang
währte. Für Diejenigen, welche nur wenige Stunden im Palais zubringen
mußten, war der Teller Suppe aus der Hofküche genügend — ich und die gleich
mir im Palais saßen und dennoch mit den Uebrigen aus gleichem Fuß behandelt
wurden, konnten durch denselben nur nothdürftig vor dem Verhungern geschützt
werden. Einer meiner GM)reen, M. N. Nasimow, wagte es, dem Kaiser
beim Verhör zu sagen, daß man ihn im Palais hungern lasse. „Dabei ist
nichts zu machen" erwiederte Nikolaus. „Alle werden auf gleiche Weise be¬
handelt — es ist nur für kurze Zeit." Das Schlimmste für mich war, daß
ich nicht schlafen konnte; auf meinem Stuhl — außer dem Tisch dem einzigen
Meuble des Zimmers — war es zu unbequem, auf dem Fußboden trotz des
wärmenden Mantels furchtbar kalt. Es blieb mir nichts übrig, als 14
Nächte auf dem Stuhl zu verbringen. Mehrere Male geschah es, daß die
wachhabenden Soldaten sich meines Hungers erbarmten, mich Nachts weckten
und mir heimlich von ihrem Brod gaben. — Den Unterhaltungen dieser
Leute, die mich stets mit rücksichtsvoller Höflichkeit behandelten, zuzuhören
war meine einzige Beschäftigung. Diese Unterhaltungen klangen oft seltsam
genug: „Es ist Schade, Bruder, um die armen jungen Leute" hörte ich
Einen sagen; „die kommen jetzt auf die Festung und werden da eingesperrt."
— „Wir haben es nicht besser" erwiederte der Andere, „unsere Casernen
sind noch schlimmer wie die Festungen — und wenn wir sie verlassen, so ist
es doch nur, um mit Exercitien und Wachen gedrillt und gequält zu wer¬
den! Diese guten, armen Herzensjungen werden in ihren Löchern wenigstens
Ruhe haben." —
Bis zum 3. Januar 1826 blieb ich in meinem elenden Winkel; am Nach¬
mittage dieses Tages intervenirte der Großfürst Michail, der wiederum in die
Wachtstuve eintrat und wiederum verwundert war, mich noch im Verschlage der¬
selben zu finden. Auf sein Geheiß wurde ich in ein anderes Zimmer geführt, wo
man mir ein Bett und frische Wäsche gab: vor meine Thür wurden zwei Sol¬
daten mit blankem Säbel gestellt. Die Wohlthat wieder ausgestreckt schlafen
zu können genoß ich in vollen Zügen. Zwei Tage lang blieb ich in
diesem Zimmer, dasein anderer Compromittirter, Obrist Rajewsky, mehrere
Stunden lang mit mir theilte. Da die Schildwache uns an jedem Gespräch
verhinderte, unterhielten wir uns singend in französischer Sprache; Jeder
trällerte vor sich hin, als ob er auf den Anderen keine Rücksicht nähme. Am
Nachmittag des ö. Januar wurde ich endlich durch einen Feldjäger auf die
Festung abgeführt.
Mit bewegtem Herzen fuhr ich durch das Thor der Peter-Pauls-Festung;
mich begrüßte das Glockenspiel der Festungsuhr, eines mechanischen Kunst¬
werkes, welches gedehnt und langweilig die Melodie Kot Sö>ve ein? King
abspielte. In der Commandantur fand ich drei arretirte Offiziere vom Js-
mailow'schen Regiments, Andre'jew, Müller und Maliutin vor, welche gleich
mir ihrer Einsparung entgegen gingen. Nach einer halben Stunde kam der
Commandant sulln, öffnete die Packete, die der Feldjäger ihm eingehändigt
hatte, und kündigte uns an, daß wir auf allerhöchsten Befehl in die Kasematten
gesetzt werden würden. — In demselben Saale mit uns stand ein bejahrter
Mann in Civilkleidung, er trug den Annenorden in Brillanten um den
Hals; der Commandant wandte sich zu ihm und rief entrüstet und traurig:
„Wie? Du bist auch hier — sür diese Sache und mit diesen Herren?" —
„Nein, Ew. Excellenz; ich befinde mich unter Kriegsrecht für Entwertung
von Bauholz und^ Schiffsmaterialien." — „Nun, Gott sei gedankt! lieber
Neffe" — sagte der Commandant und drückte dem Glücklichen freundschaft¬
lich die Hand. — Der Platzmajor Obristlieutenant G. M. Poduschkin führte
uns einzeln in die Casematten; er fragte mich, ob ich ein Taschentuch bei
mir hätte, da er mir dem Reglement gemäß die Augen verbinden müsse.
Er verband mir wirklich die Augen, ergriff meinen Arm, geleitete mich die
Treppen hinunter und setzte mich dann in einen Schlitten. Nach kurzer Fahrt
waren wir an Ort und Stelle.. Der Platzmajor half uns aus dem Schlitten,
sagte „nun kommt eine Schwelle und dann sechs Stufen" und rief end¬
lich laut: „Feuerwerker! öffne Nummer 13!" — Schlüssel klingelten, Schlösser
klapperten, wir traten ein, die Thüren wurden hinter uns zugeschlagen. —
Darauf nahm der Platzmajor die Binde von meinen Augen ab und wünschte
mir baldigste Befreiung. Ich bat ihn, mir etwas zu essen geben zu
lassen; an diesem Tage hatte ich noch gar keine Nahrung bekommen, vier¬
zehn Tage lang im Palais gehungert. Er machte einige Schwierigkeiten, weil
die Mittagsstunde schon längst vorüber war, entschuldigte sich mit der schlech¬
ten Beschaffenheit der Festungsküche, voraussetzend, daß ich zu den verwöhn¬
ten Gastronomen gehöre, versprach mir aber Essen zu schicken, obgleich ich
nur um ein Stück Brod gebeten hatte.
In meiner Zelle war es fast beständig finster; das Fenster war mit
einem dichten eisernen Gitter beschlagen, durch welches ich nur einen schmalen
Streifen des Horizonts und einen Theil der Festungsglacis sehen konnte.
An der einen inneren Wand meiner dreieckigen Zelle stand ein Bett mit
bläulichgrauer Decke, an der anderen ein Tisch und eine Bank. Mein Dreieck
hatte sechs Schritte in der Hypotenuse. In der Thür war ein kleines
Fenster, von außen mit Leinwand behängen, damit die im Corridor stehen¬
den Schildwachen zu jeder Zeit ihre Arrestanten beobachten könnten. Eine
kleine Weile nachdem ich in diesen Käfig getreten war und mich niederge¬
lassen hatte, hörte ich die Schritte der Schildwachen, die Schlüssel und
Schlösser klapperten wieder, der Gesängntßwärter trat ein und brachte mir
eine Lampe (einen Docht, der in einem gewöhnlichen mit Wasser und Oel
gefüllten Glase brannte), einen Topf mit Suppe und ein gewaltig großes
Stück Brod. Auf die Fragen, die ich an den Mann richtete, bekam ich keine
Antwort; dann verschlang ich in der größten Geschwindigkeit die mit Lor-
beerblättern gewürzte Kartoffelsuppe und zwei Pfund Brod. Der Wächter
sah mich mit Verwunderung an, weshalb ich ihm die Ursache meines
Hungers erklärte; wie ein Stummer nahm er den ausgeleerten Topf, ging
hinaus und schloß meine Thüre.
Die Festungsspieluhr schlug acht Mal, dann begann wiederum das Hoa
et.ö Kuss. Die Töne klangen noch in meinem Gehör nach, als ich bereits
fest einschlief; ich hätte gewiß 24 Stunden geschlafen, wenn der Wächter mit
seinen Schlüsseln mich nicht aufgeweckt hätte. Nach diesem Höllengeklapper
trat der Platzadjutant Nikolajew ein, ihm folgten ein langer Mann im schwar¬
zen Frack und der als Gefängnißwärter fungirende Feuerwerker; ich setzte
mich auf mein Bett und glaubte, daß man mir noch einen Mitgefangenen
einführe. — Der Adjutant erkundigte sich nach meinem Befinden, nach ihm
fragte der Arzt im Frack, wie meine Gesundheit sei? Beiden antwortete ich
„Gott sei gedankt! ich habe süß geruht." — „Entschuldigen Sie dann, daß
wir Sie gestört haben, wir mußten unsere Amtspflicht erfüllen;" — und
stumm, wie sie eingetreten waren, verschwanden die drei Männer. Ich
schlief sofort wieder ein. Als ich erwachte war es Mittag; aber es wurde
nicht Heller, denn das Fenster war in einer tiefen Schießscharte angebracht
und gab kein volles Licht, nie habe ich durch das Fenster Sonne oder Mond
gesehen, nur selten einen Stern an dem engen Streifen des Horizontes.
Gegen Abend brachte man eine Lampe; ich hatte kein Buch, und Niemanden
gab man Bücher in den ersten Monaten unserer Gefangenschaft. Allein,
eingeschlossen in einem engen Raume hatte der Körper keine Bewegung, die
Sinne keine Zerstreuung; die Gedanken allein waren nicht zu fesseln. Un¬
gewiß und traurig lag die Zukunft vor mir, die Gegenwart bot gar Nichts;
die Vergangenheit allein war mir treu geblieben.
Am 8. Januar neun Uhr Abends kam der Platzmajor zu mir, um mich
in das Untersuchungscomite zu führen, welches sich täglich in der Comman-
dantur versammelte. Er verband mir die Augen, aber dieses Mal so fest, daß
mein ganzes Gesicht bedeckt war. An der Commandanturtreppe hörte ich
sprechen, durch das Tuch konnte ich die erleuchteten Laternen der Wagen
sehen, das Vorzimmer war gefüllt von Dienern. In dem folgenden Zimmer
setzte mich der Platzmajor auf einen Stuhl und hieß mich seine Rückkehr ab¬
warten. Ich hob sogleich das Tuch auf, erblickte eine doppelte große Thüre,
hinter mir einen mächtigen Schirm, hinter dem Schirme zwei Lichter, und
keinen Menschen im ganzen Zimmer. Ich weiß nicht, woher mir der Ge¬
danke kam, daß die Thüre sich plötzlich öffnen und ich erschossen werden
würde? Vermuthlich war diese Einbildung durch das geheimntßvolle Wesen
des Platzmajors und durch das Festbinden meiner Augen erzeugt worden. —
So saß ich eine Stunde. Endlich erschien der Platzmajor, der mich mit ver-
bunteren Augen durch das nächste sehr gut erleuchtete Zimmer führte; ich
hörte eine Menge Federn kratzen, ohne die Schreiber unterscheiden zu können.
In dem folgenden Zimmer wiederum Federkratzen ohne Wortlaut. Endlich
in dem dritten Zimmer angelangt, sagte mir der Platzmajor mit halber
Stimme: „Bleiben Sie hier stehen." — Eine halbe Minute lang war kein
Laut, keine Bewegung zu hören, darauf erschallten die Worte: — „Nehmen
Sie das Tuch ab!" — es war die Stimme des Großfürsten Michail. — Ich sah
einen langen Tisch vor mir; am obersten Ende desselben saß der Präsident
der Commission, Kriegsminister Tatischtschew, rechts von ihm der Großfürst
— dann folgten der berühmte I. I. Dibitsch — S. A. Kutusow und der General¬
adjutant v. Benkendorff; — links saßen Fürst A. N. Galitzyn. der einzige
Civilbeamte, General A. I. Tschernytschew*), U. B. Lewaschow und der
Obrist W. Adlerberg**), der die Functionen eines Secretärs übernommen hatte.
Sie alle waren in vieler Hinsicht achtungswerthe Männer, aber Keiner von
ihnen konnte auf die Eigenschaften eines gebildeten, competenten und unpar¬
teiischen Richters Anspruch machen. Die Verhöre dieser Untersuchungscom¬
mission waren in Nichts von denen unterschieden, welche die Generaladju¬
tanten im Cabinet des Kaisers abgehalten hatten. Sollte diese Untersuchungs¬
commission ein Kriegsgericht sein? Dann konnte die ganze Sache in 24 Stun¬
den ohne Rechtskundige entschieden werden, das Kriegsreglement hätte jeden
Beschuldigten sogleich zum Tode verurtheilt! — Und diese Art von Gerichts¬
barkeit, in der lediglich Offiziere Recht sprachen und die Ankläger zugleich die
Richter spielten, war die damals in Rußland gebräuchliche, sobald es sich
um wichtigere Fälle handelte!
Die erste Frage wurde vom Großfürsten Michail an mich gerichtet: — „Wie
konnten Sie als Commandeur eines bloßen Scharfschützenzuges drei ganze
Compagnien zurückhalten, die zum Theil vor Ihrem Zuge standen?" — „Als
das Bataillon aus den Casernen rückte, war es in Compagnieeolonnen auf¬
gestellt, so daß mein Zug sich vor den drei Jägercompagnien befand." — „Par¬
don, ich habe diesen Umstand nicht gekannt" bemerkte der Großfürst mit
freundlicher Stimme.
Darauf fragte Dibitsch, warum ich meine Soldaten auf der Mitte der
langen Jsaaksbrücke angehalten hätte. Ich antwortete, daß, nachdem ich per¬
sönlich wahrgenommen, daß auf dem Senatsplatze kein Anführer, keine Ein¬
heit und Pünktlichkeit in den Anordnungen sei, es mir am zweckmäßigsten er¬
schienen sei, stehen zu bleiben und nicht direct zu handeln. — „Ich verstehe"
sagte Dibitsch als Taktiker, „Sie beabsichtigten eine entscheidende Reserve zu
bilden."
Dann fragte er weiter: „Seit wann gehören Sie zur geheimen Gesell¬
schaft und wer hat Sie aufgenommen?"
„Ich bin nie Mitglied irgend einer geheimen Gesellschaft gewesen."
„Vielleicht meinen Sie, daß es dazu besonderer Gebräuche oder Cere¬
monien, Zeichen und Bedingungen bedürfte, wie in der Brüderschaft der
Freimaurer; wenn Sie nur das Ziel der Gesellschaft gekannt haben, so sind
Sie Glied derselben gewesen."
„Ich habe schon die Ehre gehabt Ew. Excellenz zu bemerken, daß mich
Niemand in die geheime Gesellschaft aufgenommen hat, und daß ich mich
auf alle wirklichen Mitglieder derselben berufe, ohne die Abhörung vor
Zeugen oder eine Konfrontation zu scheuen."
Hier wurde ich von S. A. Kutusow unterbrochen: „Sie haben doch
Rylejew gekannt?" — „Ich kenne ihn und bin mit ihm im ersten Kadetten¬
corps zusammen erzogen worden."
„Haben Sie nicht auch Obolensky gekannt?"
„Ich kenne ihn sehr gut, ich habe mit ihm zusammen gedient, er war
der älteste Adjutant des Garde-Jnsanteriecorps, — wie sollte ich ihn da
nicht kennen?"
„Was brauchen wir weiter für Beweise?" bemerkte Kutusow in seiner
läppischen Weise.
Ich schwieg, obgleich es mir leicht gewesen wäre, ihm zu sagen, daß
auch er den Fürsten Obolensky gekannt habe, folglich auch Mitglied der Ge¬
sellschaft gewesen sei.
Der Präses Tschernischew kündigte mir an, daß ich morgen schriftliche
Fragen aus der Commission erhalten, und auf jede Frage schriftlich nach
Punkten zu antworten haben würde. Vor Beendigung des Verhörs sagte
noch der Obrist Adlerberg: „Man beschuldigt Sie, mit Ihrem Degen den
zweiten Scharfschützen von der rechten Flanke niederstoßen gewollt zu haben,
weil er viele seiner Cameraden überredete, dem Carabinierzuge zu folgen."
„Meine Soldaten, Herr Obrist, haben wenn sie in Reih und Glied
standen, nie gesprochen; Einer von ihnen, ich weiß Nicht ob es der zweite oder
der dritte von der Flanke war, wollte vorwärts rücken, dem hielt ich meinen
Degen vor und bedrohte damit Jeden, der sich ohne meinen Befehl rühren
würde."
Die Bemerkung des Obristen Adlerberg zeigte mir genugsam, daß man
die kleinsten Umstände meines Verhaltens denunctrt hatte. Der Brigade¬
commandeur und noch Einer, der Ursache hatte, meine Aussagen zu fürch¬
ten, hatten das gethan. Ich hoffe, daß sie jetzt beruhigt sind.
Damit war das erste Verhör geschlossen. Der Präsident klingelte, der
Platzmajor verband mir die Augen und führte mich fort- Mein Gesicht war
mit dem Tuche bedeckt, damit auch die Secretäre und Schreiber in den beiden
Durchgangszimmern die Arrestanten nicht erkennen sollten. Nach einigen
Minuten befand ich mich wieder in meiner Ur. 13.
Drei Tage später wurde mir ein versiegeltes Packet aus der Commission
überreicht. Die Fragepunkte waren fast dieselben, die man mir in der
Sitzung vorgelegt hatte, es waren aber neue Beschuldigungen eingeschlossen,
mit Erwähnung verschiedener Personen und Anzeigen. Der Platzmajor, als
er mir das Packet einhändigte, sagte: „Eilen Sie nicht und bedenken Sie
Alles." In dem ersten Augenblicke freute ich mich, einige Bogen Papier,
Feder und Tinte zu besitzen; als ich aber die Fragepunkte mit raschem
Blicke überschaute und Namen gewahr wurde, preßte sich mir das Herz zu¬
sammen. Sollen denn alle diese Männer der Einkerkerung und dem Gerichte
verfallen sein! — Die Commission war bereits von der Versammlung, die bei
Repin stattgefunden, unterrichtet, ebenso von den Berathungen bei RrMjew
und bei Öbolensky. Was mich selbst persönlich betraf, so lagen die Ant¬
worten auf der Hand, da meine Handlungen am 14. December öffentlich be¬
gangen worden waren. Wie sollte ich mich aber gegenüber den Angaben,
die die Berathungen betrafen, verhalten? Ich war so glücklich, daß Niemand
der mir genannten Personen arretirt, Niemand von meinen Soldaten be¬
straft wurde. Meine Antworten gaben in der Folge zu einer einzigen Con-
frontation mit einem Diensteameraden Ursache, deren ich weiter am gelege¬
nen Orte erwähnen werde.— Nachdem ich meine Antworten beendet, schloß
ich ein Gesuch an die Commission ein; ich bat um die Erlaubniß, meiner
Frau schreiben zu dürfen. Den folgenden Tag war dieses Gesuch gewährt;
ich schrieb einen langen Brief und erhielt nach einigen Tagen die Antwort.
Darauf wurde mir gestattet ein Mal monatlich zu schreiben; mein zweiter
Brief wurde mir mit der Bemerkung zurückgeschickt, daß er zu lang sei und
daß ich künftig nur einige Zeilen schreiben dürfe. Die Antworten meiner Frau
mußten auch kurz gefaßt sein, doch waren sie mir eine große Beruhigung
und ein wahrhafter Trost. Noch hatte ich um Erlaubniß gebeten, Bücher
von Hause zu bekommen; das wurde nicht gestattet, der Platzmajor brachte
mir aber von sich aus die Psalmen David's.
Die Untersuchungscommission hielt tägliche Sitzungen. Der Großfürst
war später seltener zugegen. Tschernytschew schien die Hauptperson zu sein,
die Canzlei der Commission schrieb oft bis spät in die Nacht. Alle Specialan-
gaben fügte D. N. Bludow*) in ein Ganzes zusammen; er schloß häufig
das Wichtige und für die Angeklagten Günstige aus, schob Denunciationen
und Privatunterhaltungen ein, wie jeder unbefangene Leser des gedruckten
Berichtes der Commission aus demselben ersehen kann. Die Gründer der
geheimen Gesellschaft und die Führer der Verschwörung wurden sehr oft in die
Commission berufen. — Pestel mußte so oft erscheinen, und wurde so sehr mit
Fragen gequält, daß er wiederholt die Geduld verlor, zumal er krank war.
Er warf der Commission ihre Unfähigkeit vor, verlangte einen Bogen Papier,
und schrieb in der Commission für sich selbst die Fragepunkte nieder: — „So.
meine Herren, sollten Sie die Sache logisch führen; nach diesen Anfragen wer¬
den Sie die Antworten erhalten, auf welche es ankommt." — Bei Widerspruch
der Anzeigen wurden die Beschuldigten einander persönlich gegenüber ge¬
stellt, die einzelnen Aussagen zu Protokoll genommen, bisweilen ziemlich
verkehrt. Einzelne Fragen, die gethan wurden, sind mir noch als besonders
wunderlich in der Erinnerung. Tschernytschew, der sich durch besonderen Eiser
auszeichnete. fragte z. B. meinen Freund M. A. Nasimow, was er wohl
unternommen hätte, wenn er am 14. December in Petersburg zugegen ge¬
wesen wäre? — er war auf Urlaub in Moskau gewesen. — Diese Frage war
so verfänglich, daß Benkendorff vom Stuhl sprang, Tschernytschew in den
Arm griff und lebhaft sagte: „Leoute?:, vous n'g,V62 pas le äroit ä'^ärosser
uns pg-rente «zuestiou, e'egt une gMirs <Zs eonseienek." —
Der Vorsitzende der Commission Tatischtschew mischte sich nur höchst selten
in die Untersuchung. Er machte den Angeklagten nur einmal die nach¬
stehende Bemerkung: „Sie haben, meine Herren, immer nur Tracy. Benjamin
Constant und Bentham gelesen — sehen Sie, wohin Sie das geführt hat;
ich habe mein Lebelang nur die heilige Schrift gelesen, und sehen Sie, was
ich verdient habe". Dabei wies er auf die zwei Reihen Sterne, die an seiner
Brust glänzten.
Grundriß der Kunstgeschichte von ol-. W. Lübke. Vierte Auflage. Mit 403 Holz¬
schnitt-Illustrationen. Stuttgart, Ebner und seubert 1868.
Zu den Büchern, die in unseren Tagen das größte Glück machten,
wahre Hausbücher geworden sind, gehört Lübke's Grundriß der Kunstge¬
schichte. Diese Popularität, durch die rasche Aufeinanderfolge neuer Auflagen
bekundet, ist gut begründet und wohl verdient. Zur vollkommenen Be¬
herrschung des so überaus weitläufigen Stoffes gesellt sich bei Lübke ein
feiner Blick für alles Besondere und Eigenthümliche, ein sicheres Urtheil über
das wahrhaft Bedeutende. sinnige Auffassung und geschmackvolle Darstellung
gehen bei unserem Autor stets Hand in Hand. Der große Erfolg seines
Buches ist daher durchaus gerechtfertigt, und wenn die Kritik noch einzelne
Mängel entdeckt und verschiedene Wünsche ausspricht, so entstammen jene
großentheils nur der unabwendbaren Natur eines Handbuches und finden
diese ihre Erklärung in dem Umstände, daß eine solche allumfassende Ueber¬
sicht erst durch wiederholte Bearbeitungen, schrittweise und allmählich der Voll¬
endung sich nähern kann. Die erheblichste Schwierigkeit bei dem Abfassen
eines Handbuches der Kunstgeschichte liegt in der Unvereinbarkeit zweier gleich
wesentlicher Eigenschaften: der Vollständigkeit und der einheitlichen Methode.
Die meisten Leser würden den Ausschluß der altorientalischen Kunst ver¬
missen und doch kann diese nicht in der gleichen Weise behandelt werden wie
die antike und christliche Kunst. Nur hier sind wir im Stande, eine zu¬
sammenhängende Entwickelung nachzuweisen, nur hier tritt uns ein Werden,
ein wirkliches Schicksal entgegen, während uns in der altorientalischen Kunst
Alles in eine Ebene gezeichnet erscheint, wir uns bei der unsicheren Chrono¬
logie, der mangelhaften schriftlichen Kunde mit der Schilderung eines gleich¬
sam zeitlosen Zustandes begnügen müssen. In dem einen Falle nähren wir
die historische Erkenntniß, in dem anderen befriedigen wir höchstens die Neu¬
gierde. Vollends rathlos stehen wir den Kunstbestrebungen barbarischer und
halbcivilisirter Völker gegenüber. Die Forderung einer vollständigen Wieder¬
gabe des historischen Materials duldet nicht ein Auslassen derselben, jeder
Versuch, sie zu classificiren und einzuordnen, erweckt aber mannigfache Be¬
denken. Kugler, dem wir überhaupt die Systematik der Kunstgeschichte ver¬
danken, half sich, indem er die verschiedenen Ansätze zur Kunstübung bei den
Celten, Mexikanern :c. als Vorstufen an den Anfang der Kunstgeschichte setzte;
dadurch wird aber leicht der falsche Schein geweckt, als ob dieselben nothwen¬
dige Durchgangsstufen der Kunstbildung überhaupt wären, und als ob auf
die Volksindividualität und das ethnographische Element nicht genügende Rück¬
sicht genommen wäre. Gewiß läßt sich die Frage nach dem Ursprung und
den Anfängen der Kunst nicht umgehen. Sie wird sich aber kaum auf an¬
dere Art lösen lassen, als indem man auf dem Wege der Combination die
ersten Vorgänge des künstlerischen Geistes zu errathen sich bemüht und den
psychologischen Proceß, der das künstlerische Schaffen bedingt, sich aber der
historischen Erfahrung entzieht, zu reconstruiren wagt. Das Ornament, das
älter ist als die figürliche Nachbildung und die architektonische Gliederung,
dürste dabei die wichtigste Rolle spielen und den Hauptgegenstand der Erörte¬
rung der Nachweis darüber bilden, wie aus dem mechanischen Vorgange des
Knüpfens, Aneinanderreihens, Flechtens u. s. w. die einfachsten und natür¬
lichsten ornamentalen Elemente hervorgehen, die dann selbständig entwickelt
werden, zuerst Plastik und Architektur überwuchern, bis diese durch die Be¬
obachtung zunächst einzelner Naturerscheinungen, später der allgemeinen Natur-
*
gesetze ein unabhängiges Dasein gewinnen, das Ornament, den Schmuck in
einen bescheideneren Rahmen zurückdrängen.
Ein gelegentliches Wort Lübke's in der Einleitung deutet darauf hin,
daß er einer ähnlichen Auffassung zuneigt und läßt hoffen, daß die nächste,
gewiß bald erscheinende Auflage bereits die Durchführung derselben bringt.
Für diese nächste Auflage hätten wir noch mehrere Wünsche auf dem
Herzen. Zunächst einen weniger conservativen Standpunkt in einzelnen
Theilen der antiken Kunstgeschichte. Es ist begreiflich, daß Lübke, dessen
Forschungen sich vorzugsweise auf dem Gebiete der mittelalterlichen Kunst
und der Architektur bewegen, bei Schilderung der ihm nicht so unmittel¬
bar nahe liegenden antiken Kunst — es kann heutzutage aus sachlichen
Gründen kein Gelehrter antike und neuere Kunst gleichmäßig bewältigen —
eine gewisse Vorsicht anwendet. Geht aber diese Vorsicht nicht zu weit, wenn
z. B. die allein richtige, von allen Archäologen anerkannte Deutung des
Apoll von Belvedere als des Aegisschüttlers schüchtern und nur als „wahr¬
scheinlich" in eine Anmerkung verwiesen, das Kunstwerk selbst in den Kreis
römischer Kunst eingestellt wird und die Diana von Versailles zum nächsten
Nachbar erhält, da doch insbesondere seit der Auffindung des Steinhäuser'-
schen Kopfes an dem griechischen Original des Apoll von Belvedere nicht
gezweifelt werden kann, die Verwandtschaft mit der pergamenischen Kunst
ganz klar ist? In dem Abschnitte über altchristliche Kunst ist es uns auf.
gefallen, daß das grundlegende Werk über die Katakomben von Rossi nir¬
gends citirt ist, wie überhaupt die literarischen Nachweisungen noch nicht
gleichmäßig behandelt erscheinen. Auch über die Auswahl der Beispiele,
welche aus der Reihe zahlreicher Werke des einen, oder anderen Meisters
namentlich hervorgehoben werden, ließe sich hier und da streiten. Daß auch
auf die Zugänglichkeit einzelner Werke Rücksicht genommen werden muß, ist
selbstverständlich. Dann durste aber z. B. der vortreffliche Rembrandt (das
Gleichniß von den Arbeitern im Weinberge), welchen das Städel'sche Museum
in Frankfurt besitzt, nicht fehlen. Sollen aber wirklich stets nur die hervor¬
ragendsten Werke eines Künstlers betont werden, so vermissen wir wieder
z. B. Paul Veronese's Familie des Darius und Murillo's Moses, der das
Wasser aus dem Felsen schlägt. Das sind übrigens nur Kleinigkeiten, da
schließlich bei der Auswahl der charakteristischen Werke doch immer der sub-
jective Geschmack des Autors maßgebend bleibt. Wichtiger ist ein anderer
Punkt. Dem Herkommen gemäß handelt Lübke die italienische Renaissance¬
kunst bis zum Schlüsse des 16. Jahrhunderts ab und wendet sich dann
erst zu der nordischen Kunst des Is. und 16. zurück. Wir kennen die
Gründe, welche sür diese Anordnung sprechen. Immerhin wird es aber dem
Leser schwer, nachdem er von Raphael und Michelangelo gehört, den färben-
reichen Tizian bewundern gelernt hat, sich in dem naiven Wesen der alt¬
niederländischen Malerschule, in den Ecken und Winkeln der altdeutschen
Bildhauer zurecht zu finden, unwillkürlich wird er zu einer unbilligen Beur¬
theilung der letzteren verleitet und zu dem Glauben an eine untergeordnete
Künstlerkraft im Norden gebracht. Wäre es nicht empfehlenswerther, die
nordische Kunst des 15. Jahrhunderts unmittelbar an die Schilderung der
mittelalterlichen Kunstweise anzuschließen, mit welcher ja namentlich die spä¬
tere Bildhauerei mannigfache Verwandtschaft besitzt, zumal das Eindringen
der italienischen Renaissance in den Norden doch wesentlich in die Zeiten
nach Dürer und Holbein fällt, während der Einfluß der Niederländer auf
die italienischen Maler des 16. Jahrhunderts unbestreitbar ist?
Die zahlreichen Illustrationen, mit welchen Lübke's Buch ausgestattet
ist, sind von ungleichem Werthe. Großes Lob verdienen die architektonischen
Skizzen und die für das Werk neu geschnittenen Abbildungen; dagegen be¬
gegnen wir auch anderen, älteren Werken des gleichen Verlages entnomme¬
nen Holzschnitten, von welchen man kaum sagen kann, daß sie dem Buche zur
Zierde gereichen. Wir sind überzeugt, daß wenigstens zwei Illustrationen
in die nächste Auflage nicht mehr hinübergenommen werden: Dürer's Ritter,
Tod und Teufel, eine doch gar zu dürftige Übertragung des berühmten
Kupferstiches und Rembrandt's geraubter Ganymed, welcher doch wahrlich
nicht geeignet ist, in die Kunstweise des Meisters einzuführen und ohne
Mühe durch die Nachbildung irgend eines anderen Rembrandt'schen Gemäl¬
des ersetzt werden kann.
Die Arbeiten am Suez-Canals sind derart vorgeschritten, daß als Zeit¬
punkt der Beendigung derselben der erste October 1869 festgestellt wor¬
den ist.
Dieser Tag wird zu den denkwürdigsten des 19. Jahrhunderts der Ge¬
schichte überhaupt gehören und eine neue Aera für den Verkehr eröffnen. — Eine
Actiengesellschaft stellte die ersten Fonds ihrem Director Lesseps zur Verfügung,
nachdem eine internationale Commission, bestehend aus Ingenieuren von
England, Oestreich, Frankreich, Spanien, Holland und Preußen, festgestellt
hatte, daß kein Niveauunterschied zwischen den beiden getrennten Meeren vor¬
handen sei. Die auszuführenden Arbeiten waren auf 200 Millionen Francs
veranschlagt worden, welche Summe aufgebracht wurde.
Im Jahre 1859 begannen die ersten Arbeiten unter der unmittelbaren
Direction der Compagnie selbst.
Die Aufgabe war, eine Meerenge von 160 Kilometer Länge, 100
Kilometer Breite und 8 Meter Tiefe zu bilden. Zur. Ausführung dieser
Arbeit war man gezwungen, 74 Millionen Kubikmeter Erde aus einer Re¬
gion wegzuschaffen, wo weder trinkbares Wasser noch bewohnbare Stellen
vorhanden waren.
Von diesem Quantum sind bereits 34 Millionen Kubikmeter Erde
weggeschafft. Der Rest wird mit Hilfe des ungeheuren Materials, der ver¬
schiedenen Maschinen, die jetzt in der Wüste fungiren, viel schneller ausge¬
hoben werden, sodaß, wie bereits erwähnt, am 1. October 1869 der Canal
dem Welthandel übergeben werden soll, denn es werden monatlich circa
zwei Millionen Kubikellen Erde ausgegraben.
Die in Suez jetzt angewendeten Maschinen arbeiten mit 18.000 Pferde¬
kraft, welche der Arbeit von 100,000 Menschen gleichkommt; es werden
monatlich 12,219 Tonnen Kohlen verbraucht.
Außerdem sind noch 10,000 Arbeiter aller Nationen bei dem Canal-
bau thätig. Diese Arbeitskräfte ermöglichen die Wegschaffung von 1,800,000
Meter Erde in jedem Monat.
Trotzdem daß die ursprünglich veranschlagte Summe von 200 Millionen
Francs durch verschiedene Beiträge der egyptischen Regierung fast um dritte
100 Millionen erhöht worden war, stellte es sich doch Anfang dieses Jahres
heraus, daß zur Beendigung des Canals noch wenigstens 100 Millionen
erforderlich seien. Lesseps ging nach Paris, um eine neue Anleihe zu nego-
ciiren. Eine Anleihe als solche scheiterte nun zwar, es gelang indeß, eine
Lotterie mit Bewilligung der französischen Kammern zu Stande zu bringen,
welche bis Anfang Juni 1868 bereits 40 bis 45 Millionen ergab und vor-
aussichtlich bald die ganze geforderte Summe erreichen wird.
Aus nachstehender Aufstellung ist die Ersparniß zu ersehen, welche
der neue Weg nach Indien durch den Suez-Canal gegen den bisherigen um
das Cap der guten Hoffnung ergibt.
Man kann den Canal von drei verschiedenen Seiten her besuchen, näm¬
lich von Port-Said. von Jsmailia und von Suez. Von diesem letzteren
Orte an bis nach Jsmailia hat der Canal eine Länge von 90 Kilometer;
an der Wasserlinie ist er überall 14 Meter breit und hat eine durchschnitt¬
liche Tiefe von 1,20 Meter.
Der Transport von Transitwaaren über den Isthmus von Suez und
Jsmailia und durch die Ri^vis maritime zwischen letzterer Stadt und Port-
Said begann, wenn auch in unregelmäßiger Weise, schon vor längerer Zeit
und geschieht mittelst Chalands, welche von kleinen Dampfern durch den See-
wassercanal remorquirt werden, während für den Süßwassercanal die Tonage
eingeführt wurde. Die Tonage ist folgendermaßen construirt: durch den
ganzen Süßwassercanal von Suez bis Jsmailia ist eine Kette gelegt: der
Toneur. ein kleiner Dampfer ohne Schraube oder vielmehr ein schwimmendes
Locomobile, trägt über dem Wasser ein starkes gezähntes Rad, das durch
die Maschinen gedreht wird. Indem die Kette aus dem Canale gehoben
und derart über das Rad gelegt wird, bewegt sich durch die Drehung des
Rades der Toneur an der Kette fort indem er die angehängten Chalands-
Trains nachzieht.
Zwischen den beiden Endpunkten der Landenge besteht bereits eine regel¬
mäßige Post, zum Besuch der Canalarbeiten kann man auch Extrafahrzeuge
erhalten; der Verkehr ist außerdem durch kleine Privatschiffe sehr belebt. Schon
gegenwärtig beziehen die indischen Schisse sowie die Bewohner von Suez alle
Kohlen aus dem Canal. — Jedes Passagierfahrzeug hat einen Vorraum und
einen kleinen Salon, der für vier Personen eingerichtet ist. sogar ein kleines
Ankleidezimmer und Aceessoir fehlen nicht. Man kann die Fahrt von Suez nach
Jsmailia in 10—12 Stunden machen; indeß ist es sehr gerathen einige
Stunden in Chalouf zu bleiben, um die dortigen Arbeiten zu besichtigen.
Es ist dies der einzige Ort, wo man auf felsiges Terrain, jedoch von lockerer
Beschaffenheit stieß. Täglich findet man hier die schönsten Versteinerungen:
Fische, Säugethiere und Pflanzen. Es herrscht in Chalouf ein reges Leben,
große Dampfpumpen sind fortwährend in Thätigkeit, um das eindringende
Wasser, welches der nahe Süßwassercanal durchsickern läßt, herauszuschaffen,
während andere mächtige Maschinen die Erde selbst angreifen.
Zur Ausführung der großartigen Arbeiten sind folgende Maschinen
thätig: I) 10 mechanische Zermalmer; 2) 4 Handbaggermaschinen; 3) 10
kleine Baggermaschinen; 4) 38 große Baggermaschinen; 3) 30 Dampfschiffe,
mit Seitenklappen um den Schutt wegzutragen; 6) 79 Schuttdampfschiffe mit
Grundklappen, 37 von diesen halten das Meer; 7) 18 Elevateurs; 8) 90
schwimmende Chalands mit Schuttkisten; 9) 30 Dampfwidder; 10) 15
Dampfchalands; 11) 60 Locomobilen; 12) 13 Loeomotiven; 13) 20
Dampferhöhler, theils für trockenen, theils für nassen Boden; 14) 1800 Erd-
wag/n; 15) 25 Dampfcanots oder Remorqueurs und 16) 200 eiserne Cha¬
lands; außerdem ein genügendes und massenhaftes Material von kleinen
Gerathen, nebst einer Arbeitskraft von circa 12,000 Menschen.
Nur in Chalouf hat man das Bild und Profil des Canals. Nebenbei
ist hier eine ganze Stadt entstanden, es gibt Kirchen. Moscheen, Wirths¬
häuser. Spitäler und Cafe's. Vom Süßwassereanal führt eine Zweigbahn
nach Serapeum. Auch hier kann man die Arbeiten in ihrer ganzen Gro߬
artigkeit bewundern und auch hier hat sich rasch ein Ort entwickelt, wie
es übrigens das Zusammenströmen so großer Arbeitermassen von selbst mit
sich bringt.
Jsmailia ist eine Stadt von circa 8000 Einwohnern. Nach einem
vollkommen regelmäßigen Plane gebaut, wird sie weit hinaus im Halbkreise
von einem Süßwassercanal umgeben, welcher von üppigen Weiden eingefaßt
ist. Man hat dort eine katholische und zwei griechische Kirchen, eine Mo¬
schee und zwei Hospitäler gebaut, von denen eines für die arabische Bevölke¬
rung bestimmt ist. Es befinden sich hier die Gebäude der Directoren, welche
an Pracht und Bequemlichkeiten in Nichts den Sommerwohnungen von
Fürsten nachstehen. Die Straßen sind breit und vor allen Privathäusern
befinden sich breite Blumenbeete und Baumanlagen.
In Jsmailia ist das beste Gasthaus das HötsI Zeh Voz^Zeurs; es gibt
deren fünf oder sechs. Wo Franzosen sind, fehlen die Vak6g diantauts und
das Roulette nicht; dieses letztere ist jetzt in Egypten so verbreitet wie in
Californien, und namentlich zur Zeit der Baumwollperiode wurden oft in
den schmutzigsten Winkelstuben Summen umgesetzt, um die sie die Banken
von Homburg, Wiesbaden und Ems hätten beneiden können. Auch das
deutsche Bier hat seinen Weg zum Canal gefunden und in Jsmailia wie in
allen anderen Städten Egyptens gibt es deutsche Bierstuben, welche ihr Bier
aus Wien beziehen.
Von Jsmailia bis Port-Said benutzt man den Canal maritime, der
von Port-Said an gerechnet 75 Kilometer lang ist; der ganze Canal, wenn
er fertig ist, wird bis Suez 160 Kilometer betragen. Es ist hier tägliche Dampf¬
verbindung und man legt die Fahrt gewöhnlich in acht Stunden zurück.
Port-Said ist eine vollkommen europäische Stadt und hat in diesem
Jahre circa 10,000 Einwohner, welche Bevölkerung aus Egyptern und nächst
diesen hauptsächlich aus Oestreichern, Franzosen. Italienern und Griechen
besteht. Letztere, der Auswurf ihres Landes, machen indeß das Leben in
Port-Said eben so unsicher wie in Suez und Alexandria. In allen diesen
Städten kommt durchschnittlich jeden Tag ein Mord vor. Zum Glück für
die übrigen Europäer, von denen sie wie die Pest gemieden werden, schlachten
die Griechen sich meist unter einander ab. Die Stadt hat einen egyptischen
Gouverneur und einen von der Regierung gepflegten Gesundheitsdienst;
fast alle maritimen Staaten sind durch Consuln vertreten, der norddeutsche
Bund durch Herrn Braun, welcher früher schon ebendaselbst Consul Preußens
war. Es gibt Kirchen. Moscheen, Hospitäler und Klöster, eine Menge
Hotels, von denen das Hotel Paguon das erste sein soll, sodann Cafes mit
und ohne Musik, öffentliche Bäder, Clubs, kurz es fehlt nichts, um schon jetzt
Port-Said als kleine Großstadt bezeichnen zu können.
Schon gegenwärtig zieht sich ein sehr reger Verkehr von und nach Port-
Said. Die Messageries, der östreichische Lloyd, die Assiste-Compagnie, die rus¬
sischen Postdampfer, sowie andere regelmäßige Dampflinien von Privaten unter¬
halten eine regelmäßige PostVerbindung mit den Haupthafen des Mittelmeeres,
der Ein- und Auslauf der Waarenschiffe ist ebenfalls ein sehr bedeutender.
Port-Said hat eine große Zukunft, und wenn Suez auch in der Ein¬
wohnerzahl, die jetzt nahe an 30,000 Seelen beträgt, vorangeeilt ist, so ist das
dem Umstände zuzuschreiben, daß es Eisenbahn hat und Transitpunkt des
Verkehrs nach Indien war. Port-Said mag in einer Reihe von Jahren die
erste Stadt (Ägyptens sein. Wie Alexandria mit seinen 200,000 Einwohnern
(zur Zeit Napoleon's I. nur 50,000 Bewohner stark) Damiette und Rosette
überflügelt hat, so wird es seinerseits von Port-Said überholt werden.
Wenn einmal die Verbindung zwischen dem rothen und mittelländischen
Meer offen steht, dann wird, falls der Durchgang frei ist und eine Eisen¬
bahn den Canal entlang läuft, alle Welt diesen Weg gehen.
Hür die Sendungen nach oder von Suez, sowie für Güter aus den
Häfen des rothen Meeres oder dahin, ist der Weg über den Isthmus zum
Theil schon heute viel billiger als jener über Cairo. Allerdings dauert
der Transport über den Isthmus 2 bis 3 Tage länger, als der über
Cairo; da die Güter aber ohnehin nicht gleich nach der Einschiffung ab¬
gehen, so wird in den meisten Fällen durch den längeren Transport nichts
an Zeit verloren. Dagegen sind die bedeutenden Ersparnisse an Fracht bei
vielen Waaren, die in großen Quantitäten versendet werden, Bürge dafür,
daß sich recht bald ein großer Waarenverkehr über den Isthmus entwickeln wird.
Vor einigen Wochen setzte ein Correspondent aus Sylt in Ihrem Blatt
meinen Namen in eine gewisse Verbindung mit der Stein- und Bronzezeit. Die
gelehrten Anschauungen der Notiz ließen ahnen, daß ihr Verfasser der würdige
Reporter von den Inseln, Herr Lehrer Hansen vonKeitum, war. Unsere Freunde
von der deutschen Zeitungspresse, denen obliegt, unter dem Feuilletonstrich
die lyrischen Gefühle der Leser durch Allerlei zu befriedigen, waren nach einem
warmen Sommer wenig zur Schonung geneigt und brachten in vielen Blättern
einen alten Amtsgenossen als Schatzgräber in die Gesellschaft von Haifischen,
Feuersbrünsten und neuen Petroleumquellen. Der Gleichmuth, welcher einem
Journalisten bei so plötzlicher Berühmtheit wohl ansteht, wurde dem Schreiber
dieses durch die trübe Ahnung vermindert, daß jene Mittheilung weitere
Folgen haben, d. h. ihn zuletzt zu einem Journalartikel nöthigen werde.
Und so ist es gekommen. Es erschien zunächst ein unzufriedenes Eingesandt
— Jtzehoer Nachrichten — worin eine Stimme von Sylt mittheilte, daß ein
Fremder, den sie als Hamburger Geschäftsmann darstellte, aus einem Hünen¬
grabs Schätze entführt und dadurch allgemeine Unzufriedenheit auf der Insel
Sylt hervorgerufen habe, auch gegen den Einsender ungefällig gewesen sei.
Darauf folgte weitere Verwickelung, durch ein Mißverständniß aus Edelmuth.
Denn Ihre Zeitung belehrte die Jtzehoer Nachrichten mit einer Ritterlichkeit,
die mich entzückt haben würde, wäre ich nicht selbst der Beschirmte gewesen,
nicht ein Hamburger Kaufmann, sondern ich sei der Räuber, und von meiner
Ehrlichkeit sei zu erwarten, daß ich Fund und Beobachtungen der civilisirten
Welt nicht vorenthalten werde. Darauf replicirte unser verehrter College in
Itzehoe, an der Identität zweifelnd und verständigen Unwillen über das Ver¬
schleppen der Alterthümer ausdrückend.
Auch sein Correspondent von Sylt fuhr fort, einen Unwillen der Insel
über mehrfache Ausgrabungen durch Fremde zu constatiren: ich für mein Theil
stehe im Verdacht, einen Kessel aus einem Grabe fortgeführt zu haben, es
sei zu hoffen, daß ich mich rechtfertige. Dieser Correspondent ist wahrschein¬
lich wieder unser litecarischer Nestor von den Inseln, welcher nach dem alten
Brauch der Friesen, auf ihrer Weide ein schwarzes und ein weißes Schaf
nebeneinander zu pflöcken, sich nicht versagt hat, seiner ruhigen Würdigung
menschlicher Bestrebungen in Ihrer loyalen Zeitung eine strenge kritische Be¬
trachtung in dem Oppositionsblatt von Itzehoe gegenüberzustellen. — In
solcher Art aufgefordert, bekenne ich, in diesem Sommer nach eingeholter
Erlaubniß einen kleinen bereits zerwühlten Grabhügel unweit Kämpen
in Gegenwart des Eigenthümers, Herrn Capitän Tiffen von Wester-
land, geöffnet und darin außer einigen roh zugeschlagener Feuersteinspitzen
einen Hammer, eine Speerspitze und einen Meißel von Feuerstein gefunden zu
haben, außerdem Scherben dreier Thongefäße, ein sehr kleines Stück Bern¬
stein und einen sehr orydirten Bronzeknopf, dessen Form zu der Annahme
verleitet, daß ein alter Hüne sich damit seinen Hemdkragen zusammen¬
geknöpft habe. Die Steingeräthe dieses Fundes haben nichts Ausgezeich¬
netes, und kann man dergleichen zu Kiel bei einem Händler mit Anti¬
quitäten in ausgezeichneten Exemplaren für wenige Schillinge kaufen. In
dem Bewußtsein, durch diesen Fund keinen Neid, nicht der Götter, nicht der
Friesen erregt zu haben, benutze ich die dargebotene Gelegenheit eine Ange¬
legenheit von allgemeinem Interesse zu besprechen.
Die Gräberfunde aus der deutschen Heidenzeit haben lange für unsere
Alterthumswissenschaft verhältnißmäßig geringe Bedeutung gehabt; sie wurden
als Kuriositäten in den Sammlungen aufbewahrt, oft fast werthlos, wenn die
Angabe der Fundorte fehlte; der Gelehrte wußte wenig aus ihnen zu machen,
stand doch nicht einmal fest, welchem Volksthum sie ihren Ursprung ver¬
dankten, ob sie slavisch, celtisch, germanisch waren. Seit man vollends im
scandinavischen Norden eine Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, auf einander
folgende Perioden in der Entwickelung des Menschengeschlechts aus den Grab¬
funden erkennen wollte, wurden sie dem deutschen Gelehrten, dem die Anfänge
unserer durch Schriftdenkmale beglaubigten Geschichte ohnedies genug zu thun
machten, ganz verleidet. Erst in der neuesten Zeit ist die Bedeutung der Grab¬
alterthümer für die wissenschaftliche Forschung eine größere geworden. Nicht
sowohl durch die Entdeckung der Pfahlbauten, welche neue unsichere Perspec-
tiven in eine unmeßbare Urzeit des Menschengeschlechts eröffneten, wohl aber
durch einige andere Beobachtungen. Zunächst hat man unter ihnen, und nicht
blos im südlichen Deutschland und am Rhein, sondern auch im deutschen
Norden eine Anzahl von Geräthschaften aus Metall und Glas gesunden,
welche auf eine weit ältere und innigere Verbindung mit der antiken Cultur
des Mittelmeers schließen lassen, als man den Völkern Germaniens bisher
zuschrieb. Dann hat man in nicht wenigen Schmucksachen und Geräthen
aus Bronze, in Thongefäßen, ja sogar an den Steinwaffen die Ausbildung
einer sehr eigenthümlichen und offenbar heimischen Kunstfertigkeit erkannt,
welche ein neues Licht auf die vorchristlichen Culturverhältnisse in Deutsch¬
land wirst, und endlich hat man auf ausgegrabenen Schmucksachen, aus
Halszierrathen. Spangen. Armringen, Speerspitzen deutsche Runenschrift gefun¬
den, welcheodas Volksthum. ja in einzelnen Fällen sogar den Stamm und
die Zeit der Eingrabung sicher stellt. Seitdem eröffnet das Sammeln und
kritische Untersuchen dieser Reste auch ernster Wissenschaft neue Aussicht.
Die Provinz Schleswig-Holstein ist sehr reich an Grabalterthümern aus
der deutschen Heidenzeit. Alljährlich wird gefunden, wahrscheinlich kommt
nur Weniges aus erster Hand in respectable Sammlungen, das Meiste wird
schon beim Ausgraben zerstört oder bei Seite geworfen, Auffallendes von den
Findern unter der Hand verkauft. — Kein Theil der Landschaft aber bietet
nach dieser Richtung höheres Interesse, als die Insel Sylt. Dort erheben
sich auf dem ältesten Geestboden der Insel, welcher kaum die Hälfte derselben,
weniger als eine Quadratmeile, ausmacht, eine große Anzahl Grabhügel von
verschiedener Construction — nach der Zählung eines dortigen Sammlers an
hundert, von denen etwa die Hälfte noch ungeöffnet sein soll. Die Insel
ist seit ältester Zeit von deutschen Stämmen bewohnt, wahrscheinlich zuerst
von dem großen Volk der Chauken. dann von Friesen, sie hat bis in die
Neuzeit ihre friesische Bevölkerung verhältnißmäßig wenig gemischt bewahrt
unter den alten einfachen Lebensbedingungen als Landbauer, welche ihre
Jugend zu Handel, Abenteuer und Gewinn auf die See senden. Spät hat
das Christenthum dort den Heidenglauben verdrängt, über das Meer kam
alles Metall und bessere Töpferarbeit.
Die Gräberfunde auf Sylt scheinen nicht reich an Schmuck und Metall¬
arbeit, wohl aber an Waffen und Werkzeugen von Feuerstein. Stein-
geräth mag bis in die christliche Zeit — auf Sylt etwa bis zum Jahr 1000
unserer Zeitrechnung — gebraucht worden sein; die alte Technik, den Stein
durch Steinschläge zu verarbeiten, wurde kunstvoll, zuweilen zierlich geübt.
Was zur Todtenasche in den Grabhügel gelegt wurde, war selbstverständlich,
wie das ganze Ceremoniell der Bestattung, durch alten heiligen Brauch
bestimmt. Nun ist allerdings zweifellos, daß Steingeräth zu den ältesten
Erfindungen des Menschengeschlechts gehört, aber aus dem Vorhandensein
solcher Geräthe in Grabstätten auf eine unermeßliche Zeitentfernung ihrer
Eingrabung schließen zu wollen, wäre verkehrt. Denn noch lange nachdem
Eisenwaffen im Kriege verwandt wurden, blieb das Material, aus welchem der
Hammer des Gottes Donar gefügt war, im Ritual und Gesetz ehrwürdig. Zu der
Deposition von Steinwerkzeugen hatten die Bestattenden noch einen beson¬
deren Grund, der nirgend zwingender war, als an der Seeküste: die Grab¬
kammer galt für das Gemach des Todten, aus dem er zu den Göttern zog,
zu dem er wohl auch zurückkehrte, man wußte aber, daß Metallgeräth, wenn
es nicht von Gold oder Silber war, in der nassen Erde leicht unbrauchbar
wurde, ja ganz dahin schwand. Wir sind endlich zu der Annahme berech¬
tigt, daß bei germanischen so gut wie bei altitalischen Gräbern niedergesetztes
Geräth und Schmuck zum Theil für den Grabritus eigens angefertigt wurde.
Dies dürfen wir z. B. von manchen Bronzewaffen annehmen. Einige gefundene
Bronzeschwerter scheinen niemals dem praktischen Gebrauch des Lebens gedient
zu haben, sondern zu herkömmlichen Requisit eines vornehmen Grabes
gerade so als stehender Handelsartikel von Kaufleuten des Mittel¬
meeres bezogen worden zu sein, wie durch Jahrhunderte die sogenannten
etrurischen Vasen von italischen Völkern aus griechischen Töpfereien. Denn
die Construction der Schwertgriffe macht sehr unwahrscheinlich, daß die¬
selben jemals von der Faust eines Kriegers im Kampfe geführt sind. — Wir
haben aus diesen Gründen für die Zeitbestimmung der Gräberfunde aus
Sylt noch gar keine Handhabe. Auch die einfacheren oder kunstvolleren For¬
men des Steingeräths, an welchem man uralte Typen oder Nachbildung von
Bronzewaffen zu erkennen bemüht ist, lassen uns unsicher. Wir wissen nur,
daß die Leichenverbrennung der vorchristlichen Zeit angehört; selbst das neue
Christenthum mag in den ersten Jahrhunderten gegenüber altem Krieger- und
Seefahrerbrauch die Volkssitte nicht sofort beseitigt haben. Es ist also wahr¬
scheinlich, daß die jüngsten Grabhügel bis zum Jahre 1000 nach Christus auf¬
geschüttet worden sind, die ältesten, welche vielleicht kaum noch über den Boden
ragen, wenn sie nicht auf dem höchsten Kamm eines Erdrückens stehen, können
leicht mehrere Jahrtausende älter sein.
Ohne Zweifel wird aus den Gräberfunden selbst allmählich darüber
bessere Sicherheit zu gewinnen sein. Aber für eine wissenschaftliche Ausbeu¬
tung derselben ist zur Zeit noch wenig gethan, die Nachgrabungen, wie
sie von Neugierigen etwa unternommen werden, geschehen in der Regel sehr
unbehilflich; ungeübte Arbeiter zerstechen und zerstampfen vielleicht das
Werthvollste, am meisten, wenn sie selbst eifrig werden. Und selten wird ein
Grabhügel vollständig aufgedeckt, auch wenn man, wie in der Regel ge¬
schieht, einen Stollen seitwärts nach der Grabkammer treibt, darauf achtet,
stets die Sohle zu erreichen, von der eingeschwemmten Erde innerhalb
der Grabkammer den Spaten und die Rodehacke ganz fern hält und darin
vorsichtig mit kleinem Gartengeräth arbeitet.
Da die Heidengräber auf der Insel zwei sehr von einander abweichende
Constructionen zeigen, so wäre das nächste Interesse, aus den Gräbersunden
festzustellen, ob irgend welche Verschiedenheiten in Arbeit, Zeitalter, Verkehrs¬
beziehungen zur Fremde erkennbar sind.
Man darf annehmen, daß auch die konischen Grabhügel der Insel aus
sehr verschiedenen Zeiten stammen; auch ihre Construction ist nicht ganz gleich.
Die gewöhnliche Construction ist dieselbe, welche in einem hübschen Modell
des kieler Museums dargestellt ist. Ein kreisrunder Raum wurde keller¬
artig vertieft und dieser so vertiefte Grund mit Steinen gepflastert, in die
Mitte eine Anzahl großer erratischer Steinblöcke so zusammengestellt, daß sie
einen leeren Raum, die Grabkammer, einschließen, gegen Südosten zuweilen die
Steine so gefügt, daß sie eine Pforte bildeten, über die Steinblöcke Deck-
platten gelegt. In die Grabkammer wurden die Urnen und Todtengefäße
mit der Asche gesetzt, daneben Waffen und Geräth gelegt, und wie es scheint,
auch andere Gefäße, Schalen von Thon und Glas mit nicht nachweisbaren
Inhalt. Darauf wurden die Granitblöcke der Mitte zuweilen, aber nicht
immer mit geschichteten Steinen umsetzt, das Ganze mit Erde überschüttet und
jedenfalls, um den Hügel gegen Sturm und Regenguß zu sichern, mit Rasen über¬
zogen. Da Sturm und Regen ihre Wirkungen an den Hügeln trotz des alten Rasen¬
überzugs unablässig übten, so wurde die Höhe derselben nothwendig geringer, und
man darf als ein — allerdings unsicheres — Kennzeichen höheren Alters betrach¬
ten, wenn das Profil des Hügels flacher ist und allmälig mit der Ebene verläuft.
Da auf Sylt große Steinplatten zur Grabdecke nicht häufig waren, auch Gneis
und Schiefer derselben leicht brüchig wurden, so sind die Decken der Gräber mit
Grabkammern häufig gesenkt und eingestürzt. Außerdem war der Verschluß
der Zwischenräume zwischen den Steinen nicht so fest, daß er das Herab¬
rieseln und Einschwemmen der Erde in die Grabkammern hinderte, und des¬
halb ist dieser Raum fast immer mit feiner Erde unter dem gesenkten Deck¬
steine angefüllt, die Erde hat die Thongefäße, welche allmälig weich wurden,
zerdrückt, die deponirten Gegenstände umhüllt, das Kupfer pflegt sehr stark
oxydirt zu sein, und was etwa von Eisen in den Gräbern war, ist mit Sand
und Erde zu einer farblosen Masse zusammengebacken, welche, wenn man nach
einzelnen Fundstücken urtheilen darf, das Aussehen von Knollen oder Bruch¬
stücken von Raseneisenstein hat. Grade diese unscheinbaren Fundstücke ver¬
dienen besondere Beachtung.
Denn die Aufgabe des Grabenden muß allerdings sein, den ganzen
Inhalt des im Grabe Niedergelegten vollständig und möglichst wohlerhalten
ans Licht zu bringen; der nasse und weiche Thon oder vielleicht das Glas
der Gefäßscherben, die zerfallenden Oxyde von Kupfer und Eisen und die
sehr erweichten Bernsteinstücke machen das nicht leicht, zumal diese Sachen
oft mit Sand und Erde verkittet sind. Auch roh zugehauene Steingerärhe
lassen beim ersten Anblick zweifelhaft, ob man zufällige Splitter oder von
Menschenhand Bearbeitetes vor sich habe. Selbstverständlich sind Umkreis und
Höhe des Hügels, seine innere Construction, die Weite und Beschaffenheit
der Grabkammer genau zu bestimmen.
Die Klage des holsteinschen Blattes über das Verwüster und Ver¬
schleppen dieser Alterthümer ist nur zu wohl begründet. Aber es ist nicht
leicht dem abzuhelfen. Zwar ist das Nachgraben von obrigkeitlicher Erlaub¬
niß abhängig gemacht und Fremde können von der Behörde auf ihre Be¬
fähigung angesehen werden, wiewohl auch hier eine Prüfung unmöglich ist.
Aber das häufigste Aufdecken der sogenannten Hünengräber geschieht durch
die Eigenthümer des Grundes selbst zu irgend einem praktischen Zweck, und
dem ist schwer zu steuern, zumal in vielen Fällen nicht feststeht, ob ein Erd¬
aufwurf ein Hünengrab ist oder nicht. Denn bekanntlich sind nicht immer
und nicht überall die Grabstätten durch ausgezeichnete Gestalt von außen
kenntlich. Der Wunsch, eine Ungleichheit vom Ackerfeld zu tilgen, oder her¬
vorragende Steine zu Bauzwecken zu benutzen, bestimmt den Landmann, die
Stätte zu verwerfen. Was er dabei etwa Auffallendes findet, gibt er, da
ihm ein Verhandeln mit der Obrigkeit unbequem ist, unter der Hand an
Aufkäufer weg, welche jetzt auch entlegene Dörfer nach Antiquitäten ab¬
suchen, nach geschnitzten Holzmöbeln, alten Thronkrügen, Münzen und der¬
gleichen. Möge man da, wo einiges Interesse an solchen Alterthümern in
der Bevölkerung aufgeregt ist, wie z. B. in Sylt, Fremden wie Einheimi¬
schen das Graben nur dann gestatten, wenn sie sich verpflichten, das Gefun¬
dene einer öffentlichen Sammlung einzuverleiben. Noch besser wäre, wenn
sich einer der gescheidten Bewohner der Insel im Einvernehmen mit dem
Herrn Landvogt und den Herren Bauervögten bereit erklärte, diese Grab¬
sunde, bis eine Ablieferung an das Museum in Kiel rathsam wird, pflicht¬
getreu und uneigennützig und unter guter Aufsicht aufzustellen und zu be¬
wahren. Zur Zeit ist unzweckmäßig, die Fremden, welche ein Hünengrab
öffnen, zu beargwöhnen, während die Einheimischen die Hügel achtlos als
Steingruben benutzen.
Leider ist der Zustand des Schleswig-holsteinschen Museums für vater¬
ländische Alterthümer gegenwärtig derart, daß eine Aufstellung neuer Funde
fast unmöglich ist. Die Räumlichkeiten desselben sind so dürftig und so
wenig zweckentsprechend, dass vielleicht nur die Hälfte des Vorhandenen dem
Publicum sichtbar ist, vieles Werthvolle liegt seit Jahren verpackt und auf¬
geschichtet.
Außerdem stehen noch die Kisten mit allen den Alterthümern uneröffnet,
zu deren Herausgabe die Dänen durch den Friedensschluß von 1864 ge¬
nöthigt worden sind, und man kann von sehr patriotischen preußischen Ge¬
lehrten die Ansicht aussprechen hören, es wäre für die Wissenschaft besser
gewesen, wenn diese Alterthümer nutzbar und wohlgeordnet in Kopenhagen
geblieben wären, anstatt jetzt verpackt in einem Lagerraum der Feuchtigkeit
und dem Rost achtlos überlassen zu werden.
Es ist unbillig, der Staatsregierung aus diesen dürftigen Zuständen
des Museums einen Vorwurf zu machen, sie hat für die nächste Zeit in der
Provinz sehr viel zu schaffen, der Universität Kiel fehlt Universitätsgebäude,
Bibliothek, mit Ausnahme der medicinischen Anstalten jede zeitgemäße
Etablirung der Naturwissenschaften durch Laboratorien und Apparate. Und
sie wird voraussichtlich durch eine Reihe von Jahren für die Herzogthümer große
Summen auszugeben haben. Aber die antiquarische Sammlung der Herzog¬
thümer zu erhalten, ist auch nicht Pflicht der Staatsregierung. Das
Museum für vaterländische Alterthümer ist zunächst eine Anstalt von pro¬
vinziellen Interesse und es ist Aufgabe der Provinz, dasselbe der Wissen¬
schaft zu bewahren, für zweckmäßige Räumlichkeiten zu sorgen und die Mittel
zu einer Ergänzung zu gewähren.
Hier ist keine Parteisache; jeder Schleswig-Holsteiner vermag ein patrio¬
tisches Interesse an der Reconstruction dieses Museums zu bethätigen. Es ist
allerdings Recht des Landtags, die Landschaft auch in dieser Angelegenheit
zu vertreten; da aber die Provinzialstände des Herzogthums voraussichtlich
im Drange anderer Geschäfte nicht sehr bereit sein werden, ihre Arbeiten mit
einer Anleihe für ein Kunstinstitut zu beginnen, so ist wünschenswert!), daß
zunächst einflußreiche Privatpersonen diese Sache in die Hand nehmen. Das
Museum steht unter der Verwaltung eines Ausschusses ausgezeichneter und
bedeutender Männer; mögen diese sich durch Herbeiziehung anderer Kräfte
ergänzen und durch ein eingesetztes Comite die Beschaffung einer würdigen
Räumlichkeit und durch Actien die Beschaffung eines Fonds betreiben, wel¬
cher die Möglichkeit gewährt, die Beamten mit anständigem Gehalt auszu¬
statten und in dem Lande planmäßig und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit
Ausgrabungen vorzunehmen. Mit mäßigen Geldmitteln läßt sich hier Vieles
ausrichten. Wenn nicht in Kiel, so ist vielleicht in Schleswig oder Altona
ein Gebäude vorhanden, welches den Neubau entbehrlich macht; ein Zu¬
sammenhang des Museums mit der Universität, ohnedies fast zufällig, hat
keine innere Nothwendigkeit, es ist im Zeitalter der Eisenbahnen nicht nöthig,
nicht einmal wünschenswert), alle wissenschaftlichen Culturinteressen an einem
Orte zu concentriren. Aber selbst wenn ein Neubau unvermeidlich würde,
was bedeutet er für die reiche Landschaft?
Da die Localpresse den heimischen Alterthümern warme Beachtung schenkt,
so wird ihr wohl anstehen, ihre Landsleute auf diese Ehrenpflicht hinzuweisen
und eine Besserung des gegenwärtigen Zustandes herbeizuführen, und sie wird
in diesem Falle nichts Ungewöhnliches und Unerhörtes fordern, sondern etwas,
was sich in Deutschland fast von selbst versteht. Schleswig-Holstein steht in der
werkthätigen Theilnahme an seinen wissenschaftlichen und Kunstinstituten hinter
fast allen Landschaften Norddeutschlands zurück. Fast alle größeren und einige
Mittelstädte haben durch die Anstrengungen einer einzelnen' Commune Museen
und Gebäude sür ihre wissenschaftliche Sammlungen erbaut, überall ist die Opfer¬
willigkeit von Privaten den Communen bereitwillig, oft in großartiger Weise
entgegengekommen. Wenn eine mäßige Stadt wie Hildesheim sich weite,' stattliche
Räume so vortrefflich für ihr Localmuseum einrichtet, wenn es möglich war, in
Leipzig binnen wenigen Jahren mehr als 800,000 Thlr. für ein Museum
und ein Theater zu beschaffen, wenn das Herzogthum Gotha, welches ein
Zehntel der Einwohnerzahl von Schleswig-Holstein enthält, für die Kunst¬
sammlungen des Landes einen sehr stattlichen Bau ausführt, der mehr als
eine Viertelmillion Thlr. kostet, so ist es für eine Provinz mit den Städten
Altona und Kiel und mit so viel altem Wohlstand keine Ehre, wenn die
große Sammlung von Alterthümern, welche in ihrer Art ausgezeichnet ist
und zu den Eigenthümlichkeiten des Landes gehört, in so trauriger Weise
vernachlässigt liegt.
Es wird hochverdienstlich sein, wenn die Presse Schleswig-Holsteins in
diesem Sinne sür die Alterthümer ihrer Landschaft sorgt, und Schreiber
dieser Zeilen bittet diese ehrliche Bemerkung als seinen Dank dafür anzu¬
nehmen, daß man in den Zeitungen der Provinz seinem bescheidenen Interesse
an den Reliquien alter Zeit Beachtung gegönnt hat.
Mit Unrecht hat man sich gewöhnt, die reiche lyrische Poesie Nord¬
frankreichs im Mittelalter mehr oder weniger als reinen Abklatsch der etwa
fünfzig Jahre früher blühenden Trobadourpoesie anzusehen und ihr einen
selbständigen Werth abzusprechen. Wenn dies literargeschichtliche Vor¬
urtheil trotz der vorgeschrittenen Kenntniß der mittelalterlichen Poesie über¬
haupt und der altfranzösischen Dichtung im Besonderen heute noch besteht
und in manchen literaturgeschichtlichen Arbeiten wie eine Thatsache aus¬
gesprochen wird, so hat dies seinen Hauptgrund in der Vorliebe, mit
der die bedeutendsten Vertreter der romanischen Philologie in Deutschland und
Frankreich, D i ez an der Spitze, sich dem Studium der provencalischen Literatur
und der Herausgabe ihrer hauptsächlich der Domaine der lyrischen Poesie ange¬
hörenden Denkmäler zuwandten, von denen verhältnißmäßig nur noch ein kleiner
Theil ungedruckt ist*). Unterdessen ist die Poesie der nordfranzösischen Trou-
veres in Bezug auf die Herausgabe ihrer Denkmäler fast ganz und gar ver¬
nachlässigt worden, in ihrer literargeschichtlichen Behandlung aber, abgesehen
von einzelnen guten Arbeiten, in die Hände von ungeeigneten Bearbeitern ge¬
fallen, die, meist voll guten Willens und Kirchthurmpatriotismus, aber mit
nur sehr mangelhafter Kenntniß ihres Stoffes und einem weit über, das
Ziel hinausschießenden Eifer nicht nur zur Aufklärung des Gegenstandes und
zur Erweiterung der Kenntniß dieser Periode sehr wenig beitrugen, sondern
sogar durch Findenwollen, wo nichts ist, Hineinlegen von Beziehungen, wo
keine waren, die Begriffe eher falschem, als klärten und zahlreiche Irrthümer
ins Leben riefen, die, wie Unkraut, das einmal Wurzel gefaßt, von der
nachfolgenden sachkundigen Kritik nur mit Mühe ausgerottet werden können.
, Wie zahlreiche Lanzen auch im vorigen Jahrhundert für Werth und
Wichtigkeit der nordfranzösischen Literatur von Legrand d'Aussy und seinen
Gesinnungsgenossen gebrochen wurden, von den eigentlichen Vorzügen der
Trouveres als Liederdichter, von den Punkten, wo sie den Dichtern dert^anZuö
ä've offenbar überlegen sind, hatten' diese Champions der nordfranzösischen
Dichtung nur eine sehr geringe oder gar keine Kenntniß. Wir sagen die
eigentlichen Vorzüge der nordfranzösischen Lyrik, denn das sind wir weit
entfernt bestreiten zu wollen, daß die Trouveres in der poetisch-rhetori¬
schen Behandlung der Erotik (im Sinne von Diez), in der eigentlichen
Dialektik der Minnepoesie, namentlich aber in der Gewandtheit und viel¬
seitigen Ausbildung der Form, in der Glätte und Gefeiltheit der Sprache,
worin die provenxalische Dichtung, diese erste aller modernen Kunstpoesien,
so wunderbar weit gekommen, die Schüler und meistens die weit hinter ihrem
Muster zurückgebliebene Schüler der Troubadours waren. Es haben in allen
Theilen der höfischen Poesie, in Sirventes, Canzonen, Planhs, Sonets, Ten-
zonen, und wie die vielfachen Formen und Arten der erfindungsreichen Trou¬
badours alle heißen mögen, die Trouveres ihre Vorbilder selten erreicht und
die Stücke, die sich wirklich mit provenxalischen derselben Art messen können,
sind zu zählen.
Wirklich überlegen sind aber die Trouveres den Dichtern der I^nZue
et've in allen Arten der volksthümlichen Poesie, in dem volksmäßigen bal¬
ladenartig erzählenden Liede, in der eigentlichen Romanze, in Trink- und
Tanzweisen, Estampins, MotetS und vor Allen in den Pastourellen. Wenn
durch den nunmehr festgestellten Einfluß der schon im Anfang des 13. Jahr¬
hunderts in Südfrankreich sehr bekannten nordfranzösischen Dichtung zu den
Zeiten der Nachblüthe der provencalischen Literatur hie und da ein Versuch
gemacht wurde, diese volksthümlichen Dichtungsarten des Nordens im Süden
einzuführen, so vermochte man sie doch nur zu einer kümmerlichen Existenz
zu erwecken. — Der der Entwickelung der höfischen Poesie so ungemein vor¬
theilhafte Boden Südfrankreichs konnte das Gedeihen dieser urwüchsigen Pflanzen
nicht begünstigen; sie gingen nach Zerstörung ihrer eigentlichen Natur in
eine Ab- und Mischart höfischer Poesie über. Das bemerken wir namentlich
bei den Pastourellen, die doch schon ziemlich früh in Südfrankreich eingeführt
se,jn müssen*). Abgesehen von den herkömmlichen Figuren der Schäferin und
des Ritters haben sie mit den nordfranzösischen Stücken dieser Art fast gar
keine Ähnlichkeit mehr — diese volksthümliche Poesie Nordfrankreichs, der
beste Titel auf die Eigenthümlichkeit und Originalität seiner lyrischen Dichtung
im Mittelalter, ist eine vollkommene Offenbarung des französischen Volks¬
geistes in seinem älteren Typus, da ihm das Streben nach classischer Form
und Regelmäßigkeit, das sich später mit breitspuriger Ausschließlichkeit Geltung
verschaffte und die wilde, üppig kräftige Blume der Volkspoesie verdrängend
und aufrollend, die Treibhauspflanze der Hofpoesie an ihre Stelle setzte, —
noch nicht strenge die Flügel beschnitten. — Der letzte Vertreter oder Epigone
der naiven Poesie, welcher die Natürlichkeit, Leichtigkeit und übermüthige
Laune dieses älteren französischen Literaturtypus mit der Glätte, Formstrenge
und äußerlichen Correctheit des classischen Typus aufs glücklichste und an-
muthigste zu verbinden wußte, war Lafontaine, der poetische Erzähler
exeellönee.— Weiter zurücksteigend in die Gebiete der älteren Literatur
können wir Marot, Viktor und Rustebues als hauptsächliche Vertreter dieser
älteren naiven Kundgebung des französischen Esprit anführen. — Das eigent¬
liche französische Mtttelalter hat uns von den Namen solcher volksmäßigen
Lyriker, von deren Werken uns eine ziemlich große Anzahl in den zahlreichen
französischen Liederhandschriftenerhalten sind, nur sehr wenige aufbewahrt.
— Die meisten dieser Liedersammlungen sind für vornehme Personen ange¬
fertigt und haben sich, wenn sie auch gelegentlich unter zahlreichen Produkten
der Hofpoesie den Erzeugnissen der volksthümlichen Muse Raum verstatteten,
doch um die Namen der Verfasser dieser Stücke nicht dieselbe Mühe ge¬
geben, die sie sich nicht allein sür die Feststellung der Namen der Ritter
und Herren, sondern auch für die genaue Erforschung und prächtige Dar-
stellung ihrer Wappenbilder gaben. Wir können daher mit einiger Ge¬
wißheit annehmen, daß die wenigen Dichter aus dem Volke, deren Namen
dennoch in den Sammlungen auf uns gekommen sind, eines weitverbreiteten
Rufes genossen.
Einer der hervorragendsten Dichter dieser Art, die wir mit dem Namen
ihrer Zeit Jongleurs nennen, ist Colin Musee, dem ungefähr 11—12
Stücke in verschiedenen Handschriften beigelegt werden. Neben den ungefähr
70 Liedern, die uns von Thibaut IV. von Navarra aufbewahrt sind,
oder gar den mehr als 80 des Gasse Brule nimmt sich die dichterische
Equipage Colin's allerdings ziemlich bescheiden aus.
Bedenken wir aber, daß der Dichterruhm mancher sogar in der Zeitgeschichte
sehr berühmten Dichter z. B. des Johann de Braine, des Königs von
Jerusalem, des Karl von Anjou und Richards Löwenherz nur
auf drei, zwei, sogar nur einem Gedichte beruht! Und noch weniger dürfen wir
uns über die geringe Anzahl der von Colin aufbewahrten Stücke wundern,
wenn wir ein schon oben berührtes Argument dazu nehmen, daß nämlich die
Schreiber der meist prächtig ausgestatteten Liedersammlungen (wie sie uns
noch heute namentlich von der kaiserlichen Bibliothek zu Paris aufbewahrt
werden) offenbar nicht dieselbe Sorge getragen, in diesen Handschriften, die
sich Ritter und Herren mit großen Kosten anfertigen ließen, die Gedichte
irgend eines Jongleurs zu sammeln, mit der sie eine vollständige Sammlung
der beliebten Gedichte des Königs von Navarra, des Grafen von Champagne
oder des Modedichters Monseigneur Gasse Brule' zusammenzustellen
suchten. — Die beiden Handschriften vielmehr, welche uns die besten und
vollständigsten Recensionen von Colin's Gedichten aufbewahren, sind die ein¬
zigen Liedermanuscripte, von denen man mit Sicherheit sagen kann, daß sie
für den Handgebrauch eines Jongleurs zusammengestellt sind. Für diese
mochte sich das Bedürfniß ergeben, auch zuweilen dem dörflichen Ge¬
schmack zu genügen, und gewiß fanden sie häufig die derbere Gastfreund¬
schaft und die Schinken und Würste irgend eines fetten Klosterbauern ebenso
gut, wie die Pelzmäntel, Pferde und Kleinodien der Ritter, die es ohnehin
nicht alle Tage regnete, wie uns ein Lied vou Colin selbst belehren wird.
— Wenn diese volksthümlichen Erzeugnisse dem dörflichen Geschmack zusagten,
so wurden sie von Rittern und Großen doch auch nicht verschmäht; haben
sich doch Fürsten und Könige nicht gescheut, mit den Jongleurs in die Arena
zu treten und um den Preis der volksthümlichen Dichtung zu concurriren;
wir erinnern nur an die Pastourellen des Königs von Jerusalem, des
Königs von Navarra und des Grafen von der Mark, Hugo's von
Lusignan. u. A. in. Daß aber bei weitem die größte Anzahl der Pastou¬
rellen, dieser Hauptart unter den volksthümlichen Genres, anonym überliefert
ist, dürfte ein Beweis dafür sein, daß die vornehmen Herren wohl zu¬
weilen sich in diesen leichten Spielen des Geistes zu üben liebten, doch ohne
gern ihren Namen dazu herzugeben. Derselbe Grund hat wohl in den
meisten Handschriften den Pastourellen und sonstigen Erzeugnissen der volks¬
thümlichen Muse einen so untergeordneten Rang zugewiesen. Die großen
Herren reinem in ihren wilden Jugendtagen gern irgend einen mehr oder
weniger derben Gassenhauer, eine lustige Tanzweise oder gar ein Trinklied,
desavouirten aber diese Jugendsünden in reiferen Jahren sorglich.
Unser Dichter gehört sicherlich dem Anfang des 13. Jahrhunderts an,
wenn wir auch sonst nicht viel Sicheres von ihm wissen. Das beweist:
„mein guter Herr von Waignonrut"
wie Colin ihn in dem Geleit eines seiner Lieder nennt, und der höchstwahr¬
scheinlich mit einem Gautier de Gaignonru identisch ist, welcher, wie
wir aus Villehardouin sehen, den Kreuzzug von 1199 mitmachte, das beweist
ferner der in demselben Gedichte genannte Graf von Widemont oder
Vaudemont, der. wie uns die fleißige Kompilation der Benedictiner (l'art as
v6riÜLr les 6g.tsL) lehrt, im Jahre 1233 starb und schon 1187 bet Tt-
berias ankämpfte. Beide gehören der Champagne an, was uns zugleich
einen Anhalt für das Vaterland des Colin gibt, den die Champagne mit
Recht reclamirt.
Das Vaterland aber und die ungefähre Lebenszeit ist auch Alles was
wir über Colin wissen. Die neuere Kritik hat nichts Positives zu diesen
Daten hinzugefügt, sie hat sich, wie das leider meist ihre Aufgabe ist,
darauf beschränken müssen, hier wie bei anderen Dichtern des Mittelalters
die künstlich aufgeführten biographischen Gebäude der Dilettanten des vorigen
und dieses Jahrhunderts zu zerstören. — Zu diesen durch Nichts begründeten
biographischen Notizen, in deren Aufnahme und Erfindung vor Allen
Laborda, der Verfasser des bekannten Lssai -zur 1a Nusiyuö, große
Leichtfertigkeit bewies, gehört z. B. die Nachricht, daß Colin sich in irgend
einer officiellen Stellung am Hofe Thibaut's des Vierten von Navarra be¬
funden, oder gar Mitglied der fabelhaften Akademie gewesen sei, die man
diesem König und Dichter zu Troyes hat gründen lassen. In dieselbe Kate¬
gorie von Fabeln gehört die Notiz, daß Colin die Kirche Le. Julien ach
w6n6triei'8 gegründet habe, daß er die Vielle (ein beliebtes Saiteninstrument),
das Vaudeville, das Tanzlied erfunden habe u. tgi. Das Alles gehört in
das Reich der müßigen Erfindungen.
Was wir Positives über Colin wissen, geht lediglich aus den Gedichten
hervor, die in den verschiedenen Handschriften seinen Namen tragen, und in
denen er außerdem meist Sorge getragen hat, sich zu nennen. Wir erfahren
daraus, daß er Jongleur von Metier war, Dichter und Musiker zu gleicher
Zeit und daß er vielfach in der Champagne und in der Lorraine, vielleicht auch
in Flandern und Artots umherzog. Außer den Grafen von Waignonrut
und Widemont zählte er noch andere große Herren und Damen zu seinen
hohen Gönnern, so ist z. B. eines seiner Lieder, ein Descort (welches
überhaupt die poetische Form war, in der er sich mit Vorliebe bewegte), an
eine nicht genannte Herzogin gerichtet, unter welcher wir Agnes von Bar,
Herzogin von Lothringen zu vermuthen Grund haben. — Aber nicht
überall war Colin gleich gern gesehen, nicht immer wurden ihm die Ehren¬
gaben des Dichters zu Theil, das zeigen seine häufigen Klagen über die
kargen Schenker. So sagt er in einem seiner Lieder:
„Wenn ich Gott wäre, so würde ich die Welt ganz anders schaffen und
bessere Leute hineinsetzen, denn die vorhandenen sind nichts werth. Je mehr
Gold und Silber. Pelzwerk und Seidenstoffe sie besitzen, um so kärglicher
schenken sie, kärglicher als ein wuchertreibender Jude."
Noch directer und bitterer beklagt er sich in einem anderen Gedichte
über den Geiz eines nicht genannten Grafen, vor dem er in seinem Schlosse
die Viola gespielt, der ihm aber nichts gegeben habe — das sei ein unadeliges
Betragen (vilame). Dasselbe Gedicht zeigt uns, daß Colin Familienvater
war; er erzählt uns, wie seine Frau ein böses Gesicht machen werde, wenn
er mit leerem Säckel heimkomme und führt sie sprechend ein: „Euer Quer¬
sack schlägt Falten und ist nur vom Winde aufgeblasen." Angenehmer da¬
gegen, sagt Colin weiter, sei sein Empfang, wenn er mit gefülltem Quersack
hinter sich und schön geschmückt mit einem neuen pelzverbrämten Kleide heim¬
komme, dann lege seine Frau schleunigst den Rocken bei Seite, komme ihm
freundlich lächelnden Angesichtes entgegen, umarme ihn und entledige das
Pferd, das dann der Knabe zur Tränke führe, des gefüllten Sackes, während
seine Tochter zwei Kapaunen schlachte, um sie in Knoblauchssauce zuzubereiten
und ein anderes Mädchen für seine Toilette sorge. Dann fühle er sich so
wohl in seinem Hause, mehr als man sagen könne. — Dies Gedicht ist in
vielfacher Beziehung interessant; es zeigt uns zunächst, daß Colin einer ge¬
wissen Wohlhabenheit — wahrscheinlich durch die Freigebigkeit seiner Gönner,
die er aber auch niemals um den Preis seiner poetischen und musikalischen
Leistungen zu mahnen vergaß — genoß, vielleicht angefeuert durch seine Frau,
welche, wie es scheint, gleich der Albrecht Dürer's, das Talent ohne materielle
Resultate nicht zu schätzen wußte, sondern einen wohlgefüllten Quersack höher
stellte, als allen Dichter- und Künstlerruhm. In diesem speciellen Falle
scheint der Himmel auch kein ungleiches Paar zusammengeführt zu haben.
Denn wie Colin selbst sich hier als einen Verehrer leiblichen Wohlseins,
wohlgebratener Kapaunen und eines behäbigen Lebens in seinem Heim hin¬
stellt, so zeigt er sich auch in anderen Gedichten als einen Epikuräer und
Freund grobmaterieller Genüsse:
„Wenn ich mein Liebchen im Arme halte auf einer rings von Bäumen ein¬
geschlossenen Wiese im Sommergrün und wenn ich außerdem gebratene Gänse
und Backwerk, Hühnchen, Torten, ein Spanferkel und Rindfleisch mit Kräuter¬
sauce habe, dazu in einem Tönnchen kühlen, starken und lieblichen Wein, um
bei der großen Hitze zu trinken, dann fühle ich mich wohler, als auf einem
Schiff im Meere in großer Furcht."
Dieses Stück Lebensphilosophie eines lustigen Sängers und Musikers
aus dem dreizehnten Jahrhundert, das zugleich Beiträge liefern kann zu
einem Speisezettel dieser Epoche, zeigt uns, daß Colin in allen Stücken ein
vollendeter Epikursjünger war. Die meisten seiner Lieder zeigen ihn außer¬
dem als eifrigen Verehrer des schönen Geschlechts. So beginnt er z. B.
eines seiner hübschesten Lieder:
„Im Mai, früh Morgens beim Ausgang der Sonne, als die Vögel
mit großer Freude sangen, ging ich auf eine blumige Wiese, einen Kranz in
der Grüne zu winden. — Da sah ich ein Mägdlein, lieblich und schön und
lachenden Mundes, das mir zurief: .Komm her, geig' mir hübsch vor und
singe dazu!' Ich eilte zu ihr und sang ihr den Musee, während ihre blonden
Locken, ihre schönfarbigen Wangen und ihr zierlicher Leib in glänzenden und
kostbaren castilischen Stoff gekleidet mein Herz vor Freude hüpfen machten."
Hier war es nicht ein kostbarer, pelzgeschmückter Mantel, nicht ein wohl¬
gefüllter Quersack, der den Dichter belohnte, ihm ward ein schönerer Lohn
zu Theil, worüber er uns keinen Zweifel läßt. — Charakteristisch und nicht
ganz zu dem hochpoetischen Anfang stimmend, ist der Schluß, wo er uns er-
zählt, wie er sein Schätzchen mit leckeren Bissen, hervorgezogen aus seinem
Quersack, und mit gutem Weine geletzt." —
Colin fühlt sich in diesem herumziehenden Leben, heute im Schlosse,
morgen im Dorfe, heute mit Rittern und Herrn, morgen mit Bauern und
Schäfern, aber immer lustig und guter Dinge, sehr glücklich, nur sagt
die dörfliche Gesellschaft seiner etwas derben Natur im Grunde mehr zu, als
die der Herren:
„Wenn bei dem Klänge der Hirtenflöte und der ländlichen Trommel
Knaben und Mädchen singen und voll ausgelassener Freude sind, jedes mit
einem Blumenkranze und grünen Laubzweigen geschmückt, und dazu die
Vögel schön singen, so wandelt mich große Freude an. Vergnügter sind
sie wahrlich, bei Sanct Marzell, als Mancher im hohen Schlosse!"
'
Schätze anzusammeln ist Colins Sache nicht; so leicht, wie er gewonnen
worden, so leicht verrinnt sein Lohn auch wieder:
„Mancher sammelt tausend Mark zu einem großen Haufen und lebt
dabei in Unehre. Der Teufel hat seine Haut, seinen Leib und seine Seele
unwiderruflich. Darum will ich bald und schnell meinen Mantel verzehren
in einer guten Stadt. — Wozu Ueberfluß haben, wenn man ihn nicht an¬
ständig verzehrt?"
Dieselbe Leichtlebigkeit zeigt uns eine Stelle eines anderen hübschen
Liedes, das in lauter Diminutiven reimt:
„Mein blondlockiges Liebchen versetzt mich in solche Freude, daß ich
alle meine Schulden vergesse."
Dasselbe Lied schließt er auf würdige Weise so:
„Man nennt mich Colin Musee; manchen guten Kapaunen habe ich
gegessen, manchen Braten und manche leckere Torte in grünen Gärten und
auf Wiesen. Und wo ich einen Wirth finde, der mir Credit gibt und
leiht, da bleibe ich. Nicht will ich meinen Gaul ermüden, kargen Herren
nachzulaufen; wenn ihnen mein Bitten verhaßt ist, so ist mir ihr Weigern
noch hundertmal verhaßter."
Das Alpha und Omega Colin's aber, sein Lieblingsthema, auf das er
am häufigsten zurückkommt, ist eine gute Küche. Hält er leckere Bissen doch
sogar für ein Mittel, die Gunst seiner Angebeteten zu erwerben. „Ihr
werdet sehr gut bedient werden" ruft er ihr zu, „mit fetten Bissen und ge-
bratenem Fleisch. Lieblicher Wein werden wir trinken und ein gutes Leben
führen."
Auch Trost bei verschmähter Liebe und Heilmittel der Liebe sind ihm diese
materiellen Genüsse. Das sehen wir in einem interessanten „Jeuparti" mit ssaikss
ä'^,miöU8, dem Verfasser einer Kunst zu lieben (nach Ovid) die neuerdings
gemeinsam mit einem ihm ebenfalls, aber irrig, zugeschriebenen Heilmittel
der Liebe von Körting herausgegeben ist. Jaikes d'Amiens beklagt sich
über unerwiderte Liebe. Colin sucht ihm durch alle möglichen Mittel von
der Liebe überhaupt abzurathen und schiltet ihm die Schlechtigkeiten der
Weiber. „Es ist ein alter Gebrauch bei ihnen, sie lieben Keinen, der nicht
den Säckel gut gefüllt hat." Als er sieht, daß er den Liebesritter doch nicht
bekehren kann, erklärt er sich zu fetten Kapaunen, leckeren Torten und
gutem Weine zurückziehen zu wollen, er habe seine Liebe den guten Bissen
zugewendet und einem großen Feuer bei dieser Kälte. — Er fordert den
Jaikes auf seinem Beispiele zu folgen, dann werde er ein gutes Leben
führen. Jaikes jedoch erwiedert ihm: „Suche Du gemüthliche Ruhe in
Deinem Hause, Colin, ich werde Scherz und Lustbarkeit der Liebe suchen,
denn ich kann ihrer nicht entrathen!"
So lernen wir einen Dichter kennen, der an sorgloser Heiterkeit des Ge>
müths und an dichterischer Leichtigkeit mit den besten seines Volkes aus
späterer Zeit wetteifern dürfte. Unter den lyrischen Schöpfungen des drei¬
zehnten Jahrhunderts aber, unter der Masse der sich leicht in todten Formen
und ewigen Wiederholungen bewegenden Kunstdichtungen muß solche Natur-
frische als wahre Oase begrüßt werden.
Vorbemerkung. Bevor wir unsern Memoirenschreiber über seine fer¬
neren Erlebnisse berichten lassen, scheint uns angemessen, über die merkwürdige
Episode russischer Geschichte, welche zu diesen Aufzeichnungen Veranlassung ge¬
geben, einige Erläuterungen nachzutragen.
Ueber den Verfasser und dessen Erlebnisse brauchen wir Nichts zu be¬
merken. Die schlichte, allenthalben das Gepräge strengster Wahrheitsliebe
tragende Art der Darstellung kennzeichnet den Ehrenmann, der das Ge¬
schick, in welches er sich verflochten, mit Muth und Würde trägt. Unerklärt
bleibt nur, wie er und seine Genossen überhaupt in ein Wagstück verflochten
wurden, dessen unglücklicher Ausgang von Hause aus ziemlich zweifellos ge¬
wesen war. '
Nach der zweiten Einnahme von Paris hatten russische und preußische
Besatzungstruppen Jahre lang in Frankreich gestanden. Während das
preußische Offizierscorps, dessen Glieder zum Adel gehörten, von tiefgewurzelten
Franzosenhaß, zuweilen auch von lebhafter Abneigung gegen die französischen
Revolutionsideen durchdrungen war und nur den Wunsch nährte, in die Hei¬
math und die alten Verhältnisse zurückkehren zu können, hatten auf die Russen
die Jahre des Aufenthalts auf französischer Erde in durchaus anderer Weise
gewirkt. Für den jungen russischen Adel namentlich der Garderegimenter war
der französisch-deutsche Feldzug mit dem Eintritt in eine Culturwelt identisch
gewesen, von der bis dazu nur Einzelne nähere Kunde gehabt hatten. Unter
einem milderen Himmel, inmitten neuer Verhältnisse, welche das Gepräge einer
höheren Cultur trugen, unter dem Einfluß sanfterer Sitten und humanerer
Lebensanschauungen gewannen die Offiziere Rußlands neue Gesichtspunkte
für die Beurtheilung der Zustände des Heimathlandes. Den jungen Män¬
nern, welche den größten Theil ihres Lebens in der Eintönigkeit entfernter
russischer Provinzialstädte oder im bacchantischen Taumel der Petersburger
Feste verbracht hatten, ging am blühenden Strand der Loire und Garonne
eine neue schönere Welt auf, deren Zauber sie sich mit Entzücken Hingaben. Die
Muße eines bloßen Besatzungsdienstes, die großen Entfernungen, durch welche
die einzelnen Truppenabtheilungen von einander getrennt waren, verstatteten
eine Freiheit der Bewegung, wie man sie bisher kaum geahnt hatte. Die
politischen Parteikämpfe, welche Frankreich erfüllten, fanden an den jungen
Fremdlingen aufmerksame und gelehrige Zuschauer. Gerade die tüchtigeren
und strebsameren Elemente der russischen Garde sogen die Ideen von Bür-
gerthum, Freiheit und Verfassungsrecht mit Begeisterung ein und vertieften
sich mit Leidenschaft und Bewunderung in das Leben des Volks, zu dessen
Bekämpfung sie aus dem fernen Osten herangezogen waren. In mehr wie
einer Brust lebte der Gedanke, ob es denn nicht möglich sein werde, die
ferne Heimath der gleichen Wohlthaten theilhaft zu machen und mit der warmen
Begeisterung der Jugend setzte man über die tiefe Kluft hinweg, welche
zwischen den russischen und den französischen Bildungsvoraussetzungen lag.
Als die Jahre des Aufenthalts in Frankreich vorüber waren, zog die Blüthe
des Offiziercorps der Garde mit der Absicht nach Hause, Frankreich nach
Nußland zu importiren. Es bildeten sich zunächst in der Mehrzahl der
besseren Regimenter Freimaurerlogen von rein politischer Färbung; als diese
aufgelöst und verboten wurden, fanden ihre Glieder sich in geheimen Gesell¬
schaften zusammen, die unter den Namen „Bund des Nordens", „Bund des
Südens" und „vereinigte Slaven" das eine Ziel verfolgten, Rußland eine
constitutionelle Staatsform zu schaffen. Man wußte, daß sich der Kaiser
Alexander selbst mit ähnlichen Gedanken trug und glaubte darum im Sinne
desselben zu handeln, wenn man einer Umgestaltung der russischen Verhältnisse
vorarbeitete. Alexander aber, erschreckt durch die liberale Bewegung in Deutsch¬
land, lenkte bald in andere Bahnen und jetzt stand der junge Milttäradel
in directen Gegensatz zu dem herrschenden System. Verschiedene Repressions-
maßregeln blieben erfolglos, zumal auch ein Theil der Soldaten von dem
französischen Gift angesteckt war und eine Behandlung wünschte, wie er sie in
Frankreich gesehen hatte und gewohnt geworden war. Die Enragis unter den
Verschwörern wurden dem Kaiser immer mehr entfremdet und wandten sich
einem republicanischen Ideal zu. — Noch bevor Alexander starb, waren
Schilderhebungen in Petersburg und in Südrußland im Werke; sein Tod
brachte das Unternehmen zur Ausführung, ehe es reif geworden war. Man
glaubte die Verwirrung benutzen zu müssen, die durch Constantin's Entsagung
entstanden war und schlug los, bevor die Organisation des Aufstandes einen
sicheren Ausgang verbürgte; hatte erst Nikolaus' feste Hand die Zügel der
Regierung ergriffen, so erschien es unmöglich, irgend etwas gegen die Dy¬
nastie und die ihr ergebenen Massen auszurichten.
Der Aufstand von 1825 brach gleichzeitig an zwei Punkten aus und
mißlang an beiden. Ihre Theilnehmer beabsichtigten eine politische Unmöglichkeit
und hatten es sich somit selbst zuzuschreiben, wenn sie die Opfer ihrer Un¬
besonnenheit wurden. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß es die Blüthe
der Garde, überhaupt der jungen Intelligenz gewesen war, welche den Hand¬
streich von 1825 gewagt hatte. Mit jugendlicher Begeisterung hing man an
einer Anzahl begabter, aber gleichfalls dem wirklichen Leben fernstehender
Führer; unser Memoirenschreiber und mit ihm viele andere Offiziere hielten
es für ein Gebot der Ehre, Gefahr und Noth mit den Männern zu theilen,
die sie als edle, begeisterte Vorkämpfer der modernen Ideen kannten. — Das
Bewußtsein, den Besten anzugehören, wirkte stärker, als die Furcht vor Tod
und Exil — man war zum ersten Mal mit dem Idealismus in Berührung
gekommen und konnte der Zauberkraft eines Unternehmens nicht widerstehen,
das Jedem, der an ihm Theil nahm, einen Platz unter den Besten seiner
Zeit zusicherte.
So erscheinen die „Dekabristen" als jugendliche Schwärmer, die wesent¬
lich noch nach einem anderen als dem blos politischen Maßstabe beurtheilt werden
müssen. Das harte Loos, das ihnen zu Theil wurde, hat ihre Schuld ge¬
sühnt und dem Leser, der heute von ihren Geschicken liest, ist die Möglichkeit
rein humaner Theilnahme an dem ersten Versuch, Rußland in die Bahnen
des westeuropäischen Liberalismus zu ziehen, offen gelassen.
Der Platzadjutant besichtigte mein Gefängniß täglich; doch war er nicht
gesprächig und so war ich blos auf mich selbst angewiesen. Um meinen Körper
in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen. trampelte ich täglich auf einer und der¬
selben Stelle umher, drehte ich mich im engen Raume, soviel ich konnte. Der
Schlaf verkürzte mir die Hälfte der Zeit. Die Nahrung war gesund, ein-
fach, genugsam, nicht so karg wie im Palaste. Sehr oft, besonders am
Abend, hatte ich ein Bedürfniß zu singen; das Singen stärkte meine Brust,
ersetzte mir die Unterhaltung; mit dem Gesänge drückte ich meine Gemüths¬
stimmung aus. Ich sang Prosa und von mir selbst gereimte Lieder, setzte
meine eigenen Melodien zusammen und erinnerte mich vieler alten Lieder.
So sang ich einst am späten Abend das allgemein bekannte russische Lied:
„Mitten im ebenen Thale stand eine beschattende Eiche." — Beim zweiten
Vers hörte ich eine andere Stimme hinter der aus Balken zusammengesetzten
Scheidewand mich begleiten; ich erkannte die Stimme meines Wärters. —
Ein gutes Zeichen! dachte ich, wenn er mit mir singt, so wird er auch
mit mir sprechen. Ich wiederholte das Lied noch einmal von Anfang bis
Ende, er begleitete mich lauter und kannte die Worte besser als ich. — Als
er mir die Nahrung brachte, dankte ich ihm für die Begleitung des Liedes,
er entschloß sich mir zu antworten: „Gott sei gedankt, daß Sie sich nicht lang¬
weilen, daß Sie ein heiteres Herz haben." — Seit dieser Stunde fing er
an gesprächig zu werden und antwortete gern auf meine Fragen.
„Sage mir, Sokolow" — so hieß der Feuerwerker — „was soll ich
thun, um mir Bücher zu verschaffen? ich höre wie mein Nachbar in Ur. 16,
schräg mir gegenüber, ganze Nächte durch in Büchern blättert." —
„Gott behüte Sie vor solchen Büchern! Das Herzenskind da liest
und schreibt so viel, daß es sich schon Ketten an die Hände geschrieben
hat." —
„Was soll das bedeuten?"
„Ja, man hat ihm an beide Hände eine eiserne Kette von fünfzehn
Pfund geschmiedet." Es war ein junger Mensch von einundzwanzig Jah¬
ren, Bestushew Rjumin, der stark verwickelt war, sowohl in die Unterneh¬
mungen der polnischen, als die der russischen Verschwörer; man wollte ihn
auf solche Weise zu vollem Geständniß zwingen. Er drückte sich besser in
der französischen als in der russischen Sprache aus, da er seine Geständnisse
aber russisch niederschreiben mußte, so hatte man ihm Wörterbücher ge¬
geben und deshalb hörte ich das eilige und öftere Blättern in den großen
Folianten.
Einige Tage später hörte ich Kettengeklirre mir gegenüber in Ur. Is.
„Hat man noch einen neuen Arrestanten hineingesetzt?" fragte ich Sokolow.
„Nein, er ist schon mehrere Wochen hier, hat sich aber auch seit gestern Un¬
glück an seine Hände geschrieben."
Diese geschärfte Strafe war N. S. Bobrischtschew-Puschkin, Offizier
vom Generalstabe, zu Theil geworden, von dem die Untersuchungscommission
die Stelle erfahren wollte, wo die von Pestel geschriebene Constitution sich
befinde. Sie war in ein kleines Kästchen gelegt und in die Erde vergraben
worden; die Stelle war nur Puschkin und SaMn bekannt. Letzterer wurde
mit einem Feldjäger an Ort und Stelle geschickt, wo nach langem Suchen und
Scharren im Schnee das Kästchen aufgefunden und unmittelbar in die Hände
des Kaisers überreicht wurde.
„Sind noch mehrere von den Gefangenen in Ketten?" fragte ich weiter.
„Ja, von meinen dreißig Nummern sind zehn damit versorgt."
Dasselbe Verhältniß galt für die Zahl der Gefesselten in den übrigen
Kasematten und Kurtinen. Ein Jüngling, Midshipman der Gardeequi¬
page. Diwow, den die Wächter Kindchen nannten, saß auch in Ketten. Sein
Gemüth ward gereizt, seine Einbildung entflammt, er theilte der Unter¬
suchungscommission Wunderdinge mit, die nur in selner Phantasie existirten.
Diese wurden Gegenstand der Untersuchung und spielten nachher in dem Be¬
richt des Grafen Bljudow eine beträchtliche Rolle. Für solche Aussagen wurde
Diwow nach der Verurtheilung von der Zwangsarbeit befreit und zur
Festungsarbeit nach Bobrowsk geschickt. Einige metner Schicksalsgenossen
ließen sich einreden, daß nur ein ganz offenes Geständniß sie retten könne;
namentlich komme es darauf an, daß sie die Namen Derer nennten, von
denen sie in die geheime Gesellschaft aufgenommen worden. Manche ließen
sich dadurch wirklich zu speciellen Angaben bewegen. So der Obrist Falken¬
berg, welcher angab, Fürst Bariatinsky habe ihn in die Verschwörung ein¬
geweiht; Bariatinsky leugnete diese Thatsache und es kam zur Konfrontation.
Die Aussagen standen sich schroff gegenüber. Bariatinsky machte noch einen
letzten Versuch, seinen Kameraden zu retten, indem er dem General Tscher-
nytschew sagte: „Sie sehen, Excellenz, selbst, wie wunderlich der Herr
Kamerad ist; konnte ich einem solchen Manne wohl ein Geheimniß anver¬
trauen?" — Ungeachtet dieser grenzenlosen Offenherzigkeit wurde Falkenberg
zur Zwangsarbeit verurtheilt. — In der Zahl meiner Mitgefangenen befan¬
den sich auch solche, die an Händen und Füßen Ketten trugen und in der
Finsterniß ohne Lampe sitzen mußten; anderen wurde die Nahrung verkürzt.
Den 6. März kam der Platzadjutant nicht, wie er täglich zu thun
pflegte. Sokolow zeigte ein geheimnißvolles Aussehen und war in neuer
Kleidung. Der Wächter Schibojew, Invalide des Leibgarde-Jägerregiments,
der mir täglich Nahrung brachte, war auch in seinem neuen Mantel erschie¬
nen und rasirt. — „Was ist heute für ein Festtag?" fragte ich. „Es ist
kein Fest." „Warum seid Ihr denn neu gekleidet?« „Heute ist die Beer¬
digung des Kaisers Alexander." Alles war einförmig und still um mich
herum, wie immer; die breiten Festungsmauern mit Erd- und Rasenbedeckung
ließen keinen Laut erschallen, nur durch die Schießscharte und das ver¬
gitterte Fenster drang bisweilen das Geläute des Glockenspiels. Plötzlich am
Nachmittag donnerte ein Kanonenschuß, ein zweiter, unzählige — das war
das Ende der Trauereeremonie.
Da alle Winkel und Ecken in der Festung mit Arrestanten gefüllt
waren, so konnte man sie der großen Zahl wegen nicht oft in die Badstube
führen. Die Reihe dazu kam an mich zum erstenmale Mitte April. Der Schnee
war verschwunden, das Wetter schön; ein Geleite führte mich ab, die Augen
wurden mir nicht mehr verbunden. Als ich aus dem dunkeln Corridor über die
Schwelle der Außenthüre trat, wurden meine Augen von den Sonnenstrahlen
so heftig geblendet, daß ich stehen blieb und unwillkürlich meine Augen
mit der Hand bedeckte. Allmählich nahm ich die Hand ab und ging weiter;
die Erde schien unter meinen Füßen zu wanken, die frische Luft benahm mir
den Athem. Längst' der inneren Mauer der Kronwerkschen Kurtine, an einer
langen Reihe von Fenstern vorübergehend, konnte ich Niemand von meinen
Kameraden sehen, weil die Fensterscheiben mit Kreide bestrichen waren. Als ich
mich rechts wandte, längs der anderen Kurtine, wo in der Mitte das Haupt¬
thor der Festung ist, sah ich über dem Thor ein Fenster, und erkannte M. F.
Orlow, der am Fenster sitzend schrieb. — Nicht weit von der Pforte stand
eine Unteroffizierswache; ich freute mich, als ich meine Soldaten erkannte;
sie eilten sogleich auf die Plattform und antworteten ebenso laut und freudig
auf meinen Gruß, wie sie es früher vor jedem Exercitium gethan hatten. —
Die Badstube war geräumig, das Bad stärkte und erfrischte mich. Bei
meiner Rückkehr bemerkte ich neben der Wache meinen Diener Michail stehen,
der durch eigenthümliche Bewegungen und Pantomimen meine Aufmerksam¬
keit auf sich zu ziehen suchte. — „Ist auch Anna Wassiliewna (meine Frau)
gesund?" fragte ich. — „Sie war eben hier in der Kirche und kommt jetzt
die Allee herunter." —Ich verdoppelte meine Schritte, und sah sie, wie sie
langsam einherschritt, ungefähr zweihundert Schritte von mir entfernt; ich
wollte zu ihr eilen, aber ich bedachte, daß sie ihrer Entbindung entgegen
ginge und erschrecken könnte; auch fürchtete ich die Verantwortung meines
Geleites — ich konnte ihr nur mit der Hand meine Grüße zuwinken, und
ging weiter. In mein Gefängniß zurückgekehrt, fand ich es noch dunkler,
als früher, sodaß ich weder Tisch noch Bank unterscheiden konnte, ich sah
nur die weiße Kante der grauen Bettdecke.
In der Charwoche hatte der Kaiser erlaubt, den Arrestanten Bücher
geistlichen Inhalts, Tabak und Pfeifen zukommen zu lassen. Das war ein
wahrhafter Luxus nach langer Entbehrung. Ich hatte mich schon seit vier
Jahren der Pfeife entwöhnt, jetzt fing ich an, mit desto größerem Genuß
zu rauchen, um zugleich wo möglich die schädliche, feuchte und unreine Luft
um mich herum zu verscheuchen. Meine Frau hatte mir die Stunden der
Andacht von Zschokke übersandt; drei Bände, in denen Betrachtungen über
die Kriegsjahre von 1812, 1813 und 1814 enthalten waren, wurden von
der Censur unserer Untersuchungscommission nicht ausgeliefert. Durch die
Bekanntschaft des Onkels meiner Frau mit dem Commandanten sulln
hatte ich auch Schnupftabak und ein Dutzend Taschentücher bekommen.
Ich fragte einst den Platzadjutanten Nikolajew, ob meine Kamerad auch
Tabak, Bücher und Wäsche von ihren Verwandten bekämen? — Er ant¬
wortete: „Nur diejenigen, die in Petersburg Verwandte oder Bekannte haben"
und erzählte weiter, daß er gestern dem Obristen M. T. Mitkow ein Bündel
mit Wäsche und englischer Flanelldecke gebracht habe; als aber Mitkow er¬
fuhr, daß nicht alle von den Eingekerkerten dieser Begünstigungen theilhaft
würden, band er das Bündel wieder zusammen und erklärte, daß auch er
dieser Sachen entbehren könne. Nach langen Leiden ist'er in Verbannung
zu Krasnojarsk im Jahre 1860 gestorben.
Alle sechs Wochen besichtigten uns auf Befehl des Kaisers seine General-
adjutcmten Sasonow, Strekalow und Martynow. Letzterer empfahl mich
dem ihn begleitenden Commandanten, und erinnerte daran, daß der Kaiser
mich früher ausgezeichnet habe.
Am 13. Mai weckte mich der Platzadjutant Nikolajew früh Morgens;
im Corridor erscholl seine Stimme, man solle geschwind den Barbier herbei¬
schaffen. „Soll ich wieder in die Commission geführt werden?" „Nein, im
Hause des Commandanten erwartet Sie eine große Freude; Ihre Gemahlin
hat die Erlaubniß erhalten, Sie zu sprechen."
In einer Minute war ich gekleidet und wollte den Barbier nicht ab¬
warten. — Wir eilten hinaus — helle brennende Sonnenstrahlen blendeten
meine Augen; eine milde, balsamische Luft stärkte mich. Vor der Gefängni߬
thür begrüßte mich wein Diener Michail; auf dem Vorhofe stand mein
Wagen, und als mein Kutscher Wassily mich erkannte, rückte er mit den
Rappen vor, fuhr im Kreise herum und zeigte mir die gute Haltung der
Pferde. — In der Kommandantur umarmte ich meine Frau, sie war in
tiefe Trauer gekleidet — meine Mutter war während meiner Gefangen¬
schaft gestorben. Ihr Aeußeres, ihre Worte, ihre Stimme erfreuten und
trösteten mich. Während unserer Zusammenkunft war der Festungscomman--
baut Generaladjutant sulln immer zugegen, daher konnte die Unterhaltung
nicht offenherzig sein, und nur Verwandtschafts - und Familienverhältnisse be¬
rühren. Durch Vermittelung des Generaladjutanten V. V. Lewaschow hatte
meine Frau die kaiserliche Einwilligung zu dieser Zusammenkunft erlangt.
Die Zeit ihrer Entbindung rückte näher; sie wünschte, daß wir uns noch
gegenseitig segnen könnten. Ich suchte sie auf alle mögliche Weise über
mein künftiges Geschick zu beruhigen; eine Stunde vergeht bald, der Com¬
mandant konnte sie nicht verlängern, wir trennten uns, indem wir uns
dem Willen des allmächtigen und allliebenden Vaters empfahlen. — Mit
einem Herzen voll Dankbarkeit gegen Gott kehrte ich in meine Ur. 13 zurück;
ich war beruhigt, nachdem ich meine Frau gesehen hatte und hoffen durfte,
daß sie die Trennung und die bevorstehende schwere Stunde mit Standhaftig-
keit ertragen werde. — Lauter und öfter sang ich meine Lieder und im
Wachen und im Träumen unterhielt ich mich mit der Frau, deren feste Hal¬
tung mich mit neuer Kraft erfüllt hatte. Drei Tage darauf erhielt ich einen
Brief von ihr, und die Versicherung, daß die Zusammenkunft sie gestärkt
habe. Ich hatte ihr im Beisein des Commandanten die letzten Worte mit¬
getheilt, die der Kaiser mir selbst gesagt hatte und suchte sie auch ferner auf
jegliche Art zu beruhigen. War ich wieder allein, so machte ich mich mit dem
Gedanken, hingerichtet zu werden, mehr und mehr vertraut.
Den 17. Mai war eine ungewöhnliche Bewegung im Corridor des Ge¬
fängnisses bemerkbar: unaufhörlich führte man Gefangene auf und ab, wur¬
den Stimmen der Wächter und Arrestanten laut; mehrere der Letzteren an
meiner Nummer vorbeigehend, begrüßten mich indem sie mir: „bon jour
13 — xorwx vous die-n 13!" zuriefen. — Nachmittags sagte mir der Wächter
Sokolow, daß ein Theil der Gefangenen in die Commission berufen worden
sei, wo sie Papiere unterzeichneten und dann sogleich in die Kasematten zu¬
rückkehrten. — „Was glaubst Du" fragte ich, „ist es zum Glücke oder zum
Unglück Derjenigen, die dahin verlangt wurden?" — „Gott weiß es" war
die Antwort, „mir scheint es, diejenigen werden es leichter haben, die
man in Ruhe läßt." — In unruhiger Erwartung schlief ich endlich ein, bis
ein Gerassel der Schlösser und Riegel mich plötzlich aufweckte, und der Platz¬
adjutant mich in die Commission führte. Der Gang bis zur Kommandantur
zeigte mir wie schön der Frühling geworden war. Die Luft war von
Fliederduft geschwängert, die Vögel flatterten und sangen in dem Gar¬
ten des Commandanten, in welchem sie sich unwillkürlich vereinigt hatten
da ihnen ringsum kalte Mauern von drei Seiten entgegenstarrten. Man
führte mich durch die Zimmer der Schreiber, aber nicht zum früheren Sitzungs¬
saale der Commission, sondern in ein anderes Zimmer rechts, wo an
einem Schreibtische Benkendorff und der Senateur Baranow saßen. — Man
überreichte mir die von mir geschriebenen Antworten auf die Fragen der
Commission, und stellte Fragen: ob die Unterschrift von mir herrühre? ob
ich ungezwungen geantwortet hätte? und ob ich noch Etwas hinzuzufügen
hätte? — Die ersten beiden Fragen bejahte, die dritte verneinte ich. Darauf
hieß man mich die Papiere unterzeichnen. In den Gesichtszügen Benken-
dorff's las ich, daß es mir schlecht gehen würde. Der Senateur Baranow
war nicht Mitglied der Untersuchungscommission, aber als Mitglied des zu
unserer Verurtheilung niedergesetzten obersten Criminalgerichts mußte er sich
von der Richtigkeit der Unterschriften überzeugen. Das war die einzige
Procedur, welche noch fehlte; die Verurtheilung mußte mithin schon erfolgt
sein. Pestel, Ryle'jew, Murawiew-Apostol, S. A. Juschnewsky, Bestushew
und einige Andere hatten diese letzte Befragung dazu benutzt, offen ihre
Ueberzeugungen zu verkünden, und die Mißbräuche und Ungerechtigkeiten
des herrschenden Systems in aller Schärfe bloszulegen. Die Mehrzahl der
Angeklagten hatte dagegen bei dieser Gelegenheit frühere Aussagen zurück¬
genommen oder verändert, nicht aus Furcht oder Reue, sondern weil die
Heimlichkeit des Verfahrens es überflüssig erscheinen ließ, Bekenntnisse abzu¬
legen, die ihnen selbst die Strafe nur vergrößert und andere Mitschuldige
vielleicht compromittirt hätten. — Auf meinem Rückwege in die Kasematten
sog ich mit Begierde die Mailuft ein; am Gartenzaune vorüberstreifend
psückte ich einige Grashalme; dann beschleunigte ich meine Schritte, um mir
das Herz nicht zu sehr erweichen zu lassen. Gefühlvolle Seelen werden mir
glauben, daß ich diese Gräser küßte und bewunderte; als sie verwelkten,
beobachtete ich noch jede Faser derselben und verglich die Formen und Unter¬
schiede. Sie waren das Einzige, was ich in Monaten von dem, was die
Natur dem Menschen bietet, berührt hatte.
Vom 17. Mai an wurden die Bewegungen und Stimmen in unserem
Corndor seltener und leiser. Nur die täglichen Visitationen des Platzmajors,
der Festungsadjutanten und des Wächters unterbrachen die einförmige Stille,
die bisweilen in einigen Nummern oder Gefängnißzellen auf einige Minuten
durch ein Lied, durch eine Declamation, durch einen Seufzer unterbrochen
wurde. — Einer meiner Unglücksgefährten, M. A. Fon-Wisin, konnte die
Eingeschlossenheit nicht ertragen; seine Seele war stark, sein Muth ungebrochen,
die Nerven aber in dem Zustand so furchtbarer Erregung, daß man endlich
befohlen hatte, seine Thüre nicht mit Riegeln und Schlössern zu verschließen,
sondern eine Wache in seine Nummer zu stellen. — Sechszehn meiner Kame¬
raden saßen von den Uebrigen getrennt in einer geheimen Abtheilung der
Festung, in dem Alexejewschen Ravelin, wo ein besonderer Civilbeamter für ihre
Beaufsichtigung und Ueberwachung angestellt worden war. Vor den Fenstern
stand eine hohe Mauer, der innere dreieckige Raum des Ravelins war von
drei Mauern eingeschlossen, die gar kein Fenster, nur eine Thür hatten; hier auf
einem engen Raume wuchsen einige Bäume und Hieher führte man zuweilen
einzelne Gefangene auf ein Viertelstündchen, damit sie frische Lust schöpfen
könnten. Auf das Blatt eines der hier stehenden Ahornbäume hatte RrMew
seine bekannten Abschiedsverse geschrieben.
Seit dem Beginn des Juni lebte ich in steter Unruhe um meine Frau,
denn die Zeit ihrer Niederkunft rückte heran. Ich sang meine Lieder seltener,
Sokolow und Schibajew, meine Wächter, fragten mich oft, ob ich krank sei.
Mein Schlaf wurde beständig von Träumen unterbrochen; ich sah meine
Frau leidend und mich zu Hilfe rufend; mit einem Worte, der Glaube, die
feste Zuversicht wankten. Sogar in der Festung geschah, was gewöhnlich
im Leben geschieht, daß die guten Nachrichten sich verspäten, während.die
schlechten und traurigen schnell anlangen. Am 19. Juni war mein ältester Sohn
geboren worden, ich erfuhr es erst am 22.; zwei Zeilen von der Hand meiner
Frau beruhigten mich über ihre Gesundheit. Ich freute mich für sie. sie
hörte auf allein zu sein; ich segnete in Gedanken meinen Sohn und bat in
meinem Gebete, daß der ewige Vater ihm den zeitlichen Vater ersetzen möchte.
Damals hatte ich keine Hoffnung meinen Sohn zu sehen, ich erwartete die
baldige Entscheidung meines Schicksals. —
Am 12. Juli Vormittag bemerkte ich auf dem Kronwerk'schen Wall,
meinem Fenster gegenüber, einige arbeitende Zimmerleute, ohne zu begreifen,
was sie auf dem Walle aus Balken bauten. Oft kehrte ich mich zum Fenster
und einmal sah ich auf derselben Stelle zwei Generaladjutanten umhergehen.
— Nachmittags führte Mich der Platzadjutant in die Untersuchungscommission,
wohin ich verdrossen ging, in der Erwartung einer Confrontation oder eines
neuen Verhöres. Man kann denken mit welcher Ueberraschung ich die Zim¬
mer von meinen Mitgefangenen angefüllt sah, mit welcher Freude ich
meine bekannten Kameraden umarmte. Man sagte mir, daß wir ver¬
sammelt seien, um unseren Urtheilsspruch zu vernehmen. Vergeblich suchte
ich einige meiner Kameraden, die entweder gar nicht daselbst zugegen waren,
oder die sich in höheren Kategorien befanden und schon zum Anhören ihrer
Sentenz hineingerufen worden waren. In zwei Zimmern, die an den Sitzungs¬
saal anstießen, waren die Verurtheilten nach Kategorien oder Abtheilungen
versammelt, so daß, wenn die erste Kategorie in den Sitzungssaal eintrat, die
zweite Kategorie die Stelle der ersten einnahm und die folgende nachrückte.
Nach Vorlesung der Sentenz wurden die, denen dieselbe verkündet worden,
durch die andere Seite des Saales heraus und in die Gefängnisse zurück¬
geführt, aber nicht in ihre bisherigen Nummern, sondern nach der Reihe
und der Zahl der Verurtheilten, die sich in einer Kategorie befanden. —
Ich ward zur fünften Kategorie gezählt, überhaupt waren zwölf Kategorien.
Einige Minuten hatten wir Zeit mit einander zu sprechen. Dann trat die
Wache an unsere Abiheilung, die aus fünf Mann bestand. Schildwachen
standen an jeder Thür.
Wir traten ein und stellten uns in eine Linie auf. Alle Mitglieder
des Obercriminalgerichts saßen vor uns an langen Tischen längs der Wände.
Gerade vor uns saß der Metropolit mit einigen Bischöfen; rechts Generale,
links Senatoren, Alle in voller Uniform, mit Bändern und Orden geschmückt.
Ich übersah diese Abtheilungen und bemerkte in der Zahl der Generäle den
tapferen Bistram, meinen verehrten Chef, der seine Thränen nur mühsam
zurückhielt: einige Minuten vorher hatte er seinen liebsten Adjutanten, den
Fürsten E. P. Obolensky, verurtheilen sehen müssen. Einige der Richter sahen
theilnehmend, die meisten finster aus; mehrere von den Senatoren zeigten
eine unschickliche und impertinente Neugierde; um uns zu betrachten ge¬
brauchten sie nicht allein Lorgnetten, sondern große Operngucker. In der
Mitte stand der Oberseeretär des Senats, Shurawlew, und verlas die Sen¬
tenzen mit lauter vernehmlicher Stimme. Das Gericht hatte unsere (die
fünfte) Kategorie am 10. Juli zu zehnjähriger Zwangsarbeit und auf diese
folgende „ewige" Ansiedlung in Sibirien verurtheilt. Der Kaiser hatte dieses
Urtheil am 11. Juli für meine Kameraden Nepin und Küchelbecker aus acht
Jahre gemildert, für Bodisko in Betracht seiner Jugend die Zwangsarbeit
in Festungsarbeit verwandelt; Glebow und ich erwarteten, daß man unserer
unter denen erwähnen würde, deren Loos gemildert worden; statt dessen
schwieg Shurawlew und der Commandant winkte, uns in die Käsematte
zurückzuführen. — Die Ursache dieser Ausnahme, welche von 121 Verur-
theilten nur drei traf, nämlich N. A Bestushew, M. N. Glebow und mich,
suche ich, soweit sie mich betrifft, in einer augenblicklichen Reizbarkeit oder
einem vorübergehenden Unwillen des Kaisers, der es als besonderen Un¬
dank angesehen haben mochte, daß ich die mir früher von ihm erwiesene Auf¬
merksamkeit und das mir bezeigte Wohlwollen mit Parteinahme für seine
Gegner vergolten hatte. — Die ganze Ceremonie der Urtheilspublication an
die Angeklagten hat fünf Stunden lang gedauert und verlief in der tiefsten
Stille. Nur M. S. Lunin, ein Verurtheilter der dritten Kategorie, sagte,
als man ihm die Sentenz vorgelesen und der Secretär auf die Worte „ewige
Ansiedlung" besonderen Nachdruck gelegt hatte, mit lauter Stimme: „Eine
schöne Ewigkeit, ich bin schon über fünfzig Jahre alt." — Er starb zu
Nertschinsk im Jahre 1847, diese „Ewigkeit" hat mithin für ihn immer noch
über zwanzig Jahre gedauert. N. S. Bobrischtschew-Puschkin schlug, nach¬
dem er seine Sentenz vernommen hatte, ein Kreuz auf seine Brust.
Der Eindruck, den wir von dieser Scene hatten, war der. daß wir uns
nicht in einem Gerichtshofe und nicht vor Richtern befanden. Das oberste
Criminalgericht war am 1. Juni niedergesetzt und bestätigt worden; es be¬
stand aus Gliedern des Neichsrathes, des Senats und des Synods (der
Oberkirchenbehörde) und fünfzehn „zucommandirten" Generalen. Das Gericht
hielt seine Sitzungen im Senatsgebäude und zwar unter Vorsitz des tauben
Fürsten Lopuchin; als Generalprocurator fungirte der Fürst Lobanow
Rostowsky. als Secretär der erwähnte Shurawlew. — Der aus achtzig
Gliedern bestehende Gerichtshof wählte aus seiner Mitte ein Comite zur Ein-
theilung der Staatsverbrecher in Kategorien, d. h. zur Ermittelung des
Grades der Schuld, deren die Einzelnen theilhaft waren. In diesem Comite
saßen Graf P. A. Tolstoi, Wassiltschikow*), Speransky^), Stroganow, Ko-
marowsky, Kuschnikow, Engel, Graf Kutaissow und der thätigste unter allen
unseren Richtern, D. O. Baranow, derselbe, der sich vorher gemeinsam mit
dem Grafen Benkendorff von der Echtheit unserer Unterschriften und ge¬
schriebenen Antworten überzeugt hatte. —
Als wir aus der Kommandantur heraus- und in unsere Casematten zu¬
rückgeführt wurden, fah ich bei der Pforte und vor dem Hause eine Menge
von General-Adjutanten, Regiments-Adjutanten und Lakeien, die sich her¬
an drängten, um uns ins Auge zu fassen. Da wir Fünf bis zur Case-
matte zusammengingen, war es natürlich, daß wir uns des Wiedersehens nach
langer Einkerkerung erfreuten und uns lebhaft und freundschaftlich unterhielten;
dieser Umstand wurde außerhalb der Festungsmauern als „stolze Verachtung" »
der verhängten Strafe — nicht zu unseren Vortheil — weiter erzählt. — Ich
wurde nicht in meine Zelle Ur. 13, sondern in die Käsematte des Laborator-
Bollwerks geführt, wo man mir ein Zimmerchen mit ziemlich großem Fenster,
dessen unterste Glasscheiben mit Kreide beweißt waren, anwies. An den Wän¬
den las ich die Namen der hier eingesperrt gewesenen Gefangenen, von denen
nur einer, Graf H. Gr. Tschernytschew verurtheilt worden war. Ein so Helles
Gemach hatte ich seit Monaten nicht bewohnt, schlaflos ging ich die ganze
Nacht in meinem kleinen, blos neun Schritte haltenden Zimmer aus und
nieder — die Sonne verschwand nur auf wenige Stunden vom Horizont,
denn wir befanden uns in einer jener nordischen Julinächte, wo es überhaupt
nicht dunkel wird. Der Platzadjutant hatte mir vor seinem Weggehen gesagt,
daß er mich früh Morgens zur Vollziehung der Sentenz abholen würde.
Ich erwartete eine unverzügliche Abfertigung zur weiten Reise in eine sibi¬
rische Festung.
So brach der 13. Juli an. Noch vor Sonnenaufgang führte man mich
auf den Festungsplatz, wo ein großes Quarre von Truppenabtheilungen des
Pawlowschen Leibgarde-Regiments und der Festungs-Artillerie aufgestellt war.
Man geleitete mich in das Viereck, wo schon einige meiner Unglücksgefährten
dastanden, und die Uebrigen nach und nach eingeführt wurden. Ich freute
mich, meine Bekannten wiederzusehen; Alle umarmten einander, Jeder suchte
seine näheren Freunde; vergeblich suchte ich RrMjew, bis man mir sagte, er
befände sich in der Zahl der Fünf, die zu schmählichem Tode verurtheilt
waren. Alle theilten sich gegenseitig ihre vernommenen Sentenzen mit, Manche
mit Humor und Laune, Andere mit verhaltenem Ingrimm. Fürst S. G.
Wolkonsky ging in munterem Gespräch auf und nieder. Batenkow hielt einen
Hobelspan in der Hand und biß vor Unwillen in denselben; Jakubowitsch
ging in Gedanken vertieft auf und nieder; Obolensky hatte in der Festung
zugenommen, seine Wangen blühten; I. I. Puschtschin war heiter nach
seiner Gewohnheit und brachte den um ihn versammelten Kreis zum Lachen.
Ich sah Niemand in Verzweiflung, selbst die Leiden welche sich auf den Ge¬
sichtern der Kranken spiegelten, blieben stumm. Außerhalb des Vierecks gingen
die General-Adjutanten Benkendorff und Lewaschew und einige Officiere auf
und nieder. Obrist P. V. Abramow, einer der Verurtheilten, rief einen der
wachhabenden Officiere laut bei Namen an ohne daß dieser sich jedoch um¬
sah; Benkendorff fragte Abramow, was er wolle? — „Ich wünsche meine
neuen Epauletten meinem Bruder zu übergeben, der bald Obrist wird" lautete
die ruhig trockne Antwort. ->- Benkendorff willigte in höflicher Weise ein und
befahl dem anwesenden Capitain Pohlmann die Epauletten in Empfang zu
nehmen. ^— In diesem Vierecke warteten wir eine halbe Stunde, bis wir in
vier Abtheilungen getheilt und von Soldaten umgeben wurden. In der
ersten Abtheilung befanden sich die verurtheilten Officiere der 1. Garde.Divi-
sion und des Generalstabes, in der zweiten die Officiere der 2. Garde-Divi¬
sion, der Sappeure und der Pionniere, in der dritten die Officiere der Armee,
in der vierten die Civilisten. Die Verurtheilten welche der Marine ange¬
hörten waren zur Vollziehung des Urtheils nach Kronstäbe gesandt worden.
In diesen durch Soldatenreihen von einander getrennten Abtheilungen führte
man uns durch das Festungsthor auf das Glacis der Kronwerkschen Cour¬
tine. Mit dem Rücken gegen die Petersburger Seite*) gewandt, standen
in unabsehbar langer Reihe die Truppen aus allen Regimentern des ganzen
Gardecorps mit geladenen Kanonen da. Auf dem Kronwerkschen Walle war
ein Galgen sichtbar — ich erkannte die Zimmermannsarbeit, die ich aus
meiner Casematte gesehen hatte, ohne sie mir erklären zu können. — Unsere
zwei Abtheilungen wurden in gleichmäßiger Entfernung von den beiden benach¬
barten aufgestellt; neben jeder Abtheilung brannte ein Scheiterhaufen, vor
welchem ein Henker dastand. Der General-Adjutant Tschernytschew ritt ab
und zu; an diesem Morgen war er nicht geschminkt, sein Gesicht war blaß,
und er ließ sein Roß nicht courbettiren.
Bei jeder Abtheilung befand sich ein General, bei der unsrigen mein ge¬
wesener Brigade-Commandeur E. A. Golowin, Nach der Reihe der Kate¬
gorien wurden wir einzeln hervorgerufen; Jeder mußte sich auf seine Knie
niederlassen, dann zerbrach der Henker den Degen über seinem Haupt, riß ihm
die Uniform ab, und warf die zerbrochenen Schwerter und die Kleidung in
die brennenden Scheiterhaufen. Als ich mich auf die Knie niederließ, streifte
ich meine Uniform rasch ab, bevor der Henker mich berühren konnte; der Ge¬
neral schrie ihm zu: — reiß sie ab! — sie war aber schon abgeworfen. Die
Degen waren im Voraus angefeilt, so daß der Henker sie ohne große Kraft-
anstrengang zerbrechen konnte, nur dem armen Jakubowitsch wurde durch Un¬
vorsichtigkeit des Henkers dabei sein Haupt verletzt, das von einer Tscher-
kessenkugel über der rechten Schläfe durchbohrt war. Der Letzte in unsrer
Abtheilung war M. I. Puschtschin, Capitän der reitenden Garde-Pioniere;
er war verurtheilt als gemeiner Soldat mit Beibehaltung seiner Adels¬
vorrechte zu dienen. Gesetzlich hätte über seinem Haupt nicht der Degen zer¬
brochen werden dürfen; er machte dem General diese Bemerkung, dieser aber
ließ den Degen zerbrechen.
Diese Ceremonie währte über eine Stunde; dann gab man uns gestreifte
Schlafrocke, wie sie in den Hospitälern getragen werden, anzuziehen, und ge¬
leitete uns in der Ordnung, in welcher wir gekommen waren, in die Festung
zurück. Auf dem Festungs-Glacis war kein Volk zu sehen gewesen, nur beim
Festungsthor drängte sich ein Haufen. Die Menge ist gewöhnlich neugierig;
dieses Mal war sie bei dem interessanten Schauspiel nicht zugegen gewesen,
entweder weil es noch zu früh war, oder weil die Polizei niemand zugelassen
hatte. Als man uns zurückführte, erwartete der Galgen auf dem kronwerk-
schen Walle seine Opfer, noch Niemand war in der Nähe desselben sichtbar;
mir wandten unsere Blicke dahin und baten Gott um eine leichte Sterbe¬
stunde für unsere Gefährten. Mich führte man in die kronwerksche Courtine,
Zelle No. 14, dasselbe Zimmer wo K. F. RMjew die letzte Nacht seines
Erdenlebens zugebracht hatte. Ich trat wie in ein Heiligthum, fiel auf die
Knie und betete für ihn, für seine Frau und seine Tochter, denen er hier
in diesem Gefängnisse seinen letzten Brief geschrieben hatte. Aus dem zin¬
nernen Trinkgefäße des Gefängnisses stärkte ich mich mit dem Reste seines
letzten Trunkes. Neben mir saß Repin, doppelte Schaarwände aus Balken
trennten unsere kleinen viereckigen Zellen. In meiner früheren Zelle Ur. 13
befand sich jetzt M. A. Nasimow; ihm war beschicken, vom Fenster aus die
schreckliche Hinrichtung auf dem Kronwerkswalle mit anzusehen; bis zum
späten Abend blieben die kalten Leichen hängen, geschieden von den glühenden
unsterblichen Seelen.
Die Augenzeugen der letzten Lebensstunden von Paul Pestel, Conrad
Rylejew, Sergius Mur^wjew - Apostol, Michael Bestushew - Rjumin und
Michael Kochowsky waren der Geistliche der Kasan'schen Kirche P. N.
Myslovsky. der Platzadjutant Nikolajew, der Feuerwerker Sokolow, der
Wächter Trosimow in der Festung; auf dem Richtplatze befanden sich außer
den genannten Personen noch der Platzmajor der Stadt A. A. Boldywew,
der Stabscapitän vom Garde-Generalstabe, V D. Wolchowsky und einige
Soldaten von der Festungsartillerie. — Die letzte Nacht brachten die zum
Tode Verurtheilten in der Kronwerkschen Courtine zu. Pestel bewahrte seine
ungewöhnliche Geisteskraft bis zu Ende, kein Zug seines eisernen Gesichts
zeigte die mindeste Unruhe. Auch die übrigen Verurtheilten starben mit
männlicher Fassung.
Ich schreibe nicht die Biographie meiner Kameraden und Unglücksge¬
fährten; ich berühre nur die letzten Stunden ihres Lebens und erwähne da¬
bei der Hauptzüge ihrer Charaktere. Paul Pestel, früher Officier der Che¬
valier-Garde und Adjutant des Grafen Wittgenstein, dann Obrist des Wjät-
kaschen Infanterie-Regiments, war eines der Häupter der Verschwörung und
Verfasser der Konstitution gewesen, welche nach Umsturz des bestehenden Systems
eingerichtet werden sollte. Am 14. Dec. war er nicht in Petersburg, sondern
an der Spitze der Aufständischen im Süden gewesen. Nach dem einstimmigen
Urtheil Aller, die ihn gekannt, war er ein Mann von großem Geist, eisernem
Charakter und unerschütterlicher Ueberzeugungstreue. Die Begleitung des
lutherischen Pastors Reinhold zum Schaffst hatte er abgelehnt. — Unter den
Petersburger Verschwörern hatte der mehrerwähnte Conrad Rylejew die
Hauptrolle gespielt, eine edle, schwärmerisch-idealistische Poetennatur.
Nach seinem Austritte aus dem 1. Cadettencorps war er in die reitende
Artillerie getreten, dann Secretär der amerikanischen Compagnie geworden.
In seinen freien Stunden fungirte er als Sachwalter der Klagen armer
und bedruckter Menschen, die in den letzten Jahren seines Lebens sein Vor¬
zimmer beständig belagerten. — Ich habe schon gesagt, daß er sich aus
eigenem Antriebe dem Aufstande vom 14. December zum Opfer brachte. Er
sah das Nichtgelingen voraus, wollte aber doch einen offenen Widerstand,
eine öffentliche Forderung der Volksrechte hervorrufen, weil er überzeugt war
seine Bestrebungen würden Nachfolger finden, sobald nur „der Anfang gemacht
sei." Er war die Seele dieses unglücklichen Unternehmens, und nahm soweit
es ihm möglich war. alle Verantwortung für dasselbe auf sich; persönlich bat
er den Kaiser und die Commission, daß man ihn nicht schonen solle, aber das
Schicksal seiner minder schuldigen Cameraden lindern möchte. Der veröffent¬
lichte Bericht der Untersuchungs-Commission thut dieses Umstandes besondere
Erwähnung. Ich weiß nicht, wo Graf Bljudow, der Verfasser dieses Berichts,
die Nachricht hergenommen hat, daß RrMjew nicht selbst auf dem Senats-
Platze erschienen sei; ich habe ihn selbst auf diesem Platze gesehen. Er konnte
freilich nicht beständig auf dem Platz stehen bleiben, weil er eben an der Spitze
der ganzen Verschwörung stand, die Casernen, die Wachen befuhr und die Per¬
sonen aufsuchte, die nicht auf dem Sammelplätze erschienen waren. Er konnte
das Commando nicht übernehmen, da er nicht mehr Militär war und nur
kurze Zeit gedient hatte; er stellte sich in die Reihen der Soldaten. — In der
Casematte, in der letzten Nacht erhielt er die Erlaubniß seiner Frau zu
schreiben; bisweilen unterbrach er sein Schreiben, betete, und fuhr dann fort,
seinen letzten Willen mitzutheilen;«r suchte die Frau zu trösten und'gab ihr
Anweisung zur Erziehung seiner einzigen Tochter. Bei Sonnenaufgang trat
der Platzmajor zu ihm herein mit der Anzeige, daß er sich in einer halben
Stunde aufmachen müsse. Dem Platzmajor folgten zwei Wächter mit Fesseln.
Ryl6jew setzte sich, um seinen Brief zu beendigen, und bat, daß man ihm
unterdessen die Ketten an die Füße legen solle. Sokolow. der Wächter,
war betroffen von der Gefaßtheit und Ruhe des zum To!>e Verurtheilten.
Nach Beendigung des Briefes aß NrMjew ein Stückchen Brod, trank einige
Schlucke Wasser, segnete die Gefängnißwächter. bekreuzigte sich und sagte
dann ruhig: „ich bin bereit!"
In der Nummer 12 der Käsematte befand sich am Vorabend der Hinrich¬
tung Sergius Murawjew-Apostol. Seine Denkungsart, sein reiner fester
Glaube hatten den Geistlichen Myslowsky schon längst vor der verhängniß-
vollen Stunde mit solcher Erfurcht erfüllt, daß dieser äußerte: „Wenn ich in
die Käsematte des Sergei Jwcmowitsch trete, so bemächtigt sich meiner jedes¬
mal ein so andächtiges Gefühl, als ob ich vor dem Gottesdienst in das
Allerheiligste einträte." — Seit frühester Jugend war sein Lteblingsgedanke
das Wohl des Vaterlandes gewesen; dazu hatte er sich vorbereitet, eifrig in der
Polytechnischen Schule zu Paris studirt, und unablässig darauf gedacht, Ru߬
land eine bessere Zukunft zu bereiten. Das Ziel war noch so weit, daß er
bisweilen die Geduld verlor. In einer solchen Stimmung drückte er einst
sein Gefühl in folgenden an die Mauer des kiewschen Klosters geschriebenen
Versen aus:
„loi^'om'g rüvour se solitairo
xmWLi'al sur cotes terro
Laus qus xersoimo in'ait voran;
Oo n'ost M'an dont as Mg, earrivro
(Zug xar un grauet treue as lumisriz
I^'on vorra es Hu'on a xoräu. —"
Den durch ihn erhobenen Aufstand des Tschernigow'schen Armee-Re-
gimentes, in welchem er als Oberstlieutenant ein Bataillon commandirre,
beschreibe ich weiter an gehöriger Stelle. — Sogar in den letzten Augen-
blicken seines Lebens hatte er keine Zeit an sich selbst zu denken: ihm gegen¬
über in der Nummer 16 saß sein junger Freund Michail Bestushew-Rju-
min, diesen suchte er zu trösten und ermuthigen. Der Feuerwerker Sokolow
und die Wächter Schibajew und Trosimow hinderten die zum Tode Verur-
theilten nicht, sich laut zu unterhalten, sie achteten die letzten Augenblicke der
Todescandidaten. — Ich habe stets lebhaft bedauert, daß diese schlichten guten
Menschen nicht verstanden haben, die letzte Unterhaltung der beiden Freunde
wiederzugeben; sie wußten nnr, daß dieselben über die Unsterblichkeit der
Seele geredet hätten. »
Bestushew-Rjumin war erst 22 Jahre alt, er hatte anfangs im Seme-
now'schen Garderegimente als Junker gedient; als dieses cassirt wurde, trat
er in das Poltawa'sche Infanterieregiment ein, wo er Offizier wurde; seiner
Gewandtheit und Sprachkenntnisse wegen wurde er zu Aufträgen benutzt,
die er mehreren Polen nach Kiew, Podolien, Volhynien und Warschau ver¬
kleidet und unter falschem Namen brachte. — Er war so jung, daß er sich
nur schwer von dem Leben, das er kaum begonnen, trennen konnte. Wie ein
Vogel im Käfig warf er sich hin und her und suchte sich zu befreien, als man
ihm die Fesseln anlegte. Vor seinem Austritte aus der Käsematte nahm er von
seiner Brust das Bild des Gekreuzigten (das jeder Russe trägt), um es
seinem Gefängnißwächter Trosimow zum Andenken zu schenken. Ich habe
dieses Bild gesehen und wollte es kaufen, aber der alte Soldat gab es nicht
von sich: er hoffte die Reliquie nach seiner Verabschiedung der Schwester
Bestushew's bringen zu können. — Michail Kachowsky befand sich in einer
anderen Abtheilung der Kronwerk'schen Kurtine und nicht unter Aufsicht
meines Wächters Sokolow, daher habe ich zu meinem Bedauern keine Aus¬
kunft über seine letzten Lebensstunden erhalten können. Er hatte in der
Garde gedient und dann seinen Abschied genommen. —
Während man uns auf das Festungsglacis geleitet hatte, waren die
fünf zum Tode Verurtheilten in Fesseln und Sterbehemden in die Festungs¬
kirche geführt worden, wo sie ihre eigene Todtenmesse anhören mußten. Aus
der Kirche ging der Zug zum Kronwerk'schen Walle; unterwegs tröstete Mura-
wjew-Apostol seinen Freund Bestushew-Rjumin, dann wandte er sich zu dem
Priester Myslovsky und sprach sein Bedauern darüber aus, daß er genöthigt
sei, die Verurtheilten zu begleiten, wie Räuber zum Richtsplatze; darauf ant¬
wortete der Geistliche mit den Worten, die der Erlöser am Kreuze dem mit¬
gekreuzigten Räuber gesagt hatte. — Sich dem Galgen nähernd, umarmten
sich die Verurtheilten unter einander: dann wurden sie in einer Reihe auf die
Bank gestellt. Als aber die Schlingen umgewunden, die Bank umgestoßen war,
blieben nur Pestel und Kachowsky hängen, Nyle'jew, Murawjew-Apostol und
Bestushew - Rjumin aber fielen auf die umgestoßene Bank und beschädigten sich.
Murawjew bemerkte mit einem Seufzer: „Auch dies versteht man bei uns
nicht zu machen."*) — Diese beißende Bemerkung war durch den heftigen
Schmerz seiner Wunde hervorgerufen worden, die seit dem 3. Januar noch
nicht vollends geheilt war. Während man die umgefallene Bank aufhob,
die Seile und Schlingen neu ordnete, vergingen noch einige Minuten na¬
menloser Qual. Die drei Verurtheilten, denen man bei einem ähnlichen Zu¬
fall unter anderen Verhältnissen das Leben geschenkt hätte, benutzten diese
Zeit, ihr Vaterland noch einmal zu segnen und um eine bessere Zukunft für
ihre Mitbrüder zu beten. — Den ganzen Tag über blieben die Leichen zu
schimpflicher Ausstellung hängen; in der Nacht wurden sie abgenommen,
in Bastmatten geschlagen, auf einem Bote zum Ufer der Chuntujew-Jnsel
gebracht und daselbst in die Erde eingescharrt. Andere behaupten, man habe
die Leichen in einen Festungsgraben mit ungelöschtem Kalk verschüttet. — So
endete die Execution vom 13. Juli 1826.
Das Interesse des abgelaufenen Monats hat der spanischen Revolution
angehört. Kaum sechs Wochen sind seit dem Pronuneiamento von Cadix ver¬
gangen und schon erscheint die neue provisorische Ordnung der Dinge leidlich
etablirt und ist von Vorbereitungen zur Entscheidung über die künftige Staats¬
form dieses Landes die Rede, das binnen dreihundert und zwanzig Jahren
nur einen König gehabt hatte, der diesen Namen wirklich verdiente. Das
Triumvirat Serrano-Prim-Topete hat seine Thätigkeit mit einer Reihe von
Maßregeln inaugurirt, welche für die Aufrichtigkeit seines Reformeisers Bürg¬
schaft zu leisten scheinen. Die religiöse Toleranz ist im Prinzip anerkannt
und soll durch Verträge mit fremden Staaten, die Sicherheit der nichtkatho¬
lischen Bewohner des katholischen Staats gewährleisten, die Jesuiten sind
ausgewiesen, die seit den dreißiger Jahren wiederhergestellten Klöster auf¬
gehoben worden, man hat ferner den Octrov abgeschafft und durch Herab¬
setzung der Zölle eine freihändlerische Handelspolitik angebahnt. Aber schon
diese ersten Versuche haben gezeigt, wie ungeheuer die Schwierigkeiten sind,
mit denen eine reformatorische Regierung in dem Vaterlande der kirchlichen
Verdummung und des Vorurtheils zu kämpfen hat. Vielleicht nur Rusland
ausgenommen gibt es in Europa keinen Staat, in welchem die Kluft so tief
wäre, welche die gebildeten Classen, ihre Anschauungen, Wünsche und Be¬
strebungen von denen der Volksmassen trennte, und jenes Bild von dem im
Koth steckenden Wagen, den die Deichselpferde nicht fortschleppen können,
weil der Vorreiter die Stränge der Spitzpferde gelöst und mit ihnen davon
geritten ist, das ein russischer Schriftsteller von seinem Vaterlande brauchte —
gilt für Spanien vielleicht noch mehr als für die große Monarchie des Nord¬
ostens. Wo die Einen Schatten sehen, scheint den Andern goldnes Licht. Die
Bildung der liberalen Mittelelassen ist der des Landvolks und der städtischen
Massen um ein Jahrhundert vorausgeeilt und bei jeder Gelegenheit treten
die Schwierigkeiten einer auch nur annähernden Verständigung hervor. So
erbittert die Nation auch gegen die mit der Exkönigin verbündet gewesene
Geistlichkeit ist, eine wirkliche Antastung der Machtstellung derselben macht
ihr jedesmal ernsthafte Scrupel und auf ihre exclusive Katholicität will sie
schlechterdings nicht Verzicht leisten. Die Schließung einer größeren Anzahl
Klöster, wie die provisorische Regierung sie beschlossen, gilt mit Recht für
ein gefährliches Experiment und vor der consequenten Durchführung des
Prinzips der Toleranz und Gewissensfreiheit beben auch die entschlossensten
Progressisten zurück, weil sie mit einem Fehdehandschuh gegen den Volks-
instinct identisch wäre. Aehnlich steht es auf wirthschaftlichem Gebiet. Daß
nur eine vollständige Entfesselung der Concurrenz und aller Productions-
kräfte zur Hebung des tiefzerrütteten spanischen Nationalwohlstandes führen
könne, steht für alle Kundigen fest; nichtsdestoweniger hat die schüchterne
Herabsetzung der Zölle in Catalonien und andern Districten, welche sich sür
industrielle halten, den lebhaftesten Unwillen und ernstliche Verstimmung gegen
die neuen Machthaber bewirkt. „Die spanische Nation" schrieb der preußische
Staatskanzler Fürst Hardenberg am 16. März 1815 „hat einen so absonder¬
lichen und scharf ausgeprägten Charakter, daß man sie nicht nach den übrigen
europäischen Nationen beurtheilen darf; sie hängt an Einrichtungen, welche
die öffentliche Meinung in der ganzen übrigen Welt verurtheilt hat, an
Ideen, welche alle übrigen Völker längst abgeschüttelt haben" (Baumgarten,
Gesch. Spaniens II, S. 149). Dieses vor einem halben Jahrhundert gesprochene
Wort hat noch heute seine Bedeutung. Gerade wie damals liegt noch heute
die Gefahr nah, daß der spanische Liberalismus die ihm zur Seite stehenden
Chancen des Augenblicks so aufhenke, daß er sich von dem Volk isolirt und
dieses der Reaction in die Arme treibt. So zweifellos feststeht, daß dem
Elend dieses Staats und seiner Bewohner nur durch eine gründliche und
unerschrockene Reform auf allen Lebensgebieren geholfen werden könne, so
halsbrechend erscheint der Versuch dieser Reform, auch wenn die Führer aller
liberalen Parteien zusammenstehen und es über sich gewinnen untereinander
Frieden zu halten.
Daß der Waffenstillstand bis zu ausgemachter Sache, den die Parteiführer
einander gelobt haben, von Dauer sein werde, kann aber nicht einmal gehofft
werden. An der Spitze der Regierung stehen ehrgeizige, in Militärverschwö¬
rungen und Pronunciamientos ergraute Generale, die die Süßigkeit der Macht
zu genau kennen, um auf die Ausübung derselben zu Gunsten des Vater¬
landes und der gemeinen Sache verzichten zu wollen. Dazu kommen die
Schwierigkeiten, die künftige Regierungsform durch ein Volk feststellen zu
lassen, dessen Majorität weder lesen noch schreiben kann, Aberglauben mit
Religiosität, Gehorsam gegen seine Priester mit Moralität, Zuchtlosigkeit
mit Freiheit, Bildung mit Losgebundenheit von jeder Autorität verwechselt.
Die verschiedenen Candidaturen. welche für Wiederbesetzung des erledig¬
ten Throns in Vorschlag gebracht wurden, sind in diesen Blättern wieder-
dolt und ausführlich erörtert worden — unter den vielen ist keine, der nicht
Bedenken und Hindernisse der mannigfachsten Art entgegenstünden. Die
monarchisch-constitutionelle Partei hat dem Andringen der zahlreichen Re-
Publicaner keinen einzigen wahrhaft populären Namen entgegenzuhalten und
für eine Monarchie ohne bestimmten Monarchen Propaganda zu machen ist ein
aussichtsloses Unternehmen. Bezeichnend genug ist, daß selbst von den Gliedern
der provisorischen Regierung keines eine bestimmte Candidatur vertritt, ob¬
gleich alle für monarchisch gesinnt gelten wollen. Nicht einmal von Prim,
dem bekanntesten unter den Revolutionsmännern, steht fest, ob er für Mont-
pensier, Dom Luis oder für den Prinzen Alfred von England arbeitet; seine
im Gaulois abgegebene Erklärung, daß er selbst von allen ehrgeizigen Wün¬
schen frei sei, läßt sogar darauf schließen, daß dieser kühne Abenteurer mehr
von der Ehrsucht eines Wallenstein oder Cromwell, als von der Uneigen-
nützigkeit Washington's und Cavaignac's habe. Daß die Candidatur eines
spanischen Bürgers aber mit tödlichem Parteikampf identisch wäre, kann
Niemand zweifelhaft sein. Topete, Serrano und die übrigen Heerkönige
werden schwerlich länger tugendhaft zu bleiben vermögen, als der Graf
von Reus.
Die Frage, auf welche es zunächst ankommen wird, wird die sein, ob der
allgemeinen Volksabstimmung constituirende Cortes vorhergehen oder nicht, und
ob diese im Stande sein werden, die eigentliche Entscheidung in den Händen
zu behalten. Das phrasenreiche Manifest der provisorischen Regierung, welches
am 20. Oetober in Form eines Rundschreibens an die diplomatischen Agenten
veröffentlicht worden, spricht sich im Sinne der letzten Eventualität aus, aber
ziemlich verhüllt und ängstlich. Auch die an die provisorische Negierung ge-
richtete Erklärung, welche die madrider Junta kurz vor ihrer freiwilligen
Auflösung veröffentlicht hat, schließt sich der Meinung an. daß die Volksab¬
stimmung im gegenwärtigen Augenblicke bedenklich wäre und durch den Zu¬
sammentritt einer constituirenden Versammlung vorbereitet und geweiht
werden müßte — zu einer ausdrücklichen Verwerfung des Luktrag-e, uuivör-
sei hat es aber auch ihr an Muth gefehlt. Und doch kommt Alles darauf
an, daß die Zukunft des Landes nicht bedingungslos in die Hände unzu¬
rechnungsfähiger Phrasen- oder Pfaffenknechte gelegt werde, für die es nur
ein „Entweder oder", d. h. ausschweifende Freiheit oder blinde Unterwerfung
unter irgend einen Namen gibt. Die letzte Gefahr scheint im Augenblicke
allerdings geringer zu sein, als die erstere, da das Volk noch unter dem
vollen Eindruck der Jämmerlichkeit des alten Systems steht und Don
Enrico, der Erbe der Traditionen des Carlismus, bis jetzt nur bei einigen
Räuberhaufen in den pyrenäischen und baskischen Bergen Geschäfte ge-
macht hat.
Die Regierungen der Staaten, welche Zeugen der spanischen Revolution
gewesen, stehen der provisorischen Regierung von Madrid bis jetzt noch sehr
reservirt entgegen, obgleich sich nirgend, auch in Frankreich nicht, ernste und
opferbereite Sympathien für die Sache der zweiten Jsabella gezeigt haben.
Einstimmig ist nur der Wunsch, daß es nicht zu einer Republik komme.
Frankreich steht all' den drei Eventualitäten, welche die meiste Wahrschein¬
lichkeit für sich haben, gleich negativ entgegen; der Kaiser ist mit Hand und
Fuß gegen eine Republik, die Vereinigung mit Portugal und die Einsetzung
des Herzogs Anton von Montpensier erscheint ihm aber ebenso unzulässig,,
wie die Aufrichtung der Staatsform, welche er in Frankreich zu Fall ge
bracht hat. Italien soll dem Gedanken an eine spanische Republik so ab¬
geneigt sein, daß es lieber den Herzog von Aosta nach Madrid schicken, als
ein königloses Reich im Süden der Pyrenäen sehen will. Und doch sind
die Zeiten, in denen europäische Republiken ansteckend wirkten, so gründlich
vorüber, daß das monarchische Princip von denselben nichts mehr zu fürchten
hat, ja durch republikanische Experimente in Spanien eher gewinnen als
verlieren würde. Der Glaube an die Heilkraft und Lebensfähigkett großer
Republiken ist durch die französischen Erfahrungen von 1848 und 1851 gründ¬
licher geschädigt worden, als durch all' die theoretischen und praktischen An¬
feindungen, welche diese Staatsform seit dem Jahre 1799 erlitten hat. Eine
spanische Republik wäre sicherlich mehr geeignet von diesem „Laster" zu ent¬
wöhnen, als zu ihm anzureizen und die Furcht, welche einzelne Regierungen
vor derselben zeigen, ist nur ein Stück unüberwundenen politischen Aber'
glaubens.
Die Rolle, welche in der öffentlichen Meinung Frankreichs bisher das
neue Deutschland eingenommen hatte, wird seit den letzten sechs Wochen von
Spanien gespielt. Die prickelnde Neugier der Pariser, welche sich nicht zufrieden
gibt, bevor ihre Frage „c^ma novi" durch irgend eine politische Tagesneuigkeit
beantwortet ist. beschäftigt sich mit Conjecturen über die künftige Besetzung
des spanischen Throns, die lären - und reclamebedürftige Presse nährt sich
mit Briefen von und an Prim und die Schönredner und Schaumschläger
im größeren Styl finden an der vermeintlichen Unterstützung der einen oder
andern spanischen Kandidatur die nöthige Beschäftigung. Der Gaulois hat
sich durch seine Beziehungen zu einzelnen Häuptern der provisorischen Negie¬
rung von Madrid für einige Zeit in Mode gebracht und sorgt dasür, daß
nur von Spanien und nur von Spanien die Rede ist; Herr von Girardin,
der vergeblich auf die spanische Republik pointirte. macht seiner Verstimmung
über die secundäre Stellung, in welche er augenblicklich gerückt worden ist.
durch absprechende Kritik von Zuständen Luft, die sich seiner Beurtheilung
ebenso entziehen, wie der der übrigen nicht spanischen Welt; der kaiserliche
Vetter ist wiederum um eine Hoffnung ärmer geworden und der Kaiser, end¬
lich in die Nähe seiner Hauptstadt zurückgekehrt, hüllt sich in das tiefe
Schweigen, welches regelmäßig der Kreuzung seiner Pläne zu folgen pflegt.
Die spanische Hofpartei der Kaiserin hat sich durch ihre anfängliche Partei¬
nahme für die Königin Jsabella eine arge Schlappe zugezogen und mußte
kleben, daß ihre Erklärungen über die Solidarität der dynastischen Interessen
diesseit und jenseit der Pyrenäen durch den Kaiser Lügen gestraft wurden.
Eine feste Position hat das Tuileriencabinet gegenüber der spanischen Revo¬
lution noch nicht nehmen können ; der Republik und der Jnthronisirung des
Herzogs von Montpensier ebenso abhold, wie der Verwirklichung der iberischen
Idee, sieht der Kaiser sich in die peinliche Lage versetzt, eine Entscheidung ab¬
warten zu müssen, die ihm unbequem sein wird, mag sie ausfallen wie sie
Molle. Jede der drei Eventualitäten, welche für die Lösung der spanischen
Frage wahrscheinlich sind, wird, sobald sie in den Vordergrund tritt, in
Frankreich als die schlimmste bezeichnet und doch hat man weder das Recht
Noch die Macht, dieselbe abzuwenden. — Der große Umfang der Verluste,
welche den Bonapartismus in den letzten Jahren getroffen, ist wieder ein¬
mal in peinlichster Weise blosgelegt. Der schmeichelhafte Empfang, der
der „Gräfin von Madrid" am französischen Hof geworden, läßt durchsehen,
nach welcher Seite die kaiserlichen Sympathien sich neigen; auf den Volks¬
willen in Spanien üben dieselben aber nicht die geringste Wirkung und nach
den neuesten Nachrichten sind die Actien des verhaßten Montpensier seit der
Weigerung Ferdinands von Koburg-Cohary sogar beträchtlich gestiegen. Jede
Woche, um welche die Entscheidung in Madrid hinausgeschoben wird, rückt
zugleich die Hoffnungen der preußenfeindlichen Kriegspartei um einen neuen
Monat weiter hinaus und der Druck, den die Unkosten der reorganisirten
Armee auf den Staatssäckel üben, ist so empfindlich, daß der Kaiser selbst,
den Geldverlegenheiten sonst nicht zu tangiren pflegten, auf Vorschläge zu
einer allgemeinen Entwaffnung denkt oder doch eine Zeit lang gedacht hat.
Die neue europäische Karte, welche die die friedliche Haltung Frankreichs als
durch die günstigen Resultate seiner Machtentwickelung seit 1815 bedingt
nachweisen soll und neuerdings von den pariser Officiösen gefeiert wird,
zeigt, daß es mit dem unerschöpflichen Vorrath an Mitteln zur Beschäftigung
der nationalen Selbstgefälligkeit stark zu Ende geht und die Unruhe, welche
der auf diese Karte bezügliche Artikel der France an der pariser Börse er¬
regt hat, läßt dieses Beschwichtigungsmittel als nicht besonders glücklich ge¬
wählt erscheinen.
Dem Glauben an die Möglichkeit einer Wandelung der inneren Politik
Frankreichs in liberalem Sinne sind die den Frieden erzwingenden Ereignisse
des letzten Monats nicht zu Gute gekommen. Und doch wiirde nur eine
solche Wandelung der Erhaltung des Friedens solide und dauernde Bürg¬
schaften bieten. Wohl ist davon die Rede, den bei den Friedens- und Frei¬
heitsfreunden populärsten der kaiserlichen Räthe, den Staatsminister Rouher
mit der Leitung der inneren Angelegenheiten zu betrauen, aber alle Welt weiß
daß das nur den Sinn haben würde, die Leitung der nächsten Wahlen für
den gesetzgebenden Körper in eine geschicktere Hand zu legen, als die des
Herrn Pinard, und daß nach Ansicht der am Hof maßgebenden Kreise die
äußerste Grenze der dem französischen Volke zuträglichen Freiheiten längst
überschritten ist. Seit mit dem Grafen Walewskt einer der letzten älteren Ver¬
trauten des Kaisers zu Grabe gegangen ist und die Verwalter der verschiede¬
nen Ministerien mehr die Rolle von Commis als von selbstthätigen und
selbstdenkenden Staatsmännern spielen, prävaliren am kaiserlichen Hof die
kleinlichen und dem eigentlichen Staatsinteresse völlig fremden Einflüsse der
Umgebung der Kaiserin und die liberale Schattirung der imperialistischen
Partei hat kaum noch einen Mann aufzuweisen, dessen persönliche Be¬
ziehungen zum Staatsoberhaupt in Betracht kämen. Für Glücksritterschaft
und Intrigue ist die auswärtige Politik aber ein ungleich dankbareres Feld,
als die Beschäftigung mit den Fragen des inneren Staatslebens, zu welcher
es schöpferischer Ideen und solider Kenntnisse bedarf, und so erscheint völlig
begreiflich, daß die Hofgesellschaft ihr Möglichstes thut, um die diplomatischen
Fragen immer wieder in den Vordergrund zu ziehen und mit diesen den
täglichen Bedarf an Emotionen und spielenden Beschäftigungen zu bestreiten.
Wie groß das Maß der Verlegenheiten ist, welche auf der auswärtigen
Politik Frankreichs lasten, hat sich neulich in einer Rundschau, welche der
Noviteur an soir über die gegenwärtige Lage Europas hielt, auf das schlagendste
offenbart. Mit guten Beziehungen und nachhaltigen Einflüssen in Spanien
und Italien ließ sich ebenso wenig renommiren, wie mit dem Respect, den man
Preußen und Deutschland eingeflößt hätte, oder den guten Beziehungen zu
Rußland; selbst von dem Project einer militärisch - commerciellen Alliance
mit Holland und Belgien ließ sich noch nicht öffentlich reden, da dasselbe bis
jetzt keine Chancen auf Erfolg hat. So mußte der hohe Werth der Freund¬
schaft Oestreichs in ein möglichst Helles Licht gerückt werden und um die
Franzosen glauben zu machen, Hand in Hand mit Herrn von Beust ver¬
möchte der Kaiser immer noch den Welttheil aus den Angeln zu Heben, ver¬
stieg das officielle pariser Organ sich zu nachstehendem Urtheil über die
gegenwärtige innere Lage des östreichischen Kaiserstaats: „Ungeachtet einzelner
Schwierigkeiten befestigt sich die Neugestaltung der östreichischen Monarchie mit
jeden Tage und die feindlichen Strömungen, welche sich auf den Landtagen
von Prag und Lemberg geltend machten, haben weder die wohlwollenden
Absichten des Kaisers Franz Joseph, noch die Gefühle der Dankbarkeit und
des Vertrauens bei seinen Völkern abzuschwächen vermocht." Selbst wenn man
diesen Satz umkehrte und behauptete, die Vorgänge in Gallizien und Böhmen
hätten hingereicht, was von Vertrauen bei den Völkern und von gutem
Willen bei der Regierung übrig geblieben, zu erschüttern, man hätte doch
noch nicht die Düsterkeit des Bildes erreicht, welches in denselben Tagen von
der „Neuen freien Presse" vor den Augen des neuversammelten wiener
Neichsraths entrollt wurde. „Der Zeitabschnitt von der einen bis zur andern
Parlamentssession ist in einigen Tagen beendet: er ist düsterer und unruhiger
gewesen, als wir gefürchtet hatten" — so beginnt die Rundschau welche das
officiöse Organ des östreichischen Liberalismus über die vier Monate hält.
Welche seit dem 24. Juni dieses Jahres verflossen sind. Und in der That —
die Unmöglichkeit, eine Staatsform für Oestreich zu finden, welche den An¬
sprüchen der drei Hauptgruppen: Deutschen, Magyaren und Slaven in
gleicher Weise entspräche, hat sich kaum jemals so schlagend ausgewiesen,
wie bei dem Versuch, die Arbeit des Reichstags vom ersten Halbjahr 1868
durch die territorialen Landtage besiegeln zu lassen. So groß ist die Zer¬
fahrenheit der Nationalitäten und Stämme, welche in Betracht kommen, daß
nicht einmal innerhalb der einzelnen Hauptgruppen eine Einigung erzielt
werden konnte, welche für das Gelingen des staatlichen Neubaus Garantien
böte. Während die Ruthenen Galiziens nach Rußland, die Raizen nach Ser¬
bien gravitiren, die Polen die Wiederherstellung der alten »königlichen Re¬
publik" als letztes Ziel ihrer Politik bezeichnen, die Czechen die Reeon-
struction des Föderativsystems anstreben, kämpfen in Deutschöstreich die
Parteien der Constitutionell-Liberalen und der altöstreichischen Ultramontanen
auf Tod und Leben. Nicht nur, daß die Renitenz der Bischöfe gegen die
Reichstagsbeschlüsse in fast allen außerungarischen Theilen der Monarchie die
gleiche ist, das wichtige Kronland Throl stellt sich als solches in das Lager
der Opposition gegen das neue östreichische Staatsleben und zerreißt damit
die Phalanx der deutschen Landtage, welche das Gegengewicht gegen die
Separatisten von Prag und Lemberg bilden sollten!
Sind es im Augenblick auch die böhmischen Wirren, welche trotz der
energischen Maßnahmen des F. M L. v. Koller den Hauptgegenstand der ministe¬
riellen Sorgen bilden, so erscheinen die galizischen Schwierigkeiten doch als die
ernsteren, vielleicht die ernstesten mit denen der Versuch einer Regeneration
des Kaiserstaates zu kämpfen hat. Daß Böhmen trotz seiner Nähe von dem
Centrum der Regierung und trotz der zwei Millionen deutscher Bewohner,
welche zur schwarz-gelben Fahne halten, überhaupt als bedrohter Punkt er¬
scheinen kann, zeigt, auf wie schwankendem Fundament das gesammte Staats¬
gebäude steht; immerhin wird es einer energischen Regierung möglich sein,
der Gefährlichkeit der czechischen Opposition gewisse Schranken zu setzen. In
Galizien dagegen hat das Cabinet mit zwei gleich gefährlichen Parteien zu
rechnen, ohne denselben innerhalb Landes irgend ein anderes Gegengewicht als
die soldatische Gewalt entgegen setzen zu können. Hier wo es sich ausschließlich
um rivalisirende Nationalansprüche handelt, ist die Wirkung der liberalen Re¬
formen gleich Null; Polen und Ruthenen sind für die Angebote, welche ihnen der
abstracte wiener Liberalismus machen kann, gleich unzugänglich. Ob man in
Wien das Concordat auslöst oder nicht auflöst, Preßprocesse durch Geschworene
oder staatlich bestellte Richter austragen läßt, ist den hier streitenden Mäch¬
ten im Grunde völlig gleichgiltig; alles was in Wien geschieht und nicht ge¬
schieht wird lediglich aus dem einen Gesichtspunkte beurtheilt, ob es ein Ge¬
wicht in die polnische oder in die ruthenische Wagschale wirst; an die Bedürf¬
nisse Deutschöstreichs und den Maßstab, mit dem man hier die Brauchbarkeit
der Staatslenker ausmißt, reichen beide galizische Stämme noch nicht heran. —
Dem Zusammentritt des wiener Reichstags folgt die vorläufige Vertagung des¬
selben so rasch auf dem Fuß, daß dieses Parlament noch nicht Zeit gehabt zu
haben scheint, sich zu den Ereignissen der letzten Monate zu äußern. Das
Präsidium des cisleithanischen Cabinets ist vorläufig in den Händen des Grasen
Taaffe geblieben und die konstitutionelle Maschine arbeitet mit Reformen des
Ehe- und Preßgesetzes weiter, als sei ihr Apparat noch derselbe, wie am
24. Juni d. I. Daß das wankende Vertrauen des deutsch-östreichischen Libera¬
lismus durch die bevorstehenden Delegationsberathungen (die in Pesth und
nicht in Wien abgehalten werden sollen) gekräftigt werden wird, erscheint
trotz der befestigten Stellung der Deäkisten wenig wahrscheinlich — man braucht
nur auf die kleinlaute Sprache der liberalen und officiösen Organe Wiens
zu achten, um zu merken, daß die Schwingen des östreichischen Doppeladlers
nach kurzem Fluge wieder gelähmt sind. Von allen Seiten wird bestätigt,
daß viele auß'eröstreichische Deutsche (und unter diesen zählen dieselben
nationalen mit, denen noch vor einem halben Jahre vorgeworfen wurde,
sie sähen der Neugestaltung des Kaiserstaates mißgünstig zu) einen Glauben
an die Heilkraft des liberalen wiener Systems zeigten, nach dem man sich in
Oestreich selbst vergeblich umsehe.
Deutschland, dessen politische Ferien in diesem Jahre länger dauern, als
die seiner meisten Nachbarn, ist in den letzten Wochen wesentlich auf die
Rolle des Zuschauers auswärtiger Ereignisse beschränkt geblieben. Aus dem
Gebiet des inneren Staatslebens ist wenig zu melden. In Hannover hat
Graf Eulenburg den Triumph gefeiert, seine Vorschläge für die provincielle
Selbstverwaltung nicht nur genehmigt, sondern durch die Führer der natio¬
nalen Partei auf dem Provinziallandtage unterstützt zu sehen; in Nassau.
Schleswig, Kiel, Rendsburg und Kassel -sind die Provinziallandtage vor
Kurzem zusammengetreten. Die souveränen Fürsten des deutschen Südens
und was ihnen anhängt erfreuen sich eines harmlosen Stilllebens, das nach
den Kämpfen und Stürmen des vorigen Halbjahrs als Wiederkehr der alten
guten Zeit begrüßt und gelegentlich mit kleinen Handstreichen gegen an-
rüchige Freunde der nationalen Sache gefeiert wird. In Stuttgart ist der
Hofprediger Grüneisen wegen Mangel an orthodox-schwäbischer Gesinnung
trotz langjähriger treuer Dienste in der Stille beseitigt worden; die bairische
Regierung, welche unsern Optimisten für den Saul unter den süddeutschen
Propheten gilt und die mit Preußen noch jüngst einen Vertrag über Gegen¬
seitigkeit in Verfolgung von Preßvergehen abgeschlossen hat, um respective Ma¬
jestätsbeleidigungen unmöglich zu machen, Baiern hat dem Dichter Emmanuel
Geibel — gleichfalls in der Stille — die seit vierzehn Jahren genossene
Pension entzogen, weil er den Einzug König Wilhelm's in die Mauern von
Lübeck durch ein patriotisches Gedicht feierte; nur in Baden wird das im
Jahre 1866 für die nationale Sache wiedereroberte Terrain muthig und
konsequent vertheidigt. — Während die übrigen deutschen Parteien noch in
der früheren Regungslosigkeit beharren, hat die socialistische während des
letzten Monats eine außerordentliche Rührigkeit entfaltet. Ungeachtet der
Zahllosen Spaltungen, welche das socialistische Lager zerreißen — es lassen
sich nicht weniger als fünf verschiedene Fractionen nachweisen, welche alle
für die echten Erben Lassalle's gelten wollen — machen die Bestrebungen
sür Anschluß der deutschen Arbeiter an die verwandten Agitationen in Bel¬
gien. England und der Schweiz erhebliche Fortschritte. Unter solchen Um¬
ständen verdienen die neuen giftigen Ausfälle der Kreuzzeitung gegen Schulze-
Delitzsch besonders harte Verurtheilung. Wenn die Partei, welche hinter
diesem Organ steht, die alte Freund- und Gevatterschaft mit den Jüngern
Lassalle's im gegenwärtigen Augenblick wieder aufzunehmen gedenkt, so zeugt
schon die Wahl des Zeitpunkts für ihre Unbelehrbarkeit. Mag die altconser-
vative Partei auch dessen gewiß sein, daß Herr von Schweitzer zu den Geistern
gehört, die sich wieder beschwören lassen, wenn sie lästig werden — seit Jahr
und Tag weiß der harmloseste Zeitungsleser, daß die Sache des vierten Standes
in Preußen den Herausgeber des Socialdemokraten nicht mehr braucht und daß
derselbe täglich durch eine Legion anderer Führer ersetzt werden kann. Nur der
völlig urtheilslose Leichtsinn kann mit einem Dinge spielen, dessen Rolle in
der künftigen Gestaltung der europäischen Dinge schlechterdings nicht abzu¬
sehen ist, dessen Interessen zu eigenartig beschaffen sind, um irgendwelche
Alliancen nach rechts offen zu lassen.
An dem diplomatischen Himmel Preußens hat sich nur ein einziges Ge¬
wölk, die von französischen Preßstimmen unterstützte Mahnung Dänemarks
zu allendlicher Regulirung der Schleswig-jütischen Grenze, gezeigt. Die ber¬
liner Regierung soll die Absicht haben, diese Angelegenheit nicht dem bevor¬
stehenden preußischen Landtage, sondern dem nächsten Reichstage vorzulegen,
mithin in das nächste Jahr hinauszuschieben. Den Landtag erwartet nächst
den Berathungen über die Umgestaltung der Provincial- und Kreisverfassung
(an deren diesjährigen Abschluß kaum Jemand innerhalb oder außerhalb
Preußens glaubt) die Aufgabe, für ein Deficit von fünf Millionen Rath zu
schaffen, ein Umstand, der der „Temperatur" des Hauses am Dönhofsplatz
nicht zu Gute kommen wird, wenn die Offiziösen auch eine Deckung ohne
Steuererhöhung in Aussicht gestellt haben. Den Ministern des Innern und
des Cultus steht eine ziemlich' lange Reihe von peinlichen Interpellationen
aus den alten, wie den neuen Provinzen bevor und wenn der Gegensatz
zwischen Alt- und Neupreußen nicht auch diesmal einen Keil in die Ge¬
schlossenheit der alten Parteien treibt, so wird das Verhältniß des Cabinets
zur Majorität selbst im Vergleich zum letzten, bereits ziemlich stürmischen Früh¬
jahrs wesentlich verschlimmert sein.
In Rußland, dessen Herrscher nach mehrmonatlicher Abwesenheit in
Deutschland Anfang October in seine Residenz zurückgekehrt ist, wird das
System der Vernichtung alles dessen, was von polnischem Wesen in dem
„Weichsellande", in Litthauen und in Weißrußland übrig geblieben, unauf¬
haltsam bis in seine letzten Konsequenzen durchgeführt. „Um die Confesstons-
srage von der Nationalitätsfrage zu trennen" sind Anstalten getroffen, die
russische Sprache in die katholischen Gottesdienste einzuführen; katholische
Ritualbücher und Katechismen waren schon früher in das Russische übertragen
worden, und wie der Golos neulich berichtete, existirt auch Luther's kleiner
Katechismus in einer russischen Ausgabe — zunächst um in den polnisch-
und deutsch-protestantischen Gemeinden des wilnaer Generalgouvernements
eingeführt zu werden. Daß in weiterer Perspective auch an eine Einführung
dieses nationalen Vehicels in Liv-, Esth- und Kurland gedacht werde, ist von
der Presse der national-demokratischen Partei bereits ziemlich deutlich gesagt wor¬
den. Der fanatische Eifer gegen die deutschen und polnischen Elemente in der
westlichen, zur Assimilation mit der „herrschenden Nationalität" bestimmten
Reichshälfte steht auf einer Höhe, die man für den Zenith der gesammten seit 1863
in Fluß gekommenen Bewegung halten könnte, wenn nicht bekannt wäre, daß
die Einführung der russischen Sprache in die katholischen Gottesdienste mit
dem Siege einer gemäßigten Fraction der Nationalpartei identisch ist.
Die Enrages des Panslavismus, die sogenannten Slavophilen, haben diese
Maßregel aufs Lebhafteste bekämpft, weil ihnen die Begriffe Rusfenthum und
Alleinherrschaft der griechisch-orthodoxen Kirche gleichbedeutend sind und sie
die förmliche Ausrottung der „fremdländischen" Confessionen mit Hilfe einer
gut organisirten Propaganda fertig zu bringen gedenken; Katkow, der Re¬
dacteur der Moskauschen Zeitung, bekämpfte den Plan der Ausrottung des
Katholicismus dagegen.aufs Aeußerste, indem er nachwies, daß derselbe un¬
ausführbar sei und nur einen verstärkten Einfluß des polnischen Clerus auf die
der Regierung gewonnenen Bauern zur Folge haben werde. Nach jahrelangem
Kampf gegen das nationale Vorurtheil und die Furcht der Geistlichkeit,
welche in einer russisch-katholischen Kirche eine gefährliche Rivalin sieht, hat
der einflußreiche Publicist endlich sein Programm durchgesetzt.
Nächst den Vernichtungsmaßregeln gegen Polen haben der Erlaß eines
Gesetzes über Umgestaltung der Agrarverhältnisse in Bessarabien und die Er¬
öffnung neuer Eisenbahnlinien (Riga-Mitau und Smolensk-Witepsy die
Aufmerksamkeit des russischen Publicums hauptsächlich beschäftigt. Ueber eine
andere, erst zu bauende Linie, welche auch für Preußen von großer Wichtig¬
keit ist, wird in der russischen Presse noch lebhast gestritten: die Nationäl-
Partei wünscht den kurländischen Hafenort Libau mit Kowno zu verbinden,
um den westrussischen Export, der bisher auf Königsberg gerichtet war. nach
Libau zu dirigiren und diese Stadt dadurch mit dem Innern Rußlands und
dessen Interessen enger zu verbinden. In den Ostseeprovinzen sähe man
Libau lieber mit Riga verbunden und die Regierung scheint bis jetzt diesem
letzteren Project zuzuneigen. Die moskauer Presse ermangelt nicht, diese
»Schädigung der russischen Interessen" preußischen Intriguen zur Last zu
legen und dadurch den tiefen Groll zu nähren, den ihre Anhängerschaft schon
lange gegen den aufstrebenden, von der russischen Vormundschaft emancipirten
preußisch-deutschen Staat hegt. Die russisch-preußische Alliance ist von dieser
Seite her schon vor einiger Zeit Angriffen ausgesetzt gewesen, die denen der
wiener und pariser Presse an Rücksichtslosigkeit nichts nachgaben. In den
letzten Wochen sind die offenen Angriffe der Nationalpartei gegen Preußen
übrigens wieder verstummt, merkwürdigerweise ohne daß darum die orienta-
lische Frage, die Grundlage der Entente zwischen den beiden großen Militär¬
staaten des Nordostens, in den Vordergrund geschoben worden wäre.
Drei Jahre waren verflossen, seit in Frankfurt a. M. der dritte
deutsche Handelstag seine großentheils im Wege des Compromisses ent-
standen?» und deshalb von vorn herein etwas farblosen Beschlüsse gefaßt
hatte. Drei ereignißvolle Jahre; im September 1865 galten in der Ver¬
sammlung, deren reelle Basis die Unbefangenen doch auch da schon aus¬
schließlich im deutschen Zollverein erblicken konnten, die Oestreicher noch als
vollberechtigte Glieder, wenn sie auch nicht so zahlreich erschienen waren, wie in
München, wohin sie die brüderliche Absicht, in die Verhandlungen über den fran¬
zösischen Handelsvertrag ein Kukuksei zu legen, in hellen Haufen getrieben
hatte. Seit dem prager Frieden waren sie thatsächlich ausgeschieden. Im
Concertsaale des Schauspielhauses zu Berlin erhob sich stolz inmitten der
Farben der Bundesglieder die schwarzweißrothe Fahne; mit einem Hoch auf
den Schirmherrn des norddeutschen Bundes und des Zollvereins, in dessen
Namen der preußische Handelsminister die Versammlung bewillkommnete,
wurden die Verhandlungen eröffnet. Und der schüchterne Versuch, den bei
der Debatte über Art. 2 des Statuts Moll-Mannheim machte, durch Ver-
wandelung der Worte „im Zollparlament vertretene Staaten" in „deutsche
Staaten" den „ideellen" Standpunkt zu wahren, war mit dem stolzen Wort
beseitigt, das Witte-Rostock ihm entgegenrief: Wir sind jetzt eine Nation
geworden!
Als nach den heißen Julitagen 1866 die Wogen der Aufregung zu ebben
begannen und der Handelsstand den Saldo der neugeschaffenen Verhältnisse
zu ziehen versuchte, da erhob sich auch die Frage nach der ferneren Berech¬
tigung eines Instituts, welches dem Verlangen nach Einigung der deutschen
Staaten auf wirthschaftlichem Gebiet seine Entstehung verdankt und in dem
Streben danach seine Aufgabe gefunden hatte. Vergleichen wir den Artikel
4 der Verfassung des Norddeutschen Bundes mit den früheren Beschlüssen des
Handelstags, so dürfen wir bekennen: ein großer Theil der letzteren, die als
fromme Wünsche sich an die dreißig und etlichen Regierungen gerichtet hatten,
ist in jenem Artikel k-rystallisirt. Manche seiner lakonischer Bestimmungen
sind seitdem zur Wahrheit geworden. In dem Vertrage vom 8. Juli 1867
hat das Band der wirtschaftlichen Interessen, welches die Mainlinie nicht
kennt, wenigstens eine festere Gestalt gewonnen, und die erste Session des
Zollparlaments, das in der Zeit vor Königgrätz uns bescheidenen Politikern
fast der Gipfel aller Wünsche däuchte, liegt bereits hinter uns. Aber sollte
deshalb der Handelstag nun erklären: wir sind am Ziele, laßt uns die Hände
in den Schoß legen —? Mag seine Aufgabe jetzt eine bescheidenere genannt
werden, wir lassen es gelten, sofern jedes wirkliche Arbeiten auf staatlichem
und wirthschaftlichem Gebiet eine bescheidenere Ausgabe ist, als das Beschließen
welterschütternder Resolutionen. Sagen wir lieber: das Haus ist jetzt ge¬
baut, an dessen innerer Einrichtung mitzuarbeiten uns vergönnt ist — eine
Arbeit, deren Schwierigkeit zu unterschätzen die Erfahrungen des letzten Jahres
uns wenig Veranlassung bieten; und wenn die benannten Zahlen, mit denen
wir nunmehr rechnen, nicht ganz so stolz klingen wie die früheren unbenann¬
ten, so haben wir dafür einen fruchtbringenden Boden gewonnen. Diese
Erkenntniß, welche die Vertreter des deutschen Handels und Gewerbfleißes so
zahlreich nach der Bundeshauptstadt geführt hatte, zog sich als rother Faden
durch die Verhandlungen des 20. bis 23. Oetober hindurch.
Die reiche Tagesordnung, zu deren Erledigung der bleibende Ausschuß
ursprünglich nur drei Tage bestimmt hatte, mochte durch den rascheren Puls¬
schlag unseres staatlichen Lebens bedingt worden sein. In der Zollfrage
hatte das Plenum des Handelstags sich noch gar nicht ausgesprochen; nur
vom Ausschuß war eine, die Einzelwünsche zusammenfassende Denkschrift aus¬
gegangen, deren schutzzöllnerische Färbung die bekannte, inzwischen glücklich
beseitigte Differenz mit den Vertretern der Ostseeplätze hervorgerufen hatte.
Nachdem am ersten Tage die mit allzu deutscher Gründlichkeit behandelte
Organisationsfrage nur eine Stunde für das Referatin der Münzfrage
übrig gelassen, drängte sich am zweiten Tage die Nothwendigkeit auf, einen Tag
Zuzulegen- Dessenungeachtet mußte man am Freitag (den 23.), als dessen
Aufgabe die Erledigung der wichtigsten unter den so wichtigen Zolltarif-
Fragen geblieben war, die Artikel Tabak, Reis und Lumpen von der
Tagesordnung streichen — zum großen Schmerz der badenser und der bremer
Herren, die in der Tabakfrage längst die Waffen gegen einander gewetzt
hatten, und der Vertreter der übrigen Seestädte, unter denen der allezeit
kampflustige Stephan-Königsberg schon bei dem ersten gemeinsamen Diner
in dem Präsidenten Nei n etc-Altona den Mann gefeiert hatte, der uns alle
Lumpen aus Deutschland zollfrei hinauszuschaffen verheiße, während anderer¬
seits ein von zahlreichen Papierfabrikanten unterzeichneten Protest gegen solche
»Schädigung der nationalen Industrie" auf dem Tisch des Hauses lag. So
blieben unter den Zoll-Artikeln nur Zucker und Eisen stehen. Am Mitt¬
woch wurden außer der Münzfrage, welche die Stunden von 9 bis gegen
1 Uhr beanspruchte, von 2 bis ^ 7 Uhr folgende Gegenstände erledigt:
Eisenbahn-Frachtwesen, Handelsgerichte, Concursordnung; am
Donnerstag: Wechselstempel, Markenschutz und Versicherungs¬
wesen; außerdem die Neuwahl des bleibenden Ausschusses. Die Aufgabe
des Vorsitzenden war bei der Menge der Verhandlungsgegenstände und bei
der Fluth gedruckter und geschriebener Amendements, in denen das rege
Interesse der Theilnehmer unaufhörlich Ausdruck suchte, keine beneidenswerthe.
Hr. Reineke entledigte sich derselben bis zuletzt mit unveränderter Frische
und Liebenswürdigkeit; nur am Donnerstag Nachmittag ließ er sich durch
den ersten Vicepräsidenten, Liebermann-Berlin, vertreten.
Von der glänzenden Soirie im Kroll'schen Etablissement, welche die
ernsten Arbeiten unterbrach, haben die Tagesblätter speciell berichtet. Mochte
man in den dort gehaltenen Reden, denen schon das Programm nur eine
bescheidene Stelle eingeräumt hatte, den warmen Hauch vermissen, welcher den
Mitgliedern des Zollparlaments die Feste des 21. und 22. Mai unvergeßlich
gemacht hat, so war doch sonst die Stimmung eine überaus belebte und der
Verkehr unter den Theilnehmern voller Herzlichkeit. »
Wenden wir uns nun zu den einzelnen Gegenständen der Tagesord¬
nung, so dürfen wir
I. über die Organisationsfrage kurz hinweggehen. Von einschnei¬
dender Bedeutung war nur der von Königsberg ausgegangene, vom Aus¬
schuß adoptirte Vorschlag, das Stimmverhältniß im Plenum nach der Be¬
deutung der einzelnen Korporationen, entsprechend den jährlichen Beiträgen
zu normiren und diese demgemäß in fünf Classen mit 1—S Stimmen ein¬
zutheilen. Es war jedoch in der Debatte kaum das Wort: „Majorisirung
der Kleinen durch die Großen" gefallen, als der Ausschuß jenen Antrag
zurückzog. In der Folge würde sich, wenn der Vorschlag durchgegangen
wäre, bei einigen Beschlüssen das Stimmverhältniß umgekehrt haben; man
darf aber erwarten, daß Regierungen und Zollparlament auch so die Stim¬
men der einzelnen Handelskammern wägen und nicht blos zählen werden.
Die weitere Frage, ob aus Orten, wo eine officielle Handelskammer besteht,
auch Privatvereine zuzulassen seien, führte zu piquanten Mittheilungen über
die Natur der Handelskammern im Großherzogthum Hessen: die Negierung
ernennt dort zuerst die Mitglieder, und diese ergänzen sich in der Folge durch
Cooptation, es sind also erbliche Notabelnversammlungen. Gegen den dar¬
aus hergeleiteten Antrag, daneben auch wirkliche Vertreter des Hnndelsstan-
des zuzulassen, wandte Stephan-Königsberg ein, man möge doch lieber
dafür sorgen, daß der geschilderte „Scandal" beseitigt werde. Seine ge¬
wichtige Stimme drang durch.
II. In der Münzsrage nahm der Handelstag insofern eine etwas
schwierige Stellung ein, als er im Gegensatz zu seinem früheren, noch 1865
bestätigten Beschlusse, welcher die silberne Mark '/g Thaler als Rechnungs-
Einheit, also Beibehaltung der Silberwährung und überhaupt der allgemeinen
Grundsätze des wiener Münzvertrags vom 24. Januar 1867 empfohlen
hatte, sich nunmehr für den Uebergang zur Goldwährung entscheiden
sollte, was schließlich mit allen gegen die eine Stimme. der berliner Kauf¬
mannschaft geschah. Wodurch rechtfertigt sich dieses veränderte Votum?
Die b aldtg ste Herbeiführung einer zweckmäßigen Münz-
Einheit in allen deutschen Staaten war der vornehmste Gesichts¬
punkt, welcher den früheren Beschluß dictirt hatte. Diese Hoffnung hatte
sich nicht verwirklicht; jener Beschluß hat sich weder der praktischen Ausfüh¬
rung, noch auch nur der Zustimmung der Regierungen zu erfreuen gehabt,
statt dessen hat der Plan einer allgemeinen internationalen Münzeini¬
gung auf Grundlage der Goldwährung in immer weiteren Kreisen Anhänger
gewonnen. Wichtig sind in dieser Hinsicht vor Allem die Verhandlungen
der im Jahre 1867 in Paris versammelt gewesenen internationalen Münz-
conferenz, deren Vorschläge durchgängig auf der Goldwährung beruhen,
und welche insbesondere „eonsiäerant yue, xg.r suite d'uns eireonstancs
aeeiäentiells et nsureuss, les urnes monewires los Ms importantes
peuvent s'aäavter g. 1a pisee ä'or krg.reg.iss as 6 trames, inovenng-ut
^s onaniern mes neu sensibles", dieses, das goldene Fünffranken¬
stück, als Grundlage des internationalen Münzsystems empfohlen hat. Bet
dieser Münzeonferenz waren bekanntlich auch Preußen und die süddeutschen
Staaten durch Bevollmächtigte vertreten, und der Vertreter Preußens stimmte,
so reservirt er sich auch in seinen Erklärungen hielt, doch dem Princip der
Goldwährung zu sa'gdin feire lo Principe as I'6eg.Ion Ä'or), nachdem er von
vorn herein erklärt hatte, que sans gvoir ig. pensee ac lnoäiöer ach ing.inte-
vant son Systeme wonstg.irs, 1s Kouvernemsnt prussien us mane^usrait xgs
6ö vrsndrs 1a yuestion en eonsiäöration; si les trg.og.ux ac ig. Lontsrenoe
lldeutissg-lent g. uns og.se ä'ertönte monstairs Zsn6rg.Is. Unter solchen Um¬
ständen ist die Herbeiführung einer Münzeinheit auch nur im Zollverein,
deren Mangel der Berichterstatter Dr. Soetbeer aus Hamburg treffend
dem in seinen Folgen für den Verkehr kaum auszudenkenden Falle verglich,
daß die Eisenbahnen in den verschiedenen deutschen Ländern verschiedene
Spurweite hätten, nicht füglich anders als auf Grund der Gold¬
währung, welche zugleich dem internationalen Verkehr zu Gute kommt,
überhaupt noch zu erwarten. Auf das, was der Referent, eine bekannte Au¬
torität aus diesem Gebiete, über die Vorzüge der Goldwährung an sich be¬
merkte, wollen wir hier nicht näher eingehen. Dem fast geringschätzigen Ur-
theil der Berliner Börsenzeitung gegenüber müssen wir aber constatiren, daß
der überaus klare, durch gedruckte Unterlagen im Voraus unterstützte Vor-
trag Gründe und Gegengründe ruhig und sorgfältig abwog und die Schwie¬
rigkeiten des Uebergangs in vollem Maße anerkannte. Wenn nach einem
solchen Bericht die Versammlung sich so einmüthig für Zurücknahme des
früheren Votums entschied, so will das, scheint uns, mehr sagen, als wenn
eine hinreißende Rede des Referenten über die Vorzüge einer internationalen
Münzeinigung auf Grund der Goldwährung den Verdacht hätte erwecken
können, ein Theil der Abstimmenden sei durch den augenblicklichen Eindruck
bestimmt worden. Die Börsenzeitung tadelt insbesondere, daß die Debatte
den wichtigen Punkt, wie denn der Uebergang zur Goldwährung zu bewerk¬
stelligen, welche gesetzlichen und münzpolizeilich'en Maßregeln deshalb zu treffen
seien, nicht klargestellt habe. Dieser Vorwurf widerlegt sich durch den Hin¬
weis darauf, daß der Handelstag kein Verein vom Rechtsgelehrten, Volks¬
wirthen und Münztechnikern, sondern von praktischen Kaufleuten ist. In
richtiger Erkenntniß der Sachlage hatte der bleibende Ausschuß des Handels¬
tags schon vorlängst diese allerdings sehr schwierige Frage zum Gegenstand
eines Preisausschreibens gemacht, dessen recht erfreuliche Resultate seit einem
Monat in einem mittleren Octavband vorliegen. Unzweifelhaft wird dieser Punkt
noch weiterer Bearbeitung durch die Wissenschaft bedürfen. Die beiden an¬
gesehenen Juristen, welche die berliner Kaufmannschaft in's Treffen geschickt
hatte, um für ihre conservative Meinung zu plädiren, trugen ihre Partei¬
stellung zu sehr zur Schau, um einen nennenswerthen Eindruck zu erzielen.
Größeren Beifall erntete der Geh. Archivrath Rtedel in Berlin, welcher,
übereinstimmend mit der ersten ver eingegangenen Preisschriften, ein zeitwei¬
liges Nebeneinander-Bestehen der Gold- und Silberwährung empfahl und
deshalb statt „alleinige Goldwährung" setzen wollte: „eine Goldwährung" —
ein Antrag, dem auch der Bankdirector Fromberg aus Breslau seine
Beistimmung schenkte, der aber schließlich mit 7ö gegen 37 Stimmen abge¬
lehnt wurde.
Dagegen wurde Art. 3 des Ausschußantrags, welcher Annahme der
alleinigen Goldwährung mit cousequenter Durchführung des
Decima'lsystems (jedoch vorbehaltlich der Viertheilung aus der untersten
Stufe) im Anschluß an die von der pariser Münzconferenz empfohlenen
Grundsätze befürwortet, mit überwiegender Majorität angenommen.
In Bezug auf die Rechnungs-Einheit hatte der Ausschuß seinen Vor¬
schlag alternativ gehalten: entweder das Fünffrankenstück oder den
Goldgulden — 2^2 Franken, für den die Handelskammer zu Köln einge¬
treten war, dazu zu adoptiren. Hr. Christ aus Siegen plädirte für das
reine Frankensystem, freilich aus einem eigenthümlichen Grunde: weil eine
bloße Rechnungsmünze irrationell sei — als od man Goldfranken aus¬
prägen könnte! Nur mit einer Majorität von einer Stimme wurde der An¬
trag von Mosle-Bremen abgelehnt, durch Streichung von Pos. 4 des Aus¬
schußantrags die Frage der speciellen Einheit ganz dahingestellt sein zu lassen.
Diese Pos. 4 wurde sodann mit 64 gegen 48 Stimmen angenommen und so
das Fünsfrankenstück alternativ mit dem Goldgulden empfohlen. Der Schlu߬
antrag, wonach an das Präsidium des norddeutschen Bundes und an die
süddeutschen Regierungen das Gesuch gerichtet werden soll, daß sie die Vor¬
bereitungen so treffen möchten, um die'Münzreform spätestens am 1. Januar
1872 gleichzeitig mit der neuen Maß- und Gewichtsordnung ins Leber
treten zu lassen, sand fast allseitige Beistimmung. Die zahlreichen Amende-
ments von geringerer Bedeutung können wir füglich übergehen. ^^
In dem Ministerium welches im Juli 1866 ins Amt trat, war Disraeli un-
streitig die leitende Persönlichkeit. Daß der Sohn eines jüdischen Literaten im
aristokratischen England nicht nur eine politische Rolle spielen, sondern sich
zum Führer der Tories aufschwingen konnte, ist eine höchst merkwürdige Er¬
scheinung , um so mehr als er bis dahin seinen Namen mit keiner einzigen
bedeutenden Maßregel verknüpft, vielmehr beidemal vorher als Schatzkanzler
durch seine Taktik rasch zum Sturz des Toryministeriums geführt hatte:
1882 fiel die Verwaltung Lord Derby's durch Disraeli's Budget. 1859 durch
seine Reformbill. Dennoch blieb er der Partei unentbehrlich durch sein stra¬
tegisches Geschick und seine Beredsamkeit. Gladstone war durch die Reform¬
frage gefallen, an Disraeli war es sie jetzt wiederaufzunehmen; alle Welt
verlangte, daß die Sache zum Abschluß gebracht werde und auch Lord Derby
forderte bald nachdem das Cabinet gebildet war seinen Paladin auf, Bedacht
zu nehmen, die Frage in großem Stil (in no niKMräly sxirit) durchzuführen.
Sehen wir nun, welche Stellung Disraeli bisher zur Parlamentsreform ge¬
nommen.
Der charakteristische Zug selner Bill von 1859 war die Gleichstellung
von Stadt und Land (KorouZn loci countz^ sullraZe); dagegen bekämpfte
er aufs Aeußerste die Herabsetzung der Wahlqualification in den Städten.
Zwar die bedeutendsten Mitglieder des Cabinets Henley und Walpole hiel-
ten diese Position für falsch und traten aus, als Disraeli bei seinem
Vorschlage beharrte. Ihrer Ansicht nach war es verkehrt Stadt und Land
gleichzustellen, wogegen sie zugaben, daß eine Herabsetzung der Wahlquali¬
fication in Städten wünschenswert!) sei; als solche schlugen sie vor den
Satz von 6 Pfd. Sterl. Gemeindeschätzung oder 8 Pfd. Sterl. Miethe an die
Stelle des bisherigen von 10 Pfd. Sterl. Miethe treten zu lassen. Dies,
meinten sie, würde keine willkürliche Fixirung sein, sondern einen wirklichen
Ruhepunkt gewähren, weil unter dem Betrag das cvmxouväinA beginne. Dies
besteht in dem Brauch, daß kleine Miether ihre Gemeindesteuern nicht selbst
bezahlen, sondern durch Vermittlung des Hauseigenthümers. Die städtische
Behörde, um die Weitläufigkeiten zu vermeiden, welche die Eintreibung kleiner
Steuerbeträge verursacht, trifft ein Abkommen mit dem Eigenthümer, wonach
derselbe die Gemeindeabgaben bezahlt und auf die Miethe schlägt, die Stadt aber
gewährt dafür, daß sie des Etnsammelns überhoben ist, eine gewisse Reduction
der Steuer, so daß z. B. ein Miether der 10 Shilling? zahlen müßte, durch seinen
Hauswirth nur 7 zahlt; Leute, die auf diese Weise wohnen, nennt man eom-
pounÄ KouLelwIäerL. Walpole und Henley nahmen ganz verständigerweise
als die Grenze, wo die Unabhängigkeit aufhöre und Abhängigkeit beginne den
Miethbetrag von 8 Pfd. Sterl. an, wo das eompounäiug gewöhnlich be¬
ginnt (Hansard vol. 152 vol. 1218), und Gladstone erklärte in der Debatte
im Namen der Opposition, daß, wenn der Schatzkanzler auf diese Idee einge¬
gangen wäre, die Bill mit allgemeiner Zustimmung begrüßt sein würde.
Aber Disraeli und Stanley waren hierzu nicht zu bewegen. Der erste er¬
klärte, daß die Herabsetzung der Wahlqualification in Städten zu der Herr¬
schaft einer Haushalterdemokratie führen müsse; es sei noch kein wirksames
Ersatzmittel für das gegenwärtige System gefunden, durch welches man eine
entsprechende Vertretung der verschiedenen Interessen und Classen des Landes
erhalte. Als Lord Russell fragte, ob das Ministerum leugnen wolle, daß seit
1832 große Fortschritte von den arbeitenden Classen gemacht und Viele un¬
ter ihnen seien, welche nicht 10 Pfd. Sterl. Miethe zahlten und doch fähig
seien das Wahlrecht auszuüben, entgegnete Lord Stanley, er wolle diese Fort¬
schritte nicht leugnen und ihnen werde Rechnung getragen durch die soge¬
nannte lateral kraneliises der Bill, indem Alle dies Stiwmrecht erhalten soll¬
ten, welche einen gewissen Betrag in Sparkassen hätten oder aus Zinsen be¬
zögen, sowie die Zimmereinwohner welche 20 Pfd. Sterl. jährlich zahlten;
dagegen weigerte er sich durch eine allgemeine Maßregel die arbeitenden Classen
als solche (in a docto) zum Wahlrecht zuzulassen, über Einzelheiten lasse sich
reden, in dieser Principfrage aber könne das Ministerium nicht nachgeben
und fordre das Verdict des Hauses. Dasselbe fiel verneinend aus, und als
nach der Auflösung die allgemeinen Wahlen den Gegnern des Ministeriums
die Majorität gegeben, mußte dasselbe zurücktreten. Denselben Standpunkt
nahm Disraeli bei seiner Opposition gegen die nun folgenden Reformversuche
der Liberalen ein; 1860 bekämpfte er Lord John Russell's Vorschlag, die städ¬
tische Qualification auf 6 Pfd. Sterl. Miethe herabzusetzen, weil sie einer
Classe, nämlich der arbeitenden, ein ungebührliches Uebergewicht gebe, ebenso
opponirte er der Gladstone'schen Bill von 1866, welche die Herabsetzung
auf 7 Pfd. Sterl. vorschlug, weil damit die Geschicke des Landes einer bloßen
Zahlenmehrheit überantwortet würden, und klagte seine Gegner an die be-
rühmten Institutionen Englands amerikanifiren zu wollen.
Hiernach hätte man erwarten können, daß Disraeli, als er aufs Neue
beruhn war die Initiative zu nehmen, erklärt hätte, daß, da die Majorität
eine Herabsetzung der Qualification verlange und doch wieder den von Glad-
stone vorgeschlagenen Satz von 7 Pfd. Sterl. zu weitgehend finde, er den
frühern seiner Collegen Walpole und Henley von 8 Pfd. Sterl. aufnehme.
Bei dem Temperament des Hauses und der starken Zerfahrenheit der liberalen
Partei durch den Abfall der Adullamiten wäre ein solcher Vorschlag sehr
wahrscheinlicher Weise durchgegangen, aber Disraeli sann aus größere Dinge.
Er sah, daß im Volke sich eine große Erbitterung über die Manöver, durch
welche die Tones die Gladstone'sche Bill zum Fall gebracht hatten, kund
gab. Denn diese Bill, obwohl wie früher erwähnt, ungeschickt angebracht,
hätte sich doch bei gutem Willen sehr wohl umgestalten lassen, weil ihr
Hauptprincip gesund war; dazu aber wollten die Tories es nicht kommen
lassen und benutzten den Widerwillen der conservativen Whigs, welche viel¬
fach die Details der Gladstone'schen Vorschläge gar nicht verstanden, zu einer
Reihe von facti-sser Amendements, welche niemals den eigentlichen Kern be¬
trafen. Derselbe aber, der Satz von 7 Pfd. Sterl., war, wenn einmal eine
Reform stattfinden sollte, annehmbar, da nach ihm wohl eine erhebliche An¬
zahl aus den arbeitenden Classen (etwa 144,000) das Wahlrecht erhalten hätten,
aber ihnen immerhin doch nicht das Uebergewicht gegeben wäre. Die intel¬
ligenteren Arbeiter hatten gefühlt, daß wenn die Gladstone'sche Maßregel auch
nicht Alles gab, was Bright wollte, sie doch ehrlich gemeint war und äußer¬
ten deshalb ihr Mißfallen über seine Niederlage in Meetings, welche sich
über das ganze Land erstreckten. Diese Demonstrationen sind gewiß nicht
ohne Eindruck auf die Regierung geblieben, wenn gleich es noch nicht auf¬
geklärt ist, ob Disraeli wirklich, wie er sich später rühmte, schon damals die
Absicht gehabt, so weit in der Reform zu gehen, wie er später that, und ob
in der That alle seine Kreuz - und Querzüge im Anfang der Session nur
darauf gingen seine Partei irre zu machen.
Die Thronrede (5. Febr. 1867) enthielt nur die allgemeine Andeutung,
das Wahlrecht solle frei ausgedehnt werden ohne das verfassungsmäßige
Gleichgewicht (wlimeo ok pomzr) zu stören. Am 13. sollte der Schatzkcmz-
ler die Absichten der Negierung eingehender entwickeln. Alles war in höch¬
ster Spannung, das Haus bis auf den letzten Platz besetzt. Disraeli begann
damit, daß weil alle Parteien sich bisher vergeblich an der Reformfrage ver¬
sucht, dieselbe nicht länger das Schicksal von Ministerien entscheiden dürfe,
dann suchte er geschichtlich zu beweisen, daß die Wiedereröffnung der Frage,
welche Lord Russell durch die Acte von 1832 für endgiltig entschieden er-
klärt habe, wesentlich den Bestrebungen einzelner unabhängiger Mitglieder
des Hauses und nicht den sich folgenden Ministerien zuzuschreiben sei und
zog daraus den einigermaßen gesuchten Schluß, daß das Haus mit der ge¬
genwärtigen Regierung die Verantwortlichkeit für die Lösung der Frage
theile. Aus diesem Grunde habe er sich entschlossen, durch Resolutionen vor¬
zugehen, um sich zu vergewissern, ob eine Uebereinstimmung in den allgemeinen
Zielen zu erreichen sei und damit eine feste Grundlage für die einzubringende
Bill gewonnen werden könnte. — Das Haus schien indeß wenig Geschmack
an dieser Fühlungsmethode, dem tentativs process zu haben, zumal die
Resolutionen, welche allmälig zum Vorschein kamen, so vag und unklar waren,
daß Niemand sehen konnte worauf sie abzielten und was die Folge ihrer
Annahme sein würde. Die Doctrin, daß die ministerielle Verantwortlichkeit
bei der Reformfrage aufhören solle, nahm sich außerdem wunderlich genug in
dem Munde eines Politikers aus, der gerade die Reform zum Hebel ge¬
macht, seine Gegner zu stürzen; treffend bemerkte Bright, daß, wenn ihm
Disraeli den Vorwurf mache, die englischen Institutionen amerikanisiren zu
wollen, er sagen müsse, daß niemals dem Hause ein so amerikanistrender Vor¬
schlag gemacht sei, denn in Amerika gebe es ja eben keine ministerielle Ver¬
antwortlichkeit, während in England der ganze Regierungsmechanismus auf
der Verbindung der Legislation mit der Executive durch das verantwortliche
Ministerium beruhe.
Wiederholt ward der Schatzkanzler gedrängt die Resolutionen näher zu
präctsiren oder sie zurückzuziehen und eine ausgearbeitete Bill einzubringen;
er aber weigerte sich und beantragte in vierzehn Tagen ins Comite' zu gehen,
dann werde er alle wünschenswerten Erläuterungen geben. Der Zustand
war ein sehr unbehaglicher; die Liberalen scheuten sich schon jetzt mit einem
ernsten Angriff vorzugehen, um sich nicht dem Vorwurf factiöser Opposition aus¬
zusetzen und sahen doch ein, daß sie nicht unthätig bleiben konnten; die Conser-
vativen waren unruhig, weil Niemand wußte, was das Ministerium eigentlich
wollte. Dasselbe fühlte, daß es auf diesem Wege nicht durchkommen werde;
am 28. Februar berief Lord Derby privatim seine Partei zu einer Versamm¬
lung in seinem Hause, um ihr dies einzugestehen und zwei neue Vorschläge
vorzulegen unter denen sie wählen sollte. Der eine war, daß künftig in Städten
jeder Hausbesitzer, welcher zwei Jahre in einem Orte gewohnt und persönlich
seine Gemeindesteuern bezahle, das Wahlrecht haben solle, dagegen aber jeder,
der 20 Shilling directe Steuern bezahle, eine zweite Stimme abgeben dürfe
(anat vote); der andere war, das städtische Wahlrecht den Hausbesitzern von
6 Pfd. Sterl. Gemetndeschätzung (i-atinA) zu geben und in den Grafschaften
die Qualification von 50 aus 20 Pfd. Sterl. herabzusetzen, außerdem solche
zuzulassen 1) welche durch wissenschaftliche Prüfungen ihre Befähigung be-
wiesen haben (gäueationsl kranedisö), 2) die 30 Pfd. Sterl. in Sparccissen
oder S0 Pfd. Sterl. in Fonds besäßen und 3) die 20 Shilling directe Steuern
bezahlten. Die Partei entschied sich für die letztere Modalität und am Abend
desselben Tages kündigte der Schatzkanzler eine hierauf basirte Bill an. Die
neuen Vorschläge waren ebenso klar und einfach als die Resolutionen vag
und unklar gewesen; aber es war auch ebenso klar, daß sie keine Aussicht
hatten durchzugehen. Tags darauf versammelten sich 289 Mitglieder bei
Gladstone und einigten sich mit ihrem Führer dahin, daß man nicht mehr
still sitzen könne, sondern der Regierung die Alternative stellen müsse, eine
annehmbare Bill vorzulegen oder zurückzutreten. Auch den Conservativen
ward es bei der Taktik ihres Führers schwül zu Muth und ein Meeting
von 120 Mitgliedern im Carltonclub forderte das Ministerium auf sich'ent-
gegenkommender zu zeigen. Um dem drohenden Gewitter vorzubeugen er¬
klärte denn Disraeli am nächsten Abend, als Gladstone einen Antrag an¬
kündigte, die Regierung möge eine äotmitL vorlegen, sich dem Wun¬
sche des Hauses fügen zu wollen und eine Bill auf befriedigender Basis ein¬
zubringen. Jetzt aber trat es zu Tage was Schärferblickende schon längst
vermuthet, daß innerhalb des Cabinets eine tiefgehende Meinungsverschieden¬
heit über die Reformfrage bestand. Disraeli nämlich hatte, als es klar ward,
daß mit den Resolutionen nicht durchzukommen war, seinerseits sofort das
Haushaltswahlrecht mit dem anat vots vorschlagen wollen; dem aber widersetzten
sich drei der bedeutendsten Mitglieder, die Minister des Krieges, der Colonien
und von Indien, General Peel, Lord Carnarvon und Lord Cranborne; sie
sahen ein, daß die Maßregel praktisch einfach auf Haushaltswahlrecht hinaus¬
kommen werde/ wollten einer solchen radicalen Veränderung ihre Zustim¬
mung nicht geben und erklärten schon damals, daß sie, falls der Schatzkanzler
darauf bestehe eine solche Maßregel vorzuschlagen, zurücktreten würden. Um
dies zu vermeiden stoppelte man denn in wenig Stunden das zweite Schema
zusammen, das von der Partei angenommen und Abends dem Hause vor¬
gelegt ward. Als es nun damit nicht gehen wollte und Disraeli auf seinen
ersten weitergehenden Vorschlag zurückgriff, legten jene drei Minister ihr Amt
nieder. Der Eindruck, als dieselben ihre Beweggründe dem Parlamente vor¬
legten und Lord Derby den thatsächlichen Hergang zugeben mußte, war ver¬
nichtend für die Regierung, um so mehr als die ausscheidenden Minister
sehr bedeutende administrative Talente waren und nur durch vornehme aber
unbedeutende Männer ersetzt werden konnten; man sprach von dem Cabinet
der tkrss anat cluKc-Z. So war ein Monat verstrichen, ohne daß man einen
Schritt weiter gekommen wäre, die Regierung hatte nur Fehler gemacht, sie
hatte die lange Zeit vom Juli bis Februar ungenutzt verstreichen lassen, hatte
den Feldzug ohne festen Plan und uneinig in sich begonnen und demzufolge
eine Niederlage nach der andern erlitten.
Am 18. März brachte der Schatzkanzler nun endlich die Bill ein, welche
der Ausgangspunkt der Reform ward. In Städten sollte Jeder wahlberech¬
tigt sein, der ein Haus zwei Jahre bewohnt hat und seine Gemeindesteuern
selbst bezahlt, ebenso 1) wer 20 Shilling directe Steuern zahlt (falls derselbe
schon wahlberechtigt als Haushalter ist, erhält er eine doppelte Stimme), 2)
wer 50 Pfd. Sterl. in Sparcassen oder Fonds hat und 3) wer gewisse
wissenschaftliche Prüfungen bestanden. Auf diese Weise behauptete Disraeli
würde die Zahl der Wahlberechtigten in Städten um 237,000 und in den
Grafschaften, wo die Qualification von 30 auf 20 Pfd. Sterl. herabgesetzt
werden sollte, um 300,000 vermehrt werden. Dies beruhte nun wie Glad-
stone ihm sofort bewies auf ganz falsch gruppirten Zahlen, er hatte einfach
angenommen, daß Jeder, der nicht eompouvä Kouselwlcler sei, d. h. nicht wie
oben erwähnt seine Gemeindeabgaben durch den Eigenthümer in der Miethe ent¬
richte, sie selbst bezahle, während es eine Menge von Leuten gibt, die ein
Haus oder eine Hütte bewohnen und- aus Armuth gar keine Abgaben be¬
zahlen oder selbst Unterstützung erhalten; statt 237.000, meinte Gladstone,
würden nur 147,000 neuberechtigt werden, bei genauerer Rechnung ergaben
sich nur 118.000.
Als noch ungerechter aber wies der Führer der Opposition das Ver¬
fahren gegen die eompounä KouseKoläers nach, deren ganze Classe durch das
Prinzip der Regierungsbill, welches persönliche Steuerzahlung verlangte, aus¬
geschlossen werde, zu der aber gerade die intelligentesten Arbeiter gehörten.
Dazu komme, daß dies Prinzip an verschiedenen Orten ganz verschieden
wirken müsse, denn in manchen Städten wie z. B. Sheffield kenne man das
System des eoMpouncling gar nicht, in andern z. B. Brighton sei es all¬
gemein, dort würde also fast jeder Haushalter, wenn er auch nur 1 Shilling
Abgaben zahle, Wähler werden, hier würde die Wählerschaft durch die Bill
um vierzehn Köpfe erweitert werden. Ja die Ungleichheit gehe so weit, daß
in derselben Stadt ein Kirchspiel jene Abschlagszahlung eingeführt, das andere
nicht; so würden von jwei Leuten, die in ganz gleichen Verhältnissen in der¬
selben Straße wohnten, der eine Wähler werden, der andere nicht. Außer¬
dem werde dies System der Bestechung Thor und Thür öffnen, denn die
Candidaten würden durch Agenten die Gemeindesteuern für die Wähler be¬
zahlen — ein Verfahren, das leicht so gehandhabt werden könne, daß es
sich jeder gesetzlichen Verfolgung entziehe — und die ganze Wählerrolle werde
abhängig von den Gemeindebeamten, welche die Steuern einsammelten.
Schließlich führte Gladstone aus, daß die ganze Methode die Wahlberechtigung
auf die Gemeindeabschätzung (rating) zu gründen eine falsche sei, sie besitze
keinen Vortheil vor der bisherigen Abmessung nach der Miethe, weil sie nach
dieser berechnet werde, sie habe aber den, Nachtheil, daß der Abzug, welcher
von der Miethe für die Anlage der Gemeindesteuern gemacht werde, un¬
gemein in seinem Betrage schwanke: in der einen Stadt Exeter werde in
einem Kirchspiel ein Abzug von Is, im zweiten von 25—33, im dritten von
S0°/<, gemacht.
Durch diese meisterhafte Kritik der Bill, welche um so mehr zu bewun¬
dern war, als Gladstone sie ganz aus dem Stegreif gab, ward Disraeli in
große Verlegenheit gesetzt; er wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er
die Unregelmäßigkeiten zugab, zu denen seine Vorschläge führen würden;
behauptete aber, sie würden nichts schaden, weil gerade der größte Mangel
der bisherigen Systems seine Monotonie sei, der zu gleiche Charakter der
Wählerschaften. Gerade die Anomalien würden die mannigfaltigere Interessen-
Vertretung ergeben, welche Indien und das Cvlonialreich forderten. Die
Lahmheit dieser Antwort war augenfällig und die Lage des Ministeriums
so übel wie möglich, aber unglücklicherweise kam ihm Gladstone selbst zu
Hilfe; bisher hatte er sich maßvoll und sachlich gehalten, aber die unehr¬
liche und leichtfertige Politik seines Gegners erbitterte ihn zu sehr und er
ließ sich zu einer heftigen persönlichen Invective hinreißen: dies mißfiel de!
Mehrzahl seiner eigenen Partei und als er sich der zweiten Lesung wider¬
setzen wollte, weigerte sie sich mit ihm zu gehen. Der Grund hiefür war
hauptsächlich die Ansicht, daß die Reformfrage auf eine oder die andere Weise
aus der Welt geschafft werden müsse; wenn beide Parteien in zwei auf ein¬
ander folgenden Sitzungen sich unfähig zeigten eine annehmbare Bill durch¬
zubringen, so würde das ein zu großes Armuthszeugniß für das Parlament
sein. So mußte er nachgeben und erklären, daß, wenn das Ministerium das
doppelte Stimmrecht aufgebe und die Wahlberechtigung ausgleiche, die Ma߬
regel annehmbar gemacht werden könne.
Für den Augenblick sah es nun zwar nicht so aus, als ob das Ministe¬
rium Concessionen machen wollte; vielmehr erhob sich, nachdem Gladstone
beim Antrag auf zweite Lesung die Forderungen der Liberalen aufgezählt,
welche auf eine vollkommene Umgestaltung der Bill hinausliefen, der Mi¬
nister Hardy und vertheidigte die ministeriellen Vorschläge als ein Ganzes
und Lord Stanley wies mit Entrüstung die Unterstellung zurück, als ob die
Regierung je aus Bright's Grundsätze kommen und die Gegengewichte gegen
das Haushaltswahlrecht, das Verlangen zweijährigen Wohnens und die dop¬
pelten Stimmen aufgeben werde. Aber siehe da, am folgenden Abend stand
der Schatzkanzler auf und desavouirte seine Collegen; er gab das doppelte
Stimmrecht auf, weil Niemand dafür sei, und es daher unnütz sei gegen
einen solchen Widerstand darauf zu beharren; auch das Erforderniß zwei-
jährigen Wohnens verhieß er nicht länger festzuhalten und meinte dann, ob
das Haus die Clausel, welche das Wahlrecht gewissen Steuerzahlern gebe,
aufrechthalten wolle und ob die Grafschaftsqualification noch weiter herab¬
zusetzen sei, bleibe am besten der Discussion im Comite vorbehalten. Mit
einem Wort: er hielt nur daran fest, daß das Wahlrecht in Städten künftig
von der persönlichen Zahlung der Gemeindesteuern abhängig sein sollte und
gab sonst seine Vorschläge preis, indem er das Haus in der einschmeichelndsten
Weise versicherte, daß er sich ganz dessen Urtheil unterwerfen und von dessen
unfehlbaren Jnstinct leiten lassen werde.
Unter dem Eindruck der allgemeinsten Ueberraschung über diese Wen¬
dung, welche den ganzen bisherigen Kampf veränderte, wurde ohne Ab¬
stimmung, ja fast ohne Debatte die zweite Lesung einer Bill angenommen,
von der Niemand wußte, woraus sie noch bestand.
Es war begreiflich, daß Gladstone über diese bis dahin unerhörte par¬
lamentarische Taktik erbittert war, aber er ließ sich zu einem Gegenzug ver¬
leiten, welcher zu einer directen Niederlage für ihn ward. Ganz unerwartet
rief er seine Anhänger am 5. April zusammen und legte ihnen eine Instruc-
tion vor, wonach das Comiti des ganzen Hauses befugt sein solle 1) das
System der Gemeindesteuern (Is>v ok ratinZ) zu ändern und 2) eine be¬
stimmte Grenzlinie festzuhalten, unterhalb welcher Niemand zum Wahlrecht
zugelassen werden sollte. In diesem zweiten Satze lag das Hauptgewicht, da
er dem Disraeü'schen Princip, daß Jeder berechtigt sein solle, der persönlich
zahle, entgegentrat. Einige Mitglieder der Versammlung äußerten Bedenken
gegen dies Verfahren, welches im Lande als ein Parteimanöver werde an¬
gesehen werden, aber Gladstone wies sie ziemlich hochfahrend zur Ruhe: wenn
er Führer der Opposition bleiben solle, so müsse er seinen eigenen Stand¬
punkt wählen dürfen. Obwohl hierauf in der Parteiversammlung die In¬
struktion angenommen wurde, war der Widerstand gegen dieselbe nicht be¬
seitigt, sondern ward noch stärker, als Disraeli Tags darauf bei Empfang
einer Deputation erklärte, die Regierung sei entschlossen das Parlament auf¬
zulösen, wenn jene Instruktion durchgehe. Gar manche Liberale mußten sich
sagen, daß ihre Sitze gefährdet sein könnten, wenn Disraeli an das Land
appellire auf ein Votum hin, welches weniger liberal erschien als sein eigener
Vorschlag. Als das Ministerium Derby 1859 seine Reformvill vorbrachte,
verhinderte die Opposition durch ein Mißtrauensvotum, daß die Bill ins
Comite' kam; es konnte nicht rathsam sein ein derartiges Verfahren, das Dis¬
raeli oft genug denuncirt, jetzt zu wiederholen, wo Alles sich nach Erledigung
der Reformfrage sehnte. Dazu kam eine andere Rücksicht: eine Anzahl vor¬
geschrittener Liberalen hatten aus Disraeli's Fügsamkeit den Schluß gezogen
(und wie die Folge zeigte mit vollem Recht), daß er noch weiter nachgeben
werde und daß es gelingen könne, einfach das Haushaltswahlrecht durchzu¬
setzen. So vereinigten sich 48 Mitglieder der Opposition im Theezimmer
des Hauses und kamen zu dem Beschluß, von ihrem Führer zu verlangen,
daß der zweite Satz der Instruction wegfalle. Gladstone mußte hierauf ein¬
gehen, da er ohne die 48 nicht die Majorität gehabt haben würde; aber die
Instruction war damit ihres eigentlichen Inhalts beraubt: als der erste Satz
allein vorgebracht ward, erklärte Disraeli mit ironischer Bereitwilligkeit, er
habe Nichts dagegen einzuwenden und das Haus ging ohne Abstimmung
ins Comite'.
Indeß Gladstone gab sich noch nicht geschlagen; am 9. April kündigte
er zwei Verbesferungsanträge an:
1) daß die geforderte Wohnzelt (tgrm ok resiäenos) von 2 auf 1 Jahr
herabgesetzt werde,
2) daß die Wohnung, welche Wahlrecht gebe, einen jährlichen Werth
von mindestens ü Pfd. Sterl. Gemeindeschätzung haben müsse, sei es daß
der Einwohner seine Abgaben persönlich oder durch den Eigenthümer zahle.
Disraeli dagegen erklärte seinen Anhängern, daß, wenn einer dieser An¬
träge angenommen werde, die Regierung sich in die Unmöglichkeit versetzt
sehen würde, mit der Bill weiter vorzugehen. Inzwischen wurden alle Künste
der Coulissen ins Werk gesetzt, die parlamentarischen Agenten gingen umher
und flüsterten den Schwachen ins Ohr, die Regierung werde, wenn Glad-
stone's Vorschläge angenommen würden, ans Land appelliren. Das wirkte
mehr als die schlagendsten Argumente, eine Auflösung drohte große Kosten,
möglicherweise Verlust des Sitzes, eine Herbstsesston würde höchst unbequem
sein, die Agitation würde nur aufs Neue und stärker beginnen — das Re¬
sultat war, daß Gladstone's zweiter Antrag, über den zuerst abgestimmt
ward, mit 21 Stimmen abgelehnt wurde. Im Verdruß darüber zog Glad¬
stone auch sein erstes Amendement zurück und schrieb einem seiner Freunde,
er sei es müde Führer einer Partei zu sein, die ihm nicht mehr folge. Die
Verbesserung der Bill ward nun von unabhängigen Mitgliedern der libe¬
ralen Partei übernommen. Triumphirend über die Niederlage seines alten
Gegners zeigte sich Disraeli gefügiger, und nachdem Mr. Ayrton Gladstone's
ersten Antrag aufgenommen und durchgesetzt halte, erklärte er, daß, obwohl
die Regierung die Entscheidung bedauere, er es doch nicht für unvereinbar
mit ihrer Pflicht halte, sich der Meinung des Hauses zu unterwerfen.
Es folgte nun ein anderes Amendement von Hibbert, wonach der Aecord-
haushalter, um stimmberechtigt zu werden, künftig nur so viel Gemeindesteuern
zahlen sollte, als er jetzt durch den Eigenthümer entrichte. Colonel Taylor, der
Einpeitscher der conservativen Partei, versicherte, der Schatzkanzler werde sich be¬
reit finden lassen dem zuzustimmen; als es aber zur Discussion im Parlament
kam, erklärte Disraeli, von solchen Zusicherungen nichts zu wissen und blieb bei
seiner Forderung, daß solche Miether die volle Abgabe, auf die ihre Wohnung
taxirt sei, zahlen müßten um Stimmrecht zu erhalten. Als man nun ihm die Unge¬
rechtigkeit vorhielt, die darin liege, daß ein Mann, der bisher durch seinen Haus¬
wirth 16 Shilling gezahlt, nun 20 Shilling zahlen müsse, auf die sein Haus ur¬
sprünglich geschätzt sei, machte er die Concession, daß der Compounder künf¬
tig berechtigt sein solle, den vollen Betrag der Steuer, den er direct bezahle,
von seiner Miethe abzuziehen. Es war indeß klar, daß dies nur eine schein¬
bare Lösung bot; in dem angegebenen Falle würde so der Hausetgenthümer
5 Shilling weniger an Miethe erhalten, ein Verlust zu dem er sich offenbar
nicht verstehen wird, er wird also einfach die Miethe um 5 Shilling erhöhen,
so daß der Miether nur die Wahl hat, diese Prämie für die Gewährung
des Wahlrechts zu zahlen oder es beim Alten zu lassen, also auf die Zu¬
lassung zur Wahl zu verzichten. Trotz der beredten Auseinandersetzungen
der Opposition blieb Disraeli bei seiner Auffassung, lehnte die Aufhebung
des eompoulläi'ng' oder eine Aenderung der Gesetze über die Gemeindeabgaben
entschieden ab und siegte bei der Abstimmung mit erheblicher Mehrheit. Nach¬
dem nun dieser kritische Punkt glücklich umschifft war, ignorirte Disraeli
mit seiner gewöhnlichen Kaltblütigkeit alle Erklärungen, die er gegen die Un¬
gerechtigkeit einer in Zahlen ausgedrückten Grenze für das Stimmrecht (Kg.ra
ana last uns) gegeben, gestand die bisher verweigerte Clausel für Miether ein¬
zelner Zimmer zu und proponirte eine Qualification von 10 Pfd. Sterl.
dafür. Aber die größte Ueberraschung sollte noch kommen. Am 18. Mai
stellte ein wenig bekanntes Mitglied, Herr Hodkinson, den Antrag, das ganze
System des eomxounäinA abzuschaffen und nur solche Leute auf das Steuer¬
register zu setzen, folglich für stimmfähig zu erklären, welche ihre Abgaben
direct bezahlten. Gladstone erkannte an, daß dieser Vorschlag, da einmal das
von ihm bekämpfte Prinzip angenommen sei, die Bill sehr vereinfachen und
verbessern würde; und siehe da, während die meisten Mitglieder zum Essen
gegangen waren*), erhob sich Disraeli, der noch neulich die Aufforderung
Hibbert's, die Accordgesetze zu ändern, als eine unbedachte Neuerung zurück¬
gewiesen, und erklärte das Amendement sei ihm aus der Seele gesprochen, er
habe ein derartiges Verfahren immer für das richtige gehalten und würde es
selbst schon früher vorgeschlagen haben, wenn die Regierung Meister der
Situation gewesen wäre; Nichts könne ihm lieber sein als wenn das Haus
darauf eingehe. Dieser plötzliche Umsprung war denn doch der eigenen
Partei des Schatzkanzlers etwas zu stark und Lord Cranborne setzte die Ver¬
tagung der Debatte durch; aber in der nächsten Sitzung nahm das Haus
namentlich unter dem Einfluß der Radicalen das Amendement an und führte
damit einfach das Haushaltswahlrecht in Städten ein. Es war dies eine
vollkommene Umwälzung der Bill: vorher hätte sie die Wählerschaft des
Landes um 118,000 Stimmen vermehrt, nach Annahme dieses Vorschlags
um 427,000, die Zimmereinwohner nicht mitgerechnet; diese eingeschlossen
wurde die gesammte Wählerschaft, welche bisher 488.920 betrug, verdoppelt,
es war in der That, wie Löwe in seinem beredten Protest sagte, eine Revo¬
lution in der Verfassung.
Die nun noch überbleibende Arbeit ward rasch erledigt. Für die Graf-
schaftsqualification unterwarf sich Disraeli, der 15 Pfd. Sterl. vorgeschlagen,
einem Compromißantrage von 12 Pfd. Sterl., er ließ bei der Wiederver-
theilung der gewonnenen Sitze diese bis auf 38 vermehren, nachdem der
Vorschlag von Laing angenommen war, daß keine Stadt von weniger als
10,000 Einwohnern mehr als einen Vertreter haben sollte, und gestand den
vier großen Städten Liverpool, Manchester, Birmingham und Leeds ein
viertes Mitglied zu. Als Epilog zur Bill setzte der Schatzkanzler noch die
Hounäar? Lommission durch, welche die Grenzen der Stadtweichbilde zu er¬
weitern und festzustellen bestimmt war. Die Bevölkerung der Vorstädte bil¬
dete bisher ein vermittelndes Element zwischen Stadt und Land; sie sollte
jetzt zur städtischen Wählerschaft gezogen werden, damit die ländliche Bevöl¬
kerung allein wähle. An die Stelle dieser vorstädtischen, meist unabhängig
gestellten Wähler würden also in Zukunft, da die Grafschaftsqualification
von 50 auf 12 Pfd. Sterl. herabgesetzt ist, die ganz kleinen Pächter treten.
Welche von den großen Grundherren durchaus abhängig sind.
Das Oberhaus, in welchem die Bill höchst ungünstig auf beiden Seiten
aufgenommen ward, fügte ihr einige Amendements bei, wovon aber nur eins
vom Unterhaus sanctionirt ward, die Vertretung der Minoritäten. Es
sollten danach bei jeder Wahl in Städten oder Grafschaften, die durch drei
Mitglieder vertreten werden, kein Wähler für mehr als zwei Candidaten stimmen.
Am 12. August erhielt die Bill die königliche Sanction. Dies ist die Ge¬
schichte der Reformbill von 1867, welche von Niemand so wie sie ward ge-
Wollt war, mit Unglücksprophezeiungen vom Unterhaus entlassen und ebenso
bei den Lords empfangen ward und die traurigste Seite der neuen parla¬
mentarischen Geschichte Englands bildet. Wir wollen versuchen in einem
Schlußartikel ihre Resultate zu ziehen, um zu sehen, welche Perspektiven sie
eröffnet. ._
Außer dem Jahdebusen sind an der Nordseeküste sehr wenige Stellen
zu finden, welche zu Kriegshafen oder Marinestationen geeignet wären.
Namentlich die fchleswigfche Westküste ist in dieser Beziehung ungünstig
gestaltet. Der Zugang ist durch Inseln und Sandbänke verschanzt, die Ein¬
fahrten zwischen den Inseln versanden und verschlicken allmählig und werden
vielleicht durch eine einzige Sturmfluth gänzlich verändert. Die Anlage eines
sicheren und dauerhaften Hafens ist dort längs des ganzen schleswigschen
Festlandes wohl unmöglich. Auch die besseren der sogenannten Hafenplätze:
Husum an der Hever und Tönning an der Eider sind nur bei Fluth und
nur für leichte Fahrzeuge erreichbar. Aber eine vortreffliche Rhede befindet
sich an der Ostseite der langgestreckten Insel Sylt. Dort ist zwischen Sylt
und Rom die kurze und tiefe Einfahrt, welche nur durch eine Barre in 16
bis 20 Fuß Tiefe bei niedrigstem Wasser für schwere Schiffe gefährlich wird.
Südlich der Einfahrt, die von Sylt aus durch zwei Leuchtthürme auf der
Landzunge Ellenbogen gesichert ist, gelangt man auf die prachtvolle Lister
Rhede, die sich nach Nordost im Römer Tief fortsetzt. Von der Anlage
eines Handelshafens bei Rom wird in anderem Zusammenhang die Rede
sein; für die Kriegsmarine wäre dort nur einigen Kanonenbooten Station
und Depot möglich.
Der Königshasen an der Insel Sylt, der zur Zeit Christian IV. einmal
die ganze dänische Flotte aufgenommen haben soll, ist völlig versandet; auch
er wurde seinerzeit als Kriegshafen für die deutsche Flotte empfohlen, und
Techniker haben behauptet, daß er sich mit verhältnißmäßig geringen Kosten
zu einer Marinestation Herrichten lasse. Aber es scheint, daß die Ver¬
schickung in dem ganzen Wattenmeer zwischen den friesischen Inseln und dem
Festlande Schleswigs gar nicht aufzuhalten ist. Als im Jahre 18S8 die An¬
legung eines Hafens an der Nordwestküste Schleswigs beabsichtigt wurde
und die dänische Negierung zu diesem Behuf vielfache Untersuchungen an¬
stellen ließ, widerriethen sachkundige Männer, welche seit einer Reihe von
Jahren mit den Einwirkungen der Strömung der Nordsee bekannt waren,
ein solches Unternehmen als sehr prekär, da es fast unmöglich sei, die viel¬
fachen Veränderungen zu berechnen, welche dort auf dem Meeresboden ent¬
stehen, ohne daß man specielle Veranlassungen anzugeben vermag. So wurde
im Jahre 1852 ein in der Schmaltiefe gelegener Grund „Seesand" mit einem
neuen Seezeichen versehen, weil das alte, das früher in der Mitte des Grun¬
des gestanden hatte, im Laufe von 16 Jahren an die Westseite desselben zu
stehen gekommen war, wegen der Sandmengen, die vom Westwind be¬
ständig auf die östliche Seite des Grundes getrieben werden. Der Grund
hatte sich folglich in 16 Jahren ungefähr 1000 Ellen ostwärts verschoben
und an Stellen, wo man früher 8—9 Faden (ungefähr 80 Fuß) Wasser
zur Zeit der niedrigsten Ebbe hatte, fand man 1852 vier Fuß Sand über ge-
roöhnlicher Fluth. Im Heverstrom, der von Husum in die offene Nordsee
führt, zeigte eine Rinne im Jahre 1852 eine Veränderung ihrer Breite von
25 Fuß auf 8 Fuß binnen 6 Jahren, und jetzt ist dieselbe gänzlich verschwun¬
den, und tiefgehende Schiffe wagen gar nicht, sich in dieses veränderliche
Fahrwasser zu begeben.
Ungünstig war auch das Schicksal der ostfr'esischen Häfen. Emden
besaß in seiner unmittelbaren Nähe bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts
an der Emsmündung einen schönen, tiefen, für große Kauffahrtei- und Kriegs¬
schiffe passenden Hafen, dessen ausgezeichnete Eigenschaften von Zeitgenossen
gelobt werden. Aber dieselben Sturmfluthen, die durch ihre Einbrüche ins
Land den Jahdebusen bildeten, änderten auch hier. Sie rissen namentlich
1277 die Deiche des linken Ufers gegenüber der Stadt ein, und bildeten,
da die uneinigen Ostfriesen nicht an die Wiederherstellung gingen, schließlich
einen großen fast kreisförmigen Busen, der in die linke Flanke des Ems-
stroms mündet, d. h. den Dollart. Der Hauptstrom aber brach sich von
Ost nach West eine neue Rille quer durch den Dollart. die jetzt nur 6—8
Fuß Wasser bei niedrigster Ebbe besitzt — die Nebenrillen haben noch weniger
—- und das alte nördlichere Bett verschlemmt. Alle Kunstbauten, welche
diesen Uebelständen zu steuern versuchten, halfen nichts: die 1583 begonnenen
Deichbauten, welche den Strom in sein altes Bett zurückdrängen sollten,
wurden immerfort wieder durchbrochen, bis man 1632 die Sache aufgab.
Ein 1768 von der Mündung des Binnenhafens nach dem tiefen Wasser des
Dollart gezogener Canal verschlammte wieder trotz gänzlicher Abdämmung
des verschickten alten Fahrwassers; eine 1804 ins Werk gesetzte Austiefung
und Verbreiterung half ebenfalls nicht auf die Dauer, das Fahrwasser wurde
vielmehr immer schmaler und seichter. Auch die 1846 von der hannöverschen
Regierung versuchte Correction, ein von der Stadt nach dem tiefen Wasser
im Dollart gegrabner gerader Canal mit einer Schleuse in der Mitte, von
welcher seitwärts zwei Deiche zum Schutz der Stadt gegen Überschwemmun¬
gen abgingen, verfehlte insofern ihren Zweck, als der Hafenzugang doch nicht
offen und tief blieb und jetzt zu einer seichten und so engen Rille geworden
ist. daß zwei Schiffe einander nicht ausweichen können und bei Fluth Schiffe
von höchstens 12 Fuß Tiefgang zu Passiren vermögen — und doch hat die
Anlage der Stadt an 267.000 Thlr. gekostet! Darum ist man jetzt von dem
Plane einer Correction des eigentlichen Hafens von Emden abgegangen, und
die entrer Handelskammer, welche Emden zum Hauptausfuhrplatz für die
Kohlen- und Jndustriebezirke Westphalens machen möchte, empfiehlt in einer
mit genauer Karte der Unterems ausgestatteten Denkschrift eine Correction
der Unterems und die Anlage eines neuen Hafens an der Knocke, der äußer¬
sten IV, Meilen westlich von Emden gelegenen Landspitze, bei der die Ems
nordwärts umbiegt um sich in die Nordsee zu ergießen. Dieses Project will
nur einen Handelshafen schaffen, der Hamburg und Bremen viel weniger
Concurrenz machen würde als den holländischen Häfen; er würde mit seiner
Handelsstadt gerade so auf Eisenbahnverkehr angewiesen sein, wie Bremer-
haven mit Bremen. An der Knocke tritt das tiefe Wasser nahe an die Küste,
der Wasserbau hat wenig zu thun um es bis zum Quai der Eisenbahn zu
leiten, durch welche die Knocke mit Emden verbunden werden soll, und von
der Mündung des Hafeneingangs führt dann bis in die See ein schönes
tiefes Fahrwasser von V«^Vü Meile Breite, in welchem sich nur westsüd¬
westlich der Knocke eine minder tiefe Stelle findet, die aber auch noch 22 Vz
Fuß Wasser bei niedrigster Ebbe hat. mehr als Swinemünde. und bei Fluth
mit 3lVz Fuß Tiefe sogar den größten Kriegsschiffen genügt. Außerdem
befindet sich gerade südlich der Knocke die große entrer Rhede mit 20—60
Fuß Tiefe bei niedrigster Ebbe, der Hafen hat größere Eisfreiheit als fast
alle anderen Nordseehäfen. Die Anlage eines befestigten Marinedepots wäre
hier durch die Lokalität begünstigt, und es wäre werthvoll, an dem allerwest-
lichsten Punkt unserer Küste einen Zufluchts- und Stützpunkt für unsere
Kriegsschiffe zu haben, der zugleich holländische Küstenfahrzeuge in Delfzijl
(sprich Delfseil) im Schach hält.
Eine Position an der Knocke bei Emden liegt am äußersten linken
Flügel unserer Nordseefront, eine Station an der Lister Rhede auf dem
rechten Flügel. Das Centrum aber enthält drei vorzügliche Rheden: die
Jahde. die wir bereits besprachen, die Wesermündung bei Blexen-Nordenhamm
und weiter abwärts, und die Elbmündung bei Cuxhaven-Brunsbüttel, während
für alle drei als gemeinsam dominirende Position sich Helgoland darstellt,
das aber in englischen Händen ist.
Um die Terrainbeschaffenheit des unteren Weserstromes zu erkennen,
besteigen wir in Bremen einen der Flußdampfer, welche die Weser hinab¬
gehen. Im Spätsommer und bei Ebbe beträgt bei Bremen und noch
eine ganze Strecke unterhalb das Fahrwasser nur 6 oder sogar nur 4 Fuß
an den flachsten Stellen; so ist es natürlich, daß man hier kein einziges
größeres Seeschiff, sondern nur sogenannte Weserkühne mit ziemlich seemäßi¬
gem Bau und Schluptakelage, ähnlich den Ewern, und wenig Matrosen zu
sehen bekommt. Die alte Handelsstadt mit ihrer prächtigen Giebelfront
längs des Flusses und der Reihe von Kirchthürmen darüber hat Haupt-
sächlich diesem Umstände eine Ruhe und Stille zu verdanken, deren bürgerlicher
Ernst durch die heitere Anmuth der hochstämmigen Parkanlagen an den ehe¬
maligen Wällen gemildert wird, welche in künstlerisch gebrochener Halbkreislinie
die alte Stadt umziehen, oder durch einzelne großartige Bauten, wie die gothi¬
sche Börse, das Rathhaus, den Bahnhof und die neue Brücke. Infolge der
Eigenthümlichkeit des Fahrwassers bei Bremen ist es feindlichen größeren
Kriegsschiffen völlig unmöglich bis zur Stadt zu gelangen, diese bedarf des¬
halb für sich selbst keines Schutzes. Ebensowenig ist es für unsere Kriegs-
schiffe möglich, in der Nähe der Stadt Station zu nehmen. Anders weiter
unterhalb am Weserstrom.
Indem wir von der Stadt leise auf dem Wasserspiegel hinabgleiten und
zunächst das Etablissement des Norddeutschen Lloyd auf dem rechten Ufer
Passiren, fällt uns die verhältnißmäßig geringe Breite auf, welche die Weser
kaum als Strom erscheinen läßt, und noch lange fahren wir auf dem
schmalen Wasserlauf dahin, zwischen niedrigen grünen, theilweise mit Weiden¬
gebüsch bestandenen Ufern, welche vielfach an die Elbe oberhalb Hamburg
erinnern und auch meist eingedeicht sind; die Tiefe ist dabei wie gesagt an
den flachsten Stellen, die allerdings wenig zahlreich sind (die allerflachste
zwischen der neuen rothen Kirche von Moorlose und Vegesack, wo immer
Bagger liegen), bei Ebbe nur 4, bei Fluth höchstens 7 Fuß, und Schiffe
sind auch hier noch nicht zu sehen. ,
Rechts erhebt sich bald auf einer Uferhöhe das freundliche Seemanns¬
städtchen Vegesack (sprich Fehgesack), der Wohnsitz vieler aus der Praxis ge¬
schiedener Schiffscapitäne und vieler Seemannsfamilien, im frischen Laub¬
schmuck seiner Bäume hart am Strom; aber obwohl Vegesack mehrere Wersten
(die Lange'sche Werft auch für Eisenschiffe) besitzt, ist dennoch weder hier noch
weiter unten die Oertlichkeit für größere Kriegsschiffe geeignet — selbst von
der Handelsmarine sieht man hier fast nur Schooner und Briggs verankert
liegen. — Von Nonnebeck abwärts sind kleinere Seeschiffe zu sehen, wie
auch Bagger, da die Fluth mittwegs zwischen Bremen und Bremerhaven
die Tiefe nur um 5 Fuß vermehrt; in Elsfleth zeigen sich kleine dreimastige
Schiffein Ballast, und das oldenburgische Städtchen Brake gestattet Schiffen
von 14, auch wohl 16 Fuß Zugang zu dem Canal (Schleusenbassin) hinter
dem Ort oder zu dem flachen Quai mit seinen vielen niedrigen Häusern
hart am Wasser und der neuen hübschen rothen Kirche an dem holzver¬
schalten Bollwerk, bei welchem sich das Telegraphengebäude besonders her¬
aushebt. Uebrigens ist hier auf den Werften, wo zahlreiche Schiffe auf
Stapel liegen, auch ein Musterkutter der ersten deutschen Nordseefischerei¬
gesellschaft gebaut worden. Einst lagen hier im gelben Weserwasser während
der Wintermonate die Kriegsschiffe der „deutschen Flotte" von 1848. die aller-
dings verhältnißmäßig leichte Schiffe waren und trotzdem in dem weichen
Schlamm öfters festgesessen haben sollen.
Von hier ab beginnt aber die Weser breiter und voller zu fluthen. während
andererseits öfters grüne flache Inseln und Sandbänke erscheinen. Nach einiger
Zeit steigt über dem Spiegel der Weser eine Stadt mit hellen, nicht gerade
hohen Häusern auf: es ist die Doppelstadt Bremerhaven-Geestemünde,
auf dem rechten Ufer der Weser an einer Stelle gelegen, wo der Strom
eine Krümmung macht, sodaß sie sich uns jetzt in der Front präsentirt,
und zwar links Bremerhaven, rechts Geestemünde. Auf dem linken Ufer,
also dem eine halbe. Meile entfernten Bremerhaven direct gegenüber, erhebt
sich der spitze Thurm des Dorfes Blexen und unfern desselben die Gebäude
der norddeutschen Lloydstation Nordenhamm, von der aus die nach
England fahrenden Dampfer abgehen und später alle auf Amerika fahren¬
den Dampfer abgehen werden, da hier, nahe dem Ankerplatz der ehemaligen
deutschen Flotte sür die Sommermonate, ein prachtvoll tiefes Fahrwasser
und eine vorzügliche Rhede ist, die großen Schiffen, also den Lloyd-
dampfern, eine so sichere Lage bietet, wie fast kein Platz der deutschen Küste
außer der kieler Föhrde, und die durch einen Hafendamm, gleich dem auf
der New - Uorker Station, noch bedeutend verbessert werden könnte. Unser
Dampfer führt uns nahe an diesem Weserhafen Oldenburgs (Nordenhamm)
vorbei; dann aber entfernen wir uns, obwohl in gleicher Richtung weiter¬
fahrend, vom linken Ufer, da wir den Strom an seinem Knie kreuzen,
und nähern uns der ausgebreiteten Doppelstadt Bremerhaven - Geeste¬
münde mit ihren hellen Häusern und dem Mastenwalde in ihren Hafen¬
bassins. Die Stadt wird durch den kleinen, aber an der Mündung auf¬
fallend tiefen Fluß Geeste in zwei Hälften geschieden: nördlich Bremerhaven,
südlich Geestemünde. Bremerhaven ist bekanntlich eine moderne Schöpfung
bremischer Kaufleute, welche im Jahre 1827 hier von Hannover ein kleines
Territorium erwarben. Hannover ahnte damals die Bedeutung der Sache
nicht, sonst würde es schwerlich aus die Wünsche der Bremer eingegangen
sein: wenigstens hat es nachher alle Anstrengungen gemacht, die aufblühende
Hafenstadt durch einen hannöverschen Concurrenzhafen niederzudrücken. Es
chicanirte den bremer Handel auf jede Weise und legte sogar eine Küsten¬
befestigung, Fort William, nicht unterhalb, sondern oberhalb Bremerhaven,
zwischen dieses und Geestemünde, sodaß im Fall eines feindlichen Angriffes
Bremerhaven schutzlos bleiben oder gar durch die feindlichen Kugeln ver¬
nichtet werden mußte. Uebrigens ist das Fort William, welches jetzt die
Inschrift „Fort Wilhelm" trägt, fortificatorisch von geringer Bedeutung, ein
einziges rothes zinnengekröntes halbrundes Fort mit' einigen Schießscharten
sür schweres Geschütz und mit wehender norddeutscher Knegsflagge auf dem
rechten Ufer des Ausflusses der Geeste, im Winkel zwischen dieser und der
Weser und von beiden Städten durch Wassergräben und den Fluß abge¬
sperrt, endlich, da es nur aus Mauerwerk besteht, von geringer Widerstands¬
fähigkeit gegen modernes Schiffsgeschütz. Jene unwürdige Rivalität gegen
Bremen hat aufgehört; das zeigt sich recht augenfällig darin, daß nunmehr
Fortificationen zum Schutze der ganzen Doppelstadt angelegt worden find.
Wie man nun in Havre und in Antwerpen, um der Versandung durch
den Fluß zu entgehen, nicht die Seine und die Scheide selbst als Hafen ge¬
braucht, sondern besondere Bassins in das Land hineingegraben hat, so ist
auch hier nicht die Weser als Hafen benutzt, fondern es sind besondere
Binnenbassins gegraben und durch Schleusenthore mit der Weser verbunden,
sodaß die letztere nur als Rhede dient. Die Weser fließt hier ziemlich ge¬
rade nach Norden und die Geeste mündet von Osten nach Westen fließend in
die Weser. Wenige Schritte oberhalb der Mündung der Geeste führt aus
derselben eine Schleuse in ein langes, südwärts gestrecktes Bassin, den Hafen
von Geestemünde. und ebenso führt durch das andere Ufer der Geeste, der
erwähnten Schleuse gegenüber, eine zweite Schleuse mit mächtigen Fluth-
thoren in ein langes nordwärts gestrecktes Bassin, den alten Hafen von
Bremerhaven, der noch weiter nordwärts in einem zweiten Bassin, dem
neuen Hafen, längs der Weser seine Fortsetzung findet — wir haben also
auf dem rechten Ufer der Weser ganz nahe demselben und ihm parallel lau¬
fend, eine Kette von drei an einander schließenden Bassins, von denen die
beiden nördlicheren durch die Geeste von dem südlichen, zu Geestemünde ge¬
hörigen, getrennt werden.
Wenden wir uns zunächst durch die südliche Schleuse von der Geeste
nach Süden hinab. Lang, aber wenig von Schiffen belebt, streckt sich das
ausgedehnte Bassin des ge estemünd er Hafens mit einem prachtvoll in
rothem Rohbau ausgeführten hohen Packhofgebäude auf der östlichen Flanke, an
das die Schiffe direct anlegen können, und mit dem Bahnhof (Endstation der
von Bremen kommenden Bahn) am südlichsten Ende, sodaß dieser Hafen directe
Bahnverbindung mit Bremen und dem ganzen Hinterkante hat. Kurz vor dem
Packhof entsendet das Bassin gegen Osten einen schmaleren rechtwinklig ab¬
gezweigten Nebenarm, dessen Ende sich abermals in weiten Bassinanlagen
erweitert und an dessen südlichem Quai ein freier durch Eisengitter abge¬
schlossener Platz das preußische Marinedepot bildet. Einige Schuppen, mäch¬
tige Kohlenhaufen zur Ergänzung der Vorräthe auf den Kriegsschiffen,
Pyramiden von Kanonenkugeln und Ankern und ein Posten in der Uniform
der Kriegsschiffsmatrosen mit dem Zündnadelgewehr im Arm kennzeichnen
die Bestimmung dieses Platzes. Hart am Quai liegt, die hohe schwarze
Masse des hier außer Dienst gestellten Panzerfahrzeuges „Prinz Adalbert".
das wir vor einiger Zeit in diesen Blättern beschrieben, mit den ragenden
Maststumpfen und den konischen Dächern über seinen Kasemattenthürmen.
Schräg gegenüber ist d^er kleine quadratische Marktplatz mit niedrigen freund¬
lichen Häusern, daran schließen sich größere Plätze, deren Einrahmung die
Massen der Seeschiffe in den anderen Bassins bilden. Saubere kurze
Straßen im Charakter eines netten, zierlichen, noch im Werden begriffenen
Städtchens, eine Anzahl von Werften und Docks an der Geeste vollenden
das Bild, und lassen ein fröhliches Aufblühen des preußischen Orts im engen
Verein mit seiner reicheren Schwesterstadt wünschen.
Die Benutzung Geestemündes als Kriegshafen ist eifrig in Vorschlag
gebracht worden und wird noch erstrebt, sie erscheint uns aber durchaus un-
thunlich und wir wünschen davon zu überzeugen. Der Hafen besteht aus
einem in die Geestemündung ausgehenden Vorhafen nebst einer doppelten
Schleuse von 80 Fuß Breite mit einer Schleusenkammer von 230 Fuß
Länge und aus einem sich daran schließenden Hauptbassin von 1734 Fuß
Länge, 400 Fuß Breite, 26 Fuß Tiefe. Gleich links am Eingang zweigt
sich der von den preußischen Kriegsschiffen benutzte Canal rechtwinklig ab, in
einer Länge von 1300 Fuß, einer Breite von 180 Fuß und einer Tiefe von
21 Fuß, und an diesen Canal stößt ein zweiter rückwärts bis in die Nähe
der Geeste laufender Canal von ebenfalls 1300 Fuß Länge und 21 Fuß
Tiefe, aber nur 112 Fuß Breite. Schon diese beiden Canäle allein bieten
eine Wasserfläche von 338,000 Quadratfuß und allerdings hinreichenden
Platz sür Unterbringung der preußischen Holzkriegsschiffe außer den großen
gedeckten Corvetten. Dazu kommt aber noch das große Bassin mit 690,000
Quadratfuß, welches 20—23 große Kriegsschiffe aufnehmen kann, wenn die¬
selben keinen bedeutenden Tiefgang haben. Die mächtigen Packhäuser haben
je 300 Fuß Länge und 60 Fuß Tiefe, außerdem ist Platz für den Bau noch
zweier solcher Packhäuser vorhanden und ebenso reichlicher Platz für Auf¬
schüttung bedeutender Kohlenvorräthe. Schließlich sind in nächster Nähe, in
der Geeste, mehrere bereits fertig eingerichtete und erprobte Privatdocks,
welche für jedes unserer Holzschiffe genügen, in Bremerhaven die des Consuls
Lange, weiter oben am Flusse das Tecklenborg'sche, in Geestemünde nament¬
lich das der Firma H. F. Ulrichs, das nach den neuesten Bedürfnissen, z. B.
auch mit Krahnen und Vorrichtungen zum Ein- und Aufbringen der
Schraube, eingerichtet und 1863 eröffnet worden ist. Dieses Trockendock hat
nicht weniger als 405 Fuß Länge, eine mittlere Breite von 100 Fuß. eine
Schleusenweite von 62 Fuß und eine Tiefe von 7 Fuß unter 0 des Pegels,
sodaß der gewöhnliche Wasserstand 19—^4 Fuß ist. Hier wurde auch einst
unser „Cheops" ausgebessert, der allerdings nachher in Danzig nochmals
ins Dock geschafft werden mußte. Abgesehen von diesen Privatanlagen
haben die Hafenbauten der hannöverschen Regierung, die erst vor wenigen
Jahren vollendet wurden und solid und, abgesehen von der zu starken
Krümmung des Vorhafens, gut gebaut sind, nicht weniger als fast
4 Millionen Thaler gekostet. In der That ist die ganze Anlage großartig ent¬
worfen; es ist soviel Terrain erworben und freigelassen, daß auch bet einer
Steigerung des Handelsverkehrs, der die schönen weiten Packhäuser nicht
mehr genügen könnten, die nöthigen Erweiterungen ohne Schwierigkeit aus¬
zuführen wären. Geestemünde war eben das Schooßkind der hannöverschen
Negierung als ein Concurrenzbau. Es ward vor 40 Jahren gleich darauf
angelegt, als Bürgermeister Smidt Bremerhaven gegründet hatte. Aber
selten hat sich die Gemeinschädlichkeit des Particularismus so auffällig ge¬
zeigt, als hier, wo Millionen an eine unnöthige und nicht recht lebensfähige
Schöpfung weggeworfen wurden, um einen Nachbar zu ruiniren. Allerdings
vergebens; denn der Seeverkehr wendet sich infolge der Handelsverhältnisse
doch ganz vorwiegend Bremerhaven zu, und auch von den Dampfern haben
blos die großen amerikanischen Raddampfer, welche ihrer Breite wegen die
bremerhavener Schleuse nicht passiren können, Geestemünde aufgesucht*).
Trotz aller angeführten Vorzüge halten wir eine Benutzung von Geeste¬
münde als Kriegshafen nicht sür möglich. Für lange Schiffe ist die Krüm¬
mung des Vorhafens zu stark, sür alle schweren Kriegsschiffe die Tiefe von
21 Fuß viel zu gering: genau wie Swinemünde, ist dieser Hafen höchstens
für gedeckte Corvetten praktikabel; unsere Panzerfregatten aber würden das
Schicksal der östreichischen Panzerfregatte „Don Juan d'Austria" theilen, die
bei besonders günstigen Fluthverhältnissen hier ins Dock eingelaufen war,
aber nicht wieder hinaus konnte, wegen des Schlicks in dem Hafenausgang
und zu geringer Wassertiefe. Ueberdies wird, wenn auch vorläufig Geeste¬
münde für die kleineren Schiffe der norddeutschen Kriegsflotte eine sehr
schätzbare Acquisition bildet, ein Kriegshafen an dieser Stelle unnöthig,
sobald der Jahdehafen eröffnet ist, der ja auch für'die größten Schiffe ge¬
nügt. Selbst zu einer befestigten Marinestation, die vielleicht in der Weser¬
mündung wünschenswert!) wäre sür Schiffe, die vor feindlicher Uebermacht in
die Weser einzulaufen gezwungen sind und den Jahdehafen nicht mehr er¬
reichen können, würde der Wassertiefe wegen nicht Geestemünde zu be-
nutzen sein*), sondern entweder drüben auf dem oldenburgischen Ufer der
Platz bei Blexen und NHrdenhamm, oder vielleicht noch besser auf dem rechten
Weserufer eine Strecke unterhalb Bremerhaven in der Gegend von Jmsum die
Stelle, wo der tiefe Strom am nächsten an das Land herantritt und nur kurze
Molen vom Fahrwasser bis zum Bassin nöthig macht. Diese Stelle empfiehlt
sich nämlich vor allen andern Punkten an der Weser durch den Umstand,
daß sie unterhalb der Barre von Bremerhaven liegt, welche schon
Schiffe von 20 Fuß Tiefgang genirt. Als Marinedepot wird Geestemünde
schon jetzt von der Marineverwaltung benutzt, und es erscheint uns nur
praktisch, daß dieselbe für die Nordseeflottille unter diesen Umständen nicht
mehr als des Raumes der ganzen offenen und geschlossenen Räum¬
lichkeiten und den Seiteneanal beansprucht, des Platzes aber und das
ganze Hauptbassin dem Handel freigelassen hat.
Lenkt man den Schritt von Geestemünde nach Norden, so gelangt man
mit der Fähre über die Geeste, landet dicht neben der nördlichen Schleuse
und setzt den Weg längs der nach Norden gestreckten Bassins von Bremer¬
haven fort, die nur durch einen schmalen Landstreifen mit hohem Deich von
der parallel strömenden Weser geschieden sind. Wir wandeln neben dem
langgedehnten ersten Bassin Bremerhavens, dem „alten Hafen" hin, in dessen
Wasser unzählige Schiffe größter Art mit ihren hochragenden Masten sich in
wirrem Durcheinander drängen: links begleitet uns stets der Deich, über den
die Mastspitzen der Schiffe auf der Weser (Rhede) herüberschauen, und rechts
ziehen sich die Häuser Bremerhavens, einer Stadt von über 10,000 Einwoh¬
nern, entlang. Der Quaistraße entsprechen mehrere östlich gelegene Parallel¬
straßen gleich stattlicher Neubauten, von einer Anzahl Querstraßen durch¬
schnitten, die den Grundriß zu einem Gitterwerk rechtwinklig gekreuzter Linien
bilden; manche Privathäuser, sowie ein paar schmucke Kirchen zeichnen sich in
sauberer, wohlthuender Zierlichkeit vor den Bauten andrer Hafenplätze vor¬
theilhaft aus. Die Bürgermeister-Smidtstraße erinnert an den Gründer der
freundlichen Stadt, deren Hinterseite auch von der im Haken fließenden
Geeste mit Werften am Ufer umströmt wird. Bremerhaven unterscheidet sich
vor ähnlichen Landungsplätzen, die nahe der See unterhalb großer Seehan¬
delsstädte liegen, dadurch, daß hier nicht nur die schweren Schiffe einen Theil
ihrer Ladung löschen, sondern daß es der ausschließliche Hafen für seine Haupt¬
stadt ist, während Neufahrwasser und Swinemünde doch nur die größeren
Schiffe aufnehmen, deren Ladung nach Danzig und Stettin bestimmt ist, und
Cuxhaven überhaupt nur Zufluchtshafen ist. Die Hafenbassinanlagen Bre-
merhavens sind recht bedeutend, wenn sie auch den neuerdings erweiterten
Anlagen Antwerpens und vollends denen von Havre weit nachstehen.
Auch am Ende des „Alten Hafens" ist die Reihe der Seeschiffe noch
nicht abzusehen. Denn an das nördliche Ende desselben schließt sich mittelst einer
Schleuse das Bassin des „Neuen Hafens". Die Scenerie bleibt dieselbe,
rechts die Wasserfront von Bremerhaven mit einem schönen durchbrochenen
rothen Kirchthurm, der durch seinen Abschluß mit einem Kranz gothischer
Fialen statt einer Spitze ein wenig an die berühmte „Krone der Nor-
mandie" in Rouen erinnert; links der Deich, welcher das Bassin von der
Weser trennt, und über den die Masten der Schiffe von der Weser herüber¬
schauen.*) Auf dem Deich steht der schmucke Leuchtthurm, ein runder norman¬
nischer Thurm mit Zinnen und gothischen Spitzsäulen, auf der Weserfront
'von den grünen Wällen einer hakenförmigen Batterie mit Kehlpallisadirung
und Blockhaus gedeckt, sowie durch einige stärkere Schanzen weiter unterhalb,
die auch die Petroleumschuppen schützen. Dicht neben dem Leuchthurm aber
führt eine mächtige, schön gebaute Schleuse mit einer Passagegalerie auf den
Flügeln aus dem neuen Hafen direct zur Weser, d. h. auf die Rhede. Dieser
Schleuse und der Batterie gegenüber sieht man den spitzen Kirchthurm von
Blexen am andren Ufer aus dem Gebüsch hervorragen, während Nordenhamm
sich etwas weiter links prcisentirt, wo die jenseitigen Batterien mit den
diesseitigen später ein wirksames Kreuzfeuer ermöglichen werden. Nach dem
diesjährigen Bundeshaushaltsetat sollen für die Beendigung der Batterie
Brinkamahof an der Wesermündung 110,000 Thlr. und im nächsten Jahre
(1869) für den Beginn eines Werks im Fahrwasser der Weser unterhalb
Brinkamahof 100,000 Thlr. ausgegeben werden, während die in diesem Jahr
zu vollendende artilleristische Armirung des erstgenannten Werks und der
Kugelbaakschanze bei Cuxhaven zusammen 800,000 Thlr. kosten wird. — Die
Schreibung des Namens „Brinkamahof" ist die officielle der Reichstagsvor¬
lagen, die behaglichere deutsche Form lautet „Brinkhammers Hof".
Am Quai nahe dem Leuchtthurm liegen die schönen rothen Rohbauge¬
bäude mit den Comptoirs des Norddeutschen Lloyd. Innerhalb des
«Neuen Hafens" drängen sich nun am östlichen Quai die mächtigen Segel¬
schiffe der Handelsmarine in dichter Schaar. und lustig schimmern die Farben
der norddeutschen Bundes-Kauffahrteiflagge aus der Takelage hervor. Der
schwarze Streifen derselben, halbdurchsichtig gegen den Himmel, ist oft von
dem Blau der holländischen und französischen Flagge kaum zu unterscheiden,
und so markirr sich denn die Differenz nur dadurch, daß Frankreichs Flügge
senkrecht blauweißroth gestreift ist, die deutsche und die holländische aber beide
quergestreift sind, erstere mit Roth unten (schwarzweißroth), letztere mit dem
Roth oben. Während aber die Segelschiffe die östliche Hälfte des Neuen
Hafens einnehmen, wird der westliche Quai durch die stolze Dampferflotte des
Norddeutschen Lloyd besetzt, deren Compagnieflagge in weißem Felde einen
schwarzen Anker und einen schwarzen Schlüssel gekreuzt zeigt. Der nord¬
deutsche Lloyd, von dem berühmten H. H. Meier gegründet, ist eine Dampf¬
schifffahrtsgesellschaft, die nicht blos mittelst eines halben Dutzends kleinerer
Dampfer wie „Schwalbe", „Condor" :c. den Verkehr nach England unter¬
hält und mit den neuen Doppelschraubendampfern „Falke", „Nordsee",
„Cyclop" Fahrten nach Helgoland macht, sondern die auch mit einer Flotte
großer mächtiger Schraubenschiffe eine rege Verbindung mit Nordamerika
— Newyork und neuerdings auch Neworleans und Baltimore — ver¬
mittelt und siegreich neben der „Hamburg - Amerikanischen Packetschifffcihrts-
gesellschaft" ihren Platz behauptet. Beide Compagnien haben, Dank der'
Tüchtigkeit ihrer Gründer und Leiter und vor Allem Dank der Tüchtig¬
keit des deutschen Seemanns, es verstanden, den Verkehr Nordamerikas und
Deutschlands zu hoher Blüthe zu entfalten, ihren Actionären glänzende Divi¬
denden — bis zu 18 °/o — zu sichern und die Concurrenz des Auslandes
und auch englischer Dampferlinien siegreich aus dem Felde zu schlagen;
ohne Staatssubvention, wie sie der Oestreichische Lloyd, die französischen Nessa-
geritzs IlnM'lakes, die englische 1?eninsu1ar und Orisutul Lomplw^, die
nordfranzösische LomMgniö 1'ritiiSÄtlAnti<ins erhalten. Kein Wunder, wenn
deshalb Engländer mit scheelem Auge auf sie blicken, wenn selbst die Times
sich veranlaßt findet, ihre Stimme gegen die Benutzung dieser concurrirenden
deutschen Dampfer zu erheben — wahrlich, Deutschland hat Grund, stolz auf
solchen Neid des Auslandes zu sein. Die transatlantische Dampferflotte
des Norddeutschen Lloyd zählt gegenwärtig nicht weniger als 11 große
Schraubendampfer, die theils zweimastig als Briggs, theils dreimastig als
Barkschiffe getakelt sind und an seiner Eleganz der Formen ihrer riesigen
schwarzen Körper, wie an prachtvoller Ausstattung ihres Innern mit den
schönsten Schiffen des Auslands wetteifern: für die jüngstgeschaffene Linie
Bremen-Baltimore laufen die beiden Dampfer „Berlin" und „Baltimore",
für die Linie Bremen - Neworleans die Schiffe „Bremen" und Mewyork",
die übrigen für die ältere bewährte Linie Bremen-Newyork. So besteht
denn die transatlantische Flotte aus den kolossalen Schiffen „Hermann",
„Deutschland", „Amerika", „Union", „Hansa", „Bremen", „Newyork". „Ber¬
lin", „Baltimore", „Weser", (der „Hudson" ist vor längerer Zeit verbrannt)
„Rhein", „Main", „Donau" (im Bau). Die fertigen 11 Dampfer repräsen-
tiren allein ein Capital von 3,780,000 Thlrn.
Das nördliche Ende des neuen Hafens, der Heimath unsers Norddeut¬
schen Lloyd, umschließen jetzt weiß bedachte Petroleumschuppen und dann in
schützendem Gürtel ein paar starke Redouten mit hohen grünen Wällen*).
Es ist auch wohl diese Stelle, wo man die nöthig werdende Erweiterung
der bremerhavener Bassins wird eintreten lassen müssen. Schon jetzt ist der
Verkehr für die bremerhavener Hafenanlagen fast zu bedeutend, und bald
wird es sich als nothwendig herausstellen, von diesem Punkte aus ein drittes
großes Bassin nach'Norden hin zu graben. Es fragt sich überhaupt, ob es
nicht gleich anfangs zweckmäßiger gewesen wäre, die Bassins von Bremer-
haven noch ein Stück weiter stromab anzulegen, d. h. nördlich der Barre.
Indessen wird derselbe Vortheil auch jetzt erreicht, wenn das dritte Bassin
bis hinter die Barre gegraben und von dort eine molengeschützte Schleusen-
aussahrt zum tiefen Fahrwasser geführt werden kann, sodaß es mit der
Schleuse durch einen Canal, mit dem jetzigen neuen Hafen aber direct ver¬
bunden wäre. Soll doch auch die Scheidewand, welche den neuen vom
alten Hafen trennt, binnen kurzer Zeit fallen, um die Schiffe leichter ent¬
fernen zu können. Gerade bei einem Schiffsbrande ist es außerordentlich
wichtig, daß die Schiffe zwei Ausgänge haben und sich bequem ins Freie
flüchten können. Mit Hannover konnte keine Einigung erzielt werden, weil
dieses daran festhielt, daß zum Fort Wilhelm aus strategischen Gründen ein
fester Landstreifen führen müsse. Preußen hat jetzt das Areal, aus welchem
sich jene unbedeutende Batterie befindet, an Bremen abgetreten, und nun
steht nichts mehr entgegen, den Weg zwischen beiden Häfen auszulassen und
dieselben zu vereinigen. Sobald die Hafenbassins mit dem Fahrwasser
nördlich der Barre verbunden sind, bieten sie den Kriegsschiffen auf der
Weserstation (die, wie wir oben ausführten, am besten bei Blexen-Nordenhamm
angelegt würde, sodaß sich Kriegs- und Handelsmarine nicht störten) ganz
von selbst auch auf dem rechten Ufer jederzeit Zugang, und die Weser läßt
dann mit den beiden Zustuchtspunkten links und rechts für die Marine
Wenig mehr zu wünschen übrig. Die Batterien am rechten Ufer hätten
den Vortheil, feindliche Kriegsschiffe, die den Eingang erzwingen wollen, ge¬
rade an der Barre, wo zwar Kauffahrteischiffe bei Fluth kein Hinderniß
finden, größere Kriegsschiffe aber immerhin vorsichtig und langsam zu
dampfen gezwungen sind, während dieser langsamen Fahrt wirksam beschießen
zu können.
Das Einzige, was in reickerer Zukunft noch zu wünschen wäre, wenn
Man es nicht durch die Jahdeanlagen entbehrlich glaubt, wäre die Herstellung
eines für Panzerschiffe geeigneten Docks bei Blexen oder Jmsum an der
30°Fuß-Tiefe. Allerdings werden in den jetzt an der Geeste liegenden Docks
(einem halben Dutzend Bassins), welche theils zu Geestemünde, theils zu Bre-
merhaven gehören, die großen und namentlich sehr langen transatlantischen
norddeutschen Lloyddarnpfer ausgebessert*): aber dies sind doch immer Schiffe,
die selbst bei voller Ladung nicht über 24 Fuß Tiefgang und auch nicht die
kolossale Schwere von Panzerschiffen ersten Ranges haben, welche 27 Fuß
tief im Wasser liegen und in die Geeste nicht einlaufen können. Selbst dem
minder tiefgehenden östreichischen „Don Juan d'Austria" (24 Fuß Tiefgang)
ist, wie wir oben erwähnten, sein Einlaufen in die Geeste-Trockendocks schlecht
bekommen: er wurde in Werke's Dock (nahe dem Lange'schen) ausgebessert,
während der „Schwarzenberg" (Holzfregatte), um seinen bei Helgoland in
Brand geschossenen Hauptmast zu ersetzen, im neuen Hafenbassin von Bremer-
haven lag.
Die bedeutendsten aller zu Bremerhaven gehörigen Docks sind aber die
beiden Docks des Consuls Lange im nördlichen Ufer der Geeste, von welchen
das eine 400 Fuß Länge, 60 Fuß Breite des Eingangs und 18 Fuß Tiefe
hat, während das andere 260 Fuß Länge, 30 Fuß Eingangsbreite und
16 Fuß Tiefe besitzt. Die doppelte Breite und die große Länge erlaubt
auch den Postdampfern in diesem Bassin zu repariren, welches im vorigen
Jahre das damals größte deutsche Segelschiff, den „Arnold Bönniger" aus
Duisburg (in Vegesack gebaut), aufnahm. Das Dock ist übrigens schräg
gegen die Geeste gelegt, damit ablaufende Schiffe nicht bis zum jenseitigen
Ufer fahren. Die Fluth trägt von selbst das Schiff hinein, und bei Ebbe
werden die Thore geschlossen, wodurch das schwierige Vonstapellassen
nach der Reparatur wegfällt, jenes Rutschen von den Helgen, welches
einmal nicht ungefährlich, und dann nur da statthaft ist, wo Wassertiefe
genug vorhanden ist, um das Schiff beim Ablaufen nicht auf den Grund
stoßen zu lassen. Vor einiger Zeit war auch die Rede davon, daß zwei
ausländische Firmen, Webb aus Newyork und Randolph. Eider
und Co. aus Schottland sich um Begünstigungen beworben hätten, um hier
in Bremerhaven-Geestemünde eine Schiffsbauanstalt zu errichten. Indessen
scheint uns eine solche Anlage nach zwei Seiten hin nicht wünschenswert!):
einmal würde sie das Aufblühen der heimischen Industrie und namentlich
der kieler Aktiengesellschaft beeinträchtigen, während die Entwicklung der
Letzteren gerade aus allen Kräften gefördert werden muß, und dann erregen
auch die bisherigen Leistungen der beiden Firmen nach einer Richtung Be-
denken; weder Webb's Kasemattenpanzerschiff ..Dunderbrog". das wir früher
beschrieben und das jetzt als „Rochambeau" einen Theil der französischen
Flotte bildet, noch auch die neuesten Pläne des Chefs der schottischen Firma,
welcher Schiffen von kreisrunden Horizontalschnitt 13 Knoten Schnellig¬
keit und Sicherheit des Feuerns geben zu können meint, versprechen so solide
Constructionen wie wir sie für unsre Panzerschiffe wünschen müssen. Auch
scheinen sich die Hoffnungen beider Constructeure nicht erfüllt zu haben.
Aber wenn auch nicht als Constructionshafen. in allen andern Beziehungen
ist die Wesermündung eine jedem deutschen Seemannsherzen theuere Stelle
unserer Küste.
Die Grenzboten haben kürzlich (Ur. 41) einen bemerkenswerthen Artikel
aus Holstein gebracht, welcher sich lebhaft für die Verlegung der kieler Uni¬
versität nach Hamburg ausspricht. Wir verkennen das Gewicht der angeführ¬
ten Gründe keineswegs, möchten uns aber doch gegen das Project erklären.
Zunächst glauben wir, daß der Verfasser die Bedeutung Kiels zu gering an¬
schlägt; man mag die Stellung, welche die Universität in den letzten Wirren
genommen, tadeln und zugeben, daß mit der Trennung von Dänemark ihre
frühere politische Aufgabe wesentlich aufgehört hat: eine nationale Aufgabe
bleibt ihr doch, da der Norden Schleswigs dem Deutschthum erst voll zu
gewinnen ist. Der Verfasser hält nun Kiel hierfür nicht geeignet und führt
zum Beweise das Sinken der Universität an; es ist indeß zu berück¬
sichtigen, daß daran in erster Linie die systematische Ungunst Schuld ist, mit
der die dänische Regierung die widerspenstige Hochschule behandelt hat; der¬
gleichen wird nicht rasch wieder verwunden, man denke nur wie lange Göt¬
tingen an den Folgen der Vertreibung der Sieben gelitten hat. Außerdem
findet der Umstand, daß die Anzahl der Studirenden sich auch vermindert
hat seit die Herzogthümer preußisch geworden, seine Erklärung darin, daß
von da an die Schleswig-holsteinischen Studenten eine große Zahl von Lan¬
desuniversitäten zur Auswahl hatten, mit denen sich Kiel nicht messen konnte.
In jüngster Zeit hat die Regierung mehrere tüchtige Männer berufen; wenn
in der Hinsicht noch mehr geschieht, vor allem wenn die nothwendigen neuen
Baulichkeiten, Auditorien, Anatomie, chemisches Laboratorium, Sternwarte :e„
ohne welche in unsern Tagen eine Universität nicht mehr ihre Aufgabe erfül-
im kann, hergestellt sein werden, dann darf Kiel wohl einer neuen Blüthe
entgegensehen. So glauben wir, man könnte der Stadt das Opfer ersparen,
welches ihr eine Verlegung der Universität nach Hamburg auferlegen würde,
und welches auch in den Herzogthümern, mit deren Geschichte Kiel so eng
verwachsen ist, sehr gefühlt werden müßte, man sollte nicht ohne Noth den
Faden einer 200jährigen Geschichte abschneiden.
Allerdings diese Gründe müssen weichen, wenn Hamburg die Aufgabe
einer Universität für die Herzogthümer entschieden besser erfüllen würde.
Dies aber müssen wir bestreiten. Daß es rationell die Hauptstadt, nicht
nur für Schleswig-Holstein, sondern für die ganze cimbrische Halbinsel ist,
wird nicht bestritten; der jüdische Kaufmann arbeitet fast ausschließlich mit
Hamburger Credit; daß es aber auch schon der geistige Mittelpunkt geworden,
wie der Verfasser sagt, möchte zweifelhaft sein. Eine Universität würde frei¬
lich viel beitragen es dazu zu machen, aber doch halten wir Hamburg nicht
für geeignet. — Zunächst bleiben wir der Ansicht, daß in der Regel große
Städte weniger geeignet für akademische Studien sind als kleinere, die Zer¬
streuungen, welche sie bieten, das theure Leben wirken ungünstig. Allerdings
haben auch die Großstädte ihre Vorzüge, durch das sich entfaltende, reichere
Leben, die umfassenden Anstalten, die Sammlungen, das Theater ze. Indeß
uns will bedünken, daß wir in Deutschland solcher großstädtischer Universitä¬
ten schon genug haben und als solche eignen sich Residenzen wie Berlin,
München, Wien für den Ausenthalt der studirenden Jugend doch besonders,
weil sich in der Anlehnung an die Fürsten am meisten jener edle geistige Luxus
von Museen, Theatern, Concerten ze. entfaltet, zu denen kleineren Städten
die Mittel fehlen müssen. So ist auch das Verhältniß in Großbrittannien;
die beiden großen Hauptuniversitäten Oxford und Cambridge sind kleine Städte,
außerdem gibt es Hochschulen in London, Edinburgh und Dublin; aber Nie¬
mand hat daran gedacht solche in Liverpool, Manchester, Bristol oder Bel¬
fast zu gründen. Dieselben Gründe sprechen gegen Hamburg als eigentliche
Universität.
Zunächst würde der materielle Punkt große Schwierigkeit machen. Wenn
in Kiel viele neue Baulichkeiten herzustellen sind, so würde in Hamburg fast
Alles neu zubauen sein; schon der Platz für Auditoriengebäude, der doch in
der Nähe der Bibliothek und einigermaßen im Mittelpunkt liegen müßte, wäre
nur dadurch zu gewinnen, daß man einen bedeutenden Häusercomplex expropriirte
und niederrisse; wir gehen gewiß nicht zu weit, wenn wir annehmen, daß die noth¬
wendigen Gebäude allein 1^ Million Thaler kosten würden; dazu rechne man
nun die fortlaufenden Kosten der Universität, welche, wenn man überhaupt daran
ginge, doch im großen Stil zu projectiren wäre; wir werden diese Unter¬
haltung jährlich auf 200,000 Thlr. anschlagen müssen. Woher soll das Geld
kommen? Hamburg ist allerdings reich, aber die Steuern sind schon hoch
und neue stehen in Aussicht, da der norddeutsche Bund unsre frühern Ueber¬
schüsse in ein Deficit von 1 Mill. verwandelt hat; wird man unter solchen
Umständen nicht Bedenken tragen müssen, das Budget in so starkem Maße
mehr zu belasten, wie eine Universität es verlangen würde? Diese Belastung
bliebe auch dann noch groß, wenn Preußen sich etwa bereit zeigte, die Kosten
zur Hälfte zu tragen, und außerdem würden bet solcher Eventualität sehr
verwickelte Verhältnisse durch eine gemeinsame Verwaltung geschaffen.
Aber auch hiervon abgesehen halten wir Hamburg nicht für den Boden,
wo eine Universität recht gedeihen würde; daß sein geistiges Leben durch die¬
selbe in realer Beziehung eine große Bereicherung erfahren würde ist gewiß,
aber dieser Aussicht glauben wir auch auf andere Weise gerecht werden zu
können, wobei alle die vom Verfasser gerühmten Vorzüge für naturwissen¬
schaftliche, mathematische, geschichtliche und staatswissenschaftliche Studien zur
Geltung kommen würden. Doch zu einer Universität gehört noch mehr: für
Philologie, Philosophie, Theologie ist Hamburg absolut kein Feld, ja wir
möchten bezweifeln, ob es für das eigentliche Studium der Jurisprudenz
wesentliche Vorzüge bietet, denn Studenten würden wenig von dem Handels¬
gericht haben können. Endlich, ist das Leben in Kiel theuer, so ist es doch
in Hamburg gewiß noch kostspieliger.
Aus diesen Gründen müssen wir dem drastischen Ausdruck eines Freun¬
des beipflichten, der auf die Frage, was er von der Gründung einer Uni¬
versität in Hamburg halte, erwiderte: „das wäre Runkelrübenbau auf
Getraideboden." > -
Aber darin hat die Stimme aus Holstein auch unserer Ansicht nach voll¬
kommen Recht, daß Hamburg eine große Anstalt entbehrt, welche für über
die Schulbildung hinausgehende Studien bestimmt ist, und daß dies als ein
empfindlicher Mangel gefühlt wird. Diese Lücke müßte unsrer Ansicht nach
ausgefüllt werden durch die Umbildung des akademischen Gymnasiums in
eine Akademie für Nichtstudirende.
Das akademische Gymnasium ward wie das Carolinum in Braunschweig
gegründet, um eine Uebergangsstufe zwischen Schule und Universität zu sein.
Durch die höhere Ausbildung der gelehrten Schulen sind solche Mittelan¬
stalten überflüssig geworden, sie können Nichts mehr leisten was bei richtiger
Anordnung und Leitung nicht eben so gut oder besser in der ersten Classe
der Gelehrtenschule oder im ersten Stadium der Universitätsstudien erreicht
werden kann. Nachdem sich die Hamburger gelehrte Schule unter Classen's
trefflicher Leitung in neuester Zeit sehr gehoben, ist das akademische Gymnasium
fast ohne Schüler, die Professoren haben entweder gar keine Zuhörer in
der classischen und biblischen Philologie, oder finden den Schwerpunkt ihres
Wirkens in Vorlesungen, welche sie für der Anstalt Nichtangehörige halten,
so z. B. in der Chemie Prof. Wiebel, in der Geschichte der kürzlich nach
Bonn berufene Prof. Aegidi. Ein derartiges Institut ist zur Aufhebung
reif, aber es ließe sich ohne große Kosten zu einem höchst nützlichen machen.
Deutschland hat schon zu viele Universitäten und wir wünschten, sowie Altorf,
Frankfurt und Wittenberg verschwunden sind, möchten Greifswald und Rostock,
Halle und Jena, Marburg und Gießen, Münster und Bonn, Freiburg und
Heidelberg zusammengelegt werden. Aber was Deutschland noch nicht in
genügendem Maße hat, das sind Fortbildungsanstalten für Nichtstudirende;
speciell gibt es deren fast gar nicht sür Kaufleute. Zu einer solchen sollte
man das Hamburger Gymnasium machen, anknüpfend an die Traditionen der
einst so berühmten Büsch'schen Handelsakademie, welche Alexander von Hum¬
boldt und Niebuhr zu ihren Zöglingen zählte.
Wir denken uns ein Institut, an dem die bestehenden Professuren der
Geschichte und Naturwissenschaften erhalten und weiter ausgebildet würden,
während die der classischen und biblischen Philologie auf den Aussterbeetat
zu setzen wären. Hiezu kommen würden dann noch Lehrstühle für Staats-
wissenschaften, speciell Nationalökonomie, Technologie, Mathematik und
Astronomie, Geographie, Handelswissenschaften und Literaturgeschichte. Für
eine derartige Akademie wären die Räumlichkeiten so ziemlich da oder könn¬
ten doch leicht hergestellt werden, die Mehrkosten würden kaum 23,000 Thlr.
betragen und diese Summe würde auch unsere demokratische Bürgerschaft,
deren Mehrheit Ausgaben für Kunst, Wissenschaft und Cultur als Luxus
betrachtet, gewiß bewilligen, weil damit einem wirklichen Bedürfniß abgeholfen
würde. Ebendeshalb hätte eine solche Anstalt auch Aussicht aus Gedeihen
und einen weit über die Grenzen unseres Gebiets reichenden Erfolg. Eine
große Anzahl wohlhabender junger Kaufleute sucht nach Gelegenheit um
eine über die Schule gehende Bildung zu erlangen, aber will doch nicht sich
einem förmlichen Universitätsstudium hingeben; sehr Viele kommen aus Jn-
und Ausland nach Hamburg als Volontärs, die nicht verdienen, sondern
lernen wollen und denen eine solche Akademie höchst"roillkommen sein müßte.
Durch sie würden alle jene Institute, welche der Verfasser mit Recht rühmt,
wie Commerzbibliothek, zoologischer und botanischer Garten, naturhistorisches
Museum, Sternwarte u. s. w. doppelt nutzbar gemacht, die Zöglinge wür¬
den die Vortheile für ihre Studien haben, welche eine Handelsmetropole wirk¬
lich bietet und wir würden doch eine Anstalt gründen, welche auf gesundem
eigenen Boden gedeihen müßte, während eine Universität nur zu leicht zur
Treibhauspflanze werden dürfte*).
Den dritten Gegenstand der Tagesordnung bildete das Eisenbahn -
Fr acht wesen in Verbindung mit den Verhältnissen der Strom Schiff¬
fahrt. Der bleibende Ausschuß hatte denselben duxch eine von einer Sub-
commission bearbeitete, bereits im Mai d. I. ausgegebene Denkschrift vor¬
bereitet. Diese erachtet eine Beseitigung der Mißstände im Eisenbahn-Fracht-
roesen, mit deren Erörterung es nicht schwer fallen würde Bände zu füllen,
nur dadurch für möglich, daß ein neuer maßgebender Grundsatz, auf
den wir sogleich näher zu sprechen kommen, in die Verwaltung des gesammten
Eisenbahnwesens hineingetragen werde. Um den vielen berechtigten Klagen
abzuhelfen, begann der Referent Dr. Meyer aus Breslau seinen geistvollen
Bericht, biete sich zunächst der schon häufig betretene Weg, zu erklären: der
Staat muß hier eingreifen, muß Abhülfe schaffen, muß die gewünschten Re¬
formen erzwingen. Das sei der Weg derjenigen Leute, die sich zu jeder
schwierigen Arbeit außer Stande wüßten, der breite Weg des Socialismus.
Unstreitig thue eine solche entschiedene Erklärung dem bedrängten Herzen
wohl. „Einen Nachtheil aber" fuhr er fort, „hat dieser Weg, er hilft näm¬
lich nichts. Solche Resolutionen erschüttern nur die Luft." Man habe das
Handelsgesetzbuch angeklagt, daß es ausschließlich das Interesse der Eisenbahn¬
verwaltungen begünstige, allein das sei doch nicht zu verkennen, daß dessen
Verfasser Gründe und Gegengründe gehört, alle Interessen zu berücksichtigen,
allen Klagen zu begegnen versucht haben. Bis vor Kurzem habe das Ver¬
dammungsurtheil gegen die Differenzialfrachten als ein Glaubensartikel
gegolten — jetzt gebe es kaum noch einen unerschrockenen Mann, der den¬
selben noch principiell entgegenzutreten versuche; auch ein auf dem Tisch des
Hauses liegender Antrag (von Moll-Mannheim), der ihm eben zu Ge¬
sicht gekommen, sei sehr zahm gehalten. Man habe einsehen gelernt, daß die
Differenzialsrachtsätze nur eine gesunde, wenn auch zuweilen schmerzliche
Reaction gegen die Krankheit der zu hohen Frachten, ein Symptom der be¬
ginnenden Genesung bilden. Es komme nur darauf an, die Differenzialsätze
auf die Plätze zweiten, dann dritten Ranges u. f. w. auszudehnen, und das
werde geschehen, sobald man den Bahnen nachzuweisen vermöge, daß sie da¬
bei ein gutes Geschäft machen. Auch den vielgerühmten Einpsennigtarif
könne man doch unmöglich als ein unwandelbares Prinzip hinstellen; während
er in vielen Fällen die Bahnen auf Hungerlöhne setze, bedeute er in anderen
noch nicht die Grenze des zu Erstrebenden. Das einzige durchgreifende Mittel,
allen Uebelständen abzuhelfen, sei die Beförderung möglichst freier Cor-
currenz. Diese könne nun in das Eisenbahnwesen eingeführt werden auf
dem Wege, den man in England schon längst eingeschlagen und welchen für
Deutschland schon im I. 1860 die Hamburger Generalversammlung des Ver¬
eins deutscher Eisenbahnverwaltungen in Vorschlag gebracht habe, daß man
nämlich unterscheide
a. Den Frachtverkehr, bei welchem die Eisenbahnverwaltung die
Güter in Empfang nimmt, sie verladet und nach vollbrachter Beförderung
auf der Bahn sie an dem Bestimmungsorte an den ihr angewiesenen Em¬
pfänger abliefert,
b. von dem Fahrverkehr, bei welchem die Eisenbahnverwaltung einen
Eisenbahnwagen dem Absender zur Verladung der Güter bereit stellt und
nach vollbrachter Beförderung auf der Bahn dem ihr angewiesenen Empfän¬
ger zur Entladung der Güter wiederum bereit stellen läßt.
Referent konnte sich auch auf ein Beispiel aus der Praxis einer deut¬
schen Bahn beziehen: die nassauische Eisenbahn stellt einzelnen Absendern leere
Waggons zur Verfügung und erhebt dafür, ohne von dem Inhalt der Wagen¬
ladungen Kenntniß zu nehmen, eine Pauschal - Miethe. Man hat, so fuhr
Referent fort, gegen diesen Vorschlag eingewendet, daß ja in England selbst
der Fahrverkehr mehr und mehr außer Uebung komme. Dies ist innerhalb
gewisser Grenzen wahr; die bloße gesetzliche Möglichkeit der Concurrenz der
Spediteure hat eben die Bahnverwaltungen genöthigt, ihre Sätze so niedrig
zu stellen, daß sie die Concurrenz nicht zu scheuen brauchen. Für gewisse
Güter bildet aber doch die Beförderung im Fahrverkehr die entschiedene Regel.
Es führt sich auf diese Weise von selbst eine Arbeitstheilung ein, die allen
Interessenten zugute kommt. Man mag übrigens ja nicht von der gesetzt
lichen Einführung jenes Unterschieds, der ein rein faculrativer bleiben soll,
eine plötzliche großartige Umwandelung erwarten; der Ausschuß gibt sich
darüber keinen Illusionen hin. daß die Wirkung nur eine leise und allmä-
lige sein kann; aber besser leise und allmälig, als nicht und niemals."
Auf einige specielle Reformen, die der Ausschuß noch befürwortete, kom¬
men wir unten zurück. Rücksichtlich der Stromschifffahrt beantragte er noch¬
malige Verweisung des neuen Materials an eine Commission behufs Aus¬
arbeitung einer Denkschrift. Einen redegewandten und schlagfertigen Gegner
fand der Referent in dem schon genannten Moll, einem langjährigen Mit¬
gliede des badischen Landtags, der, wie er sich ausdrückte, dem ausgezeichne¬
ten theoretischen Vortrag des Ersteren gegenüber doch auch einige bescheidene
praktische Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen hoffte. Die sreie Concur¬
renz sei gewiß ein sehr beachtenswerthes Princip, nur werde leider selbst im
großen Verkehr ihre Wirkung durch Compromisse der Bahnen ausgeschlossen
und im internen Verkehr sei von ihr gar keine Rede. Von dem Fahrver-
lehr verspreche er sich keinen Vortheil; statt einer Hand wollten dann zwei
an dem Frachtgut verdienen, und während das Publieum jetzt auf die Eisen¬
bahntarife durch die Generalversammlungen, bei den Staatsbahnen durch die
Landtage wenigstens einigen Einfluß ausübe, würden sich dann Consortien
von Spediteuren bilden, welche allen Segen der Concurrenz illusorisch mach¬
ten — vorausgesetzt daß man überhaupt die Eisenbahnen zwingen könne sich
einen solchen Eingriff gefallen zu lassen. Zur Unterstützung seines gegen
übermäßige Disparitäten gerichteten Antrags bezieht Redner sich auf folgen¬
des in der That drastische Beispiel. Ein Mannheimer Haus hat 100 Ctr.
Kaffee von Amsterdam bezogen und verkauft sie weiter nach Wien. Um nun
den billigsten Transport zu wählen, muß es sie nach Amsterdam zurück
und von da nach Wien dirigiren; auf diese Weise werden gegenüber der
directen Fracht nach Wien noch 24 Kreuzer erspart! Unter solchen Unbillig-
keiten müsse der Zwischenhandel zu Grunde gehen. Der Handelstag solle
wenigstens die öffentliche Meinung aufklären. Den Einpfennigtarif empfiehlt
Redner als das dem jetzigen Bedürfniß Entsprechende. Dagegen warnt
Stephan-Königsberg eindringlich, nicht wieder den in Frankfurt a. M.
eingeschlagenen Weg zu betreten: „Eisenbahn-Verwaltungen und Regierungen
haben,sich an die dortigen Beschlüsse über die Fracht-Disparitäten schlechter¬
dings nicht gekehrt und selbst die Presse hat sie schließlich nur verurtheilt."
Aus dem sonstigen Inhalt der Debatte mag noch ein Beispiel für das
willkürliche Verfahren der Eisenbahn-Verwaltungen hier Platz finden, welches
sehr o or-Leipzig zur Begründung eines von der dortigen Handelskammer
gestellten, die Lieferfristen betreffenden Antrags mittheilte. Für den Be¬
ginn der Lieferfrist ist nach dem Vereins-Güter-Reglement die Abstempelung
des Frachtbriefes maßgebend. Um nun mit der Lieferfrist nicht in Collision
zu kommen, läßt die Verwaltung einfach den Frachtbrief nicht eher abstem¬
peln, als bis es ihr bequem ist das Gut abzusenden. In dem fraglichen
Falle war das Gut am 18. Februar zur Beförderung ausgegeben und erst
am 7. März an dem nur wenige Meilen entfernten Bestimmungsorte ange¬
kommen. Die Ztägige Lieferzeit war trotzdem bestens gewahrt: der Fracht¬
brief war erst am 5. März abgestempelt!
Der Antrag Leipzig wurde vom Refer enden im Schlußvortrag acceptirt.
Dagegen konnte er sich mit den Moll'schen Anträgen durchaus nicht befreunden
und übte an dessen Einwendungen gegen die Unterscheidung zwischen Fahrverkehr
und Frachtverkehr eine scharfe Antikritik. „Der geehrte Redner" sagte er, „meint
daß die Frachten vertheuert werden, wenn die Arbeit zwischen den Bahnverwal¬
tungen und den Spediteuren getheilt wird. Diese Befürchtung klingt eigenthüm¬
lich im Munde Jemandes, der für die Interessen des Zwischenhandels platirt.
Wäre es wahr, daß Arbeitstheilung die Preise erhöht, dann könnte ja das
Publicum nur dabei gewinnen, wenn in Folge der Frachtdifferenzen der
Zwischenhandel aufhörte, der doch eben darauf beruht, daß außer dem Fabri¬
kanten oder Importeur und dem Detaillisten noch eine dritte Hand an der
Waare gewinnen will. Mir von meinem Standpunkte sind die Verdienste
des Zwischenhandels ebenso verständlich wie die Vortheile der Trennung des
Frachtverkehrs von dem Fahrverkehr, durch welche die Eisenbahn-Verwaltun¬
gen in den Stand gesetzt werden, ihre ganze Sorgfalt auf die Instand¬
haltung des Schienenwegs und des Betriebs-Materials zu verwenden, wäh¬
rend die Sorge für Ausnutzung des Wagenraums einer anderen Classe von
Geschäftstreibenden überlassen bleibt, welche diese Arbeit präsumtiv besser und
wohlfeiler verrichten. Ich bin überzeugt, daß den Eisenbahnverwaltungen
die Vortheile dieser Arbeitstheilung auf die Dauer nicht verborgen bleiben.
Des Zwanges wird es daher nicht bedürfen." Referent warnt nochmals
vor unfruchtbaren Resolutionen, welche nach Lassalle'sehen Muster alles Heil
von der Staatseinmischung erwarten.
Die Ausschußanträge werden hierauf mit großer Mehrheit angenommen.
Punkt 1 enthält den motivirten Wunsch nach Durchführung der Unter¬
scheidung zwischen Fahrverkehr und Frachtverkehr in Gesetz und Praxis.
Punkt 2 lautet mit dem oben erwähnten Zusätze: „Der bleibende Ausschuß
wird beauftragt, im Sinne dieses Grundsatzes eine Petition an das Bundes¬
kanzleramt zu richten und dabei nach Anleitung der Denkschrift vom Mai
1868 eine Verschärfung der Haftpflicht der Eisenbahnen, namentlich in den
Fällen des Diebstahls, erwiesener Fahrlässigkeit der Beamten und des
Bruchschadens anzuregen, ingleichen in Betreff der Lieferfristen nach Ma߬
gabe der Verträge der Handelskammer zu Leipzig." Punkt 3: „Es ist erfor¬
derlich, daß die Eisenbahnen verpflichtet werden, auf Erfordern der Inter¬
essenten Ladescheine und Nachnahme scheine zu ertheilen und wird der
bleibende Ausschuß beauftragt, auch in dieser Beziehung auf die Durchführung
der in der gedachten Denkschrift entwickelten Grundsätze hinzuarbeiten". Da¬
neben gewann aber auch die eine Moll'sche Resolution eine kleine Mehrheit
für sich, welche das Eine thun und das Andere nicht lassen mochte. Sie
lautet: „Im Interesse unseres Verkehrslebens und unserer Concurrenzfähigkeit
ist die Verallgemeinerung des Einpfennigtarifs auf alle Massentransporte
auf das Dringendste geboten".
In Betreff der Stromschifffahrt ging der Ausschußantrag durch nebst
einem Antrag von Scharffenorth-Memel, durch welchen einige der auf¬
zunehmenden Grundsätze präcisirt werden.
IV. Ueber die Einrichtung der Handelsgerichte hatte der Handels¬
tag bereits in Heidelberg und in Frankfurt 1861 und 1865 seine. Ansicht
ausgesprochen. Der Ausschuß beantragt, ein Gesuch an den Bundeskanzler
um Berücksichtigung dieser Beschlüsse bei der bevorstehenden Justizreorgani-
sation zu richten. Von einigen Rheinländern — die bekanntlich an ihren
Handelsgerichten nach französischem Muster eifersüchtig festhalten — wurde
das Bedenken erhoben, ob nicht die früheren Beschlüsse mit dieser Einrichtung
in Collision kämen, insofern sie zum Vorsitzenden des Handelsgerichts einen
gelehrten Richter empfehlen. Der Referent Dr. Weigel aus Cassel con-
statirte jedoch, daß die berechtigte Eigenthümlichkeit der rheinischen, nur aus
Kaufleuten bestehenden Handelsgerichte durch einen ausdrücklichen Vorbehalt
gewahrt sei. So stand der Annahme des Ausschußantrags Nichts mehr im
Wege. Vor der Abstimmung gab Dessauer-Aschaffenburg im Namen
seiner sämmtlichen bayrischen Collegen die Erklärung ab, daß sie die Ausdeh¬
nung der Competenz des Zollparlaments auf alle wirthschaftlichen Fragen
wünschten. Diese Erklärung erntete den Beifall, den sie als Stimmungssymp¬
tom auch von Denen beanspruchen durfte, welche über die politische Räthlich-
keit einer solchen Maßregel anderer Meinung sind.
V. Ungeachtet der bereits vorgerückten Zeit erledigte der Handelstag
vor dem Festessen auch noch die gleichfalls durch eine Denkschrift vorbereitete
Concursordn ungs-Frage; Referent Dr. Meyer-Breslau. Der Aus¬
schußantrag zerfällt in 4 Punkte.
Punkt 1 lautet: „Die baldige Emanation einer gemeinsamen Concurs-
ordnung für das Gebiet des Zollparlaments ist eine dringende Nothwendig¬
keit. Unabhängig von derselben und noch vor ihr kann ein Gesetz über
kaufmännische Accorde emanirt werden".
Punkt 2 enthält die Grundzüge für ein solches Aecordgesetz. Die Denk¬
schrift empfahl hier u. A. den aus der bremer Debitordnung entlehnten
Satz: „Der Accord wirkt als ZwangsstundungDieser Satz ist jedoch
vom Ausschusse nicht mit adoptirr.
Punkt 3 entwickelt die Folgerungen aus dem Princip, daß den Gläu¬
bigern im Concurse ein möglichst ausgedehnter Einfluß auf die Verwaltung
der Activmasse einzuräumen sei.
Punkt 4 endlich lautet: „Die Ueberweisung der Concurse und der Accorde
außerhalb des Concursverfahrens mit Ausnahme der gemeinen Concurse an
die Handelsgerichte ist unerläßlich für die zweckmäßige Handhabung des
Verfahrens".
Die Debatte drehte sich ausschließlich um die Grundzüge für das Accord-
verfahren und insbesondere um die Frage, ob der Ehefrau des Gemein¬
schuldners ein Stimmrecht zu gewähren sei oder nicht. Im Gegensatz zu dem
Ausschußantrage wünschen Liebermann-Berlin als Vertreter der dortigen
Kaufmannschaft und Dr. Schumacher-Bremen die Frage bejaht zu wissen.
Dagegen erklärt sich Hurter-Düsseloorf unter Hinweis auf praktische Er¬
fahrungen, der Referent aus dem theoretischen Grunde der Personen-Einheit
von Mann und Frau. Die gemeinschaftlichen Amendements der beiden Erst¬
genannten werden schließlich abgelehnt, die Ausschußanträge durchgängig an¬
genommen.
VI. In Bezug auf den Wechselstempel war der Ausschuß getheilter Mei¬
nung. Während der Referent öl-. Meyer für eine gemeinschaftliche, auf Grund
einer Bestimmung der verfassungsmäßigen Gewalten des Zollvereins resp, des
norddeutschen Bundes zu erhebende Stempelsteuer eingetreten war, hatte die
Majorität sich für folgenden Antrag entschieden: „Es ist wünschenswert), daß in
den deutschen Staaten, in welchen der Wechselstempel besteht, derselbe in gleich¬
mäßiger Gebühr und nach gleichmäßigen Normen erhoben wird und daß ein in
einem der Staaten abgestempelter Wechselinden anderen Staaten der Stempel¬
pflicht enthoben ist." Dr. Meyer, dem ungeachtet seines dissentirenden
Votums die Berichterstattung auch für das Plenum aufgetragen war, er¬
laubte sich statt dessen die Empfehlung seines ursprünglichen Antrags (später
suchte er diese Ordnungswidrigkeit wieder gut zu machen, indem er die Aus¬
schußanträge in Bezug auf das Versicherungswesen energisch gegen ein prin¬
cipiell abweichendes Amendement in Schutz nahm). Den vom Ausschuß vor¬
geschlagenen Zustand verglich er einer Erhebung der Zölle oder der Postein-
künfte für Rechnung der Einzelstaaten; man möge doch nicht ohne Noth sich
wieder in die Lage versetzen, mit 22 Regierungen verhandeln zu müssen. Für
den Ausschußantrag, welcher die beiden Nachtheileder Belastung bisher ver¬
schont gebliebener Staaten und der ungerechten Vertheilung der Lasten zu ver¬
meiden sucht, traten u. A Rentzsch-Dresden und Mosle-Bremen ein. Die
Meyer'schen Bedenken wegen der Ausführbarkeit wurden schlagend widerlegt
durch die Mittheilung, daß das sächsische Stempelgesetz bereits eine Bestim¬
mung enthalte, wonach unter der Voraussetzung der Reciprocität ein in einem
anderen deutschen Staate gestempelter Wechsel von der Stempelpflicht befreit
sein soll, und daß die sächsische Regierung damit umgehe, solche Reciprocität
herbeizuführen.
Der Ausschußantrag wurde darauf mit großer Majorität angenommen;
ebenso fand Annahme der Zusatzantrag der Handelskammer von Frankfurt«. M.:
„Es liegt im Interesse des Handels, daß die Stempelpflicht nur durch den
Ort der Zahlung, nicht aber durch den Ort der Ausstellung des Wechsels
bestimmt werde, daß also Wechsel, welche im Inland auf das Ausland ge¬
zogen sind, von der Stempelpflicht befreit werden." Ein zweites Amende¬
ment wurde abgelehnt, ein drittes zurückgezogen.
VII. Die Nothwendigkeit eines besseren Markenschutzes für die Industrie
war von der Handelskammer zu Düsseldorf zum Gegenstand wiederholter
Vorstellungen beim preußischen Handelsministerium gemacht. Letzteres hatte
noch in einer am 6. Juli d. I. bei der Antragstellerin eingegangenen Ant¬
wort diese Nothwendigkeit in Abrede gestellt, am 8. Juli aber wurde im
Bundesrath wenigstens Gegenseitigkeit des bestehenden Schutzes beschlossen.
Während des Vortrags des Referenten Lieb er manu-Berlin wanderte ein
interessantes col'MS äölieti, ein Packet Tabak mit der echten Etiquette und
eine täuschende Fälschung, im Saale umher. Der Ausschuß-Antrag lautet:
„Die Emanirung eines Gesetzes zum Schutze der Fabrikmarken und Etiquetten
innerhalb des Zollvereins ist dringend geboten. Die Behörden des Zoll¬
vereins sind zu ersuchen, die für statthaft erkannten Normen des Schutzes
auch durch Verträge mit anderen Ländern in weitester Ausdehnung zur
Geltung zu bringen. Der bleibende Ausschuß wird beauftragt, eine motivirte
Eingabe für diesen Zweck an die zuständigen Behörden zu richten". Hure er¬
Düsseldorf und Genossen hatten in einem Amendement diesem Antrag noch
Motive beigefügt, beruhigten sich aber bei der Erklärung des Referenten, daß
eben diese Motive in der zu verfassenden Denkschrift näher ausgeführt werden
sollten. Ohne weitere Debatte stimmte die Versammlung einhellig dem Aus¬
schußantrage bei.
VIII. Der Nachmittag des dritten Tages war demVersich erun gswesen
gewidmet. Auch hier lag eine, von dem „technischen Freunde" des Handels¬
tags Generaldirector Knoblauch in Magdeburg verfaßte Denkschrift vor,
welche die vom Staat auf diesem Gebiet begangenen Mißgriffe einer schnei¬
denden, überall durch Thatsachen belegten Kritik unterzieht — eine Blumen¬
lese, wie sie im Lauf der Debatte genannt wurde, aber von übel duftenden
Kräutern. Der gedruckte ausführliche Antrag des Referenten von Sybel
enthält im Wesentlichen eine Wiederholung der ins Detail eingehenden Sätze,
welche in Frankfurt 1865 principiell von der Versammlung adoptirt worden
waren. Derselbe konnte sich daher, wie er im Eingang seines einstündigem (!)
Vortrags bemerkte, „zum Glück sehr kurz fassen". Wir müssen uns leider
wirklich sehr kurz fassen, obgleich unsern Lesern jene interessante Schrift nicht
vorliegt. Der Handelstag will den frankfurter Beschlüssen zufolge die weitere
Ausbildung des Rechtsverhältnisses zwischen Verhinderer und Versicherten vor
der Hand noch der privatrechtlichen Autonomie überlassen. Der Staat soll
das Concessionswesen und die damit verbundenen endlosen Hudeleien auf¬
geben. Die Zwangspflicht zur Benutzung von staatlichen (provinzialen !e.)
Anstalten, überhaupt deren Bevorzugung muß aufhören. Die staatliche Ein¬
mischung ist auf die nothwendige Oberaufsicht einzuschränken, welcher gesetz¬
liche Normativbestimmungen zum Anhalt dienen. Vor allen Dingen ist —
dieser Punkt wird neuerdings besonders hervorgehoben — der da und dort
noch bestehende entsittlichende Zustand zu beseitigen, daß der Betrieb des
staatlichen Versicherungsgewerbes gegen besonderen Entgelt und die Aus¬
sicht über den concurrirenden Privatgewerbebetrieb in den Händen derselben
Beamten liegt.
Die Debatte über diesen Gegenstand gehört zu den interessantesten Par¬
tien des Handelstags. Eisen seu et-Chemnitz bezeichnete den Vortrag des
Referenten als oratio xro äomo; er seinerseits wolle auch das Interesse der
Versicherten wahren. Redner sucht durch Zahlen nachzuweisen, daß die be¬
stehenden Versicherungs-Anstalten der Nachfrage nicht genügen, und will da¬
raus die hohen Dividenden der Versicherungsanstalten und die erschwerenden
Bestimmungen erklären, durch welche das Versicherungswesen benachteiligt
werde. Aus demselben Grunde legt er eine Lanze ein für die Staatsanstal¬
ten, die seiner Erfahrung nach günstigere Bedingungen böten, und redet
selbst einer „theilweise obligatorischen Verpflichtung" das Wort. Gegen das
Zahlenwerk in dieser durch lebendige Darstellung fesselnden Rede erhebt der
genannte Generaldirector Knoblauch, eine der ersten Autoritäten auf diesem
Gebiet, zugleich sehr gewandter Redner, gewaltige Bedenken. Ueberhaupt ge¬
staltet sich der Vortrag des Letzteren, der gekommen war die Klage gegen
das Verhalten des Staats zu begründen, mehr und mehr zu einer Verthei¬
digung der Versicherungsanstalten gegen die Angriffe des Vorredners, der
großentheils alte, längst beseitigte Mißbräuche im Auge habe. Eisen stuck
erklärte daraus, er freue sich dieser Belehrung, die ihm die Möglichkeit zeige,
mit seinem alten Freunde wieder einmal einen Versicherungsvertrag abzu¬
schließen. Dr. Soetbeer ist ebenfalls für Zwangsversicherung im Interesse
der Hypothekengläubiger. Dagegen construirt Dr. Meyer die Nothwendig¬
keit der freiesten Bewegung auch auf diesem Gebiete des Wirthschaftslebens
aus der Theorie. Den Vorredner weist er auf Ereignisse wie den Ham¬
burger Brand und auf deren Folgen für eine communale Versicherungs¬
anstalt hin; würde z. B. Bremen von einem ähnlichen Unglück betroffen,
so würde der Schaden sich auf etwa 60 Anstalten vertheilen. Auch der
Referent bekämpft im Schlußwort die Eisenstu et'schen Anträge. Der erste
davon wurde denn auch abgelehnt; den zweiten, auf die Staatsanstalten
bezüglichen, vermochte der Antragsteller nur dadurch vor dem gleichen
Schicksal zu retten, daß er besondere Abstimmung über die Worte: „selbst
mit theilweiser obligatorischer Verpflichtung" beantragte und so dem Antrage
die Spitze abbrach. Mit der dadurch bedingten geringen Modifikation wurde
die Vorlage des Ausschusses mit großer Majorität angenommen. Darüber
war es Abend geworden, sodnß der Präsident nur nochdas Resultat der Neuwahl
des bleibenden Ausschusses verkünden konnte. Zur Erledigung der wichtigen
Zollfragen blieb sonach nur der vierte Tag übrig. Wir erwähnten schon
oben, daß die Tagesordnung auf Zucker und Eisen beschränkt werden mußte.
IX. In der Zuckerzoll-Angelegenheit handelt es sich bekanntlich vor-
zugsweise um zwei Punkte: einmal um das Verhältniß des Zolles auf Co-
lonialzucker zur Rübenzuckersteuer und sodann um die Frage, ob die letztere
die Form der Rübensteuer behalten oder in eine Fabrikatsteuer verwandelt
werden soll.
In der ersteren Beziehung stimmten alle vorliegenden Anträge darin
überein, daß das S es utzz olls ystem zu verlassen sei. Selbst die b adisch en
Handelskammern, welche den sämmtlichen vom Ausschuß ausgegangenen Tarif-
Anträgen eine geschlossene Phalanx stark schutzzöllnerisch gefärbter Resolutionen
entgegengestellt hatten, sprachen sich hier für ein „möglichst richtiges Verhält¬
niß" zwischen Zoll und Steuer, im Uebrigen aber für Uebergang zur Tages¬
ordnung über diese Frage als eine durch technische Untersuchungen bedingte
aus. Specielle Borschläge enthielt ein Antrag des Herrn Eugen vom Rath
aus Cöln, welcher insbesondere die Rübensteuer von 7V- auf 8 Sgr. pro Ctr.
erhöht wissen wollte — ein Wunsch, der den Ohren des Finanzministers wie
süße Melodie geklungen haben wird. Der Ausschuß hatte aus dem angedeu¬
teten Grunde es vermieden, specielle Vorschläge zu machen, wünschte jedoch
für den Fall, daß eine umfassende Vorlage bis zum nächsten Zollparlament
nicht fertiggestellt werden könnte, eine vorläufige wesentliche Ermäßigung
der Eingangsabgaben für Zucker, insbesondere Rohzucker zum allgemeinen
Gebrauch, und für Syrup. Langen-Cöln und Brock ho ff-Duisburg hatten
speciell vorgeschlagen, daß der Eingangszoll auf Rohzucker sofort auf 3^2 Thlr.
ermäßigt werde. Gegen ein derartiges Provisorium war ein Antrag der
Magdeburger Kaufmannschaft und der Handelskammer zu Braun«
schweig gerichtet.
Die zweite der obigen Fragen anlangend, wollte der Referent ebenfalls
die eventuelle Einführung einer Fabrikatsteuer nur den Regierungen zur Er¬
wägung anheimstellen. Für Beibehaltung des bisherigen Modus hatten,
insbesondere die Corporationen von Magd eburg und Braunsch we i g sich
erklärt, während Langen und Brockhoff und außerdem Reisten-Stuttgart
„im Namen sämmtlicher süddeutscher Zuckerfabriken" beantragt hatten, daß nur
die in den Consum übergehenden Zuckerfabrikate besteuert werden möchten,
weil — wie es in den Motiven heißt — „die bisherige Erhebung der Zucker¬
steuer nach dem Gewichte der Rüben einer ferneren gesunden Entwickelung der
Zucker-Production des Zollvereins ebenso hinderlich im Wege steht wie einer
gerechten Gleichstellung des Süßigkeitswerthes der fremden und einheimischen
Zucker". Unter den — freilich ungleich zahlreicheren — norddeutschen Zucker¬
fabrikanten hat diese Ansicht bisher nur einen Vertreter gefunden, welcher
deshalb als „der weiße Sperling" bekannt ist.
Die Debatte war, obwohl durch den Referenten Dr. Soetbeer in der
vorsichtigsten Weise eingeleitet, eine sehr bewegte.
Dr. Seyferth-Braunschweig trat für die Rübenzucker-Industrie, deren
Interessen mit denen der Consumenten identisch seien, mit einem Pathos ein,
das Stephan-Königsberg später nicht mit Unrecht als ein advocatorisches
bezeichnete. Sein Eifer für den jetzigen Besteuerungsmodus hinderte ihn
übrigens nicht zu bekennen, daß es nicht schwer sei, daran die bekannten 123
Fehler zu finden, daß er insbesondere die Zuckerfabriken in Wasserverdampfungs-
Anstalten verwandelt habe und daß man ihn nicht wählen würde, wenn er nicht
bestünde. Im Sinne des Magdeburg-Braunschweiger Antrags sprachen ferner
Canzleirath Zwicker, Fabrikant Zucks chwerdt aus Magdeburg und Archiv¬
rath Riedel (für Halle), welcher das französische System der Saft-Besteuerung
einer scharfen Kritik unterzog. Reisten-Stuttgart und Langen-Cöln ver¬
theidigten ihre Anträge; Moll-Mannheim unterstützte den seinigen auf Tages¬
ordnung durch das Compliment, daß wir jetzt noch weniger instruirt seien,
als wir hergekommen. Stephan-Königsberg hielt die Fahne des Freihan¬
dels hoch und wies dagegen das Bestreben der Zucker-Industriellen, ihr Interesse
mit dem des Staates und der Volkswirthschaft zu identificiren, entschieden
zurück. Nach einem etwas matten Schlußwort des Referenten wurde der
süddeutsche Vertagungs - Antrag abgelehnt. Der Magdeburg-Braun¬
schweiger Antrag wurde in namentlicher Abstimmung — deren Verlauf
auf ein zwischen der Zucker- und der Eisen-Industrie geschlossenes Compromiß
zu deuten schien — mit 77 gegen 28 Stimmen ebenfalls abgelehnt, dagegen
der Antrag des Referenten mit Ausschluß des letzten, auf Einführung eines
Provisoriums gerichteten Satzes, welcher nur 41 Stimmen für sich hatte, mit
78 gegen 29 Stimmen angenommen.
X. Die Eisenzoll-Frage fand die Reihen der Theilnehmer bereits stark
gelichtet, doch wurde ein Antrag auf Tagesordnung entschieden abgelehnt.
Der Referent von Sybel suchte in einem, wiewohl auf „Hervorhebung der
Hauptpunkte" beschränkten, doch abermals einstündigem Vortrage vergeblich
die schutzzöllnerische Spitze seines Antrages zu verbergen, welcher zwar „Ver¬
harren in der bisherigen Tendenz successiver Ermäßigung der Eisenzölle bis
zu deren völliger Beseitigung" empfiehlt, dieselbe aber mehr oder weniger
direct von der vorherigen Erniedrigung der Eisenbahnsrachten und der Be¬
seitigung des nicht zu leugnenden Mißbrauchs abhängig macht, welcher in
Frankreich — übrigens ebensowohl zum Schaden der eigenen wie der dies¬
seitigen Industrie — mit den titres ä'ac<Me - ü. - caution (d. h. Scheinen
über bezahlten Einfuhrzoll auf Eisen behufs Rückvergütung bei der Ausfuhr
von Eisenwaaren) getrieben wird. Es konnte daher Niemanden verwundern,
daß der Referent im Schlußwort mit sichtlicher Befriedigung ein Amende-
neue Druckenmüller acceptirte, welches die Herabsetzung der Eisenzölle
außerdem von der Gegenseitigkeit gegenüber Frankreich. Belgien und Oest¬
reich abhängig macht, d. h. vollends g>ä s^lsnäas Zmeeas vertagt. Er hätte
getrost noch die charakteristische süddeutsche Clausel aufnehmen dürfen: „inso¬
weit, als die Rücksicht auf die dabei maßgebenden mannigfachen Bedingungen
unserer Coneurrenzfähigkeit dies zuläßt", welche später von Moll-Mann¬
heim mit gewohnter Eleganz vertheidigt wurde.
Der Correferent Stadtberg-Stettin begründete mit wohlthuender Klar¬
heit und Kürze, wenn auch ohne neue Gesichtspunkte, seinen (später durch
einige Zusätze ergänzten) Antrag: „Der Handelstag erklärt die gänzliche
Beseitigung des Zolles auf Roheisen und eine angemessene Herabminderung
der Tarifsätze für Eisenwaaren, besonders für gröbere, für nothwendig und
unaufschiebbar".
Mit großer Aufmerksamkeit und wiederholten, dort ernstlich, hier ironisch
gemeinten Beifallsbezeugungen hörte die Versammlung den großen schlesischen
Eisen-Industriellen Friedländer an, welcher, übrigens an den Gedanken¬
kreis des Referenten sich anschließend, offen bekannte: „Aushalten können wir
die Aufhebung der Eisenzölle — aushalten kann man viel — aber ange¬
nehmer wäre es uns, wenn man damit nur allmälig und bedingungsweise
vorginge. Tragen Sie das Haus allmälig ab, nur schießen Sie nicht mit
der Bombe hinein".
Die Schutzzöllner blieben in der Mehrheit, obgleich die Vertreter der
großen Handelsstädte durchgängig für den Antrag des Correferenten, in
zweiter Linie für das taktisch geschickte Amendement des Dr. E räh und Ge¬
nossen stimmten, welche den ersten Satz des Referenten adoptiren, ihm aber
den Zusatz beifügen wollten, daß der Termin der gänzlichen Beseitigung der
Eisenzölle im Voraus fixirt werde. Der Antrag des Referenten mit dem
Amendement Druckenmüller wurde schließlich mit 61 gegen 37 Stimmen an¬
genommen. Dafür stimmte u. A. auch der Vertreter des „deutschen Manchester".
XI. In Folge einer von dem Centralcomite kaufmännischer Vereine
eingereichten Petition schlug der Ausschuß noch die folgende Resolution
vor: „In Erwägung, daß das Vorhandensein eines Bedürfnisses, die
Geschäftszeit für junge Kaufleute in vielen Fällen abzukürzen und
ihre Sonntagsarbeit einzuschränken, anerkannt werden muß und Ab¬
hilfe dieser Uebelstände, wo sie bestehen, dringend wünschenswert!) erscheint,
beschließt der deutsche Handelstag. seinen Mitgliedern zu empfehlen, in der
ihnen geeignet scheinenden Weise in dieser Richtung wirken zu wollen." Von
Wesenfelv-Barmer kurz befürwortet, fand dieselbe einstimmige Annahme.
XII. Ein Antrag von Christ-Siegen, die Beschlagnahme von
Arbeitslöh n en betreffend, wurde dem Ausschuß zur Behandlung überwiesen.
Demselben überließ man auch die Entscheidung der Frage, an welchem
Orte der nächste Handelstag abgehalten werden solle. Einladungen lagen
vor von Hannover, Bremen und Leipzig. Gewiß würde letzteres die mit
ernstem Streben, wenn auch, bei ihrer Stellung zwischen entgegengesetzten
Interessen, nicht immer mit Erfolg arbeitende Versammlung freudig in ihren
Mauern willkommen heißen. 1871, wenn nicht besondere Gründe frühere
Berufung erheischen, wird der Handelstag wieder zusammentreten. Möchte
bis dahin das Wort: „Wir sind, eine Nation geworden" in dem Sinne
verwirklicht sein, daß er seine Anträge einfach an das deutsche Reichsmini¬
Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen. Aus seinen Briefen und
nach eigener Erinnerung geschildert von seiner Wittwe. Deutsche Ausgabe Von
Friedrich Nippold (Leipzig, F. A. Brockhaus 1863). Erster Band. Jugend¬
zeit und römische Wirksamkeit.
Die englische Ausgabe dieses interessanten biographischen Werkes ist in den
Grenzboten so ausführlich besprochen worden, daß wir nur der Erweiterungen Erwäh¬
nung zu thun brauchen, welche die vorliegende durch Herrn Prof. Friedr. Nippold besorgte
deutsche Bearbeitung erfahren hat. Was zunächst den eigentlichen Text anlangt, so
ist derselbe von einer Reihe interessanter Noten aus dem reichen Schatz der Korre¬
spondenz Bunsen's begleitet worden und zwar aus Briefen des Freiherrn von
Stein, Alexander's von Humboldt, Niebuhr's, des kölner Erzbischofs Grafen Spiegel,
Platen's, Richard Rothe's u. f. w. Ferner hat der Herausgeber die Abschnitte, welche
die Verhandlungen des preußischen Hofes mit der römischen Curie und den kölner
Kirchenstreit anlangen, durch Nachträge aus Bunsen's Aufzeichnungen beträchtlich er¬
weitert und dadurch schätzenswerthe neue Beiträge zur Geschichte der dreißiger Jahre
geliefert. Vollständig neu ist endlich der acht Bogen umfassende Anhang, welcher
fünf Documente über die römischen Zustände zur Zeit der Bunsen'schen Gesandt¬
schaft und fünf Actenstücke über die preußischen Kirchenverhältnisse enthält. Es ge¬
nügt die Ueberschriften derselben zu nennen, um ihr Interesse zu charakterisiren:
der Regierungswechsel vom 13. December 1823 (die Wahl Leo's XII. und der
Sieg der jesuitischen Partei), das Leben des Ritters Italinsky, russischen Gesandten
in Rom (eines Mannes, der sich vom Sohn eines armen kleinrussischen Popen zum
Diplomaten und Freunde der ausgezeichnetsten Männer seiner Zeit emporgearbeitet
hatte), Memorandum über Capaccini und dessen brüsseler Unterhandlungen vom
Jahre 1828; über die im Kirchenstaat erforderlichen Reformen (1831) — Denk¬
schrift über die gemischten Ehen (1828), über die Verhandlungen mit dem Erz-
bischof Spiegel (1834), über die katholischen Angelegenheiten in den westlichen Pro¬
vinzen Preußens 1837, über die Conferenz mit dem Fürsten Metternich (Dec.
1837) u. f. w. —- So viel von den Nachträgen welche der erste Band enthält.
Der Veröffentlichung des zweiten Theils sehen wir mit um so größerem Interesse
entgegen, als derselbe nicht nur die diplomatische sondern auch die schriftstellerisch¬
theologische Wirksamkeit Bunsen's zum Gegenstande haben wird und zu erwarten
steht, daß der Herausgeber zu eingehender Beschäftigung mit den kirchlichen Zustän¬
den der vierziger und fünfziger Jahre reiche Veranlassung haben werde.
Aus der Alterthumswissenschaft. Populäre Aufsätze von Otto Jahr.
Mit acht Tafeln Abbild, und einigen Holzschnitten. Bonn, Adolph Marcus 1868.
Die Grenzboten sind in der angenehmen Lage, dies neue Werk ihres
Mitarbeiters gewissermaßen als ein Hausinteresse des Blattes zu betrachten.
Denn ein großer Theil der Aufsätze, welche hier verbunden erscheinen, ist
zuerst in den grünen Heften dem Leser werth geworden, und die Zeitschrift
darf heut mit Selbstgefühl daran erinnern, daß sie in dem Merteljahrhun-
dert ihres Bestehens einer langen Reihe ehrenwerther und wirksamer Bücher
in ähnlicher Weise eigenes Leben vorbereitet hat. Solche Entstehung eines
Buches aus den Aufsätzen einer Zeitschrift hat sich sehr selten so gemacht,
daß unser Blatt ein in der Hauptsache fertiges Werk stückweise mittheilte ;
fast immer sind die Mitarbeiter durch den Antheil, welchen einzelne Aufsätze
fanden^ und durch die bescheidenen Mahnungen der Redaction allmälig so
weit gekommen, daß ihnen selbst die geschriebenen Stücke in innern Zusam¬
menhang traten, und der Entschluß reifte, das Zerstreute zusammenzuschließen,
und für ein geschlossenes Ganze zu vertiefen. So geschah es auch mit dem
vorliegenden Buche.
Denn die Aufsätze desselben sind nicht nur zufällig aneinander gereiht,
sie sind durch gemeinsamen Inhalt und eine bestimmte Tendenz verbunden.
Diese ist in dem Werk so sehr Hauptsache geworden, daß auch das früher
Gedruckte hier in anderer Beleuchtung geboten wird und ein neues Interesse
beanspruchen darf. Wie Formen und Inhalt der antiken Kunst seit dem
Beginn unserer Alterthumswissenschaft von Gelehrten und Künstlern verarbeitet
wurden, das wird in übersichtlicher Darstellung und an einzelnen Beispielen
gezeigt; dann, wie das Verständniß des Alterthums sich unablässig erweiterte.
Wie jede Zeit neue Gesichtspunkte in Beurtheilung der Vergangenheit gewann,
und wie unendlich viel Schönes, welches in irgend einer Vorzeit geschaffen
war, in dem Menschengeschlecht fortlebte und immer aufs Neue dem Gelehr¬
ten Gedanken, dem Künstler Motive gab. Während so erhellt, wie segens-
reich unserer Zeit die wissenschaftliche Beschäftigung mit antiker Vergangenheit
war, werden auch neueste Fortschritte unserer Alterthumswissenschaft deutlich.
Dadurch wird dem Laien ein Einblick eröffnet in die stille Werkstatt des Ge¬
lehrten, er lernt die hingebende Arbeit desselben an Einzelheiten kennen und
begreift, daß auch scheinbar Unbedeutendes, das aus dem Schutt des
Alterthums mühsam hervorgeholt wird und vielleicht lange fast nutzlos zur
Seite liegt, plötzlich als Glied in eine lange Kette von Beobachtungen ein¬
gereiht, uns das Verständniß großer Ideen heranzieht.
Daß der Leser von einem unserer ersten Archäologen in leichtfaßlicher und
klarer Darstellung zum Vertrauten gemacht wird bei gelehrter Arbeit, daß ihm
nicht nur die Resultate gegeben werden, sondern vor Allem die Wege gezeigt,
auf denen die Wissenschaft Resultate gewinnt, das scheint uns ein Hauptvorzug
des Buches. Denn die beste Kunst eines populären Werkes ist, den Leser
nicht als Schüler, sondern als Freund zu behandeln.
Der erste Aufsatz: „Bedeutung und Stellung der Alterthumsstudien in
Deutschland" ist einführender Prolog, er enthält in großen Zügen die Ge¬
schichte unserer classischen Philologie von dem ersten Beginn der Renaissance,
charakterisirt ihre Fortschritte, bezeichnet ihren Gewinn und ihre Aufgabe in
der Gegenwart und den Werth, welchen sie für die moderne nationale Bil¬
dung hat. In den folgenden Abschnitten: „Eine antike Dorfgeschichte" und
„Novelletten ans Apulejus" ist diejenige poetische Kunstform behandelt, welche
dem modernen Dichterschaffen am meisten entspricht. Novelle und Roman des
Alterthums. Gern würden wir hier außer den literarhistorischen Einleitungen,
welche Schriftsteller des antiken Romans charakterisiren. und außer den Ueber¬
setzungen aus dem Jäger des Dio Chrysostomus und dem goldenen Esel des
Apulejus noch eine Hinweisung darauf lesen, wie sehr die Romane, welche uns
aus der letzten Zeit der Antike überliefert sind, bis fast zur Gegenwart auf
Form und Inhalt unserer Nomanliteratur eingewirkt haben. Freilich ist solcher
Bericht nicht vorzugsweise Sache des Philologen, und wir entbehren zur Zeit
überhaupt noch eine genügende Geschichte des Romans. Es ist aber gewiß
merkwürdig, daß der Roman von Sophron und Petronius bis zu Walter
Scott fast zwei Jahrtausende brauchte, ehe er das innere Recht gewann, als
Kunstgattung seinem älteren Bruder, dem Epos, ebenbürtig an die Seite zu
treten. Denn erst Walter Scott fand für ihn künstlerische Gestaltung, d. h. ein¬
heitliche poetische Idee, welche gesetzlich gegliedert den gesammten Inhalt zu einem
festen, wohlgemessenen Kunstbau zusammenschließt. Bis dahin liefen die bei¬
den antiken Formen des Romans, der Abenteurerroman und der Schäfer¬
roman, beide mit lockerem Zusammenhange in den Einzelnheiten der Hand¬
lung, neben einander her, oft in einander über. Noch Göthe folgte in dem
Roman „Wilhelm Meister" mit höchster Grazie der Methode antiker Aben-
teurergeschichten, während er für die Novelle in „Werther's Leiden" bereits eine
höhere Kunstform fand.
Ein umfangreicher Essay, dem Leser der Grenzboten neu, „die hellenische
Kunst", führt in eine Reihe von Artikeln ein, welche wohl als Musterstücke
einer populären Behandlung wissenschaftlicher Untersuchungen gelten dürfen.
Diese Aufsätze „die Restitution verlorener Kunstwerke für die Kunstgeschichte",
„die alte Kunst und die Mode", „die Polychromie der alten Sculptur", „der
Apoll von Belvedere". „höfische Kunst und Poesie unter Augustus" und
„die griechischen bemalten Vasen" sind so geordnet, daß sie einander ergän¬
zend fast ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Der Weg wird gezeigt, auf
welchem allmälig dem Gelehrten und Künstler verständlich wurde, daß die
erhaltenen antiken Statuen, an denen sich seit der Renaissance die modernen
Anschauungen von der Schönheit und dem Adel antiker Kunst gebildet hat¬
ten, keineswegs aus der großen Zeit hellenischer Kunst stammen, sondern daß
gerade die traditionell berühmtesten Statuen, wie Apoll von Belvedere, Laokoon,
Niobidengruppe, nur Nachbildungen aus römischer Zeit sind, mit mehr oder
weniger Geist und formaler Fertigkeit, aber Arbeiten einer Zeit, in welcher die beste
schöpferische Kraft bereits lange geschwunden war. Nur einzelne Sculpturen, fast
sämmtlich Ueberreste antiken Tempelschmucks, die besterhaltenen Reliefe davon,
geben Anschauungen von der Kunst des Phidias und der Blüthenzeit antiker
Kunst. Seitdem ist es eine der lohnendsten Aufgaben der Archäologie, in dem er¬
haltenen Vorrath von Antiken die Nachbildungen der Werke großer hellenischer
Künstler zu erkennen, aus den Copien und entlehnten Motiven eine Vorstellung
von den verlorenen Originalen zu erhalten. Der Weg, aus welchem dies geschieht
und die Hülse, welche erhaltene Gemmen und Vasenbilder dabei gewähren, sind
durch eine Anzahl wohlgewählter Beispiele erläutert. Noch eine andere, nicht
weniger radicale Wandlung in der Beurtheilung antiken Kunstgefühls hat
sich in der neuesten Zeit vollzogen. Lange hat sich unsere Empfindung gegen die
Thatsache gesträubt, für die es doch unwiderlegliche Ueberlieferungen gab,
daß die Statuen der hellenischen Zeit, sogar die aus edlem Marmor, mit
Farben bemalt waren. Auch über den Stand dieser Frage wird dem
Leser ausführlicher Bericht gegeben, er wird von liebgewordener Aus¬
fassung scheiden müssen und seine Phantasie daran gewöhnen, daß die Hel¬
lenen bei Darstellung des Nackten, des Antlitzes wie der Glieder, gerade
das glänzende Weiß des feinkörnigen Marmors, das uns als höchster
Reiz desselben erscheint, für roh hielten, und dem bearbeiteten Stein für
diese Theile einen warmen Farbenton imprägnirten. welcher das krystallinische
Gefüge nicht deckte, und daß sie ferner Haare und Augen und nicht weniger
Rüstung und Gewand mit einer Malerei versahen, bei welcher Farbenwahl
und Ausführung sehr sorgfältig und kunstvoll war und als würdige Aus-
gäbe den besten Malern zugemuthet werden konnte. Geschmack und Methode
dieser Malerei aus den spärlichen Ueberresten der Farbe, welche an neuen
Funden noch erkennbar sind, zu begreifen, ist, wie man aus dem Buche sieht,
gerade jetzt eine lockende Aufgabe für unsere Archäologen.
Es sind die Trümmer einer vergangenen Kunstwelt, von denen das
Buch handelt; aber wer diese Ueberreste antiker Schöpferkraft mustert, den
überwältigt fast die Ahnung einer unermeßlichen Fülle von Glanz, Farbe
und schönen Formen, von Technik, Kunst und Pracht des antiken Lebens.
Wohl wissen wir, auch dieser Lichthimmel der antiken Bildung mußte bis
auf vereinzelte Strahlen umdämmert werden, damit wir Germanen unser
Volksthum behaupten und ein eigenes Leben in der Zeit uns retten
konnten. Aber unsere Abhängigkeit von antiker Cultur ist doch so innig ge¬
blieben, daß wir aus ihrem versunkenen Glänze unablässig für uns zu ge¬
winnen suchen, gerade so viel, als wir verarbeiten können. Und
diesen lebenbringenden Zusammenhang der germanischen und antiken Zeit
stellen die letzten Aufsätze des Buches an drei wohlgewählten Beispielen dar.
Ein italienischer Antiquar im Aufgange des Is. Jahrhunderts zeichnet die
Umrisse einer — für uns verlorenen — Antike; nach dieser Handschrift des
Jtalieners zeichnet kurz darauf ein ehrlicher Deutscher rohe Abrisse in sein
Reisebuch; diese findet Albrecht Dürer und benutzt sie als Motiv für eine
reizende Zeichnung: Arion aus dem Delphin. — Später als den Italienern kam
den Deutschen die lateinische Bildung; wie schwer der Kampf des armen
Schülers war. der die Cultur der lateinischen Schule gewinnen wollte, zeigt
ein anderes Bild. Das dritte endlich, wie von moderner Dichtkunst eine
antike Kunstidee neu aufgenommen und nach den Bedürfnissen des deutschen
Gemüthes verarbeitet wurde: Iphigenie auf Tauris.
Zu lange war es Brauch der namhaften deutschen Gelehrten, die Po-
pularisirung ihrer Arbeit den kleineren Leuten ihrer Wissenschaft zu überlas¬
sen. Wir freuen uns, daß dies jetzt anders wird. Es wäre eine sehr un¬
richtige Annahme, daß ein Buch wie das vorliegende auch irgend ein Andrer
schreiben konnte, und es ist völlig unwahr, daß Würde und Gründlichkeit
eines ernsten Forschers bei solchen Werken leidet, welche verstehen, eine große
Zahl gebildeter Zeitgenossen zu achtungsvoller Theilnahme an den Resulta¬
ten ernster Wissenschaft heranzuziehen. Dem Verfasser des vorliegenden Wer¬
kes aber werden die Leser für ein sehr lehrreiches und fesselndes Buch ebenso
dankbar sein, als ihrem treuen Correspondenten die grünen Blätter.
Bei meinen Besuchen in Eisenstabe, dem denkwürdigen Aufenthalte
Jos. Haydn's, bemühete ich mich u. A. auch Näheres über die Angelegenheit
der Beethoven'schen Messe zu ermitteln. Zunächst suchte ich im Musikarchiv
der Bergkirche nach etwa noch vorhandenen Orchesterstimmen. Ich sand sie
auch bald, zerstreut liegend unter Kirchenmusikstücken aller Art, unter denen
jene von dem alten Gregorius Werner, Haydn's wunderlichem Vorgänger, beson¬
ders stark vertreten waren. Die Chor- und Orchesterstimmen, in denen
Beethoven mit Rothstift und Tinte zahlreiche Correcturen, Tempobezeich¬
nungen u. s. w. vorgenommen hatte, waren sämmtlich so wohl erhalten,
daß man wohl annehmen kann, daß sie nach der ersten Aufführung in Eisen¬
stabe nicht weiter in Gebrauch genommen wurden. Eine Abschrift der Par¬
titur, ebenfalls reich mit Correcturen von Beethoven versehen, trug auf dem
Titelblatt von des Meisters Hand in großen Schriftzügen die ursprünglich
beabsichtigte Widmung:
Rissa,
Lomxostg, s äeäieata, a! Sen'w« e LeoellW'
Princips
Moolo Lstörda/y as tZals-iMg, ete. ete.
al I^uiZi v: Löötliovön.
Ueber das Datum der ersten Aufführung schwanken noch immer dle Angaben.
Schindler setzte sie zuerst ins Jahr 1810, dann ins Jahr 1808 „im Laufe
des Sommers"; Rost nennt ebenfalls das Jahr 1808. Durch die in der
Anmerkung Ur. I ersichtliche, vom Fürsten an den Vice-Kapellmeister Joh.
Fuchs gerichtete Zuschrift, welche ich im fürstlichen Hauptarchiv auffand, er¬
gibt sich als sicheres Datum der ersten Aufführung der 13. September 1807.
Anmerkung I. An meinen Vice-Kapellmeister Johann Fuchs.
Es wird mir mein Vice-Kapellmeister die Ursache anzuzeigen haben, warum meine con-
ventionirten Sängerinnen nicht jedesmahl in Dienst bei deren Nusiauoll erscheinen? Gleichwie
ich heute mit vielem Mißvergnügen ersehen habe, daß bei der abgehaltenen Probe von der
Veihovischen Messe von denen fünf Contra-Altisten nur eine zugegen war, welches auch der
Vice-Kapellmeister beobachten hätte sollen, und daher ich demselben hiemit den Auftrag er¬
theilen muß, strengstens darauf zu sehen, daß nicht nur Morgens bei abzuhaltenden Produc-
twn von der Bethovischen Messe Alles von meinem Rühl-zus uiid Singe-Pusonale erscheinen
sondern auch ansonsten Niemand ohne hinlänglicher Ursache vom Dienst sich entfernen solle,
weilen ich ansonsten mich gerade an Meinen Vice-Kapellmeister als vorgesetzten Chef welchen
es obliegt, alles in Ordnung zu erhalten und Nichts was zuwider den Dienst zu dulden,
halten, und demselben zur Verantwortung ziehen müsse.
Eisenstabe am 12, Sept. 1807.
Lxx. k. Lstsrw57.
Es ist dies aber der Marientag, der jährlich an dem auf Maria Geburt
(8. Sept.) zunächst folgenden Sonntag gefeiert wird. Als Namensfest der
Fürstin, einer geborenen Prinzessin Marie von Liechtenstein, wurde der Tag im
fürstlichen Haus immer auch durch eine größere kirchliche Musikaufführung
gefeiert. So hatte auch Haydn seine letzten großen Messen für diesen Tag
geschrieben und war eigens von Wien nach Eisenstabe gefahren, sie dort per¬
sönlich zu dirigiren. Schindler erzählt uns zuerst von dem Eindruck, den Beetho¬
ven's Messe auf den musikliebenden Fürsten, Nicolaus Esterhazy, gemacht;
wie verblüfft Beethoven über dessen wenig ermuthigende Aeußerung ge¬
wesen und wie er, das Lächeln des dabeistehenden Kapellmeisters Hummel
auf sich beziehend, in voller Aufregung das Haus verlassen habe. So un¬
auslöschlich auch der Haß war, der bei Beethoven von da an gegen Hummel
wurzelte (wozu auch noch andere Motive beigetragen haben sollen), trat
doch am Sterbelager des Tonsürsten vollständige Versöhnung ein. Für
den Fürsten aber blieb die Messe verloren, denn, wie bekannt, dedicirte sie
Beethoven beim Erscheinen im Jahre 1812 dem Fürsten Ferdinand Kinsky
— ein fast unerhörter Fall. Und dennoch scheint der Bruch zwischen Beiden,
Beethoven und Fürst Nicolaus, nicht gar so grell gewesen zu sein. So ver¬
gißt z. B. der vielseitig in Anspruch genommene Fürst im Jahre 1809 nicht,
sich bei Beethoven's Benefice (am 22. December 1808) mit einer namhaften
Summe zu betheiligen, in demselben Benefice, in dem Theile der Messe in
Wien zum ersten Mal aufgeführt wurden. Ich gebe diese, die inneren musi¬
kalischen Angelegenheiten des Fürsten mehrfach bezeichnende Notiz in der
Anmerkung II.
Die nachfolgenden Briefe Beethoven's, seines Arztes und des Fürsten
Esterhazy sind -ebenfalls dem Hauptarchiv des fürstlichen Schlosses zu Eisen¬
stabe entnommen und werden hier zum ersten Mal veröffentlicht. Sie sind von
mehrfachem Interesse, namentlich auch in Bezug auf Haydn. Wer je an
Beethoven's hoher Anerkennung der Verdienste Haydn's gezweifelt: die eige¬
nen Worte des Meisters müssen ihn hier eines Besseren belehren.
Anmerkung II, An mein Hof und Haupt.Zahlomt.
Es werden für die Theater Beneficen deren Hofschauspieler Brokmaun, Lange und
Kochfür meine Rechnung laut beiliegender Quittung Ur. 1 300 Gulden, der Josepha Auern-
hammer nachträglich für ihr Beresina zu Pnsburg 50 Gulden laut Beilage sub Ur, 2. nicht
minder dem Regisseur der Oper a» der Wien Fridrich Sebastian Mayer 10» Gulden laut
Beilage Ur. 3, dann für das Benefice der musikalischen Academie des Herrn Beethoven
laut Beilage sub Ur. 4 100 Gulden, endlich laut Beilage sub Ur. S für die Beneficen der
Wohlthätigkeit« Anstalt 100 und der ölusiPio Wittwen und Waisen eben auch 100 si, zu ver¬
abfolgen und da diese Gratialien durch Meinen Hofrath und Kanzlei Direcwr v, Krrmer gleich
aus der Hand auf meinen Befehl geleistet worden sind, demselben anwiederum zu ersetzen
und mir in Anrechnung zu bringen sein.
Wien den 13. Jänner 1809.
(Beethoven an den Fürsten Esterhazy.)
Da man mir sagt, daß sie mein Fürst nach der Messe gefragt, die sie
wir aufgetragen für sie zu schreiben, so nehme ich mir die Frejheit, ihnen
durchlauchtigster Fürst zu verkünden, daß sie solche spätstens bis zum 20ten
august-Monath erhalten werden — wo alsdenn Zeit genug seyn wird,
solche auf den Namens-Tag der Durchlauchtigster Fürstin aufzuführen —
außerordentliche vortheilhafte Bedingungen, die mir von London gemacht
wurden, als ich das unglück hatte mit einem Benefice-Tag im Theater
durchzufallen und die mich die Noth mit Freuden ergreifen machen mußte,
verzögerten die Verfertigung der Messe, so sehr ich es auch gewünscht, damit
vor ihnen durchlauchtigster Fürst zu erscheinen, dazu kam später eine Kopf
Krankheit, welche mir anfangs gar nicht und später und selbst jetzt noch nur
wenig zu arbeiten erlaubte; da man mir alles so gern zum Nachtheil aus¬
legt, lege ich ihnen d. F. einen von den Briefen meines Arztes hierhin bej
^- darf ich no.es sagen, daß ich ihnen mit viel Furcht die Messe übergeben
werde, da sie d. F. gewohnt sind, die unnachamlichen Meisterstücke des
großen Haidn sich vortragen zu lassen —
Baden am 26ten juli —
(Dr. Schmidt an Beethoven.)
Wien 22. July 1807.
Ich war, lieber Freund, vorher überzeugt, daß Ihr Kopfschmerz gichtisch
ist, und bin es jetzt, nachdem der Zahn ausgezogen, annoch. Gelindert wer¬
den Ihre Schmerzen seyn, ganz aufhören werden sie in Baden, und auch in
Rodaun nicht, denn der Loros,« ist Ihnen Feind. Darum verlassen Sie jetzt
Baden, oder wenn Sie es noch in Rodaun 8 Tage versuchen wollen, so gehen
Sie jetzt gleich daran, sich Seidelbast-Rinde auf die Arme zu legen. Von
Blutigeln haben wir nichts mehr zu erwarten, wohl aber davon, daß Sie
wacker gehen, wenig arbeiten, und schlafen, auch wohl essen, und mäßig
geistig trinken.
In Eile.
ü- NonKisur I^puis van LöötKovsn 5 Laäen. ^Außenseite des Bnefs.Z
(Fürst Nicolaus Esterhazy an Beethoven, nach dem Concept.)
An Herrn Ludwig van Beethoven.
Mit vielem Vergnügen habe ich aus Ihrem Schreiben von Baden ersehen,
daß ich bis zum 20. dieses, eine Messe von Ihnen zu erhalten, die angenehme
Erwartung haben könne, deren Erfüllung mir um so viel mehr Freude machen
wird, als ich mir davon sehr viel verspreche, und Ihre geäußerte Besorgniß
in Vergleich der Haydnischen Messen, nur noch mehr den Werth Ihres Werkes
erhöhet. Ich wünsche Ihnen übrigens von Herzen die schleunigste Herstellung
Ihrer vollkommenen Gesundheit, und bin mit aller Schäzung
Eisenstabe den 9. August 1807
Ueber den Erfolg der ersten Aufführung in Eisenstabe wußte Man am
23. September 1807 in Wien noch Nichts zu sagen. Unter diesem Datum
berichtet man der „Leipziger Allgemeinen Musikzeitung" aus Wien: „Beet¬
hoven hat eine neue Messe für den Fürsten Ehlers^zy geschrieben. Bekannt¬
lich ist dieser Fürst ein eifriger Liebhaber der Kirchenmusik, für welche auch
schon Kozeluch, N. Hummel und Kreuzer aus Zürich ähnliche Arbeiten ver¬
fertigt haben." — Beethoven selbst führte in seinem obenerwähnten Benefiee
im Theater an der Wien drei Sätze aus seiner Messe auf: „Hymne mit lat.
Text" (Gloria) und „Heilig, im Kirchenstil geschrieben" (Sanctus und Bene-
dictus). , Es war jenes merkwürdige Benefiee, in dem Beethoven u. a. seine
vmoll- und Pastorat-Symphonie und die Phantasie für Pianoforte, Chor
und Orchester aufführte. Bei der letzteren warf das Orchester um, so
daß Beethoven abbrechen und wieder von vorne anfangen ließ. Im Stich
erschien die Messe im Jahre 1812 (siehe Nottebohm: them. Verzeichniß
der W. von L. v. Beethoven Ur. 86); dennoch fand eine erste
öffentliche und vollständige Aufführung in Wien erst im Jahre 1816
statt. Die „Leipziger Allgem. M.-Zeitung" sagt darüber in demselben
Jahr in einer Notiz aus Wien: „Durch den'Betrieb des hier beliebten Mu¬
siklehrers und geschickten Organisten Herrn Gebauer wurde uns der erfreu«
liebe Genuß, Beethoven's herrliche Messe zum ersten Male öffentlich in der
Augustinerkirche aufführen zu hören. Ueber das Werk selbst ist in diesen
Blättern schon erschöpfend geurtheilt worden lBand XV. Ur. 24 u. 25) und
man bedauerte nur^ daß das Locale; wegen seiner Länge, hohen' Wölbung
und der vielen! hindernden Pfeiler, eben nicht günstig gewählt war." —
Sonstige Aufführungen der Beethoven'schen Messe waren um jene Zeit: in
Mannheim im Jahre 1815 (mehrere Sätze im Concertsaal); in PassaU' im
Jahre 1816 (zweimal in der Kirche); in Leipzig im März 1817 (im Concert). —
An dem Tage der Urtheilsexecution begann sogleich die Abfertigung
der Verurtheilten nach Sibirien. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde die
zur Zwangsarbeit Verurtheilten gegen den Gebrauch schon für die Reise in
Eisen geschmiedet wurden; solch' verschärfter Strafe wurden sonst nur Indi¬
viduen unterworfen, die sich durch neue Vergehen oder durch Versuche zum
Entlaufen eine Steigerung der Strafe zugezogen hatten. Da die wegen des
Aufstandes Verurtheilten je einen Gensdarmen beständig zur Wache bei sich
hatten und immer vier Mann zusammen, in Begleitung eines Feldjägers
und einer Wache von vier Gensdarmen, mit Postpferden nach Sibirien
transporttrt wurden , war bei uns an ein Entrinnen nicht zu denken. Die
Beförderung per Post war eine Ausnahmemaßregel> über deren Gründe viel¬
fach gestritten wurde. Die Einen meinten, man habe uns den weiten Marsch
ersparen wollen, Andere, man habe uns vor der „Volkswuth" schützen wollen,
wieder Andere waren der Meinung, es habe der Gefahr der Verbreitung
revolutionärer Ideen durch uns vorgebeugt werden sollen und man habe
darum das rascheste Beförderungsmittel gewählt. — Aus der ersten der er¬
wähnten zwölf Verbrecher-Kategorien wurden acht Personen sofort und direct
in die Quecksilber-Bergwerke von Nertschinsk verschickt: Fürst S. P. Trubetzkoy,
Fürst E. P. Obolensky, Fürst S.G. Wolkonsky, V. L. Dcwidow, A. Z. Mu-
rawjew, A. I. Jakubowitsch und die beiden Brüder A. I. und P. I. Bo-
rissow; sie haben in den unterirdischen Minen gleich den übrigen Zwangs¬
arbeitern Jahre lang gearbeitet. Diesen acht schwer Compromittirten folgte
die ganze Kategorie der zur Ansiedelung in Sibirien Verurtheilten. Die
betreffenden Männer wurden zu je vier und vier abgefertigt und gingen
einem äußerst harten Loose entgegen, da sie einzeln und in der nördlichsten
Region Sibiriens, zwischen Obdorsk und Kolymsk angesiedelt wurden, in
einer Gegend wo die Erde kein Korn mehr hervorbringt. Hier blieben sie
über ein Jahr,,um darauf etwas südlicher zwischen Beresow und Jakutsk
placirt zu werden. Sie waren die erste Zeit über ganz allein, keine Freundes¬
stimme, kein Sonnenstrahl erwärmte sie, und es erscheint natürlich, daß Ein¬
zelne von ihnen wahnsinnig wurden, Andere sich einer Verzweiflung ergaben
die ihrem Leben ein baldiges Ende machte; dem ersten Unglück verfielen der
Fürst Schachowskoy und N. S. Bobrischtschew-Puschkin, dem zweiten Fuhr¬
mann und Schachirew, die beide nach zwei Jahren starben. — M. A. Nasi-
wow lebte über ein Jahr in Nishni-Kolymsk, wohin man ihn theils auf
Packpferden, theils auf einem kleinen mit Hunden bespannten Schlitten brachte;
sein Nachtlager hat er auf dieser Reise oft unter freiem Himmel, im Schnee
und bei 30» (Neaumur) Kälte halten müssen. Nishni-Kolymsk ist derselbe Ort
an welchem zur Regierungszeit der Kaiserin Elisabeth Petrowna der frühere
Minister Graf Golowkin als Verbannter gelebt hatte. Eine locale Volks¬
sage erzählt, daß man den bejahrten und kranken Verwichenen gezwungen habe,
an Festtagen in die Kirche zu gehen, damit er hören könne, wie nach
Beendigung der Liturgie der Geistliche über ihn das Anathema aussprach.
— Die nächste Kategorie der noch abgefertigten Verschwörer umfaßte die
Personen, die zu gemeinen Soldaten degradirt worden waren und als
solche ihr ganzes Leben in Sibirien verbringen sollten; sie wurden in ver¬
schiedenen kleinen Festungen und Burgen Sibiriens untergebracht und später
in die kaukasischen Berge versetzt.
Im August hörte die „Abfertigung" der Staatsverbrecher für einige Mo¬
nate auf, weil man die zur Zwangsarbeit Verurtheilten nicht Alle in Ner-
tschinsk vereinigen, auch nicht in einem andern Bergwerke concentriren wollte,
indem man einen Aufstand in den größeren Bergwerken befürchtete; diese
Vorsicht war nicht überflüssig, wie die Begebenheiten in Nertschinsk später
bewiesen haben. — Im August 1826, kurz vor der Krönung des Kaisers
Nikolaus, wurde der Commandeur des Sewersky'schen reitenden Jägerregi¬
ments, Obrist S. N. Lenarsky, zum Commandanten der nertschinsk'schen Berg¬
werke ernannt. Ihm war befohlen einen Ort jenseit des Baikal-Sees zu er¬
mitteln, der zur Anlegung eines provisorischen Gefängnisses geeignet sein
sollte, bis ein anderer Ort zur Erbauung eines festen Gefängnisses oder eines
Zuchthauses bestimmt sein würde. — Lenarsky reiste sogleich ab und wählte
die sibirische Festung Tschita, zwischen Wyschne-Udinsk und Nertschinsk ge¬
legen und etwa 400 Werst von letztgenannter Stadt entfernt. In Er¬
wartung seiner Entscheidung und seines Berichts wurde unsere (d. h. meine
und der übrigen Verurtheilten der fünften Kategorie) Absendung aufgeschoben.
Um die überfüllte Festung in Petersburg zu räumen, wurden Einige von
den Verurtheilten auf mehrere Monate nach Schlüsselburg, Andere in die
Gefängnisse von Finnland und der Alandsinseln versetzt; die Uebrigen blieben
in den Kasematten sitzen, wo nach der Verurteilung die Ueberwachung nicht
mehr so streng blieb, wie zur Zeit des Verhörs und der Untersuchung.
Die uns zu Theil werdende Erleichterung bestand darin, daß man uns
einzeln nach der Reihenfolge in ein Vorhaus führte, wo Thüren und Fenster
offen waren und wo wir täglich etwa zwanzig Minuten lang frische Luft
schöpfen konnten; ferner führte man uns alle zehn oder vierzehn Tage in
der Festung und auf dem Walle spazieren. Diese Maßregel war dringend
nothwendig: die blaßgelben Gesichter der meisten Eingekerkerten zeugten von
dem zerstörenden Einfluß der unreinen und feuchten Gefängnißluft; ich litt
an Skorbut, mein Zahnfleisch war geschwollen und ganz weiß. — Eine
dritte sehr wichtige Erleichterung bestand in der Erlaubniß Bücher zu er¬
halten. Mit großem Vergnügen las ich alle Romane von Walter Scott;
die Stunden vergingen so schnell, daß ich oft des Geläute der Festungsuhr
gar nicht hörte. Durch Sokolow theilte ich meine Bücher mit einem Mit¬
gefangenen. In einem Tage verschlang ich zuweilen vier Bände und befand
mich in diesen Stunden nicht'in der Festung, sondern im Schlosse Kenilworth,
im Kloster, in einem schottischen Wirthshause, in den Palästen Ludwigs XI.,
Eduard's und Elisabeth's. Am Abende freute ich mich auf den kommenden
Morgen, um ein neues Buch vorzunehmen. Die stete Erwartung einer bal¬
digen Abfertigung nach Sibirien erlaubte nur diese leichte Lectüre; ernsthafte
und wissenschaftliche Bücher vorzunehmen, wäre mir zu jener Zeit unmöglich ge¬
wesen. Ich wünschte Schriften über Sibirien, aber damals war noch wenig
über das Land geschrieben worden. Außer den Reisebeschreibungen von Pallas,
Martynow, Markus und einigen Personen, die mit einer Mission über
Kiächta nach China gereist, waren schriftliche Nachrichten nicht zu haben und
die meisten dieser Nachrichten waren, wie sich in der Folge zeigte, un¬
vollständig und voller Fehler. — Diejenigen meiner Mitgefangenen, welche
in Petersburg keine Verwandte hatten, erhielten Bücher aus der Festungs¬
bibliothek: die Reisen Cook's, die Geschichte des Abbe' Leporte und alte
russische Zeitungen. Ein Kamerad übersandte mir einst ein Zeitungsblatt von
177L, das einen Artikel über Nordamerika enthielt, in welchem beständig von
dem schändlichen Rebellen General Washington die Rede war.
Eine Woche nach Vollziehung des Urtheils erhielt ein Verwandter und
Dienstkamerad Erlaubniß mich zu sehen und Abschied von mir zu nehmen.
Das Wiedersehen fand in der Commandantenwohnung in Gegenwart eines
Platzadjutanten statt. Am 25. Juli erhielt meine Frau die Erlaubniß mich
weinen neugeborenen Sohn in der Commandantur sehen zu lassen. Obgleich in
Thränen, war meine Frau gefaßt und standhaft; sie erkundigte sich nach
der Zeit und dem Orte unserer Wiedervereinigung. Mein Sohn, sechs
Wochen alt, lag auf dem Divan des Commandanten, er schien uns durch
das Lächeln seines Mundes und seine blauen Augen trösten zu wollen. Ich
dat meine Frau, mir nicht sogleich nach Sibirien zu folgen, sondern erst.
Wenn mein Sohn gehen könne und ich ihr über meinen neuen Aufenthaltsort
Nachricht gegeben. Sie segnete mich mit einem Muttergottesbilde, ich be-
werkte, daß auf der Kehrseite desselben etwas angeklebt sei; es waren tausend
Rubel in Banknoten. — Ich wies die Summe zurück, Geld war mir unnütz;
ich bat dagegen mir einen breiten Mantel aus grauem Tuch nähen und mit
Wachstuch füttern zu lassen. Dieses Kleidungsstück war mir später von
großem Nutzen bet Regen und Kälte. Noch bat ich meine Frau, die Wittwe
und die Tochter Nyle'jew's zu besuchen und sie nicht zu vergessen. — Die
festgesetzte Stunde des Wiedersehens war bald zu Ende, wir trennten uns
in der festen Hoffnung auf Wiedervereinigung, gleichviel wann und wo.
Dann kehrte ich mit schnellem Schritt in meine Käsematte zurück, ich be¬
merkte kaum das Grün, freute mich nicht der Blumen im Garten, die Luft
war trübe von dem Rauch der in weitem Umkreis brennenden Wälder —
sogar die Sonne sah aus wie eine glühende eiserne runde Platte.
Die Abfertigung meiner zur Ansiedelung und zum Soldatendienst in Si¬
birien bestimmten Kameraden nahm unterdessen unaufhörlich ihren langsamen
Fortgang; alle drei Tage wurden nur vier Mann abgeschickt, damit der
Postenlauf nicht gehemmt werde. — Im September bekamen wir die Erlaub¬
niß, bis zu unserer Abfertigung unsere nächsten Verwandten eine Stunde
in der Woche sehen zu dürfen. Meine Frau besuchte mich jede Mittwoch.
— Auch meine Brüder durften mich zuweilen sehen, einer derselben kam
aus Esthland angereiht. Mein jüngster Bruder, der Cadett im 1. Cadetten-
corps, erschien gleichfalls, er weinte bitterlich und bedauerte unter Anderm,
daß ich durch meine Verurtheilung das Recht verloren, jemals das Georgen¬
kreuz zu verdienen. Er theilte mir ferner mit, daß die Cadetten darauf stolz
seien, mehrere Namen früherer Zöglinge ihres Instituts in der Zahl der
Verurtheilten zu finden, und mich bedauerten, daß ich nicht desselben ehren¬
vollen Looses wie Nyle'jew theilhaftig geworden.
So vergingen sieben Monate in steter Erwartung meiner Abreise nach
Sibirien. Ein ganzes Jahr der Einkerkerkerung in den Kasematten lag bereits
hinter mir und noch immer mußte ich warten. Im Winter wurden die leer¬
gewordenen Nummern unseres Gefängnisses von Polen besetzt, die Kenntniß
von der geheimen Gesellschaft in Rußland gehabt hatten. Diese Polen ver¬
standen ihre Sache so gut zu führen, die Haltung der polnischen revolutio¬
nären Gesellschaft so gut zu verdecken, daß nur Wenige, Graf Mochinsky,
Kryschanowsky und Janusch-Kewitsch nach Sibirien verbannt wurden. Ge¬
genüber meiner Nummer hatte die Stelle von Bobrischtschew-Puschkin I. ein
Obrist Worzel eingenommen. Er war mit den Schicksal der übrigen Ver¬
urtheilten nicht bekannt, da er mehrere Monate in einer anderen Festung
zugebracht hatte. singend und in französischer Sprache erkundigte er sich
bei mir, seinem gegenüber eingeschlossenen Nachbarn, nach seinen Bekannten,
— er nannte Pestel, S. Murawjew, Wolkonsky — singend mußte ich ihm
antworten: xsuäu, xenäu, exiI6 g. UMtseKinick. — Nach Neujahr 1827
wurden die Abfertigungen wieder neu aufgenommen. Mein Mantelsack war
schon.lange bereit. Mein Schwager war nach Petersburg gekommen und hatte
Rennthierfelle gekauft, aus denen meine Frau mir einen Ueberrock nähen ließ.
Das Fell des Thiers war nach außen gekehrt, der Nock von innen mit
Seide wattirt. Dieser Anzug war leicht, warm und bequem; da ich außer¬
dem einen Pelz besaß, so konnte ich auf der Reise jeder Kälte trotzen. Der
dritte Februar, Namenstag meiner Frau, war der Tag unsers Abschieds
und der letzten Zusammenkunft in der Festung ; Tags darauf sollte ich abrei¬
sen. Ich wußte das im Voraus, weil an demselben Tage M. M. Narysch-
kin, Lohrer und zwei Brüder Beläjew abgefertigt worden waren und nach
diesen die Reihe an mich kommen sollte. Ich bereitete meine Frau dazu vor
und wiederholte meinen Wunsch, daß sie mir nicht eher folgen möchte, als bis
mein Sohn gehen könne und das Durchbrechen der Zähne überstanden habe.
Wir wußten damals noch nicht, daß den Frauen der Verurtheilten nicht ge¬
stattet sei, ihre Kinder mitzunehmen. — Um Trostgründe für meine Abreise war
ich nicht verlegen; ich stellte meiner Frau vor, wie nothwendig es meiner
Gesundheit sei, wieder frische Luft zu athmen, daß das einstündige Wieder¬
sehen einmal in der Woche auf die Dauer nicht erfreulich für sie sein
werde, zumal sie bemerken müsse, wie rasch die Einkerkerung meine Gesund¬
heit untergrabe. Seit dem Anfange des Winters hatten unsere Spazier¬
gänge gänzlich aufgehört, die spärliche Lampe gestattete kaum einige Minuten
nach einander das Lesen, durch Unachtsamkeit der Wächter brannte der eiserne
Ofen bald einen alten Handschuh, bald einen Fettlappen an, so daß
die ohnedies schon verpestete Luft noch verderblicher wurde; ich fühlte wirklich,
daß meine Kräfte langsam aber stetig abnahmen. Alles, was ich meiner
Frau in Gegenwart des Platzadjutanten sagen konnte, theilte ich ihr mit.
Zum zweitenmale schlug ich ab, heimlich Geld mitzunehmen. Jedem von uns
war erlaubt, fünfundneunzig Rubel Banko-Assign. zu haben, die der Verwahrung
des Begleiters übergeben werden mußten. — So nahmen wir einen langen,
schweren Abschied; meine Frau gab mir ein kleines hölzernes Kreuz aus
Jerusalem, welches auf ihrer Brust und auf der Brust meines Sohnes ge¬
ruht hatte. Meinen Sohn konnte ich an diesem Abschiedstage nicht sehen,
weil Skropheln seine Wangen bedeckten. Vielleicht hätte der Platzadjutant
Nikolajew unsere letzte Zusammenkunft verlängert, aber dies würde die
Trennung doch nicht erleichtert haben.
Den S. Frbruar saß der Platzadjutant länger als gewöhnlich auf mei¬
nem Bett und zeigte mir an. daß er mich noch in dieser Nacht zu meiner
Abreise abholen werde. Im Winter erfolgt die Abfertigung Verurtheilter
um Mitternacht. Ich hatte Zeit, mich vorzubereiten, das heißt, ich empfahl mich
und Alles, was mir theuer und lieb war, dem allliebenden, allmächtigen Vater.
Die Uhr schlug eilf, noch einmal tönte die einförmige Melodie Koa save tluz Ku?
an mein Ohr; ich war froh dieses Geläute zum letzten Mal gehört zu haben.
Dann schob Sokolow eilig die Riegel meiner Zelle auf; ich konnte ihn um-
armen, ehe der Platzadjutant eintrat und mich zum Commandanten führte.
An der Treppe der Kommandantur standen fünf Schlitten. Gleich nach mir
wurden N. P. Repin, M. N. Glebow und M. K. Küchelbecker in die
Commandantur geführt. Wir umarmten einander; mit Ersterem hatte ich
zusammen gedient, mit den Letzteren am Erecutionstage Bekanntschaft gemacht.
Wir hatten unsere eigene warme Kleidung. In demselben Zimmer standen
der Platzmajor, zwei Platzadjutanten, ein Feldjäger und an dem Ofen gelehnt
der wohlbekannte Doctor im schwarzen Frack; aus dem Kaminsims sah ich
Arzneigläser. Nikolajew sagte mir. der Doctor wäre bei jeder Abfertigung
gegenwärtig, um im Falle einer Ohnmacht oder eines Krankheitsfalles Hilfe
zu leisten. Für uns blieb er Zuschauer. Unsere kurze Unterhaltung wurde
durch den Eintritt des Commandanten sulln unterbrochen; ihm folgte ein
Feuerwerker, der die beiden Ecken seines Mantels geheimnißvoll in den
Händen zusammenhielt. — Der Commandant zeigte uns an. daß er uns
auf allerhöchsten Befehl nach Sibirien abzufertigen habe und zwar in Ketten;
bei diesem letzten Worte ließ der Feuerwerker die Enden seines Mantels
fallen und auf die Diele klirrten die für uns bestimmten Fesseln. Der Com¬
mandant entfernte sich. — Die Reifen um die Fußknöchel wurden zusammen¬
geklappt, mit Schlössern zugeschlossen und die Schlüssel dem Feldjäger, der
uns geleiten sollte, gegeben. Wir traten hinaus; es wa» etwas schwer die
Treppen hinunter zu steigen; ich hielt mich an dem Geländer fest, einer von
meinen Kameraden stolperte und wäre beinahe gefallen. Da brachte uns
der Platzmajor rothe Schnüre, die früher zum Zusammenbinden von Feder¬
posen gedient hatten. Ein Ende der Schnur wurde an einem Ring befestigt,
der die eisernen Stäbe und Glieder der Fesseln vereinigte, das andere Ende
derselben mit den aufgehobenen Eisen an den Gurt gebunden; so konnten
wir uns rascher bewegen und Schritte von etwa einer halben Elle Länge
machen. Dienstfertige Gensdarmen kamen uns bei der Treppe entgegen, setzten
uns einzeln in die Schlitten, und so fing unsere 6,600 Werst (944 deutsche
Meilen) weite Reise an. —
Unser Weg war vom Monde und von funkelnden Sternen hell erleuch¬
tet. In kurzem Trabe fuhren wir über die Newa; mein Blick war auf
Wassily-Ostrow gewandt; ich wußte, daß meine Frau jetzt für mich betete. 11
u^'a rien ac plus doa,u clans 1ö monäs hus Is eiol et le sentimont
an ävvoir äans is coeur ä<z 1'iwmme, hatte sie meinem Vater einmal gesagt.
— Beim Marmorpalais erreichten wir das andere Newaufer, lenkten in die'
Liteinaja ein, in die Osfiziersstrasze, zur Newsly'schen Perspective, dann am
Alerander-Newsky-Kloster vorüber zum Schlüsselburg'schen Thor. Nur wenige
Häuser waren noch erleuchtet, die Straßen waren öde; man hörte nur das
Anrufen der Straßenwächter, die mit ihren Hellebarden auf- und nieder-
gingen, und begegnete hin und wieder einem verspäteten Gaste; es war
eben die Butterwoche*). — Beim Schlagbaum wurde angehalten, der Feld¬
jäger trat in die Wachtstube, die Postillone lösten unterdessen die Zungen der
Postglocken, die Schildwache hob den Schlagbaum, muthig und flink spreng¬
ten die Pferde davon. Die Kälte ohne Wind erfrischte uns, die Postillone
bemühten sich, recht schnell zu fahren und riefen ihren Pferden beständig:
»Butterwoche, Ihr Falken!" zu. In einer Stunde waren wir auf der näch¬
sten Station. — In wenigen Minuten waren andere Schlitten angespannt
da man auf der Poststation die für die Abfertigungen bestimmten Tage im
Voraus wußte; nach wenigen Minuten saßen wir in anderen Schlitten, gut¬
müthige Postillone umwickelten unsere Füße sorgfältig mit trockenem Heu,
damit wir nicht frieren sollten, und weiter ging es in unaufhaltsam rascher
Fahrt. Auf den beiden ersten Stationen fanden Einige von uns Verwandte
und Freunde vor, die sich eingefunden hatten, um noch einmal von den Ver¬
bannten Abschied zu nehmen; der Geistliche Myslowsky hatte die Freundlich¬
keit gehabt, sie über den Tag unserer Abfertigung zu benachrichtigen. Dann
eilten wir weiter.
Mit steigender Unruhe bemerkte ich, daß wir uns der Festung Schlüs¬
selburg näherten; ich befürchtete, daß man auch uns in ihre Mauern ein¬
schließen würde, da ich wußte, daß Einige unserer Kameraden daselbst
nach der Vollziehung der Sentenz längere Zeit eingesperrt gewesen waren.
In einer Festung eingeschlossen zu sitzen, erschien mir aber schrecklicher als
jedes andere Loos. Wir kamen an den Kreuzweg, wo es links zur Festung,
rechts zum Dorf und weiter zur Station geht — mein Herz schlug immer
stärker: unsere Schlitten bogen rechts ab zum Dorfe, wir hatten die Festung
nicht zu fürchten. Rasch waren die Pferde gewechselt, wir jagten weiter;
nur undeutlich konnte ich die Mauern der Festung sehen, an welcher russische
Soldaten einst eine berühmte Probe ihrer Tapferkeit abgelegt hatten. Peter, der
Schlüsselburg den Schweden entreißen wollte, ließ die Festung stürmen, aber
während des Sturmes zeigte sichs, daß die Sturmleitern zu kurz seien. Pe¬
ter, die Unmöglichkeit eines Erfolgs einsehend, befahl, den Sturmlauf einzu¬
stellen. — „Sagt dem Kaiser" entgegnete der Anführer, Fürst Galizyn, als
er den Befehl erhielt, „daß ich jetzt nicht ihm angehöre, sondern Gott allein;
vorwärts Kinder!" — Galizyn stellte sich auf die Schultern eines Kriegers,
der auf der höchsten Stufe der Leiter stand, und war der Erste auf dem Walle,
die Andern folgten ihm nach und die Festung wurde genommen.
Noch während der Butterwoche durchreisten wir die Städte Tichwin,
Ustiugna, Molaga. Allenthalben, wo wir zu Mittag und zu Abend speisten,
wurden wir mit fertigen Buri (Fastnachtspfannkuchen) und Fischsuppe aus
Sterlett erwartet. Nach mehrtägiger Fahrt kamen.wir Nachts in Nybinsk
an, wo wir zum ersten Male seit dem Beginn unsrer Reise einige Stunden
ruhen durften. Auf der Station waren nur zwei Zimmer vorhanden; im ersten
derselben standen bloß Tische und Stühle, das zweite, mit Divan und Betten,
war bereits von Reisenden besetzt. Die Erschöpfung machte ihr Recht gel¬
tend : wir lagerten uns eben auf dem Fußboden, als aus dem hintern Zim¬
mer ein mit dem Georgenorden geschmückter Mann in Admiralsuniform
heraustrat, dem zwei verschlafene Jünglinge folgten, von denen jeder ein
Kissen und ein Bündel trug. — Wir entschuldigten uns, daß wir die Herren
unwillkürlich durch das Geklirr unserer Ketten aus der Ruhe gestört hätten.
— „Ich bitte Sie, meine Herren" — sagte der Admiral höflich — „mit mir
das Zimmer zu wechseln, in meinem Zimmer ist es wärmer, Sie werden dort
besser ruhen als hier; Ihr Weg geht weit, der meine nur nach Petersburg."
— Der Unbekannte reiste in die Residenz um seine Söhne ins Cadettencorps
zu bringen; hier gab er ihnen eine vorläufige gute Lehre. — Nach kurzer Rast
ging es unaufhaltsam weiter. An einem Sonntagvormittag langten wir
endlich in Jaroslaw an, in einem Gasthofe auf dem Marktplatze, wo man die
PostPferde wechselte. — Während man uns den Tisch deckte und ich auf und ab
ging, hörte ich behutsam an die Thür klopfen. Eine zarte Stimme fragte:
„Ist I- D. Jakuschkin hier? wo ist er? wann kommt er?" — Es war des
verurtheilten Jakuschkin Frau und seine Schwiegermutter N. N. Schermetjew.*)
Diese Fragen konnte ich nicht beantworten, ich wußte nur, daß Jakuschkin
schon längst aus der Petersburger Festung in eine andere nach Finnland ver¬
setzt worden war. Die beiden in Luxus und Wohlleben aufgewachsenen Da¬
men lebten seit Monaten in diesem elenden Gasthause um Jukuschktu zu er¬
warten; er wurde erst im folgenden Sommer nach Sibirien abgefertigt.
Während wir speisten, versammelte sich das Volk auf dem Platze; in einer
Viertelstunde war der Platz so dicht von Menschen angefüllt, daß, wenn man
von oben herab einen Apfel geworfen hätte, er nicht in den Schnee
gefallen wäre, ohne eine Mütze oder eine Schulter zu berühren. Unsere
Schlitten standen bereit im inneren Hofe, die Pforte war geschlossen, an der
Außenseite standen zwei'Gensdarmen mit blank gezogenem Säbel. — Im
Corridor begrüßten uns Frau von Jakuschkin und ihre Mutter und wünschten
uns eine glückliche Reise. Als wir die Treppe hinabstiegen, befahl der Feld¬
jäger, daß sein Schlitten vorfahre und daß die Gensdarmen nicht hinter ihm
Zurückbleiben sollten; im Hofe setzten wir uns ein. Kaum hatte die Wache
die Pforte geöffnet, als wir pfeilschnell über den Platz fuhren, wo von beiden
Seiten eine unzählige Menge Volks stand. Ich hatte kaum Zeit, meine
Hand an die Mütze zu 5egen und zu grüßen, als alle Hüte herunterflo¬
gen und uns ehrfurchtsvoll grüßten; von „Volkswuth" war keine Spur zu
entdecken. In wenigen Minuten hatten wir die Wolga passirt, auf deren
östlichem ^fer es jetzt weiter fort ging.
Wie Feldjäger jagten wir unaufhaltsam Tag und Nacht weiter; im
Schlitten zu schlafen, war fast unmöglich, in Ketten und Kleidern zu
nächtigen beinahe ebenso unbequem; daher schlummerten wir immer nur einige
Minuten auf den Stationen, während die Pferde umgespannt wurden; die eilige
Fahrt wurde immer angreifender und unerträglicher. Kostroma, Makariew,
Kotolnitsch, Wjätka, Glasow, Peru, Kunjur, Katherinburg, Tjumen zogen
mit gespenstiger Eile an unseren Blicken vorüber. In Glasow nächtigten wir und
hier wurden zum ersten Mal unsere Ketten auf einige Augenblicke abgenommen,
während wir die Wäsche wechselten. — Jetzt, wo wir von den Hauptstädten
des europäischen Rußlands weit entfernt waren, hatten wir Gelegenheit die
eigenthümlichen Praktiken des Feldjägers, der uns beigegeben war, kennen
zu lernen. Unser Begleiter verstand seine Börse vortrefflich zu füllen. Von
Tichwin an ließ er nur vier Schlitten anspannen; er lud mich ein, mit ihm
in seinem Schlitten zu sitzen, setzte meinen Gensdarmen in den folgenden
Schlitten und so blieben die Vorspanngelder für die drei Pferde, welche einen
fünften Schlitten hätten ziehen sollen, für volle dreitausend Werst in seiner
Tasche. Das hätte man sich noch gefallen lassen können, denn er übervor-
theilte dadurch Niemand, nicht den Stationshalter, nicht die Postillone, nicht
die Postpferde, denn drei Pferde konnten ohne Anstrengung einen Verur-
theilten mit zwei Gensdarmen fortschleppen; sogar der Krone that er keinen
Schaden, sie hatte ihm eine bestimmte Summe verabfolgt, für welche er die
Arrestanten bis zum bestimmten Orte zu begleiten hatte. Aber der Feld¬
jäger begnügte sich damit nicht: sobald die Pferde angespannt waren, fragte
er den PostHalter mit lauter Stimme: „wie viel habe ich Dir Vorspanngeld
zu zahlen?" — Wenn dieser nur die Hälfte des gesetzlichen Betrages verlangte,
so befahl er ruhig, daß der Feldjägerschlitten hinterdrein fahren, die Gens¬
darmen mit den Verurtheilten vorausfahren sollten. So ging es dann in
vollem Trabe; neben mir sitzend schlummerte er ruhig oder stellte er sich
schlafend, und wir fuhren glücklich weiter. Wo der PostHalter aber
die volle Summe des Vorspanngeldes verlangte, da donnerte die Stimme
des Feldjägers: „Mein Dreigespann fährt voraus, Gensdarmen bleibt nicht
nach!" Dann begann ein wildes Jagen, welches die unglücklichen Pferde ab-
sichtlich ruiniren sollte. Immerwährend stieß der Feldjäger den Postillon
mit seinem Säbel, indem er „Vorwärts! Vorwärts!" brüllte. „Dusolltest
nur Leichen fahren, aber nicht Feldjäger!" —und drohend und fluchend trieb
er den Postillon zu wahnsinniger Eile an. Ich mußte bisweilen mit dem
Aermel meines Pelzes Mund und Nase bedecken, das schnelle Fahren bei
der strengen Kälte hemmte mir den Athem. Durch solche Chikanen brachte
der schändliche habsüchtige Mensch es dahin, daß allein bis Tobolsk sieben
Pferde todt zu Boden stürzten. Er hoffte dadurch die PostHalter zu einem
theilweisen Nachlaß des Norspanngeldes zu zwingen. — Ich remonstrirte
und schalt vergebens und konnte oft kaum an mich halten, wenn ich sah, daß
der Postillon auf solche Weise sein bestes, feurigstes Pferd verlor und
schluchzend die Stränge desselben durchschnitt. Ich wollte, daß der Feldjäger
auf der nächsten Station ihm einen Revers ausstelle, nach welchem der
Eigenthümer 20 Rubel Silber Entschädigung erhielt, obgleich das Pferd 40
Rubel werth war. „Ach was" rief der Feldjäger, „wie können Sie sich
für einen Betrüger und Taugenichts verwenden, der mir mit Absicht ein
krankes Pferd vorgespannt hat; das ist eine alte Finte dieser Canaillen" und
dabei blieb es. Doch auf den Stationen, die von Tataren gehalten wur¬
den und jenseit Tjumen immer zahlreicher wurden, konnte der Feldjäger
Nichts ausrichten; man verlangte von ihm die volle Zahl der Vorspann¬
gelder und fuhr so schnell, daß er den Fuhrleuten Nichts anhaben konnte.
Kaum näherten wir uns einer Station, so hoben die Fuhrleute uns sogleich
aus den Schlitten, damit die Pferde keine Minute stehen blieben und eine
Stunde lang zur Erholung umher geführt werden konnten. Mit Schaden¬
freude und Lächeln sahen sie auf den jFeldjäger; die Postillone waren ge¬
wandt und ihrer Sache sicher, ihre Pferde leicht und rasch wie der Wind.
Am 22. Februar früh Morgens kamen wir in Tobolsk im Hause des
Polizeimeisters an; hier empfing uns ein Polizeibeamter, der uns ersuchte,
nicht aus den Schlitten zu steigen, sondern zum Polizeihof zu fahren. Wir
waren überrascht über diesen höflichen Empfang, der zu der Wohnungsan¬
weisung einen schroffen Contrast bildete: wir erhielten ein Zimmer im Poli¬
zeizuchthause. Unterdessen hatte man unsere Postschlitten nicht weggeschickt,
unsere Reisesacke nicht herausgetragen. Wir waren so schnell gereist, daß
wir unsere Kameraden eingeholt hatten, die zwei Tage vor uns aus Peters¬
burg abgefertigt worden waren; bis man sie weiter erpedirte. wurden wir
in der Polizei aufgehalten, dann aber in die Wohnung des Polizeimeisters
Alex^jew geführt, wo wir zwei Tage in dessen Gastzimmern ruhten und auf
Befehl des Civilgouverneurs Bantysch-Kamensky außerordentlich gut be¬
wirthet wurden. Zum Frühstück reichte man uns allein zwölf verschiedene
Fischgattungen aus den fischreichen Flüssen Sibiriens. Diese Ruhe und
Pflege war uns nothwendig und wurde in vollen Zügen genossen. Am
Morgen des dritten Tages mußten wir unsere Reise fortsetzen; statt des
Feldjägers gab man uns einen Assessor des Kurgan'schen Kreisgerichts, I, M.
Gerasfimow mit, statt der PostPferde spannte man Bauerschießpferde vor.
Vor unserer Abreise aus Tobolsk wurden wir zum Civilgouverneur geführt,
der uns höflich empfing und sich freundlich erkundigte, wie unsere Gesundheit
die Einsperrung in der Festung und die weite Reise ertragen habe? Dann
verbeugte er sich und sagte unserem Begleiter: „Das sind Ihre Arrestanten;
Sie werden aber nicht vergessen, daß Sie es mit Gentlemen (wörtlich:
wohlgeborenen Leuten) zu thun haben."
Jetzt reisten wir auf der großen Hauptstraße, die quer durch ganz Sibi¬
rien führt; Alles war auf zu transportirende Verbrecher eingerichtet, jede
Station zugleich ein Etappenort. Die Gegend südlich von dieser großen
Straße ist die bevölkertste des ganzen Landes: immerhin ist die Bevölke¬
rung so schwach, daß Städte immer nur auf je 100—400 Werst vorkommen. In
Tara'konnten wir die Gastfreundlichkeit des Polizeimeisters Stepanow, eines
kaukasischen Kriegers aus Jermolow's Zeiten, nicht benutzen, weil wir diese
Stadt Nachts passirten. Gefährten, denen wir später begegneten, wußten
den Edelmuth dieses Mannes nicht genug zu preisen, der wegen seiner Hu¬
manität später zur Verantwortung gezogen wurde, übrigens kurz erwiderte, er
sei einfach den Vorschriften der christlichen Liebe gefolgt. — Die Schießpferde
wurden in den Höfen der Gemeindegerichtshäuser gewechselt, wo wir zu¬
weilen Gemeindeberathungen antrafen und uns nicht selten über den ein¬
fachen raschen Gang der Communalangelegenheiten und den gesunden Sinn
der russischen Bauern freuten. Die Nächte brachten wir in reinlichen Bauer¬
häusern zu, wo die Eigenthümer uns treuherzig aufnahmen und jede Zah¬
lung ablehnten. — Ueber Sibirien und dessen Bewohner werde ich bei Ge¬
legenheit meiner Rückreise ausführlicher berichten, da diese im Sommer er¬
folgte und ich im Winter keine Möglichkeit hatte, Land und Leute auf der
raschen Reise kennen zu lernen. Hier will ich nur noch kurz des Wohlthä-
tigkeitssinnes der Sibirier erwähnen: an gewissen Tagen und an bestimmten
Orten sahen wir eine Menge Bauern, die am Wege unter freiem Himmel
bei großer Kälte dastanden. Es war Gebrauch, daß die Bewohner der an
der großen Straße liegenden Dörfer sich versammelten, um die Züge der
»Unglücklichen" (so werden die Verbannten und Verwichenen in Sibirien
genannt) zu erwarten und denselben Eßwaaren, warme Strümpfe u. f. w.
zu verkaufen. Die Aermeren erhielten diese Dinge regelmäßig geschenkt.
Das geschieht zwei Mal wöchentlich an den Tagen, wo die Verurtheilten
von Etappe zu Etappe geführt werden, und die Bewohner der Dörfer lösen
sich dabei nach einem bestimmten Turnus ab. Ich'erfuhr, daß dieser christ¬
liche Gebrauch schon seit alter Zeit bestehe. — Ueberall. von Tobolsk bis
Tschita. nahm man uns liebreich auf; auf unsere offenen Schlitten wurden
schützende Verdecke gebunden, unsere Füße sorgsam in wärmendes Heu ge¬
hüllt, wir selbst mit Segenssprüchen begleitet.
Unser Weg führte durch die Städte Tara, Kainsk. Kolywan, Tomsk,
Atschinsk, Krasnojarsk, Kanst, Nishny-Udinsk, Jrkutsk; neun Städte auf
einer Strecke von 3000 Werst (etwa 430 deutschen Meilen). Von Krasnojarsk
an fuhren wir mehrere Stationen weit auf Rädern. Die wellenförmigen Berge
von gelblichrother Kreide hatten den Schnee abgeworfen, der Weg stäubte
bereits. — Die Hauptstraße von Krasnojarsk war mit gut gebauten stei¬
nernen Häusern von nicht selten zwei Stockwerken eingefaßt; wir hielten auf dem
Markte bei derPolizeiverwaltung an, wo verschiedene Einwohner lange um die Ehre
stritten, uns bei sich beherbergen zu dürfen. Endlich bat ein Greis den Polizeimei¬
ster uns in sein Haus aufnehmen zu dürfen, es war ein Kaufmann Starzow.
Er gab uns seine besten Zimmer, bewirthete uns freigebig und hatte nach
russischer Art ein erquickendes Bad bereiten lassen. Bei unserm Eintritt in
sein Haus stellte er uns seine Söhne und Schwiegertöchter vor; wir führten
mit ihm eine angenehme Unterhaltung über die uns unbekannte Gegend. —
Ich freute mich, daß ich zufällig gerade bei ihm einquartirt war, und hoffte
auf diese Weise hinter ein Geheimniß zu kommen, daß uns schon lange
plagte; aber alle meine Fragen und Anspielungen blieben vergeblich, Starzow
sagte immer, daß er Nichts wüßte. Die Sache war die, daß von Tjumen
an die Postillone und Bauern uns überall gefragt hatten, ob wir nicht Afanassy
Petrowitsch gesehen hätten? Dann erzählten sie, daß der Polizeimeister aus
Tobolsk, Alerejew, und der Kaufmann aus Krasnojarsk, Starzow, diesen
Mann ehrerbietig nach Petersburg begleitet hätten, daß derselbe einen Tag
in Tobolsk geruht und den Generalgouvemeur Kopzewitsch, der an einer halb
geöffneten Thür dagestanden, bemerkt, sogleich erkannt und gefragt habe:
„Nun, Kopzewitsch, Favorit von Gatschina, erkennst du mich noch?" — Der
Unbekannte sei sehr alt, aber noch frisch gewesen und habe sich durch eine
sehr feine Kleidung ausgezeichnet. Im Volk cursirten die verschiedensten
Gerüchte. Einige behaupteten, Afanassy Petrowitsch sei ein vom Kaiser Paul
verschickter Bojar, Andere hielten ihn für einen leiblichen Bruder dieses Kaisers.
Mein Wirth war wahrscheinlich in das Geheimniß eingeweiht, aber
er schwieg hartnäckig. Als ich später auf meiner Rückreise in seinen Wohn¬
ort kam, fand ich ihn nicht mehr am Leben; seine Kinder wußten nur, daß
er und der Obrist Alexcjew die geheimnißvolle Person nach Petersburg be¬
gleitet hätten.
Den 22. März kamen wir endlich in Jrkutsk an; die letzten 3000 Werst
waren wir mithin noch einmal so langsam gefahren, als die ersten 3000 Werst
von Petersburg bis Tobolsk: dafür war kein einziges Pferd gefallen und
wir hatten ein bis fünfmal wöchentlich genächtigt. In Jrkutsk hatten wir
einen Rasttag, den wir in einem schlechten Gefängniß zubringen mußten. Hier
trennten wir uns von unserem zweiten Begleiter und erhielten einen neuen
in der Person eines Kosakenunteroffiziers. Zwei Poststationen jenseit Jrkutsk
fuhren wir über den Baikalsee, hier das heilige Meer genannt; die Pferde
liefen über sechzig Werst weit ohne anzuhalten; die Fuhrleute hatten in ihren
Schlitten einige Bretter mitgenommen, um über die breiten Eisspalten des
Sees Nothbrücken zuschlagen. Ueber diese Spalten, die oft mehrere Ellen breit
waren, sprangen die Pferde mit einer solchen Geschwindigkeit weg, daß der lange
Schlitten kaum das Wasser berührte; überhaupt sind die sibirischen Pferde un¬
gewöhnlich ausdauernd und rasch, obgleich klein und unansehnlich; ohne An¬
strengung laufen sie 80 Werst in einem Strich. — Das jenseitige Ufer des
Baikal erreichten wir beim Kloster Podolsky. Die schöne Umgegend dieses
Ortes, den ich später kennen lernte, war jetzt mit einer Schneedecke belegt,
deren Einförmigkeit nur hier und da durch Dörfer, Berge und Wälder unter¬
brochen wurde. Einige Stationen diesseit Tschita sahen wir zum ersten Mol
die Jurten (Filzzelre) herumziehender Burjäten. Auf der letzten Station vor
Tschita in Klutschewoy spannte man uns Postwagen vor, weil um Tschita
herum das ganze Jahr hindurch der Schnee nicht liegen bleibt. Dieser Ort
ist sehr hoch gelegen und sieht beständig einen klaren, unbewölkter
Himmel über sich; wenn auch bisweilen Schnee fällt, so wird er sofort durch
den Wind wieder in die Thäler geweht. In gewissem Sinne läßt sich sagen,
daß Tschita zu kalt für den Schnee sei; die Kälte stieg bis zu 40 Grad Reau-
mur, sodaß das Quecksilber im Thermometer zufror und nur noch ein Spiri¬
tus-Thermometer den Grad der Kälte angeben konnte. — Kurz vor diesem Ort
unserer Bestimmung hatten wir noch ein Abenteuer zu bestehen. Am 29.
März fuhr ich mit Glebow in einem verdeckten Postwagen die letzte Station
unserer weiten Reise nach Tschita; der Fuhrmann war ein heidnischer Bur¬
jate, der die Geschirre nur nachlässig aus Stricken zusammengebunden hatte.
Nachdem wir 10 Werst gefahren waren, befanden wir uns auf einem hohen
Berg, von welchem aus das kleine Dorf Tschita sichtbar wurde. Wir fuh¬
ren langsam und behutsam die Anhöhe hinab; plötzlich aber rissen die Stricke
des Geschirrs, gleichzeitig brach der hölzerne Nagel, der die Vorderräder mit
dem Wagen verband — in einem Augenblicke waren wir herausgeschleudert.
Glebow fiel über das rechte Seitenpferd auf den Weg, der Fuhrmann warf
sich seitwärts, ich blieb mit dem rechten Fuße an den Strängen des einen
Seitenpferdes hängen, mich mit beiden Händen an der Mähne des Mittel-
Pferdes festhaltend. Die Pferde jagten zwei Werst weit unaufhaltsam in ge¬
streckter Carriere vorwärts, nur die Vorderachse des zerbrochenen Wagens
mit sich führend, zwischen ihnen hielt ich mich mit meinen schweren Ketten
nur mühsam fest, bis Repin und Küchelbecker, die vor uns am Fuße des Berges
angekommen waren, meine mißliche Lage sahen, die Pferde anhielten und
mich herunter nahmen. Meine Ketten hinderten mich an jeder Art von
Selbsthilfe. Merkwürdigerweise blieb ich unbeschädigt; sogar meine Kleidung
war nicht zerrissen worden. Der Wagen wurde reparirt und nach einer
Stunde gelangten wir endlich an das Ziel unserer Reise, in das Gefängniß
von Tschita, ein von einem Zaune umgebenes Holzhäuschen. Wir hofften,
einige unserer Kameraden, die vor uns aus Petersburg abgefertigt worden
waren, vorzufinden; aber diese bewohnten ein anderes temporäres Gefäng¬
niß, in welchem für uns kein Platz war, da dasselbe nur 24 Mann be¬
herbergen konnte. —
Wir wurden von dem Capitän eines Linienbataillons, einem Platz¬
adjutanten, einem Schreiber und einigen Schildwachen in Empfang ge¬
nommen. Der Capitän fragte, ob wir Geld oder Kostbarkeiten bei uns
führten, die streng verboten seien. — Ich nahm sogleich die seidene Schnur
von meinem Halse, an welcher ein eingefaßtes Portrait meiner Frau, ein
Medaillon mit den Locken meiner Eltern und ein Päckchen Staub der heimath¬
lichen Erde hingen. AIs ich diese Sachen dem Capitän einhändigte, be¬
merkte er an meinem Finger einen goldenen Ring und rief mit Stentor¬
stimme: „Was hast Du da an dem Finger?" „Meinen Trauring." „Her¬
unter damit!" Ich entgegnete ihm höflich, daß man mir den Trauring im
Winterpalaste und in der Festung gelassen habe und daß das Tragen eines
solchen nicht verboten sei. — „Herunter damit, sage ich Dir!" kreischte der
rohe Mensch noch einmal. Ich antwortete ihm mit vornehmer Ruhe: „Neh¬
men Sie den Ring mit dem Finger zusammen" — kreuzte meine Arme über
die Brust und lehnte mich kaltblütig an den Ofen. — Der Adjutant gab
dem Capitän keine Zeit, ein Wort zu sagen, flüsterte ihm etwas ins Ohr, nahm
unsere Kostbarkeiten zusammen und entfernte sich. Unterdessen untersuchte
ein Schreiber unsere Reisesacke und Bücher und notirte alle Sachen. Nach
einer halben Stunde kehrte der Adjutant mit der Anzeige zurück, daß der
Commandant mir das Portrait meiner Frau zurücksende und mir den Trau¬
ring zu tragen gestatte; die übrigen Andenken sollten sorgsam in der Canzlei
aufbewahrt bleiben. — So endete unser Empfang. Von dieser Stunde an,
während meines ganzen Aufenthaltes in Tschita und später im Gefängniß von
Petrowsky, benahm sich der Capitän Stepanow übrigens sehr höflich gegen mich.
Anderen Tags besuchte uns unser Commandant Se. R. Leparsky, ein
uralter Cavallerieofficier, der Jahrzehnte lang das Sewer'sche reitende Jäger¬
regiment befehligt hatte, dessen Chef der Großfürst Nikolaus gewesen war
ehe er Kaiser wurde. Wenn in anderen Regimentern Unannehmlichkeiten
vorfielen, in Folge deren man Officiere versetzen mußte, so wurden die so¬
genannten unruhigen Köpfe stets in Leparsky's Regiment übergeführt, der mit
Allen umzugehen verstand und sich nie Feinde machte. Obgleich er sein
ganzes Leben in entfernten Garnisonen zugebracht hatte, so machte sich doch
sofort geltend, daß er in der Jugend eine gute Bildung empfangen hatte.
Er war Zögling der Jesuitenschule von Polozk gewesen, konnte Lateinisch und
drückte sich im Französischen und Deutschen geläufig aus. Dabei war er ein
edler Mensch und vollkommner Gentleman. — Der Greis erkundigte sich mit
Theilnahme, wie wir die weite Reise zurückgelegt hätten und ob wir nicht
der Hilfe eines Arztes bedürften? Er fügte hinzu, daß er gern zur Erleich'
terung unseres Schicksals beitragen werde. Darauf bat ich ihn um die Er¬
laubniß, meiner Frau schreiben zu dürfen: diese Bitte mußte er mir ab¬
schlagen, weil uns das Schreiben ausdrücklich streng verboten war.
Zwei Tage nach uns langte die folgende Reihe unserer Gefährten aus
Petersburg an: V. N. Licharew, v. Tiesenhausen, S. T. Kriwzow und Tol-
stoy. Zwei Tage darauf kamen Ljublensky. Wigadowsky, Lisowsky und
N. A. Sagoretzky an; diesen folgten noch von der Brügger, A. V. Jentalzow.
A. I. Ticherkasow und I. A. Abramow II. Wir hatten es enge, aber ge¬
sellig; unsere schweren Ketten erlaubten uns nicht, viel zu gehen, aber wir
gewöhnten uns an dieselben und lernten sie mit Riemen aufzubinden und
am Gurt oder der Halsbinde zu befestigen. Zwischen unserem Häuschen
und dem hohen Pfahlzaun war ein Raum von zwei Faden Breite; um dieses
Viereck bewegten wir uns mehrere Mal täglich. — Im April wurden die Tage
wärmer. Ende Mai begann die Erde aufzuthauen, sodaß wir mit unserer
Arbeit beginnen konnten. Eines Morgens führte man uns auf einen freien
Platz, wo wir unseren Kameraden aus dem anderen Gefängnisse begegneten.
Das Wiedersehen war ein höchst erfreuliches und wiederholte sich zwei Mal
täglich. Morgens von 8 bis 12. Nachmittags von 2 bis 3 Uhr. Dann
begann unsere regelmäßige Beschäftigung. Man hatte eine Menge Spaten,
Hämmer. Grabschaufeln. Karren und Tragbahren zusammengebracht; unsere
erste Arbeit bestand in dem Ausgraben zum Fundament unseres neuen Ge¬
fängnißgebäudes und des Grabens um dasselbe. Diese Arbeit erinnerte uns
daran, daß einst die Schweizer gezwungen worden waren, für sich selbst die
Festung Zwing-Uri zu bauen, und das traurige Gebäude, das wir aufführen
sollten, hieß fortan „Zwing-Uri". Jeden Tag. die Sonn- und Feiertage aus¬
genommen, trat der wachehaltende Unterofficier früh Morgens zu uns herein
"ut rief: „Meine Herren, an die Arbeit!" — Gewöhnlich rückten wir mit Ge¬
sang aus, um dann nach Kräften zu arbeiten; Zwang wurde uns dabei nicht
^gethan. Das hatten wir unserem Commandanten zu verdanken, der in seiner
Instruction zwar die Vorschrift erhalten hatte, uns schonungslos zu Arbei¬
tn zu gebrauchen, es durch Vorstellungen aber dahin zu bringen wußte,
daß das Maß unserer Arbeit von seinem Gutdünken abhing.
Prag, das alte vielthürmige, an monumentalen Plätzen, hohen schweig¬
samen Palästen und misanthropischen Heiligenbildern reiche Prag, hat in neuerer
Zeit einigen frischen Schmuck angelegt. Seinem Karl, dem Universitäts¬
gründer, seinem faulen Wenzel und Franz zu Ehren hat es Denkmale zu
Pferd und zu Fuß gesetzt; sich selber zu Liebe hat es eine dritte Brücke über die
Moldau geschlagen und einen hübschen Quai gebaut. Wäre es nur auch in
anderer Beziehung etwas reizender geworden! Aber nach Allem, was der
Fremde dort hört, wird das Leben in der alten Stadt, trotz ihrer steinernen
Schönheit, trotz labender Bierquellen und lustiger Tanzmusik täglich unleid¬
licher. Der Kampf zwischen Deutschthum und Slaventhum, der sich hoff¬
nungslos in die Länge zieht, verscheucht die Gemüthlichkeit. Wenn der ruhige
Bürger noch so vertrauensvoll zur polizeilichen Vorsehung betet und wenn
er die Schlafmütze noch so tief über die Ohren zieht, doch schrecken ihn im
Schlummer häßliche Traumgestalten, die, mit Morgenstern und Dreschflegel
bewaffnet, grinsend durchs Fenster gucken. Zupft Charpie, Kinder, zupft Tag
und Nacht — sagt der früher erwähnte prager Doctor und Statistiker, es liegt
eine große Prügelei in der Luft, und wollte Gott, sie wäre schon vorüber.
Ohne eine kleine Dosis Blut und Eisen wird das Uebel ja doch nicht zu
heilen sein.
Ich selbst schlief in Prag drei Nächte, ohne ein Gespenst zu sehen. Da¬
für begegnete Hmir auf der Reise dahin ein kleiner Philister von geisterhaf¬
ten Aussehen und krankhafter Geschwätzigkeit. Es war ein Galanteriewaa¬
renhändler aus Wien, ein blasses dürres Männchen mit gewaltiger Adler¬
nase und einem langen, steif und schwarzgewichsten Schnurrbart, der ihm
während seiner lebhaften Bewegungen und Gebärden als Balaneirstange
zu dienen schien. Unter uns. sagte er, Prag ist finster, das wiener Leben ist
hell wie Gold und schmeckt wie Mandeln und Rosinen. Aber allen Respect
vor Prag! Sehen Sie, ich bin verheirathet. Ich werde doch einmal Kinder
kriegen; meinen Sie nicht? Gut; meine Kinder sollen nicht mit Galanterie¬
waaren handeln. Wie sie zwei Jahr alt sind, schicke ich sie zu meinen Ver¬
wandten nach Smichov. Warum? fragen Sie. Wie können Sie fragen
warum? Sie sollen mir ordentlich böhmisch (d. h, czechisch) lernen. Was ist
die Hauptsache bei der Erziehung? Französisch. Nun, so wahr ich lebe, kein
Deutscher kann gut französisch reden, er bringt den Ton nicht heraus. So'n
höhnisches Kind aber kriegt eine Zunge — die ist mit hundert Schleifsteinen
gewetzt. Und dann der Geist, die Construction! Zum Beispiel, der Deutsche
sagt: Ich wasche mich. Das ist falsch. Der Böhme setzt das „mich" voran
wie die Franzosen, nicht wahr? Der Böhme sagt: Ich dich betrüge, ich dich
habe betrogen, ich dich werde betrügen. Da sehen Sie gleich, daß die böh¬
mische Regel besser ist, denn sie stimmt mit der. französischen Grammaire
überein."
Die Station Pilsen erlöste mich von dem Galanteriemännchen- An seine
Stelle setzten sich zwei fein gekleidete ältliche Enkelinnen Libussa's. Von der
einen, die ihre Belesenheit zeigte und mit leiser slavischer Betonung sehr ge
wählt deutsch sprach, hatte ich einige czechische Complimente für Frau Ger¬
mania in Empfang zu nehmen. Sie erzählte von ihren Erlebnissen im Sommer
des Jahres 1866, von dem Schrecken der Hauptstadt nach der Schlacht bei
Königgrätz, und wie die Preußen in Prag „so charmante" Feinde gewesen
seien. Sie wohnte auf dem Roßmarkt, wo die feindlichen Truppen jeden
Morgen zum Appell aufmarschirten, und „sah aus dem Fenster die Bildung,
die unter ihnen herrschte" und daß sogar die Gemeinen von den Officieren
mit „Sie" angeredet wurden. Aber „dies Alles" wird jetzt bei uns ganz
so werden wie bei Ihnen, fügte sie bei. „Wie bei Ihnen"! Sie schien mich
also für einen Preußen zu halten und daher vielleicht ihre Zuvorkommenheit.
In der Hauptstadt machte ich ähnliche Erfahrungen. Anfangs überraschte
mich das gute Deutsch, in welchem Personen mit offenbar czechischen Gesich¬
tern mir überall auf jede Frage Auskunft gaben. Später glaubte ich zu be¬
merken, daß die Czechen mit diplomatischem Instinct zwischen den Deutschen
„aus dem Reich" und denen aus Oestreich unterscheiden. Glauben sie einen
Mann von „draußen" vor sich zu haben, sind sie eitel Sonnenschein und
Maienluft. Sie lieben nämlich den „echten" Deutschen, den eine politische
Grenze ihnen weit vom Leibe hält, und wenn er blos im Reich der „Idee"
existirte, würden sie ihn noch aufrichtiger lieben. Tritt er ihnen aber als
Mitbürger an die Seite, werden sie borstig. Viele kochen Gift und Galle
darüber, daß die Deutschböhmen nicht allesammt mit heißem Bemühen czechisch,
— oder, wie sie mit Nachdruck sagen, „böhmisch" — lernen. Denn, obgleich
es in ihrem Idiom keine Bezeichnung wie etwa dewM, deuil-Ki, bemaki oder
dekemi gibt, behaupten sie doch, daß „böhmisch" und nicht „czechisch" die
richtige Verdeutschung von „soft?« sei. Indem sie den Unterschied zwischen
dem geographischen Ausdruck „böhmisch" und der Stammesbezeichnung „czechisch"
leugnen, ergreisen sie gleichsam Besitz vom ganzen Königreich und machen aus
dem deutschen Landsmann entweder einen Fremdling oder einen mißrathenen
Sohn seiner Heimath, von dem sie mit patriotischer Entrüstung sagen können:
»Er ist ein Böhme und spricht nicht böhmisch!" Aber viele Oestreicher und
selbst Deutschböhmen huldigen gedankenlos demselben falschen Sprachgebrauch.
Im Auslande entstehen dadurch oft komische Begriffsverwirrungen. So er-
zählte mir einmal ein belgischer Reisender, daß man in Prag drei verschiedene
Sprachen spreche: deutsch, slavisch und böhmisch. Wie das Letzte klingt, war
ihm nicht recht erinnerlich.
Hier in Königgrätz giebt es czechische Lehranstalten für 1600 Musensöhne.
Auf dem Gymnasium, dem Obergymnasium und im Seminar wird jeder Un¬
terrichtsgegenstand, so gut es eben geht, in der Sprache Palatzky's vorgetra¬
gen. Der Aufschwung, den die czechische Cultur genommen, wurde mir auf
Grund der 1600 mit schreienden Farben ausgemalt. Fragte ich nach den
lebendigen Blüthen und Früchten czechischen Geistes, so wies man auf die
politischen Zeitungen, die illustrirten politischen Witzblätter, auf ein ange¬
fangenes neues Wörterbuch oder auf die archäologischen Arbeiten des Prof.
Wack hin. Auch sollen die wandernden Schauspieler, die im Winter König¬
grätz zu besuchen pflegen, sich durch die Lebhaftigkeit ihrer Darstellung aus¬
zeichnen, aber unter ihren Zugstücken sind die aus dem Deutschen und Fran¬
zösischen übersetzten Possen und Komödien die Mehrzahl. Es ist so ziemlich
die alte Leier wie vor 20 Jahren, als ich diese Gegend zum letzten Mal sah.
Der großen Volksmasse in Stadt und Dorf ist der Schnabel noch gerade so
gewachsen wie damals. Im kürzesten czechischen Zwiegespräch blinken einzelne
deutsche Wörter, die wie Lichtlein im dunkeln Walde den Weg zum Verständ¬
niß des Sinnes zeigen. Häufig wird das deutsche Zeitwort durch eine sla¬
vische Beugung naturalisirt. ?o schick-Hs (das schickt sich), ?o kost-ujs
(das kostet), Muß-ne hardt-oval (Ihr müßt handeln). Im Laufe eines
einzigen Tages zeichnete ich mir eine Menge solcher Fremdwörter auf, z. B.:
nett-o>vat, pump-cnvat, putz-oral, schwindl-oval, sticht-vo^at, wechsl-owat,
wichs-oval u. dergl. mehr. In einem gerichtlichen Nctenstück las ich den
Ausdruck Kvelb (Gewölbe), und ein Geschäftsreisender war r»a >va.uäru (auf
der Wanderschaft). Ganz unverändert bleiben viele Hauptwörter, namentlich
die zusammengesetzten, wie: ?o M Kunststück, Zugluft, Stockuhr, Streich¬
riemen, Todesmuth, Schnitzarbeit, Preßproceß, Hochgenuß.
Glauben Sie ja nicht — bemerkte mir ein Gelehrter — daß es uns an guten
Ausdrücken für jene Begriffe fehlt. So spricht nur die dienende und gewerb-
treibende Classe, die fortwährend mit Deutschen zu thun hat. — Natürlich,
und dieser Verkehr wird fortwährend steigen. Ihr werdet hoffentlich nicht
aus Purismus die Eisenbahn- und Handelsverbindungen mit Deutschböhmen,
Oestreich, Sachsen und Schlesien abbrechen. Die Dienstboten und Kutscher
aber, die ehrsamen Handwerker und Kaufleute, die jeden Augenblick deutsche
Wörter in den Mund nehmen während sie czechisch reden, machen ihre Ver¬
sündigung dadurch wieder gut, daß sie ihr Deutsch mit czechischen Wurzeln
spicken. Denn das ist der geistige Segen eines zweisprachigen Landes, daß
die Masse der Bevölkerung beide Idiome gleich oberflächlich kennt; der Bil-
dungsgrad pflegt da in demselben Verhältniß zu sinken oder zu steigen, in wel¬
chem das eine oder das andere. Idiom die Oberhand gewinnt. Scharf zu
denken und tief zu fühlen vermag auch der Begabteste nur in seiner Mutter¬
sprache; zwei Muttersprachen aber hat kein Mensch auf Erden.
Jedermann in Königgrätz zählt die „tüchtigen Czechen", die nicht Philo¬
logen von Fach sind, an den Fingern her. Tüchtige Czechen nennt man
Leute, denen in einer czechischen Zeitschrift oder Zeitung beinahe jedes Wort
verständlich ist und die einen rein czechischen Brief zu schreiben verstehen.
Manchen Einwohner, der mehr czechisch als deutsch redet, fragte ich vergebens
nach der Bedeutung gewisser nationaler Losungsworte. Was heißt denn
eigentlich Sokol (Falke)? — I nu jo. Sokol is weiter nix wie Verein. —
Danke schön; und was versteht Ihr unter „na 2äg,r" (gut Heil)? — Wenn
ich sag va, 2Üa,r, i nu, da mein ich: auf Wiedersehn, oder guten Appetit,
oder so was. — Neugierig, den Text zu einer oft gehörten Nationalmelodie
kennen zu lernen, kaufte ich mir ein Liederbüchlein für 10 Kreuzer und bat
einen Bekannten, der im Ruf eines ziemlich tüchtigen Czechen steht, mir das
„Käs üomov mu^?" (Wo ist meine Heimath? mit anderen Worten: Was
ist des Czechen Vaterland?) zu erklären. Aber schon vor dem Ende der ersten
Strophe stießen wir auf eine Klippe und in der zweiten auf eine Sandbank.
— Haben Sie kein Wörterbuch? fragte ich. — Ach was. Wörterbuchl rief er
beleidigt. Ich werde doch meine Sprache kennen, und der Sinn ist mir klar
genug. Nur kommt im Druck manchmal eine altböhmische oder krobatische
Phrase vor; und das schadet weiter nichts. — In solchen Nöthen hilft doch
nur das Lexikon oder ein gelehrter Thebaner, ein Professor oder ein durch
Fleiß und Talent ausgezeichneter Octavianer (Primaner). Dem letzteren
wieder kann es geschehen, daß er beim Uebersetzen um den entsprechenden
deutschen Ausdruck verlegen wird. Oefters redete ich zwölf- oder vierzehn¬
jährige Gymnasialschüler auf deutsch an, und es war nichts weniger als
Böswilligkeit von ihnen, daß sie mir die Antwort schuldig blieben. Aeltere
gewerbtreibende Czechen pflegen zehnmal besseres Deutsch zu reden als der
Octavianer, der an der Schwelle der Universität steht. Der Aufschwung
czechischer Cultur scheint eben vorzugsweise in dem abnehmenden Sinn für
deutsche Bildung zu bestehen. Die jüngere Generation fühlt eine patriotische
Befriedigung darin, daß sie die teutonischen Autoren ungefähr so genau wie
die todten Lateiner kennen lernt; wenn die Sprache Schiller's und Goethe's
ihr so fremd klingt wie dem gebildeten Russen oder Franzosen, wandelt sie
ein Bewußtsein der Vornehmheit an und sie glaubt einer selbständigen und
großen Nation anzugehören.
Daß man die czechische Jugend lehrt das heilige Rußland anzubeten,
ist kein Geheimniß. Da jedoch der russische Name selbst in Czechien nicht
allgemein im besten Geruch steht, zeigt man dem jugendlichen Enthusiasmus
das Schattenbild der künftigen Panslavia und schmückt es mit allen erdenk¬
lichen Tugenden. Wir wollen es den verschiedenen Zweigen der slavischen
Race nicht verdenken, daß sie alles Edle und Gute „slavisch" nennen; ein
gewisser Grad von Selbstgefühl-ist gesund. Sie bleiben dabei nicht stehen,
sondern schreiben gern jeden ungewaschenen Fleck an ihrer moralischen Haut
der Berührung mit dem Deutschthum zu. In Rußland pflegten die Demo¬
kraten noch kürzlich alle Rohheiten ihres Czarismus von deutschen und mon¬
golischen Einflüssen herzuleiten. Ein im I. 1864 in Königgrätz interntrter
polnischer Flüchtling, der über das Benehmen der Einwohner Grund zu
klagen hatte, behauptete von den Czechen, daß sie keine slavische Ader im
Leibe hätten, sondern meist germanisirtes Gesinde! seien. Bloße Retour¬
kutsche, wie die Studenten sagen, denn an der Weichsel und Newa weiß man
sehr gut, daß wir slavisch und sclavisch für nahezu gleichbedeutend halten.
Mögen sie sich mit Worten rächen. Was aber dem Unbefangensten mi߬
fallen muß. ist die Sucht dieser Race ihre offenbaren Fehler und Gebrechen
als nationale Vorzüge zu preisen und zu hätscheln. Nicht wenig bilden sich
die Slaven auf die melancholische Eintönigkeit ihrer Volksmelodien ein; diese
Weisen klingen oft reizend, aber bald sehnt man sich etwas Frischeres zu
hören, denn die Monotonie macht zuletzt den Eindruck einer aus dem Ge¬
fühle innerer Armuth entspringenden Traurigkeit. Eben so geht es Einem
mit ihren endlosen und häßlichen Verkleinerungswörtchen, wie überhaupt mit
der vielgerühmten slavischen Weichheit; ein etwas strammeres Wesen würde
dem Deutschen mehr zusagen. Die Weichheit ist häufig nur ein beschönigen
des Wort für Fügsamkeit und Schmiegsamkeit, für Unbeständigkeit und
Schwäche. Und was beweisen am Ende die klagenden Melodien und die
ewig liebkosenden Verkleinerungswörtchen? Die Russen singen in Moll, aber
sie hauen in Dur. Und Väterchen Nikolaus konnte die Knute schwingen,
daß man das Geschrei seiner Kinderchen bis auf den atlantischen Ocean
hörte. —
Wie schön wäre Prag, welch heiteres Licht könnte sich über ganz Böh¬
men ergießen, wenn die Czechomanen nicht darauf bestünden, ihr geistiges
Antlitz dem moskowitischen Osten zuzuwenden und der deutschen Bildung den
Rücken zu kehren! Aber der Belagerungszustand, der jetzt auf kurze Zeit über
Prag waltet, wird dem trüben Strom der czechischen Bewegung keine andere
Richtung geben.
Der Kampf, der hierzulande gegenwärtig auf dem Gebiete des Volks-
Unterrichts entbrannt ist, verdient es aus vielfachen Gründen, daß auch
das Ausland von ihm Notiz nimmt. Ueberall wo Staat und Kirche in
Conflict gerathen, darf die lebhafte Theilnahme Aller vorausgesetzt werden;
tritt dann noch hinzu, daß die Schule den Zankapfel bildet, so steigert sich
das Interesse in dem Maße als aller Fortschritt solidarisch und die Cultur¬
elemente aller Länder in Wechselwirkung stehen. Die Angriffe vollends, welche
in diesem Momente der Volksschulenentwurf unseres Cultusministers erfährt,
bieten ganz sonderbare, auf eine unserer großen politischen Parteien wunder¬
liche Streiflichter werfende Erscheinungen. Derselbe Gesetzentwurf nämlich,
den die katholische Hierarchie mit tiefem Grollen aufnimmt, er muß sich gleich-
Zeitig auch die heftigsten Vorwürfe von protestantischer Seite gefallen lassen,
und wer in erster Reihe unter der Fahne der kirchlichen Autonomie und
Zum Schutze der „confessionellen Schule" gegen Baron Eötvös zu Felde
Sieht, ist kein Anderer, als der protestantische Curator und Führer der Reichs-
tags-Linken, Herr Koloman von Tisza. Es geschieht so das Unglaubliche:
ultramontane Federn posaunen das Lob des Curators der reformirten Kirche
aus und das Haupt der Linken findet seine kräftigsten Stützen in den Zse-
denyi's und Somssich's der äußersten Rechten; unter dem Zujauchzen der
Römlinge wird das in blutigen Kämpfen gegen sie errungene Panier der
protestantischen Autonomie entfaltet, der Gesetzentwurf aber, welcher das
Princip der Lehr- und Lernfreiheit bis auf die Elementarschule herab ver¬
pflanzt und die politische Gemeinde ganz autonom ihre Schulen — freilich
nicht-confessionelle — organisiren läßt, stößt auf die heftigste Opposition
Jener, die gewohnt sind, der Deäkpartei gegenüber sich mit dem ausschlie߬
lichen Privileg echten Liberalismus zu brüsten. Zur Beschönigung dieser
Ungeheuerlichkeit greift Tisza zur bekannten, in der reactionären Rüstkammer
stets vorräthigen Waffe, zur Behauptung nämlich: „der geringere oder größere
Grad von Freiheit sei nicht der alleinige Maßstab, um den Werth von In¬
stitutionen und Gesetzen zu schätzen." Wenn irgendwo, gilt aber hier das
lui s'excuse s'aeeuss und die angeführte Behauptung ist wohl die präg¬
nanteste Charakterisirung all' des mittelalterlichen Staubes, den der Führer
der Linken diesmal aufgewirbelt — zur Rettung des Protestantismus, wie
der Herr Curator vorgibt, in Wirklichkeit aber zur Erniedrigung des echten
protestantischen Geistes, der. im Gegensatz zu seinem jüngsten Interpreten,
den neuzeitlichen Anforderungen des Staats an die Volksschule nicht nur
nicht feindlich, sondern geradezu als deren erste Quelle bezeichnet werden
muß. Ein neuer Beleg dafür, wohin übergroßer Glaubenseifer, durch
politische Oppositionssucht geschürt, zu führen vermag. Ja, so weit ging
hier der Fanatismus für die confessionelle Schule, daß man von dieser
Seite die Drohung hören konnte, die confessionelle Frage sei in unserem
Vaterlande schon einmal vor Jahrhunderten durch das Schwert entschieden
worden, und würden diese Entscheidungen heute angetastet, so müßte man von
Neuem an die Waffen appelliren, und Tisza war es, der in einer geheimen
Abgeordnetensitzung ungescheut den Antrag stellte, man möge in die Bera¬
thung des Schulgesetzes erst dann eingehen, wenn der Herr Cultusminister
„erschöpfende Daten" über die derzeitigen Verhältnisse unseres Volksschul¬
wesens, seine Mängel und die zu ihrer Beseitigung nöthigen Kosten dem
Hause vorzulegen vermag, was für denjenigen, der die Renitenz kennt, deren
sich die protestantischen Superintendenzen jedesmal, wenn die politische Be¬
hörde ihnen statistische Daten abverlangt, befleißen. Nichts weniger bedeutete,
als daß der Eötvös'sche Gesetzentwurf in dieser Session gar nicht mehr zur
Verhandlung gelange. Der „ewige Jude der ungarischen Gesetzgebung", wie
der geistvolle Kazinczy vor zwanzig Jahren schon die Unterrichtsfrage nannte,
soll also nach dem Wunsche Tisza's und seines eingestandenermaßen dies¬
mal illiberalen Anhangs noch immer nicht zur Ruhe kommen, unbekümmert
darum, daß ein Drittheil sämmtlicher Gemeinden Ungarns sich ohne jede
Volksschule, mehr denn eine Million Kinder sich ohne jeden Unterricht be¬
finden und daß ohne Berathung des Schulgesetzentwurfs der Minister außer
Stande ist, an dieser mehr als beschämenden Lage Etwas zu ändern. — Doch
es ist Zeit, daß ich den geehrten Leser mit den wesentlichen, vorzugsweise
vom Conflict berührten Bestimmungen des Gesetzentwurfs bekannt mache.
Alle Kirchen, bestimmt der Entwurf, dürfen aus eigenen Kräften
Volksschulen errichten und erhalten; wo keine oder doch keine der Orts¬
bevölkerung entsprechende confessionelle Schule besteht, ist die Gemeinde
zur Errichtung einer Schule verpflichtet, die confessionell sein kann, wenn
alle schulpflichtigen sich zur selben Confession bekennen, die dagegen
nicht - confessionell (simultan) sein muß, wenn unter den schulpflichtigen
Kindern 30 einer anderen Confession angehören; für den Religions¬
unterricht sorgen in diesen Fällen die einzelnen Konfessionen; zur Er¬
richtung solcher Schulen darf die Gemeinde eine Schulsteuer bis zur Höhe
von 5 Procent der directen Steuer von allen ihren Mitgliedern, auch von
jenen, die eine eigene confessionelle Schule erhalten, erheben; zu gleichem
Zwecke ist von den noch nicht commassirten Gütern wenigstens des
Areals auszuscheiden; reichen die genannten Gemeindemittel nicht hin, so
kann das betreffende Comitat eine allgemeine Schulsteuer bis zu 3 Procent
der ordentlichen Steuer ausschreiben und im Fall auch dies zur Deckung
sämmtlicher Kosten nicht genügt, dann hilft die Staatskasse aus; eine Schul¬
commission, von der Gemeinde constituirt, wählt die Lehrer, wacht über die
Pünktliche Erfüllung der Schulgesetze, handhabt das Schulvermögen u. s. w.;
die gesammten Volksschulangelegenheiten eines Comitats verwaltet ein vom
Unterrichtsminister ernannter Comitatsschulinspector und ein unter dessen
Präsidium stehender Schulrath, dessen Mitglieder von den verschiedenen Con-
fessionen, den Lehrern der Gemeinde- wie der konfessionellen Schulen im
Comitat und aus der Mitte der Comitatsrepräsentanz selbst gewählt werden;
vermöge des Oberaufsichtsrechts des Staats ist es Amt und Recht der Re¬
gierung, auch die confessionellen Schulen überwachen zu lassen, zu sehen, ob
die Lehrer befähigt und die vorgeschriebenen Gegenstände vortragen, ob die
Schulräumlichkeiten, die Lehrhilfsmittel die geeigneten u. s. w., und falls
selbst nach der von Seite der Negierungsorgane ergangenen Warnung
etwaige Mängel nicht abgestellt worden, so kann die Regierung auf Empfeh¬
lung des Comitatsschulraths die Schule schließen lassen. Der Gemeinde
oder Confession läßt demnach der Entwurf ihre volle Autonomie der
Schule gegenüber, den staatlichen Einfluß beschränkt er auf pure Äußer¬
lichkeiten und auf die Forderung allein, daß die Lehr- und Lernfreiheit
nicht zur Freiheit Nichts zu lehren und Nichts zu lernen ausarte; woher also
die große Angst der Gegner, was läßt Herrn v. Tisza und seinen Anhang
so sehr für den Bestand und die Autonomie der confessionellen Schulen fürch¬
ten? Wissen die Protestanten erst, heißt es, daß wenn ihre confessionelle
Schule den Anforderungen nicht entspricht, eine Gemeindeschule errichtet wird,
so werden sie wenig Neigung zeigen, ihrer Sonderschule weitere Opfer zu
bringen; werden sie vollends gezwungen, die Steuer zu Gunsten der nicht-
confessionellen Gemeindeschule mitzutragen, dann wird jene Neigung auf ein
Minimum herabsinken. Wie eigenthümlich doch, daß der Herr Curator ein
solch geringes Vertrauen in den confessionellen Eifer seiner Glaubensgenossen
besitzt und es nicht scheut, ihnen ein solch religiöses Armuthszeugniß auszu¬
stellen! Und was aus dem Munde des Führers der Linken nicht minder
auffällig klingt, daß er die Protestanten von der Pflicht zur Gemeindeschule
beizutragen befreien möchte: als läge der Volksunterricht im Belieben der
einzelnen Confessionen und als gehörte er nicht vielmehr zu den allerersten
Aufgaben des Staats, der Gesammtheit seiner Bürger. Hat Herr v. Tisza
denn nie einen Blick in die Statistik der Verbrechen und Gefängnisse gethan,
um zu erfahren, daß ihre Ziffer in umgekehrtem Verhältniß zu jener der
Volksschulen steht und daß es daher dem Staate des 19. Jahrhunderts obliegt,
Mr Verminderung jener für die Vermehrung dieser Sorge zu tragen? Haben
wir ferner Herrn v. Tisza erst daran zu erinnern, daß das Wahlrecht ein
leeres Wort, wenn der Wähler kaum des Lesens und Schreibens kundig, daß
die wichtigste demokratische Errungenschaft der 1848er Gesetze so lange ein
todter Buchstabe bleibt, als Hunderttausende an die Wahlurne treten, die
nie einen Elementarunterricht genossen! Da hatte die Linke unseres 1848 er
Reichstags — und auch sie zählte Protestanten genug in ihrer Mitte— ganz
andere Ansichten; nicht nur würdigte sie Räzmändy's Frage, ob denn auch
die Erhalter einer protestantischen Schule zu Gunsten der Gemeindeschulen
besteuert werden sollten, nicht der geringsten Beachtung, sie verlangte geradezu,
daß die Errichtung konfessioneller Schulen überhaupt nicht mehr gestattet
werden sollte. Wo ist nun der Grund zu suchen, daß die Männer der heu¬
tigen Linken, die so gern an das Jahr 1848 erinnern, ihren Sitzen treuer
geblieben als ihrer damaligen Ueberzeugung? Hat vielleicht das Bedürfniß
nach confessionellen Schulen während der abgelaufenen zwei Decennien zu-,
jenes nach Simultanschulen abgenommen? Oder macht etwa die Stellung,
welche Ungarn seit dem erfolgten Ausgleich in der europäischen Staatenfamilie
einnimmt, es ihm überflüssig, für die Bildung der gesammten Nation bis zu
ihren niedersten Schichten herab und ohne Unterschied der Konfession zu sor¬
gen, und sollte diese staatliche Pflicht nicht vielmehr durch den Zuwachs an
Macht und Einfluß erhöht worden sein? Und selbst wenn der streng con-
fessionelle Standpunkt festgehalten wird, wie will v. Tisza es rechtfertigen, die
Erhalter einer protestantischen Schule von der Unterstützung der Gemeinde¬
schule zu befreien, da ja die Gemeindeschule eben dem Postulate der Gleich¬
berechtigung der Confessionen nachkommt und wie sie an dem einen Ort dem
Katholiken als neutrales Asyl dient, so wird sie es an einem andern dem
Protestanten?*) Herr v. Tisza hat sich durch seine Angriffe gegen den Schul¬
gesetzentwurf an der Freiheit, an der der Schule und des Gewissens, ver¬
sündigt und büßt dafür in allen seinen weiteren Folgerungen hart genug.
So hat er einige seiner Hauptgesichtspunkte dahin angegeben: der Staat
soll dort, wo die confessionelle Schule einer verhältnißmäßig geringen Aus¬
hilfssumme (etwa der Gesammtkosten) zu ihrer Erhaltung benöthigt, ihr
diesen Beitrag gewähren: solche Schulen sollen dafür auch von Kindern an¬
derer Confessionen besucht werden, unter denselben Bedingungen wie von den
Kindern der die Schule erhaltenden Eltern, nur daß für ihren religiösen Un¬
terricht die eigene Konfession zu sorgen hat; welcher Einfluß auf diese Schu¬
len der Confession gewahrt bleiben, welchen Rechtskreis die Staatsregierung
haben soll, wird nach Vernehmung der Confessionen und Sachverständiger
festgestellt. Es ist das das einzige Positive, dem wir bis jetzt von Seite der
Linken begegnet; um ihr gerecht zu werden, wollen wir es daher etwas näher
ansehen. Riecht es nun nicht sogleich nach mittelalterlichen Moder, wenn
Herr v. Tisza ganz ernst empfiehlt, der Staat solle den Kirchen zur Erhaltung
confessioneVer Schulen Geldbeiträge- gewähren, gerade.als lebten wir noch
in den Zeiten, da die Klöster die einzigen Stätten der Bildung waren?
Sehen wir dabei von den Kraal's und seinen nicht .allzu spärlich gesäten
Protestantischen College» ganz ab, so muß ja Tisza's zu Gunsten der confes-
sionellen Schule gestelltes Verlangen nothwendig auch den katholischen Schulen
zugute kommen und wir hätten- so die schöne Aussicht, Schulen vom Staat
unterstützt zu. sehen, die ihre geistige Richtung ausschließlich vom Primas er¬
hielten, demselben Cardinal, der noch ganz vor Kurzem bei der Trauung des
Fürsten Esterhazy an den jungen Gemahl die mahnenden Worte gerichtet:
den Fußtapfen seiner Ahnen zu folgen, „die nie ihr Knie vor den Forderun¬
gen der Zeit gebeugt!" Nein, der Staat mag und soll die Kirche und ihre
Anhänger auf dem Gebiete der Volksschule gewähren lassen, das ist er ihrer
autonomen Stellung schuldig; einer Schule aber Unterstützung geben, auf
deren geistige Richtung ihm jeder Einfluß versagt ist. das wäre der Selbst¬
verleugnung zu viel. Aber selbst wenn er's auch wollte, er könnte es nicht.
In den meisten Gemeinden bestehen 2—3 confessionelle Schulen, deren große
Mehrzahl der Staat, dem Wunsche T.'s gemäß, zu unterstützen hätte; anstatt
daher, wie der ministerielle Entwurf empfiehlt, in solchen Gemeinden eine
nicht-confessionelle Gemeindeschule aus den Mitteln der Gemeinde, und wo
diese nicht hinreichen, aus solchen des Comitats und des Staats zu errichten,
müßten alle bestehenden confessionellen Schulen und zwar vom Staat allein
Geldunterstützung erhalten, denn von einer Besteuerung der Gemeindemitglie¬
der kann wohl da nicht die Rede sein, wo es sich um eine confessionelle
Schule handelt. Was soll man ferner davon halten, wenn T. meint, auch
die Kinder anderer Confessionen sollten in die eine, vom Staat unterstützte
confessionelle Schule gehen, also protestantische Kinder in die katholische und
katholische Kinder in die protestantische? Von zweien eins: hat die confes¬
sionelle Schule ihren confessionellen Charakter, dann können wir Kindern an¬
derer Confessionen nicht den Besuch derselben empfehlen; hat sie ihn nicht,
wozu dann ihrer Erhaltung solche Opfer bringen? Wohl um in dieser Rich,
tung eine Vermittlung anzubahnen, vielleicht auch um die vom Staat gefor¬
derte Selbstverleugnung ein wenig zu mildern, läßt T. in den letzten der von
ihm angeführten Zeilen durchblicken, daß er den Einfluß der Confession auf
diese Schulen nicht ganz ungekürzt gewahrt wissen will; nun, dann hätten
wir neben den bestimmt confessionellen und nicht-confessionellen auch halb-con-
fessionelle Schulen, Zwitteranstalten, wie geschaffen, um die Conflicte zwischen
Staat und Kirche permanent zu machen.
Gewiß waren alle diese Schwächen der Offensive auch den An¬
greifern selbst nicht unbekannt geblieben, und es mußte daher nach
einem Schlagwort gesucht werden, geeignet diese Mängel zu verdecken.
Man durfte nicht lange suchen: „Autonomie" lautet das Schlagwort
aller Gegner des ministeriellen Unterrichts - Entwurfs, die Autonomie
der Kirche ist in Gefahr, rief zuerst Tisza, rufen jetzt mit ihm im Chorus
die Wortführer des Ultramontanismus. In Deutschland, an der Geburts¬
stätte des Protestantismus, wo neben dem Kampf um die Selbstständigkeit der
Kirche im Staat der um die Unabhängigkeit der Schule von der Kirche ein¬
hergeht und die Ersten, die die Schule frei von jedem geistlichen Einfluß
wissen wollen, im Geiste echten Liberalismus nicht nur, sondern zugleich in
dem eines wahrhaften Protestantismus zu handeln glauben, wird man es
schwer begreifen, wie bei uns eben die sich gerne „liberal" nennende Partei
aus allen Kräften für den Fortbestand der konfessionellen Schulen in die
Schranken tritt und dem Staate, dem parlamentarischen Staate des 19. Jahr¬
hunderts, der im Interesse seiner Bürger das Ueberwachungsrecht über sie
in Anspruch nimmt, im Namen der protestantischen Kirche ein non pcissumus
entgegensetzt. Mag sein, daß die Gewohnheit auch hier ihr Recht geübt.
Seit der Periode des linzer und prager Friedens bis zu den letzten Kämpfen
gegen das Thun'sche Patent involoirte das Festhalten an der Autonomie
der protestantischen Kirche zugleich die Wahrung und Förderung der gesamm-
ten nationalen Freiheit und Civilisation und da könnte es denn dem refor-
mirten Curator nachgesehen werden, wenn er, sür die Strebungen seiner
Kirche fanatisch eingenommen, sich eines gewaltigen Anachronismus schuldig
macht und dort Gefahren erblickt, wo sie längst geschwunden; aber vom
Führer der Linken durfte man jedenfalls ein richtigeres Erkennen erwarten
und so wird man zur Annahme gedrängt, es sei eben die Oppositionssucht
guemä mZmö, die diesmal Herrn v. Tisza geleitet; der Gegner des Aus-
gleichs-Ministeriums gönnt demselben den Ruhm nicht, dem Unterrichtswesen
in Ungarn eine neue Aera zu eröffnen, und vergißt in der Hitze des Partei¬
kampfs, daß die Waffen, deren er sich bedient, längst verrostet sind. Die
Verlockung, an die Autonomie zu appelliren, lag allerdings für Herrn v. Tisza
sehr nahe. Es ist der Linken gelungen, durch ihren den Ohren der großen
Menge immer noch sympathischen Appell an die Comitats-Autonomie das
Ministerium davon abzuhalten, eine unserer wichtigsten Existenzfragen, die
Regulirung der Municipien, die Feststellung ihres administrativen, judiciellen
und politischen Wirkungskreises, dem gegenwärtigen Reichstag zur Erledigung
vorzulegen und so mochte sie mit einigem Recht hoffen, das Schlagwort
Autonomie werde auch die Unterrichtsfrage g.ä grÄöoas ealsnä^s hinausschie¬
ben. Einen wesentlichen Unterschied übersah sie jedoch dabei. In der Co-
mitats-Angelegenheit ist es dem Ministerium ganz und gar unmöglich, der
Autonomie in dem Sinne eine Concession zu machen, wie sie bisher von den
Municipien geübt wurde; soll die Justiz den Anforderungen der Jetztzeit
nachkommen, soll die Verantwortlichkeit des Ministeriums zur Wahrheit
werden, so muß der Cantönli-Wirthschaft, der vielgerühmten Comitats-Sou-
verainetät ein Ende gemacht werden; ohne das ganze parlamentarische Leben
in seinen wichtigsten Elementen zu gefährden, kann das Ministerium hier
keine Concession machen und muß ruhig abwarten, bis die öffentliche Mei¬
nung über die populären Phrasen hinweg an den Kern der Frage geht und
ihn erkennt. Ganz anders steht dagegen die Regierung der Volksschulenfrage
gegenüber. Die Autonomie, die der Eötvös'sche Gesetzentwurf dabei der
Gemeinde, der Confession vindicirt, reicht bis an die äußersten Grenzen und
der ganze Lärm, den Herr v. Tisza im Namen der kirchlichen Autonomie
erhebt, ist Nichts als Scheinlärm. Wann immer die protestantische Kirche
in den letzten Decennien zur Wahrung ihrer Autonomie das Wort ergriff, war
es der Gesetzartikel 179"/.: 26, den sie als ihr Palladium anrief. Derselbe
gestattet nun den protestantischen Gemeinden die Errichtung von Schulen
und Sammlungen von Beiträgen für sie, stellt ihnen die Wahl und Anzahl
der Lehrer, sowie die Bestimmung über die Reihenfolge der Lehrgegenstände
und die Art in der sie zum Vortrag gelangen sollen anheim: lautet Dinge,
hinsichtlich deren auch der gegenwärtige Gesetzentwurf den Gemeinden und
Confessionen den freiesten Spielraum läßt; es wäre denn, daß man es für
eine Beschränkung derselben ansieht, wenn zugleich ein Minimum der Lehr¬
gegenstände als Norm aufgestellt und verlangt wird, daß die Lehrer ihre
Befähigung zum Unterricht nachweisen. Ja, Eötvös hat der Autonomie so¬
gar noch weitere Grenzen gezogen, als es der angeführte Gesetzartikel thut.
Dieser bestimmt nämlich, daß „auf die Unterbreitung der Stände das durch
Se. MajestätfestzustellendeUnterrichtssystem auch auf diese (protestantischen)
Schulen ausgedehnt werden kann", eine Begrenzung der Autonomie, von
der der ministerielle Gesetzentwurf Nichts weiß, ein beredtes Schweigen, das
allein jedem Unbefangenen die Ueberzeugung verschaffen muß, wie sehr gerade
unserem Cultusminister bei der Schaffung seines Entwurfs das Ideal der
Autonomie vorgeschwebt.
Aber, klagen die Gegner, der Minister behält sich das Recht vor, auf
Empfehlung des Comitats-Schulraths die Schule schließen zu lassen; liegt
hierin nicht eine Verletzung der Autonomie? Man sollte meinen, wer mit
dem Gesetzartikel 179°/.: 26 Sr. Majestät die Ausübung des Ueberwachungs-
rechts durch die gesetzlichen Behörden zuerkennt, der müsse als nothwendiges
Corollar der Regierung auch das Recht vindiciren. die Schule zu schließen,
wenn sie ihrem Zweck nicht entspricht; oder soll der Comitatsschulinspector
nur immer mahnen, ohne je dem Uebelstande effectiv zu steuern? Die Bürg¬
schaft hingegen dafür, daß mit der Schließung nur im äußersten Fall vor¬
gegangen werden soll, liegt wohl darin, daß ja im Schulrath der Lehrkörper,
die Geistlichkeit und die Comitatsrepräsentcmz ihre Vertreter haben, daß
schließlich der Minister jedesmal im Unterhause zur Verantwortung gezogen
werden kann. Auf der anderen Seite wird der Herr Curator v. Tisza aus
vielfacher eigner Erfahrung wissen, daß auch der protestantischen Schule eine
energische Hand Noth thut. Vor zehn Jahren schon haben die evangelischen
und reformirten Kirchendistricte einen eignen Lehrplan ausgearbeitet, der mit
denen in der Schweiz und in Deutschland wetteifern kann; aber bis auf den
heutigen Tag sehen wir ihn kaum in dem sechsten Theil der Schulen einge¬
führt. Wie viele Schulen kennen wir ferner, in denen der Schullehrer
200 Schüler unter sich hat und dabei noch als Dorfnotar beschäftigt ist;
wie viele, in denen nur vier Monate Unterricht ertheilt, in denen außer
Lesen und Schreiben Nichts gelehrt wird. Ja, im debrecziner Resormirten-
District. der nicht weniger als 700,000 Seelen zählt, bestehen zwei vier-
classige Gymnasien, deren gesammter Lehrkörper aus je einem Professor
besteht! Und solchen Zuständen gegenüber will man das Oberaussichtsrecht
der Negierung lahmlegen? Sollte übrigens zur vollkommenen Wahrung der
Autonomie verlangt werden, daß die der Schließung der Schule vorausgehen¬
den Warnungen unter Berücksichtigung der protestantischen Kirchenbehörde aus¬
zugehen haben, so dürfte der Cultusminister kaum etwas dagegen einwenden.
Wiederholt wird von Tisza und seinen Anhängern hervorgehoben, daß
die Lage des Protestantismus dem Katholicismus gegenüber und der Ein¬
fluß des katholischen Clerus noch immer solche seien, die der protestantischen
Kirche Vorsicht und Wachsamkeit nach allen Richtungen hin zur strengen
Pflicht machten; noch sei der Katholicismus im Besitze vieler Vorrechte, denen
gegenüber der Protestantismus .seine Defensivstellung nicht aufgeben darf und
welche zu behaupten die Jugend in der Schule die nöthige Anregung erhält;
insbesondere sei die katholische Kirche durch reiche Fundationen begünstigt
und werde daher leichter auch ohne Unterstützung Seitens ihrer Gläubigen
und des Staats und ohne jedes Schulgeld ihre confessionellen Schulen ge¬
bührend investiren können, um ihnen die Schmach der Schließung zu ersparen
und ebenso die Concurrenz mit den Gemeindeschulen zu ermöglichen, als dies
die protestantische Kirche vermag. Liegt es nun fern von uns, die Dring¬
lichkeit eines interconfessionellen Gesetzes, das die papierne Gleichberechtigung
der Confessionen zur vollen Wahrheit machte, wegzuleugnen, so ist es doch
für Jedermann klar, daß autonom, wie die protestantische Schule durch den
Gesetzentwurf gestellt wird, sie von'keinerlei in der Regierung etwa sich
geltend machenden clericalen Einflüssen berührt werden kann. Ebenso über¬
trieben ist die vorgebliche Angst, die protestantischen Schulen würden hinter
den katholischen zurückbleiben; das war nie der Fall und kann es nie sein,
und daß Herr v. Tisza zu einer solchen Waffe greifen muß, beweist nur,
Wie wenig haltbar ihm selbst diesmal seine Sache erscheint. Wenn schließlich
der protestantische Glaubenseifer betont wird, den die Jugend aus dem Schul¬
unterricht schöpfen soll, so möchte ich dagegen mit einem unserer hervorra¬
gendsten protestantischen Publicisten bemerken: „durch die Idee der Gemeinde¬
schule wird wenigstens der Anfang, dazu gemacht, von den Schultern unserer
Kirche endlich eine Last zu nehmen, die ihr als Kirche eigentlich nicht zukommt
und die sie bis jetzt bedauerlich genug daran gehindert hat, ihre ganze Kraft
dem Erblühen ihres inneren Glaubenslebens, der Errichtung wohlthätiger
Anstalten zuzuwenden." Ja, der Führer unserer Linken mag sich dagegen
wehren so viel er will, es bleibt doch wahr: die confessionelle Schule diente
den Protestanten in vergangenen Tagen als Schutzmauer, unter den gegen¬
wärtigen staatlichen und kirchlichen Verhältnissen hat sie nur mehr die Be¬
deutung einer chinesischen Mauer. Das ist so wahr, daß unter den Ver¬
trauensmännern, die auf Empfehlung der Kirchenobern von der das Schul¬
gesetz berathenden Reichstagscommission zum Abgeben ihrer Voden eingeladen
wurden, die protestantischen Geistlichen nur theilweise, die katholischen da¬
gegen insgesammt sür Tisza's Ansicht gestimmt haben, eine Thatsache, die
Wohl am besten Herr v. Tisza darüber belehren könnte, wie wenig Hoffnung
die katholische Kirche hat, durch das Eötoös'sche Schulgesetz ein Uebergewicht
über die protestantische Kirche zu gewinnen.
Vollends fällt Herr v. Tisza aus der Rolle eines Führers der Linken,
wenn er stets von Neuem frägt, woher der Cultusminister die Millionen
nehmen wird, die sein Neformationsplan in Anspruch nimmt. Ganz ab¬
gesehen davon, daß die von Tisza gewünschte Unterstützung der konfessio¬
nellen Schulen von Seite des Staats keine besondere Schonung des Staats¬
säckels verräth, so darf es sicher als seltene Erscheinung im parlamentarischen
Leben verzeichnet werden, daß im Unterhause dem Ministerium vorgeworfen
wird, es verlange zu viel für den Unterricht und daß dieser Vorwurf von
den angeblich fortgeschrittenen Liberalen ausgeht. Baron Eötvös feiert da
einen Triumph, auf den er zwar lieber verzichtet hätte, den ihm aber die
vaterländische Geschichte gewiß zum größten Ruhm anrechnen wird. Dem
ruhigen klaren Denker, der seit Decennien über den Unterrichtsplan mit sich
zu Rathe geht, wird entgegengehalten, daß er die Frage überstürzt, sich Jllu-
sionen hingibt und mit seinen idealen Ansichten Bestehendes niederreißt ehe
er Neues aufbaut, wird ihm von Solchen entgegengehalten, deren Politik seit
Jahren bekanntlich nach unerreichbaren Zielen strebt. Und welcher Art sind
die Berechnungen, mit denen Herr v. Tisza dem Gesetzentwurf entgegentritt?
Von den 14,000 confessionellen Schulen, die Ungarn jetzt besitzt, beginnt er
seinen Calcül, werden nach Annahme des Gesetzentwurfs 4000 (sie) in Function
bleiben, und dieser an Ungeheuerlichkeit ihres Gleichen suchenden Voraus¬
setzung schließt Herr von Tisza die consequente Folgerung an, daß Baron
Eötvös jährlich 6 Millionen Gulden benöthigen werde, um nur die bisherige
Anzahl an Volksschulen zu erhalten, während er doch auch in mehreren
Tausenden Gemeinden, die bis jetzt ohne Schule sind, solche errichten müßte.
Nun, Baron Eötvös mag gegen das Compliment, das ihm zumuthet, er
werde in demselben Moment 10,000 bereits bestehende Schulen schließen, in
welchem er, auch wenn diese in Thätigkeit gelassen werden, 7000 neue zu
errichten hat, in dem Compliment Trost suchen, das der Herr Curator damit
zugleich den eignen Schulen macht, deren Schließung er voraussetzt, weil der
Cultusminister von ihnen Leistungen verlangt, welche selbst von den Lehrern,
die vor der Reichstagscommission ihr Votum abgegeben, als ein Minimum
erklärt werden. Baron Eötvös hat keinen Anspruch auf eine gerechtere
Behandlung von Seite des Herrn v. Tisza als die protestantischen Schulen
und mag es der Oppositionssucht des politischen Parteiführers zuschreiben,
wenn der Herr Curator sich so arg versündigt.
Einen wesentlichen Dienst hat indeß Herr v. Tisza jedenfalls der Unter¬
richtsfrage geleistet. Seine fortgesetzten Angriffe gegen den Gesetzentwurf
haben das Interesse der öffentlichen Meinung für die Frage erhöht und zu¬
gleich den Freunden des Entwurfs den erwünschten Anlaß geboten, sie nach
allen Seiten hin zu beleuchten. Die Discussion in den Organen der Presse
hat so jener im Reichstagssaale gehörig vorgearbeitet und läßt an einer gün¬
stigen Erledigung nicht länger zweifeln. Der Genius der Nation wird es
nicht zugeben, daß mittelalterliche Kircheninteressen den Sieg davon tragen
über eines der ersten Postulate der heutigen staatlichen Gesellschaft, den
freien, durch keinerlei confessionellen Einfluß getrübten Unterricht. Mag
darum die Kirche ihre Schulen forterhalten, so lange sie es kann; an den
ungarischen Staat tritt die Forderung heran, durch Gründung, Hebung und
Vermehrung von Gemeindeschulen jenem Postulate nachzukommen, und er
wird ihm nachkommen.*)
Der Verfasser, der uns durch seine Parlaments- und Reichstags-Almanache
schon früher als unisichtiger und gewissenhafter Sammler bekannt geworden, hat
in dem vorliegenden Werke ein verdienstvolles Unternehmen begründet, welches
auf Zusammenfassung alles legislativen, statistischen und administrativen Mate¬
rials des norddeutschen Bundes und des Zollvereins absieht. Von den acht Heften,
welche den ersten, das I. 1868 betreffenden Theil umfassen sollen, sind fünf bereits
erschienen. Der Bericht der Bundesrathsausschüsse über den Vertrag vom 8. Juli
1867 eröffnet die Zahl der Publicationen des ersten Hefts, indem er zugleich als
historische Einleitung über die Ereignisse dient, welche zu der gegenwärtigen Gestal¬
tung der vaterländischen Verhältnisse führten; dann folgt der Vertrag selbst und ihm
werden die übrigen für den Zollverein gültigen Gesetze und Bestimmungen angereiht.
Das zweite Heft enthält u. A. die auf die Reform des Zolltarifs und der Zoll-
Procedur bezüglichen Actenstücke und Verhandlungen. Aus dem Inhalt der letzten
Hefte sind besonders namhaft zu machen die Gesetze über die Tabak- und die Brannt¬
weinsteuer. Einen besonderen Werth erhalten die „Annalen" durch die den Mit¬
theilungen über die neuen Bundesgesetze beigegebenen statistischen Uebersichten über
Bevölkerungsverhältnisse, Zolleinnahmen u. s. w. des Bundes und die Vergleiche mit
analogen Verhältnissen anderer Staaten. Da dem Herausgeber durchaus zuverlässiges,
zum großen Theile officielles Material zu Gebote steht, läßt sich dem Fortgang
und der Verbreitung dieses auf die Befriedigung eines entschieden praktischen Bedürf¬
nisses gerichteten Unternehmens ein durchaus günstiges Horoskop stellen.
Außer einer Sammlung sämmtlicher auf die innere Politik und die Verwal¬
tung des norddeutschen Bundes bezüglichen Actenstücke enthält dieses Jahrbuch noch
^ne systematisch geordnete Sammlung aller auf die Verhältnisse des Bundes und
Zollvereins bezüglichen diplomatischen Verhandlungen und Actenstücke; die dritte
Abtheilung Material zu vergleichender Gesetzes- und Verfassungskunde.
Die uns vorliegenden fünf ersten Hefte enthalten eine ausführliche D arstellung
Gangs der Verhandlungen der ersten Session des norddeutschen Reichstages,
Wahlgesetze der vier süddeutschen Staaten zum Zollparlament, sämmtliche noch
nicht veröffentlichte Actenstücke zur luxemburger Angelegenheit u. s. w. Besonders
schcitzcnswerth ist der detaillirte Bericht über die norddeutsche Militärorganisation in
"Am ihren Theilen; den einzelnen Abschnitten ist die Mittheilung der wichtigsten,
"uf sie bezüglichen parlamentarischen Verhandlungen, der gestellten Amendements,
Erklärungen der Minister u. s. w. beigegeben. Das Gleiche gilt für die Abschnitte
u"ber das Steuer- und Zollwesen, die PostVerwaltung u. s. w.; auch hier sind
sämmtliche auf die betreffenden Gesetze und Voranschläge bezüglichen Anträge, Reden
u. s. w. ihrem Hauptinhalt nach mitgetheilt. —- stofflich ist das reiche Material dieses
Werkes, welches eine wesentlich erweiterte Fortsetzung des Glas'schen Archives bildet,
so geordnet, daß jede der drei erwähnten Abtheilungen, — Gesetze und Verordnungen,
diplomatische Aktenstücke und Sammlung von Verfassungen und Gesetzen fremder
Staaten, welche der Analogie wegen von Wichtigkeit sind — ein selbstständiges
Ganze bildet, dem ein Sachregister beigegeben ist. Der Werth, den ein Unter¬
nehmen dieser Art namentlich für praktische Politiker hat, liegt zu sehr auf der
Hand, um besonderen Nachweises zu bedürfen. Als besonders glücklich erscheint uns
der Gedanke, der Publication des neuen Bundesgesetzes eine Reihe Mittheilungen
aus den analogen Verfassungs- und Legislationsbranchen anderer Staaten, nament¬
lich Frankreichs, Belgiens und Englands folgen zu lassen. Wir fügen noch hinzu,
daß dieses Jahrbuch in acht, von sechs zu sechs Wochen erscheinenden Heften heraus¬
gegeben wird und daß je acht Hefte sich zu einem Bande abschließen.
Die Umgestaltung, welche das europäische Staatsleben in den letzten zehn
Jahren erfahren, ist eine so vollständige gewesen, daß sich das Bedürfniß nach einer
zusammenfassenden Darstellung der Ereignisse seit dem italienischen Kriege von
1859 schon seit längerer Zeit geltend gemacht hat.
Unter den verschiedenen zu diesem Zweck erfolgten Publicationen dürfte das
vorstehende von Ed. Amt herausgegebene Buch an erster Stelle zu nennen sein, weil
die Darstellungen desselben sich nicht, wie es bei ähnlichen Werken der Fall ist,
hauptsächlich auf Deutschland und dessen Beziehungen zu den übrigen europäischen
Staaten beschränken, sondern zugleich die außereuropäischen Länder umfassen und
dadurch ein Gesammtbild der Weltlage seit den letzten acht Jahren ermöglichen.
Während der erste Band Deutschland, Frankreich, Italien, Rußland, England
u. s. w. ausführlich behandelt und ebenso auf die inneren und die auswärtigen
Verhältnisse dieser Staaten eingeht, hat der vor Kurzem erschienene zweite Band
ausschließlich die Zustände Asiens und Amerikas zum Gegenstande. Es sind nicht
nur der nvrdameriksmische Bürgerkrieg und die Vorgänge in Mexico eingehend
und auf Grund zuverlässiger Quellenwerke berücksichtigt, sondern auch jenen inneren
und äußeren Händeln der südafrikanischen Republiken, welche von Zeit zu Zeit in
den Zeitungen auftauchen, ohne irgendwo ihrem Wesen nach gekannt zu sein, besondere
Abschnitte gewidmet. Dem zweiten Bande ist ein Namen- und Sachregister beige¬
geben, welches die Uebersicht wesentlich erleichtert. Die nationale und patriotische
Gesinnung, welche der Verfasser in dem ersten Theil seines Werkes zu bethätigen
Gelegenheit gehabt hat, und die Gründlichkeit und Sachkenntniß, von welcher die
Ueberwindung der stofflichen Schwierigkeiten des zweiten Bandes Zeugniß ablegt'
machen dieses Werk empfehlenswerth.
Als di
vevschen Provincialfonds während des vorigen Winters im preußischen
Landtag zum Austrag kam, ließ sich unschwer voraussehen, daß die bezüg¬
liche Entscheidung zu Consequenzen von weittragendster Bedeutung führen
werde. Für die Mehrzahl der Zeugen jenes denkwürdigen Vorgangs cul-
minirte das Interesse an demselben in dem Versprechen des Ministeriums,
demnächst Gesetzentwürfe für Decentralisation der Verwaltung und Begrün¬
dung provincieller Selfgovernments in allen Theilen der preußischen Monarchie
einzubringen und dadurch den alten Provinzen die Möglichkeit zu bieten,
der der neuen Provinz Hannover eingeräumten Vortheile theilhaft zu werden.
Wir haben dem Beschluß, der der Provinz Hannover die Fortdauer
eines g.wissen Maßes von Selbstbestimmung einräumte, von Hause aus eine
andere und in gewissem Sinne höhere Bedeutung zugemessen. So lebhaft
unsere Wünsche sür Verwirklichung des ministeriellen Versprechens auch wa¬
ren — wir mußten uns sagen, daß eine Umgestaltung von dem Umfang und
Gewicht der in Rede stehenden überhaupt nicht im Handumdrehen bewerk¬
stelligt werden könne, und zumal nicht in einem Staat von so entschieden
bureaukratischen Gefüge wie dem preußischen und unter einem Ministerium,
dessen innere Politik zu der der Volksvertretung in nahezu unvermitteltem
Gegensatz steht. Wo wirkliche Selbstverwaltung besteht, ist dieselbe nirgend
durch ein oder ein Paar liberale Gesetze geschaffen worden, sondern immer
nur das Resultat einer weitschichtigen historischen Entwickelung gewesen, die
in der Regel zum Abschluß gelangt war bevor ihre Träger den bloßen Jn>
Stirne, dem sie gefolgt waren, gegen ein von Principien geläutertes Programm
vertauscht hatten. Der Beruf unserer Zeit und des preußischen Staats zu
einer Umgestaltung, die zugleich eine veränderte Auffassung des gesammten
Staatsbegriffes und die Störung aller politischen Gewohnheiten einer großen
und hochcivilisirten Nation involoirte, schien uns so zweifelhaft, daß wir
den guten Glauben Derer, die der künftigen preußischen Selbstverwaltung
zu Liebe die halbe Million Thaler bewilligten. absolut nicht theilen konnten.
Die Bewilligung des hannoverschen Provincialfonds war uns darum
nicht minder werth und wichtig. Wir begrüßten sie als eine Bürgschaft
dafür, daß den von Preußen annectirten Ländern die Möglichkeit geboten
oder vielmehr gelassen werden würde, von den Einrichtungen, Gewohnheiten
und „Eigenthümlichkeiten", in die sie sich einmal hineingelebt hatten, alles
das zu bewahren, was der Aufbewahrung fähig und mit der nothwendigen
Staatseinheit vereinbar war. Uns schien die Stellung der neuen Provinzen
zum altpreußischen Staat — schon bevor jene Frage auftauchte — für die
Richtung präjudicirlich zu sein, in welcher an der Lösung der deutschen Frage
überhaupt fortgearbeitet werden sollte. Assimilirt, nicht über den hergebrach¬
ten alten Leisten geschlagen mußten die im I. 1866 eroberten Provinzen
werden, wenn der preußische Staat durch ihre Einschmelzung eine erhöhte
Fähigkeit zur Erfüllung seiner deutschen Aufgabe gewinnen sollte. Durch
das, was im particularistischen Lager „Verpreußung" genannt wird, konnte
weder dem preußischen Staat der Gegenwart, noch jenem preußisch-deutschen
Staat gedient werden, zu welchem das I. 1866 den Grundstein gelegt hat.
Die Gefahr, daß der Spielraum, den man den Gewohnheiten und Provin-
cialtraditionen der neuen Landestheile ließ, zu weit gesteckt werde und die
Staatseinheit gefährde, war von vorn herein ausgeschlossen; der büreaukra¬
tische Charakter des berliner Regierungsapparats, der wesentlich centralistische
Zug der Zeit, die für die Gebildeten allmächtige „moderne Staatsidee" —
das ließ sich mit Gewißheit voraussehen — mußten dafür sorgen, daß diese
Bäume nicht in den Himmel wuchsen. Die größere Gefahr war offenbar die
einer wohl oder übel gemeinten Uniformirung, die die moralische „Ver¬
preußung" der Hessen, Hannoveraner u. s. w. nur erschwert und zugleich
dazu beigetragen hätte, die süße Gewohnheit bureaukratischen Herkommens
in allen Theilen der Monarchie zu verewigen.
In den maßgebenden liberalen Kreisen Preußens wurde die Sache von
vorn herein anders angesehen: man dachte nicht sowohl an die den neuen
Mitbürgern lieb gewordenen alten Gewohnheiten, als an das lang gefühlte
Reformbedürfniß am eigenen Heerde. Die Nothwendigkeit einer Reorgani¬
sation der Verwaltung der neuen Provinzen wurde vorzugsweise unter dem
Gesichtspunkt der günstigen Gelegenheit betrachtet, welche sie zu einer Neu¬
gestaltung der Kreis- und Provincialverfassung in den alten Provinzen und
damit im gesammten Staate bot. Wir wollen unerörtert lassen, ob diese Auf¬
fassung der betreffenden Frage gerecht wurde oder ob sie an dem Punkt, um den
es sich hier handelt, vorüberging — genug, daß ihre Verwirklichung an den
ein Mal gegebenen Thatsachen scheiterte. Mit der Einfügung der neuen Pro¬
vinzen in den preußischen Staat ließ sich nicht lange fackeln, für die gewünschte
Reorganisation an Haupt und Gliedern fehlte es aber an den nöthigen
Vorarbeiten und die berufensten Stimmen versicherten, nach den bisher gemach¬
ten Ersahrungen sei an eine Erledigung auch innerhalb der nächsten Jahre
nicht zu denken. Das war entscheidend. Am 22. August 1867, noch vor
Ablauf der königl. Diktatur, erschien die Verordnung wegen der provincial-
ständischen Verordnung des ehemaligen Königreichs Hannover', durch welche
einmal die ehemals hannoverschen Lande als Individualität anerkannt und
gleichzeitig die Träume Derer gestört wurden, welche Hannover die künftige
Provincialordnung zugedacht hatten. welche für alle Provinzen, die alten wie
die neuen, noch ausgearbeitet werden sollte. Schon vorher hatte der Lärm wegen
Einziehung des hessischen Staatsschatzes bewiesen, daß selbst die nationalen
Politiker der neuen Provinzen einen Nachdruck auf die Erhaltung gewisser alter
Provincialeinrichtungen legten, der wunderbar mit der souverainen Gleich«
giltigkeit contrastirte. mit welcher altpreußische Liberale und Demokraten
Alles behandelten, was nicht in die Schablone des modernen liberalen Staats
Paßte. Dann trat der Landtag zusammen und begann eine Reihe von De¬
batten, welche zu Nichts als zu jenen „Provisorien" für die neuen Provinzen
führte, mit welchen man sich beim Mangel von Definitivis zufrieden geben
mußte. Noch bevor die verschiedenen Parteien Zeit gehabt hatten, sich
über ihre Stellung zu dem Maß der den neuen Provinzen zu bewilligenden
Selbstbestimmung klar zu werden, wurde dann dem Landtage im Februar
d. I. das Gesetz wegen des hannoverschen Provincialfonds vorgelegt und
durch dessen Annahme — wie wir die Sache auffassen — principiell entschieden,
daß sich die Organisation der neuen Provinzen nicht sowohl an das Reform¬
bedürfniß der alten Länder, als an die speciellen Wünsche, Gewohnheiten und
Eigenthümlichkeiten ihrer Bewohner anzuschließen habe.
Daß man in Altpreußen bei Conservativen wie bei Liberalen einer ab¬
weichenden Meinung gehuldigt hat und nicht sowohl dem Selbstbestim-
Mungs- und Jndividualistrungsbedürfniß der onnectirten Provinzen Concessio¬
nen gemacht haben wollte, als dem Wunsch nach einer allgemeinen und
womöglich uniformen Umgestaltung der preußischen Provincial- und Kreis¬
verfassung überhaupt, hat sich inzwischen mit genügender Deutlichkeit gezeigt.
Nicht nur, daß das zwischen dem Ministerium des Innern und dem hanno¬
verschen Provinciallandtag vereinbarte Statut in liberalen Kreisen ziemlich
ungünstig aufgenommen worden ist: man hat in der Presse die — jetzt vollen¬
dete — Thatsache, daß jenes Statut einseitig zwischen der Regierung und
den hannoverschen Ständen vereinbart, als bloße Gesetzesausführung mittelst
Allerhöchsten Erlasses vom 1. November bestätigt und dadurch der Prüfung
durch den Landtag entzogen worden ist, einer ziemlich scharfen Kritik unter¬
zogen und die rechtliche Giltigkeit des beliebten Verfahrens, wenn nicht direct
geleugnet, so doch in Zweifel gezogen. Man wird kaum irre gehen, wenn
man diese Art der Beurtheilung als die für den altpreußischen Liberalismus
überhaupt typische ansteht.
Wie wir die Dinge ansehen, ist das Verfahren der Regierung im vor-
liegenden Falle nicht nur innerhalb der Schranken der Verfassung geblieben,
sondern auch das politisch allein rathsame gewesen. Möglich, daß es dem
Grafen zu Eulenburg wesentlich nur darum zu thun gewesen, den Landtag zu
umgehen und geheimräthlichen Wünschen nach möglichster Vermeidung aller Be¬
rührungen mit der Volksvertretung Rechnung zu tragen: materiell ist sein Ver¬
fahren das richtige gewesen und die formelle Anfechtbarkeit desselben scheint
uns zur Zeit noch nicht nachgewiesen, auch schwer nachweisbar zu sein.
Eine richtige Auslegung dessen, was nach § 4K der preußischen Ver¬
fassung unter „zur Ausführung nothwendigen Verordnungen" zu ver¬
stehen ist, dürfte zufolge der knappen Fassung des betreffenden K kaum
anders als an der Hand der bisherigen preußischen Praxis möglich sein;
und daß diese zu widerspruchsvoll ist, um eine über allen Zweifel erhabene
Interpretation zuzulassen, wird kaum zweifelhaft sein. Uns genügt die
Ueberzeugung, daß das von der Regierung eingeschlagene Verfahren mit
der Verfassung in Einklang gebracht werden kann, zu dem Verzicht aus
alle weiteren Auseinandersetzungen über den Rechtspunkt; eine entgegen¬
stehende Bestimmung der Verfassung würde von uns nicht anders als mit
lebhaftem Bedauern angesehen worden sein — denn durch eine solche würde
nicht nur jede gedeihliche Entwickelung der Selbstverwaltung erschwert, son¬
dern zugleich die Möglichkeit ausgesprochen worden sein, den neuen Provinzen
Preußens die Behandlung zu Theil werden zulassen, welche zu einer glück¬
lichen Lösung dessen, was von deutscher Frage übriggeblieben, unumgänglich
nothwendig erscheint. — Soll die Gewöhnung an Selbstverwaltung sich in
dem Volke wirklich befestigen, so wird nämlich vor Allem nothwendig sein,
daß den einzelnen landschaftlichen Gruppen, in welche dasselbe zerfällt, die
Möglichkeit geboten werde, diese Selbstverwaltung nach ihren speciellen
Wünschen, Bedürfnissen und Gewohnheiten zu regeln. Die Mannigfaltigkeit
der Verhältnisse, welche in den verschiedenen Theilen der Monarchie obwaltet,
macht den Verzicht auf eine Uniformität in den bezüglichen Einrichtungen
von vorn herein zur nothwendigen Vorbedingung. Jene „Einheit der Gesetz¬
gebung" welche ein Theil unserer Presse bereits dadurch gefährdet glaubt, daß
den hannoverschen Provincialständen das Recht eingeräumt worden, sich mit dem
Minister des Innern über das Statut ihrer Provincialverwaltung zu verstän¬
digen, ist unserer Meinung nach mit den Forderungen, welche an eine wirk¬
lich lebendige Selbstverwaltung zu stellen sind, unvereinbar. Für den han¬
noverschen Provinciallandtag kam es in erster Reihe darauf an. sich mit der
neuen Organisation möglichst eng an die thatsächlichen Verhältnisse, oder
richtiger gesagt, an die Anschauungen anzuschließen, welche in Hannover über
dieselben herrschend sind. Nicht das beste und theoretisch richtigste System
der Selbstverwaltung sollte geschaffen werden, sondern ein solches, für dessen
Durchführung auf möglichstes Zuvorkommen der örtlichen Bevölkerung ge¬
rechnet werden konnte. Hält man fest, daß es sich in diesen neugeschaffenen
Organen nicht um die Entscheidung politischer Fragen, sondern um den Ver¬
waltungsmodus einer Anzahl öffentlicher Anstalten und Einrichtungen handelt,
an denen die politisch urtheilslose und indifferente Masse ebenso lebhaft interes-
sirt ist. wie die politische Intelligenz, und zieht man ferner in Betracht, daß
die Gewohnheit an Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von einer bevor¬
mundenden Bureaukratie erst geweckt, die Theilnahme des Volkes so zu
sagen erst gereizt werden muß. so wird man sich der Erwägung nicht ent¬
ziehen können, daß das Hauptkriterium der neugeschaffenen Institutionen der
Anklang sein mußte, den dieselben innerhalb Landes fanden. Eine Ueberwei¬
sung des bezüglichen Regulativs an den preußischen Landtag hätte aber
zweifellos die Beurtheilung nach durchaus abweichenden Gesichtspunkten zur
unausbleiblichen Folge gehabt. Bei dem Einfluß, den wissenschaftliche Doctrinen
noch gegenwärtig auf die Mehrzahl unserer Politiker ausüben, wäre unaus¬
bleiblich gewesen, daß die hannoverschen Vorschläge an dem Maßstabe des
„besten" Systems der Selbstverwaltung, mindestens des für Altpreußen besten
und wünschenswerthesten Systems bemessen worden wären, ohne jede Rücksicht
darauf, wie es um die Wünsche und Ansichten der Hannoveraner bestellt ist.
denen die praktische Durchführung dieses Versuchs zur Selbstbestimmung that¬
sächlich anheimgegeben ist: der Gegensatz, in welchem die Anschauungen der
Vertreter des idealen Volksbegriffes häufig genug zu den Meinungen der
realen Volksmasse stehen, hätte sich auf einem Gebiet bethätigt, auf welchem
sich ohne" den guten Willen der letzteren einmal Nichts ausrichten läßt.
Daß die Hannoveraner ein System der Selbstverwaltung erhalten haben,
wie sie es selbst wollten und mit dem durchzukommen für sie Ehrensache sein
wird, scheint uns die Hauptsache zu sein, denn dadurch allein werden wirk¬
liche Chancen für einen Erfolg und für Anspannung aller Kräfte zur Er¬
zielung dieses Erfolgs geboten. Ein Verfahren, welches die jungen Keime
dieser Selbstverwaltung der chemischen Analyse durch die Retorten des ber¬
liner Landtags unterzöge, würde ihrer Triebkraft sicher nicht zu Gute kommen
und die Vortheile, welche sich von etwaigen wirklichen „Verbesserungen" er¬
warten ließen, reichlich aufgewogen werden durch die angebliche „Verschlech¬
terung", welche das Regulativ in den Augen der Leute erfahren hätte, die
sich mit demselben durchzukommen getrauten und in der That das Haupt¬
interesse daran haben, gut bedient zu sein. Der gute Glaube und die Freu¬
digkeit der Betheiligten scheinen uns wichtigere Bedingungen für eine glück¬
liche Entwickelung zu sein, als alle denkbaren theoretischen Vorzüge eines
Selbstverwaltungs-Regulattvs. Diesen guten Glauben und guten Willen
K'ird man aber nur erzielen, wo man der localen Bevölkerung die Möglich-
keit bietet, nach ihrer landschaftlichen Facon zu hantieren, wo es sich um
blos landschaftliche Interessen handelt.
Es ist sicher mehr wie ein Zufall gewesen, daß die bewährten und pa¬
triotischen Führer der nationalliberalen Partei in Hannover, v. Benningsen
und Miquel, Männer, an deren nationaler und constitutioneller Gesinnung jeder
Zweifel ausgeschlossen ist, nicht nur dem Regulativ, wie es von den hanno-
verschen Provincialständen beliebt worden, ihre Zustimmung ertheilt haben,
sondern zugleich zufrieden gewesen sind, die staatliche Sanction desselben auf
dem Berordnungswege zu erhalten; mindestens ist aus ihrer Mitte keine
Stimme laut geworden, welche nach Ueberweisung des Regulativs an den
Landtag der Monarchie verlangt hätte.
Daß die Mitwirkung der Kammern zum Zustandekommen dieses Regu¬
lativs nicht gesetzlich nothwendig war. ist darum, wie wir annehmen, auch
von Denen, die die preußische Sache in Hannover auf ihren Schultern tragen,
als ein glücklicher Umstand begrüßt worden. Mußten sie sich doch gleich¬
zeitig sagen, daß die den Hannoveranern gelassene Freiheit, auf einem unge¬
fährlichen Gebiet ihre „Eigenthümlichkeit" und „Besonderheit" zu bethätigen,
der preußischen Sache bei tausend anderen wichtigeren und wirklich politi¬
schen Fragen reichlich zu Gute kommen werde. Einheit der Gesetzgebung
und der Staatsinstitutionen werden überall da am besten und sichersten ge¬
währleistet sein, wo sie sich auf die Gebiete beschränken, welche wirklich staat¬
licher Natur sind; soll diese Einheit aber in allen Details des Communal-
lebens und der localen Administration durchgeführt werden, so verliert sie
ihre natürliche Kraft und wird dem Baume vergleichbar, der seine Trieb¬
kraft in Schößlingen ausgibt.
Die Frage nach den Vorzügen oder Nachtheilen des hannoverschen
Selbstverwaltungsregulativs kann für Diejenigen, welche auf dem von uns
bezeichneten Standpunkt stehen, eine blos secundäre Bedeutung haben.
Daß der ständische Verwaltungsausschuß aus Vertretern der drei Curien
zusammengesetzt ist, sehen auch wir für keinen Vorzug an — eine Gefahr
können wir hinter dieser Bestimmung aber nicht wittern, da der Leuthe'sche
Antrag auf Wahl durch die Curien ausdrücklich verworfen worden ist und
überdieß die Natur der Gegenstände, welche der Competenz des Ausschusses
unterliegen, wenig geeignet ist, dem „Feudalismus" zum Ausschwung zu ver¬
helfen. Ein wichtigerer und bedenklicherer Punkt ist der der Gehaltsfestsetzung
für die Glieder des Landes-Directoriums; unter den gegebenen Verhältnissen
muß derselbe aber schlechterdings als nothwendiges Uebel angesehen werden.
Ehrenämter einrichten wollen, so lange es noch Diäten für die Landtags¬
mitglieder gibt, und zwar Ehrenämter, welche eine volle Arbeitskraft das
ganze Jahr über in Anspruch nehmen, scheint uns inconsequent. Mit Cor-
sequenzmachereien und Doctrinen ist auf diesem Gebiet freilich überhaupt Nichts
auszurichten: denn unleugbar steht der ständische Charakter des Ausschusses
wiederum zu der Bezahltheit seiner Directoren in Widerspruch. Wir müssen
> indessen gestehen, daß wir jeden Streit über diesen Punkt für müßig halten;
wollen und können die Hannoveraner die Beamten ihrer Landesdirection
bezahlen, so mögen sie es thun, für die übrigen preußischen Provinzen ist
damit kein Präjudiz geschaffen; wenn die localen wirthschaftlichen Zustände
Hannovers nicht dazu angethan sind, die Einrichtung von Ehrenämtern zu be¬
günstigen, so kann das immer noch in anderen Theilen der Monarchie der
Fall sein.
Damit kommen wir freilich zu dem wichtigsten Punkte der gesammten
Frage. Einer in Preußen weitverbreiteten Meinung nach ist der Begriff „Pro¬
vinz" überhaupt vom Uebel und wird mit ihm bei Einführung von Decen-
tralisation und Selbstverwaltung nicht zu operiren sein. Weil man bei dieser
Umgestaltung aus einem Punkte zu curiren gedenkt, erklärt man, Provinzen
seien künstlich geschaffene Begriffe, die man am besten beseitigte, um auf
Kreise und Gemeinden zu recurriren, welche wirkliche und naturgemäße Ein¬
heiten seien. Wir müssen gestehen, uns weder eine heilsame Art der Selbst¬
verwaltung denken zu können, die in allen Theilen der Monarchie nach den
gleichen Grundsätzen verführe, noch eine solche für wünschenswert!) zu halten.
Ueber Provinzen im Allgemeinen abzusprechen, ist schon an und für sich ein
gefährliches Unternehmen; möglich, daß einzelne derselben in Preußen ohne
innere Berechtigung sind — damit ist aber noch nicht bewiesen, daß das bei
allen der Fall sei. Wo solche Provinzen vorhanden sind — und daß die neu
annectirten Länder ausgesprochene landschaftliche Eigenthümlichkeiten besitzen
scheint uns zweifellos — ist aller Grund vorhanden, dieselben zu conserviren:
oder wir entschließen uns, auf das französische Muster des uniformirten
alles individuellen Lebens baren Departements-Staats loszusteuern. Daß
innerhalb eines solchen für Selbstverwaltung kein Platz vorhanden ist, hat
eine achzigjährige Geschichte zur Genüge ausgewiesen. Wir haben nicht
einmal nöthig, auf Preußens deutsche Aufgabe hinzuweisen, um die Be¬
deutung hervorzuheben, welche der Begriff „Provinz" für den preußischen
Staat hat, mindestens seit dem Jahre 1866 hat — uns gilt für ausgemacht,
daß die Zufriedenheit der neuen Länder ebenso durch eine freie Ent¬
wickelung ihres individuellen Lebens bedingt ist, wie die Anziehungskraft,
die Preußen auf die übrigen deutschen Staaten ausübt. — Aber selbst ohne
Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts und im bloßen Interesse der Selbstver¬
waltung betrachtet, erscheint uns ein möglichst großer Spielraum für die
Provincielle Individualität dringend geboten. Unserer Meinung nach ist
Selbstverwaltung nur möglich, wenn die "SelbstthätigM der Nation geweckt
und zur Betheiligung an den öffentlichen Zuständen, wie sie thatsächlich vor¬
handen sind, eingeladen wird. Mindestens in den neuen Provinzen und einem
Theil der alten tragen diese Zustände eine individuelle Physiognomie. Soll
der Weckung der Volkstheilnahme an denselben ein allgemeiner Umschmelzungs-.
Proceß nach g, priori festgestellten Muster vorangehen, so ist die Sache um ein
Menschenalter verschoben und wird eine Vorarbeit gefordert, welche weit schwie¬
riger ist, als die Erreichung des Zweckes, zu welchem sie unternommen werden soll.
Bei der Ausdehnung, die der Staat bereits gegenwärtig hat, und in
Rücksicht aus die Ausdehnung, die er noch gewinnen soll, erscheint
dringend- geboten, dem Volk gewisse locale Centren zu erhalten, an welche
es sich mit der Thätigkeit, die von ihm gefordert wird, anlehnen kann.
Diese Thätigkeit soll sich ja nur auf einen beschränkten Kreis von Dingen
erstrecken: die Forderung möglichst freier und individueller Bewegung innerhalb
dieses ist darum mit der Idee der Staatseinheit völlig vereinbar. Die Noth¬
wendigkeit des Aufgehens in und der Hingabe an den einen Staat wird sich
ungleich leichter erfüllen, wenn sie von vornherein auf gewisse Grenzen be¬
schränkt und mit Bürgschaften dafür ausgestattet wird, daß das Maß der
an die Allgemeinheit zu opfernden Individualitäten auf das Nothwendige
beschränkt wird und daß der künftige Einheitsstaat nicht die Forderung
stellt alle Details des öffentlichen Lebens umgestalten zu wollen. Die Ein¬
heit des Staats glauben wir gewährleistet, wenn durch die Volksvertretung
desselben eine feste Grenze zwischen den politischen Einrichtungen gezogen wird,
welche um des Ganzen willen einen bestimmten Zuschnitt tragen und auf
einen Punkt gerichtet werden müssen, und denen, welche sich nach dem
örtlichen Bedürfniß individuell gestalten und je nach den für die Selbstver¬
waltung vorhandenen Mitteln befriedigen dürfen. Wird diese Grenzlinie an
der richtigen Stelle und mit der gehörigen Deutlichkeit gezogen, so sind alle
Befürchtungen für mangelnde Einheit des Staates und seine Verwaltung
beseitigt. Glaubt man aber, daß diese Einheit nur durch Uniformität
der Institutionen erzielt werden kann, so verzichte man aus die Selbstver¬
waltung ein für alle Mal: mit einem uniformen und schlechthin centralt-
sirten Staat ist dieselbe unvereinbar, mag dieser Staat absolutistisch, schein-
constitutionell oder wirklich konstitutionell eingerichtet sein.
In dieser Ueberzeugung und von der Ansicht ausgehend, daß möglichst
freier Spielraum für die provincielle Individualität in gleicher Weise der
Sache der Selbstverwaltung wie der des preußisch-deutschen Zukunftsstaats
zu Gute komme, begrüßen wir die Anfänge der hannoverschen Selbstbe¬
stimmung und Selbstverwaltung — so gegründet die Ausstellungen an dem
gegenwärtig geltenden Regulativ auch sein mögen — als einen bedeutungs¬
vollen Fortschritt.
In den Annalen der Thätigkeit des preußischen Landtags gibt es kaum
ein weniger befriedigendes, dürftigeres Capitel als dasjenige, in welchem
die Behandlung der Gefängnißangelegenheit verzeichnet ist. Seit einer Reihe
von Jahren ist es stehender Gebrauch geworden, daß die hier schwebenden
Fragen, Fragen der gewichtigsten Natur und von staatsrechtlicher Bedeutung,
in der Zeitdauer von einer halben oder Viertelssitzung des Abgeordneten¬
hauses flüchtig berührt und dann unter Bewilligung der betreffenden Etats-
Positionen fallen gelassen werden. Gelegentlich faßt das Abgeordnetenhaus eine
Resolution, es erinnert sich an den Umstand, daß in Preußen fortwährend
eine Strafe vollzogen und der Vollzug durch die Bewilligung der erforder¬
lichen Gelder seitens der Volksvertretung ermöglicht wird, die gesetzlich gar
nicht eingeführt ist; es beschließt (wie in der Session von 1864) zu erklären:
„daß die Vollstreckung der Zuchthausstrafen in der Form der Einzelhaft nur
dann gerechtfertigt ist, wenn sie durch das Gesetz geregelt wird" und mit
dieser Erklärung ist alsdann sür das Abgeordnetenhaus, dessen Willensmei¬
nung unberücksichtigt bleibt, für den Staat, dessen gesetzliche Vorschriften bei
Seite gesetzt erscheinen, für die Gefangenenbevölkerung, die ein Recht zur
Reclamation hätte, dasselbe aber nicht geltend machen kann — die Sache
abgethan.
In den letzten Jahren ist es selbst zu irgend welchen Erklärungen über
diese Materie gar nicht mehr gekommen, die Sache nahm einen noch glätteren,
harmloseren Verlauf. In der Session von 1863 beantragte der Abg. Dr. v.
Bunsen. eine Commission zur Untersuchung des Gefängnißwesens einzusetzen,
blieb aber damit in der Minorität. Die Erinnerung an die früheren erfolg¬
losen Bemühungen des Abgeordnetenhauses, von § 82 der Verfassung Ge¬
brauch zu machen, mochten nicht eben ermuthigend gewirkt haben. In der
Session von 1866 stellte der Abg. Dr. Eberty den Antrag: die Staatsre¬
gierung aufzufordern, dem Landtag bei seinem nächsten Zusammentritt einen
eingehenden Bericht über die Principien, welche von der Negierung bei der
Leitung des Gefängnißwesens befolgt und angewendet werden, zukommen zu
lassen. Der Antrag war nicht sehr glücklich formulirt, indessen konnte er
von allen Denen angenommen werden, welche dem Gegenstand selbst näher zu
treten und ihn nicht blos gelegentlich bei Berathung des Etats abgemacht zu
sehen wünschten. In diesem Sinne war er auch von dem Antragsteller mo-
tivirt worden; derselbe bezeichnete ihn als ein Mittel, um nur erst einen Fuß
in den Steigbügel heben zu können. Gleichwohl ward der Antrag abgelehnt,
aus Gründen, für die uns jede Erklärung fehlt, wenn wir sie nicht etwa auf
Rechnung der verstanden Stimmung der Versammlung am Schluß einer an¬
strengenden Sitzung und einer langwierigen Berathung von Budgetposten zu
setzen haben. Dem Minister des Innern, Grafen zu Eulenburg, kam diese
Stimmung jedenfalls so wesentlich zu Hilfe, daß er sich nach Ausweis der
stenographischen Berichte dem Antrag gegenüber auf die cavaMre Bemerkung
beschränken konnte: „Ich erkläre mich gegen den Antrag und verzichte auf
Anführung von Gründen". Nicht viel ergebnißreicher verläuft die Session von
1867. Der Abg. Eberty wiederholte unter Anführung sehr detaillirter Angaben die
Anklagen über die Gefängnißverwaltung in Moabit, ließ es aber an dem
nothwendig dazu gehörigen Antrag auf Einsetzung einer Untersuchungs-Com-
mission, vermuthlich durch die früheren Vorgänge entmuthigt, fehlen. Die
gegebenen Enthüllungen blieben denn auch, obwohl ihnen von Seiten der
Regierung nicht°einmal widersprochen wurde, ohne alle weiteren Folgen, als
daß die Abgg. Eberty und Strosser von konservativer Seite her in eine
schließlich in persönliches Gezänk ausartende Polemik verwickelt wurden. Von
anderer Seite (Abg. Windthorst) war der nicht unwichtige Antrag gestellt
worden: die Verwaltung der Strafanstalten aus dem Ressort des Ministe¬
riums des Innern in das Ressort des Justizministers zu überweisen. Windt¬
horst machte außer anderen Gründen für diesen Antrag auch den wichtigen
Grundsatz geltend, daß diejenige Behörde, welche eine Strafe erkennt, auch
die Vollstreckung derselben überwachen müsse. Der Justizminister müsse eine
Garantie dafür haben, daß die Strafe in dem Sinn und Geist vollstreckt
werde, in dem sie erkannt worden sei, er müsse also Einfluß auf die Art und
Weise der Ausführung haben. Auch diesen Antrag, dessen Annahme immer¬
hin einen, wenn auch nicht entscheidenden Fortschritt bekundet hätte, verfolgte
das gewöhnliche Mißgeschick aller auf die Gefängnißfrage bezüglichen An¬
träge. Bei der Abstimmung ward nur der erste Theil: das Abgeordneten¬
haus erklärt es für wünschenswert!), die Verwaltung der Strafanstalten in
einem Ministerium zu vereinigen, angenommen, der zweite, wichtigere Theil,
daß dies Ministerium das Justizministerium sein solle, ward von dem Vice-
prästdenten v. Köller für abgelehnt erklärt und trotz des Widerspruchs sehr
vieler Abgeordneten, welche die Fragestellung nicht verstanden hatten, eine
zweite Abstimmung nicht vorgenommen, so daß über diesen Punkt seitens
des Abgeordnetenhauses jetzt nur ein mindestens sehr zweideutiger Beschluß
vorliegt.
Um die ganze Bedeutung dieses in seiner Energielosigkeit so seltsam von
der BeHandlungsweise anderer schwebender Fragen abstechenden Verhaltens des
preußischen Abgeordnetenhauses zu würdigen, muß noch einmal an die beiden
Hauptpunkte erinnert werden, auf die es in dem jetzigen Stadium der Ge¬
fängnißangelegenheit in Preußen ankommt. Die eine, aus die wir bereits
Bezug genommen haben, ist rein staatsrechtlicher Natur, sie betrifft das in
aller Staatspraxis unerhörte und vollkommen unerreicht dastehende Novum
— wir bedienen uns dieses Ausdrucks mit gutem Bedacht — daß seit 11
Jahren an einem Theil der Gefangenen eine gesetzlich nicht erkannte und
unmöglich zu erkennende, weil in dem Strafgesetzbuch gar nicht vorgesehene
Strafe — die der Einzelhaft — vollstreckt wird. Von der Verwaltung, welche
sich aus eigener Machtvollkommenheit zu dieser Umwandlung befugt hält
und die allen Resolutionen des Abgeordnetenhauses entgegen auf ihrem ver¬
meintlichen Rechtsstandpunkt einfach verharrte, ist nur einmal der Versuch
einer Rechtfertigung ihrer Auffassung in einer 1861 dem Landtag über¬
reichten Denkschrift des Ministeriums des Innern gemacht worden, die we¬
nigstens das Verdienst hatte, daß sie Veranlassung zu einer von einem
unserer scharfsinnigsten Juristen verfaßten Gegenschrift wurde (v. Holtzendorff.
„Gesetz oder Verwaltungsmaxime?"), deren vernichtende Schärfe den Streit¬
punkt ein für allemal entschieden hat.
Während die „Denkschrift" ihre Argumentation auf die „Thatsache" ba-
sirte, „daß die Einzelhaft aus dem sittlichen Ernst der bisherigen Strafanstalts¬
verwaltung mit Nothwendigkeit hervorgewachsen sei, daß sie recht eigent¬
lich ein geschichtliches Resultat der bisherigen preußischen Strafanstaltsver-
waltung darstelle" — eine Thatsache, über die, selbst wenn sie hier von Be¬
lang wäre, die Ansichten schwerlich übereinstimmend lauten würden — lieferte
v. Holtzendorff den einzig entscheidenden Nachweis, daß die Einzelhaft nicht
nur dem Buchstaben, sondern dem geschichtlich nachweisbaren, von den Ge¬
setzgebungsfactoren supponirten Sinn des Z 11 im Strafgesetzbuch wider¬
spreche. Er zeigte, wie die Regierungspraxis eine Strafe, unter welcher sich
die Regierung ebenso wie die Kammer bei Berathung des Strafgesetzbuches
ausdrücklich und anerkanntermaßen die gemeinsame Haft vorgestellt hatte,
zum directen Gegentheil im Wege einer bloßen Administrationsmaßregel
umgestaltet habe, und er erhob Protest gegen dies Verfahren nicht allein im
Interesse des Strafrechts, sondern des gesammten öffentlichen Rechts, weil
sich die Verwaltung dadurch ihrer moralischen Autorität beraube und auf den
Standpunkt einer Privatperson begebe, die Alles thun dürfe, was gesetzlich
nicht ausdrücklich verboten sei. Von den Mitgliedern des preußischen Abge¬
ordnetenhauses wurde dieser Protest gehört und wenigstens soweit aufgenom¬
men, daß sie die in demselben ausgesprochene Rechtsansicht ausdrücklich zu
der ihrigen machten und von da an, wie erwähnt, wiederholt die Vorlage
eines Gesetzentwurfs zur Regelung der Ausübung der Einzelhaft verlangten.")
Aber kann dies wiederholte Verlangen, dies Beharren auf dem theoretisch
correcten Standpunkt der für unstatthaft erachteten Verwaltungspraxis ge¬
genüber genügen? Ist es ein normaler oder auch nur ein erträglicher Zu¬
stand zu nennen, wenn die Volksvertretung in einem Athem das Verfahren
der Behörde für lückenhaft und der gesetzlichen Grundlage ermangelnd erklärt
und gleichwohl, als ergäben sich aus dieser Prämisse gar keine weiteren Kon¬
sequenzen, die ihrer gewissenhaften Bewilligung anvertrauten Gelder dersel¬
ben Behörde zu denselben Zwecken weiter zur Verfügung stellt? Wir sind in
Verlegenheit dies Verfahren entsprechend zu charakterisiren und in noch größe¬
rer, Gründe, die als Entschuldigung gelten könnten, anzugeben.
Man kann sagen — und mit einiger Wahrscheinlichkeit — daß das
Abgeordnetenhaus den Rechtspunkt nicht auf die Spitze zu treiben Ver¬
anlassung fand, weil es in seiner Majorität gegen die thatsächliche Anwen¬
dung, welche die Regierung von ihrer Interpretation des § 11 des Straf¬
gesetzbuches macht, nichts einzuwenden hatte, weil ihm die Anwendung der
Einzelhaft als ein Fortschritt erschien, der ebenso den Gefangenen wie den
Strafzwecken und dem Staat zu Gute komme. Aber diese Argumentation,
die wir an sich für höchst bedenklich halten, weil sie'die Verpflichtung der
Landesvertretung das rechtlich allein Zulässige zu wahren unterschätzt, wird
dadurch noch besonders hinfällig, daß das in ihr vorausgesetzte Verhältniß
das Widerstreben der Regierung gegen eine gesetzliche Regelung doppelt un¬
begreiflich erscheinen läßt. Schon Holtzendorff hat hervorgehoben, daß es
vom politischen Standpunkt aus rein unerklärlich erscheint, weshalb man sich
gegen eine Gesetzvorlage über die Einzelhaft sträubt. Man sollte meinen,
jede Regierung müsse das, was sie als vortrefflich erkannt hat, gegen die
Meinungsverschiedenheiten einer nachfolgenden Verwaltung sicher zu stellen
suchen. In der That lag die ganze Zeit über das Verhältniß so, daß ein Ge¬
setzentwurf, welcher die Anwendung der Einzelhaft sür zulässig erklärte und
in welchem das Verhältniß der Zeitdauer derselben zu der bisher gültigen
gemeinschaftlichen Haft bestimmt war, ohne die geringste Schwierigkeit die
Zustimmung des Landtags erhalten haben würde. Allerdings wäre gerade
in Preußen, wegen der bekannten Vermischung von Gefangenen-Besserungs¬
zwecken mit den Bestrebungen der inneren Mission, Anlaß gewesen, die Zu¬
stimmung an bestimmte Bedingungen zu knüpfen; wer aber die Debatten
des Abgeordnetenhauses über diesen Gegenstand verfolgt hat, weiß daß dieser
Fall aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eingetreten wäre.
Welchen Anlaß nun auch die Regierung haben mochte eine gesetzliche
Regelung, trotzdem daß derselben gar keine Schwierigkeiten im Wege standen,
zu versagen: für die Volksvertretung konnte doch in diesem Verhältniß nur
eine verstärkte Aufforderung enthalten sein, ihrem einmal erhobenen Anspruch
nöthigenfalls durch Verweigerung der betreffenden Etatspositionen den zwin¬
genden Nachdruck zu verleihen. Es handelte sich hier um kein hochnothpein-
liches Dilemma zwischen Ministerium und Volksvertretung; wenn aber letztere
in so einfachen Dingen auf ihr Recht oder auf die energische Geltendmachung
desselben verzichtet, wie sollen in zweifelhafteren und schwierigeren Fällen
ihre Ansprüche jemals Anerkennung finden?
Von dem Ministerium wird vorausgesetzt — und es steht dieser An¬
nahme wenigstens Nichts entgegen — daß ihm die Einzelhaft und die Be¬
günstigung der Richtung der inneren Mission im Gefängnißwesen, die nur bei
der Einzelhaft möglich ist, nach wie vor am Herzen liegt. Ob dasselbe unter
dieser Voraussetzung gerade weise daran gethan hat, der gesetzgeberischen
Regelung der Frage fortwährend aus dem Wege zu gehen, ist eine
Frage, deren Beantwortung der weiteren Entwickelung noch vorbehalten
bleibt. Denn mit jedem Jahr, welches über diesem Zaudern verstrichen ist,
hat sich — und hiermit rühren wir an den zweiten Hauptpunkt in dieser
Angelegenheit — vor dem Forum der Wissenschaft die Sache der reinen
Einzelhaft ungünstiger gestaltet, ihre Anhänger haben sich vermindert, ihre
Gegner sind an Zahl und Bedeutung gewachsen. Unter den letzteren ver¬
dient neuerdings ein dem Ausland angehöriger Fachmann besonders hervor¬
gehoben zu werden, weil sowohl seine gegenwärtige Stellung wie seine frühe¬
ren Erfahrungen dem von ihm gefällten Urtheil ein besonderes Gewicht ver¬
leihen. Es ist dies der gegenwärtig an die Spitze des dänischen Gefängniß-
tvesens berufene Director Brunn. Brunn stand früher als Gesängnißbeamter
an drei verschiedenen Strafanstalten: Viborg, Hörsens und zuletzt an dem
Einzelhastgefängniß Wridlöselille. Er war als Vollzugsbeamter an drei ver¬
schiedenen Vollstreckungsweisen betheiligt und kennt aus eigener Anschauung
und unmittelbarer Mitwirkung sowohl die alte, gemeinsame Haft als das
Schweigsystem und die Einzelhaft. Auf den genauen Inhalt seiner im vorigen
-^ahre erschienenen Schrift (0in ^uläbMelse StmtardMe, über die Voll¬
streckung der Strafarbeit; eine kritische Analyse derselben ist in dem neuesten
Jahrgang der „Allg. Deutsch. Strafrechtszeitung" enthalten) kann an dieser
Stelle nicht eingegangen werden; hervorzuheben aber bleibt, daß der Ver¬
sasser nach genauen statistischen Vergleichungen der Ergebnisse sich sür das
Progressiv-System ausspricht. Seine Vorschläge lehnen sich im Einzelnen
meistens an das häufig geschilderte irische System an; volle Beachtung ver¬
dienen namentlich seine in einer Denkschrift an das Ministerium entwickelten
Reformvorschläge über die zweckmäßige Behandlung jugendlicher Verbrecher.
„Fast in unmittelbarer Nähe" (wir citiren hier die „Allg. Deutsch. Straf-
rechtszeitung") „gleichsam unter seinen Augen hatte Brunn Gelegenheit, die
beiden Besserungsanstalten, Flaktebjerg und Böggilgaard, zu beobachten.
Auf Grund seiner Beobachtung entscheidet sich der Verfasser für den vorzugs¬
weisen Werth der ländlichen Arbeit und er verlangt insbesondere einen
stufenweisen Uebergang zwischen Gefängniß und Freiheit, indem er betont,
daß die physische Entwickelung jugendlicher Personen ganz besonders ins
Auge gefaßt werden müsse. Nicht zu übersehen ist außerdem, was Brunn
gegen die Einzelhaft für jugendliche Verbrecher einwendet, nämlich die Rück¬
sicht auf die Geschlechtsentwickelung, welche in der Einzelhaft durch
die stärkere Erregung der Phantasie nur benachtheiligt werden könne." Hin¬
sichtlich der Einzelhaft für Erwachsene faßt Brunn sein Urtheil dahin zu¬
sammen: „Es ist meine volle Ueberzeugung, daß die Einzelhaft, ausgeführt
auf lange Zeit und nach dem absoluten System, bedeutende Gefahren für die
Gesundheit des Gefangenen in physischer Beziehung mit sich führt, Gefahren,
welche ich nach meiner Kenntniß für unabwendbar ansehe und noch nirgends
beseitigt gefunden habe." Als beachtenswerthe Erfahrung verzeichnet Brunn
ferner eine Aeußerung des Bußgefängniß-Directors von Christian!«, der zu¬
folge Einzelhaft physische Entkräftung nach sich ziehe, welche sich bald ver¬
liere, wenn der Gefangene aus der Zelle entfernt werde. Nebenbei verdient
in Bezug auf jenes Gefängniß noch Erwähnung, daß der Procentsatz der
Rückfälligen auf 25 anzunehmen ist — ein sehr ungünstiges Systemsergebniß,
wenn man es mit den Resultaten des Progressivsystems (in Irland etwa
7 Procent) vergleicht.
Wir gebrauchen hier den Ausdruck „Progressivsystem" als einen wissen¬
schaftlich gebräuchlich gewordene Terminus, welcher in aller Kürze ein
wesentliches Unterscheidungsmerkmal fixirt und vor der häufig gemachten
irrigen Voraussetzung behütet, daß man, das irische System anempfehlend,
jede einzelne technische Besonderheit desselben als unabänderlich feststehend
bezeichnen wolle. Dies wird den Befürwortern desselben häufig irrthüm¬
licher Weise Schuld gegeben, während die Absicht doch nur die sein konnte,
einerseits den Grundgedanken desselben, andererseits die Methodik des Systems
als wahrhafte Fortschritte zu empfehlen. Aber allerdings ist nach dem jetzigen
Standpunkt der Wissenschaft das in Irland gehandhabte System so sehr als
der vollendetste Ausdruck des Gedankens der am Verbrecher zu vollziehen¬
den, fortschreitenden Erziehung zur Freiheit anzusehen, daß die vorgeschlagenen
Abweichungen immer nur geringfügiger, meistens localen Verhältnissen ent¬
nommener Natur sind und daß im Wesentlichen Progressiv- und irisches
System als synonyme Bezeichnungen gelten können.
Als einer der neuesten Zeugen für das letztere ist namhaft zu machen
der Oberappellations-Gerichtsrath Frhr. v. Groß in Weimar, der 1865 —
dem Beispiel des Prof. v. Holtzendorff folgend — die englischen und irländi¬
schen Gefängnißeinrichtungen an Ort und Stelle studirte und später einer
Commission für Gefängnißwesen in Weimar prästdirte, deren Thätigkeit leider
durch die Zeitereignisse eine dauernde Unterbrechung erfahren hat. Herr
v. Groß veröffentlichte seine Ersahrungen und Vorschläge in den „Blättern
für Gefängnißkunde" unter dem Titel „die Uebertragbarkeit des irländischen
Gefängnißsystems auf deutsche Verhältnisse." Neuerdings ist auch eine in
Jena im vorigen Jahr von derselben Autorität gehaltene Vorlesung, „eine
Wanderung durch irländische Gefängnisse", in der bekannten Sammlung ge¬
meinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge (Heft 60) zum Abdruck gelangt.
Zur allgemeinen Kenntnißnahme des Gegenstandes, um den es sich hier
handelt, ist besonders diese einfach, anschaulich und übersichtlich abgefaßte
Schrift dem größeren Publicum zu empfehlen. Der Verfasser legt den Werth
des complicirten und doch so bewunderswerth einheitlichen Mechanismus
des irischen Strafhaftsystems in überzeugender Weise dar, er zeigt, „daß
dasselbe das Streben und die Selbstbeherrschung des Gefangenen aufs höchste
anspornt und ihn stufenweise aus schweren in bessere Tage — der Freiheit
entgegen führt und dadurch zur Freiheit erzieht", und schließt seine Abhand¬
lung mit dem Ausdruck seiner Ueberzeugung, „daß der Grundgedanke des
irischen Gesängnißsystems, nämlich der, den einzelnen Verbrecher in einer Reihe
von Abstufungen zu dem höchsten Endziel, zum vernünftigen Gebrauch seiner
Freiheit hinzuleiten, eine große anthropologische und psychologische Wahrheit
ist, deren Verwerthung für ihre Gefängnißeinrichtungen auch anderen Natio¬
nen als der irländischen nur dringend anempfohlen werden kann."
Es liegt in diesen Worten eine ernste, nicht zum ersten Mal ausgesprochene
Mahnung, eine Mahnung, die wiederholt von Männern der Wissenschaft
wie von Praktikern an Alle, die zu der Entwickelung des Gefängnißwesens
beizutragen im Stande sind, gerichtet worden und die leider, vor Allem in
Preußen, fast vollkommen unberücksichtigt geblieben ist. Wir beabsichtigten
nicht, die preußische Regierung dafür ausschließlich verantwortlich zu machen.
Allerdings scheint es uns ein berechtigtes Verlangen, daß dieselbe längsteine
Commission von Sachverständigen zur Untersuchung der Gefängnißeinrichtungen
nach Irland hätte schicken sollen, und in den gelegentlichen Versicherungen
von der Ministerbank, daß die Regierung den Ergebnissen des irischen Systems
immerwährend mit Aufmerksamkeit folge, erblicken wir nur eine Parodie
dessen, was mit Fug und Recht beansprucht werden könnte. Allein wir finden
eine Erklärung und gewissermaßen auch eine Entschuldigung für dies Ver¬
halten in der eigenthümlichen Stellung der Verwaltung, die bei uns wie in
aller Welt nicht gerade mit Vorliebe und Unbefangenheit an die Arbeit geht,
die eigene Mangelhaftigkeit aus dem Studium fremder Vorbilder zu erkennen.
Viel unverzeihlicher aber erscheint uns die Mitschuld des Landtags, der an¬
scheinend ebenfalls froh, der eigenen Mühewaltung überhoben zu sein, die
Erklärungen der Regierungscommissare stets einfach g>ä aota legte und der
noch nie einen auch nur halbwegs ernsthaft gemeinten und ernsthaft durch¬
geführten Versuch gemacht hat die Staatsregierung zu einem correcten Vor¬
gehen zu veranlassen.
Wir sprechen es geradezu aus, daß uns diese Versäumniß des preußischen
Landtags, dies passive Gehenlassen in einer Frage der Humanität und des
Rechts, einer Frage, von deren richtiger Lösung das Wohl und Wehe vieler
Tausende abhängt, ja als eine wahre Versündigung an dem Geiste des Fort¬
schritts wie an dem guten Ruf, den sich die liberale Majorität in mühsamen
Kämpfen auf anderen Gebieten erworben, erscheint. Und was bei dieser
Thatsache noch besonders entmuthigend wirkt, ist ihre Ursache. Fragen
wir, weßhalb denn dieser Gegenstand von einer liberalen Majorität bisher
in so wenig befriedigender Weise behandelt worden ist, so glauben wir einen
plausibler Erklärungsgrund nur in der oft beobachteten Erscheinung finden zu
können, daß Fragen, wie wichtig sie an sich auch sein mögen, meistens so lange
vernachlässigt bleiben, bis die Folgen derselben in der einen oder andern
Weise unerträgliche Mißstände verursachen, welche sich sodann die öffentliche Auf¬
merksamkeit erzwingen. So war es in England mit der Gefängnißfrage. Erst
das Epidemischwerden der Garottirungen (1861) brachte die Niedersetzung einer
Untersuchungscommission zu Wege (1862) und führte zu dem Abschluß der
neuen englischen Gefängnißacte (1864), die sich wesentlich an das irische Sy¬
stem anlehnt. Auf einen solchen Impuls zu warten, müssen wir glücklicher¬
weise verzichten, da die Verhältnisse unseres Gefängnißwesens derartige trau¬
rige Erscheinungen zu erzeugen nicht geeignet sind. Aber bedarf es denn
überhaupt einer so außerordentlichen Veranlassung, um dieser Frage das ihr
gebührende Maß Aufmerksamkeit seitens der Landesvertretung, und, wir
müssen gleichzeitig sagen, seitens der preußischen Presse, die an Indolenz
mit jener bisher gewetteifert hat, zuzuwenden? Ist es eines Culturstaates
würdig, an Reformen nur unter dem Zwangsdruck der äußersten Nothwendig¬
keit zu gehen, und ist es insbesondere Preußens würdig, dem kleinen Sachsen,
das auf diesem Gebiet aus eigener Initiative mit Erfolg Hand angelegt hat,
so unendlich weit nachzustehen? Stimmen aus Regierungskreisen haben es
in der letzten Zeit an Andeutungen darüber nicht fehlen lassen, daß es sich ver¬
muthlich in der nächsten Zeit um neue Bewilligungen für neue Gefängnisse
handeln werde. Man spricht von der beabsichtigten Anlage eines Einzelhaft¬
gefängnisses für Frauen in Moabit und. was noch wahrscheinlicher ist, von
einer zu errichtenden Einzelhaft-Gefangenenanstalt in Schleswig-Holstein.
Für diese Provinz ist die Sache von besonderer Wichtigkeit, insofern dort
die Nothwendigkeit vorliegt ganz neue Strafanstalten aufzuführen. Die öffent¬
liche Aufmerksamkeit wendet sich der Frage zu, welches System denselben
zu Grunde gelegt werden soll und ein sachgemäßer Aufsatz in der dortigen
Landeszeitung empfahl kürzlich die Prüfung der Anwendbarkeit des irischen
Systems mit dem Hinzufügen, daß es an Haiden. die zu cultiviren und an
Entwässerungen, die vorzunehmen seien, auch bei Rendsburg und Neumünster
nicht fehle. In geschärfter Form tritt also die nun schon oft vertagte Frage
abermals vor die Landesvertretung. Dieselben Bedenken, die nun schon seit
Jahren unerledigt geblieben sind: ist die Bewilligung von Geldern für Ein¬
richtungen, denen die gesetzliche Begründung abgesprochen wird, überhaupt
statthaft — erfordert die Vollstreckung der Einzelhaft, wie sie in Preußen
unter dem von allen Fachmännern*) für verderblich erklärten Einfluß einer
extremen religiösen Richtung üblich geworden ist. nicht die dringendste Auf¬
merksamkeit und das Einschreiten der Landesvertretung — ist eine gründliche
Untersuchung über die anderwärts zur Geltung gebrachten Principien des
Strafvollzugs nicht als Vorfrage für die gesetzliche Regelung des Gegen¬
standes anzusehen? — alle diese Bedenken treten aufs Neue vor die Ver¬
sammlung hin, stumme Zeugen eines von Session zu Session sich hinschleppen¬
den unfruchtbaren Schlendrians, wie er glücklicherweise auf keinem anderen
gleich wichtigen Gebiet zum zweiten Mal vorkommt.
Wie das Abgeordnetenhaus bei einem erneuerten Anlaß sich zu der
Frage des Gefängnißwesens stellen werde, bleibt unsicher; die Vermuthung
indessen, die sich aus dem bisherigen Verhalten ergibt, ist eine zu peinliche, als
daß wir sie zu wiederholen Lust haben könnten. Sollte es sich bewahrheiten. daß
die Gründung neuer Einzelhaftanstalten beabsichtigt wird, so würde es sich um
keinen unbedeutenden Budgetposten handeln, da das Einzelhaftsystem be¬
kanntlich die theuerste aller bestehenden Formen des Strafvollzugs ist, und
dieser Umstand wird gegenwärtig vielleicht mehr als alles Andere geeignet
sein dem Gegenstande die geschärfte Aufmerksamkeit des Abgeordnetenhauses
zuzuwenden. Wenn dasselbe bezüglich der einmal bestehenden Einrichtungen
bisher Anstand genommen hat sich den Regierungsanforderungen zu entziehen,
so sollte es sich doch bei neu erhobenen Ansprüchen zu dem Entschluß auf¬
raffen jede Bewilligung abzulehnen, bis dem Rechtspunkt und dem noth¬
wendigen Neformbedürfniß Genüge geleistet ist. Niemand wird nach dem
bisherigen Verlauf der Dinge das Abgeordnetenhaus der Uebereilung zeihen
dürfen, wenn es von seinem formellen Rechte endlich ernsthaften Gebrauch
macht, wenn es eine längere Verschleppung des Gegenstandes, als das An¬
sehen der Gesetzgebung wie die Würde des Landtags beeinträchtigend, ent¬
schieden von der Hand weist.
Ende Mai begannen die Berge und Wiesen um Tschita zu grünen.
Dieses kleine Dorf liegt an der großen Straße, zwischen dem Baikalsee und
Nertschinsk, auf einer Anhöhe, von zwei Seiten von hohen Bergen umgeben.
Der kleine Fluß Tschita ergießt sich in der Nähe des Dorfs in den schiff¬
baren Fluß Jngoda und bildet ein reizendes Thal. Nach Norden hin sieht
man den See Onon, an dessen Usern Tschingis-Chan seinen Gerichtshof hielt
(er pflegte die Schuldigen in siedendem Wasser zu kochen) als er nach Ru߬
land marschirte. Die Nachkommen seiner Mongolen, die Burjäten, ziehen noch
heute in dieser an Wiesen und Wasser reichen Gegend als Nomaden umher;
mit ihren Filzzelten sind sie bald hier bald dort, immer zu Pferde, oft mit det
Flinte, gewöhnlich mit Bogen und Pfeilen bewaffnet, um das Pulver, das sie
wohl kennen, für besondere Nothfälle zu sparen. Ein Theil der Burjäten hat
sich angesiedelt, er treibt Ackerbau und berieselt sein Feld und Wiese ebenso
geschickt, wie die Mailänder es thun. Obgleich die hohe Lage Tschitah die
Kälte im Winter beträchtlich vermehrt, so hat dieser Ort doch eine besonders
reine, gesunde Luft. Der Himmel ist fast immer heiter, außer im August,
wenn die Gewitter einige Tage lang fast ununterbrochen donnern und dann
ein Platzregen folgt, der mit ungeheuren großen einzelnen Tropfen anfängt
und die Straßen binnen weniger Stunden überschwemmt, weil das Wasser
längs dem AbHange Fall hat und sich tiefe Schluchten ausgräbt. — Be-
merkenswert!) ist noch die große elektrische Kraft der Luft; die leichteste Be-
rührung an Tuch oder Wolle gab Funken und Knistern. Das Klima war gesund,
die Vegetationskraft des Landes ungewöhnlich zu nennen, denn binnen 3 Wochen,
vom Juni, wo die Nachtfröste aufhören, bis Ende Juli, wo sie wieder an¬
fangen, reifen Korn und Gemüse. Von letzterem. waren viele Gattungen in
dieser Gegend unbekannt; einer meiner Kameraden war der Erste, der hier
selbst Gurken (im Freien) und Melonen (in Mistbeeten) zog.
Berühmt ist das Thal von Tschita durch seine Flora, um welcher willen
man diese Gegend den „Garten von Sibirien" nennt. Gewisse Gattungen
der Lilie, der Iris und verschiedene Zwiebelgewächse habe ich nirgend schöner
gesehen. — Die Zahl der Einwohner des Dorfes, in dem wir lebten, betrug
kaum 300; sie sind» arm wie alle Bergwerksbauern. Sie wohnten in kleinen
Häusern, auf welche ein e baufällige hölzerne Kirche trübselig heruntersah, und
ernährten sich vom Ackerbau und einem Fischfang, der in der Jngoda und
im Ononsee ergiebig ist. Das Land gehörte der Krone, die es den Bauern
anwies; dafür waren diese zum Brennen von Kohlen verpflichtet, welche sie
zu Wasser in die Bergwerke von Nertschinsk schiffen mußten. Bis zu unserer
Ankunst bildete die einzige Civilautorität des Orts ein Bergwerksbeamter,
Smolläninow, der uns während der ersten vier Monate unseres Aufenthal¬
tes für unsere eigene Rechnung beköstigte; die Krone gab uns Brot und
zahlte außerdem täglich zwei Kopeken Kupfer (etwa 2 Pfennige preußisch)
für jeden Mann. In den drei Jahren und sechs Monaten, die wir in
Tschita verlebten, erhielt dieser Ort eine völlig neue Gestalt sowohl durch
viele neue Gebäude als durch die neuen Gäste, die eine bedeutende Zahl von
Militärbehörden und Wachen in ihrem Gefolge hatten. Bei unserer An¬
kunft zählte Tschita 26 Hütten und drei ordentliche Häuser, die der Berg¬
werksbeamte, der Commandant und der Platzmajor einnahmen.
Anfangs lebten nur 30 von uns Staatsverbrechern in Tschita; 8 unserer
Kameraden waren gleich nach Vollstreckung der Sentenz in die Bergwerke von
Nertschinsk zur Zwangsarbeit abgefertigt worden, die Uebrigen saßen noch in den
Festungen von Schlüsselburg und auf den Alandsinseln. All' diese Verur.
theilten wurden im August 1827 mit uns vereinigt, als der Bau eines
größeren Gefängnisses vollendet war, das uns Alle aufnehmen konnte. Bis
zu unserer Vereinigung lebten wir, die zuerst in Tschita Angelangten, in
zwei befestigten Bauernhäusern und kamen nur bei der Arbeit zusammen.
Als wir das Fundament zum neuen Gefängnisse und die tiefen Gräben zur
Umzäunung desselben ausgegraben hatten, ließ man uns eine tiefe Schlucht
hart an der Hauptstraße mit Erde und Sand ausfüllen. Diese Schlucht
drohte den ganzen Weg durch abströmende Gebirgswasser zu durchschneiden.
Das Wasser riß binnen weniger Tage die Arbeit eines ganzen Sommers
weg. so daß wir im folgenden Jahre gezwungen waren, einen Damm aus
Balken aufzuführen, um eine Unterlage für unsere Schüttungen von Sand
und Erde zu gewinnen; diese Stelle der Schlucht nannten wir Teufelsgrab.
Das Leben spann sich in trostloser Einförmigkeit ab. Bücher hatten wir
im Anfange sehr wenige, alles Schreiben war streng verboten und nirgends
Papier und Tinte aufzutreiben. Ein Sängerchor, der uns später manche trübe
Stunde verkürzte, bildete sich erst als Alle vereint wurden. — Das Schach¬
spiel bildete in der Zeit zwischen Arbeit und Schlaf die einzige Unterhaltung.
Spielkarten hätten wir durch die Wächter bekommen können, aber wir hatten
uns das Wort gegeben, kein Kartenspiel zu dulden, um jedem Anlaß
zu Unannehmlichkeiten oder Streitigkeiten vorzubeugen. Die Enge unserer
Behausung verschuldete, daß unser Zimmer eigentlich nie vollkommen rein
war; wir schliefen auf Pritschen, die wir mit Filzdecken oder Pelzen belegten;
unter den Pritschen lagen unsere Mantelsäcke und Stiefel. In der Nacht
bei geschlossenen Thüren und Fenstern war die Luft unerträglich drückend und
die Thüren wurden schon mit Sonnenuntergang geschlossen; da man sie früh
Morgens öffnete, habe ich den Aufgang der Sonne kein einziges Mal verschla¬
fen, um sogleich heraustreten und mich durch die frische Luft erquicken zu
können. Tabak rauchte ich nicht, fast alle Uebrigen rauchten und ertrugen
dadurch die gepreßte Luft leichter als ich.
Eine Seele lebte schon vor meiner Ankunft in Tschita, die meine auf¬
richtige Theilnahme und mein innigstes Mitleiden erweckte: Alexandrine Mu-
rawjew, geborene Gräfin Tschernytschew. Ihr Mann, nitida Michailowitsch
Murawjew, war schon im Februar in Tschita angelangt; sie hatte ihren
einzigen Sohn und ihre beiden Töchter der Pflege der Großmutter, Catha-
rine Fedorowna Murawjew, anvertraut und eilte zum Bestimmungsorte
ihres Mannes, um mit ihm die Verbannung und alle Prüfungen zu theilen.
Aber wie grausam wurde sie enttäuscht, als der Commandant ihr anzeigte,
daß seine Instruction ihm nicht gestatte, sie mit ihrem Manne zu vereinigen
und daß sie ihn nur zwei Mal wöchentlich eine Stunde lang in Gegenwart eines
Dejourofficiers sprechen dürfe, wie es früher in der Peter-Pauls-Festung der
Fall gewesen war. — Zum ersten Male sah ich diese unvergeßliche Frau,
als wir einst zur Arbeit geführt wurden, in der Nähe ihrer Wohnung, die
sich gegenüber dem Gefängniß befand, wo ihr Mann eingeschlossen war. Um
einen Vorwand zu haben, ihn wenigstens von Weitem zu sehen, öffnete und
schloß sie ihre kleinen Fensterladen Morgens und Abends selbst. Außer ihrem
Manne befanden sich in der Zahl der Verurtheilten ihr Schwager, Alexander
Murawjew, und ihr leiblicher Bruder, Graf Zacharias Tschernytschew, ein-
ziger Erbe eines großen Majorats; dieses Vermögen suchte der Kriegsminister
A. I. Tschernytschew zwei Jahre später an sich zu bringen; trotz seines
großen Einflusses wurde er vom Reichsrathe abgewiesen, nachdem N. S.
Mordwinow deducirt hatte, daß dieser Bewerber in gar keiner Verwandtschafts¬
beziehung zu der Familie des Verurtheilten stehe, also auch gar kein Recht
auf diese Besitzungen habe. Das große Vermögen und der Familienname
gingen später auf einen gewissen Kruglikow über, der die älteste Schwester
des Majoratsherrn geheirather hatte. — Alexandrine Murawjew war erst
24 Jahre alt, wohl aussehend, schön gewachsen, voller Geist und Leben.
Ihrem Manne gegenüber zeigte sie sich zufrieden, sogar heiter, um ihn nicht
zu betrüben; aber sobald sie allein war wurde die zärtliche Mutter von der
Sehnsucht nach ihren fernen Kindern gefoltert. Sie wußte, daß Niemand
ihnen die Mutter ersetzen könne, obgleich die vortreffliche Großmutter ihre Gro߬
kinder wie Augäpfel bewachte. Nach einem Jahre der Trennung starb der
einzige Sohn, die Töchter verloren ihre Gesundheit, vielleicht in Folge all¬
zu ängstlicher Wartung und Schonung. — Anfangs glaubte ich, daß diese
sonderbare Absonderung von Mann und Frau in Tschita, nicht lange dauern
Würde und nur die Folge eines Mißverständnisses sei; auch in der Wohnung
seiner Frau wäre Murawjew Arrestant geblieben, hätte er seine Ketten ge¬
tragen, auch von da die täglichen öffentlichen Arbeiten mitmachen können;
aber unglücklicherweise wurde diese Maßregel drei Jahre lang streng bei¬
behalten, bis wir in das große Staatsgefängniß übergeführt wurden, das
während unseres Aufenthalts in Tschita an einem anderen Orte gebaut
worden war.
Zwei Monate nach unserer Ankunft in Tschita traf Elisabeth Narysch¬
kin*), geborene Gräfin Konownitzyn, in Begleitung einer anderen Dame,
Alexandrine Jentalzow, ein. Diese Frauen mußten sich demselben Loose fügen,
sie konnten nur zwei Mal wöchentlich zu einer bestimmten Stunde ihre Männer
sprechen. Es zerriß mir das Herz, wenn ich sah, wie diese Damen uns
traurig nachsähen, wenn wir in Ketten an ihnen vorübergeführt wurden und
sie von ihren Männern, denen sie an das äußerste Ende der Welt gefolgt
Waren, kaum einen Blick erHaschen konnten, und ich gestehe, daß ich jeden
Tag Gott dankte, daß sich meine Frau entschieden hatte, meine Bitte zu
erfüllen und bei meinem Sohne zu bleiben, bis ich sie zur Herreise auf¬
forderte. Zu ihrem Glücke hatte Frau Naryschkin in ihrer Heimath keine
Kinder zurückgelassen, da ihre einzige Tochter, Natalie, in Moskau bereits
vor längerer Zeit gestorben war. — So schwierig und traurig auch die Lage
der Verheirateten war, so hatte doch die Ankunft dieser Frauen einen höchst
wohlthätigen Einfluß auf unser Gefängnißleben. Wir durften unseren Ver¬
wandten keine Briefe schreiben; Einige von uns waren gänzlich von ihren
Verwandten vernachlässigt und vergessen; vielleicht würde ein solches Loos
die Mehrzahl getroffen haben, wenn diese Frauen uns nicht gefolgt wären
und nicht die Correspondenz mit unseren Verwandten geführt und durch
diesen Briefwechsel unser Andenken in der civilisirten Welt wach erhalten
hätten. Diese Frauen waren auch in den Gefängnissen unsere Schutzengel:
für alle Bedürftigen waren ihre Beutel offen, für die Kranken bauten sie ein
besonderes Krankenhaus. Alexandrine Murawjew verschrieb durch ihre Gro߬
mutter eine ausgezeichnete Apotheke und verschiedene chirurgische Instrumente
aus Moskau. Einer meiner Kameraden, früher Stabsarzt in der II. Armee,
Ferdinand Wolff, bewohnte dieses Krankenhaus, fungirte als Arzt desselben
und half den Leidenden nach Kräften. Unsere Wohlthäterinnen konnten
sogar unsere Dankesworte nicht vernehmen; nur von Weitem und höchst
selten konnten wir ihrer durch die Spalten unserer Gefängnißmauer gewahr
werden, am häufigsten wenn sie zu Fuß und zu Pferde die umliegenden
Berge durchstreiften.
Alexandrine Jentalzow war kinderlos und hatte in früher Jugend ihre
Eltern verloren; sie wünschte das Schicksal ihres Mannes zu theilen und zu
erleichtern. Nur wenige Monate lebte sie mit uns, weil ihr Mann, früher
Commandeur einer Artillerie-Batterie, nur zu einjähriger Zwangsarbeit ver¬
urtheilt war und Tschita bald verließ. Diese Ansiedelung war für die Jental-
zow'schen Gatten in den ersten Jahren fast unerträglicher, als uns das
Leben im Gefängniß, denn man hatte ihnen Beresow zum Aufenthaltsorte
angewiesen! Drei Jahre später wurden sie südlicher nach Jalutorowsk ver¬
setzt, wo der Mann 1847 starb; seine Wittwe sucht bis zum I. 1836 ver¬
geblich um die Erlaubniß nach, in ihre Heimath zurückzukehren, und trauerte
einsam am Grabe ihres Gatten.
Im Herbst 1827 war das große für uns bestimmte Gefängniß, dessen
Fundament wir selbst ausgegraben hatten, fertig ausgebaut. Im September
wurden Fürst Trubetzkoy und die übrigen Staatsverbrecher, welche direct
nach Nertschinsk in die Quecksilbergruben verschickt worden waren, mit uns
vereinigt; wenig später auch die übrigen in Schlüsselburg und Finnland
internirt gewesenen Kameraden. Die Sträflinge von Nertschinsk waren von
zwei Frauen begleitet, die sich in jeder Hinsicht als unsere Schutzengel be¬
währten. Die Fürstin Catharine Trubetzkoy, geborene Gräfin Laval, war
1826 gleich nach der Abfertigung ihres Mannes demselben in Begleitung
eines Secretärs ihres Vaters nach Sibirien gefolgt. In Krasnojarsk zer¬
brach der Reisewagen der Fürstin und ihr Begleiter erkrankte; sie konnte
sich nicht aufhalten, setzte sich in ein elendes Fuhrwerk ohne Federn und er-
reichte in diesem nach langer mühsamer Reise Jrkutsk. Trubetzkoy war schon nach
Nertschinsk weiter befördert worden, das 700 Werst (100 deutsche Meilen) von
Jrkutsk liegt; die Fürstin wandte sich an den dortigen Civilgouverneur, B. I.
Zeidler, um von diesem einen Begleiter für die Weiterreise zu erbitten. Hier
fing eine Reihe schwerer Prüfungen für die edle und muthige Frau an. Die
Gouvernementschefs hatten den Befehl erhalten, alle Mittel anzuwenden,
um die Frauen der Staatsverbrecher, welche ihren Männern nachzufolgen
wünschten, von diesem Entschluß zurückzuhalten. Der Gouverneur Zeidler
stellte der Fürstin zuerst die Schwierigkeiten der Existenz an einem Orte vor,
welcher S000 schwere Verbrecher beherbergte, mit denen sie in gemeinschaft¬
licher Kaserne zu wohnen hätte, ohne eigene Bedienung, ohne irgendwelche
Bequemlichkeit. Diese Vorstellung schreckte die Fürstin nicht ab: sie erklärte
sich bereit alle Entbehrungen zu tragen, wenn sie nur mit ihrem Manne
zusammen sein könne. Anderen Tages erklärte ihr der Gouverneur, daß er
die Ordre habe, von ihr eine schriftliche Erklärung darüber zu verlangen,
daß sie allen ihren Adelsrechten entsage und auf jedes Eigenthum, beweg¬
liches wie unbewegliches, welches sie schon besitze und welches ihr durch Erb¬
schaften noch zufallen könne, verzichte. Catharine Trubetzkoy unterzeichnete
diese Erklärung ohne die geringste Widerrede und hoffte sich dadurch den
Weg zu ihrem Manne gebahnt zu haben. Aber die Reihe ihrer Prüfungen
War noch nicht zu Ende. Einige Tage nach einander wurde sie vom Gou¬
verneur nicht empfangen, indem dieser sich durch Unwohlsein entschuldigen
ließ. Die Fürstin wartete geduldig und Zeidler mußte sie endlich doch
empfangen; nachdem er sie vergeblich beschworen, von ihrem Unternehmen
abzustehen, erklärte er ihr endlich, daß sie nicht anders zu ihrem Manne
gelangen könne, als mit den wöchentlich abzufertigenden Zwangsarbeitern,
mit Stricken gebunden und diesen von Etappe zu Etappe folgend. — Die
Fürstin willigte mit der größten Ergebung auch in diese Bedingung. Jetzt
konnte der Gouverneur seiner Bewegung nicht mehr Herr bleiben, er brach
in Thränen aus und sagte: „Sie werden zu Ihrem Manne fahren." — Um
dieselbe Zeit kam unser Commandant Leparsky nach Jrkutsk; er war von
der Handlungsweise der Fürstin Trubetzkoy tief ergriffen und hat gewiß dazu
mitgewirkt, daß ihr keine weiteren Schwierigkeiten gemacht wurden. — Eine
Frau mit weniger Seelenkraft hätte gewankt, hätte Bedingungen gemacht,
die Sache durch Correspondenz mit den Petersburger Oberbehörden verzögert
und dadurch die übrigen Frauen abgehalten, die weite und mühsame Reise
in unternehmen. Ohne das Verdienst und die Energie dieser übrigen Frauen
!u schmälern oder herabzusetzen, muß ich doch sagen, daß die Fürstin Tru¬
betzkoy die Erste gewesen, die sich nicht allein den weiten und ungewissen Weg
zur Vereinigung mit ihrem Manne gebahnt hat, sondern zugleich das Wider¬
streben der Negierung besiegte.
Einige Wochen nach der Fürstin Trubetzkoy langte die Fürstin Marie
Wolkonsky, geborene Rajewsky, in Tschita an. Ihr Vater, der berühmte
Held von 1812, hatte die Abreise seiner Tochter dringend widerrathen; er'
wußte, daß sie die Heirath mit dem Fürsten Serge Wolkonsky, der schon
während des großen Feldzuges 1813 zum General befördert worden war
und seinem Alter nach der Vater seiner Gemahlin sein konnte, nicht aus
Neigung sondern nur aus Gehorsam gegen seinen Willen geschlossen hatte.
— Marie Wolkonsky war außerdem Mutter eines Säuglings, ihres erst¬
geborenen Sohnes, der sie vollständig in Anspruch nahm. Sie entschloß
sich, diejenige Pflicht zu erfüllen, die am meisten Opfer und Selbstverleug¬
nung verlangte: sie sagte ihrem alten, kranken Vater, an dem sie mit leiden¬
schaftlicher Liebe hing, daß sie nur auf kurze Zeit abreise, um ihren Mann
zu sehen, ließ ihren einzigen Sohn bei der Großmutter, der ältesten
Staatsdame des kaiserlichen Hoff, zurück und unternahm die Reise nach Sibi¬
rien. In Jrkutsk erwarteten sie dieselben Hindernisse und Schwierigkeiten,
welche die Fürstin Tubetzkoy zurückgehalten hatten; auch Marie Wolkonsky
verpflichtete sich schriftlich zum Verzicht auf die Rechte ihres Standes und
ihr Vermögen. Dieselbe schriftliche Erklärung wurde von allen Frauen ver¬
langt, die ihren Männern nach Sibirien folgen wollten, auch von metner
Frau, welche die Zahl der Frauen beschloß, die freiwillig die Verbannung ihrer
Männer theilten, und im Jahre 1830 zu mir kam. Die Fürstinnen Tru-
betzkoy und Wolkowsky waren die Ersten, die ihren Männern nachgeeilt
waren, ihre Lage war darum die schwierigste. Anfangs fehlte es noch an
einer ausführlichen Instruction für die sibirischen Behörden, die jegliche An¬
frage in Petersburg scheuten. Ein Briefwechsel auf 7000 Werst Entfernung
konnte nicht anders als langsam gehen; die in Petersburg und Moskau
weilenden Verwandten der beiden Damen wußten nicht recht, an wen sie sich
bei Geldversendungen zu wenden hätten, ob an den Dejour-General Potapow,
ob an den Grafen A. Benkendorff. So litten die Damen anfangs an allem
Nöthigen Mangel, sie haben einige Monate lang Kälte und Hunger er¬
dulden müssen. Daß sie ihre Wäsche selbst wuschen und mit einer Nahrung
vorlieb nehmen mußten, wie sie dem ärmsten Tagelöhner zu schlecht gewesen
wäre, verstand sich für sie, die von Kindheit nur auf Gold und Silber ge¬
speist hatten, von selbst; aber sie hatten Leiden zu erdulden, die noch sehr
viel härter waren: sie sahen ihre Männer in unterirdischen Bergwerken unter
der Aufsicht roher Bergwerksbeamten arbeiten! — Als diese Frauen mit uns
in Tschita vereinigt wurden, veränderte sich ihre Lebensweise zum Besseren.
Die Zusendung von Briefen und Geldern wurde jetzt durch den Civilgouver-
neur Zeidler und den uneigennützigen Commandanten Leparsky vermittelt;
die Geldsummen waren nicht beschränkt, befanden sich zwar nicht in den
Händen der Eigenthümer, wurden aber nach deren Verlangen und Bedürf¬
nissen durch die Vermittelung der Canzlei des Commandanten verausgabt.
Der Posttag, der nur einmal wöchentlich wiederkehrte, bildete so jedesmal
eine wichtige Epoche in unserem eintönigen Leben. In der Folgezeit wurde
uns noch gestattet, russische und auswärtige Journale zu verschreiben.
Im September 1827 wurden wir, wie erwähnt, in das neuerba.nee Ge¬
fängniß übergeführt. Der Commandant theilte uns in fünf Abtheilungen
ein. In einem Zimmer befanden sich die acht zuletzt angekommenen Kameraden
aus Nertschinsk; die übrigen vier Abtheilungen wurden nicht nach der Reihen¬
folge der Strafkategorien, sondern nach dem Gutdünken, des Commandanten
besetzt. Eines dieser Zimmer wurde von uns Moskau benannt, weil seine Be¬
wohner meist aus Moskau stammten, ein anderes hieß Nowgorod, weil hier
ebenso viel politisire wurde, wie weiland in den Volksversammlungen dieser
berühmten Republik; die Abtheilung, in welcher ich mich mit siebzehn Kame¬
raden befand, wurde Pleskau, die Schwester Nowgorod's genannt. Statt
der Pritschen hatten wir für eigene Rechnung Betten machen lassen, nicht
um bequemer zu schlafen, sondern um unsere Zimmer reinlicher halten zu
können; unter den Bettstellen konnte man die Diele fegen, was bet den
Pritschen unmöglich war. Wir hatten eine gemeinsame Tafel, speisten in
unseren Abtheilungen, deckten selbst, der Reihe nach mußte stets einer von
uns jour sein. Nach der russischen Gefängnißordnung war uns gestattet,
aus unserer Mitte einen Aeltesten zu wählen, der unsere Anliegen dem Dejour-
Adjutanten oder dem Commandanten vortrug. Dieser Aelteste verfügte über
unsere Geldmittel, kaufte Vorräthe ein, hatte aber keinen Kopeken in Händen;
seine Anweisungen wurden von der Commandantur - Canzlei ausgezahlt.
Fünfzig Schritte von dem Gefängnisse standen unsere Küche und Vorraths¬
kammer. Der Aelteste hatte die Erlaubniß, im Laufe des Tages und unter
Geleit, so oft er wollte, dahin zu gehen; er wurde auf je drei Monate er¬
wählt. Der erste Aelteste war der frühere Obrist Iwan Semenowitsch Pawolo-
Schweikowsky, der dieses Amt zwei Mal nach einander bekleidete. Unsere
Nahrung war einfach und gesund; oft bewunderte ich die Genügsamkeit der¬
jenigen meiner Unglücksgefährten, die ihr Lebelang gewohnt gewesen waren, die
besten französischen Köche zu haben und nie ohne Champagner zu speisen; jetzt
begnügten sie sich mit Kohlsuppe und Brei und tranken Kwas oder Wasser dazu.
Wir hatten viele Gastronomen unter uns; sie gestanden sämmtlich ein, daß
sie in Tschita nie an Hunger gelitten, sich allerdings aber auch nie gesät¬
tigt gefühlt hätten. Ich habe schon erwähnt, daß etwa die Hälfte meiner
Kameraden plebe bemittelt war und daß Viele von ihren Verwandten ver-
nachlässige wurden; die Uebrigen waren sehr reich. nitida und Alexander
Murawjew erhielten allein 60.000 Rubel jährlich! — Jedesmal nach Ablauf
von drei Monaten, bei der Wahl des neuen Aeltesten, circulirte ein Bogen
auf welchem Jeder seinen Mitteln nach zu den gemeinsamen Ausgaben contri-
buirte; die eingegangene Summe wurde vom Aeltesten zur Anschaffung von
Nahrungsmitteln, Thee, Zucker, Wäsche :c. verwandt. Kleidung und Wäsche
schafften wir selbst an; die Bemittelten kauften die nöthigen Artikel und
theilten sie mit den Unbegüterten. — Alles wurde brüderlichlich getheilt,
Geld und Leid. Um das Geld nicht unnütz zu vergeuden, wurde die Beklei¬
dung von einigen Kameraden selbst zugeschnitten und genäht. Die besten
Schneider waren Paul Puschkin, Fürst Eugen Obolensky. Paul Masgana,
Anton Arbusow. Die schönsten Mützen und Schuhe wurden von Nikolai und
Michael Bestushew und Peter Falkenberg genäht; sie ersparten durch ihre
Arbeit eine Summe Geldes, mit der wir auch andere unglückliche Verbannte
unterstützen konnten. - Als der Geistliche Myslowsky (derselbe, der die fünf
Führer der Verschwörung zum Galgen begleitet hatte) diese Details unserer
Lebensweise durch Alexander Kornilowitsch erfahren hatte, theilte er sie meiner
Frau mit, indem er die Bemerkung hinzufügte, daß wir in Tschita das Leben
der Apostel führten.
Unsere Arbeiten dauerten wie früher ununterbrochen fort; an die Ketten,
welche wir trugen, hatten wir uns allmälig gewöhnt. Vom Mai bis zum
September füllten wir die Teufelsgrust aus, besserten wir den großen Weg,
pflanzten und begossen wir die Pflanzen des Gartens, der uns Gemüse und
Kartoffeln lieferte. Als ich noch Schweikowsky's Rücktritt zum Gefängni߬
ältesten erwählt wurde, salzte ich in großen Branntweinsässern 60,000 Gurken
aus unserm eignen Garten ein. — Vom September bis zum Mai führte man uns
täglich zweimal in ein besonders gebautes Gebäude, außerhalb des Gefängni߬
hofes, wo Handmühlen eingerichtet waren; Jeder von uns mußte täglich
80 Pfund Roggen mahlen. Anfangs war diese Arbeit schwer, bis unsere
Hände und Arme sich an dieselbe gewöhnten; die gesünderen und stärkeren
meiner Unglücksgefährten halfen den schwächeren ihr Quantum fertig brin¬
gen. Oft wurde unsere Arbeit, die im Reiben der Mahlsteine bestand, mit
melodischem Gesang begleitet; P. N. Loistunow machte den Kapellmeister;
die Kirchenmusik von Bortniansky wurde besonders gut gegeben. In
die Kirche wurden wir nur einmal jährlich zur Fastenzeit geführt, um zu
communiciren; an den Vorabenden großer Festtage kam der Geistliche in
unser Gefängniß um Gottesdienst zu halten. Ich werde nie vergessen, wie
rührend und erhebend dieser Gottesdienst am Ostersonnabend des Jahres
1828 gefeiert wurde, wie um neun Uhr vor dem Zapfenstreich von allen
Seiten der Ruf „Christus ist auferstanden!" ertönte und die Ketten der Ge-
fangenen klirrten, die sich in brüderlicher Begeisterung einander in die Arme
warfen. In Gedanken umarmten wir zugleich unsere entfernten Verwandten und
Freunde, denen wir uns im Gebet verbunden wußten.
Unsere Freistunden wurden nach den ersten schweren Jahren durch an¬
genehme und belehrende Lectüre ausgefüllt: außer Zeitschriften in russischer,
französischer, englischer und deutscher Sprache, deren Anschaffung uns gestattet
wurde, hatten wir die guten Bibliotheken zu unserer Disposition, welche
nitida Murawjew, Wolkonsky und Trubetzkoy sich nachkommen ließen. Die Zeit¬
schriften wurden unter mehrere Leser vertheilt, die über die wichtigsten Neuig¬
keiten und Begebenheiten den Uebrigen referiren mühten. Da Mehrere von
uns wissenschaftliche Bildung erhalten hatten, wurde beschlossen, daß diese
uns die langen Winterabende durch Vorträge verkürzen sollten. nitida
Murawjew, der schöne Militärkarten und Pläne besaß, trug uns Strategik
und Taktik vor; Ferdinand Wolff hielt Vorlesungen über Chemie und Anato¬
mie; Puschkin II. trug höhere Mathematik vor; Alexander Kornilowitsch
und Peter Muchanow lasen russische Geschichte; Alexander Odojewsky russische
Literatur. Mit Liebe und Erkenntlichkeit muß ich noch des Fürsten A. Odo¬
jewsky gedenken, der die Geduld hatte, mich, den geborenen Esthländer, der
nur mangelhaft russisch konnte, vier Jahre lang in dieser Sprache zu unterrich¬
ten. — Um 9 Uhr Abends schloß man unsere Thüren und mußten unsere
Lichter ausgelöscht werden. Da wir nicht so zeitig einschlafen konnten, dauerten
die Unterhaltungen im Dunkeln gewöhnlich noch mehrere Stunden lang fort
oder wir hörten den Erzählungen M. Küchelbecker's zu, der eine Seereise um die
Welt gemacht hatte. A. Kornilowitsch machte dann zuweilen noch Mittheilungen
aus der vaterländischen Geschichte, mit welcher er sich als Redacteur des
Journals „die russische alte Zeit" fleißig beschäftigt hatte. Mehrere Jahre
lang hatten er und der Professor Kunitzin freien Zutritt zu dem Staatsarchiv
gehabt und die Regierungszeit der Kaiserinnen Elisabeth und Anna beson¬
ders eifrig studirt. — Nach einem halben Jahre mußten wir uns von diesem
kenntnißreichen Kameraden trennen: ein Feldjäger, der uns S. Wadkowsky
aus Schlüsselburg brachte, führte Kornilowitsch mit sich fort. Später erfuh¬
ren wir, daß dieser wieder in die Peter-Pauls-Festung eingesperrt worden sei,
wo man ihn öfter über die polnische geheime Gesellschaft verhört hatte; 1834
wurde er als Soldat nach dem Kaukasus geschickt, wo er einige Expeditionen
Mitmachte und zwei Jahre später an einem bösartigen Fieber starb.
Der Jahre lange intime Verkehr mit gebildeten Kameraden hatte einen
großen Einfluß auf Diejenigen unter uns, die früher keine Zeit oder keine
Mittel besessen hatten, um sich mit Kenntnissen zu bereichern. Einige began-
nen fremde Sprachen zu erlernen; unter diesen machte Zawalischin I die
größten Fortschritte: er erlernte nicht nur das Griechische und Lateinische,
sondern noch acht europäische Sprachen. Zur Erlernung jeder dieser Spra¬
chen fand er einen Lehrer in der Zahl der Kameraden, als besonderer Schlüssel
und als allgemeines Wörterbuch diente ihm die Bibel. Die Sprachübungen,
die gemacht wurden, führten zu manchem komischen Austritt. Allgemein war
das Gelächter, wenn Jemand sich um die Aussprache der englischen Worte
abmühte und M. Lunin, der dieser Sprache vollkommen mächtig war, bittend
sagte: „Lesen Sie und schreiben Sie, meine Herren, englisch, so viel Sie
wollen, nur sprechen Sie diese Sprache nicht." — Unsere fünf Zimmer waren
sehr eng, denn aus allen vier Seiten standen Betten. Einige von uns
äußerten den Wunsch, die Geige zu spielen, oder die Flöte zu blasen, sie
waren aber zu gewissenhaft, die Ohren der anderen Kameraden zu quälen;
ich wählte mir daher das undankbarste Instrument — den Czakan (Stock¬
pfeife) und widmete diesem täglich eine halbe Stunde. Ein Jahr später
wurde uns gestattet, in unserm Gefängnißhofe ein Häuschen von drei kleinen
separaten Zimmern zu bauen. In einem standen Hobel - und Drechslerbänke und
und eine Presse zum Buchbinder; die besten Erzeugnisse auf diesem Gebiet liefer¬
ten die Gebrüder Bestushew, Puschkin, Frolow und Borissowl. — In den ändern
Zimmern standen ein Royal und ein Fortepiano; nach festgesetzten Stunden
kam man der Reihenfolge nach dahin, um die Flöte, den Czakan zu blasen,
die Geige und die Guitarre zu üben. Auf dem Royal spielte A. P. Juschnews-
ky sehr geläufig; mit Wadköwsky, einem ausgezeichneten Violinspieler, Kru-
kow II. und Soistunow, der Violoncello spielte, bildete er ein gutes Quartett.
Den 30. August 1828. da wir 16 Namenstage gleichzeitig feierten, spielte
unser Orchester zum ersten Mal im Gefängnisse.
Ein Jahr nach unserer Ankunft in Tschita verließen uns unsere Kame¬
raden von der siebenten Kategorie, da ihr Termin für die Zwangsarbeit zu
Ende war und sie zur „Ansiedlung in Sibirier-" übergehen mußten. Wir
freuten uns für die Abreisenden, daß diese fortan mehr Freiheit genießen
sollten — sie trauerten, uns in Ketten und im Gefängniß zurücklassen zu
müssen; die Zeit lehrte, daß wir es doch besser hatten als sie. Die Gesell¬
schaft edler, gesitteter Männer schmückt das Gefängnißleben eben so sehr, als
die Gesellschaft von Taugenichtsen das Leben in der Freiheit verdunkelt. Die
Abreisenden hatten anfangs viel zu leiden, da sie an entfernt liegenden nörd¬
lichen Ortschaften und von einander getrennt angesiedelt wurden; erst nach
zwei Jahren wurden sie in eine südlichere Gegend versetzt, wo sie zu je zwei
und drei Kameraden zusammen leben konnten. — In den ersten Tagen des
August 1828 langte ein Feldjäger in Tschita an. er brachte Niemand mit
und führte Niemand fort; wir konnten darum über den Grund seines Erschei¬
nens Nichts erfahren, zumal keine Veränderung in unserer Behandlung eintrat.
Ende September erschien der Commandant aber plötzlich in großer Uniform mit
breitem Bande über der Schulter im Gefängniß; er versammelte uns in
einen Kreis und kündigte an, daß der Kaiser allergnädigst zu befehlen ge¬
ruht habe, uns in Ansehung unserer guten Führung die Ketten abzunehmen,
die wir auf der Reise und dann noch anderthalb Jahre lang getragen hatten.
Später erfuhren wir, daß der Kaiser am 8. Juli, dem Tage des Festes der
Kasan'schen Kirche zu Se. Petersburg, aus dieser heraustretend befohlen hatte,
einen Feldjäger nach Tschita abzufertigen mit der Ordre, denjenigen Staats¬
verbrechern, die solche Gnade durch ihre gute Führung verdient hätten, die
Ketten abzunehmen. Der Commandant hatte diese Ordre Anfang August
erhalten, aber beschlossen die Sache zu verheimlichen, bis er Antwort auf die
Anfrage erhalten hätte, ob die bewilligte Gnade auf die Staatsverbrecher
aller Kategorien ausgedehnt werden dürfe. Er wünschte Allen und nicht nur
einem Theile der Gefangenen die Ketten abzunehmen — mußte sich zugleich
aber sagen, daß, wenn er uns Alle davon befreite, er das Mißtrauen der
höheren Behörde auf sich geladen hätte, die ihn stürzen und durch einen
harten Nachfolger ersetzen, konnte. Leparsky wünschte sich unsertwegen
auf seinem Posten zu erhalten und berichtete, daß wir Alle diese Gnade
verdient hätten. Sein Vorschlag war genehmigt worden und er hatte die
Freude, uns selbst davon in Kenntniß zu setzen: ein Unterofficier öffnete die
Schlösser unserer Eisen — zum letzten Mal klirrten sie, auf den Fußboden
fallend. Ich betrauerte sie in diesem Augenblick fast; sie hatten so lange und
so oft Meine Lieder begleitet, wenn ich den Tact zu denselben mit meinen
gefesselten Füßen schlug. Die ersten Nächte nach der Befreiung schien es mir
noch immer, als ob die Ketten meine Füße umschlangen, weil dieselben an
eine bestimmte Richtung und Lage gewöhnt worden waren. Ich erinnere
mich nicht, welchem meiner Kameraden es gelang, sich ein Paar von unseren
Ketten zu verschaffen und aus diesen Andenken für uns arbeiten zu lassen;
ich habe noch einen Ring und ein Kreuz, das Jakubowitsch aus diesem Eisen
geschliffen. Wenn ich zu umständlich und zu sentimental von meinen Ketten
rede, so halte man mirs zu gut; ich habe die Erfahrung gemacht, daß Leiden
für eine Idee auch ihre süßen Seiten haben. — Zu dieser Zeit wurde ich zum
nettesten erwählt, um I. P. Schweikowsky abzulösen. In Angelegenheiten
meiner Unglücksgefährten hatte ich bisweilen Gelegenheit, mit dem Comman-'
danken Leparsky zu verhandeln: er empfing mich stets außerordentlich höflich.
Mehrere Male sagte er: „Was wird alles über mich in Europa geschrieben
werden? Man wird sagen, daß ich ein herzloser Gesängnißwächter, ein Scharf¬
richter und Unterdrücker gewesen sei! Ich bewahre meine Stellung nur, um
Sie,, meine Herren, vor Verfolgungen und Ungerechtigkeiten gewissen¬
loser Beamten zu schützen. Was habe ich von meinen Bändern und meinen
Sternen, die ich hier doch Niemanden zeigen kann? Möchte ich bald von hier
befreit werden, aber nicht anders, als mit Ihnen zugleich!" —
Im Jahre 1828 gelangten noch drei Frauen zu uns nach Tschita.
Natalie Fonwisin, geborene Opyhtin. hatte ihrem Manne wegen zweier
minderjähriger Söhne nicht sogleich folgen können. In ihrer frühesten Jugend
schon zeichnete sie sich durch Schönheit und religiösen Sinn aus; vor ihrer
Verheirathung wollte sie sich von der Welt zurückziehen und sich in ein
Kloster einschließen. Später die Verbannung und die Leiden ihres Mannes
theilend, wahrte sie sich eine unbedingte Ergebenheit in Gottes Willen,
aber ihre Nerven wurden so zerrüttet, daß sie oft mit Krankheit zu kämpfen
hatte. Zu gleicher Zeit mit ihr kam Alexcindrine Dawydow, die Gemahlin
des Husarenodristen Wassily Ljwowitsch Dawydow, nach Tschita; sie hatte
eine zahlreiche Familie verlassen und mußte vor ihrer Abreise ihre Kinder
bei Verwandten unterbringen. Eine ungewöhnliche Sanftmuth, beständiger
Gleichmuth und große Ergebung zeichneten den Charakter dieser liebens¬
würdigen Frau aus. — In demselben Jahre kam noch Mademoiselle Pau¬
line, die Braut P. A. Annenkow's, nach Tschita; die Verlobung war in 5er
Stille vollzogen, die Erlaubniß, zu ihrem Bräutigam zu reisen, öffentlich und
glänzend von dem Kaiser selbst ertheilt worden, an den die heldenmütige
Braut sich persönlich bei Gelegenheit eines großen Manövers gewandt hatte.
Der Kaiser'empfing sie zur guten Stunde mit der größten Theilnahme und gab
ihr Reisegeld, während den übrigen bereits verheirateten Frauen alle mög¬
lichen Hindernisse in den Weg gelegt worden waren. Jetzt befanden sich acht
Damen in Tschita: die Fürstinnen Catharine Trubetzkoy und Marie Wolkonsky,
Alexandrine Murawjew, Elisabeth Naryschkin, Alexandrine Jentalzow, Na¬
talie Fonwisin, Alexandrine Dawydow und Pauline Annenkow. Sie be¬
sorgten die gesammte Korrespondenz mit den Verwandten aller anwesenden
Staatsverbrecher; sie waren die Vermittlerinnen zwischen den Lebenden und
den politisch Todten. Sie selbst führten ein Leben voll Selbstverleugnung:
ihre Männer konnten sie, wie erwähnt, nur zwei Mal wöchentlich während
einer Stunde sehen, in Gegenwart eines Dejourofsiciers und einer Schild¬
wache. Dieses Verhältniß dauerte fast vier Jahre, bis zu unserer Versetzung
in ein neues Gefängniß bei der Petrowski'schen Eisensabrik.
Wir waren anfangs in Tschita unser 82 Mann. Nach der Abferti¬
gung der Staatsverbrecher von der sechsten und siebenten Kategorie, die nach
Verbüßung der Strafarbeit zur Ansiedlung weggesandt worden waren, und der
Abreise Tolstoy's (nach dem Kaukasus) und Kornilowitsch's (in die Festung
von Petersburg) blieben 70 Männer und 7 Frauen in Tschita zurück; Frau
von Jentalzow war ihrem Manne im ersten Jahre ihrer Ankunft an den
Ort seiner Ansiedlung gefolgt. — Jeder Gefangene ist unaufhörlich mit Ge-
danken an seine Befreiung beschäftigt; auch wir dachten an die Möglichkeit
einer Befreiung für uns und die unschuldig leidenden Damen : derselbe Gedanke
beschäftigte noch Andere außerhalb unseres Gefängnisses. In den Bergwerken
von Nertschinsk, wo anfangs acht meiner Kameraden mitgearbeitet hatten, waren
noch Einige von den Officieren des meuterischen Tschernigow'schen Regimentes
geblieben, die nicht mit uns zugleich gerichtet, sondern durch ein besonderes
Kriegsgericht verurtheilt worden waren. Unter ihnen befanden sich der Baron
Solowjew, Bystritzky, Massalewsky und ein gewisser Suchanow. Der Letztere,
der kurz vor seiner Verurtheilung in ein Husarenregiment übergeführt war,
entschloß sich, die vielen Tausende in Nertschinsk internirter Zwangsarbeiter
aufzuwiegeln, uns mit ihrer Hilfe aus Tschita zu befreien und sich über das
Weitere mit uns zu verständigen. Die Mehrzahl der Zwangsarbeiter hatte ein¬
gewilligt; es war verabredet, die Wachen in der Nacht zu entwaffnen und
am folgenden Morgen aufzubrechen, als am Vorabend ein Verräther die
Verschwörung entdeckte und Suchanow und die Hauptführer in Ketten in
ein Gefängniß geworfen wurden. Die Sache wurde sogleich nach Peters¬
burg berichtet und Suchanow sammt zehn Hauptführern zum Tode ver¬
urtheilt. In der Nacht vor Vollziehung des Urtheils hatte Suchanow sich an
dem Ofen seines Gefängnisses aufgehängt; die Uebrigen wurden erschossen.
Solowjew, Bystritzky und Masalewsky wurden zu uns nach Tschita ver¬
setzt um ähnlichen Versuchen vorzubeugen. In Tschita wurden wir von
einer Compagnie Infanterie und von fünfzig sibirischen Kosaken bewacht.
Mehere von uns waren fleißig mit Befreiungsgedanken und Vorbereitungen
zur Flucht beschäftigt, andere aber sahen die Unmöglichkeit eines solchen
Unternehmens ein und wiesen dieselbe nach. Mit der Wache hätte man zurecht
kommen können; die Soldaten waren uns ergeben, sie hätten freiwillig oder
gezwungen ihre Gewehre gestreckt; aus dem Gefängnisse, aus dem Thor hätten
wir entweichen können, aber was sollte dann geschehen? — Wir hätten südlich
nach China flüchten und so die Grenze erreichen können, aber die Chinesen wür¬
den uns ausgeliefert haben. An der Grenze wären überdies fünfzig Kosaken
hinreichend gewesen, um uns Tag und Nacht zu verfolgen, keinen Augenblick
Nuhe zu geben und uns dadurch in einigen Wochen aufzureiben. — Ein
anderer Weg führte südöstlich zu den Ufern des Amur; wir hätten in einer Bucht
dieses Flusses ein Fahrzeug bauen, auf dem Flusse in den großen Ocean
segeln und nach Amerika gehen können. Wie aber sollten wir an das Ufer
des Amur gelangen? die Burjätischen. Nomaden, hätten uns nicht geholfen;
sogar nach Erreichung des Amur wären wir immer noch weit vom Ocean
entfernt gewesen und die Verfolger hätten unsere Flotille leicht vernichten
können. — Ein dritter Weg ging nach Westen; 4000 Werst waren es allein
bis zur Grenze des europäischen Rußlands; bei einer solchen Entfernung
wären unzählige Hemmnisse zu überwinden gewesen. — Ein vierter Weg ging
über die Tundren, morastige mit Moos bewachsene Flächen zum Eismeer. Leich¬
ter wäre die Flucht Einzelner zu bewerkstelligen gewesen. Wir wußten, daß einige
verschickte Tscherkessen glücklich über den Aralsee und das kaspische Meer in ihre
heimathlichen Gebirge gelangt waren. Die Befreiung Einzelner hätte aber
die härtesten Maßregeln gegen die Zurückgebliebenen zur Folge gehabt; Nie¬
mand wollte die Verantwortung dafür gegen die Kameraden und deren
Frauen auf sich laden. Anders stand es mit Denjenigen, die als Ansiedler
verschickt worden waren und abgesondert von einander lebten; aber auch
hier würde das Entweichen des Einen die grausamsten Folgen für die Uebri-
gen gehabt haben. So blieb Nichts übrig, als sich gehorsam unter das
Gesetz der Nothwendigkeit zu beugen.
Die beiden Expeditionen, welche diesen Sommer versucht haben nach dem
Nordpol hin vorzudringen, sind in der Hauptsache unverrichteter Sache zu¬
rückgekehrt. Das deutsche Schiff Grönland", von Dr. A. Petermann in
Gotha vermöge einer Art halb-öffentlicher Nationalsammlung ausgerüstet, von
C. Koldewey befehligt, hat die Ostküste Grönlands nicht frei genug von
Eis gefunden, um an ihr entlang nordwärts zu steuern, und ist nach einem
gleichfalls vergeblichen Versuch bei Spitzbergen umgekehrt; seine Reise dauerte
vom 24. Mai, wo es Bergen verließ, bis zum 10. October, an welchem Tage
es festlich eingeholt in Bremerhaven einlief; der höchste nördliche Punkt, welchen
es errreicht hat, war 81° S'. Die schwedische „Sophie", ein Dampfschiff, ist
bis zu 81" 42' vorgedrungen, also nur etwa einen Grad weniger weit, als
Parry, der im Jahre 1827 auf Schlitten 82° 45' > berührte und weiter vor¬
drang als je vorher ein Schiff. Die Absicht indessen, im Eise zu überwintern
und dann im Frühjahr noch weiter nach Norden zu gehen, haben Prof. Nor-
denskjöld und Capt. v. Otter nach erlittenen schweren Beschädigungen ihres
Schiffes aufgeben müssen. Am 4. Juli ausgegangen, hat die „Sophie" am
20. October vor Tromsoe wieder Anker geworfen.
Damit ist jedoch die Sache selbst von den Nationen, welche sich ihrer einmal
bemächtigt haben, so wenig aufgegeben, daß vielmehr in diesem Augenblicke
schon so gut wie feststeht, daß im nächsten Jahre drei Expeditionen ersten Ran¬
ges von den verschiedensten Ausgangspunkten her das ^Unternehmen erneuern
werden. Die Franzosen treten neu in die Linie ein; die Amerikaner knüpfen
den Faden wieder an, welcher zerriß als der vierjährige Bürgerkrieg aus¬
brach; und wir Deutsche endlich lassen uns durch den ersten Mißerfolg nicht
im mindesten entmuthigen, sondern lernen von demselben nur, wie wir es
das zweite Mal zweckmäßiger und glückbezwingender anzufangen haben.
Die französische Nordpolfahrt war schon im Werden, als die nun voll-
endete erste deutsche noch nicht einmal im Kopfe ihres Urhebers geboren war.
Sie reifte mit einer für Frankreich auffälligen Langsamkeit; ihr Urheber
Gustav Lambert setzt eine wahrhaft ungewöhnliche Beharrlichkeit an die
schwere Aufgabe, seine Landsleute für diese Art von Muth- und Tapferketts-
Probe hinlänglich zu erwärmen. Er hat mehr als hundert Vorträge in einer
großen Zahl von Städten halten müssen, um die Nationalsubscripton, der
doch der Kaiser mit S0.000 Franken vorausgegangen war, auf die erforder¬
liche Höhe von einer halben Million zu treiben. Im nächsten Januar will
Lambert nun abgehen, um bis zum Juli bereit zu sein, von der Behringsstraße
her auf das Ziel loszusteuern. Denn das ist die Eigenthümlichkeit der von
ihm gefaßten Idee: er nimmt an, von jener entlegenen Stelle aus, wo Asten
und Amerika einander ansehen und der stille Ocean seine Wogen mit denen des
nördlichen Polarmeers mischt, sei der Pol am sichersten und ersten zu erreichen.
Abgesehen von allgemeinen Betrachtungen, welche für die Erreichbarkeit des
Nordpols überhaupt sprechen, stützt Lambert sich hauptsächlich auf die Wahr¬
nehmungen russischer Mareile-Officiere, namentlich der ehemaligen Lieutenants,
späteren Admiräle Wrangel und Anjou, welche in den Jahren 1821 und 23
nordwärts von Sibirien gesegelt waren. Neuerdings kommen ihm freilich
die Aussagen zweier amerikanischer Walfischfahrer einigermaßen in die Quere,
welche im Sommer 1867 jenseits der Behringsstraße kreuzend zwar wenig
Walfische, aber ein grün bewachsenes Land gefunden haben wollen.
Amerikas Theilnahme an der Erforschung der unbekannten nördlichen
Polargegenden besteht bis jetzt hauptsächlich in den Fahrten von Kane
(1853—S4) und Hayes (1860—61). Der verstorbene or. Kane überwinterte
im Rensselaer-Hafen am Smith-Sund nördlich der Bassins-Bai, war aber
selbst zu schwach, um von dort aus noch weiter nordwärts zu dringen, und
sandte daher seinen Stewart Morton aus, der zuletzt an ein weit hinaus un¬
begrenztes, offenes und leidlich eisfreies Meer gerieth. Wurden gegen Mor-
ton's, als eines ungelehrten Mannes Bericht, noch starke Zweifel erhoben, so
schlug diese Dr. Hayes sieben Jahre später vollkommen nieder. Er hatte schon
Kane's Reise als Arzt mitgemacht; mit einem eigenen durch Sammlungen
bestrittenen Fahrzeug kehrte' er 1860 in den Smith-Sund zurück, überwin¬
terte in Port Foulke, etwas südlicher als Kane, drang aber dafür im folgen-
den Frühling theils auf Schlitten, theils zu Fuße gegen zwanzig Meilen
weiter nach Norden an der westlichen Küste des Sundes, dem sogenannten
Grinell-Land vor, wo er schließlich ebenfalls ein unabsehbares Meer erblickte.
Durch die Beschädigungen seines Schisses genöthigt heimzukehren, nahm er
den festen Entschluß mit, zum dritten Male auf derselben Bahn nach dem
erhabenen Ziele vorzudringen. Er hoffte zwei Schiffe aufzutreiben, das
kleinere dann in Port Foulke vor Anker zu legen, gestützt auf eine dort anzu¬
sammelnde Jagd-Colonie von Eskimos, mit dem größeren aber durch den
Sund hinaus ins offene Meer zu segeln. Es war ihm zur Ueberzeugung
geworden, daß nördlich von Cap Frazer der Smith-Sund jeden Sommer
schiffbar sei. Als Dr. Hayes jedoch nach Halifax kam, erfuhr er den Aus¬
bruch des Aufstandes in den Südstaaten; er glaubte weder seine eigenen
Dienste dem bedrängten Vaterlande entziehen zu dürfen, noch konnte er er¬
warten unter solchen Umständen thätige Betheiligung an einer wissen¬
schaftlichen Entdeckungsfahrt zu finden, und so vertagte er nothgedrungen
seinen Plan auf spätere Tage. Diese scheinen nun angebrochen; der sub¬
atlantische Telegraph hat uns vor Kurzem gemeldet, daß eine neue Nordpol¬
reise in Newyork beschlossen worden sei. Ohne Zweifel wird dieselbe sich in
erster Linie auf die unerschütterliche Energie und die nicht hoch genug anzu¬
schlagenden praktischen Erfahrungen dieses vorzüglichen Mannes gründen.
Wenn auch keine ihm gleichzustellenden, so besitzt Deutschland doch nun
auch schon einige praktische Kenner des Segelns und Festsitzens im Polarmeer.
Das ist der materielle HaupterfUg der diesjährigen Reise. Mit einem einzigen
kleinen Segelschiff unternommen, a^f rasch entworfene Jnstructionen hin, kann
sie unmöglich wie der erste, so auch der letzte deutsche Versuch in dieser Rich¬
tung sein sollen. Das leidet die einmal eingesetzte nationale Ehre und das
hohe Interesse unserer werdenden Marine an solchen Uebungsfahrten nicht.
Man muß sich, um den ersteren Punkt zu würdigen, nur erinnern, wie die
Sache zwischen den überhaupt betheiligten Völkern steht. Nachdem die Ame¬
rikaner in ihrer hoffnungsvollen und erfolgreichen Aufnahme der Idee durch
ihre inneren Wirren unterbrochen worden, in England aber das so lange
und hartnäckig fortgesetzte rühmliche Streben nach Franklin's Wiederauffindung
endlich aufgegeben war, brachte im Jahre 1866 Capitän Sherard Osborn
durch einen Vortrag in der londoner Geographischen Gesellschaft die Nord¬
fahrtpläne wieder in Fluß. Er forderte, daß die Admiralität zwei ihrer
Dampfschiffe ausschicken und dann von diesen aus an geeigneten Punkten
Schlitten-Expeditionen auf den Weg nach dem Nordpol absenden solle. Er
ging nämlich von der Voraussetzung aus, daß der Pol von festem Lande,
nicht von Wasser umgeben sei. Diese Voraussetzung griff unser Landsmann
Dr. A. Petermann in einem Briefe an den Präsidenten jener Gesellschaft,
Sir Rodertck Murchison, mit wissenschaftlichen Gründen so wirksam an, daß
die Anregung Osborn's ohne Erfolg blieb. Aber Dr. Petermann hatte
natürlich nicht von dem Trachten nach der Erreichung des Nordpols überhaupt
abmahnen wollen. Im Gegentheil, diese betrachtete er als eine ausgemachte
Aufgabe der Zeit und setzte in die Bekämpfung der Vorurtheile, welche ihr
entgegenstehen, sogar einen ganz persönlichen edlen Ehrgeiz. Er begann denn
auch von dem Tage an die Ausführung eines deutschen Unternehmens der
Art ernstlich ins Auge zu fassen. Deutsche Wissenschaft hatte englischen Un¬
ternehmungsgeist von der Betretung eines ihr falsch erscheinenden Pfades
zurückgehalten; sollte sie nun nicht im Stande sein, den schlummernden see¬
männischen Unternehmungsgeist ihrer eigenen Nation dafür auf diese Straße
zu leiten? Die ersten Versuche, bald an die Mittel des preußischen Staats,
bald an die des jetzt aufgelösten Nationalvereins geknüpft, mißlangen zwar
aus Gründen, welche nicht in der Sache selbst lagen; aber Interesse für den
Gedanken wurde dabei doch in wichtigen und selbst in ziemlich weiten Kreisen
geweckt. Als nun bekannt wurde, daß die Franzosen ebenfalls auf dieser
ruhmverheißenden internationalen Arena aufzutreten vorhätten, ja als der
Prinz Napoleon, der selbst einmal eine Spazierfahrt ins Eismeer angestellt
hatte, zufällig nach Gotha kam und Dr. Petermann direct und indirect er-
muthigte, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, da entschloß sich dieser
zu einer anscheinend verwegenen That. Er rief ein paar begeisterte junge
Seeleute herbei, raffte alle seine Mittel zusammen, schoß der Nation gewisser¬
maßen das Capital für eine vorläufige Mcognoscirungsfahrt vor und die
„Grönland" konnte aussegeln. Wenn später die Geschichte dieser Dinge zu
übersehen ist, so wird sich wahrscheinlich herausstellen, daß dieser rasche Ent¬
schluß für das ersehnte endliche Vollbringen weit wichtiger gewesen ist als die
bloße Kritik der Resultate ergeben mag.
Die diesjährige schwedische Expedition hat ihre Mittel erhalten durch
das Zusammenwirken von Bürgern der Handelsstadt Gochenburg mit der
Regierung. Prof. Nordenskjöld, der leitende Kopf, setzte durch den einflu߬
reichen Grafen Ehrensvörd die gothenburger Kaufmannschaft in Bewegung
und nachdem das nöthige Geld beisammen war, bewog er den König zur
Ueberlassung des gerade disponibeln Postdampfers „Sophie". Aehnlich scheint
die zweite, größere deutsche Expedition im nächsten Jahre zu Stande kommen
zu sollen. In Bremen hat sich das Bewußtsein, daß die Nationalehre und
das Nationalinteresse eine baldige Erneuerung des Versuchs erheische, am
lebendigsten geregt, Dr. Petermann wurde kurz nach der Heimkehr des Capt.
Koldewey und seiner Gefährten veranlaßt dorthin zu kommen und ihm ein
demonstratives Festmahl gegeben, hinter dessen durchsichtigem Vorhange, so
zu sagen, sich die erste allgemeine Vorbereitung zu der neuen Fahrt halb
verrieth und halb verbarg. Ein Mann bekannten Namens, das Reichstags-
witglied H. H. Meier, dessen glücklicher Initiative und durchdringender Energie
schon Vieles gelungen ist, will das Praktische der Sache in die Hand nehmen.
Sobald das geographisch-nautische Programm von Dr. Petermann und andern
Sachkennern ausgearbeitet ist, wird von Bremen aus unter einer angemesse¬
nen Vorabzeichnung die Nation eingeladen werden, eine zweite größere Ex¬
pedition durch ihre Beiträge flott zu machen.
Das Operationsfeld wird aller Wahrscheinlichkeit nach wiederum in der
weiten nördlichen Oeffnung des atlantischen Oceans gesucht werden. Koldewey
hat von seiner Kreuzfahrt die Ueberzeugung heimgebracht, daß irgendwo in
dieser Gegend jeden Sommer durch das Eis zu dringen sei. Aber es
muß ein Dampfschiff sein, nicht wie diesmal ein Segelschiff, mit dem die starren
Schranken des Eissaumes untersucht werden müssen, ob sie nicht irgendwo ein
Loch haben; und womöglich müssen zwei Dampfschiffe darauf ausgehen, um die
Chancen des Erfolgs durch hinreichende Kohlenvorräthe u. tgi. in> so hoch
wie möglich anzuhäufen. Würde, wie anfänglich schon im letzten Sommer,
an der Ostküste von Grönland versucht werden theilsM Schiff, theils nöthigen-
falls im Boote oder auf Schlitten vorwärts gegangen, so könnte es geschehen,
daß man zuletzt entweder auf grönländischen Granitboden oder in dem jen¬
seits wogenden offenen Meer den Amerikanern des Dr. Hayes begegnete und
so vielleicht noch ein Stück weiterer Entdeckungen von den beiden Nationen
gemeinsam gemacht würde, die sich in endlich erkannter Brüderlichkeit jetzt
anfangen die Hand zu reichen.
Staatengeschichte der neuesten Zeit. Des 14. Bandes zweiter Theil: Geschichte
Spaniens vom Ausbruch der französischen Revolution bis auf unsere Tage von
Hermann Baumgarten. Zweiter Theil, zweiter Halbhart. Leipzig bei
S. Hirzel (1868).
Die erste Hälfte des zweiten Bandes der Baumgarten'schen Geschichte
Spaniens war in den Tagen erschienen, in denen die Nachricht von dem
Ausbruch der jüngsten spanischen Revolution zu uns gelangt war. Ihren
Hauptinhalt hatte die Schilderung der Zustände ausgemacht, welche zu dem
spanischen Aufstande von 1820 führten, und der Mehrzahl der Leser dieses
interessanten Buches mag die Aehnlichkeit mit den Verhältnissen, deren Aus¬
gang sie eben zusahen, bei der Lectüre der Schilderungen aus den Jahren
1814 bis 1820 lebhaft vor Augen geschwebt haben. Hoffen wir, daß das
Stück Geschichte, welches der soeben ausgegebene zweite Halbhart dieses
zweiten Theils erzählt (der traurige Ausgang der Umwälzung von 1820
bildet seinen Hauptinhalt), gründlich verschieden sei von dem Capitel spani¬
scher Revolutionshistorie, welches uns die nächste Zukunft bringen soll-
Der erste Halbhart war an neuen Aufschlüssen und Gesichtspunkten sür
die spanische Restauration nach der Rückkehr des siebenten Ferdinand aus
Bayonne, außerordentlich reich gewesen. Während man bisher angenommen
hatte, der reactionäre Einfluß der Staaten der heiligen Alliance und nament¬
lich Rußlands habe wesentliche Mitschuld an der verbrecherischen Thorheit
und tyrannischen Roheit gehabt, mit welcher der letzte männliche Regent
aus dem Hause der spanischen Bourbonen gegen die Männer gewüthet hatte,
denen die Rettung seines Throns und der Unabhängigkeit seines Vaterlandes
zu danken gewesen war — erfuhren wir an der Hand der archivalischen
Schätze, welche Baumgarten's Fleiß erschlossen hatte, daß dem nicht so ge¬
wesen. Aus russischen, englischen und preußischen Depeschen wurde uns nach¬
gewiesen, daß Kaiser Alexander I. und König Friedrich Wilhelm III. Ferdi-
dinand's Wüthen gegen die Liberalen, seine Rückkehr zu den brutalsten
Formen des Absolutismus und seine Abwendung von allen Gedanken an
eine rechtlich geordnete Verfassung ebenso mißbilligt hatten, wie die, Vertreter
Englands und die freisinnigen Männer in ganz Europa. Der russische Ge¬
sandte Tatischtschew, der bisher für den Hauptmitschuldigen der nichtswürdigen
madrider Camarilla gegolten, war in Wahrheit unablässig bemüht gewesen, den
König auf bessere Bahnen zu leiten und die eingekerkerten liberalen Führer
zu befreien; in ihren Depeschen an Hardenberg und Lord Castlereagh, den
Todfeind des continentalen Liberalismus, hatten die Gesandten Schepeler
und Sir Henry Wellesley die spanische Mißregierung mindestens ebenso hart
verurtheilt, als es jene englischen Oppositionsredner thaten, welche Se. katholische
Majestät vor offenem Hause einen „verabscheuungswürdigen Wicht" (oxse-
rable nretek) titulirten — jede Spur einer Entschuldigung für den Fürsten,
der sein patriotisches Volk wie ein mongolischer Chan behandelte, ist weggefallen
und dadurch das strenge Urtheil, welches über Ferdinand VII. schon früher
feststand, beträchtlich verschärft worden.
Der vorliegende zweite Halbhart ist an neuen wichtigen Aufschlüssen
nicht minder reich. Trotz der Schwierigkeiten, welche der Verfasser zu über¬
winden hatte, um in den Besitz des nöthigen Materials zu gelangen, und
trotz des Scheiterns seiner Versuche, in die Depeschen der französischen, eng¬
lischen und italienischen Staatsmänner, welche Zeugen der Vorgänge von
1820 bis 1824 waren, gehörige Einsicht zu gewinnen, ist er im Stande
gewesen ein Bild jener Ereignisse zu entwerfen, das allenthalben das Ge¬
präge lebensvoller Wahrheit trägt und die reiche Anerkennung, welche er
durch seine früheren Arbeiten auf dem Gebiet spanischer Geschichte erworben,
beträchtlich vermehren wird.
Ein glücklicher Umstand ist dem Verfasser dabei allerdings zu Hilfe ge-
kommen. Das revolutionäre Spanien der I. 1820 bis 1824 könnte von einem
Manne, der so gründliche Vorstudien getrieben hatte wie Baumgarten, auch ohne
die Hilfe der Staatsarchive, welche ihm verschlossen blieben, studirt und verstan¬
den werden. Für die diplomatische Zeitgeschichte boten die preußischen Depeschen
(die einzigen. die dem Verfasser für diesen Zeitraum zugänglich waren) einen
zuverlässigen Leitfaden, wenn der Werth desselben auch durch die Unmög¬
lichkeit des Vergleichs mit den Berichten anderer Gesandten geschmälert
wurde; der eigentliche Schauplatz der Entwickelung, der Boden, auf welchem
die eigentlichen Krisen sich vollzogen, ist in diesem Zeitabschnitte aber
Spanien selbst. Dieses ließ sich aus den zeitgenössischen Journalen und
Flugschriften ungleich besser studiren. als aus den Darstellungen interessirter
diplomatischerZuschauer. —Abweichend von einer großen Zahl früherer Be-
urtheiler. die. unter dem Einfluß der liberalen Ueberschwänglichkeit ihrer Zeit
stehend, die Hauptschuld an dem traurigen Ausgang des zweiten constitutio-
nellen Experiments in Spanien bei seinen Gegnern gesucht hatten, leitet
unser Verfasser den Bankerott der liberalen Sache aus dem Ungeschick ihrer
Vertreter, der Maßlosigkeit der Exaltados und der abergläubischen Voreinge¬
nommenheit der gesammten freisinnigen Partei für die unpraktische Ver¬
fassung von 1812 ab. Mit dieser Verfassung, die das Lteblingskind auch
ihrer deutschen, französischen und italienischen Zeitgenossen war, ließ sich —
wie Wellington schon früher gesagt hatte und wie Baumgarten nach unpar¬
teiischer Prüfung bestätigt — in der That nicht regieren. Ihre freisinnig-
doctrinären Vorschriften standen nicht nur im Gegensatz zu der Unbildung
und Verwilderung des Volks, für welche sie gegeben waren, sie paßten nicht
nur nicht für die Zustände, welche sie entwirren sollten — sie waren so be¬
schaffen, daß selbst eine gebildetere, von einsichtigen und wohlwollenden
Fürsten und Staatsmännern geleitete Nation mit ihr nicht zurecht gekommen
wäre. Die königliche Macht war auf ein Minimum beschränkt, welches keinem
Regenten, der ein Gefühl von der Würde und Verantwortlichkeit seines
Amtes hatte, genügen konnte, und einem in den Traditionen des spanischen Ab¬
solutismus erzogenen Bourbonen aber zeitlebens ein Gräuel sein und bleiben
mußte, weil er'durch dasselbe zum Werkzeug nicht seiner Minister, sondern der
zufälligen Majorität in den Cortes gemacht wurde. Die Räthe der Krone,
die parlamentarische Minister im eminenten Sinne des Worts sein sollten,
waren völlig außer Stande, den Einfluß auf ihre Parteigenossen, der die
Grundlage ihrer gesammten Stellung bilden sollte, irgend zu bethätigen; sie
waren nicht die Führer der Majorität, sondern rechtlich höchst beschränkte
Diener derselben. Nach einer gradezu unsinnigen Vorschrift der Constitu-
tion von 1812 (an welcher nichtsdestoweniger von allen Parteien, ja von
den Gliedern des Cabinets Argüelles selbst, unbedingt festgehalten wurde)
dürften die Minister an den Verhandlungen des Parlaments regelmäßig
keinen Antheil nehmen, nicht einmal den Sitzungen desselben beiwohnen.
Ihr Erscheinen war auf die Fälle beschränkt, in denen sie von den Cortes
zur Theilnahme an der Debatte eingeladen wurden. Für alle wichtigen
Verhandlungen konnten Einfluß und Beredtsamkeit der Regierungs¬
vertreter ohne Weiteres dadurch bloßgelegt werden, daß ein Radikaler
ihre Abwesenheit benutzte oder ihre Nichteinladung durchsetzte. „Die Minister
sollten aufs strengste an das Vertrauen der Versammlung gebunden sein und
doch im Besitz dieses Vertrauens Nichts vorstellen, als die Vollstrecker des
souveränen Willens der Versammlung, auf dessen Formulirung sie in keiner
Weise einwirken konnten. Die eigentliche Regierungsgewalt lag in den
Cortes, mußte in ihnen liegen, so lange diese Verfassung galt. Die Coates
gebärdeten sich demgemäß als ein Complex sämmtlicher Ministerien und über¬
dies der höchsten Gerichte, in dem legislative und administrative Formen, po¬
litische und richterliche Functtonen ein unglaubliches Chaos bildeten. Wie
ein Regierungscollegwm ließen sie sich auf alle Details der Verwaltung ein, wie
ein Richtercollegium letzter Instanz zogen sie unter dem Titel der Verfassungs¬
verletzung alle möglichen Dinge vor ihr Forum; es gab Nichts, mit dem
ein eifriger Antragsteller sie nicht behelligen konnte. Da aber aus dieser
unsinnigen Vielgeschäftigkeit sich Nichts ergeben konnte, als ein unendliches
Gerede mit viel geschäftigen Resolutionen und ohnmächtigen Decreten, so mußte
die Lähmung der konstitutionellen Maschinerie das nothwendige Resultat sein."
Die Zähigkeit, mit welcher an einer so unheilvollen Verfassung festge¬
halten, die blinde Vorliebe, mit welcher der „heilige Codex" zum Gegenstande
eines besonderen Cultus gemacht wurde, hätte zu einem Zusammensturz des
constitutionellen Gebäudes führen müssen, auch wenn dasselbe auf solideren
Grundlagen als den thatsächlich in Spanien vorhandenen geruht hätte. Die Exal-
tados waren schon bei der Eröffnung der Versammlung mittelst ihrer Clubbs
die Herren der Situation und der Stimmung in den Städten und unter den
gebildeten Mittelclassen geworden; der Götzendienst, den das Ausland mit
ihrer Art der Verfassungsauslegung trieb, der Umstand, daß diese Verfassung
im Juli 1820 in Neapel nach dem Siege der Revolution proclamirt worden
war, steigerte ihren Einfluß ins Maßlose und verleitete sie zu dem Irr-
wahne, hinter ihnen stehe das gesammte spanische Volk. Und zu derselben
Zeit, da sie die maßvollen Minister,terrorisirten und unter ihre unbedingte
Abhängigkeit zu bringen suchten, war das Werk der Contrerevolution bereits
im Gange, conspirirte der König mit unzufriedenen Royalisten der Armee
und Garde, durchzogen die Vorboten und Kreuzprediger der neuen „Glau¬
bensarmee" bereits das Land, um die durch den Clerus beherrschte ländliche
Bevölkerung im Voraus auf die Seite des Königs zu ziehen, dessen Anti¬
pathien gegen das herrschende System und dessen Vertreter (Argüelles und
ein Theil seiner Collegen waren die ersten Opfer der Reaction von 1814
gewesen und hatten Jahre lang ohne Verhör im Kerker geschmachtet) den
Eingeweihten trotz aller bourbonischen Verstellungskniffe niemals zweifelhaft
gewesen waren. Zu diesen Partetwirren, die bald in einen Bürgerkrieg aus¬
arten, den der in seiner Machtstellung bedrohte Clerus direct. die Ma߬
losigkeit der Radicalen tndirect nährt, kommen die Uebel einer Armee, die
aller Disciplin entbehrt, in der politische Gegensätze alle Bande der
Zucht gelöst haben und die außerdem nicht regelmäßig bezahlt wird,
einer zusammenhangslosen, von Provincial-Junten und Clubbs beherrsch¬
ten Administration, eines leeren Staatsschatzes, auf welchem die Forderungen
zahlloser Pensionäre aller Parteien lasten und völligen Darniederliegens
der materiellen Interessen. Der Credit ist so tief gesunken, daß sich weder
im Inlande noch im Auslande auch nur zu den höchsten Zinsen An¬
leihen abschließen lassen, wie sie dem Umfang der Finanznoth entsprechen:
im Rechnungsjahr 1820 betrug die Summe der angeschlagenen Staatsein¬
nahmen (die in ihrem vollen Betrage noch niemals eingelaufen waren) 460
Millionen Realen, die der fälligen Zinsen der Staatsschulden 233, nach einer
anderen Berechnung gar 252 Millionen — außerdem war noch ein Deficit
von 200 Millionen aus der Zeit der absolutistischen Wirthschaft herüberge¬
nommen werden. Die Armee allein kostete nach dem Anschlag des Finanz.
Ministers Canga mehr, als der Staat im günstigsten Falle überhaupt einnahm!'
Daß es unter Verhältnissen so widersinniger Art zum Bruch kommen
Muß. daß dieser Bruch bei den bekannten Antipathien Frankreichs und Ru߬
lands gegen die Constitution von 1812 dem Absolutismus zum Siege und
Frankreich zu der längst gewünschten Intervention verhelfen muß. weiß der
Leser schon, wenn er das erste Dritttheil der vorliegenden zweiten Halbbandes
hinter sich hat. Der Gegensatz zwischen dem Hos und den Exaltados, welche
die ministerielle Partei längst überflügelt und in unbegreiflicher Thorheit dem
Könige ihre Unterstützung zur Niederwerfung derselben geliehen haben, spitzt sich
so rasch zu, daß der Sieg des Radicalismus bei den Neuwahlen von 1822
bereits das Signal zum Bürgerkriege gibt, der seit der Einziehung der Klo¬
stergüter schon' seit Monaten in einzelnen Provinzen gespukt hatte. Dem
Ministerium Arguelles folgen die gleich unglücklichen, vom Könige und der
radicalen Majorität gleich scheel angesehenen Moderados-Cabinette Feliu und
de la Rosa, bis die gemäßigte Partei völlig in die Luft gesprengt wird und
der radicale Journalist San Miguel an die Spitze der Geschäfte tritt. Wäh¬
rend die in Verona versammelt gewesenen Mächte bereits schlüssig darüber
sind, von der herrschenden Partei Concessionen an die königliche Gewalt zu
verlangen oder eine französische Armee über die Pyrenäen marschiren zu lassen,
verlacht Spanien die ihm drohende Gefahr und fühlen sich selbst die mit der
diplomatischen Lage bekannten Minister unter dem Schutz der Charte von
1812 und in dem Glauben an die unwiderstehliche Macht des liberalen
Dogmas sicher.
So bricht das Verhängniß unwiderruflich herein. AngoulLme führt seine
Armee nach Madrid und zum Erstaunen des gesammten liberalen Europas ist der
Widerstand, den das zur Vertheidigung des constitutionellen Palladiums aufge¬
rufene spanische „Volk" leistet, gleich Null; das radicale Ministerium hatte Nichts
gethan um dem Feinde eine schlagfertige Armee entgegenzustellen und die Regi¬
menter, welche man auf die Beine gebracht hatte, wurden durch unaufhörliche
Desertionen so rasch gelichtet, daß die demokratische Regierung ein unerhört hartes
Gesetz gegen diese und ihre Verwandten erlassen mußte. Auch von den ge¬
hörten constitutionellen Sympathien der französischen Armee, die in der
That nur ungern für die Sache „der Mönche" über die Pyrenäen gegangen
war, ließ sich Nichts verspüren. Am 7. April 1823 hatte AngoulLme die
Bidassoa überschritten, am 9. Mai rückte er in Burgos, 15 Tage später in
Madrid ein, „von den Einen (den Royalisten) als Befreier, von den Andern
(den vom Pöbel geängstigten liberalen Bourgeois) als Beschützer begrüßt."
Am 1. October traf der König im französischen Lager ein und jetzt wieder¬
holte sich Zug für Zug, was zehn Jahre früher schon einmal schmachvoll
geschehen war: Ferdinand begann ein Regiment der tollsten Willkür und
grausamsten Rache gegen die Liberalen, dem die Fremden, die zu ihrer Be¬
kämpfung herangezogen waren, nur mit Aufbietung ihres ganzen Einflusses
die Spitze abbrechen konnten. Des streng legitimistischen Generals Bourmot
erstes Werk nach der Wiedereinsetzung des Königs war die gewaltthätige
Rettung dreier von diesem zum Tode verurtheilter bisheriger Minister —
Angoulvme's erster Brief an den Minister Villele ein Ausdruck der Besorg-
niß über den „Rückfall in den Absolutismus."
Mit der Inauguration dieses absolutistischen Schreckensregiments schließt
der zweite Band des Baumgarten'schen Buchs. Die Zeichen, unter denen diese
neue Aera aufgethan wird, sind die Verzweiflungsausbrüche derselben legiti¬
mistischen Höfe, welche die Restauration durchgesetzt hatten, und—die Aner¬
kennung der Unabhängigkeit der Colonien durch das Ministerium Canning-
Möchte es uns vergönnt sein, über das Erscheinen des dritten und letz¬
ten Bandes in einer nicht allzufernen Zukunft berichten zu können. Die
„Staatengeschichte der neuesten Zeit" ist durch diesen 14. Band um ein
wahres Prachtstück bereichert worden.
Das Abkommen, welches die zwischen England und Amerika schweben¬
den Differenzen einem schiedsrichterlichen Austrag zuweist, ist der Regierungs¬
presse ein neuer Anlaß geworden, die Verdienste Lord Stanley's zu feiern,
und Disraeli hat demselben beim Lordmajorsbankett sogar ins Blaue hinein
die Aufgabe zugewiesen, zwischen Frankreich und Preußen zu vermitteln, was
der Minister des Auswärtigen selbst gleich darauf in seiner Wahlrede in-
direct ablehnte, indem er erklärte, daß die luxemburger Frage ein Aus¬
nahmsfall gewesen; England dürfe principiell keine Jnterventionspolitik be¬
folgen, seine Lage als Inselreich erfordere eine isolirte Politik.
Wir wollen die Verdienste des Ministers nicht verkleinern, aber dem
übermäßigen Lobe gegenüber scheint es doch an der Zeit, sie aus ihr richtiges
Maß zurückzuführen. Es ist eine alte Erfahrung, daß, wenn man sich auf
der einen Seite wund gelegen hat, als eine große Erleichterung erscheint,
wenn man sich auf die andere wenden kann; so ging es den Engländern
mit ihrer auswärtigen Politik. Das würdelose Verfahren Lord Russell's,
welcher sich in alle Verhältnisse mischte, überall unaufgefordert guten Rath
gab, eventuell drohte und sich dann mit der Faust in der Tasche zurückzog,
hatte die große Mehrheit der Nation mit Unwillen erfüllt; sie war froh, als
dies System zu Ende ging und in Stanley ein Mann ins auswärtige Amt
kam, welcher sich nicht unnöthig um Angelegenheiten Anderer kümmerte und
sich daraus beschränkte, die eigene laufende Politik geschäftsmäßig zu besorgen.
Dies hat der gegenwärtige Minister in anerkennenswerther Weise gethan: er
hat die Tornadofrage mit Spanien erledigt und hat soeben mit dem ameri¬
kanischen Gesandten eine Vereinbarung getroffen, welche die schlimme Diffe¬
renz über die Alabama aller Wahrscheinlichkeit nach beseitigen wird. Das
ist gewiß verdienstlich, aber das ist auch alles, was Lord Stanley gethan;
in allgemeinen Fragen hat er keine Proben einer eigenen positiven Politik
gegeben. Diese Behauptung mag Manchem im Hinblick auf die luxemburger
Conferenz auffallend erscheinen, aber die Bedeutung seines Eingreifens ist
hier in der That eine sehr geringe' gewesen. Lord Stanley ist allerdings
ein zu nüchterner Kops, um eine Konferenz ohne feste Präliminarien zu be¬
treiben, wie Lord Russell es im Frühjahr 1864 in der Schleswig-holsteinischen
Sache that; er erklärte von vorn herein, daß eine europäische Conferenz den
Frieden nicht bewahren könne, so lange nicht Frankreich und Preußen eine
gemeinsame Basis acceptirt hätten. Daß eine solche in der Räumung und
Neutralistrung Luxemburgs gefunden ward, ist nicht sein Werk, sondern
wesentlich das des englischen Botschafters in Paris, Lord Cooley, des fran-
zösischen Botschafters in London, Fürsten Latour d'Auvergne, und des Fürsten
Gortschakoff. Der Kaiser Napoleon, welcher sich, mangelhaft gerüstet wie er
war, in größter Verlegenheit befand und nach einem ehrenvollen Rückzug
suchte, berief Lord Cooley zu sich und bat ihn, die Vermittlung seiner Re¬
gierung anzuregen. Ob die Idee der Neutralistrung zuerst vom Kaiser selbst
ausgesprochen, ob sie von Cooley oder von Latour auss Tapet gebracht wurde,
ist uns nicht bekannt, aber sicher ist, daß sie nicht von Stanley ausging,
der vielmehr zunächst noch ablehnte darauf einzugehen; erst nachdem Fürst
Gortschakoff sie acceptirte und seinen ganzen Einfluß aufbot, ihr in Berlin
Eingang zu verschaffen, ließ er sich von dem unablässig treibenden Fürsten
Latour und von Cooley bewegen, sie auch seinerseits zu empfehlen. Aber selbst
dann sträubte er sich bis zum letzten Augenblick dagegen, England der Col¬
lectivgarantie für die Neutralität beitreten zu lassen, und erst als Graf Bern-
storff im Auftrage seiner Negierung bestimmt erklärte, daß für Preußen die
Garantie sämmtlicher Großmächte conüitio sine yua von des Nachgebens sei
und daß es im Weigerungsfalle seinerseits zu Rüstungen schreiten müsse, gab er
nach, um dann, nachdem kaum die Tinte trocken geworden, mit welcher der
Vertrag unterzeichnet war, dem Parlament zu erklären, daß man mit der Col-
lectivgarantie eigentlich gar keine Verpflichtung übernommen habe, und wenn
nicht alle Großmächte einig seien, England sich nicht zu rühren brauche, die
Neutralität Luxemburgs zu vertheidigen. Wenn das Interesse an auswärtiger
Politik nicht so gering im großen englischen Publieum wäre, so dürfte
schwerlich Disraeli in jeder Tischrede die Verdienste Stanley's in dieser
Frage preisen. Ebensowenig hat der Lord in anderen europäischen Angelegen¬
heiten den Einfluß Englands geltend gemacht. Nirgend war dies dringender
geboten, als bei dem candiotischen Aufstand. Der Minister erkannte freilich
mit richtigem Blick, daß derselbe lediglich von Griechenland und von russischen
Agenten angezettelt sei, und ließ sich darin weder durch die Versicherungen
des Baron Brünnow über das „ä6Link6r«W6mL»t as son auZustö ma!ers",
noch durch die Schlangenwindungen der französischen Politik, wskhe damals
Rußland zu gewinnen suchte, täuschen. Aber er blieb vollständig unthätig;
Lord Palmerston (um von Männern wie Pitt und Canning ganz zu schwei-
gen) hätte in solchem Falle eine kategorische Note nach Athen gesandt und
eventuell durch die Sendung einer Fregatte dem völkerrechtswidrigen Treiben
der griechischen Regierung und den Blockadebrechern ein Ende gemacht. Lord
Stanley dagegen beklagte sich über seinen eigenen Gesandten in Athen, Mr.
Erskine, welcher ein Philhellene sei. aber ließ ihn ruhig dort und verschwen-
dete seine Zeit damit, dem griechischen Ministerium Vorstellungen zu machen,
auf welche dasselbe natürlich nicht hörte, da sein Gesandter aus London
schrieb, daß England thatsächlich nicht interveniren werde. Wie viel Elend
und Blutvergießen hätte hier ein rechtzeitiges Eingreifen verhindert! Doch
Stanley's Politik war rein negativ und rechtfertigt für den Augenblick bis
zu einem gewissen Grade Graf Bismarck's schneidendes Wort: „Wenn ich
ein Abyssinier oder Chinese wäre, so würde ich mich wahrscheinlich sehr um
Englands Politik kümmern, da ich aber ein Europäer bin, thue ich es nicht."
Eine Politik, die von vorn herein das Princip der Nichtintervention aus
ihre Fahne schreibt, kann keinen Einfluß haben, mögen ihre Rathschläge noch
so wohl gemeint sein. Allerdings mag wahr sein, daß. wie Stanley in
seiner Wahlrede sagte, es noch nie eine Zeit gegeben, wo England im Aus¬
lande mit weniger Eifersucht betrachtet wurde und weniger im Verdacht
stand, heimliche Anschläge gegen die Wohlfahrt und den Frieden anderer
Staaten zu hegen: wenn er aber hinzusetzt, daß nach seiner Ansicht England
durch seine Jsolirung nicht im geringsten an Ansehen verloren, so täuscht er
sich schwer und vergißt, daß die Eifersucht, mit der ein Staat von anderen
angesehen wird, gewöhnlich in genauem Verhältniß zu seiner Größe steht.
Die Stimme des Englands der Pitt, Wellington und Canning gebot
überall Achtung, weil man hinter ihr den Entschluß wußte, eventuell dem
Rath oder der Forderung Nachdruck mit Linienschiffen zu geben; jetzt, da
diese ullius, ratio überall fehlt, wo nicht etwa englische Unterthanen brutal
verletzt sind wie in Abyssinien, hört der betreffende Minister die Rathschläge
der britischen Cabinete höflich an und thut dann was ihn gut dünkt.
Auf gleich falscher Unterlage, wie das Urtheil Stanley's über die Gegen¬
wart, scheint uns sein Prognostikon für die Zukunft zu beruhen. Er sprach
bei dem liverpooler Bankett am 22. October seine Hoffnung aus, daß die
auswärtige Politik nicht mehr einen Gegenstand der Parteikämpfe bilden
werde. Englands Politik solle sein: streng die Rechte der Schwachen wie
der Starken zu respectiren und sich nicht zu beeilen erlittenes Unrecht zu
rächen, sondern sich dem leidenschaftslosen Schiedsrichterspruch irgend eines
kompetenten Tribunals zu unterwerfen (not rsa-ämess to resout wronAS, but
to Sudan to tus äisxassionats arbitration ok sollte eompetönt tribunal).
Das ist gewiß sehr edel und menschenfreundlich gedacht, aber wenn dies
Programm praktisch werden sollte, müßte sich die menschliche Natur geändert
haben. Der radicale Irrthum bei dieser Auffassung ist, daß man den Fall
eines Schiedsrichterspruchs in Privatangelegenheiten mit dem in internatio¬
nalen Fragen gleichstellt, während beide vollständig verschieden sind. Wenn
zwei Privatleute mit einander streiten und sich einem Schtedrichterspruch
nicht unterwerfen wollen, so ist ein Gerichtshof da, an den sie sich wenden
können, und der die Macht hat ihren Proceß zu entscheiden. Derselbe Gerichts¬
hof nöthigt beide Parteien, auch wenn sie einMl erklärt haben, den Schieds¬
spruch annehmen zu wollen, sich demselben zu unterwerfen und ihn auszu¬
führen. Wo aber ist in internationalen Fragen ein solches Tribunal?
Wenn zwei Staaten übereinkommen, ihren Streit vor einen Schiedsrichter
zu bringen, und der Ausspruch desselben dem einen so ungerecht dünkt, daß
er sich weigert ihn zu vollziehen, was bleibt dem anderen übrig als zu¬
zusehen oder mit den Waffen in der Hand zu zwingen? — Ein Schieds¬
richterspruch zwischen Nationen entspricht also nicht dem im Privatleben,
sondern steht auf diesem Gebiet gleich mit dem Versuch einer außergericht¬
lichen freundlichen Ausgleichung; gelingt eine solche nicht, so wenden sich die
Privaten an den Richter, wenn sie ihre Ansprüche durchsetzen wollen, und
ebenso greifen zwei Regierungen wenn sie sich einem Schiedsspruch nicht
unterwerfen wollen und ihre Ansprüche geltend zu machen entschlossen sind,
zu den Waffen: der Krieg ist der Proceß der Nationen und wird es bleiben,
so lange das tausendjährige Reich des ewigen Friedens noch nicht ange¬
brochen ist. Alle Bestrebungen sollten darauf gerichtet sein, die Kriege seltener,
kürzer und in ihren Mitteln menschlicher zu machen; die genfer Convention,
die Bestrebungen das Prtvateigenthum zur See frei zu machen, haben mehr
für das Wohl der Nationen gethan, als die Deklamationen der Friedens-
congresse. In dieser Hinsicht ist es auch immer anerkennenswert!), wenn
ein großer Staat sich in einer großen Frage einem Schiedsrichterspruch
unterwirft, aber man soll nur nicht glauben, daß dadurch der Krieg
selbst beseitigt werde. Wo die Ehre und Unabhängigkeit einer Nation in
Frage kommen, da wird sie sich keinem Schiedsspruch unterwerfen, sondern
ihr Recht auf jede Weise durchzusetzen suchen, gerade wie ein Privatmann,
den ein anderer eines Verbrechens angeklagt, keine freundschaftliche Verstän¬
digung darüber vorschlägt, ob er schuldig oder unschuldig sei, sondern, wenn
er sich ungerecht verletzt fühlt, eine kategorische Erklärung des Gerichtes ver¬
langt. Wenn England jetzt zustimmt die Schadenssorderungen der Ameri¬
kaner wegen der Alabama dem Schiedssprüche des Königs von Preußen zu
unterwerfen, dieser für Amerika entscheidet und England sich demzufolge ent¬
schließt eine große Summe zu zahlen, so beweist das nichts weiter, als daß
es mehr in seinem Interesse erachtet, ein Opfer zu bringen, als eine
Differenz bestehen zu lassen, welche zum Kriege führen könnte. Als aber die
Amerikaner die südstaatlichen Gesandten vom Bord des Trent weggeführt
hatten, da schlug England keinen Schiedsspruch darüber vor, ob nicht Amerika
im Unrecht gewesen, sondern verlangte einfach und kategorisch in Washington
Freilassung, mit dem Entschluß diese Forderung mit jedem Mittel durchzu¬
setzen. Und derselbe Lord Stanley, der eben mit Johnson die Convention
unterzeichnet, antwortete als Seward verlangte, England solle auch die Frage
einem Schiedsspruch unterwerfen, ob es berechtigt gewesen die-Südstaaten
als kriegführende Partei anzuerkennen: das sei nicht möglich, eine solche
Frage müsse jeder souveräne Staat für sich entscheiden, gab also damit seiner
jetzigen neuesten Theorie eines internationalen Amphiktyonengerichts im
Voraus ein Dementi.
Lord Stanley hat das merkwürdige Schicksal gehabt, seine Politik fast
ebenso, wenn nicht noch mehr von seinen Parteigegnern, als von seinen
Parteigenossen bewundert zu sehen. Es ist also, wenn wie wahrscheinlich
demnächst ein Cabinetswechsel eintritt, keine Aussicht auf eine positivere aus¬
wärtige Politik, Gladstone interessirt sich überhaupt für auswärtige Politik nicht
oder hat doch wenigstens keine bestimmten Ansichten darüber, Lord Kimberley,
der unter ihm Stanley's Nachfolger werden soll, hat zwar früher als Unter-
staatssecretär und Gesandter in Petersburg eine praktische Schule durchge¬
macht, wird aber, auch wenn er wollte, doch schwerlich eine unabhängige
Politik verfolgen können, zumal er Bright zum College» haben wird.
Wir beklagen diesen Stand der Dinge aufrichtig, nicht blos im euro¬
päischen, sondern im speciell deutschen Interesse. Die Natur der Verhältnisse
weist auf eine Verbindung der Mächte des mittleren Europa, England, Scan-
dinavien, Deutschland und Italien gegen das Vordringen der übermächtigen
Flankenreiche, Rußland und Frankreich hin. Wir müssen uns aber an den Ge¬
danken gewöhnen bei einem Kriege mit Frankreich England, dessen erstes In¬
teresse die Erhaltung der Integrität Deutschlands sein sollte, in der Reihe
der Großmächte nicht mitzuzählen. Lord Stanley's Sympathien für die
deutsche Einheit, die derselbe in seiner neultchen Wahlrede ausgesprochen hat,
können wir gern acceptiren, wenn wir dabei nur im Auge behalten, daß solche
Aeußerungen, hinter denen kein Entschluß eventuell selbst einzugreifen steht,
ohne großen Eindruck in Paris bleiben müssen. Das Einzige worauf man allen¬
falls rechnen kann ist, daß England Belgiens Neutralität schützen wird und
auch dies wohl nur, weil die Königin hierfür ihr ganzes Gewicht in die
Wagschale werfen würde und ihr dafür die Specialgarantie, welche England
übernommen, zur Seite steht. Was Rußland betrifft, so ist es jetzt Mode in
England geworden, den Krimkrieg zu verurtheilen als ein Abenteuer, zu
dem man sich von Frankreich habe drängen lassen und welches seinen Zweck
ganz verfehlte, während es doch aus der Hand liegt, daß nur das den Zweck
vereitelt hat, daß man sich von Frankreich drängen ließ zu früh Frieden zu
machen und so Rußlands Macht im Wesentlichen ungebrochen zu lassen.
Trotz dieser allgemeinen Stimmung für die Nichtintervention sind wir
überzeugt, daß sie auf die Länge nicht dauern kann; selbst die Mehrheit, welche
sie jetzt vertheidigt, fühlt das Demüthigende das in ihr liegt; es wird sich
über kurz oder lang eine Grenze zeigen, an der das passive Zusehen aufhören
muß. England erinnert freilich jetzt in mancher Beziehung an das Holland
des 18. Jahrhunderts, welches damals auch ängstlich jeder Verwickelung aus
dem Wege ging: es ist zu weich, zu satt und so verletzlich in seinen weitver»
zweigten Jntressen geworden, daß es jeden Streit vermeidet; aber andere
Staaten befinden sich nicht in derselben Gemüthsverfassung und sie werden
seine Geduld über kurz oder lang auf solche Proben stellen, daß es nicht
mehr Schiedsrichterspruche suchen, sondern sich genöthigt sehen wird, der Welt
zu zeigen, daß es eventuell seine Interessen, seine Ehre und seinen Einfluß
mit den Waffen zu vertheidigen weiß.
Wir haben bei unserer Kritik der Neformacte von 1832 die Mängel der¬
selben ausführlich hervorgehoben, aber dabei betont, daß dieselbe eine über¬
wiegend wohlthätige Wirkung gehabt hat. In unterbrochener Reihe ziehen sich
die großen Reformen hin, welche seitdem durchgesetzt sind. Einen zwingenden
Grund, die Frage einer veränderten Vertretung des Volkes im Parlament
wieder aufzunehmen, können wir daher nicht zugeben und jedenfalls hätte
die Reform eher auf Beseitigung positiver Uebelstände, wie der Bestechung,
des Unwesens der Privatbills, der nicht ausreichenden Vertretung der Graf¬
schaften den Städten gegenüber, gehen müssen als auf allgemeine Herab¬
setzung der Wahlqualification. Da aber einmal diese Frage auf die Tages¬
ordnung gebracht und so lange ventilirt war. daß ihre Erledigung in einem
oder dem anderen Sinne nothwendig geworden, so bot Gladstone's Bill
von 1866 noch den besten Ausweg: sie gab den arbeitenden Klassen wenig¬
stens nicht das Uebergewicht, im Gegentheil, sie war conservativer als
die frühere von Russell, sie ging nur auf 7 Pfd. Sterl. herab, während 1860
6 Pfd. Sterl. von den Liberalen vorgeschlagen war. Gladstone gab auch
ganz offen den Grund für dies Zurückgehen an. „Der Satz von 6 Pfd. Sterl.«
sagte er, „müßte nach den sorgfältigsten Ermittelungen 242,000 neue Wahl¬
berechtigte ergeben, die fast alle der arbeitenden Klasse angehören würden;
die gesammte Wählerschaft wäre dann 428,000 , so daß die arbeitenden Klassen
die Majorität in derselben bilden würden. Das hat niemals, eine Bill, die
in diesem Hause vorgeschlagen wurde, thun wollen, das Parlament würde nie
darauf eingehen, obwohl ich nicht sagen kann, daß ich große Gefahr dabei
sehen würde; nach allgemeinen Gründen politischer Klugheit ist es nicht gut
Plötzliche und große Aenderungen in der Vertheilung der politischen Macht
eintreten zu lassen". Gladstone schlug daher den Satz von 7 Pfd. Sterl. vor,
welcher 144,000 neue Wahlberechtigte von der arbeitenden Klasse bringen
würde; außerdem sollte noch 60.000 städtischen Einwohnern durch ver¬
schiedene Klauseln das Stimmrecht gegeben werden, welche aber meistens
nicht zu den arbeitenden Klassen gehörten. Das Resultat wäre gewesen
daß die Elite derselben, die skillsä artis^us, Arbeiter welche sich durch
ihre Tüchtigkeit zu verhältnißmäßiger Unabhängigkeit aufgeschwungen haben,
des Wahlrechts theilhaftig geworden wären. Das Haus verwarf diesen Vor¬
schlag und zwar, weil, wie Lord Stanley gleich nach Gladstone's Rücktritt
bei seiner Wiederwahl in Kings Lynn sagte, die von der Regierung vor¬
geschlagene Maßregel, was die Wahlqualification betrifft, weiter ging, als
die Mehrheit des Hauses geneigt war zuzugestehen. Wäre die Regierung
bereit gewesen 20 Pfd. Sterl. in Grafschaften und 8 Pfd. Sterl. in Städten
anzunehmen, so wäre ein derartiger Kompromiß unzweifelhaft von einer
großen Mehrheit der conservativen Partei angenommen worden.
Ein Jahr darauf führte diese Partei das Haushalterwahlrecht ein! Disraeli
hat dies zwar einmal geleugnet mit dem Bemerken, in England seien 4 Mill.
Haushalter und nach seiner Bill hätten überhaupt nur 1^/2 Mill. das Stimm¬
recht. Es ist dies aber ein seichtes Sophisma: bei einem parlamentarisch
regierten Lande kommt es wesentlich auf die Majoritäten an; man hat nie
behauptet daß er Haushalterwahlrecht in England überhaupt eingeführt habe,
sondern nur in den Städten; von diesen aber wird die Mehrheit der Parla¬
mentsmitglieder gewählt und so liegt doch in letzter Instanz das Schicksal
des Landes in den Händen der Haushalter.
An andern Orten hat Disraeli ja auch als sein Verdienst gerühmt
den Arbeitern das Wahlrecht, welches ihnen angeblich durch die Acte von
1832 entzogen sein soll (d. h. in Wahrheit den Proletariern der großen Städte,
die am leichtesten bestechlich waren) wiedergegeben zu haben. Bei der dritten
Lesung behauptete er, schon 1859 habe darüber in Lord Derby's Cabinet
keine Meinungsverschiedenheit geherrscht, daß, wenn man einmal versuche
die Wahlqualification herabzusetzen, man zum Haushalterwahlrecht kommen
messü, und dieselbe Ansicht habe auch die gegenwärtige Regierung bei ihrem
Amtsantritt gehabt. In seiner großen edinburgher Rede wiederholte er dies
nicht nur, sondern erklärte: „Während sieben Jahren hatte ich die öffentliche
Meinung (tue lliillä ok tre oountr?) vorzubereiten und unsere Partei zu er¬
ziehen, wenn es nicht anmaßend ist einen solchen Ausdruck zu gebrauchen.
Es ist eine große Partei und um ihre Aufmerksamkeit auf Fragen der Art
zu richten bedarf es eines gewissen Druckes." —
Selten ist der Wahrheit wohl auf so cynische Weise ins Gesicht geschlagen
worden, als durch diese Behauptungen. Schon bei Gelegenheit der Debatte im
Oberhause erklärte Lord Carnarvon die Angabe, daß das Haushalterwahlrecht
schon 1859 der geheime Glaube des Cabinets gewesen sei, für einfach falsch.
„Wäre dem so gewesen" rief er, „hätten wir während all der Zeit, wo wir gegen
eine Herabsetzung auf 7 Pfd. sert. als eine revolutionäre Maßregel prote-
stirten, im Herzen die Hoffnung gehegt, einförmiges Haushalterwahlrecht durch¬
zusetzen, dann, Mylords, würde ich Asche auf mein Haupt streuen und würde
demüthig aber offen anerkennen, daß das ganze Leben der großen Partei, der
anzugehören ich für eine Ehre hielt, nichts gewesen ist als eine organistrte
Heuchelei." — Und nun nehme man folgende Aeußerungen Disraelis.
Als er 1859 seine Bill gegen den Vorwurf vertheidigte, daß sie keine
Herabsetzung der Qualifikation enthalte, antwortete er: „Es würde gewiß un¬
verständig, um nicht zu sagen unerträglich sein, wenn wir. um uns gegen
das Uebergewicht einer Landaristokratie und das einer Fabrik- und Handels¬
oligarchie zu schützen, das Parlament reformiren wollten, indem wir einer
Haushalterdemokratie das Uebergewicht gäben." 1861 wiederholte er, der Kampf
sei im 1.1859 darum gekämpft, ob man die Wahlqualification habe herabsetzen
sollen oder nicht; die liberale Partei sei dafür, die conservative dagegen ge¬
wesen. 1865 sagte er: „Ich habe meine Ansicht über die Reformfrage nicht
geändert; Alles was sich inzwischen ereignete, was ich gesehen und beobachtet
habe, hat mich darin befestigt, daß das Princip wonach die Wählerschaften des
Landes erweitert werden sollten, Ausdehnung, nicht Herabsetzung der Quali-
fication sein müsse." *) Am 27. April 1866 erklärte er: „Ich spreche es nicht
als meine eigene Meinung aus, sondern als die des Landes, d. h. der un¬
parteilichen und einsichtigen Meinung, die das Land in Wirklichkeit regiert,
daß, obwohl man wünscht, daß die arbeitenden Klassen einen Theil und
einen nicht unbedeutenden der Wählerschaften bilden sollen, man doch entschie¬
den jede grobe und unterschiedslose Herabsetzung der Wahlqualification
verwirft."
Bis Mitte 1866 also kann durch Disraeli's eigene Worte bewiesen wer-
den. daß er stets gegen eine bedeutende Herabsetzung des Wahlrechts gekämpft
hat. Es mag sein, daß er, indem er nach Schluß der Session über die Mittel
nachsann, wie er sich am Ruder erhalten könne, zu der Idee gekommen ist,
welche sein früherer College Mr. Henley schon bei der letzten Neuwahl offen
aussprach, daß wenn einmal doch eine Herabsetzung stattfinden solle, man nur
recht weit gehen möge, weil die unteren Volksclassen den Conservativen gün¬
stiger seien als die mittleren. Hätte die konservative Partei, deren Held ja
damals gerade Löwe war, der den unteren Klassen die Fähigkeit für das
Wahlrecht rundweg absprach, eine Ahnung davon gehabt, daß ihr General
ins Lager des Feindes übergehen würde, so hätte sie sich einfach empört
und seine Art von Sieg zur Niederlage gemacht: deshalb mußte sie mit
den einschränkenden Bedingungen gekirrt werden, bis die Radicalen merkten,
daß ihr Waizen blühe und Disraeli jene Beschränkungen leicht über Bord
werfen werde. Wahrscheinlich ist dies nicht. Jedenfalls hat er dann sein Ge-
heimniß gut gewahrt. Aber auch von allen seinen Collegen kann höchstens Lord
Derby etwas von solcher Absicht erfahren haben, sonst würden die drei Be¬
deutendsten nicht plötzlich ausgetreten sein und die Verbleibenden sich nicht
durch so lebhafte Ausfälle gegen das Haushalterwahlrecht compromittirt ha¬
ben. Gathorne Hardy ereiferte sich für die Doppelstimmen. Walpole erklärte,
das Wesen der Bill liege in ihren Beschränkungen, und vor Allen wies Lord
Stanley noch am S. März weit die Unterstellung ab, als ob die Absicht der
Minister sei im demokratischen Sinne weiter zu gehen als die Opposition.
»Ich sage einfach und offen, daß ich keine Umstände denken kann, welche es
für uns in unserer Stellung und bei unseren Antecedentien nützlich und
ehrenhaft machen könnten, einen solchen Weg einzuschlagen und wir werden es
sicherlich nicht thun. Wenn man glaubt, daß die Regierung eine Bill die
mit den Ansichten übereinstimmt, welche hier so ausdauernd und so fähig durch
das ehrenwerthe Mitglied für Birmingham (Bright) vertreten werden, ein¬
bringen will, so irrt man sich sehr." Drei Monate später war alles dies
geschehen und Lord Stanley hatte mit für das Haushalterwahlrecht ge¬
stimmt.
Der Hergang bei der Reformbill läßt es als das Wahrscheinlichste erscheinen,
daß das Ministerium bei Anfang der Session ohne festen Plan war; Lord
Derby sagte selbst noch am 4. März von den Resolutionen sprechend: „Wir
hatten gehofft, dadurch vom Unterhause die Ansicht heraus zu locken
(elioit) über die Hauptfragen, welche nothwendig bei einer Reformbill vor-
kommen müssen." Disraeli wollte ja keine Bill vorbringen, weil er sich durch
den Jnstinct des Hauses leiten zu lassen wünschte, und als er dann gezwun-
gen ward mit einer Bill zu kommen, was war ihr Schicksal? daß kaum ein
Satz derselben stehen geblieben ist; fast alle seine Vorschläge sind verworfen
oder erheblich abgeändert.
Disraeli verlangte das doppelte Wahlrecht für gewisse Steuerzahler und
gab dasselbe ohne Sang und Klang auf; er führte eine Menge von taro?
krimoKiseL vor und ließ sie sämmtlich im Stich; er verweigerte den Zimmer¬
einwohnern das Wahlrecht und gewährte es; er hatte als das große Princip
seiner Bill die persönliche Zahlung der Gemeindeabgaben hingestellt und in
dem Gesetz kommt der Ausdruck gar nicht vor. so daß die Zahlung eben so
gut durch den Eigenthümer als durch den Miether stattfinden kann; er igno-
rirte hartnäckig das ganze System des tüompvuMinZ und schaffte es dann
plötzlich ab; er verlangte eine Wohnzelt von 2 Jahren und setzte sie auf 1
Jahr herab, er hatte schriftliche Stimmabgabe vorgeschlagen und ließ sie
fallen; er verweigerte den großen Städten ein drittes Mitglied und gab es
vieren derselben; er ließ sich die Grafschaftsqualification von der Opposition
auf 12 Pfd. sert. reduciren; er hatte es als großen Fehler der Gladstone'-
schen Bill getadelt, daß sie nicht gleichzeitig gegen die Bestechlichkeit vorgehe
und er that dasselbe, verschob seine Maßregel um ein Jahr und hat trotz
derselben aller Voraussicht nach durch Heranziehung der besonders bestechlichen
Elemente zum Wahlrecht das Uebel noch vermehrt. Wer kann sich auch über
dies Schicksal einer Bill wundern, die nach Lord Derby's Geständniß in höch¬
ster Eile entworfen ist? aber welch ein Gegensatz zu der Reformbill von 1832,
welche auf das sorgfältigste durch ein Comite des Cabinets vorbereitet, fast
wörtlich so Gesetz ward wie sie eingebracht war!
Und nachdem so eine Deckung nach der anderen über Bord geworfen ist
und das nackte Haushaltswahlrecht mit den bloßen Bedingungen einjähriger
Wohnzelt und Zahlung der Abgaben übrig geblieben ist, tritt Disraeli aus
und sagt bei einem öffentlichen Bankett seinen Anhängern, den Landedelleu¬
ten Altenglands, auf deren Schultern er zur Macht getragen ist: nach diesem
Ziele habe er seit Jahren gestrebt I Wahrlich der Herzog von Argyll hatte
Recht als er rief: „Die conservative Partei ist wohl die gutmüthigste in der
Welt, denn ich weiß gewiß, wenn von irgend welchem bedeutenden Mitgltede
der liberalen Partei eine ähnliche Rede gehalten wäre, in der gesagt wird,
daß die Partei durch ihre Führer für eine Politik geschult und gezogen sei,
welche sie nicht gewollt, so würden wir nicht eine, sondern ein Dutzend Spal¬
tungen haben." —
Ein solches Verfahren ist an sich und ganz abgesehen von seinen ma¬
teriellen Resultaten heillos und hat keinen Vorgang in den Annalen der par¬
lamentarischen Geschichte Englands. Es hat mit dem des gerade so heftig
von Disraeli angegriffenen Sir Robert Peel keine Ähnlichkeit, außer daß
hier wie dort ein Minister das selbst that, was er zuvor bekämpfte. Sicher
wäre es auch von Peel richtiger gewesen, die Durchführung der Reformen,
die er schließlich als nothwendig anerkennen mußte, ihren Verfechtern zu
überlassen; aber sowohl 1829 bei der Katholikenemancipation als 1846 bet
den Korngesetzen setzte er absichtlich eine gesicherte Majorität aufs Spiel, um
eine große politische Maßregel durchzuführen. Lord Derby dagegen bekannte
offen, daß, als er die Bildung des Ministeriums übernommen, es nicht seine
Absicht gewesen, sich zum drittenmal als bloßen Lückenbüßer brauchen zu
lassen, bis es der liberalen Partei gefalle, ihre Zwistigkeiten zu vergessen
und ihn aus dem Amt zu treiben, sondern er sei entschlossen gewesen, so zu
operiren, daß er womöglich seine Minorität in eine praktische Majorität
umwandte, worauf ihm vom Herzog von Argyll die richtige Antwort ward,
er möge sich nur vorsehen, nicht aus einem Lückenbüßer ein Wetterhahn zu
Werden. Peel brachte 1829 und 1846 einfach durch was die Opposition immer
verlangte, Disraeli ging weit über das hinaus was die Liberalen jemals wünsch¬
ten. Im I. 1829 und 1846 brach Peel seine Partei auf; 1867 hörten die Tones
knirschend aber schweigend den bitteren Vorwürfen Löwe's zu. der sie fragte,
ob sie, die Landedelleute Englands, sich nicht schämten so durch den Koth geschleift
zu werden? sie wußten nur mit dem kläglichen Wort Henley's zu erwiedern:
die Sache müsse zu Ende kommen, der Topf dürfe nicht überkochen, und
stimmten mit Ausnahme von Lord Cranborne und General Peel — für die
Haushalterdemokratie. 1829 und 1846 führte Peel seine langsam gewonnene
Ueberzeugung selbständig durch, jetzt ließen die Minister ihre Maßregel bis
zur Unkenntlichkeit ändern; dann erkannte Peel an, daß nicht ihm der Ruhm der
Reform gebühre, sondern 1829 Fox und Grattan, 1846 Cobden, diesmal
stellt sich Disraeli, der seine Partei zu den Grundsätzen Bright's und darüber
hinaus geführt hat, als den Urheber des ganzen Planes hin.
Man kann die politische Moralität nicht tiefer erschüttern, die Grund,
lagen der parlamentarischen Regierung nicht gefährlicher untergraben, als
er es gethan, und wir sympathisiren nicht mit den Radicalen. die nur die
humoristische Seite der Frage ansahen, daß sich die Tones so ins Garn führen
ließen und erklärten, es sei einerlei wie es gemacht werde, wenn nur Haushalter.
Wahlrecht das Resultat sei. Die parlamentarische Regierung ist eine sehr ver-
wickelte und feine Maschine, die den Dienst versagen muß. wenn ihre Vor.
bedingungen nicht erfüllt werden. Seit unter Wilhelm III. allmälig das
System „des Cabinets" erwachsen war. wurde die Wahl der Ministerien
durch die Abstimmungen des Unterhauses vorgezeichnet, dort die Majorität
zu haben war für jede Regierung nothwendig; eine Minoritätsregierung ist
daher schon an sich ein Uebel und darf nur eine ganz vorübergehende Ano-
malie sein; auch besteht seit 1700 nur ein Beispiel, wo der Premierminister
trotz einer entscheidenden Niederlage fortregierte, ohne sogleich aufzulösen. daS
Beispiel W. Pitt's 1783; aber dieser wußte rasch seine Minorität in eine ent¬
scheidende Majorität zu verwandeln, Disraeli versuchte 1859 vergeblich dasselbe,
1867 dagegen kam er durch die Adullamiten ins Amt und hielt sich durch
die Radicalen. Indem er verlangte, daß die Frage der parlamentarischen
Reform nicht mehr als Parteifrage behandelt, sondern vom Hause selbst
in die Hand genommen werde, stellte er das ganze parlamentarische System
auf den Kopf. Wenn ein Minister sich einfach vom Hause vorschreiben
zu lassen hat, was er thun soll, dann wird der Cabinetwechsel nach einer
Niederlage ein veralteter Aberglaube, man kehrt seinen Rock um und regiert
weiter. Damit aber fällt auch die ministerielle Verantwortlichkeit und that¬
sächlich jede Verantwortlichkeit, denn eine solche hört auf für jede große
souveräne Versammlung.
Wenn das Unterhaus blos aus 650 Personen bestände, die weiter keine
Beziehungen zu einander hätten, als daß sie alle zu Volksvertretern gewählt
wären, so wäre jede geschäftliche Verhandlung größern Stiles einfach un¬
möglich; sie wird möglich erst dadurch, daß das Parlament ein organisirter
Körper ist, eine Gliederung von Parteien, die auf bestimmten Grundsätzen
ruhen: diese Parteien messen sich mit einander nach bestimmten Regeln der
Taktik und die Entscheidungen des stärksten Theiles werden zu Entscheidungen
des Hauses und damit des Landes. Nichts ist also nothwendiger für die
parlamentarische Regierung als eine feste Majorität, die im Allgemeinen
weiß was sie will und sich dann von einem erprobten Führer legten läßt;
ohne das hört jede klare Vorausbestimmung auf, eine führerlose Versamm¬
lung weiß nie was sie will noch wohin sie steuert und wird daher, wie die
Geschichte aller Revolutionen zeigt, immer zu extremen Maßregeln geneigt sein.
Es war bisher Englands Ruhm, im Gegensatz zu den übelgelungenen Copien
seiner Verfassung auf dem Continent, große regierungsfähige Parteien zu
haben. Und diesen Grundpfeiler der ganzen Regierungsmaschine schlägt
Disraeli kaltblütig vor wegzunehmen, nur um sich unter den ärgsten De¬
müthigungen einige Zeit im Amt zu haltenl
Sehen wir jetzt auf das Resultat. Es ist zunächst das, daß trotz aller
Abänderungen die Bill wahrscheinlich kein Jahr so bleiben wird wie sie Ge¬
setz geworden ist. Die Abschaffung des LomxoulnZmg wird als rein uner¬
träglich gefühlt, von den Haushaltern in England unter 10 Pfd. Sterl. ge¬
hören 2/« oder Vz Million zu den Lywxouväers die ihre Gemeindeabgaben
in der Miethe bezahlen, über 10 Pfd. Sterl. aber nur 2/9, daher die große
Rolle, welche die Classe in dem ganzen Kampf spielte: je nach ihrer Stellung
wurde die Bill sehr eng oder sehr weit. Die von Gladstone vorhergesagte
Folge ist eingetroffen, durch Abschaffung der Erlaubniß den Betrag der
Abgabe von der Miethe abzuziehen, sind fast alle Miethen der kleinen
Leute erhöht. Darüber ist natürlich große und berechtigte Klage; aber das
System selbst war so zweckmäßig, daß es wiederhergestellt werden muß,
die Gemeinde bekam dadurch sicher ihre Abgaben von zahlungsfähigen Leuten
und die kleinen Miether bezahlten weniger. Das neue Parlament wird also
sich sofort damit beschäftigen müssen diesem Uebelstand abzuhelfen. Hiervon
abgesehen besteht das Hauptergebniß der Bill darin, daß in der Mehrheit
der Wahlkörper den Classen die Majorität gegeben ist, welche fast aus¬
schließlich von ihrer Hände Arbeit leben. Dies Experiment ist durchaus neu
in der Geschichte; große Städte wie Rom und Paris haben zeitweilig unter
der Herrschaft der Massen gestanden, Frankreich. Rußland und die Vereinigten
Staaten sind Demokratien von Ackerbauern, aber die Idee, die Geschicke eines
großen Reiches in die Hand der ärmeren Bevölkerung der Städte zu legen,
ist noch nicht dagewesen. Für den Erfolg des Wagnisses kann man auch
keineswegs aus dem Ergebniß der Acte von 1832 schließen, diese verlegte
den Schwerpunkt der politischen Macht in die Mittelclassen; die unterste
Stufe der Wähler bestand aus kleinen Gewerbtreibenden, aber diese gehörten
doch wie die gesammte übrige Wählerschaft zu den Besitzenden und Arbeit¬
gebern. Jetzt aber hat man eine große Classe herangezogen, welche keinen
Besitz hat und von Andern Arbeit nimmt. Das ist ein unermeßlicher Unter¬
schied, welcher durch das ominöse Wort Lord Derby's bezeichnet wird, zu dem
er im Oberhause gedrängt ward: der Erfolg der Bill lasse sich nicht berechnen,
sondern nur hoffen; unzweifelhaft sei sie „ein Sprung ins Dunkle". Und
wenn es schon an sich gefährlich scheint, denen die größte Macht zu geben,
die am wenigsten Einsicht und am wenigsten zu -verlieren haben, so ist es
besonders gefährlich in England, wo diesen städtischen Massen gegenüber das
Gegengewicht eines zahlreichen Bauernstandes fehlt, welcher immer conservativ
gesinnt ist. Die Aeonen sind neben den Großgrundbesitzern ganz verschwunden;
es gibt außer den Letztern aus dem Lande fast nur noch Pächter und länd¬
liche Arbeiter, kein Boden ist also ungeeigneter für eine Demokratie als der
englische. Wie die Arbeiter das gegebene Geschenk brauchen, ist allerdings
abzuwarten, aber wir theilen vorläufig weder die macchiavellistischen Hoff-
nungen Disraeli's. noch die sanguinischen der Radtcalen. Die Rechnung des
erster» ist einfach die der Cäsaren und Oligarchen, sich auf die Massen gegen
die intelligente Mittelclasse zu stützen. Dies war schon in der Debatte im
Unterhause so deutlich, daß Mill ihm zurief: „Die Politik des sehr ehren-
werthen Herrn ist. unsere Institutionen zu reconstruiren auf dem Princip der
Demokratie geführt durch die Grundaristokratie, und seine Bill ist so schlau
ersonnen, daß sie einer großen Zahl abhängiger, aber nur einer kleinen Zahl
unabhängiger Arbeiter das Stimmrecht gibt, so daß der Einfluß der Retchen
nur gesteigert würde." Aber auch der jetzige Lordkanzler Lord Catrns gestand
dasselbe ziemlich unumwunden ein, als er am 23. Juli 1867 sagte: „Der
eigenthümliche Fehler eines Satzes von 7 Pfd. Sterl. war, daß er eine An¬
zahl Stimmberechtigter gebracht hätte, die ungefähr auf derselben Stufe
wie die 10 Pfd. Sterl.-Wähler standen, mit denen dieselben zusammen
gearbeitet hätten um die über ihnen Stehenden todtzustimmen. Dagegen ist
ein bedeutender Unterschied zwischen denen, welche höhere Arbeiterclassen ge¬
nannt werden, und denen, die unter ihnen stehen." Und noch deutlicher sprach
es ein Mitglied der Partei außer dem Parlament aus, daß man auf die
untern Stände für die Conservativen rechne. „Wir wünschen das Wahlrecht
zu geben nicht dem intelligentesten Theil der arbeitenden Classen, sondern
dem, aus welchen wir unsere Intelligenz am leichtesten wirken lassen
können." —
Indeß Grant Duff möchte doch Recht haben, wenn er in Bezug auf
diesen Punkt Disraeli das italienische Sprüchwort zurief: „Es wandern mehr
Felle von Füchsen als von Eseln zum Kürschner." Die Sache ist schlau genug
ersonnen, dürfte aber doch scheitern, denn um ein Resultat zu erzielen wie
z. B. Napoleon, müßte Disraeli auch wie dieser über eine bureaukratisch
verzweigte, gewaltige Regierungsmaschinerie gebieten; der Kaiser von Ru߬
land mit seinem allmächtigen Beamtenstaat könnte ohne Gefahr morgen all¬
gemeines Stimmrecht einführen; in England, wo die Regierung verhältni߬
mäßig so geringe Macht hat, wird sie der organisirten demokratischen Bewegung
ziemlich rathlos gegenüberstehen. Auf dem Lande werden die Wahlen nach
wie vor von den Großgrundbesitzern bestimmt werden, aber in den Städten
haben die Tones als Actionsmittel für die Massen nur das Geld und werden
es nicht sparen dürfen um den reichen Emporkömmlingen die Stange zu
halten, denen der Preis des M. P. noch hoch genug ist, um dafür mit vollen
Händen auszutheilen.
Aber auch die Radicalen werden sich täuschen, welche Disraeli's Bill durch¬
bringen halfen und meinen, daß nun nur noch die geheime Stimmabgabe
fehle um das Wahlsystem vollkommen zu machen, und daß das neue Parla¬
ment alle Reformen in Schule. Staat und Kirche durchsetzen werde, für die
sie gegen Bigotterie und Vorurtheil bisher vergeblich gekämpft haben. Sie
hoffen mit Hilfe der neuen Wähler gründlich in dem mittelalterlichen Wesen
auszuräumen, die Landgesetze, Erstgeburtsrecht, Fiedeicommisse, die Staats-
kirche abzuschaffen, obligatorischen und rein weltlichen Unterricht einzuführen,
den Wust der Gesetze durch Codification zu lichten, das Kaufsystem in der
Armee durch Conscription zu ersetzen u. 's. w. Aber es fragt sich, ob sie
nicht die Rechnung ohne den Wirth gemacht und ob die Arbeiter sich von
denen werden lenken lassen, die bisher für sie gesprochen. Seit ihnen durch
das Wahlrecht politische Macht gegeben ist, werden sie dieselbe auch für ihr
Interesse brauchen und deshalb nicht Führern aus über ihnen stehenden Kreisen
gelehrig folgen, sondern nach Leitern aus ihrer Mitte suchen; und welcher
Art dieselben sein werden, darauf mag man einen Schluß machen aus der
Wahl der Vorsteher ihrer l'raäö vnions. Es wird freilich gesagt, die Zu¬
sammensetzung des Unterhauses werde ziemlich dieselbe bleiben, die politische
Verfassung eines Landes hänge immer von der socialen ab und so lange nur
wohlhabende Leute im Parlament sitzen könnten, so lange seien keine Radi-
calen zu befürchten. Es mag das für den Augenblick wahr sein; auch wir
glauben nicht, daß sich das nächste oder zweite Parlament sehr von dem bis¬
herigen in seiner Zusammensetzung unterscheiden wird; die Vertreter der
Schule, welche sich um Mill und Fawcett sammelt, werden nicht zahlreich
werden und sich an Gladstone anlehnen müssen, wofern sie sich nicht auf
bloßes Protestiren und Verneinen beschränken wollen, und ebensowenig werden
viele Vertreter der Arbeiter gewählt werden. Aber weitgreifende Verände¬
rungen in der Verfassung eines Landes pflegen selbst in unserm Zeitalter
des Dampfes sich nicht rasch zu vollziehen. Es mögen dieselben Personen
im Parlament sitzen, sie werden doch in einem anderen Geiste arbeiten, weil
sie andere Wählerschaften vertreten. Allerdings hängt die politische Ver¬
fassung von der socialen ab; aber eben weil England noch heute in socialer Be¬
ziehung keineswegs demokratisch ist, war es so unverantwortlich ohne jede Noth
als Parteimanöver den untern Classen das politische Uebergewicht zu geben.
Die Arbeiter sind auch nicht so kurzsichtig nicht zu bemerken, daß der eigent-
liche Grund der Herrschaft der höheren Classen nicht im Parlament, sondern
in den conservativen Grundlagen der englischen Gesellschaft liegt; aber eben
deshalb werden sie ihre Agitation gegen dieselben wenden, um vor allem den
großen Grundbesitz, welcher der Aristokratie Einfluß gibt' zu brechen; äußerte
doch einer der Radicalen offen gegen uns: „'We »Kali nsver Zst g, Zooä
Lovei-klimmt, unless >V6 Zee riet ok tdese infernal larZs estatss." Wenn
aber erst die Substitutionen abgeschafft und für den Grundbesitz die Prin¬
cipien des Code Napoleon eingeführt sind, dann kann das Oberhaus auch
nicht mehr bestehen, dann fallen die Elemente, welche in England jene wun-
derbare Vereinigung von Ordnung und Freiheit erhielten, um die es von
Völkern wie von Staatsmännern beneidet ward.
So weit ist es nun freilich noch nicht: noch leben in der Nation zu viel
gesunde Grundsätze als daß man nicht auf eine kräftige Reaction hoffen
dürfte, wenn die radicale Partei zu rasch Sturm gegen die englischen Institu¬
tionen laufen wollte; es könnte sich sonst der Fall von 1837 wiederholen, wo
fünf Jahre nach der entscheidendsten Niederlage der Tories Sir Robert Peel
an der Spitze einer geschlossenen conservativen Majorität stand. Sehr viel
hängt von Gladstone's Verhalten ab, der aller Voraussicht nach bald nach
Zusammentritt des Parlaments als Premier eingesetzt werden wird. Weiß
er den Reformdrang seiner Partei auf die wirklich faulen Flecken zu lenken
und hat er den Muth den Radicalen entgegenzutreten wo sie Lebensfähiges
zerstören wollen, so kann er unendlich viel Gutes wirken und auf lange Zeit
der nothwendige Mann bleiben. Aber sein rascher Sinn, seine Heftigkeit,
sein Ehrgeiz sind zu fürchten; seine Behandlung der irischen Frage war und
bleibt bedenklich und die Reden seiner jetzigen Wahlcampagne zeugen nicht
von dem Tact eines wahren Staatsmannes; jedenfalls bedarf es um ihn
zu zügeln einer festen conservativen Opposition. Eine conservative Partei
braucht England mehr als jeder andere Staat, weil es keine starke königliche
Gewalt hat und die Stärke seiner Regierung von der Stetigkeit des Parla¬
ments abhängt; die Mächte des Beharrens müssen in einer Partei gegliedert
sein, welche die Continuität wahrt. Eine solche Partei wird allerdings in
der Gefahr blinden Widerstands sein, wie die liberale in der des zu raschen
Vorwärtsgehens. Aber das Schlimmste was ihr begegnen kann ist, daß sie von
einem Manne geführt wird, der selbst nicht an ihre Grundsätze glaubt und
dem die Politik überhaupt nur ein Spiel um den persönlichen Besitz der
Macht ist. Diese moralische Niederlage, schwerer als die 1832 durch Welling¬
ton's Hartnäckigkeit erlittene, haben sich die Tones jetzt zugezogen, indem sie
durch Disraeli zu einer radicalen Politik sich drängen ließen, die schließlich
doch gegen sie ausfallen muß. Wollen sie wieder eine würdige Rolle spielen,
so müssen sie die Führerschaft eines politischen Abenteurers abschütteln und
sich unter ihrem fähigsten und angesehensten Manne neu organisiren, dem
jetzigen Marquis os Salisbury, bisher im Unterhause Lord Cranborne.
Wie aber auch die Sache sich wendet, gewiß ist es nicht das Verdienst
der Bill von 1867, wenn sie.besser geht, als man erwartete. Die Liberalen
trifft freilich der Vorwurf, daß sie die Reform 1862 ganz unaufgefordert
heraufbeschworen und es doch bis 1866 damit nicht ernst meinten; aber auf
dem Erben des ältesten Grafenhauses von England bleibt der Flecken, daß
er, um sich im Amt zu halten mit den schlechten Künsten eines Disraeli durch
dick und dünn gegangen ist und über sein Land Gefahren heraufbeschworen
hat, deren Bedeutung noch Niemand übersehen kann.
Die Bedenken, welche wir beim Ausbruch der spanischen Revolution
gegen ihren glücklichen Ausgang geltend machten (S. 91), haben sich seitdem
steigern müssen. Sollte der Sturz Jsabella's zu einem geordneten freiheitlichen
Regiment führen, so haben die Maßregeln der provisorischen Regierung bis
jetzt dies Resultat doch sehr erschwert; ihr Verfahren läßt in der That nur
eine doppelte Auslegung zu: entweder geht ihren Mitgliedern die elementarste
Kenntniß dessen ab, was solche Zeitläufte fordern, und dann muß das Land
der Anarchie und Dictatur verfallen, oder diese Planlosigkeit ist nur schein¬
bar und hinter ihr steht der Plan eines ehrgeizigen Mannes, welcher darauf
rechnet, aus der Zerrüttung seine Herrschaft zu bauen.
Das Urtheil könnte auf den ersten Blick hart oder zu schnell erscheinen,
aber die Thatsachen rechtfertigen es — die Hauptfrage ist die dynastische:
wer soll an der Spitze des Staates stehen? Hierüber hat sich der leitende
Mann der provisorischen Negierung, Prim, in seinem bekannten Briefe an
Girardin folgendermaßen ausgesprochen: „Wir wußten, was wir stürzten:
eine Willkürherrschaft, die fortwährend die Verfassung verletzte; wir wußten
was wir an die Stelle setzen wollten, eine liberale constitutionell monarchische
Regierung, aber wir wollen die Entscheidung hierüber der Nationalsouveräne-
tät überlassen. Sie (Girardin, welcher die Republik einführen will) verwech¬
seln das Wesentliche mit dem Zufälligen; ich bin und bleibe der Vertheidiger
eines Princips, ich bin nicht der Vertreter dieses oder jenes Prinzen. Sie
sagen, es werde sich kein Souverän für Spanien finden; aber die Geschichte
ist voll von Ueberraschungen dieser Art und was mich betrifft, so hege ich
das Zutrauen, daß Spanien einen Fürsten finden wird, welcher seiner wür¬
dig ist." — Das ist entweder die Sprache eines Ideologen ohne Einsicht
und Erfahrung oder die eines klugen Mannes, welcher die Menge mit Re¬
densarten abspeist und auf seine Zeit wartet. Bei einem planvoll angelegten
Aufstand wie der spanische war, mußten die Führer, wenn sie wirklich eine
geordnete freie Regierung einführen wollten, sich zuerst darüber verständigen,
wer Jsabella folgen sollte. Da dies nicht geschehen und die provisorische
Regierung noch immer schweigt, so muß entweder unter ihren Mitgliedern
Uneinigkeit herrschen, oder dieselben sämmtlich nicht wissen was beginnen.
Daß die Betheuerung, man dürfe nicht der Entscheidung des Volkes vor¬
greifen, nur Affectation ist, liegt auf der Hand; eine provisorische Regierung
soll doch mindestens so viel Führung gewähren, als ein Ministerium, und
was würde man wohl von einem solchen sagen, wenn es in einer Lebensfrage des
Staates ohne allen Plan vor die Legislative träte, damit diese entscheide?
Und dies thut doch das spanische Triumvirat; nach der Erklärung seines
hervorragendsten Mitglieds hofft es auf einen der Glücksfälle an denen
die Geschichte so reich sein soll. Die Zahl solcher Ueberraschungen scheint
uns im Gegentheil sehr gering, in unserm Jahrhundert wüßten wir höchstens
zwei Beispiele einer erfolgreichen neuen Dynastie: Bernadotte in Schweden
und Leopold von Coburg in Belgien. Aber in diesen beiden Fällen waren
die Umstände durchaus verschieden von denjenigen in Spanien; in Schweden
wie in Belgien handelte es sich nicht um eine gänzliche Umwälzung; bei Ber-
nadotte's Thronbesteigung, welche langsam vorbereitet war, blieben Verfassung
und innere Zustände ganz unverändert, gerade wie bei Wilhelm III. in Eng¬
land, und an die Stelle des abenteuernden Gustav trat ein kluger Politiker
und berühmter General. Belgien hatte allerdings die ernste Probe nicht nur
eines Wechsels der Dynastie, sondern auch der Losreißung von Holland und
eines längeren Interregnums durchzumachen. Aber es hatte auch große Vor¬
theile: es war innerlich wohl geordnet, seine Revolution wurde von Anfang
an durch Frankreich und England begünstigt und geleitet, die Bewegung fand
fähige Führer und einen Monarchen, der sich als roi Komme ä'6ta,t bewährte.
Von alledem sehen wir in Spanien Nichts, dagegen vollständig zerüttete
Finanzen, ein von Priestern geleitetes, in der Cultur tiefstehendes Volk, einen
cvrrumpirten Beamtenstand, eine viel zu große Armee, ehrgeizige Generale
und nirgends eine ernsthafte fürstliche Candidatur. Man hört sogar kaum
von Bewerbern um den Thron sprechen und wenn es deren überhaupt gibt, so
gleichen sie jedenfalls den Whistspielern, welche ihr Geschick darin suchen, nicht
selbst auszuspielen, sondern auf die Bewegungen und Fehler des Gegners
zu warten. Die provisorische Regierung spricht sich für das Princip der de¬
mokratischen Monarchie, der bekannten roznuts sur ig, sui-lacs sgalö Mira-
beau's aus, aber eine Monarchie ohne Monarchen ist ein Messer ohne Klinge
an dem der Stiel fehlt; so kann es denn auch nicht Wunder nehmen, daß,
da das Volk keine Persönlichkeit sieht, welche den Thron einzunehmen berufen
sein könnte, die Republik immer mehr Anhänger gewinnt. Während nun
die provisorische Regierung da, wo sie führen sollte, stille sitzt, hat sie auf fast
allen andern Gebieten schweres gewagt und der Entscheidung der National¬
vertretung vorgegriffen.
Daß sie leere Kassen und ein Deficit von mehr als 40 Mill. Thlr. für
das laufende Jahr fand, war allerdings nicht ihre Schuld und Geld mußte
geschafft werden; aber um die Staatsmaschine bis zum Zusammentritt der
Cortes in Gang zu erhalten, war doch gewiß nicht ein Anlehen von 140
Millionen Thaler nothwendig; die Volksvertretung allein hat ein Recht An¬
lehen von solchem Betrag zu poliren. Der Erfolg ist denn auch sehr zweifel¬
haft, bis zum 15. Nov. waren noch nicht 7 Millionen Thaler unterzeichnet,
trotzdem daß man Staatsgüter als Pfand geboten; die Capitalien wissen
eben was von dem Credit eines Landes zu halten ist, welches überhaupt ge¬
nöthigt ist specielle Sicherheiten zu bieten. Und welche Aussichten geben spa¬
nische Papiere? Bis jetzt betrug die consolidirte Schuld 1300 Millionen Thlr.,
daneben eine schwebende Schuld von 140 Millionen Thlrn., außerdem waren
bis 1865 für 540 Millionen Thlr. Nationalgüter verkauft, welche fast ganz
Von den außerordentlichen Budgets d. h. Deficits verschlungen waren. Wäh¬
rend die provisorische Regierung die verschuldete Nation neu belastet, gibt sie
regelmäßige Einnahmen auf: sie hat die Octrois abgeschafft oder von den
Juntas abschaffen lassen und etwa 2000 zollpflichtige Artikel aus dem Zoll,
lares gestrichen. Nun ist freilich Nichts gewisser, als daß das widersinnige
spanische Prohibitivsystem einer gründlichen Reform bedarf, wenn die Kräfte
des Landes sich entwickeln sollen; aber derartige Reformen wollen, eben weil
sie so tief in das Volksleben eingreifen, wohl vorbereitet sein; vorläufig hat
man Nichts weiter damit erreicht, als daß man die Industriellen der öst¬
lichen Provinzen erbittert und die regelmäßigen Einnahmequellen geschwächt
hat, welche schon nach der Natur der Sache durch jede Revolution leiden
müssen: einige Decrete welche z. B. das Verbot der Korneinfuhr aufgehoben
und die übermäßigen Zölle auf Schiffsbaumaterialien ermäßigt, wären ganz
ausreichend gewesen.
Abgesehen von den Finanzen ist die wichtigste Maßregel der provisori¬
schen Regierung die Aufhebung der Klöster. Für die Dringlichkeit der Ma߬
regel läßt sich anführen, daß es 42,765 Geistliche gab, also einen auf je 37
Personen der Bevölkerung; daneben 11,166 Küster, 6833 Chorsänger und
133S Glöckner, während die ganze Handelsmarine nur 39,437 Menschen be¬
schäftigt. Diese Legion, von denen die Mehrzahl als Müssiggänger ange¬
sehen werden darf, zu lichten war gewiß nothwendig; gleichwohl fragt es
sich, ob so große Gefahr im Verzüge war, daß man nicht bis zum Zusam¬
mentritt der Cortes warten konnte, denn es ist zu berücksichtigen, daß die
Regierung mit diesen raschen Maßregeln den mächtigen Clerus gegen sich
aufgebracht hat, was sich bei den allgemeinen Wahlen deutlich genug zeigen
wird. Außerdem ist es zweifelhaft ob das spanische Volk für die proclamirte
volle Glaubensfreiheit reif ist; uns würde es gar nicht wundern, wenn die
Cortes sich sehr viel katholischer zeigten als die provisorische Negierung.
Wahrscheinlich ist es auch diese Hoffnung, welche das auffallend wohlwollende
Verhalten der Curie zur Revolution erklärt: der Nuntius gibt sich den An-
schein garnicht zu bemerken, daß der Papst in der Person Jsabella's seine er¬
gebenste Stütze verloren, und verkehrt freundlich mit Serrano und Prim.
Da man aber nicht wohl annehmen kann, daß der Papst sich über Nacht
zur Toleranz und Glaubensfreiheit bekehrt hat, so wird man daraus geführt,
daß Rom sich durch diese Haltung seinen Einfluß sichern will und den rich¬
tigen Instinct hat. daß mit je mehr Ueberstürzung die jetzigen Machthaber
vorgehen, desto sicherer die Reaction folgen muß. Auch gegen die französische
Republik von 1848 nahm Pius IX. eine ähnlich wohlwollende Stellung und
aus ähnlichen Gründen.
Neben den Priestern kommt für die Zukunft Spaniens vor Allem die
Armee und die Bureaukratie in Betracht und für beide ist die provisorische
Regierung nicht nur den schlechtesten Traditionen der Monarchie Jsabella's
gefolgt, sondern drüber hinausgegangen. Was die Beamten betrifft, so bestand
bisher in Spanien derselbe Gebrauch wie in Amerika, daß mit der Regierung
auch ein großer Theil der Beamten wechselte; in den Vereinigten Staaten
wird diese schlimme Procedur indeß nur alle vier Jahr einmal vorgenommen,
wenn ein neuer Präsident kommt, und sie belastet die Staatscasse nicht, weil die
Beamten jederzeit widerruflich sind. In Spanien wurden die Beamten mehr oder
minder bei jedem Ministerium gewechselt und die abtretenden auf Halbsold gesetzt,
wodurch ein Haufen unzufriedener Müßiggänger geschaffen und den Finanzen eine
schwere Last aufgebürdet ward. Diesem Gebrauch, das ^.rreZIo genannt, hat die
provisorische Regierung nicht nur gehuldigt, indem sie einen Massenwechsel ein¬
treten ließ, sondern sie hat auch durch Decret das Gesetz aufgehoben, welches bisher
das Avancement im Civildienste regelte. Nur das verdient Anerkennung, daß sie
in dem provisorischen Wahlgesetz die Beamten, mit Ausnahme der in Madrid
wohnenden, für nicht wählbar erklärt hat. Noch bedenklicher ist das Ver¬
fahren mit der Armee. Die dringlichste Reform, welche allein den Finanzen
dauernde Erleichterung schaffen könnte, wäre eine starke Reduction der Streit¬
kräfte zu Lande wie zu Wasser, und eine solche würde ohne alle Gefahr vor¬
genommen werden, da Niemand Spanien anzugreifen oder zu schädigen beab¬
sichtigt: die See und die Pyrenäen schützen das Land hinlänglich. Statt
dessen hat die provisorische Regierung alle Chargen der Armee um einen
Grad avcmciren lassen, gleichviel ob sie für oder gegen Jsabella gefochten,
als ob Spanien noch nicht genug Generäle und Obersten hätte; und Serrano
hat Prim zum Generalcapitän der ganzen Armee gemacht. Diese Massen¬
promotion ohne allen Grund ist doch nur durch das Bestreben zu erklären,
die Prätorianer bei guter Laune zu erhalten, und Prim scheint sich recht¬
zeitig die Armee gewinnen zu wollen. Nach seiner Ernennung hat er die
Soldaten in einer Ansprache ermahnt, sich nicht um Politik zu kümmern,
sondern Disciplin zu halten und ihren Obern zu gehorchen. Diese Ermah¬
nung nimmt sich etwas eigenthümlich im Munde eines Generals aus, der
soeben durch politischen Aufstand ans Ruder gekommen ist; aber sie zeigt
wenigstens, daß Prim weiß worauf es ankommt und daß er sein Werkzeug
vorbereitet. Die Armee ist thatsächlich schon Meister in Spanien und wer
sie in der Hand hat beherrscht das Land, welches es ruhig über sich ergehen
lassen müßte, falls das Heer morgen Jsabella zurückriefe. Wenn, was sehr wohl
möglich, ehe die Cortes eine Verfassung ins Leben gerufen, irgendwo ein
Localaufstand ausbräche, den die Armee niederzuwerfen hätte, wenn in Folge
der Anarchie das Land nach einer Rettung der Gesellschaft, die Priester nach
Herstellung der Religion rufen sollten, so wäre die Dictatur fertig; die Ele-
mente dazu sind vorhanden: allgemeines Stimmrecht durch Priester geleitet,
eine zahlreiche unzufriedene Bureaukratie und ein ehrgeiziger General an der
Spitze einer Armee, die bei der Errichtung eines freiheitlichen Staats nur
verlieren könnte. Wenn ihr die Entscheidung zufällt, so würde wahrscheinlich
Spanien bald der Reihe jener Staaten angehören, welche die Freiheit zu
schwer und theuer fanden und sich deshalb dem Cäsarismus in die Arme
warfen. Das Wahlmanifest sagt: „die Monarchie dynastischen Ursprungs ist
für immer todt in Spanien, die welche wir poliren wollen, ist die Mo¬
narchie welche aus dem Volksrecht entspringt, durch das allgemeine Stimm¬
recht geheiligt wird, welche die Souveränetät der Nation symbolisirt, alle
öffentlichen Freiheiten consolidirt, die Rechte des Bürgers personificirt, Rechte
welche über allen Institutionen und Gewalten stehen. Es ist die Monarchie,
welche radical das göttliche Recht vernichtet und mit diesem die Suprematie
einer Familie über die Nation, die von demokratischen Institutionen um¬
gebene, die volksthümliche Monarchie." Danach scheint es schon sehr zweifel¬
haft, ob man die Erblichkeit des Königthums erhalten will, und wenn nicht,
so handelt es sich ja eben nur um einen Präsidenten. Mit ähnlichen hoch¬
tönenden Reden zeichneten auch 1790 die Redner der französischen Revolution
ihre Ziele und errichteten auf dem nivellirten Boden eine Verfassung, welche
der erste Sturm wie ein Kartenhaus umwarf. Wir werden sehen, ob in
Spanien heute ähnliche Anläufe andere Resultate ergeben werden.
In Tschita verlebten wir drei Jahre und sieben Monate. Dieses provisorische
Gefängnißleben war von längerer Dauer, weil der Bau des uns definitiv
bestimmten unweit der Stadt Werchne - Udinsk bei der Petrowky'schen Eisen¬
fabrik belegenen Gefängnisses erst im Jahre, unserer Ankunft in Tschita ge¬
plant und durch einen eigens dazu delegirten Jngenieur-Stabsofficier sammt
Gehilfen angelegt worden war. Dieses neue, sehr geräumige Gebäude war
im Sommer 1830 vollendet worden und unser Commandant erhielt um die¬
selbe Zeit Befehl uns dahin zu bringen. Unsere Vorbereitungen waren schnell
gemacht: die Mantelsäcke wurden gepackt, unsere Gemüse sammt Gärten und
unsere hölzernen Geschirre den Einwohnern Tschita's geschenkt. Wir mußten
in zwei Abtheilungen marschiren, weil allenthalben unterwegs nur sehr dürf-
tiges Unterkommen für Reisende, an einigen Orten gar keines zu finden
war. Die erste Abtheilung marschirte unter Aufsicht des Platzmajors Obrist-
lieutenant Leparsky, eines Neffen unseres Commandanten, die zweite wurde
von dem greisen Commandanten selbst geführt; jede Abtheilung war von
einer hinlänglichen Anzahl Geleitssoldaten und von Kosaken escortirt. Zum
Transport der Sachen waren Fuhrwerke gemiethet worden, deren Benutzung
zum Fahren nur denjenigen meiner Kameraden gestattet war. die entweder
eine schwache Gesundheit hatten oder von Wunden bedeckt waren; unter
Letzteren befanden sich Fonwisin, Fürst Trubetzkoy, Schweikowsky, Lunin,
Fürst Wolkonsky, Jakubowitsch. Mittkow, Dawydow und Abramow. —
Jede Abtheilung hatte einen erwählten Aeltesten: bei der ersten fungirte
N. N. Suthoff, bei der zweiten meine Person; wir mußten, ebenfalls unter
Geleite, einen Tag früher als die Uebrigen mit Küche und Proviant aus¬
rücken, um die Mittags- und Abendmahlzeiten vorbereiten zu lassen. Nach
je zwei Marschtagen hatten wir einen Rasttag. Unsere Reise war volle 100
Meilen (700 Werst) lang und dauerte 48 Tage. Die Frauen begleiteten
uns einige Tagemarsche weit, dann fuhren sie, da sie keine Quartiere finden
konnten, bis Werchne-Udinsk voraus; von diesem Punkt an kamen wieder
große Dörfer vor, die uns beherbergen konnten.
Die erste Abtheilung rückte am 4. August aus, anderen Tages folgte die
zweite. Die Bewohner von Tschita begleiteten uns mit ungeheuchelter Rüh¬
rung eine Strecke Weges, denn unser Aufenthalt hatte ihnen große Vor¬
theile verschafft: sie hatten reichlichere Einnahmen gehabt, dadurch sich besser
angebaut und durch die neuen Häuser des Commandanten und der Damen
Trubetzkoy, Wolkonsky und Annenkow eine wirkliche Verschönerung ihres
Orts erfahren. Die Damen Murawjew. Naryschkin und Dawydow lebten
in gemietheten Häusern, die sie hatten ausbauen lassen. — Bis zur Stadt
Werchne-Udinsk führte eine Poststraße; an jeder Station waren ein kleines Post¬
haus und einige Hütten zu finden, auf der ganzen Strecke dagegen, die von
Burjäten eingenommen ist, existirte kein einziges Dorf. Unsere Nachtlager
und die Punkte, an denen wir die Rasttage verbrachten, waren mit Jurten
der Burjäten versehen: kegelförmigen Filzzelten, in welchen je vier Mann
Platz hatten. Mehrere solcher Zelte, in einer Linie aufgestellt, boten das
Ansehen eines kleinen Lagers dar, zumal sie rings von Wachtposten und
Pickels umgeben waren. Gekocht wurde im Freien, bet Regenwetter der
Kessel mit einem aus Latten und Baumästen gefertigten Notstand bedeckt. —
Die stärkende Herbstluft, die am Tage warm genug war, Nachts aber bis zu
acht Grad Kälte stieg, und die Bewegung in einer bergreichen Gegend erfrischtem
die Gesundheit unserer Schaar. Einige Tage lang führte unser Weg durch
Berg und Thal, von allen Seiten starrten uns Berge entgegen, kaum daß
der Weg eine Werst weit zu übersehen war; erst am Fuß des Berges zeigte
sich dann seitwärts ein Engpaß, durch den man wieder ein neues Thalsehen
konnte. Rechts und links sah man Tabunen (Pferdeheerden) weiden, größten¬
teils ausweißen und grauen kleinen Pferden bestehend; die Hüter mit Flinte
und Bogen bewaffnet waren gleichfalls beritten und führten zweiräderige
Fuhrwerke.mit Filzzelten, in denen ihre Weiber und Kinder saßen, mit sich.
Die nomadischen Burjäten nähren sich von Jagd, Fischfang und vom Aas
gefallener Thiere. Diese Nachkommen der Mongolen haben ebenso wenig
Bedürfnisse wie ihre Vorfahren aus der Zeit Tschingis-Chans, der mit um
zähligen Heerschaaren ungeheuere Märsche durch Wüsteneien ohne Vorraths¬
magazine unternehmen konnte. Unsere burjätischen Begleiter und Fuhrleute
führten weder Brod noch andere Mundvorräthe mit sich; sie entfernten sich
abwechselnd in Partien zwei Mal täglich aus dem Lager und hielten sich dann
eine halbe Stunde im Walde auf, um daselbst ihren Hunger mit Strickbeeren zu
stillen. Allmälig näherten sie sich uns; Einige unter ihnen sprachen russisch, und
dienten den Anderen als Dragomans, die sie tolmatsed (Dolmetscher) hießen.
Regelmäßig versammelte eine Gruppe sich um den Tisch, an welchem Tru-
betzkoy und Wadkowsky Schach spielten; diese Zuschauer gaben durch Aus¬
rufungen und Beifallszeichen zu verstehen, daß sie dieses Spiel genau kannten.
Einem von ihnen wurde eine Partie angeboten: er schlug unsere besten
Spieler und erklärte, daß dieses Spiel den Burjäten schon längst bekannt
gewesen und aus China überkommen sei.
Die Neugierde dieser Nomaden wurde am meisten durch meinen Kame¬
raden M. S> Lunin erregt: seine Wunden hatten ihm die Erlaubniß ver¬
schafft, in einem Fuhrwerke zu fahren, welches er mit Wachstuch verdecken
ließ; er schlief auch des Nachts darin und verließ es nie am Tage. Mehrere
Tagemarsche nach einander, sobald wir zum Nachtlager oder zum Rasttage
anhielten, war sein Fuhrwerk von einem Burjätenhaufen umringt, der un¬
geduldig erwartete, daß der Gefangene sich zeigte; aber die Vorhänge aus
Wachstuch blieben fest zugeschnallt, der geheimnißvolle Mann, in welchem
sie den Hauptverbrecher zu erkennen glaubten, war unsichtbar. Endlich fiel
es ihm ein, herauszutreten und nach ihrem Begehr zu fragen. Der Dol¬
metscher erklärte im Namen der Zuschauer, daß sie ihn zu sehen und zu er¬
fahren wünschten, weshalb er eigentlich nach sibir'-n verschickt sei. —
»Kennt ihr Euern Taischa?" — Taischa ist der höchste Rang, der Titel des
Oberhaupts der Burjäten.. „Wir kennen ihn." „Kennt ihr aber auch den
Taischa, der über euerm Taischa steht, ihn in mein Fuhrwerk setzen und ihm
den I)Mi (Garaus) machen kann?" — „Ja, wir haben von ihm gehört." —
»Nun, ich wollte seiner Macht uZei machen, dafür bin ich verschickt." —
»Ho! ho! ho!" hallte es in der bewundernden Schaar, und mit tiefen
Verbeugungen zogen die Neugierigen sich von dem Fuhrwerke und dessen
mysteriösem Besitzer wieder zurück. — Ein kleiner Theil dieses Nomaden¬
stammes ist zum Christenthum bekehrt, lebt in Häusern und treibt Ackerbau;
die Uebrigen sind Götzendiener und werden von ihren Priestern den Scha¬
manen geleitet, welch' letztere den Aberglauben absichtlich erhalten, sich ge¬
legentlich bis zur Ohnmacht verrenken und in dem Zustande völliger Be¬
wußtlosigkeit prophezeien und verwünschen. Die Unreinlichkeit der Burjäten
erreicht den höchsten überhaupt denkbaren Grad: sie haben keine Wäsche,
tragen ihre Pelze auf dem bloßen Körper, eine Fußbekleidung aus Gemsen¬
fell und Winter und Sommer kleine Pelzmützen; ihr Haupthaar rasiren sie
bis auf einen Zopf, der den Scheitel krönt, völlig ab. Kleine Augen, niedrige
und flache Stirn, viereckige Gesichter mit breit hervorstehenden Backenknochen,
.blaßgelbe Gesichtsfarbe sind die Kennzeichen ihres Stammes. Unter sich
nennen sie sich Mendu, der Gruß den wir täglich mit ihnen wechselten,
lautete amur-meuäu.
Bis zur Stadt Werchne-Udinsk nächtigten wir stets in Filzzelten, die gut
gemacht waren und keinen Wind durchließen; an kalten Abenden wurde in
der Mitte des Zelts Feuer angemacht. Im Mittelpunkte des Daches ist
eine Oeffnung mit Klappen angebracht, aus welcher der Rauch entweicht.
Um das Feuer setzt sich die Familie des Burjäten auf Filzdecken nieder;
nackte Kinder wälzen sich zwischen den Erwachsenen, welche Thierfelle mit
den Zähnen zerreißen und zuschneiden, Pfeile drechseln, Kugeln gießen oder
Filz walken. Der Leckerbissen und die hauptsächlichste Nahrung der Wohl¬
habenden ist eine besondere Art von Thee : ein Gemisch von abgefallenen und
verdorbenen Theeblättern, das durch Kirschleim und andere klebrige Stoffe
in Formen gepreßt wird, welche glatten Ziegelsteinen von 1—2 Fuß Länge,
7 Zoll Breite und 3 Zoll Dicke ähnlich sehen; dieser Thee heißt um solcher
Aehnlichkeit willen in Sibirien Ziegelsteinthee. Von diesen Platten schlagen
die Burjäten mit Beilen kleine Stückchen ab, stampfen oder pulverisiren diese
in Mörsern, kochen das Theepulver in einem Kessel, legen etwas Mehl,
Milch oder Butter und Fett dazu und trinken solches Gebräu mit Genuß
aus hölzernen lackirten Schalen, die etwas tiefer und größer als unsere Un¬
tertassen sind. — Die Burjäten lieben den Tabak leidenschaftlich und rau¬
chen ihn aus kleinen kupfernen Pfeifen. Wenn sie die Pfeifen anrauchen,
ziehen sie allen Rauch ein. Die Pfeifen sind klein, weil der Tabak sehr theuer
ist; gegenwärtig wird derselbe übrigens vielfach in den südlichen Regionen
Sibiriens gebaut. Ohne Zweifel werden diese Nomaden mit der Zeit dem
Beispiele ihrer ansässigen Stammgenossen folgen, diemeist in einem gewissen
Wohlstande leben.
Zwei Wochen vor unserem Ausrücken aus Tschita hatte ich einen Brief
meiner Frau aus einer jenseit des Baikalsees gelegenen Station (wo sie einer
schrecklichen Überschwemmung halber drei Wochen aufgehalten worden war)
erhalten. — Mein Sohn zählte schon vier Jahre; meine Frau hatte sich
lange mit den Gedanken gequält, wem sie seine Erziehung anvertrauen sollte.
Unterdessen hatte ihre Gesundheit durch die Trennung und schwere Sorgen
empfindlich gelitten, besonders seitdem sie eine entschieden abschlägige Ant¬
wort auf ihr Gesuch, unser Kind nach Sibirien mitnehmen zu dürfen, erhal¬
ten hatte. Der General-Adjutant Dibitsch hatte der Frau von I. D. Ja-
kuschkin, die ihrem Manne nicht sofort gefolgt war, weil sie zwei minderjähr-
rige Söhne versorgen mußte, das Versprechen gegeben, daß sie ihre Söhne
werde mitnehmen dürfen. Als meine Frau sich persönlich mit dem gleichen
Gesuch an den General-Adjutanten Grafen Benkendorff wandte, kündigte dieser
ihr die Unmöglichkeit einer Gewährung an. Als meine Frau sich auf das Ver.
sprechen Dibitsch's berief, hatte Benkendorff entgegnet: „V'sse impossibls, o'est
uns stoui-äsris as Is, xart an (?6lisrg,1. IZt Moors js avis Vous prsvöllir,
Uaäamo, si vous voulszi partir sans votrs üls, it u'x aura, jams-is av ro
tourpour vous, Mwais!" — Dann fügte er noch hinzu: „8i vous avss dö-
«sin as c^uft^us autrs etwss, j'mtsresclsrg.i s-upres as 8a Najssts." — Meine
Frau konnte nur antworten: ,,^s vais xrisr us xas revenir, et js v'e>.i risn
i>. Zsmanäsr «zuimÄ on we rskuss ivou 61s." Benkendorff war bis zu
Thränen gerührt und bat, sie möchte ihn vor ihrer Abreise noch eine Mit¬
theilung zugehen lassen, damit er ihr die erforderlichen Papiere zuschicken könne.
— Die Drohung Benkendorff's „II n'^ aura xas as rstour xour vous" war
keine leere, sondern beschlossene Regierungsmaßregel. Zwei meiner verheiratheten
Kameraden, Tuschnewsky und Jentalzow. starben im Jahre 1846 in Sibirien;
ihre kinderlosen Wittwen baten um Erlaubniß, in die Heimath zurückzu¬
kehren, erhielten aber eine abschlägige Antwort.*) — Meine Frau war, als
sie in ihre Wohnung zurückkehrte und ihren Sohn auf den Arm nahm, wie
zerschlagen; von diesem Augenblicke an stellte sich eine durch beständiges Ohren¬
brausen bewirkte Schwäche ihres Gehörs ein, die mehrere Jahre währte und sich
später bei jeder Gemüthsbewegung erneuerte. Während der Zeit unserer
Trennung lebte sie sehr eingezogen, widmete sich ganz dem Sohne und reiste
im letzten Jahre auf ihr Landgut in die Ukraine. Ihre Gesundheit schwand
merklich; liebende Verwandte nahmen warmen Antheil an ihrem Kummer,
wußten aber nicht, wie ihr zu helfen sei. — Erst als ihre jüngste Schwester
für das Kind zu sorgen versprach, wurde meine Frau ruhiger, denn jetzt
wußte sie dasselbe wohl aufgehoben. Ihre Vorbereitungen zur Reise waren
kurz, sie benachrichtigte Benkendorff von der Zeit ihrer Abreise und erhielt
mit umgehender Post seine Antwort und vier Paquete, welche an die Gou¬
verneure von Tobolsk, Jeniseisk, Jrkutsk und an unsern Commandanten Le-
parsky adressirt waren.
Bis Moskau ließ meine Frau sich von ihrem Sohne begleiten. Hier
angelangt erhielt sie die Besuche vieler Verwandter meiner Unglücksgefährten;
die Gräfin Wer« Tschernytschew, Schwester unserer Alexandrine MurawjM,
jetzige Gräfin Pahlen, bat meine Frau mit Thränen, sie unter dem Namen
einer Dienstmagd mitzunehmen, damit sie in Sibirien ihrer Schwester helfen
könne. — Ich übernehme es nicht, den letzten Tag zu beschreiben, den meine
Frau mit ihrem Sohne zubrachte.
Am 17. Juni 1830 verließ meine Frau in Begleitung eines Dieners
und einer Magd Moskau und reiste ebenso schnell wie die Briefpost; bis
Tobolsk hatte sie nur eine Nacht geruht. Als sie hier Benkendorff's Brief
dem General-Gouverneur I. A. Weljaminow zugesandt hatte, erhielt sie vom
diesem das Anerbieten, einen Begleiter in der Person des Postillons Sedow
bis Jrkutsk mitzunehmen. In Jrkutsk traf sie am 31. Juli ein und wurde
daselbst einige Tage aufgehalten; obgleich man ihr nicht so große Hinder¬
nisse in den Weg legen konnte wie früher der Fürstin Trubetzkoy. so ver¬
langte man doch einen schriftlichen Verzicht auf die ihre adligen Staatsrechte.
Den 4. August wurde die Reisekalesche meiner Frau auf ein großes
Fischerboot, ein Segelfahrzeug, gesetzt, das sie über den Baikalsee führen sollte;
nach stürmischer Seefahrt, die zum Einlaufen in einen Nothhafen zwang, tra¬
fen die Reisenden in der Station Stepnaja ein; hier mußten sie liegen blei¬
ben, weil das Austreten der Flüsse Selenga und Uta die ganze Umgegend
überschwemmt hatte. Zehn Tage lebte meine Frau in einem armseligen Dorfe
in einer Scheuer, bis das Wasser endlich zurücktrat. Sie mußte ihre Kalesche
zurücklassen, einige Werst zu Boote fahren und konnte die folgende Station
nur mit Mühe und nach großen Gefahren erreichen. Der Diener war bei
der Equipage zurückgeblieben; sie setzte sich mit der Magd in einen Postwa¬
gen und jagte dann weiter. — Obgleich ich schon in Tschita den Brief mei¬
ner Frau aus Stepnaja erhalten hatte, war es doch unmöglich ihre Ankunft
an einem bestimmten Tage zu erwarten; der Entfernung nach konnte sie
täglich eintreffen. Die Frau meines Gefährten Juschnewsky war zwei
Wochen vor meiner Frau aus Moskau abgereist und weder von dem Bai¬
kalsee, noch durch Ueberschwemmung aufgehalten worden. Es war ihr nicht
bestimmt, auf längere Zeit das Gefängniß und die Verbannung ihres Man¬
nes zu theilen — er wurde von seinen Leiden durch einen plötzlichen Tod
befreit, während er in der Kirche des Dorfes, wo er angesiedelt war, vor
dem Sarge unseres Kameraden Wadkowsky stand. — Am 27. August hiel-
ten wir in Ononsky-Bor, einem Dörfchen, Rasttag, wo wir in Filzzelten ein-
quartirt waren. Nachmittag legten wir uns schlafen, ich konnte aber kein
Auge schließen; die Zelte waren längs der Poststraße aufgestellt, die über
einen Bach in den Wald führte. Ich hörte Postglocken. das Rollen eines
Postwagens, blickte durch die Ritze des Zeltes und als ich einen grünen
Schleier bemerkte, warf ich meinen Rock über die Schulter und lief hinaus
dem Wagen entgegen. Nikolai Bestushew lief mir nach, konnte mich aber
nicht einholen; die vor uns aufgestellten Schildwachen warfen sich mir entge¬
gen, um mich aufzuhalten, aber vergeblich, ich schlüpfte durch — einige
Schritt von den Schildwachen hielt der Postwagen, einen Augenblick später
hielt ich meine Frau in den Armen.
Die Schildwachen blieben unbeweglich stehen; in den ersten Augenblicken
gab ich mich einer unbeschreiblichen Freude hin. Aber wohin sollte ich meine
Frau führen? sie konnte nach der angreifenden Fahrt kaum gehen. Glückli-'
cherweise kam der Platzadjutant Capitän Rosenberg, der mich benachrichtigte,
daß er vom Commandanten den Befehl erhalten habe, mich mit meiner Frau
in einem Bauernhause einzuquartieren und eine Wache daselbst aufzustellen.
Meine Frau hatte nur eine Magd und einen Reisesack mit sich. Fragen
und Antworten über meinen Tobn, meine Verwandten, über das vergangene
und bevorstehende Leben erfüllten die ersten, schnell verrauschten Stunden.
Ich mußte fortgehen, um das Abendbrot auszutheilen, und überredete meine
Frau, während dessen Frau Naryschkin zu besuchen. Als ich mich den Zel¬
ten näherte, kamen mir meine Kameraden sämmtlich entgegen, um mir Glück
zu wünschen; sie umarmten mich und in manchem Auge sah ich Thränen
stehen. Man ließ mich nicht zur Küche gehen, sondern hatte mein Geschäft
bereits verrichtet. Ich wollte meine Frau mit unserer Kost bewirthen, aber
Jakubowitsch hatte ihr bereits eine treffliche Brühe zum Willkommen be-
reitet. Andern Tages rückte ich mit meinem Geleite und meinen Kesseln
weiter; meine Frau holte mich in einem Postwagen ein. Den ganzen Tag
ging ich neben ihrem Wagen und unterhielt mich mit ihr. Ich wollte mich
nicht aufsetzen, weil ich mir das Wort gegeben hatte, aus Tschita nach Pe-
trowsk zu Fuße zu gehen. — In den ersten Tagen konnte meine Frau
kaum eine Werst mit mir gehen; nach einer Woche, als wir uns dem Ufer
der Selenga näherten, ging sie mir mir schon sechs bis zehn Werst. Das
Wetter war schön; von 10—2 Uhr wärmte die Sonne so tüchtig, daß meine
Frau in einem leichten Sommerkleide gehen konnte. — Eine Nacht brachten
wir in einem Filzzelte zu, wo wir Briefe von unserem Sohne und unseren
Verwandten lasen; dieses Nachtlager gefiel meiner Frau besonders, weil sie
durch die Rauchöffnung des Zeltes gerade über ihrem Haupte den gestirnten'
Himmel sehen konnte.
Nach einigen Tagen erreichten wir das Ufer der Selenga, die reizendste
'
und großartigste Gegend Sibiriens. Man stelle sich einen breiten Fluß vor,,
dessen rechtes Ufer von hohen Felsen gebildet wird, die aus vielen, ganz
verschiedenfarbigen Schichten bestehen: rother, gelber, grauer, schwarzer Granit
wechselt mit Spath, Schiefer. Sand, Lehm, Kies und Kalksteinen. Dieses
Felsufer ist etwa 60 Fuß hoch. Bei klarem Wetter blitzte die senkrechte Fel-
senwand in tausend prächtigen Farben. — Die Umgegend des Flußthals ist
von Hügeln durchkreuzt, die mit großen Felsblöcken, welche Schlössern und
Burgen ähnlich sehen, gekrönt sind, vermuthlich infolge von Erdbeben; die
Ufer des Baikalsees bestätigen eine solche Vermuthung. Dieser See, welcher in
Sibirien das heilige Meer genannt wird, ist unermeßlich tief. — Pallas, der
berühmte Reisende aus der Zeit Catharina's II., beschreibt diese Gegend aus¬
führlich und zählt sie zu den schönsten Landschaften die er je gesehen. Ich
weiß nicht, ob Pallas im Kaukasus und in Grusien gewesen ist? Die Natur
an der Selenga ist schön, aber es fehlt an Menschen; die Bevölkerung ist
sehr schwach: ein Mangel, der sich auch für den Beschauer stärker fühlbar
macht, als man gewöhnlich annimmt.
Bei der Stadt Werchne-Udinsk bogen wir links vom großen Wege ab;
nach drei Tagemärschen gelangten wir in ein großes Dorf Tarbagatay. wel¬
ches durch seine Häuser und seine Bewohner ganz das Aussehen eines Dorfs
der großrussischen Gouvernements hatte. Hier leben auf einer Strecke von
60 Werst die sogenannten Semeiskije, Leute deren Vorfahren unter der Re¬
gierung der Kaiserin Anna 1733 und unter Catharina II. im Jahre 1767
größtentheils wegen Sectirerei aus Dorogobusch und Gvmel nach Sibirien ver¬
schickt worden waren. Man hatte ihnen gestattet, ihr Hab und Gut zu ver¬
kaufen und mit ihren Weibern und Kindern in die Verbannung überzusiedeln.
Daher erhielten sie in Sibirien die Benennung Semeiskije, d. h. Leute die
mit ihren Familien ins Land kamen. Als diese Verwichenen über den
Baikalsee gegangen und in Werchne-Udinsk angelangt waren, erhielten sie von
der Ortsbehörde Befehl, sich hier an wüsten von anderen Ansiedlungen ent¬
fernten Orten anzubauen. Der Regierungs-Commissär führte sie in einen Ur¬
wald längs des kleinen Flusses Tarbagatay und erlaubte ihnen, sich hier einen
beliebigen Wohnort auszuwählen. Von Zahlung der Kronabgaben waren
sie vier Jahr lang befreit. Wie groß war die Verwunderung des Beamten,
als er sie nach Jahresfrist besuchte und ein schön angebautes Dorf, Gemüse¬
gärten und Felder an einem Ort sah. wo noch vor Jahresfrist ein dicker
Wald Alles bedeckt hatte! Dieses Wunder war durch die Arbeitsamkeit der
Leute und durch das Geld bewirkt worden, daß sie mitgebracht hatten. Da
sie in der Heimath alle Habe verkauft hatten, waren sie mit reichlicher
Baarschaft angekommen : sobald ihre Ankunft bekannt wurde, strömten aus den
umliegenden Bergwerken geschickte Handwerker zu ihnen und die Arbeit ging
rasch von Statten. Von Werchne-Udinsk an, hielten wir unsere Nachtlager
und Rasttage nicht mehr in burjatischen Filzzelten, sondern in diesen großen
Dörfern. In Tarbagatah hatten wir Zeit, Alles umständlich in Augenschein
zu nehmen. Mit meiner Frau war ich in dem Hause eines Bauern einquar-
tirt: die Häuser enthielten mehrere Zimmer, bedeckte Treppen, große Fenster,
breterne Dächer; aus der einen Seite der Flur befand sich eine geräu¬
mige Stube für die Arbeiter und ein mächtiger russischer Backofen, auf der
anderen 2—ö Zimmer mit holländischen Oefen; hier war der Fußboden mit
eigens dazu fabricirten Teppichen bedeckt, die Tische und Stühle waren sau¬
ber angestrichen, selbst Spiegel, die in Jrbit zur Jahrmarktszeit gekauft wor¬
den waren, fehlten nicht. Unsere Wirthin nahm uns gastfrei mit Schinken,Stör und
verschiedenen Gattungen Kuchen auf. — In den Höfen sahen wir mit Ei¬
sen beschlagene Wagen, gute Geschirre, starke wohlgenährte Pferde und ge¬
sunde wohlgestaltete Menschen, die einen vortrefflichen Eindruck machten. Es
war Sonntag, Alles ging ins Betßaus, die Männer in langen Röcken aus
blauem Tuch und stattlichen Zobelmützen, die Weiber in seidenen mit Zobel¬
kragen besetzten Halbmänteln, die sie Seelenwärmer nennen; ihr Kopfputz war
aus Seidenstoff gefertigt und mit Gold und Silber durchwebt. Alles zeigte
Wohlhabenheit, Arbeitsamkeit und Ordnung. Nur Eins sehlte dem Beobachter:
die Kirche; als Altgläubige hatten die Ortsbewohner blos ein Bethaus und
keinen Priester. Wie alle Altgläubige gebrauchen sie keinen Tabak, keinen
Thee, keinen Wein, keine Medicin, auch impfen sie keine Pocken ein, da sie
das Alles für Sünde halten; ich habe unter ihnen übrigens keinen einzigen
Pockennarbigen gesehen. Sie sind sehr gottesfürchtig, lesen fleißig die heilige
Schrift und beobachten aufs strengste die Gebräuche ihrer Secte.
Viele dieser Leute sind Kapitalisten; Einige besitzen Capitalien im Betrage
von 100,000 Rubeln, unternehmen große Kornlieserungen und handeln mit
den Chinesen, denen sie vortheilhaft Waizen und Schafsfelle verkaufen. — „Wa¬
rum sind Eure Nachbarn so arm?" — fragte ich meinen Wirth, — „Wie sollen sie
nicht arm sein!" — antwortete er — „wenn der Hahn kräht, sind wir schon auf
dem Felde und. pflügen in den kühlen Morgenstunden, indessen der einheimische
Bauer kaum aufgestanden ist und seinen Ziegelthee kocht; bis er sich zu
seinem Felde schleppt, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Wir haben
unsere erste Arbeit schon beendet und ruhen, während der Sibirier sich in
der Hitze mit seinen Umspann abquält; weder er selbst noch sein Pferd haben
Kräfte das Land gut durchzupflügen. Außerdem sind die früher Angesiedelten
dem Branntweintrinken ergeben; sie bringen jeden Kopeken durch und können
daher keine Capitalien sammeln." — Bestushew fragte einen dieser Bauern,
warum sie nicht zur Erleichterung und Beschleunigung der Arbeit bet sich
Maschinen einführten, wenigstens Dresch. und Saatreinigungsmaschinen? Der
Gefragte antwortete: „Wir haben meist gedörrtes Korn, welches wir bei frucht¬
baren Jahren und niedrigen Preisen ost fünf Jahre lang aufbewahren. Zum
Windigen dient uns eine breite Schaufel, Wie viel kann die Maschine in
einem Tage windigen?" — „Mehr als sechzig Loos." — „Meine Schaufel
und meine Hand windigen nicht weniger" entgegnete der Bauer, seine starke
Hand vorzeigend, deren Handgelenk über vier Zoll breit war. Das ganze
Wesen dieser Leute zeugte von Wohlstand und Zufriedenheit: sie haben eine
Communalverfassung, durch welche sie ziemlich unabhängig gestellt sind,
bezahlen ihre Abgaben pünktlich und haben nur mit Kronbeamten zu thun,
mit denen sie umzugehen verstehen.
Am folgenden Tage nächtigten wir in einem Dorfe derselben Colonie
und fanden daselbst das nämliche thätige Leben. In einem dritten Dorfe,
Dessiatnikowo, hielten wir den dritten Rasttag; unser Wirth war ein rüstiger
Greis von 110 Jahren, welcher der Zahl der ersten Verschickten aus der Re¬
gierungszeit Anna's (1733) angehörte. Er war damals 13 Jahre alt ge¬
wesen und erinnerte sich noch deutlich aller Umstände der weiten Reise und
der ersten Einrichtung. Der Alte lebte im Hause seines jüngsten, vierten
Sohnes, der selbst ein Greis von 70 Jahren war. Obgleich der Vater nicht
mehr arbeitete, hatte er die Gewohnheit, stets ein Beil im Gurt zu tragen;
frühmorgens weckte er seine Kinder und Enkel zur Arbeit. Er führte mich
zu seinen anderen drei Söhnen; für Jeden hatte er ein besonderes Haus
mit Hof und Scheuer, und für jedes Haus eine besondere Wassermühle an¬
gelegt. — „Warum hast du, Großvater, so viele Mühlen gebaut?" fragte
ich den Alten. — „Sieh doch, was wir für Felder haben" erwiderte er und
zeigte auf die umliegenden Berge, wo jeder Winkel bearbeitet war. Der
Boden erzeugt guten Waizen, der vortheilhaft veräußert werden kann.
Nach dem Reichthum und Wohlstande dieser Bauern zu urtheilen, schien es
mir, als hätte ich arbeitsame Russen in Amerika und nicht in Sibirien vor
mir; in dieser Gegend ist Sibirien um nichts schlechter als Amerika. Frucht¬
bares Land im Ueberfluß. Arbeitsamkeit der Menschen, die sich selbst regieren.
In diesem dritten Dorfe fanden wir die Kalesche meiner Frau, welche
der Überschwemmung wegen zurückgeblieben war. Noch blieben vier Tage¬
marsche bis zu unserem neuen Gefängniß übrig; ich überredete meine Frau
vorauszufahren, um für sich und die Diener eine Wohnung zu miethen
und einige Vorräthe einzukaufen. — In unserem letzten Nachtlager an¬
gelangt, legte ich das Amt eines Tafel- oder Küchenbesorgers nieder. Hier,
am Vorabende unserer Ankunft in Petrowsk, erhielten wir Briefe und die
wichtige Nachricht von der Julirevolution in Frankreich; das war von guter
Vorbedeutung für unseren neuen Aufenthaltsort und eine desto angenehmere
Nachricht, als uns die vorletzten Zeitungen die unsinnigen Ordonnanzen von
Karl X. mitgetheilt hatten. — Jedem Reisenden ist es angenehm, sich dem
Ziele der Reise zu nähern; nicht so uns, die wir von einem neuen Gefängniß
erwartet wurden. Die letzten Werste schlängelte sich der Weg durch einen
Wald,, der, jemehr wir uns Petrowsk näherten, immer lichter und dünner
wurde, endlich durch Gebüsch und Morast führte, bis plötzlich hohe Berge
gegen Norden und Osten zum Vorschein kamen. In einem tiefen Thale
zeigte sich ein großes Dorf, eine Kirche, ein Fabrikgebäude mit vielen
Schornsteinen, ein Bach und hinter demselben das rothe Dach des Gefäng¬
nisses. Näher gekommen sahen wir endlich ein enormes Gebäude auf
hohem steinernen Fundament in der Form eines Galgens; dasselbe zeigte
eine Menge von Schornsteinen aus Ziegeln, aber alle Wände waren fenster¬
los, ein Ausbau ausgenommen, an welchem der Eingang, die Hauptwache
und die Wachtstube angebracht waren. Als wir durch das Thor gekommen
waren, erblickten wir an den inneren Mauern Fenster, Treppen und eine hohe
Umzäunung aus aufrecht stehenden und zugespitzten Balken, die den ganzen
inneren Raum in acht gesonderte Höfe eintheilte. Jeder Hof hatte seine
eigene Pforte, jede Abtheilung faßte fünf bis sechs Mann. Jede Treppe
führte in einen hellen Corridor von vier Ellen Breite, aus welchem Thüren
in die einzelnen Zellen führten; jede Zelle war sieben Schritt lang und sechs
Schritt breit. Diese Zellen waren fast ganz dunkel, denn sie erhielten ihr
Tageslicht nur aus dem Corridor durch ein vergittertes Fensterchen, welches
über der Zellenthür angebracht war; es war so dunkel, daß man am hellen
Tage nicht lesen, nicht die Zeiger und Ziffern an der Uhr unterscheiden
konnte. Am Tage war es erlaubt, die Thüre zu öffnen und bei warmer
Witterung im Corridor zu arbeiten; aber wie lange dauert der Schein der
sibirischen Sonne? Schon im September mußten wir im Dunkeln sitzen
oder den ganzen Tag Licht brennen. Es waren in Allem sechszig Zellen;
in einigen wurden zwei Gefangene zusammen einquartirt.
Der erste Eindruck war peinlich, umsomehr, als er völlig unerwartet ge¬
kommen war. Wie konnten wir ahnen, daß man uns, nachdem wir fast vier
Jahre lang in dem engen aber erträglichen Gefängnisse von Tschita zugebracht
hatten, ohne Ursache durch Versetzung in ein sehr viel schlechteres Gefängniß
bestrafen und sogar des Tageslichtes berauben würde? Mir thaten besonders
diejenigen meiner Kameraden leid, die in diesem Gefängnisse zwölf Jahre zu¬
bringen sollten.— Zwei Abtheilungen des Gefängnißgebäudes, die erste und
die zwölfte, waren den Verheirateten angewiesen; die Frauen zauberten nicht
einen Augenblick, das Gefängniß ihrer Männer zu theilen, was in Tschita
wegen der Enge und der gemeinschaftlichen Einsperrung verboten gewesen
koar; hier hatte Jeder seine besondere Zelle. In unserer Abtheilung lebten
die Frauen von Trubetzkoy, Naryschkin, Fonwisin und die meinige. Serge
Trubetzkoy pflegte zu sagen: „Wozu brauchen wir Fenster, da wir vier
Sonnen haben!" — Alerandrine Murawjew und Catharine Trubetzkoy konnten
in dem Gefängnisse nur den Tag zubringen, weil es nicht gestattet war,
Kinder in dasselbe mitzunehmen; die Thüren der Zellen wurden jeden Abend
nach dem Zapfenstreiche abgeschlossen — kleine Kinder die oft plötzlicher Hilfe
bedürfen, wären der größten Gefahr ausgesetzt gewesen, zumal Nachts kein
Feuer angemacht werden durfte. Die Mütter brachten die Nacht bei ihren
Kindern im eigenen Hause, den Tag bei ihren Männern im Gefängnisse zu.
Jeder von uns suchte seine Zelle nach Kräften auszuschmücken; eine gemein¬
schaftliche Küche befand sich in einem besonderen Gebäude in der Mitte des
ganzen Gefängnißhofes. Jeder der abgetheilten Höfe konnte gänzlich ab¬
gesperrt werden, sobald man die Pforten desselben verschloß. Ein ebenso
großer Raum, als das ganze Gefängniß einnahm, war von einem hohen
aus Balken gezimmerten Zaun eingeschlossen, sodaß die Gefängnißwände
und der eingezäunte Platz ein rechtwinkliges und gleichseitiges Viereck bil¬
deten. Nach dem anfänglichen Plane sollte das ganze Viereck mit Ge¬
fängnissen bebaut werden; da aber ein Theil der Gefangenen schon aus
Tschita zur Ansiedelung verschickt war und mit der Zeit nach bestimmten
Terminen die übrigen Kategorien folgen sollten, so wurde nur die Hälfte
des Raumes bebaut, und die andere eingezäunte Hälfte diente uns zum
Tummelplatz und zur Promenade; im Winter legten wir Rutschberge und
eine Eisbahn zum Schlittschuhlaufen an. Ein Corridor oder gemeinschaft¬
licher Durchgang führte an allen Zellen vorüber; um aber einige Ruhe
herbeizuführen, und das Geräusch zu vermindern, befahl der Commandant
diejenigen Thüren des Corridors, die eine Abtheilung von der anderen
trennten, gänzlich zu schließen.
Als wir dem Commandanten Leparsky über die Finsterniß in unsern
Zellen Vorstellungen machten und unsere Verwunderung darüber aussprachen,
daß er den Bau nach einem so verkehrten, gleichsam auf unsere Erblindung
abzielenden Plane zugegeben, erklärte er achselzuckend, der Plan zu unserem
Gefängniß sei persönlich vom Kaiser bestätigt worden und darum an kein
Remonstriren zu denken gewesen. Aber er sandte Vorstellungen nach Peters¬
burg und erwirkte die Erlaubniß, daß im folgenden Frühjahr kleine Fenster
in unsere Zellen gebrochen wurden.
Im Frühjahr d. I. waren, wie durch die Zeitungen bekannt geworden,
die militärischen Verhältnisse Hessen-Darmstadt's zu einer Art Krisis gediehen.
Es handelte sich dabei um die Ausführung der Militärconvention mit Preu¬
ßen und die dadurch bedingte Organisation des Truppencontingents. Von
hessischer Seite suchte man eine möglichst selbständige Stellung der hessischen
Truppen zu gewinnen, während ein entgegengesetzter Einfluß für die Einfügung
derselben in den Rahmen der norddeutschen Armee thätig war. Dieser Gegen¬
satz spitzte sich zu der praktischen Frage zu. welche Bedeutung das hessische
Kriegsministerium künftig in Anspruch zu nehmen habe, dessen Rechte der
damalige Kriegsminister v. Grolmann mit den Räthen seines Ministeriums
zollbreit vertheidigte. Auf der andern Seite stand Prinz Ludwig, der Divi-
sionär der hessischen Truppen, indem er die genaue Durchführung der eonven-
tionsmäßigen Bestimmungen verlangte und damit zugleich die Stellung und
Bedeutung seiner Charge vertheidigte. Die Bedeutung des Kriegsministeriums
konnte nur auf Kosten des Einflusses des Divisionärs erhalten werden.
Weiter aber mußte die Stellung des Prinzen unhaltbar erscheinen, da der¬
selbe zwischen die Ordres der ihm übergeordneten Armeecorpscommandantur
zu Cassel und die Competenzansprüche des hessischen Kriegsministeriums ge¬
klemmt war. Er konnte weder den Befehlen des Einen noch den Rescripten
des Anderen genug thun und entschloß sich die Sache zum Biegen oder Bre¬
chen zu bringen, indem er seine Demission einreichte. An Versuchen ihn zum
Bleiben unter den bisherigen Bedingungen zu bewegen fehlte es natürlich nicht;
namentlich war dies Geschäft dem Bundesfeldherrn von 1866, dem Prinzen
Alexander, zugefallen, der für die hauptsächlichste Vertrauensperson seines
Bruders des Großherzogs gilt. Prinz Ludwig blieb aber fest; es mußte ein
provisorischer Divisionär bestellt werden, der bald in die übelste Lage gerieth.
So kam denn General v. Bonin, der von Preußen mit der Ordnung der ein¬
schlagenden Verhältnisse betraut und nach Darmstadt geschickt wurde, beiden
Theilen gelegen. Unter seiner Vermittlung wurde der obschwebende Conflict
nach Lage der Umstände leidlich geordnet. Der Kriegsminister trat mit sei¬
nen sämmtlichen Räthen ab, nicht ohne daß man ihnen als Schmerzensgeld
eine ansehnliche Gehaltserhöhung bewilligt hätte, der Titel und Orden die
außerdem vertheilt wurden nicht zu gedenken. Prinz Ludwig übernahm von
Neuem das Divisions-Commando. Das Kriegsministertum ward durch
Preußische Beamte neu organisirt, mit den Functionen einer preußischen
Armeecorpsintendantur ausgestattet und mit speciellen Vertrauensmännern
des Prinzen Ludwig besetzt. Die gegenwärtigen Mitglieder dieser Behörde
zeichnen sich in der That durch Thätigkeit und Geschäftsgewandtheit vortheil¬
haft aus; daß sie im Gegensatz zu der bundestägl.-östreichischen Färbung ihrer
Vorgänger den neuen Militäreinrichtungen aufrichtig zugethan sind, ergibt
sich schon aus der Geschichte ihres Amtsantrittes. — Um diese so außerordent¬
lich tief in das Leben unseres Kleinstaates einschneidende Veränderung einzu¬
führen, war ein Mann besonders thätig gewesen von dem man so Etwas
nicht erwartet hätte.
Herrn v. Dalwigk entging es nicht, daß hier, als in einer Militäran¬
gelegenheit, Preußen Ernst machen würde, und so ließ er ohne Bedenken
seinen Collegen v. Grolmann fallen und war eifrig bemüht, der neuen Com¬
bination die Wege zu ebnen. Charakteristischer Weise schloß dann dieses ganze
Zwischenspiel mit einem Diner, zu welchem Herr v. Dalwigk den General
v. Bonin und die übrigen Hauptactoren desselben zusammengebeten hatte.
Seitdem ist in militärischer Beziehung jeder Einfluß beseitigt geblieben, der
sich der Durchführung der preußischen Organisation entgegenstellen konnte.
Als das Militärbudget vor die Stände kam, wurden zwar einige schwache
Versuche gemacht, auf die Frage der Stellung des Kriegsministeriums im
constitutionellen Leben Hessens zurückzukommen, auch von den Majoritäten
beider Kammern Beschlüsse gefaßt, welche die Rechte der hessischen Stände
in Militärangelegenheiten mitzusprechen wahren sollten, allein der Gedanke,
daß es sich doch nur um todte Formeln handele und daß eine constitutionelle
Controle des Militärwesens nur noch in dem Reichstag und nicht mehr in
den Einzelkammern möglich sei — drückte offenbar auf diese Körperschaften
und selbst auf die heißblütigsten Vertretern der hessischen Selbständigkeit.
Die öffentliche Meinung aber nahm mit Recht an, daß das Recht Ja zu sagen
illusorisch geworden sei, seit das „Nein" zur Unmöglichkeit geworden. Im
Herbste wurden dann aus der militärischen Umgebung des Großherzogs
einige Personen entfernt, von denen angenommen wird, sie hätten in einem
preußenseindlichen Sinn gewirkt; nunmehr hat das ganze hessische Militär-.
Wesen einen so orthodox-nordbündlerischen Charakter als man in Berlin nur
wünschen kann. Das Officiercorps, durch die Ereignisse von 1868 über die
UnHaltbarkeit der bisherigen Einrichtungen belehrt, hat nach Ausstoßung
der unbrauchbaren Elemente durchgängig die neue Ordnung der Dinge mit
Eifer ergriffen. Das Institut der einjährigen Freiwilligen, das besonders
bei der städtischen Bevölkerung Hessens sehr eingreifend ist, ist merkwürdig
schnell in das Bewußtsein des Landes eingewachsen und dem Gleichheits¬
gefühl von Soldaten und Bürgern thut es wohl, Arm und Reich jetzt in
einer Linie dienen zu sehen.
Dieser wohlthätigen Revolution im hessischen Staatsleben steht in un-
, vermittelten Gegensatz fortwährend eine preußenfeindliche innere Politik
gegenüber. Als verdächtig gilt im Civilstaatsdienst Jeder, bet dem man
Neigung für Preußen und den Nordbund wittert. Ein eigenthümlicher Vor¬
fall in dieser Richtung ist jüngsthin Gegenstand der Besprechung in der
hessischen Presse geworden. Als im Jahr 1866 alle anderen Staaten ihren
Frieden mit Preußen gemacht hatten, blieb Hessen-Darmstadt allein zurück
und der Kriegszustand wurde ihm um so empfindlicher, als die aus dem
übrigen Süddeutschland zurückgezogenen preußischen Truppen in einer
Stärke von 20—30,000 Mann wie eine Art Execution in die Landestheile
des rechten Rheinufers gelegt waren, während die, hessische Division in
Kriegsstärke in Rheinhessen zusammenblieb. Allerlei Gerüchte von dem an¬
geblichen Starrsinn des Großherzogs, der in seinem Ausenthalt zu Nymphen¬
burg Nichts von den preußischen Friedensbedingungen hören wolle, von dem
schädlichen Einfluß Herrn v. Dalwigk's auf die Unterhandlungen circulirten
und wurden von den aufgeregten Gemüthern aufgegriffen. Natürlich erregten
dieselben gerade bei den hessisch Gesinnten die größte Bestürzung und so lud
eine Anzahl sehr loyaler Bürger und Beamten zur Unterzeichnung einer
Adresse an den Großherzog ein, welche dem Friedensbedürfniß des Landes
Ausdruck geben sollte. Als die Adresse dann berathen wurde, fiel für die
meisten der Einlader die Form derselben zu entschieden aus und weigerten
dieselben sich der Unterzeichnung. Im Herbste dieses Jahres nun wurde
mehreren der Beamten, von denen jene Einladung ausgegangen war und die
sich später um erledigte Stellen im Justizfach bewarben, eröffnet, daß alle Die-
jenigen, die zum Erlaß jener Adresse eingeladen hätten, nicht das Vertrauen
der Regierung besäßen und sich daher auf Beförderung im Staatsdienst keine
Hoffnung machen dürften. Vorgänge solcher Art zeigen dem Beamtenstande
deutlich an, auf welcher Seite die Hoffnung auf Carriere und wo die Aus¬
sicht auf Zurücksetzung liegt — eine Lehre, die sür die Meisten nicht ver-
loren geht. — In demselben Geiste wird fortwährend der Regierungseinfluß
bei den Landtagswahlen ausgeübt. Die mehr als zweideutige Stellung der
hessischen Negierung bei den Zollparlamentswahlen, wo sie für Ultramontane
und Demokraten wirkte, sobald festgestellt war, daß diese Preußenfresser seien,
ist bekannt. Neuerdings wurden zwei Landtagssitze vacant. welche die Re¬
gierung unbedingt zu vergeben hatte. In dem einen Bezirk ließ sie einen
jungen Anwalt wählen, der sich durch Zuschautragung seines kurhessischen
Legitimismus und durch öffentliche Bestreitung der Rechtsgiltigkeit der An¬
nexionen seine Sporen verdient hatte, in dem anderen Bezirk stellte sie
ihren Bundestagsgesandter von 1866, einen Bruder und Gesinnungsgenossen
des wiener Hofraths v. Biegeleben, auf und setzte ihn gegen einen von der
Gegenpartei aufgestellten Verwaltungsbeamten gemäßigter Gesinnung glück-
lich durch. Bemerkenswerth war bei dieser Wahl noch, daß die Re¬
gierung, um die Organisation jeden Widerstandes gegen ihre Candidaten
zu brechen, schon für den Tag nach dem Begräbniß des seitherigen Stände¬
mitgliedes, des bekannten Geh. Rath Seetz. die Wahlmänner zur Neu«
Wahl durch erpresse Boten zusammenholen ließ. — Ebensowenig feiern Staats¬
anwälte und Criminalgerichte gegen die nationale Partei. Es werden in
diesem Augenblick der Zollparlamentsabgeordnete Bamberger mit einer Anzahl
Genossen processirt, weil sie in einem Wahlaufruf gesagt haben die hessische
Regierung sei ein Bündniß mit der Intoleranz eingegangen (wörtlich). Der
Staatsanwalt hat aus zweimonatliche Festungsstrafe und 200 Gulden Geld¬
strafe angetragen. Das Urtheil des Gerichtes steht noch aus. Der Redacteur
eines nationalen Blattes wurde gar zu vier Monat Correctionshaus ver¬
urtheilt, weil er während der Parlamentswahlen in einem politischen Streit
im Wirthshaus das Uegierungssystem in Hessen als ein schmähliches bezeich¬
net hatte. Die Strafe wurde dann auf zwei Monate Gefängniß von der
höheren Instanz gemildert.
Derartige Verfolgungen die zu schwach sind um eine Partei niederzu¬
schlagen dienen als trefflicher Sporn, dieselbe in Athem zu halten und so
ist die nationale Partei in Hessen-Darmstadt derzeit, wie es scheint, die
rührigste von allen nationalen Parteiverbindungen des deutschen Südens.
Sie ist die einzige die bis jetzt zu einer Organisation in Vereinsform gelangt
ist. Der Verein, an dessen Spitze ein Landesausschuß steht, gliedert sich in
Kreisvereine die nach Parlaments- und Zollparlamentswahlbezirken abgegrenzt
sind und nimmt allenthalben einen lebhaften Fortgang.
Das Bild, welches vorstehend von dem augenblicklichen öffentlichen Zu¬
stand in Hessen gegeben wurde, wäre unvollständig, wenn nicht noch mit
ein paar Worten die kirchlichen Zustände des Landes berührt würden. Daß
^Herr v. Dalwigk, sich über das bisherige Landesrecht kurzer Hand hinweg¬
setzend, mit dem Mainzer Bischof einen Vertrag über die Rechtsverhältnisse
der katholischen Kirche abschloß, ist bekannt und in ganz Deutschland hin¬
länglich gewürdigt. Die ultramontane Partei, die anfangs nur einen Theil
der Bureaukratie zum Gegner gehabt hatte, während die Bevölkerung im
Ganzen gleichgültig war, eroberte allmälig in den Ministerien die einflu߬
reichsten Stellen für ihre Parteigenossen und hatte darum bis zum Jahre
1839 die beinahe unbestrittene Herrschaft im Lande. Mit dem Erwachen
des nationalen Lebens in jenem Jahre organisirte sich die liberale Partei,
um den Kampf mit den Mtramontanen aufzunehmen. Die protestantische
Geistlichkeit hielt sich in beinah vollständiger Passivität. So ging es bis in
das Jahr 1866. Damals, als der politische Kampf sich nach einer ganz an¬
deren Seite hingezogen hatte, traten nun die drei protestantischen Superin-
deutenden gegen den Bischof von Mainz mit einer förmlichen Anklageschrift
vor das Publicum. worin sie dem Bischof systematische Angriffe gegen die
Protestantische Kirche Schuld gaben. Unter anderen Umständen hätte dieses
Auftreten der Superintendenten einen wirklichen Erfolg haben können. Jetzt
aber verpuffte der Angriff wirkungslos; nicht blos der Zeitpunkt, sondern
auch das Terrain waren schlecht gewählt, denn Herr von Ketteler ist viel
zu weltklug um den Protestantismus öffentlich zu schmähen, seine Sünden
liegen auf einem ganz anderen Felde. Die Sache endete mit einer literari¬
schen Niederlage der von der Bevölkerung im Stiche gelassenen Würden¬
träger. Hierzu kam noch, daß einer der Superintendenten, Prälat Zimmer¬
mann, in früheren Jahren — namentlich zur Zeit der Entstehung des Deutsch¬
katholicismus — in Streitschriften gegen den Katholicismus des Guten etwas
viel gethan hatte, ein Umstand der dem Bischof von Mainz entschieden zu
Gute kam und von den gouvernementalen Freunden desselben nach Kräften
ausgebeutet wurde. Während der Herrschaft des Ultramontanismus hatte sich
die Kampffähigkeit unserer Prälaten gegen den Katholicismus hauptsächlich
im Schmollwinkel des Gustavadolssvereins concentrirt; dabei waren die in¬
neren Zustände der protestantischen Kirche wenig beachtet worden. Das
Consistorium (Oberconsistorium genannt), das unter Aufsicht des Ministeriums
des Innern und unter Beihilfe der KreisräWe die protestantische Kirche in
Hessen verwaltet, hatte sich zwischen den kirchlichen Parteien gehalten, zumal die
kirchlichen Parteien fast ausschließlich durch Geistliche gebildet wurden. Die
Protestantische Bevölkerung, welche ganz außerhalb der Kirchenverfassung steht
und die durchweg rationalistisch gesinnt ist, hatte schon lange angefangen sich
aus dem kirchlichen Leben zurückzuziehen, namentlich seit der Orthodoxismus
unter den Geistlichen die Oberhand gewann. Das Lutherfest, das mit so
großem äußeren Prunk in Worms gefeiert wurde, konnte diese schweren inne¬
ren Schäden, an denen die hessische protestantische Kirche laborirt, kaum ver¬
decken. Gerade dieses Fest sollte Veranlassung werden, die ganze Zerfahren¬
heit kirchlicher Zustände in Hessen ans Tageslicht zu bringen. Ein darm-
städter Mitprediger ließ als Festschrift eine Broschüre ausgehen, die nach
Form und Inhalt unbedeutend, und nicht einmal auf der Höhe der
zum Gemeingute gewordenen wissenschaftlichen Resultate stehend, doch in
den Augen der Bevölkerung das große Verdienst hatte, die große Kluft, die
Wischer der religiösen Ueberzeugung der Gemeindemitglieder und dem
Standpunkt des größeren Theiles der Geistlichkeit liegt, in drastischer Weise
darzulegen. Das Consistorium war dem kühnen Unternehmen gegenüber
zuerst rathlos; die orthodoxe Partei aber fand sich zu tief verwundet, als
daß sie nicht in einer sehr entrüsteten Adresse die exemplarische Bestrafung
des Angreifers gefordert hätte. Das rief denn auf der anderen Seite eine
durch die Massenhaftigkeit der Unterschriften imposante Gegenadresse der
darmstädter Bürgerschaft hervor. Das Consistorium. zu seinem großen
Schrecken zwischen zwei Feuer gebracht und in die Nothwendigkeit versetzt
einen Entschluß zu fassen, sprach die Amtsentsetzung des Angeklagten aus,
die jedoch noch der landesherrlichen Bestätigung bedarf. Man hat nun ver¬
sucht, durch das ganze Land eine Bewegung für Einführung einer Synodal-
Und Presbyterialverfassung zu organisiren und dem mitgetheilten Einzelfalle
dadurch eine weitere Bedeutung zu geben. Ob aber die rationalistische Par¬
tei, die ihrer Natur nach kirchliche Einrichtungen mit einer gewissen Gleich-
giltigkeit betrachtet, gegen die kleine aber außerordentlich rührige orthodoxe
Schaar den Sieg davon tragen wird, bleibt noch vorerst zweifelhaft, zumal
die hessische Verwaltung sich Reformen, welche einen demokratischen Bei¬
geschmack haben, grundsätzlich verschließt.
Herr v. Dalwigk hatte vorgezogen, während des Lutherfestes abwesend
zu sein. Vermuthlich fühlte er die schiefe Stellung in die er zur protestanti¬
schen Bevölkerung gerathen ist, auch mochte ihm mit einem Zusammentreffen
mit dem König von Preußen und den Großherzogen von Baden und Wei¬
mar wenig gedient sein. Genug, er reiste nach Livland, um seine dortigen
Verwandten zu besuchen. Was er in jenem Lande außerdem getrieben, ist
neuerdings Gegenstand einer Zeitungsdebatte geworden, welche in Hessen mit
wahrhaft leidenschaftlichem Eifer verfolgt wird.
Von der bei Theodor Kap in Kassel erscheinenden Rafael-Galerie in
Photographien nach Kreide-Zeichnungen Georg Koch's liegt ein neues Heft vor,
welches allen Freunden und Kennern des großen Urbinaten ciufs Wärmste empfohlen
werden darf. Wiederholt haben diese Blätter eine Pflicht darin gesehen, auf jenes
schöne, ganz auf der Höhe des heutigen Geschmackes und aller sonstigen ästhetischen
Anforderungen stehende Unternehmen aufmerksam zu machen; mit Genugthuung con-
statiren sie, daß diese PflichGmit den weiteren Fortschritten desselben nur gewachsen
ist Das Bestreben des Herrn G. Koch, die beliebtesten Gemälde Rafael's zu repro-
duciren, hat mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Publieum ist
gewöhnt, die Bilder nach den populären Kupferstichen zu beurtheilen; in dieser Ge¬
stalt find sie ihm ans Herz gewachsen, obgleich sie sich doch fast alle wie Ueber-
Seezungen zum Original verhalten. Kenner dagegen wollen heute nur die directen
Photographischen Kopien as,! vero gelten lassen, die dem auf allen Gebieten überHand
nehmenden Verlangen unsrer scharfsichtigen Zeit nach Urkunden in so unersetzlicher
Weise entsprechen, die aber bei der Natur mechanischer Reproduction in vielen Punk¬
ten Abweichungen zeigen, welche nur ein sehr geübtes Auge corrigiren kann; den
Laien muß die falsche Wirkung mancher Farbentöne in der Photographie geradezu
verwirren. Zwischen den UnVollkommenheiten der Maschine und der Willkür oder
dem mangelhaften Vermögen des Kupferstiches zu vermitteln, ist die künstlerische
Aufgabe, welche sich Herr G. Koch gestellt hat. Ausgerüstet mit unermüdlicher Hin¬
gabe und eindringendem Verständniß und im Besitze einer vollendeten Technik zeichnet
er mit frischem Auge unmittelbar nach den Originalen und seine Absicht ist darauf
gerichtet, die Ungleichheiten der directen Photographie zu berichtigen und die Sprache
des Grabstichels einerseits zu ergänzen, andrerseits durch Ausdruck des Colorits
klangvoller zu machen. Die Veränderungen, welche die Zeit an den Bildern hervor¬
gebracht hat und oft auch der geheimnißvolle Zauber der Behandlung lassen hierbei
nicht immer gleichen Erfolg gelingen, aber wie die Mehrzahl der bisher erschienenen,
so sind auch die jetzt vorgelegten Blätter Meisterarbeiten. Und das Talent des
Künstlers nöthigt uns um so größere Achtung ab, da es galt, zwei in ihrem Cha¬
rakter und in der Gattung so sehr verschiedene Gemälde vorzuführen wie das „Gesicht
des Ezechiel" und die „Naäonna act Krancluoa", — und wir wissen in der That
nicht, ob Wir mehr die vollkommen zur Geltung gebrachte Großartigkeit der auch in
der Lichtführung so merkwürdigen Darstellung Gottpaters oder mehr die warme
Innigkeit rühmen sollen, mit welcher das andere Bild, diese schlichteste Madonna
Rafael's, wiedergegeben ist. Jedenfalls haben wir aber allen Grund zu dem Wunsche,
daß Künstler und Verleger in ihrem trefflichen Unternehmen unbeirrt fortfahren und
verdienten Dank finden mögen.
Ein Buch aä Iioe, d. h. zu dem bestimmt ausgesprochenen Zweck, die Fran¬
zosen mit der Bismarck'schen Politik zu versöhnen, ihnen die Nothwendigkeit einer
allendlichen preußischen Abrechnung mit dem Hause Habsburg nachzuweisen und etwaige
Befürchtungen vor einem Angriff auf Frankreich niederzuschlagen. Dieser Zweck
mag mit der vorliegenden Schrift ziemlich vollständig erreicht worden sein; Herr
Bamberger kennt die Franzosen, weiß sie an ihren schwachen Seiten zu fassen und
mit den Factoren zu rechnen, welche westlich vom Rhein den Ausschlag in der
öffentlichen Meinung geben. Des preußischen Premier Verhalten in der Conflictszeit
wird (offenbar mit Rücksicht auf den constitutionellen Eiser der pariser Opposition)
in lebhafter, colorirter Sprache verurtheilt und feierlich erklärt, der Mann, der den
östreichischen Bundestag begrub, Preußen um fünf schöne Provinzen bereicherte, der
kleinstaatlichen Misere die Axt an die Wurzel legte werde von der Geschichte
die Jndemnisation, welche er von der preußischen Volksvertretung erlangt hat, nie¬
mals erhalten. Nach diesem etwas pathetischen „Sinais" wird in eine scharf¬
sinnige Apologie der deutschen Politik des Grafen Bismarck eingetreten, mit aller
Schärfe die Absichtlichkeit betont, mit welcher B. den Krieg provocirte, den Resul-
taten desselben die gebührende Anerkennung gezollt und mit der Versicherung geschlossen,
Herr v. Bismarck werde trotz der Elasticität seines Geistes stets die Quelle der Ver¬
legenheiten Derer sein, welche in ihm etwas Anderes sehen, als den Aristokraten,
der sich des Fortschritts nicht aus Liebe zur Freiheit, sondern aus politischem Jn-
stinct bedient. Auf diese Weise hat der Verfasser die Sache der nationalen Politik
in das für die Franzosen richtige Licht gestellt und doch zugleich die orthodoxe Rein¬
heit seines demokratischen Katechismus gewahrt.
Wir werden uns hüten, mit dem Verfasser über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit
eines Urtheils zu streiten, welches in letzter Instanz nur von der Nachwelt, nicht von
der Mitwelt gesprochen werden kann. Gerade darum müssen wir gestehen, trotz aller
Anerkennung des patriotischen Eifers, mit dem der Verfasser darauf ausgegangen
ist, die französischen Vorurtheile zu beseitigen — nicht verstehen zu können, warum
er in eine deutsche Uebersetzung seiner Schrift gewilligt hat. Bücher dieser Art haben
in Deutschland keine rechte Statt und stehen der deutschen Art und Weise um so
ferner, je glücklicher sie für die Franzosen den richtigen Ton treffen. Anhänger der
nationalen Sache und näher stehende Zeugen des preußischen Verfassungsconflictes
werden mit den Anschauungen und den etwas absolut gehaltenen Urtheilen des Ver¬
fassers schwerlich übereinstimmen, unsere Gegner diese Art der Apologie nicht gelten
lassen, aus ihr am Ende gar Capital schlagen. Wir sind gespannt, die bezüglichen
Urtheile der östreichischen und kleinstaatlichen Presse zu hören und werden uns freuen,
wenn wir die Wirkungen, welche die vorliegende Schrift auf diese üben wird, falsch
angeschlagen haben.
Wir haben beim Erscheinen der beiden ersten Bände dieser historisch-kritischen
Schiller-Ausgabe Gelegenheit gehabt, unsere Stellung zu der philologischen Manier
dieser Herausgabe ebenso zu bezeichnen, wie unsere Meinung über die Veröffentlichung
sämmtlicher, auch der von dem Dichter selbst verurtheilten Jugendarbeiten zu sagen.
Was die Art und Weise der Textherstellung und der Registrirung sämmtlicher ver¬
schiedener Lesarten anlangt, haben wir über die beiden neu erschienenen Bände Nichts
nachzutragen. Anders steht es mit den neuen Publicationen, welche aus der Zeit
der Mannheimer und der Dresden-Leipziger Periode Schillers herrühren und
deren Herausgabe schon darum unter einen andern Gesichtspunkt fällt, als das
Hervorsuchen von Jugendverirrungen, welche unserer Meinung nach besser der Ver¬
gessenheit verfallen wären. Als solche Herausgaben von wirklichem Interesse sind
„Das Lied". „Die Gedichte an Körner", die Aufsätze über Philipp II. (nach
Mercier) und die „Verschwörung des Marquis Bodemar gegen die venetianische Re¬
publik" besonders zu nennen.
„Das Princip der Ministerverantwortlichkeit in der constitutionellen Monarchie."
Eine staatsrechtliche Abhandlung von Dr. Adolf Samuely. Berlin 1869.
Die Zeiten der politischen Scholastik sind für uns Deutsche noch lange
nicht vorüber. Einige von uns hat zwar das Stück Geschichte seit dem
Frühjahr 1866 heraus- und fortgerissen aus den politischen Formeln und
Antithesen zur Werktagsarbeit praktischer Staatsmänner. Andere sind rück-
haltslos in den Dienst der wirthschaftlichen Interessen hinübergetreten, und
Andere sind durch den realistischen Zug ihres Naturells der Doctrin ent¬
fremdet. Aber die Mehrzahl unserer Gebildeten unter den Auspicien der
Juristen ist doch mit ihren Neigungen des Kopfs wie des Herzens, sei es
dem Dogma, sei es doch der Methode jener politischen Wissenschaft treu ge¬
blieben, deren Gebäude in den öden Jahrzehnten zwischen den Freiheits¬
kriegen und der deutschen Revolution von einer Reihe unserer besten Männer
und tüchtigsten Gelehrten zum Trost und Nutzen der Zeitgenossen aufgeführt
wurde. Der deutsche Liberalismus kann die klangvollen Namen eines Dahl-
mann, Mohl, Rotteck, Zachariae u. A. nicht leicht vergessen, die ernste Gra¬
vität ihrer Gedanken, die keusche Reinheit ihrer idealen Anschauungen auch
nicht leicht entbehren. Und noch mehr hängen unsere Gewohnheiten in
Sprache, Ausdrucksweise, Gedankenrichtung an jener Schule strenger Syste¬
matiker, denen das formale Staatsrecht, die sogenannte constitutive Politik
als das Fundament alles politischen Wissens galt. Von ihnen her haftet
an den Worten „Verfassung", „Volksvertretung", „constitutionelle Mon¬
archie", „Ministerverantwortlichkeit" noch immer der Zauber, als seien sie
nicht, was sie doch in der That nur sind, willkürliche Bezeichnungen rein
formellen Charakters für irgend welche höchst unbestimmte Postulate, sondern
Axiome von absolutesten Werth, lebendigstem Inhalt, untrüglichsten Heil,
auf deren richtige Durchführung Alles ankommt. Die zünftige Gelehrsamkeit
der deutschen Universitäten und ihrer Docenten des Staatsrechts thut dann
das Uebrige, um immer neuen Wein in die Mer Schläuche zu gießen und
jenen vordem in den stillen Werkstätten tüchtiger Meister sorgsam ausge¬
münzten Schulbegriffen den gangbaren Cours auf dem Markte des politischen
Tageslebens zu erhalten.
Die constitutionelle Monarchie war, wie männiglich bekannt, das Lieb¬
lingskind dieser Doctrinen. Ja vielleicht ließe sich durch Zurückgehen aus
Montesquieu, Necker und die französische Constitution vom Jahre 1791 er¬
weisen, daß sie das Geschöpf der Doctrin ist. Und obwohl der historische
Ausgangspunkt der constitutionellen Ideen, die Gewaltentheilung und das
Balancement der Kräfte, heute als abgethan und überwunden gilt, so reizt
dennoch das gedanklich und thatsächlich in dieser Staatsform verkleidete
Compromiß zwischen Fürstengewalt und Volksgewalt, Monarchie und Demo¬
kratie fortgesetzt alle speculirenden Köpfe, alle scholastischen Geister zu
immer neuen Betrachtungen, Prüfungen, Berichtigungen des Ausgleichs.
Mit unendlicher Umsicht, Vorsicht, Genauigkeit werden immer und immer
wieder beide Seiten gegen einander erwogen und abgeschätzt, hier oder dort
zu viel Belastung, zu viel Uebergewicht entdeckt und theoretisch corrigirt, die
principielle Richtigkeit der Wagschale revidirt — das Zünglein schwankt so
ununterbrochen hin und her, daß der Fehler schlechterdings gefunden wer¬
den muß. Es wäre ja schier zum Verzweifeln an deutscher Gelehrsam¬
keit, wenn der Radikalismus derer Recht behielte, die in dem ruhelosen
Pendelschlag dieser Staatsform überhaupt nur ein Moment geschichtlichen
Uebergangs von der Monarchie zur demokratischen Volkssouveränetät sehen
wollen.
Musterhaft für diese Gattung ist die staatsrechtliche Abhandlung, deren
Titel und Verfasser oben genannt sind. Wäre die Annahme erlaubt, der Ver¬
fasser bewerbe sich um einen Lehrstuhl für öffentliches Recht an einer unserer
Universitäten, es handele sich um eine Habilitationsschrift und es wäre mir
auferlegt, einer hochgelahrten Facultät oder auch nur einem Professor Mdli-
ous in-äiMrms über die Dissertation zu referiren, es sollte mir nicht schwer
werden, dem Verfasser ein vorzügliches Prädicat zu erwirken. Ich würde
zunächst im Allgemeinen Folgendes rühmend hervorheben. Der Verfasser hat
mit bemerkenswerthen wissenschaftlichen Muth einen Stoff für seine publi-
cistische Abhandlung erwählt, der zu den dunkelsten, schwierigsten und be-
strittensten Gebieten des constitutionellen Staatsrechts gehört. Er hat mit
nicht hoch genug anzuerkennenden Fleiße Alles gelesen und gesammelt, was
über diese wichtige Materie in der Literatur und Gesetzgebung der civili-
sirten Staaten, insbesondere Deutschlands, Frankreichs, Englands. Amerikas,
Skandinaviens zu Tage gefördert worden ist. In klarer Anordnung, metho¬
discher Sichtung, musterhafter Uebersichtlichkeit zerfällt die Schrift in einen
kritischen und einen dogmatischen Theil, jeder Theil in drei mit einander eorre-
spondirende Abschnitte, in denen das Verhältniß der Minister zur Krone
zur Volksvertretung und die juristische Natur der Ministerverantwortlichkeit,
die eigentliche Substanz des Begriffs, beleuchtet und begründet werden. Ein
letzter Abschnitt enthält die Ausführung der gewonnenen Resultate bezüglich
des Gerichtshofs, des Verfahrens, des Urtheils, der Begnadigung. Die
Kritik ist zwar in den sehr kategorischen Abstufungen des Lobs und Tadels,
die sehr ehwürdigen Meistern der Wissenschaft und Gesetzgebung zu Theil
werden, nicht immer von dem Respect getragen, den auch der begabteste
junge Gelehrte unter allen Umständen solchen Männern und solchen Insti¬
tutionen schuldig ist; doch zeigt sie durchgehends gründliche und eindringende
Forschung. Die dogmatischen Erörterungen enthalten ohne Zweifel eine
Bereicherung der Wissenschaft um neue und wichtige Gesichtspunkte, einige
meist verkannte Wahrheiten. Die politische Gesinnung des Verfassers ist
freisinnig und doch auch conservativ, der historischen Monarchie ebenso zu¬
gethan, wie den Rechten des Volks, fürstlicher Willkür ebenso abgeneigt, wie
Parlamentarischer Souveränetät. Die Schreibweise endlich ist schmucklos,
einfach, durchsichtig, von ernster Solidität, wie sie dem Stoff entspricht.
Zu einer kurzen Analyse des Inhalts selbst übergehend, würde ich das
Wesentliche der Erörterungen dahin Präcisiren. Der Verfasser erklärt sich
mit Lebhaftigkeit gegen die Tendenz einiger französischer Publicisten (B.
Constant's), ein selbständiges pouvoir iniinstüriel, als eigentlichen verantwort¬
lichen Träger der Regierungsgewalt, zu statuiren, die königliche Gewalt aber als
pouvoir ueutrs et abstrait jeder möglichen Action entkleidet zu einem aller¬
dings unschädlichen, aber auch ohnmächtigen Scheindasein hinabzudrücken. Er
verwirft ebenso entschieden als der constitutionellen Idee widersprechend
die Auffassung L. Stein's, welcher in den Ministern nur „befehlende und ver¬
ordnende" Behörden sieht, wie die abweichende von Buddeus und Bischof,
denen die Idee der Ministerverantwortlichkeit mit der Fiction eines noth¬
wendig vorhandenen Sündenbocks für das vom Fürsten begangene Unrecht
zusammenschmilzt. Der kritische Abschnitt wendet sich sodann von dem Rechts¬
grunde, der Verantwortlichkeitspflicht, zu dem Titel des parlamentarischen
Verantwortungsrechts. Dem Montesquieu'schen Princip, daß die gesetzgebende
Gewalt die Art, wie die Gesetze durch die königliche Executive ausgeführt
würden, überwachen müsse, wird die zu enge Begrenzung des Ministeramts
durch den Begriff der Gesetzesausführung entgegengehalten. Derselbe Vor¬
wurf trifft den Grundgedanken Mohl's und seiner Nachfolger, die Verant¬
wortlichkeit der Minister lediglich auf die Garantie des Verfassungs-Grundge-
setzes zurückzuführen, zu beschränken und nur für Verfassungsverletzungen le¬
bendig zu machen. Zutreffend wird darauf hingewiesen, wie unendlich wei¬
ter die Befugnisse, Gerechtsame, Obliegenheiten der Minister, die positiv
schaffenden Aufgaben der Regierungsgewalt gehen, als die bestehenden Ge¬
setze auszuführen und die Verfassung aufrecht zu erhalten. Daran knüpfen
sich ungezwungen die ebenso scharfsinnigen wie überzeugenden Ausführungen
des Verfassers, daß der Thatbestand der „Verfassurigsverletzung " als das eigent¬
lich von den Ministern zu vertretende Delict vom strafrechtlichen Standpunkte
nach jeder Richtung hin zu verwerfen sei, daß hierfür jede begriffliche Bestimmt¬
heit der strafbaren Handlung unfindbar, jeder Maßstab der Schuld und Strafe
undenkbar sei, die ganze Vorstellung sich in die vagen, vollkommen ebenso
greifbaren Begriffe von „Gesetzesverletzung" oder schlechthin „Unrecht" verliere.
Eine Vermischung schiedsrichterlicher und strafrechtlicher Gesichtspunkte befrie¬
digt offenbar ebensowenig. Auf diesem kritischen Unterbau gelangt der Ver¬
fasser folgerichtig zu drei fundamentalen Principien. 1) „Das nothwendige
Correctiv der UnVerantwortlichkeit des Staatsoberhaupts gegenüber dem con-
stitutionellen Grundsatz der allgemeinen staatsrechtlichen Verantwortlichkeit ist
darin gefunden, daß demselben die Spitzen der Centralverwaltung als Organe
zur Seite gestellt werden, an deren Zustimmung und Mitwirkung er bei allen
seinen Regierungshandlungen gebunden ist, und welche die Verantwortlich¬
keit für ihre Mitwirkung tragen." Daher die vorgeschriebene Contrasignatur
der Minister für alle rechtsgiltigen Regierungsacte des Souveräns, um das
Vorhandensein und den Beweis mitwirkender Verantwortlichkeit zu sichern.
2) Die Volksvertretung hat naturgemäß ein allgemeines Controlrecht, „den
Gebrauch der den Regierungsorganen zur Erfüllung ihrer staatlichen Auf¬
gaben überlassenen Mittel zu überwachen, eine umfassende und wirksame Auf¬
sicht über die Erfüllung der denselben auferlegten Pflichten zu üben." Daher
das Recht des Parlaments und jeder Kammer, auf das Urtheil eines Ge¬
richtshofes über die Minister überall zu provociren, wo sei es ein gemeines
Vergehen, sei es irgend ein Pflichtverletzung im amtlichen oder außeramtlichen
Verhalten vorzuliegen scheint. 3) „Die Verantwortlichkeit der Minister,
deren Realisirung der Volksvertretung zusteht, ist ihrem Rechtsgrunde, ihrem
Inhalt und ihrer Natur nach ein Ausfluß der disciplinären Ver¬
antwortlichkeit aller Staatsdiener." Sie wurzelt in der Amtshoheit
des Staats über seine zur Besorgung staatlicher Geschäfte angestellten Die¬
ner; diese Disciplinargewalt ist verschieden von der Strafgewalt wesentlich
discretionärer Art; Disciplinarankläger ist die Volksvertretung mit der
Wirkung, daß schon mit Einleitung der Anklage sofortige Suspension vom
Amte eintreten muß, und das Urtheil, welches mit Ausschluß jeder Begna¬
digungsinstanz immer nur Amtsentsetzung mit oder ohne Unfähigkeit zu allen
öffentlichen Aemtern als Strafe verhängen kann, wird von einem von Re¬
gierung und Volksvertretung unabhängigen Disciplinargerichtshofe g,ä bon
gefällt. —
Um'endlich meine Unparteilichkeit und zugleich mein Interesse für den
Habilitandus darzuthun, würde ich mir, im geschlossenen Kreise der constitu-
tionellen Doctrin verbleibend, etwa folgende ratiouss äuditaväi gegen vor¬
besagte Thesen auszusprechen erlauben. Es ist gewiß ein sehr beachtens-
Werthes Streben des Verfassers, die Stellung der Minister so zu determiniren,
daß sie sich weder zu Curatoren der Monarchie erheben, ohne deren Consens
kein rechtlicher Act möglich ist, noch zu Prügelknaben herabwürdigen, und daß
die Bedeutung der Contrasignatur in ihr richtiges Licht gestellt wird. Aber
ist es nicht eine Vermischung sehr disparater Elemente, die leicht wieder zu
den alten Irrthümern zurückführt, wenn die Verantwortlichkeit der Minister
einmal auf ihre freie Mitwirkung bei der fürstlichen Regierungsgewalt und
dann wieder auf ihre Staatsdienerqualität reducirt wird? Dürfte ein
schärferes Auseinanderhalten der ersteren überwiegend staatsmännischen, durch
Grenzen und Pflichten des Amts schwerlich zu definirenden Dignität als freie
Berather des Monarchen von der letzteren allerdings dienstlichen Qualität
als Chefs gewisser Centralbehörden nicht zu empfehlen sein? Sollten viele
abweichende Anschauungen nicht eben darin ihren Grund haben, daß z. B.
Gelehrte wie Mohl nur jene Dignität als wesentlich, die andere als für das
System indifferent ansahen, deshalb überwiegend nur die durch fürstliche
Regierungsacte verübten Verfassungsverletzungen im Auge behielten, während
die Franzosen, wie Constant. durch den Anblick der französischen Centralisation
verleitet, in den Ministern eben nur die allmächtigen Chefs ihrer bewunderungs¬
würdigen Administration, in der Contrasignatur lediglich eine durch Heran¬
ziehung des fürstlichen Namenszuges etwas veränderte Form dieser Admini¬
stration zu erblicken gewohnt waren und deßhalb nach der Verantwortlich¬
keit des xvuvoir wimstörlöl suchten? Es dürfte serner nicht ohne Bedenken
sein, ein allgemeines Controlrecht der Volksvertretung ohne Weiteres als
selbstverständlich vorauszusetzen und darauf ein Anklagemonopol zu gründen.
Dieses Controlrecht, das doch verschieden sein soll von der jedem Bürger
zustehenden Befugniß, sich über ungetreue und pflichtwidrige Beamte zu be¬
schweren, und das doch mehr bedeuten soll, als durch die Prüfung von
Petitionen und Staatshaushaltsrechnungen gewährleistet ist, wird nicht
leicht aus dem geschriebenen Verfassungsrecht herzuleiten sein. Es wider¬
spricht zum Theil dem konstitutionellen System und kann in der Praxis zu
gefährlichen Ausschreitungen führen. Schon der Gedanke Montesquieu's
dieses Recht in beschränktem Umfange aus der legislativen Gewalt und ihrem
Verhältniß zur Executive herzuleiten, gibt in der Wissenschaft zu ernsthaften
Controversen Anlaß, ob er die fürstliche Souveränetät nicht in latenter Weise
verletzt. — Weiter ist es gewiß ein neuer, schöner und fruchtbarer Schulbegriff,
der der „Disciplin", um welchen der Verfasser unsere Lehre bereichert. Aber er ist
auch unendlich weich und dehnbar. Ja es ist wohl nicht ganz so zufällig, als der
Verfasser annimmt, daß „die Theorie diesen interessanten Gegenstand so ziemlich
vernachlässigt" hat. Man spricht sehr leichthin von Diseiplinarrech t und Discip-
linarverfahren, als handele es sich unbestrittenermaßen um ein Gebiet des
materiellen oder formellen Rechts. Und doch ist es mehr als zweifelhaft,
ob das was die Modernen Beamtendisciplin nennen und unsere classischen
Dogmatiker gar nicht kannten, überhaupt etwas mehr ist, als vollkommen
undefinirbare Sentiments über Standesehre und Corpsgeist, wie sie sich
willkürlich und conventionell in geschlossenen Berufsgenossenschaften zu ent¬
wickeln pflegen. Die Oberen und die Standesgenossen entscheiden in der
Regel ganz nach subjectiven Ermessen über die Grundsätze, welche für Auf¬
nahme und Ausschließung in der Körperschaft gelten. Objective, der Wissen¬
schaft zugängliche Normen sind hier überall kaum findbar, und es ist zu be¬
dauern, daß der Verfasser sich nicht eingehender über die problematischen
Grundprincipien des Disciplinarrechts verbreitet hat. Die Minister befinden
sich folgerecht unter der Disciplinargewalt des Fürsten, dessen Hofe und Um¬
gebung sie angehören und der sie nach anerkannten konstitutionellen Staats¬
recht jederzeit nach Belieben ihrer Aemter entheben kann.
Da die Minister solchergestalt verschieden von allen anderen Staatsdienern
sich schon in einer höchst prekären Charge befinden, erscheint es mißlich, sie
daneben auch noch einem selbständigen Disciplinargerichtshofe zu unterwerfen.
Als Räthe, Freunde, Gehilfen des Fürsten entzieht sich ihre Thätigkeit jeder
profanen Beurtheilung. Wer will darüber zu Gericht sitzen, ob ihr Rath
und Einfluß stets lauter, weise und heilsam gewesen, wenn nicht der Fürst
selbst, und wer sollte gegen sie Zeugniß abzulegen wagen, wenn es der Fürst
nicht thut! Als Chefs der Centralbehörden sind sie aber selbst bereits
die obersten Disciplinarrichter, und es ist damit unverträglich, noch eine
höhere Disciplinarinstcmz über sie zu gipfeln. Dann sind diese Disciplinar¬
richter fortan die Chefs der Verwaltung und man könnte ihnen besser gleich
auch den Namen von Ministern geben. Wer soll schließlich wieder die Disciplin
über diese Disciplinarrichter handhaben? Können sie nicht auch unfähig, un¬
getreu, gewissenlos, pflichtwidrig verfahren? Es ist ein circulus vitiosug, in
dem der Verfasser sich bewegt, und der alle Subordination und wohlgeglie¬
derte Amtshierarchie zu gefährden droht. Mit allen Cautelen, einer immer
über der anderen, gelangen wir doch endlich stets bei einer an, auf deren
Jnfallibilität wir uns verlassen müssen. Wollen wir dies Prädicat nach
konstitutionellem Dogma dem Fürsten verweigern, so lassen wir es wenig¬
stens im Disciplinarrecht den Ministern. — Die Bedenken, welche der Ver¬
fasser von seinem Standpunkte gegen die Verweisung der Ministeranklagen
an den höchsten Landesgerichtshof erhebt, verdienen alle Berücksichtigung.
Nur ist zu fürchten, daß ihnen auch der Disciplinar- oder Staatsgerichts¬
hof, wie ihn unsere Dissertation wünscht, sobald er etablirt ist. nicht ent-
gehen würde. Sehr wahr wird bemerkt, daß die Mitglieder dieses Ge¬
richtshofs juristisch gebildete Staatsmänner sein müssen, welche „durch Selb¬
ständigkeit. Unabhängigkeit. Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit ausgezeichnet
sind, welche außerhalb des Getriebes und der Leidenschaften der Parteien
mit dem Gefühl der Pflicht und Bedeutung ihrer Aufgabe einen tiefen Patrio¬
tismus und das Bewußtsein ihrer großen moralischen Verantwortlichkeit ver¬
binden", welche „zugleich einen richtigen politischen Blick, eine tiefe Erkennt¬
niß des Wesens, der Bedürfnisse und Geschäfte des Staats besitzen." Aber
der Verfasser läßt uns zu unserem Bedauern bei der nahe liegenden Frage
völlig im Stich, wie er sich ungefähr die Ermittelung dieser Besten des Volks,
die Art ihrer Berufung und Ernennung, insbesondere auch die formalen
Garantien ihrer vollen Unabhängigkeit von Regierung, wie Volksvertretung
denkt. Ist dies ins Klare gestellt, dann würde sich freilich der obige Zweifel
wiederholen, ob es nicht rathsamer wäre, diesen Männern sofort das Mi¬
nisteramt selbst anzuvertrauen und Garantien ausfindig zu machen, die nur
solchen Männern das verantwortliche Amt zugänglich machen. Hier ist noch
ein weiter Spielraum wissenschaftlichen Forschens, von dem wir nicht zweifeln,
daß der Verfasser in Fortsetzung seiner scharfsinnigen Studien ihn ausfüllen
wird. Vielleicht führen ihn diese noch zur Verwerthung eines weiteren
Gesichtspunktes, dessen Berücksichtigung wir ihm mit Vorsicht anheimgeben
möchten. Die Praxis des constitutionellen Staatsrechts hat bekanntlich
auf dem Gebiet der disciplinären Verantwortlichkeit der Staatsdiener zu
einer vorzüglichen Einrichtung geführt, die gerade bei den wichtigsten con¬
stitutionellen Amtsstellungen ein gutes Theil des Disciplinarrechts mit dessen
älteren schwerfälligen Formen obsolet gemacht hat. Wir meinen die Zur-
dispositionstellung im Interesse des Dienstes. Es ist dies offenbar eine
schöne Fortentwickelung der constitutionellen Disciplin über die Beamten,
und es erscheint um so auffälliger, daß dieser interessante Gesichtspunkt von
der constitutionellen Theorie bei der Lehre von der Ministerverantwortlich¬
keit nicht fruchtbringender ausgebeutet worden ist, als die Minister doch be¬
reits von Seiten des Fürsten dieser Zurdispositionstellung unterliegen. Wäre
zur Herstellung constitutionellen Gleichgewichts und vollster Realisirung con-
stitutioneller Verantwortlichkeit für die Volksvertretung nicht ein gleiches
Recht zu erstreben und der Anspruch darauf dogmatisch zu begründen?
Mit den letzten Bemerkungen bin ich eigentlich schon aus meiner Rolle
des Referenten herausgefallen und es wird mir in der That schwer, den
trockenen Ton dieser Dogmatik länger festzuhalten. Für meinen ketzerischen
Laienstandpunkt ist all' das mit all' seinem respectablen Aufwand von Ge-
lehrsamkeit und Scharfsinn eitel Scholastik, unfruchtbare Speculation, wissen¬
schaftliche Schultheorie. Es sei mir vergönnt, soweit das an dieser Stelle
möglich, die Häresie kurz zu rechtfertigen.
Die ganze Lehre von der constitutionellen Ministerverantwortlichkeit ist
schon in der Fragstellung so unglücklich formulirt, daß alle Lösungen der
Frage mißgebildet und ohne Lebensfähigkeit bleiben müssen. Wie in aller
Welt kommt man dazu, die Minister so ohne Weiteres als einen organischen
Bestandtheil des constitutionellen Staats zu behandeln, Begriff, Bedeutung,
rechtliche Natur, geschichtliches und herkömmliches Wesen dieser Personen als
feststehend und selbstverständlich vorauszusetzen? Hält man es denn gar nicht
der Mühe werth, etwas in die Vergangenheit des absoluten Staats zurück¬
zublicken und zu untersuchen, wie höchst sonderbar, verworren und willkür¬
lich die constitutionelle Doctrin aus dem verbrauchten Inventar des fürst¬
lichen Absolutismus, aus einer höchst zweideutigen Classe halb aus Höflingen,
halb aus Beamten zusammengesetzter Leute sich den sogenannten Schlußstein
des Systems zusammengeschnitzelt hat? Aus der grauen Vorzeit des deutsch¬
romanischen Staates im Frankenreiche, wo wir in den „eg-Manet ministe-
riales", dem Kämmerer, Seneschall, Truchseß, Marschall. wohl zuerst dem
Namen und Wesen der Minister begegnen, ist ihnen etwas haften geblieben
von dem Stande der Ministerialen, der Dienstleute, dem sie angehörten, von
der grundsätzlichen Nicht-Theilhaftigkeit an der Gen ossenschast des
Landrechts, von ihrem Beruf, als höchste Hof- und Staatsbeamte, wie
ein deutscher Rechtshistoriker sich ausdrückt, „für die Umgebung und Be¬
rathung des Königs, für den Glanz des Hofes, den Empfang der Frem¬
den, den Zutritt zum König und eine freigebige Gastlichkeit zu sorgen."
Als dann nach der Auflösung des Lehnsstaats zuerst wieder in Frankreich
an die Traditionen der fränkischen Monarchie und des karolingischen Be¬
amtenstaats angeknüpft wurde, treibt der Ministerialismus, freilich jetzt unter
sehr veränderten Formen, neue Keime. Der Hof der Valois und Bourbons
liegt weit ab von dem Reichshofe Kaiser Karl's, dem veredelten Abbilde
des gemeinen deutschen Hofwesens. Aus Tocqueville's so unendlich lehr¬
reichen Buche über die alte Regierung und die Revolution Frankreichs
wissen wir, wie die administrative Centralisation „cette dslle con<MtL guf.
nous suvie" mit dem „Conseil an roi" anhebt, bestehend aus
„simxlss äormeurs Ä'avis" von allmächtigen Einfluß auf alle Staatsge¬
schäfte. „Dieses Conseil" sagt Tocqueville, „ist durchaus nicht zusammen¬
gesetzt aus hohen Adligen, sondern aus Persönlichkeiten mittlerer oder nie¬
derer Geburt, alten Intendanten und anderen geschäftlich routinirten Leuten,
mit stets widerruflicher Stellung. Es handelt in der Regel discret und ge¬
räuschlos, zeigt stets weniger Ansprüche als Gewalt. Auch ist es an und
für sich ohne jeden äußeren Glanz, verliert sich vielmehr in dem Glanz und
der Nähe des Thrones, zu gleicher Zeit so mächtig, daß es Alles ergreift,
und so im Dunkeln, daß die Geschichte ihn nur mit Mühe wahrnimmt."
Man möge dann weiter nachlesen, wie aus diesem Conseil der „General-
eontroleur" und als seine Agenten in der Provincialverwaltung „Inten¬
danten" hervorgehen, wie diese die bis dahin noch üblichen ..Provincial-
minister" und „Provincialgouverneurs" zu blos repräsentativen Stellungen
Herabdrücken, und der Generaleontroleur nach und nach sich polypenartig als
Centralminister der Finanzen, des Innern, der öffentlichen Arbeiten, des
Handels zergliedert. Im Grunde und Kerne des Verfassungsrechts blieb es
bei dem Conseil des Königs, das nur als Ministerium die officiellen Allüren
einer Behörde mit geordneter Arbeitstheilung angenommen hatte. Den
Franzosen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts war denn freilich
le xouvoir mmistöriel ein so absolut nothwendiges Instrument der centra-
lisirten Administration geworden, daß es ihnen die Regierung selbst war
und sie sich den Staat so wenig ohne diese Centralgewalt denken konnten,
wie ihr Land ohne Paris. Für den consequenten französischen Constitutio-
nalismus konnte die Ministerverantwortlichkeit nie eine andere Bedeutung
haben, als die Unterordnung der Executive, der administrativen Centrali¬
sationsmaschinen unter den legislativen Volkswillen. Sobald in diesem ein¬
heitlich-demokratischen Staatswesen die Volkssouveränetät ihren cäsarischen
Repräsentanten gefunden hatte, wurden die Minister auch wieder „simples
üoimeurs ä'api-z" und ihre Verantwortlichkeit durch den Imperialismus der
Bonapartes confiscire.
Die Ahnen der deutschen Minister sind nicht ganz so dunkele Ehren¬
männer, wie die der französischen. Der fürstliche Absolutismus in Deutsch¬
land war im Ganzen maßvoller in seiner Centralisation und hatte insbe¬
sondere stets Sinn sür den germanischen Zug corporativer Bildungen, der
die Organisation der fürstlichen Beamtencollegien bestimmte. Der Geheime¬
rath des großen Kurfürsten bestand zwar auch aus mancherlei Fremdländern
und Persönlichkeiten unbestimmter officieller Stellung; sein Wirken war aber
von vorn herein im Licht des Tages, durch eine legale Geheimrathsordnung
geregelt und begrenzt. Das landesväterliche Regiment der späteren Hohenzollern
sorgte dafür, daß aus diesem Geheimerath sich keine Ministerialgewalt ent¬
wickelte. Je selbstthätiger die königlichen Herren waren, desto einflußloser
Wurde der Geheimerath, und die Centralbehörden, die daneben organisirt
wurden, das Generalkriegscommissariat, das Generaldomänen-, bez. Finanz-
directoriüm, Oberforstmeisteramt, Erbpostmeisteramt, LoUeZium meäieum
u. s. f. mit den ihnen vorgesetzten Chefs hatten ihren selbständigen Wirkungs¬
kreis, ohne daß die letzteren Titel. Rang oder Bedeutung von Ministern be-
saßen. „Saget dem Fürsten von Anhalt" schreibt Friedrich Wilhelm I-
kurz nach seiner Thronbesteigung, „daß ich der Finanzminister und der Feld¬
marschall des Königs von Preußen bin; das wird den König von Preußen auf¬
rechterhalten". Daß auch diese Monarchen sich vorübergehend des Rathes und
der Mitwirkung ihrer höchsten Beamten bedienten, ist selbstverständlich. Im
Uebrigen kannten auch wir in der einen oder anderen Provinz Preußens,
wie in Frankreich, Provineialminister. Erst unter-der schwachen Regierung
Friedrich Wilhelm's II. und während der ersten Regierungsjahre Friedrich
Wilhelm's III. entwickeln sich in Preußen vom königlichen Cabinet aus
eigentliche Minister in unserem Sinne mit dem Titel „Cabinetsminister",
ursprünglich nur Gehilfen in den persönlichen Regierungsgeschäften des könig¬
lichen Arbeitszimmers, sehr-bald Persönlichkeiten von dem weitgehendsten,
unberechenbarsten Einfluß auf den Fürsten selbst, wie aus alle Staatsge¬
schäfte. Ist es nicht sonderbar, welch fremdartiger übler Klang an diesen
Leuten, den Lombard, Lucchesini, Haugwitz u. A. haftet? Als dann Stein
und die Ncgenerationsgesetzgebung den Staat und das ganze Staatsbeamten-
thum von Grund aus neu aufrichteten, glaubten sie die Cabinetsregierung
durch Organisation des „Staatsministeriums" für alle Zeit unschädlich ge¬
macht zu haben. Dieses sollte als collegiale höchste Staatsbehörde einerseits
den Geheimerath ersetzen, welcher in gemeinsamer Berathung mit dem Könige
die wichtigsten Angelegenheiten des Staats und Regiments erledigte, ande¬
rerseits mit Decernaten der einzelnen Mitglieder nach unten hin die Staats¬
verwaltung leitete, grundsätzlich aber nicht selbst verwalten sollte. So
weise diese Institution gedacht war, so wenig harte sie Bestand gegen eine
anders gewendete Strömung des Jahrhunderts. Mit dem Tode des Fürsten
v. Hardenberg zerfiel die Schöpfung, das „Staatsministerium" als collegiale
Behörde verflüchtigte sich zu einer inhaltslosen Form, die Cabinetsregierung
unter dem Einfluß vielleicht eines begünstigten Ministers, vielleicht eines
Cabinetsraths, vielleicht eines Generaladjutanten trat wieder in den Vorder¬
grund, und die Minister entschädigten sich nach unten hin dadurch, daß sich
jeder sein eigenes „Ministerium" bildete durch Heranziehung einer immer
größeren Zahl von Hilfsarbeitern und durch Usurpation immer größerer Gebiete
der eigentlichen Verwaltung. Man muß noch sehr jungfräuliche Anschauungen
vom modernen Staate haben, um sich unter dem Ding, das sich „Ministerium"
nennt, irgend eine organische Institution vorzustellen. Seit 1866 vollends
sind die preußischen Ministerien so kolossale und unförmliche Centralverwal-
tungsapparate geworden, daß eine ungemein kräftige Hand erforderlich sein
wird, um eine wirkliche Regeneration unserer durch und durch ungesunden
Verwaltungszustände durchzuführen. Ob es im Interesse besenderer Centra¬
lisation auf rein mechanischem Wege oder im Interesse provincieller und
communaler Selbstregierung durch organische Reform geschehen mag — ge¬
schehen muß mit jenen Ministerien sehr bald Etwas. Isis nicht ein Abbruch,
so ein Zusammensturz durch die eigene Schwere.
Diese historischen Aphorismen mögen genügen, um dem Hinweis Nach¬
druck zu geben, daß es kaum ein Wort zweideutigeren Wesens und Ursprungs
gibt, als das in der Theorie so viel mißbrauchte Wort „Minister", und daß
schlechterdings Nichts damit gewonnen ist, dasselbe ohne Weiteres in der heut
üblichen, auf Willkür, Zufall. Usurpation und Unkenntniß ruhenden Bedeu¬
tung aufzunehmen. „Das Ministerium (soll wohl heißen die Ministerien) ist
die oberste Centralbehörde des Staats. Die einzelnen Minister sind die
höchsten Staatsdiener d. h. diejenigen dem Souverän zugeordneten Gehilfen,
welche unmittelbar unter demselben stehen und denen das gesammte übrige
Beamtentum untergeordnet ist",! so drückt sich bündig Dr. Samuely aus,
und auf diese Ministerdefinitivn will er ein Verantwortlichkeilsprineip grün¬
den! Ich meine, das ist keine wissenschaftliche oder begriffliche Determination,
sondern eine leidige Paraphrase des thatsächlichen Ministerialismus, gegen de¬
ren Nichtigkeit vom Standpunkte der Realpolitik folgende Bemerkungen zu
Machen sind.
Daß die Minister um den Gesammtbegriff „Ministerium" ganz bei
Seite zu lassen — die Gehilfen, Räthe, Mitarbeiter des Souveräns sind,
ist manchmal der Fall, sehr häufig nicht. Sehr häufig führen die in der
persönlichen Regierungsthätigkeit des Souveräns einflußreichen Räthe weder
Namen noch Amt eines Ministers. Das Postulat der konstitutionellen Doc-
trin, durch die vorgeschriebene Contrasignatur als Vorbedingung jedes rechts-
giltigen fürstlichen Regierungsacts, Dasein und Beweis einer verantwortlich
mitwirkenden Person zu sichern, ist vom processualischen Standpunkte unan-
fechtbar, als politischer Gedanke werthlos, in seiner thatsächlichen Realisirung
von der verschiedenartigsten Wirkung. Daß im Falle einer vom Fürsten be¬
gangenen Rechtsverletzung die Helfer durch die persönliche Unverletzbarkeit
des Souveräns nicht gedeckt sind, wird jeder auch noch so monarchisch ge¬
sinnten Nation bei gesundem Rechtsgefühl unzweifelhaft bleiben. Daß sie
sich der Erkennbarkeit entziehen sollten, ist eine nur scheinbare Gefahr. Ein
gesetzwidriger Regierungsact bleibt so lange vollkommen unschädlich, als er
nicht thatsächlich, activ, physisch durch zwangsweise Ausführung in den be¬
stehenden Rechtszustand eingreift. Zu solchem Eingriff gehören immer er¬
kennbare Werkzeuge und der Eingriff selbst wird sich stets unter den That¬
bestand eines gemeinen Verbrechens subsumiren lassen. Hier hängt Alles ab
von der Sicherheit der allgemeinen Rechtsordnung und der Autorität der ge¬
richtlichen Organe. Im Uebrigen aber ist es klar, daß die Contrasignatur
eine Formalität ist, vollkommen ungeeignet, um fürstliche Unbillen zu verhüten.
Der Souverän, der das Landesrecht brechen will, wird sich wahrlich nicht
durch die Contrasignatur der Minister aufhalten lassen, und, kann er über¬
haupt auf Hilfe rechnen, wird er auch hierfür eontrasignirende Minister fin¬
den. Es waltet kein innerer und nothwendiger Zusammenhang ob zwischen
der constitutionellen Gegenzeichnung und dem Ministeramt. Jene Formali¬
tät könnte im Interesse der processualischen Beweisfrage ebenso gut einem
expedirenden Cabinetssecretär, Cabinetsrath oder sonst wem mit demselben
Effect aufgebürdet werden. Vermeint man, daß eben nur, wenn die Minister
d. h. die sogenannten Chefs großer Central-Verwaltungsbehörden die verant¬
wortliche Gegenzeichnung besorgen, eine Garantie für die Verantwortlichkeit
nicht eines quivis ex xopulo, sondern wirklich qualificirter Persönlichkeiten
vorhanden ist, so übersieht man, daß der Souverän constitutionell vollkommen
befugt ist, auch seinen Kammerdiener zum Chef jener Centralbehörden zu er¬
nennen, und daß bereits die Existenz derartig allmächtiger Behörden dazu
hinreicht, die Ausführung jedes Regierungsacts thatsächlich von ihrer ver¬
antwortlichen Mitwirkung abhängig zu machen. Es ist eine sehr unglückliche
Gewöhnung des Constitutionalismus der Theoretiker, wie der Praktiker,
alles Recht und alles Unrecht im constitutionellen Sinn stets nur auf dem
abstracten Boden der Gesetzgebung, weiser Verfassungsparagraphen oder ver¬
fassungswidriger Ordonnanzen zu denken. Einer Charte können freilich schon
Signaturen gefährlich werden, Rechtsinstitutionen werden der Regel
nach erst durch wirkliche Deliete von greifbaren Thatbestand in ihrer Existenz
gefährdet.
Der Boden der Staatsdienerqualität ist aber nicht minder ohne
Consistenz, weich und schwankend, wie der der Unverantwortlichkeit des
Souveräns und der ministeriellen Gegenzeichnung. Wieviel läßt sich für
die entgegengesetzte These anführen, daß die Minister keine öffentlichen Be¬
amten, keine Staatsdiener sind! Vorweg ist für ihre ganze Stellung charak¬
teristisch und der Staatsdienerqualität principiell widersprechend, daß sie
ganz nach fürstlicher Willkür ernannt und entlassen werden können, daß der
Souverän an keine persönliche Qualifikation, Alter, Befähigung, Vorbildung,
Unbescholtenheit, an gar keine Formen der Entlassung gebunden ist. — In
dem Inhalt ihrer Functionen sieht die constitutionelle Bürde der Gegen¬
zeichnung wie ein öffentlicher Dienst aus, und doch kann dabei von keiner
Norm öffentlicher Rechte und Pflichten, von keinem objectiv gegebenen Kreise
amtlicher Ordnung, amtlicher Gerechtsame die Rede sein. — Insoweit die
Minister zugleich an der Spitze von Centralverwaltungsbehörden stehen, läßt
sich endlich mit Grund behaupten, daß diese Behörden fast überall außerhalb
des Landesrechts, der Amtsordnung stehen und auf allmäliger Usurpation
gegenüber der gesetzlichen Aemterorganisation beruhen. Man mische all' diese
Elemente noch so viel durcheinander, die Amtsqualität der constitutionellen
Minister bleibt eine höchst schielende Fratze.
Die Ministerverantwortlichkeit in Ministerdisciplin aufzulösen enthält
allerdings die Consequenz constitutioneller Methode, welche erst „Verfassungs¬
verletzung", dann „Gesetzesverletzung", dann „Mißregierung", schließlich schlecht¬
hin „Pflichtwidrigkeit" als die Substanz der zu verfolgenden Vergehen be¬
zeichnet. In diesen Dingen macht immer nur der erste Schritt Mühe. Mit
dem letzten, dem Problem des Diseiplinargerichtshofs, findet man sich dann
am Ende des Gedankenganges, wie wir oben gesehen, durch einen hohen Auf¬
schwung ins Reich der Ideale ab. Dem Verfasser scheint dabei der Senat
der Vereinigten Staaten vorgeschwebt zu haben. Aber ganz abgesehen von
dem ungeheuren Unterschiede zwischen einer Föderativrepublik und constitutio¬
neller Monarchie ist schon von Murhard im Rotteck-Welker'schen Staatslexikon
(„Staatsgerichtshof") darauf aufmerksam gemacht worden, daß der Unions¬
senat ein Träger der Unionssouverän etat, daß er eine ebenso admini¬
strative, wie legislative Behörde, daß seine Zustimmung schon zur Er¬
nennung der höchsten Unionsbeamten constitutionell erforderlich, und daß
die Procedur der Dienstenthebung auf Antrag des Congresses zwar in judi-
ciären Formen geschieht, aber materiell wesentlich ein Ausfluß der Ver¬
waltungshoheit ist.
Ich fasse zum Schluß meine Betrachtungen dahin zusammen. Im Con-
stituttonalismus durchkreuzen sich von Anbeginn an zwei Strömungen völlig
verschiedener Art, die eine romanischen, die andere germanischen Ursprungs,
und noch ist es für Deutschland ein fragwürdiges Räthsel, welche die Ober¬
hand behalten wird. In der Lehre von der Ministerverantwortlichkeit ist ihr
Durcheinanderfluthen am lebhaftesten. Die eine geht von der Idee demokra¬
tischer Volkssouveränetät im Gewände legislativer Volksgewalt aus, gravitirt
unabwendbar zur centralisirten Staatsomnipotenz und verstärkt stetig die
Ministergewalt als das wesentlichste Instrument allmächtiger Administration-
Hier bedeutet Ministerverantwortlichkeit nur die Auffindung gewisser Formen,
in denen die Unterordnung der administrativen Regierungsgewalt unter den
legislativen Volkswillen mit der Wirkung eines Entlassungsrechts der Minister
für die Volksvertretung geltend zu machen sei, und die constitutionelle Con-
trasignatur bedeutet die Bevormundung der neutralisirten fürstlichen Souve-
ränetät durch die dem Parlament untergebenen Minister. Wie diese rein
politische Machtfrage gelöst wird, hängt ab von der Persönlichkeit der Fürsten,
der Kraft der demokratischen Idee, dem Geist und der Geschicklichkeit der
Volksführer, den großen Schicksalen, die über Blüthe und Verfall, Werden
und Vergehen der nationalen Gemeinwesen walten. Wird sie zu Ungunsten
des Fürsten gelöst, dann substituirt die constitutionelle Praxis gewöhnlich der
Ministeranklage das Mißtrauensvotum als legalen Act parlamentarischer Dis-
ciplinirung der Minister mit der Wirkung sofortiger Dienstentlassung.
Die andere Strömung geht von der deutschen Gemeindefreiheit und dem
gemeinen Landesrechte aus, will die Unumschränktheit staatlicher Gesetzgebung
und Verwaltung überhaupt beseitigt und begrenzt wissen, strebt nach dem
Rechtsstaate und der Decentralisation. Sie verlangt einen kräftigen und gleich¬
mäßigen Schutz des Rechts von den Gerichtshöfen des Landes für Hoch wie
Niedrig, gegen Private wie gegen alle Classen des Beamtenthums. Sie be¬
schwert sich insbesondere darüber, daß durch das Anklagemonopol der Staats¬
anwaltschaft, Competenzconfliete und die Hierarchie des Beamtenthums der
Bürger thatsächlich schutzlos dasteht in strafrechtlicher, wie in civilrechtlicher
Beziehung, wenn er die Gerichte gegen Beamte wegen amtlicher Handlungen
oder Unterlassungen anrufen will. Je höher der Beamte in der bureau¬
kratischen Gliederung, desto aussichtsloser jede Nechtsklage. Die dunkele Er¬
kenntniß ist da. daß in der unverantwortlichen Uebergewalt der Ministerien
der Sitz des Krebsschadens und der Grund all' dieser Uebel zu suchen ist,
daß die Minister, wie sie sind, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Selb¬
ständigkeit der provinciellen und communalen Verwaltungskörper untergraben,
die besten Elemente des altköniglichen Beamtenthums durch Verquickung mit
der ministeriellen Bureaukratie der zur höheren Carriere privilegirten Hilfs¬
arbeiter verderben, sich selbst aber, theils durch den Thron, theils durch die
willenlose Subordination des übrigen Beamtenthums geschützt, außerhalb alles
Rechts und aller Verantwortlichkeit gestellt haben. So lange die Minister im
Besitz ihrer heutigen Gewalt sind, ist jeder Versuch, sie unter die Verantwort¬
lichkeit des gemeinen Rechts herunterzudrücken, ein innerer Widerspruch.
Könnte diese Strömung daher ungetrübt wirken, sie würde sich mit aller
Energie nur auf die Zerstörung der Ministerialgewalt werfen zu Gunsten der
Kräftigung einer decentralisirten Verwaltung, unabhängiger Gerichte, wirk¬
samen Rechtsschutzes im bürgerlichen, wie im Strafproceß. Je mehr der Um¬
fang der Ministerialgewalt eingeschränkt wird, desto entschiedener verliert die
ganze Frage der Ministerverantwortlichkeit an rechtlichem Interesse und tritt
in den Bereich der allgemeinen Amtsverantwortlichkeit aller Staatsdiener
zurück. Zu unserem Unglück paralysirt aber jene erste Strömung die letztere
fast vollständig. Immer und immer wieder gewinnt das leichter zu befrie¬
digende parlamentarische Bedürfniß, die Minister der Majoritätsherrschaft,
der Parteidisciplin, dem Mißtrauensvotum unterzuordnen, die Oberhand
über das mühevolle Organisationswerk der Verwaltung. Was dort geschaffen
ist, wird hier wieder zerstört, das rechtliche Problem in demselben Verhältniß
unlösbarer, je heftiger die politische Machtfrage hin und her wogt. Ist man
aber erst so weit, daß ein Mißtrauensvotum und in Folge dessen einige Jahre
an der Schattenseite der Schatzkammerbänke alles Uebel ausmachen, das Mi¬
nister und hohe Staatsbeamte treffen kann für Alles, was sie begehen und
vergehen können, dann kann das Dogma der Ministerverantwortlichkeit ge¬
trost der Mythologie anheimfallen. „1^6 ä^s ok ImrMetiment a.re Miw"
so lautet das Wort eines englischen Staatsmannes dieses Jahrhunderts für
England. Wann werden die Tage für den deutschen Staat kommen?
Italien hat seine Republik San - Marino, die Pyrenäen umschließen das
freie Thal Andorra: daß auch in Deutschland und zwar in Norddeutschland
bis in die neueste Zeit, wenn nicht rechtlich, so doch thatsächlich ein ähn¬
licher Freistaat bestanden, dürfte nicht eben vielen Lesern dieser Blätter be¬
kannt sein. An der Grenze des Großherzogthums Mecklenburg-Schwerin und
des demminer Kreises der Provinz Pommern, zwei Meilen östlich von Sta-
venhagen, eine Meile südöstlich von Jvenack, liegt an der Straße von
Stavenhagen nach Treptow das ritterschaftliche Gut Wolde, dessen staats¬
rechtliche Verhältnisse so eigenthümlicher Art sind, daß ein Vergleich mit den
oben erwähnten kleinen Republiken nicht unberechtigt erscheint.
Wolde war im Mittel»leer eine der größten und festesten Burgen Nord¬
deutschlands und gehörte seit 1428 denen von Maltzan, wurde in? Jahre
1491 aber zerstört. Damaliger Besitzer dieser Burg war Verend Naltzan,
ein gewaltthätiger Mann, von seinen Zeitgenossen der böse Ber- genannt.
Ueber die Zerstörung der -Burg Wolde berichtet der Chronist 5' ntzow in
seiner gemüthlichen Erzählungsweise Folgendes: „Als der Her^, ; Bogis-
law von Pommern im Jahre 1490 Hochzeit hielt, war Verend M ?an auch
dabei anwesend, und wiewol der Herzog ihm von wegen seines U^ugs nicht
gut war, so mochte er ihm in den Freuden doch nichts thun, fonde' ermahnte
ihn nur, er solle noch davon abstehen, oder er wollte ihm den Kälber ein¬
mal über dem Kopfe umkehren und ihm den Weg zum Lande ^'..aus weisen.
Maltzan aber war halb spöttisch dabei, denn er hatte ein ^Yr festes Haus an der
Grenze, der Wold genannt, das den mecklenburgischen Fürsten stets in die
Augen gestochen. Darum, wie Herzog Boginaw sagte, er wollte Maltzanen
den Kälber umkehren, und Herzog Maas's von Mecklenburg dabei stand,
griff dieser Bogislaw's Wort auf und s-gie: „Schwager, das gilt eine Tonne
Bier, wo Ihr das thut," und meinte spöttisch und reizte den Herzog Bö-
gislaw dadurch noch mehr auf. Das verdroß diesen und er sagte: „es gilt
eine Tonne Bier oder Goldes, — wird er es nicht lassen, so werde ich es
thun." — Und hieran kehrte sich Maltzan nichts, sondern versorgte sein Haus
mit Büchsen und Pulver und fuhr in seinem Vornehmen gleich frech fort.
Da konnte Herzog Bogislaw es nicht länger dulden und forderte die Stral-
sunder, Greifswalder, Anclamer und Stettiner auf und zog vor das Haus,
und belagerte es im Jahre 1491, Mittwochs nach Bartolomäi, und beschoß
es mit allen Kräften. Aber es waren die Mauern so stark und dick, daß
Maltzan nichts darnach fragte, fondern es tapfer hielt. Aber es wurde auf
dem Schlosse versehen, wie sie in der Nacht die Büchsen laden wollten, daß
das Pulver daselbst Feuer fing, und das halbe Schloß umkehrte, und wie
das Maltzan sah. und es in der Nacht war, kam er davon. Der Herzog
aber ließ gegen das Schloß Sturm laufen, und gewann es, und ließ es dar¬
nach in den Grund brechen, welches denn die Herzoge von Mecklenburg gern
sahen." — Der Haß dieser Herzoge und besonders des Herzogs Magnus
gegen Verend Maltzan hatte seinen guten Grund. Des Herzogs Erich von
Pommern-Stettin Tochter, Sophia, war 1472 mit des Herzogs Friedrich
von Mecklenburg zweitem Sohne Johann verlobt worden. Da aber dieser vor
der Hochzeit im Sommer 1474 auf einer Reise nach dem gelobten Lande
die er mit seinem jüngeren Bruder Magnus unternommen, starb, warb
Magnus 1476 um die pommersche Sophia und wollte dieselbe, obgleich sie
als verwittwete Braut das Gelübde der Ehelosigkeit abgelegt hatte, im October
1476, früher, als es dem Bruder derselben, dem jungen kriegslustiger Herzog
Bogislaw von Pommern recht war, heimführen. Bogislaw trat mit Waffen¬
gewalt dazwischen und überfiel den Herzog Magnus. als dieser mit gelade¬
nen Vettern und Freunden und vielem köstlichen Gerüche zur Hochzeit zog.
Sämmtliche von dem Herzog Magnus zum Beilager bestimmten Kostbar¬
keiten, 4000 Gulden an Werth, wurden unweit Cummerow von Bogislaw's
Lehnsmann. Verend von Maltzan auf Wolde, geraubt; Berend sah diese
Summe zugleich als Schadloshaltung für das Lösegeld von 1800 Mark
Lüvisch an, mit welchen er kurz vorher seine Befreiung aus der Gefangen¬
schaft des Herzogs Magnus hatte erkaufen müssen, nachdem er in einer Fehde
wegen Penznn in dessen Gefangenschaft gerathen war. Diese Fehde wurde
zwar am 2d. Jo,ni 1478 in der Zeit, da Herzog Magnus. nachdem der
Widerspruch Bogislaw's beseitigt war, sich in Anclam mit Sophia von
Pommern vermählte, gehler und am 6. August 1479 durch einen Vergleich
völlig beendigt; wir haben abe^ aus der Erzählung Kantzow's gesehen, daß
Herzog Magnus dem „bösen Ber^d« den Raubzug von 1476 nicht ver¬
gessen hatte. Wenn Kantzow dabei lemerkt, daß Wolde den mecklenburgi¬
schen Herzogen stets in die Auaen ge^chen habe, so haben wir darin eine
Andeutung über den Ursprung der späteren mecklenburgisch - pommerschen
Streitigkeiten wegen Wolde und der staatsrechtlich eigenthümlichen Stellung
dieser Besitzung zu sehen.
Von den Maltzans kam Wolde in den Besitz der Familie Preen. Zu
Ende des 16. Jahrhunderts, nachdem die Herren Heinrich Magnus und
Hugold Preen verstorben waren, setzten die Herzoge von Mecklenburg sich
thatsächlich in den Besitz der von ihnen beanspruchten Lehnshoheit über
Wolde, indem sie „Schlösser vor die Mühlen daselbst" legten und sich von
den dazugehörigen Leuten huldigen, auch Vorwerk und Antheil des ge¬
dachten Hugold Preen einnehmen ließen. Darüber kam es zu Weiterungen
Mit dem Herzoge von Stettin-Pommern, der die Lehnsherrltchkeit über Wolde
bis dahin beansprucht hatte. Dieser Conflict, der einen ernstlichen Charakter
anzunehmen drohte, wurde durch Vermittelung des von beiden streitenden
Theilen angerufenen Herzogs Julius zu Braunschweig-Lüneburg im Jahre
1600 durch einen Vertrag vom 26. Juli dahin beigelegt, daß das Vorgehen
der mecklenburgischen Herzoge als ungeschehen angesehen und jedem Theile
vorbehalten werden sollte, sein siecht auszuführen; bis nach ergangenen
Urtheil aber sollte keiner der Streitenden wegen des alten Schlosses „Vorwerk,
Städtlein und Mühlen zu Wolde" zu Weiterungen Ursache geben oder mit
Thätlichkeiten vorgehen. Weiter wurde vereinbart, daß inzwischen bei ein¬
tretenden Veränderungen in der Person des Lehnsmannes dessen Nachfolger
von beiden fürstlichen Häusern Pommern und Mecklenburg mit Wolde be¬
lehnt werden sollte. Der Streit wegen der Landeshoheit über Wolde hat
den in diesem Vertrag vorgesehenen rechtlichen Austrag nicht gefunden. Die
letzten Verhandlungen wurden, nachdem dieser Handel durch die inzwischen
erfolgte Zugehörigkeit Pommerns zu Schweden unterbrochen gewesen zu
sein scheint, im Jahre 1829 zwischen Preußen und Mecklenburg gepflogen.
Diese Verhandlungen haben gleichfalls zu keinem Ergebniß geführt, so daß
auch fernerhin beide Theile sich der Ausübung der Landeshoheit über Wolde
enthielten.
Kann hiernach auch nicht von einer früheren Reichsunmittelbarkeit
Wolde's die Rede sein (wie sie hie und da behauptet worden), da vielmehr
blos eine unausgeglichene Grenzstreitigkeit vorliegt, so hat Wolde doch bisher
die Vortheile einer thatsächlichen Unabhängigkeit von beiden streitenden Landes¬
herren genossen. Die Ausübung der Jurisdiction über Wolde hat dessen
Besitzer dem ritterschaftlichen Patrimonialgericht zu Jvenack (in Mecklenburg)
übertragen, und somit ist die großherzogliche Justizcanzlei zu Güstrow für
die Processe dortiger Einwohner in zweiter Instanz, sowie als exemtes Forum
für Wolde competent; auch in kirchlicher Beziehung ist Wolde nach dem
benachbarten mecklenburgischen Kastors eingepfarrt, so daß es demzufolge im
gewöhnlichen Leben als mecklenburgischer Ort gilt. Aber Wolde zahlt keine
Steuern, weder an Mecklenburg, noch an Preußen, und ist überhaupt
von jeder staatlichen Einwirkung frei. Das galt bisher auch von
der Militärrecrutirung. Die Einwohner von Wolde wurden weder in
Preußen, noch in Mecklenburg zum Militärdienst herangezogen. Dieses eigen¬
thümliche Privileg ist erst neuerdings durch die norddeutsche Bundesgesetz¬
gebung aufgehoben worden. Diese verpflichtet jeden Norddeutschen zum
Kriegsdienste, also auch die Einwohner von Wolde. Nach jüngst erfolgter
Verständigung der mecklenburgischen Regierung mit dem königlich preußischen.
Gouvernement ist Wolde behufs der Heranziehung seiner Bewohner zum
Militärdienste in der norddeutschen Bundesarmee vorläufig, und ohne daß
dadurch dem gegenwärtigen Rechts- und Besitzstände nach irgend einer Seite
hin präjudicirt worden wäre, dem Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin
zugetheilt und für diesen Zweck dem Aushebungsbezirke Malchin beigelegt
worden. Zur Ausführung dieser Bestimmung sind nach einer Bekannt¬
machung des mecklenburg-Schwerin'schen Ministeriums des Innern vom 7. Nov.
1868 die resp. Civilbehörden mit entsprechender Instruction versehen und
insbesondere angewiesen worden, alle diejenigen Angehörigen des Ritterguts
Wolde, welche zur Zeit der Publication der Verfassung des norddeutschen
Bundes in militärpflichtigem Alter standen, resp, seit jener Zeit in das mili¬
tärpflichtige Alter getreten sind, nachträglich heranzuziehen.
Wie die Militärfreiheit Wolde's mit der Einführung der bundesgesetz¬
lichen allgemeinen Wehrpflicht untergegangen, so wird auch die Steuerfrei¬
heit dieses Orts verschwinden, sobald allgemeine directe Bundessteuern ein¬
geführt werden. Eben weil Wolde niemals reichsunmittelbar oder gar ganz
unabhängig von staatlicher Hoheit gewesen ist, sondern die Ausübung der
Landeshoheit nur vertragsmäßig seit Jahrhunderten ruhte, mußte die staat¬
liche Unterordnung dieses Orts sich bethätigen, sobald über die Territorial¬
hoheit beider streitenden Landesherren eine höhere staatliche Autorität, die des
norddeutschen Bundes, trat.
Jedenfalls ist das Beispiel Wolde's geeignet, diese Suprematie des
Bundes über die Landeshoheit der einzelnen Bundesglieder, Preußen nicht
ausgenommen, praktisch zu klarem Verständniß zu bringen. Bis zur Grün¬
dung des norddeutschen Bundes konnten die Landesherren von Mecklenburg
und Preußen auf die Ausübung der Landeshoheit über Wolde paciscirend
verzichten; den staatsrechtlichen Pflichten, die der norddeutsche Bund jedem
einzelnen seiner Angehörigen auferlegt, kann Wolde sich aber nicht entziehen,
es muß ihnen vielmehr gerecht werden — und weil der norddeutsche Bund
keine unmittelbare Herrschaft über einzelne Gebiete, wie sie zu den Zeiten
des deutschen Reichs bestand, kennt, mußte zwischen den streitenden Nachbarn
ein Abkommen getroffen werden, welches die Wahrnehmung der hoheitlichen
Rechte des Bundes für Wolde auf einen von beiden (wie geschehen, aus
Mecklenburg) übertrug.
Selbstverständlich wird Wolde dagegen auch Anspruch auf Genuß der
aus der Zugehörigkeit zum norddeutschen Bunde entspringenden Rechte haben,
namentlich auch auf Theilnahme an den Reichstagswahlen; jedenfalls dürfte
die jetzige veränderte Lage zu einer endlichen Erledigung des Streits wegen
der Landeshoheit den geeignetsten Anlaß bieten. Bis jetzt ist Wolde weder
im preußischen Landtage vertreten gewesen, noch hat dessen Besitzer Sitz und
Stimme auf dem mecklenburgischen Landtage gehabt. Seine Vertretung wird
Wolde erforderlichen Falls direct beim Bundesrath und Reichstag zu
suchen haben.
Aus dem Besitz der oben erwähnten Familie Preen gelangte Wolde in
den der gräflich von Moltcke'schen Familie, welche sich beim Verkaufe des
Guts an den Grafen von Pleßen auf Jvenack die Grabcapelle reservirte.
Jetziger Besitzer Wolde's ist der in Mecklenburg auch anderweitig begüterte
Kammerherr von Fabrice.
Wolde hat eine Feldmark von 194,155 Quadratruthen (ca. 1645 magdeb.
Morgen) und bildet einen lieblichen Landsitz mit ca. 200 Bewohnern, unter
denen schon früher, ehe die Gewerbefreiheit für Mecklenburg auf das platte
Land ausgedehnt wurde, ein Kaufmann und verschiedene Handwerker existirten.
Der jetzige Besitzer hat einen ganz neuen Wirthschaftshos mit massiven Ge¬
bäuden, zugleich auch weitläufige Parks anlegen lassen. Das Schloß mit
zwei an der Vorderseite vorspringenden Flügeln ist von schönem einfachem
Stil. Die Rückseite desselben wird von dem Garten begrenzt, der hier zu¬
nächst in drei hohen Terrassen abwärts fällt und links vom Schlosse ein
schönes Lindenparterre bildet, dann aber in die Parkanlagen übergeht. Eine
steile Anhöhe mit dichtem Gebüsch bewachsen, der sogenannte Schloßberg,
auf dem in neuerer Zeit eine Kirche in byzantinischem Stil erbaut wurde,
ist von einem tiefen Graben und den Spuren eines Walles umgeben, der
die Stelle der 1491 zerstörten Burg bezeichnet. — Wie damals der Herzog von
Pommern den Trotz des auf Wolde gesessenen Ritters gebrochen, so hat jetzt
die von Preußen ausgegangene Begründung des norddeutschen Bundes der
bisherigen „staatsrechtlichen Freiheit Wolde's" ein Ende gemacht. Unter dem
durchlauchtigsten Bundestage hätte auch diese „historisch-politische Individua¬
lität" Aussicht gehabt, bis an das „Ende der Tage" fortzubestehen.
Die norddeutsche Bundesgesetzgebung hat durch die Freizügigkeit, die
Beseitigung aller Niederlassungsabgaben und die Aufhebung der polizeilichen
Ehebeschränkungen für die freie Bewegung der Arbeit einen volkswirthschaft-
lich rationellen Zustand geschaffen.
Da indessen die Rechtsverhältnisse hinsichtlich der Aufnahme in die
localen Gemeindeverbände nicht zur Competenz des Bundes gehören, so sind
zwar die von Neuanziehenden wegen des Umzugs zu erhebenden Abgaben
im Bundesgebiet fortgefallen, allein die für den Erwerb des Bürgerrechts
den Stadtcommunen zukommenden Bürgerrechtsgelder bestehen gesetzlich noch.
Dadurch ist die Anomalie hervorgerufen, daß für die Bundesangehörigen
nur dann unbeschränkte Freizügigkeit vorhanden ist, wenn sie außerhalb
ihres engeren Vaterlandes den Wohnsitz nehmen, daß sie aber, sobald sie
innerhalb ihres eigentlichen Heimatsstaates den Wohnort wechseln, sich bei
jeder Wohnsitzveränderung gewärtigen müssen, dafür jedesmal von Neuem
mit einer Abgabe belegt zu werden.
Werfen wir einen Blick auf die einschlägige Gesetzgebung Preußens, als
des wichtigsten Staates im Nordbunde, als desjenigen, wo am ehesten Ab¬
hilfe zu hoffen ist und wo diese das weiteste Gebiet betreffen würde.
In den Städten Preußens erwirbt nach den drei in den sechs östlichen
Provinzen, in Westphalen und in der Rheinprovinz geltenden Städteord¬
nungen jeder selbständige, vierundzwanzig Jahr alte Preuße das Bürger¬
recht, also das Recht zur Theilnahme an den Wahlen, sowie die Be¬
fähigung zur Uebernahme unbesoldeter Aemter der Gemeindeverwaltung und
Vertretung, wenn er seit einem Jahre Einwohner des Stadtbezirks und
Mitglied der Stadtgemeinde gewesen ist und einen gewissen Vermögens-
census, entweder durch Hausbesitz oder durch Gewerbebetrieb in einem ge¬
wissen Umfange oder durch einen bestimmten Steuerbetrag (in Westphalen
und den sechs östlichen Provinzen auf 4 Thlr. jährliche Classensteuer in
minimo normirt) erfüllt hat. Der Erwerb des Bürgerrechts tritt so ixso
und selbst gegen den Willen des Einzelnen ein. Sobald er eingetreten ist,
sind die Städte auf Grund des Gesetzes vom 14. Mai 1860 befugt, ein
Bürgerrechtsgeld zu fordern.
Nichtpreußen und selbst die Angehörigen neuerer norddeutscher Bundes¬
staaten können also in Preußen sich niederlassen, städtische Grundstücke er¬
werben und Gewerbe betreiben, wo und wie sie wollen, ohne jemals Bür¬
gerrechtsgeld zahlen zu müssen. Der Preuße aber, der genöthigt ist nach
einander in verschiedenen preußischen Städten einen, wenn auch jedesmal
länger als ein Jahr dauernden, doch immerhin nur vorübergehenden Aufent¬
halt zu nehmen, wird in jeder Stadt für den Erwerb des Bürgerrechts von
Neuem Bürgerrechtsgeld zu zahlen haben.
Hiervon werden zahlreiche Classen von Personen hart betroffen, wie
die Beamten von Privateisenbahnen, Versicherungsgesellschaften, Jndustrie-
etablissements, Vermessungsbureaus, kaufmännischen Comptoiren und alle
Solche, die wegen ihrer Berufsverhältnisse das Dominik öfters wechseln und
wegen knapper Einnahmen durch das mehrmalige Zahlen von Bürgerrechts¬
geld unverhältnißmäßig belastet werden.
Zwar tritt die Verpflichtung zur Zahlung desselben immer erst nach
einem etwas längeren, als dem einjährigen Aufenthalt ein; dies vermindert
aber nicht, sondern vermehrt viel eher das Lästige. Auch ist es ein schlechter
Trost, daß bei fruchtloser Execution auf das Bürgerrechtsgeld nicht wie beim
Einzugsgeld Ausweisung, sondern nur Nichterwerb des Bürgerrechts eintritt.
Es erscheint hiernach das Forterheben des Bürgerrechtsgeldes als ein
Widerspruch mit dem Geiste der Bundesgesetzgebung, der um so stärker ist,
als dadurch der Freizügigkeit im engeren Heimathlande eine Fessel angelegt
wird. —
Aber auch abgesehen hiervon ist das Bürgerrechtsgeld eine nicht mehr
zeitgemäße und in mehrfacher Hinsicht drückende Abgabe.
Nach den Städteverfassungen der früheren Jahrhunderte war an die
Bürgereigenschaft das wichtige Recht geknüpft, städtischen Grundbesitz zu er«
werben und ausschließlich städtische Gewerbe zu betreiben. Diese Vorrechte
find den Bürgern noch durch das allgemeine Landrecht und die Städteord¬
nung von 1808 beigelegt. Es wurde von dem zum Bürger Gewordenen ein
besonderer Bürgereid geleistet, ihm ein besonderer Bürgerbrief ausgestellt und
die Bürger sahen mit einem gewissen Stolze auf die von Hausbesitz und
städtischem Gewerbebetrieb ausgeschlossenen Schutzverwandten herab. Danach
hatte das Bürgerrecht für den Einzelnen eine materielle Bedeutsamkeit und
es erschien Keinem drückend, für Erlangung eines so wichtigen Rechts eine
erhebliche Abgabe zu zahlen.
Als aber seit der revidirten Städteordnung von 1831 die Bürgereigen¬
schaft diese Wirkung verlor, indem sie nur noch die active und passive
Wahlfähigkeit für die unbesoldeten Functionen in der Gemeindeverwaltung
in sich begriff, und als die modernen Verhältnisse einen öfteren Domicil-
wechsel für viele Personen zur Regel machten, da nahm das Bürgerrechtsgeld
schließlich den Charakter einer lästigen und hemmenden Abgabe an, welche
die Städte lediglich aus financiellen Gründen forterhoben, ohne daß die Be¬
troffenen eine materielle Gegenleistung erhielten, welche sie als Aequivalent
für die gezahlte Summe und für die überkommene Verpflichtung unentgelt¬
licher Mühwaltungen ansehen konnten. Für wirkliche Gemeindenutzungen
muß stets noch ein besonderes Einkaufgeld gezahlt werden.
Dabei ist das Bürgerrechtsgeld eine spärliche Finanzquelle und steht in
keinem Verhältniß weder zu dem Apparat, den seine Einziehung erfordert,
noch zu dem Odium, den letztere alljährlich bei den Betroffenen gegen die
Magistrate hervorruft.
Endlich trägt das Bürgerrechtsgeld für wenig bemittelte Personen inso¬
fern etwas Gehässiges an sich, als es oft einer Geldstrafe gleich erscheint, die
auf rüstiges Streben gesetzt ist. Hat der fleißige Arbeiter das Ziel seiner
langjährigen Sparsamkeit, ein eigenes kleines Haus, erreicht, ist es dem
Eisenbahnunterbeamten geglückt, sich von 200 auf 250 Thlr. Gehalt empor¬
zuarbeiten, so überrascht ihn nach Jahr und Tag die Stadtcasse, um einen
unverhältnißmäßigen Tribut zu fordern, und zwar zur größten Bestürzung
des neuen Bürgers, denn unsere preußische Bürgerrechtsgesetzgebung steht der
Kenntniß und dem Rechtsbewußtsein des Volkes fern.
In Erwägung aller dieser gegen die Forterhebung des Bürgerrechts¬
geldes sprechenden Gründe haben bereits einige preußische Communen frei¬
willig diese Abgabe fallen lassen. Sie haben aber unter den anderen Städten
bisher keine Nachahmer gefunden. Es dürfte daher geboten erscheinen, daß
im Wege der Gesetzgebung für die ganze Monarchie eine Abgabe beseitigt
werde, die weder mit der Freizügigkeit des norddeutschen Bundes, noch mit
den volkswirtschaftlichen Anschauungen der Jetztzeit im Einklang steht.
Meine Erinnerungen an Felix Ment elssohn-Barth oldy und seine
Briefe an mich. Von Eduard Devrient. Leipzig, I. I. Weber. 1869.
Gern möchte unser Blatt unter den ersten sein, welche dies neue Buch
für den Weihnachtstisch empfehlen, denn längere Zeit ist uns kein Werk vor¬
gekommen, welches so lebendig und anmuthig. mit Pietät und doch mit selb¬
ständigem Urtheil in das Leben eines bedeutenden Künstlers einleitet. Es ist
keine ausgeführte Biographie, nicht Aufzählung der sämmtlichen musikalischen
Werke und nicht kritische Beurtheilung derselben; aber die Persönlichkeit des
Componisten tritt durch das Erzählte mit reinen und scharfen Umrissen in das
Verständniß des Lesers, der sich gern und vertrauend das achtungsvolle Urtheil
des erzählenden Freundes über den Umfang, ja auch über die Grenzen, in
denen sich die geschilderte Persönlichkeit bewegte, aneignet. Wohl war Eduard
Devrient für diese Arbeit berufen wie Wenige; er kannte schon den Knaben
Felix, war dem Jüngling und Mann in enger Freundschaft verbunden,
dazu ein langjähriger Bekannter des Mendelssohn'schen Hauses in Berlin.
So hat er das glänzende und glückliche Künstlerleben, das sich so früh voll¬
endete, in seinen Fortschritten, in Störungen und Erfolgen oft als vertrauter
Rathgeber beobachtet mit der ganz einzigen Mischung von Bewunderung
und Kritik, welche die Seelenbündnisse idealistischer Naturen aus unse¬
rer nächsten Vergangenheit charakterisirt. Persönlichkeiten und Verhältnisse des
Mendelssohn'schen Hauses, die sonnige Jugend des Künstlers, seine Vorbil¬
dung, die Concerte im Vaterhause, die kleinen Züge, in denen sich die An¬
muth, die Zartheit und zuweilen die Reizbarkeit seines Wesens ausdrückten,
sind geschildert. Anmuthig ist erzählt, wie Felix und Devrient zusammen die
erste Aufführung der Matthäus'Passion von Bach in Berlin zu Stande
brachten gegen der» Tyrannen Zelter, die mangelhafte Organisation der musi¬
kalischen Kräfte und den herrschenden Geschmack. Eine Anzahl Briefe von
Felix Mendelssohn sind in die Erzählung hineingewebt, darunter mehrere
Prachtstücke, die das feine, vornehme Wesen und die ehrliche Tüchtigkeit des
Geschiedenen in so Helles Licht setzen, daß sie uns zu dem Besten gehören, was
von seiner Correspondenz herausgegeben wurde. Auch der Bericht über
Mißerfolge ist lehrreich, z.B. wie die Versuche des Componisten, in der Oper
heimisch zu werden, immer wieder scheiterten und wie die Sehnsucht darnach
ihn bis ans Ende seines Lebens verfolgte; und nicht weniger befriedigt das
tactvolle Urtheil des Erzählers an solchen Stellen, wo er dem Freunde nicht
Recht geben kann: in dem Verhalten Mendelssohns gegen Immermann beim
Beginn der düsseldorfer Theaterzeit, und wo sonst eine Besonderheit des
Wesens fühlbar wurde, z. B. bei den unklaren Verhältnissen, welche König
Friedrich Wilhelm IV, dem Künstler durch eine Ernennung zum Musikdirec-
tor ohne Kapelle bereitete. Das Buch ist aus der Erinnerung geschrieben,
und es ist wohl möglich, daß in Einzelheiten den Erzähler sein Gedächtniß
im Stich gelassen hat"); auch ist nach dem Titel des Buches selbstverständlich,
daß Devrient mit am ausführlichsten sein Verhältniß zu Mendelssohn darstellt.
Aber er hat im Ganzen betrachtet durch seine biographische Mittheilung das
beste Lob erreicht, was einer Biographie werden kann: er macht den Helden
seiner Darstellung lieb und verständlich und er beweist in seinem Urtheil sich
selbst als einen wackeren Freund des Geschiedenen und vertrauenerweckenden
Führer des Lesers.
Es war ein glänzendes und glückliches Künstlerleben, von dem in dem Buche
erzählt wird: kluge und tüchtige Eltern, reiche Bildungsmittel, sehr feingebildete
Empfindung im elterlichen Hause, in der ganzen Jugend Nichts von den harten
Kämpfen, welche sonst dem Talent nicht erspart werden, bevor es sich durch¬
setzt. Und wir verstehen aus dem Buche vollständig, wie diese Verhältnisse
neben großer Sauberkeit der Empfindung und der zarten, geistvollen Liebens¬
würdigkeit einer vornehmen Künstlernatur auch eine fast weibliche Weichheit
des Gefühls großzogen, zu große Reizbarkeit und Ungeduld, und eine Neigung,
sich unbequeme Arbeit, die Mühe der vorbereitenden Organisationen, Alles
was Kampf mit dem Leben heißt, fern zu halten. Sehr gewissenhaft und
fleißig war Felix Mendelsohn in seiner schöpferischen Arbeit, er vermochte
sich selten genug zu thun und hatte großen Respect vor der Oeffentlichkeit;
aber jedes abfällige Urtheil, selbst der schonendste Tadel des Freundes konnte
ihn tief und lange verstimmen, und wo es galt, einen guten Willen gegen
äußere Hindernisse durchzusetzen, da wurde er leicht müde und verdrossen.
Wie seine Anlage war, formte sich auch sein äußeres Leben. Im Ganzen ein
horniges Dasein, reiches Talent, warme Freunde und Bewunderer, erfolg-
reiche Thätigkeit, eine glückliche Häuslichkeit, kaum andere Mühen, als die
beglückenden des künstlerischen Schaffens — aber es war ein Leben von zarter
Schönheit, nicht auf lange Erdendauer angelegt. Schon in früher Jugend
war der Enkel von Moses Mendelssohn bei widerwärtiger Aufregung und
plötzlichen Störungen seiner Laune krankhaften Affectionen ausgesetzt gewesen:
er sprach dann in seiner Aufregung wohl gar irre und wurde nur durch einen
todtenähnlichen Schlaf von solchem Zustand geheilt. Schon mehrere Jahre
vor seinem Hinscheiden lag zuweilen eine Mattigkeit auf ihm, welche die
nächsten Freunde beunruhigte, und sie sahen ängstlich auch in dem, was er
als Künstler schuf, die frische Schöpferkraft nicht gesteigert. So war sein
früher Tod, der überall mit tiefer Trauer vernommen wurde und nirgend
mehr, als hierin Leipzig, keine Erscheinung, bei welcher plötzlich eindringende
Gewalt ein vollkräftiges Leben zerstörte. —
Devrient war es, welcher den Freund unablässig auf die Oper hinwies;
er spricht wiederholt seine Ueberzeugung von der hohen dramatischen Be¬
gabung Mendelssohn's aus und berichtet, daß der Freund nur zu wählerisch
in Textbüchern gewesen sei und vielleicht allzu sehr die Mühe gescheut habe,
sich in Gemeinschaft mit einem Dichter das Textbuch dramatisch zurecht zu
machen. War es wirklich nur das, was den Componisten der Lieder ohne
Worte von erfolgreicher Operncomposition fernhielt?
Felix Mendelssohn starb ein Jahr vor den Ereignissen von 1848. welche
dem gesammten Leben der Deutschen neuen Inhalt und veränderte Richtung
geben sollten; er starb in dem blühenden Alter von 38 Jahren und er würde
jetzt, wenn ein günstiges Schicksal ihn uns erhalten hätte, noch im kräftigen
Mannesalter sein, gleichalterig Vielen von Denen, welche seitdem als treue
Werkmeister und Führer für die Ideale der deutschen Neuzeit gearbeitet haben.
Und doch erscheint er uns in seinem ganzen Wesen nur als eine Blüthe der
Merkwürdigen Periode zwischen 1816—1848 , einer Periode von sehr eigenthüm¬
lichem Charakter, welche fast allen Talenten, die in ihr heraufwuchsen, ein
Gepräge aufgedrückt hat, das diese Deutschen scharf von den Charakteren
der Gegenwart unterscheidet. Sein Leben vollendete sich in den letzten Jahr¬
zehnten jenes langen Zeitraums deutscher Bildung, welcher nach dem dreißig¬
jährigen Kriege mit den frommen Frauen Spener's begann, darauf die Auf¬
klärung, die schönen Seelen und das hohe Aufblühen deutscher Wissenschaft,
Poesie und Musik umfaßte. Es war eine lange Zeit deutscher Privatmenschen,
in welcher Feinheit, Grazie und Adel der Empfindung, eine reiche, häusig
encyklopädische Bildung, weiche Innigkeit des Gefühls, ein hoher Flug der
Gedanken sehr häusig mit einem leicht erregbaren und beweglichen, in Ge¬
schäften unsicheren, gegen starke Prüfungen nicht gestählten Willen verbunden
waren. Die stille Gemeinde der Gleichgesinnten galt zu viel, das Volk und
der Staat zu wenig. An Stelle der schwachen öffentlichen Meinung leiteten
die Freunde, die Coterie und die fast zufälligen Einwirkungen, welche dem
Einzelnen in dem vielgetheilten Deutschland aus seinem Kreise kamen. Der
Gebildete lebte meist im Widerspruch, oder nicht selten allzu willfährig gegen
das geistlose Regiment der Regierungen, und der Mangel an Gewöhnung, das
eigene Wesen einem starken und unablässigen Zuge großer Interessen be¬
scheiden einzuordnen, gab Willkür in der Beurtheilung von Personen und
Zuständen; den Schwachen wurde Unrecht zu Recht, jede fremde pathetische
Lebensäußerung verwirrte das haltlose Urtheil; auch den Besseren fehlte in
fleißiger Arbeit zu oft der Sinn für Form, die Methode, die sichere Regultrung
ihrer Gedanken und Thaten durch den gemeinen gesunden Menschenverstand.
Es wird einst für sehr merkwürdig gelten, daß fast alle Führer des geistigen
und politischen Lebens in dieser Zeit, Staatsmänner, Gelehrte und Künstler,
eine auffallende Familienähnlichkeit zeigen. Friedrich Wilhelm IV., Hum¬
boldt, Bunsen, Varnhagen, Hegel und Schelling, sehr weit auseinander gehend
in Neigungen und Beruf, tragen in einer für uns sehr kenntlichen Weise die¬
selbe Signatur dieser Periode, in welcher sich eine reiche und hochgesinnte,
aber nicht energische Bildung auflebte. Auch an großen Fachgelehrten
mit ungewöhnlicher Schöpferkraft, ja an den Eroberern neuer umfangreicher
Gebiete der Wissenschaft sind einige derselben Züge den jüngeren Zeitge-
nossen erkennbar, welche mit strengerer Zucht, festerer Methode arbeiten, so
an Savigny, den Grimm, an den meisten vergangenen oder alternden
Größen der Philologie, Geschichte und der Naturwissenschaft. Wohl gibt es
Ausnahmen auf jedem einzelnen Gebiete geistiger Thätigkeit und nicht die
Wissenschaft allein rühmte sich einer Kraft wie Lachmann, Aber es waren
nur einzelne festgefügte, wohlgemessene, sichere Naturen. Wenn es uns aber
> leicht wird, die Schwächen jener Zeit an den Individuen zu erschauen —
am leichtesten, wenn wir selbst in uns gegen dieselben Schwächen kämpfen
mußten — so haben wir auch bereits nach vieler Richtung Ursache, gewisse
Vorzüge jener früheren Richtung herauszuheben, die, wie es scheint, uns
seltener werden: die schöne Humanität, zarte und feine Formen des persön¬
lichen Verkehrs, die Virtuosität und das Bedürfniß, reichlich und voll von
dem eigenen Inhalt mitzutheilen, aufmerksame und verbindliche Freundlich-
keit gegen Gleichberechtigte und ehrfurchtsvolle Achtung vor jedem Talent.
Es ist wahr, die Bildung der Feinfühlenden hatte in jener Zeit Etwas von
Treibhauscultur und zu sehr bedürfte sie fremder Stützen; aber dafür war
eine sorgfältige Pflege des Humaner und eine Herzenswärme an ihnen sicht¬
bar, die wir jetzt zuweilen vermissen.
Seit dem Jahre 1848 ist das geistige Wesen der Deutschen robuster
geworden, sie werden früh aus dem Schutzdach der Familie in das freie
Land versetzt, die rauhe Luft der Politik weht durch die grünenden Blätter
unseres Geschlechts. Jeder wird davon erfaßt, auch der Künstler. Ja, für
diesen sind die neuen Aufgaben unserer Zeit vielleicht übermächtig ge¬
worden und es wird ihm jetzt noch allzuschwer, Tendenz und reale Forde¬
rung, welche seiner Kunst fremd sind, von ihren Gebilden abzuhalten. Aber
mit neuen Gefahren ist auch neue Kraft gekommen, sie zu besiegen. Und es
ist eine vergebliche Frage, wenn die Sehnsucht der Freunde sie stellen will,
welche Einwirkung unsere Zeit auf den lebenden Mendelssohn gehabt hätte.
Wie sein Leben vor uns liegt, ist es selbst einem geistvoll aufgebauten und
abgeschlossenen Kunstwerk ähnlich, dessen Besonderheiten uns nicht nur das
Gepräge eines eigenthümlichen Talentes, auch das einer vergangenen Zeit
haben.
Das Schicksal seines Jugendfreundes Devrient aber war ein anderes;
diesem war beschieden, noch im reifen Mannesalter die Wandlungen der Neu¬
zeit durchzumachen, in einer Stellung, welche ihm für seine Kunst schwere
Aufgaben stellte. Und wenn er die ideale Richtung der dramatischen Kunst
in einer süddeutschen Hauptstadt vertrat und dem schauenden Publicum all-
mälig ein Kunstbedürfniß gab, welches sich nicht mehr in wiener Possen und
französischer Leichtfertigkeit befriedigte, so wurde seine Thätigkeit für uns auch
eine nationale und patriotische, weil sie großen politischen Ideen eine Stätte be¬
reitete. Ihm aber wurde das Glück, daß er in angestrengter Berufsarbeit und
hartem Kampf als Künstler, Beamter und Patriot sich mit den höchsten For¬
derungen der Zeit im Einklange erhielt.
„Ich sitze am Ufer und warte auf den Wind " lautet ein oft wieder¬
holtes russisches Sprichwort, das wenn wir nicht irren Alexander Her¬
zen zuerst in Umlauf gebracht und auf größere Verhältnisse angewandt hat.
„Ich sitze am Ufer und warte auf den Wind" so kann die Mehrzahl der
europäischen Staaten sagen, um deren Geschicke es sich in der Tagesgeschichte
handelt und die im Mittelpunkt der Ereignisse oder der Gedanken stehen, die
man sich über dieselben macht. Preußen wartet auf den Wind, der es über
den Main führt, Frankreich oder doch Frankreichs Regierung aus günstige
Lüfte zur Fahrt über den Rhein, Oestreich auf die Gelegenheit zur Wieder¬
aufnahme seiner deutschen Politik, Italien auf den Sturm, der die franzö¬
sische Occupationsarmee von der römischen Erde wegfegt, Spanien erwartet
von dem freien Luftzug, den es sich geschaffen hat sogar daß derselbe ihm
einen König in den Schooß werfe. Die letzten Jahre haben uns so gründlich
daran gewöhnt, daß unvorhergesehene Ereignisse über den Haufen stürzen,
was lange und mühsam geplant worden, daß wir solche Ereignisse als regel¬
mäßige Factoren mit in Rechnung ziehen und nicht zum Schluß kommen, wenn
sie ausbleiben.
Auf dem Gebiete der inneren deutschen Politik macht sich diese neue
Art der politischen Buch- und Rechnungsführung besonders peinlich geltend.
Auf die neuen Verhältnisse, in welche wir durch das Jahr 1866 gestellt wurden,
war keine der alten Parteien eingerichtet und die neue Partei, welche sich
auf den Boden der neuen Verhältnisse gestellt hat, kann nicht verleugnen,
daß sie sich in ein Bett gelegt hat, das ihr von anderen Leuten gemacht
worden ist. Die Situation vom Herbst 1866 war über Nacht gekommen —
kein Wunder, daß ihre Konsequenzen von Niemanden voraus berechnet wer¬
den konnten, auch von Denen nicht, welche sie geschaffen hatten. In der Be°
sorgniß, sich nicht zum zweiten Male durch die Ereignisse überraschen zu las¬
sen und dann der Kurzsichtigkeit angeklagt zu werden, wurden wir zu
weitsichtig, d. h. unsere Gedanken übersprangen die weite dürre Ebene
welche zwischen der vollzogenen Einigung des nördlichen und der künftigen
Einigung des ganzen Deutschland liegt und die wir jetzt langsam und ge¬
duldig durchwandern müssen. Mag man sagen, was man wolle: die wirk¬
liche politische Geduld ist unsere Sache nie gewesen — was man mit ihr
verwechselte war eine Apathie, die weder geduldig noch ungeduldig, sondern
eben — apathisch war. Es scheint, wir werden diese Geduld lernen müssen;
der wohlfeile Optimismus, der da meinte, das ungethane Stück Arbeit von
1866 werde sich von selbst einholen, hat zu gründlich Bankerott gemacht,
als daß uns Etwas übrig bliebe, als die Arbeit, die im Glänze der Sieges¬
sonne übernommen wurde, an lichtlosen Tagen fortzuführen und mit der
Spekulation auf unerwartete Glücksfälle abzuschließen.
Freilich wird diese Geduld mitunter auf harte Proben gestellt. Der
heurige preußische Landtag hat seine Thätigkeit mit der Betrachtung des hä߬
lichen Reverses der Medaille von 1866 beginnen müssen. Noch ehe die erwar¬
teten Vorlagen für Reorganisation der Kreisverwaltung aus dem ministeri¬
ellen Nebel traten, der über ihnen liegt, wurde dem Landtage ein Budget
vorgelegt, welches die Thatsache des eigentlich schon lange vorhandenen
Deficits unzweideutig eingestand. Was der Finanzminister vorbrachte, um
die Verantwortlichkeit für diese Schuld abzulehnen, erinnerte lebhaft an den
neulich herangezogenen Vergleich der norddeutschen Bundesverfassung mit
einer Maschine, die nur ihr Schöpfer zu handhaben wisse. Die Noth¬
wendigkeit ein verantwortliches Bundes-Finanzministerium herzustellen ist nie
mit solcher Deutlichkeit hervorgetreten, als während der Debatten, welche
dem v. d. Heydt'schen Nesumi über die Finanzlage und dem Laster'schen An¬
trage folgten. Daß dieser Antrag von den vereinigten Radicalen der Rech¬
ten und Linken zu Fall gebracht wurde, lieferte einen neuen Beleg dafür,
daß die alten Parteien schlechterdings außer Stande sind, ihre doetrinären
Schnürstiefel auszuziehen und gehen zu lernen. Die Laster'sche Bill war
so allgemein gehalten, ging so direct auf das Ziel los, dem widersinnigen
Confusionszustanve ein Ende zu machen, den Herr v. d. Heydt deutlich ge¬
nug eingestanden hatte, daß nur böser Wille oder Unverstand annehmen
konnten, es handele sich um ein Erbieten zur Aufbringung neuer Steuern
oder (wie die „Kreuzzeitung" nachträglich behauptete) um ein Attentat auf
die königliche Prärogative. Dieselben Leute, welche sich fortwährend auf die
altpreußische Praxis steifem, keine Ausgaben zu machen, ehe die entsprechen¬
den Einnahmen sicher gestellt worden, haben sich mit Hand und Fuß dagegen
gesträubt, diese Praxis auf den norddeutschen Bund auszudehnen: das Sy¬
stem, nach welchem der Reichstag nur die Ausgaben feststellt und die Auf¬
bringung der bezüglichen Mittel der Hauptsache nach den Einzelstaaten über¬
läßt, steht in directem Gegensatz zu der Forderung Ausgaben und Einnahmen
im Voraus in Gleichgewicht zu bringen. Hoffen wir, daß die nächste Reichs¬
tagssession das Geschick des Laster'schen Antrags im preußischen Abgeordne¬
tenhause nicht als Präjudiz ansehen und dem preußischen Staate ebenso wie
den übrigen Staaten helfen werde, ohne auf particularistische Bedenken Rück¬
sicht zu nehmen.
Nächst den Verhandlungen über das Budget haben die Debatten über
einzelne Positionen des Cultusministeriums bis jetzt das Hauptinteresse gewährt.
Als besonders erfreulich muß die Taktik angesehen werden, mit welcher die
liberalen Parteien an dem Grafen Eulenburg dieses Mal vorübergegangen
find, um ihr Hauptgeschütz gegen den Unterrichtsminister zu richten und da
Bresche zu schießen, wo die Bastion der Gegner augenscheinlich am schwächsten
ist. Nichts hat der preußisch - deutschen Sache in den neuen Provinzen so
empfindlichen Schaden gethan, Nichts den particularistischen Umtrieben so
reichliches Aufwasser gegeben, als jenes System ministeriellen Besserwissens und
Vessermachens, das sich in alle Details des Communallebens einmischt und
Schullehreranstellungen in den Rang politischer Parteifragen erhebt. Wie
unermeßlich groß das Capital ist, das die Gegner allein aus der Kreissig'schen
Angelegenheit, der Vertheidigung des Flügge'schen Lesebuchs und dem bres-
lauer Schulstreit geschlagen haben, weiß man in Preußen vielleicht nicht so
genau, wie bei uns im norddeutschen „Auslande". Das Aergerniß wegzu¬
schaffen, das Herr von Muster durch diese Mißgriffe gegeben, sollte das Haupt¬
ziel der liberalen Parteien sein; kein Preis der dafür gezahlt wird, auch
nicht der, gewisse College« des unglücklichen Reorganisators der nassauischen
Schulverhältnisse noch Jahr und Tag zubehalten, ist zu hoch. Klingt es
nicht wie ein Hohn aus all die Decentralisations- und Selbstverwaltungs-
Versprechungen, von denen die officiöse Presse überfließt, wenn der Cultusmini¬
ster seine berliner Gewohnheiten zu Kriterien darüber machen darf, wie bet
der Einrichtung von schlesischen oder hessischen Schulen im Einzelnen verfah¬
ren wird, wenn Monate vergehen müssen, ehe eine große Provincialstadt das
Recht erhält, den. Mann ihrer Wahl als Schuldirector anzustellen und
zu bezahlen! Mag es bei Lichte besehen im Ressort des Grafen Eu¬
lenburg nicht besser zugehen: vor Provocationen der öffentlichen Mei¬
nung, wie sie Herrn von Muster zur Gewohnheit geworden sind,
hat der preußische Minister des Innern sich wenigstens in der Neu¬
zeit gehütet und wirkliche Freunde der Decentralisation werden sogar
uicht leugnen können, daß derselbe sich durch seine Behandlung der Selbst¬
verwaltungsfrage in Hannover und Hessen ein Verdienst erworben hat, das
jedem liberalen Minister zur Ehre gereichen würde. Nicht auf den Inhalt
der neuerdings bestätigten hessischen und hannoverschen Regulative kommt
es bei Beurtheilung derselben an, sondern daraus, daß sie in wirklich auto-
nomistischer Weise und ohne Einmischung der Centralgewalt — mag die¬
selbe Ministerium oder Parlament heißen — zu Stande gekommen sind.
Daß man hier provinciellen Neigungen und Gewohnheiten freies Feld ge¬
lassen und wirklich blos zugesehen hat, scheint uns von unermeßlichen Werth
zu sein. Nichts Verkehrteres hätte sich denken lassen, als wenn die provin-
cielle Selbstverwaltungsmaschine von anderen Leuten ausgestellt worden
wäre, als denen die mit ihr auszukommen haben, nichts Unwahreres und
Hohleres, als wenn man die Begründung der Selbstverwaltung auf dem
Wege der Bevormundung eingeleitet und das Selbstbestimmungsrecht der neuen
Provinzen schon in seiner Geburtsstunde namens liberaler oder conservativer
Doctrinen gekreuzt hätte.
Noch eine andere Errungenschaft ist aus der preußischen Geschichte des
letzten Monats aufzuzählen und da wir im Uebrigen an liberalen preußischen
Errungenschaften nicht besonders reich sind, darf sie nicht übergangen werden:
die parlamentarische Redefreiheit ist endlich seitens der Negierung anerkannt
worden und wenn sie nicht noch im Herrenhause auf Klippen stoßt, wird
die Wiederkehr von Processen im Stil der Laster-Tochter'schen künftig un¬
möglich sein. Mit Recht hat die liberale Partei sich gehütet, von der allend¬
lichen Anerkennung einer selbstverständlichen Forderung besondres Aufheben
zu machen — immerhin aber ist es ^in Gewinn, daß ein Odium der pein¬
lichsten Art aus dem inneren preußischen Staatsleben ausgemerzt worden ist.
Fragen der auswärtigen Politik haben seit Begründung des norddeut¬
schen Bundes in dem Hause am Dönhofsplatz keine Stätte mehr. In der
letzten Zeit hat die preußische Diplomatie — so weit sich über dieselbe über¬
haupt urtheilen läßt — ruhigere Tage gehabt. Frankreich ist mit Spanien
und mit sich selbst überbeschäftigt, zumal seit es Herrn Pinard gelungen, den
todten Baudin aus dem Grabe aufzuwecken und täglich durch die Straßen
und Gerichtssäle der französischen Hauptstadt zu fuhren — und das Verhältniß
zu Frankreich ist und bleibt, trotz aller östreichischen Ravomontaden, immer die
große und im Grunde die einzige Frage der preußisch-deutschen auswärtigen
Politik. Erst wenn in Frankreich die Kriegspartei die Oberhand gewinnt,
werden die 800,000 Soldaten, welche Herr v. Beust sich vom wiener Reichs¬
rath bewilligen ließ, waffenfähig, erst wenn Marschall Niet über die Rath¬
schläge de Moustier's und Rouher's die Oberhand gewinnt, kommt in Be¬
tracht, was man in Stuttgart, Darmstadt u. s. w. gegen die neue Ord¬
nung der deutschen Dinge plant. Bis es zu einer Entscheidung über Frank¬
reichs auswärtige Politik kommt, haben wir vom deutschen Süden Nichts
zu hoffen aber auch Nichts zu fürchten und wird unsere deutsche Politik sich
aller Wahrscheinlichkeit nach darauf beschränken können, den staws puo zu er¬
halten und darüber zu wachen, daß Preußens und des norddeutschen Bundes
Attractionskraft nicht gemindert werde. Und eine Entscheidung in Frank¬
reich scheint weiter als jemals auszustehen; die letzten vier Wochen französi¬
schen Staatslebens haben die Regierung in eine Reihe von Verwickelungen
gestürzt, deren Ende sich absolut nicht absehen läßt. Die Entschiedenheit,
mit welcher der Kaiser sich gegen des vielgewandten aber charakterlosen
Rouher Rath in der Baudinangelegenheit für eine RePression im brutalsten
Sinne des Worts entschieden hat, bestätigt, daß die Elasticität des französischen
Herrschers in der That abnimmt und derselbe in der Vertheidigung seines
bisherigen Systems das einzige Heil sieht. Ohne Rücksicht auf die bevor¬
stehende Neuwahl zum gesetzgebenden Körper und die Warnungen unab¬
hängiger Freunde hat die Regierung die Zügel so scharf anzuziehen begonnen,
als stünde das französische Volk noch unter dem Einfluß der Gesellschafts¬
rettung von 1861 und als hänge es nur von ihrem Willen ab, daß die
Tage des Generals Espinasse wiederkehren. Im eigentlichsten Sinne des
Worts wird von der Hand in den Mund gelebt und krampfhaft an einem
Negierungsapparat festgehalten, der sich schon seit Jahr und Tag als ver¬
braucht ausgewiesen hat. Von den jüngeren Kräften, die sich seit dem letzten
Jahrzehnt geltend gemacht haben, ist nicht eine von Bedeutung in den
Dienst des zweiten Kaiserreichs gezogen worden; die Bureaus wie die offi¬
ziösen Preßstellen werden von Leuten bedient, welche niemals mit dem seit
1861 erwachsenen Geschlecht Fühlung gehabt haben. Und dieses jüngere Ge¬
schlecht ist unter Eindrücken aufgewachsen, die mit denen der vorigen Gene¬
ration so gut wie Nichts gemein haben; die Erfahrungen, welche die Ma¬
jorität von 1861 dem Kaiserthum^ als der einzigen Rettung vor dem rothen
Gespenst in die Arme trieben, fehlen den Altersclassen, welche unter der Po¬
lizeifuchtel groß wurden und die Erinnerungen von 1830 und 1848 nicht
nach ihrer erschreckenden, sondern nur nach ihrer rosigen Seite kennen. Die
Art und Weise, wie die letzte spanische Revolution in Paris aufgenommen
worden, beweist deutlich, wie gründlich der Wind umgeschlagen hat und daß
die Revolutionsfurcht nicht mehr das leitende Motiv der französischen Gesell¬
schaft ist. In früheren Jahren wäre eine Umwälzung dieser Art der Re¬
gierung zu Gute gekommen; heute ist dieselbe dem Kaiserreich zu einer neuen
Verlegenheit geworden. Unterstützt wird die allgemeine Unzufriedenheit mit
dem herrschenden politischen System noch durch den Zusammensturz des
wirthschaftlich-financiellen. Inmitten des Baudin-Lärms ist das traurige
Resultat der letzten Versammlung des Oreäit immobil-'"!- ziemlich lautlos ver¬
hallt, aber für die Leute, welche sich nicht mit Politik beschäftigen, so lange
sie ruhig von ihren Renten leben können, spielt der Bankerott der unter
kaiserlicher Aegide gebildeten Finanzgesellschaften die Rolle eines zweiten
Mexico, einer Niederlage die sich an jedem Ultimo und jedem Quartalschluß
wiederholt. Daß im kaiserlichen Hoflager bereits die Rede von der Nothwendig¬
keit einer Armeereduction ist, zeigt, wie hoch die sinancielle Verlegenheit und
Bedrängniß selbst in den Augen des in Geldsachen nicht eben ängstlichen Kaisers
gestiegen ist und daß derselbe immer nur nach Ruhe seufzt und von keiner
Art von Veränderungen Etwas wissen will, entmuthigt seine Anhänger viel¬
leicht noch mehr, als das Anwachsen der Opposition. Daß das gegenwärtige
System auf zwei Augen steht galt lang genug für seine Stärke, daß ein
starker Wille herrsche, der blos Werkzeuge, nicht Genossen neben sich brauchte,
wurde nach den Wirren der Revolution und der impotenten blauen Republik
als Wohlthat gepriesen. Heute documentirt sich mit erschreckender Klarheit,
daß das gepriesene gouverinzment personnkl ein Provisorium war, von Hause
aus mehr darauf angelegt dem Ehrgeiz eines Einzelnen zu entsprechen, als
den Bedürfnissen einer Nation. Entschließt der Kaiser sich nicht noch in der
elften Stunde dazu, eine Modifikation eintreten zulassen, welche wenigstens
einzelnen Trägern der öffentlichen Meinung Frankreichs innerhalb des Kaiser-
thums Platz schafft — und das wird täglich unwahrscheinlicher — so kann
die von ihm geschaffene Regierungsform ihren Schöpfer kaum überleben. Die
Todesangst mit der die pariser Börse jede Nachricht von Schwankungen des
kaiserlichen Gesundheitszustandes aufnimmt, hat uns noch neuerdings darüber
belehrt, daß diese Meinung in den Kreisen Derer am weitesten verbreitet ist,
die sie am wenigsten wahr haben wollen.
In Spanien hat die Fortdauer des ungewissen Gährungszustandes, in
welchem das Land sich befindet, die Lage der provisorischen Regierung und
die Aussichten der monarchisch-konstitutionellen Partei entschieden zum Un¬
günstigen verändert. Das von Olozaza veröffentlichte Rundschreiben des
Centralcomites, welches die liberalen Spanier zu festem Zusammenstehen gegen
die klerikalen Wühlereien für die Republik einladet, ist ein Symptom dafür,
daß die bisherigen Leiter der Bewegung den Boden unter ihren Füßen
schwinden fühlen. Noch sind es nicht zwei Monate, daß sie diesen Boden
betreten haben und bis zum Zusammentritt der Cortes werden mindestens
noch zwei weitere Monate vergehen. Es fehlt vielleicht nur noch, daß Prim
mit seiner Candidatur für die spanische Krone offen hervortritt, um dem
Faß den Boden auszuschlagen. Die Unfähigkeit der Regierung, ihr monarchi¬
sches Programm durch eine bestimmte Throncandidatur zu vervollständigen,
hat nicht nur ihrem Credit, sondern zugleich dem der monarchischen Sache
unendlichen Schaden gethan und den Republikanern und Pseudorepublicanern
direct in die Hände gearbeitet. Die clericale Partei ist zu klug, um ihre Sache
durch sofortiges Eintreten für die vertriebene Dynastie zu compromittiren;
ihren Zwecken läßt sich sehr viel erfolgreicher durch Unterstützung republikanischer
Gelüste nachgehen, da diese mit Nothwendigkeit zu Zerrüttung und Bürger-
krieg führen und den Kreislauf der Revolution beschleunigen müssen. Schon
am.3. Oel. stellte Orense, Marquis von Albaida, ein republicanisches Programm
auf, das den Clericalen sehr viel besser gefiel, als alle übrigen Manifeste
in denen Moderados und Radicale sich versuchten; er forderte eine Föderativ¬
republik auf Grund der alten Provincialvrivilegien, jener Fueros, die den
liberalen Spaniern als Verneinung jedes wirklichen Staatslebens gelten,
deren Namen das Landvolk aber nicht vergessen hat und die in den alt¬
spanischen Priesterkreisen aus naheliegenden Gründen einen sehr viel besseren
Namen haben, als alle Verfassungsparagraphen, mit denen man es seit 1812
und 1820 versucht hat. Dem Clerus kann es nicht schwer fallen, unter Appel¬
lation an die Fueros die republikanischen Phrasen mitzumachen und da¬
durch die gegen die provisorische Regierung gerichtete Strömung zu verstärken.
Hat diese erst das Oberhaupt gewonnen und die monarchisch-constitutionelle
Partei zu Fall gebracht, so ist die allgemeine Verwirrung, in deren trüben
Wassern sich erfolgreich fischen läßt, bereits vorhanden. — Das Verlangen
nach Truppensendungen, das Mitte dieses Monats von einer Anzahl wichtiger
Provineialstädte geäußert wurde, ist wiederum verstummt — nachträglich
hat sich sogar herausgestellt, daß die durch die sevillaer Unruhen erweckten
Besorgnisse übertrieben waren — aber das Vertrauen in die Autorität der
Regierung hat sich seitdem nicht wieder gehoben; daß Prim seine Truppen
w der Hauptstadt behalten wollte, konnte in der That nicht sür einen Be¬
weis von Selbstvertrauen und Sicherheitsgefühl gelten. Auch die Nachrichten
aus Cuba, wohin das erste Kriegsschiff endlich abgegangen ist, lauten nicht
wehr so zuversichtlich, wie in Lerfundi's früheren Berichten — kurz man hat
das Gefühl am Vorabend neuer Ereignisse zu stehen und die Flitterwochen
der jungen spanischen Freiheit sind vorüber gegangen, ohne daß sie von den
augenblicklichen Machthabern irgend erfolgreich ausgebeutet worden wären.
Die Verwickelungen im südwestlichen Europa haben zunächst die Folge
gehabt, die ängstliche Aufmerksamkeit der deutschen Politiker von Paris ab¬
zuziehen und wieder nach Osten zu richten. Preußens auswärtigem Amt
steht eine nach Außen wie nach Innen schwierige und peinliche Aufgabe
bevor, bei der die Volksvertretung dieses Mal ein wichtiges Wort mitzu¬
reden haben wird. Die Entscheidung über die abgelaufene Cartellconvention mit
Rußland soll getroffen werden. Es gilt auf der einen Seite die Wünsche
einer befreundeten, zur Zeit unentbehrlichen und dabei höchst reizbaren Nach¬
barmacht zu berücksichtigen, auf der anderen Seite der Würde der eigenen
Nation Nichts zu vergeben und die kaum zweifelhaften Antipathien in Be¬
tracht zu ziehen, welche Rußland sich durch sein Zollsystem und seine innere
Politik in Deutschland zugezogen hat. Das schutzzöllnerische Absperrungs-
Wem, an dessen unseligen Einfluß auf Preußens östliche Provinzen die
Noth des vorigen Winters nur all zu lebhaft erinnerte, steht in Rußland
noch immer in Blüthe und ist durch die vielbesprochene letzte Tarifrevision
nicht verändert worden; Grenzverletzungen, wie sie längst herkömmlich ge¬
worden, haben auch in der Neuzeit nicht gefehlt, und die gegen die Ostsee¬
provinzen und gegen Polen geübte innere Politik hat sicher nicht dazu
beigetragen, die russischen Sympathien in Preußen zu verstärken. In Ru߬
land selbst und namentlich in den Kreisen der nichtofficiellen Politiker scheint
man eine lebhafte Empfindung davon zu haben, daß trotz der freundschaft¬
lichen Beziehungen zwischen den Regierungen der beiden nordischen Großmächte
eine Fortdauer des gegenwärtigen Verhältnisses nicht für alle Zeiten mög¬
lich sein werde. Die nationale Partei wünscht sich wirthschaftlich noch un¬
abhängiger von den preußischen Nachbarn zu machen und namentlich das
Band zu lösen, durch welches die westrussische Ausfuhr an unsere Ostsee¬
häfen geknüpft ist. Dem „abnormen" Zustande, daß Königsberg und Memel
die gesammte Produktion Polens und Lithauens ausführen und daß eine
Sperrung dieser Häfen mit dem Stocken alles wtrthschaftlichen Lebens an
dem Njemen und der Weichsel gleichbedeutend sein würde, soll plötzlich und
gewaltsam ein Ende gemacht werden. Seit Monaten bringt die einflußreiche
Most. Zeitung wöchentlich mehrere Artikel über diesen Gegenstand und jeder
derselben schließt mit der peremptorischen Forderung, Kowno mit der ir¬
ländischen Hafenstadt Libau zu verbinden und diese an die Stelle der preußi¬
schen Rivalen zu setzen. Wo möglich soll außerdem das benachbarte Windau
in einen starken Kriegshafen verwandelt werden. Da gleichzeitig von derselben
Partei dagegen agitirt wird, den russischen Westen durch neue Eisenbahnen
mit unserem Osten zu verbinden und das Bestreben, Libau zum Mittelpunkt
des baltischen Exports zu machen, ebenso gegen Riga wie gegen die preußi¬
schen Häfen gerichtet ist, hat das bezügliche Project mit vielfachen Schwie¬
rigkeiten zu kämpfen. Immerhin ist seine Realistrung höchst wahrscheinlich;
seine Bedeutung für Preußen läßt sich ebenso an dem Eifer bemessen, mit
dem es seitens der Stettiner Ostseezeitung bekämpft wird, wie an den Be¬
fürchtungen der russischen Presse vor „preußischen Intriguen". Kommt die
Cartellconvention im Abgeordnetenhause zur Sprache, so wird wohl auch
dieser Punkt eingehend erörtert werden.
Die officielle russische Politik, welche man in Wien und Paris haupt¬
sächlich im Orient beschäftigt glaubt, hat thatsächlich alle Hände voll mit in-
neren Fragen zu thun. In nicht weniger als 11 Provinzen steht, nach einer
amtlichen Bekanntmachung des Ministers des Innern, auch für dieses Jahr
bittere Noth zu erwarten und an Nachzüglern aus anderen Reichstheilen
wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht fehlen. Schon gegenwärtig ist
Petersburg mit Bettlerschaaren aus dem hungernden Westen und Südwesten
überfüllt. In Polen und Litthauen wird die Einführung der russischen
Sprache in die katholischen Kirchen mit unbeugsamer Strenge durchgeführt;
künftig soll von jedem katholischen Priester, der das geistliche Seminar verläßt
um in eine praktische Thätigkeit zu treten, der Nachweis genügender russischer
Sprachkenntniß gefordert werden. Ebenso wird die ausschließliche Herrschaft
der russischen Sprache in der Administration des Königreichs Polen („Weichsel¬
land") zur Geltung gebracht. Dreihundert Städtchen Polens sind zu Dör¬
fern degradirt worden, um die Kosten städtischer Verwaltung zu sparen und
die Zahl der mit russischen Beamten zu besetzenden Stellen zu mindern; im
wilnaer General-Gouvernement haben zahlreiche Städte ihre polnischen Na¬
men gegen die russischen Bezeichnungen aufgeben müssen, welche vor der
»Polnischen Invasion dieses altrussischen Landes" d. h. vor vierhundert
Jahren üblich waren. In den drei Ostseeprovinzen (die jetzt sämmtlich unter nicht-
deutschen Gouverneuren stehen) haben die Amtsblätter zunächst ihre deutschen
Titel mit russischen vertauscht; in Dorpat ist dem deutschen Curaten ein rus¬
sischer Gehilfe beigegeben worden, um die Ausbreitung des russischen Sprach¬
unterrichts in den Schulen des baltischen Lehrbezirks zu überwachen. Gleichzei¬
tig ist die russische Nationalpartei eifrig bemüht die Letten und Esthen in
ein Bündniß gegen das herrschende deutsche Element zu ziehen: der von
lutherischen Predigern vor dreißig Jahren gegründeten keltisch-literarischen Ge¬
sellschaft zu Riga und Mitau ist ein Coneurrenzverein entgegengestellt worden
— von Wilna her werden mit russischen Lettern gedruckte lettische Bücher nach
Liv- und Kurland importirt und ein keltischer Convertit hat ein lettisch¬
russisches Lesebuch herausgegeben, das den Zweck hat. die beiden slavischen
Brudervölker einander zu nähern und die Sprache der Urbewohner Livlands
von dem Joch deutschen Einflusses zu befreien. Daß die unermüdlichen Auf-
reizungen der moskauer Presse auch an maßgebender Stelle ihren Zweck zu
erreichen beginnen, wird immer bemerkbarer: wie von den verschiedensten
Seiten mit beispielloser Uebereinstimmung behauptet wird, hat ein deutscher
Diplomat diesen Versuchen zur Verdächtigung des baltisch-deutschen Elementes
und dessen angeblicher Sympathien für Preußen seine Unterstützung geliehen.
— In Petersburg ist man vornehmlich mit zwei Dingen beschäftigt gewesen:
mit den sich von allen Seiten, selbst von Sibirien herandrängenden Gesuchen
um Eisenbahneoncessionen und mit der Umgestaltung der officiellen Presse.
Vom 1. Januar 1869 ab sollen die Organe sämmtlicher Ministerien eingehen
um einem Regierungsorgane Platz zu machen. Diese Maßregel ist wichtiger,
als man auf den ersten Blick glauben möchte, denn sie verhindert die einzel¬
nen Minister, durch ihre Journale an dem heftigen publictstischen Parteikampf,
der in Moskau und Petersburg geführt wird, Theil zu nehmen. Besonders
empfindlich sieht sich die nationale Demokratie verletzt, welche an dem Kriegs¬
minister Miljutin und dessen Leiborgan, dem „Invaliden", einflußreiche Gön¬
ner sah, deren Beistand schmerzlich vermißt werden wird. Die gesammte
Maßregel scheint einen lebhaften Kampf widerzuspiegeln, der im Schooß der
Negierung ausgekämpft wird und die Stellung des demokratischen Kriegs¬
ministers in Frage gestellt hat. Das militärische System dieses Armeerefor¬
mators ist gleichzeitig von dem Vorkämpfer der aristokratisch-constitutionellen
Partei, der Zeitschrift „Wesstj" in leidenschaftlicher Weise angegriffen worden
die gesammte poker- und deutschenseindliche Demokratie wie ein Mann
für ihren bedrohten Führer eingetreten. Daß dieser Kampf zu einer Ver-
Änderung des herrschenden Systems führen werde, scheint von den Kämpfern
nicht geglaubt zu werden; wohl aber dürfte es sich darum handeln, ob neben
den demokratisch-nationalen Einflüssen noch andere an maßgebender Stelle
fortbestehen sollen, eine Frage, die nicht unwichtig ist, weil sie mit der aus¬
wärtigen Politik Rußlands zusammenhängt, mindestens auf die künftige Stel¬
lung dieser Macht zur orientalischen Frage einwirken kann. Die nationale
Partei huldigt auch in dieser Beziehung aggressiven Tendenzen, die weder vom
Fürsten Gortschakow noch von den übrigen Vertretern der conservativen Rich¬
tung gebilligt werden."
Man hat in Wien geglaubt und gesagt, die russische Diplomatie sei in
letzter Zeit besonders eifrig mit Rumänien und mit gewissen rumänischen
Umtrieben an der Donau beschäftigt gewesen, welche auch preußischerseits
begünstigt würden. Die steigende Erbitterung, welche Russen und Magy¬
aren einander beweisen, hat diese Gerüchte genährt und für gewisse pesther
und wiener Journale zum Axiom gemacht, daß Rußland die bucharester Re¬
gierung aussetze — wie die Einen behaupten gegen die Ungarn, wie die
Anderen wissen wollen gegen die Pfordte- Schon daß eine solche Alter¬
native möglich gewesen, beweist die Unzuverlässigkeit dieser Anklagen, die un¬
ausgesetzt wiederholt worden, obgleich seit Monaten Nichts von den Banden
verlautet, die in Bucharest und Jassy ausgerüstet werden sollen. Es wäre
schwer zu erklären, was Rußland in diesem Augenblick mit einer Feuers¬
brunst an der Donau beabsichtigte — dessen zu geschweige«, daß Preußen
absolut keinen Grund hat, Verwickelungen zwischen Nußland und der Türkei
oder deren Beschützern hervorzurufen, so lange Oestreich Frieden hält. Unter
solchen Verhältnissen hat "nicht ausbleiben können, daß die letzten Ausein¬
andersetzungen der Norddeutschen Zeitung über des berliner Cabinets Stellung
zu Rumänien allenthalben wo sie gelesen wurden, nachhaltigen Eindruck ge¬
macht haben. Die Nachrichten freilich, welche aus der Moldau-Walachei
nach Westeuropa dringen, sind so abgerissen, widerspruchsvoll und unzu¬
sammenhängend, daß man sich von dem, was in diesem abgelegenen Donau¬
gebiet eigentlich vorgeht, eine deutliche Vorstellung nicht machen kann. Die
russische Presse, die über die Donauländer und den Orient gewöhnlich besser
unterrichtet ist als der Occident, beobachtet über Rumänien schon seit länge¬
rer Zeit ein hartnäckiges Schweigen, d. h. sie dementirt oder reproducirt die
deutschen und französischen Nachrichten, ohne selbst ausführlichere und zuver¬
lässigere Berichte zu bringen. Daß etwas zu Bucharest im Werk ge¬
wesen, ist durch die in den letzten Tagen erfolgte Entlassung Jean Bratia-
no's eigentlich zweifellos gewesen; der Rücktritt dieses gefürchteten Staats¬
mannes ist den jüngsten berliner und wiener Zeitungsartikeln zu rasch ge¬
folgt, um nicht mit ihnen in Verbindung zu stehen. Bratiano's Hauptwerk,
der begonnene Verkauf der griechischen Kirchengüter, der ihm in London und
Paris besonders zum Vorwurf gemacht wird (obgleich ein Versuch dieser selben
Maßregel zu Zeiten Cusa's in Paris hochgepriesen und nur von Petersburg
her bekämpft wurde), scheint mit seinem Rücktritt in Stocken gekommen zu
sein, da die fürstliche Eröffnungsrede eine „versöhnende Lösung" dieser Ange¬
legenheit in Aussicht nimmt. In der Moldau-Walachei war der Minister, der
diese höchst populäre Maßregel ins Werk richtete, übrigens wenig beliebt,
— man wirst ihm vor, unter dem Schein des Liberalismus ein Bündniß
zwischen dem Fürsten und den rohen Massen gegen die gebildeten Classen
vermittelt und dadurch den Cultur- und Bildungsfortschritt des Landes ge¬
hemmt zu haben. Bratiano's Rücktritt und die friedliche Rede, mit welcher
Fürst Carl seine Kammern eröffnete, werden voraussichtlich für eine Weile
beruhigend wirken; Cogolnitscheano. der gemeinsam mit D. Ghika das
neue Cabinet bilden soll, ist der Minister, mit dessen Hilfe Cusa seinen
Staatsstreich vom Mai 1864 ausführte, übrigens gleich seinem Vorgänger
Demokrat. — In dem der Walachei benachbarten Serbien ist der Belage¬
rungszustand aufgehoben und zu einer Reform der „Socialgesetzgebung"
Miene gemacht worden.
Die wirkliche oder angebliche Besorgniß vor einem Ausbruch in Ru¬
mänien hat unter den Gründen, mit denen Herr von Beust den wiener
Reichsrath zur Bewilligung seines Wehrgesetzes bestimmte, eine wichtige
Rolle gespielt. Die übrigen Argumente, welche der östreichische Reichskanzler
zu Gunsten seiner mehr als drei Viertel Millionen Soldaten zählenden Frie¬
densarmee in die Wagschale warf, haben den Glauben an Oestreichs
dauernde Versöhnlichkeit gegen Preußen und Deutschland ebenso erschüttert
wie den an die Lebensfähigkeit des liberalen cisleithanischen Ministeriums.
Daß in dem Kaiserstaat Freiheit und Frieden gleichbedeutend sind, mindestens
die constitutionelle Freiheit den Frieden nicht überleben würde, das weiß
vielleicht Niemand so genau wie das Ministerium Gistra und darum hat
die liberale deutsche Partei sich nur mit schwerem Herzen entschlossen, dem
Kanzler eine kriegsfähige Armee in die Hände zu geben. Wie der Finanz-
minister es anfangen werde, sein bei Gelegenheit der Couponsteuer gegebenes
Versprechen zu halten und das Deficit binnen drei oder jetzt Jahren
aus der Welt zu schaffen, ist zunächst noch sein Geheimniß: möglich, daß
man ihn der Verlegenheit, dieses Versprechen zu halten, in Bälde entheben
wird. Klagte die wiener officiöse Presse schon vor Zusammentritt des Reichs¬
raths über den allgemeinen Pessimismus und den Unglauben der Oestreicher
an die Dauerbarkeit des gegenwärtigen Systems, so ist nicht anzunehmen,
daß die Stimmung sich nach der Annahme des Wehrgesetzes bessern werde.
Ueberdies ist die Sprache, welche man in dieser Presse gegen Preußen
führt, nicht dazu angethan, den friedlichen Kernsprüchen, in denen der Leiter
der östreichischen Politik sich ergeht, eine Stätte zu bereiten. Auch die große
Masse der Friedfertigen und Indifferenten in Süddeutschland ist durch
die Annahme des Wehrgesetzes nicht eben angenehm berührt worden; bis
tief in die Mittelpartei herein hat man sich sehr entschieden mißbilligend
darüber ausgesprochen, daß das friedensbedürftige Oestreich auf die Frie¬
denshoffnungen dieses Winters einen Mehlthau geworfen habe. Befriedigt
sind höchstens diejenigen bairischen und badischen Ultramontanen, welche ihren
Aerger über die Antastung des Concordats genugsam verwunden haben, um
an dem liberalen wiener Cabinet irgend etwas löblich zu finden, die Welsen
und Welfengenossen vom Schlage der „Sächsischen Zeitung". — Mit den
rennenden Czechen ist die k. k. Hofburg trotz aller Repressivmaßregeln und
Ausnahmegesetze um keinen Schritt weiter gekommen; daß neuerdings von der
Wiederaufnahme privater Verhandlungen mit den böhmischen Führern die
Rede ist, beweist, daß man der Regierung größere Nachgiebigkeit zutraut als
dem Starrsinn der böhmischen Wortführer. Besser ist man mit den Polen
gefahren, die trotz der ihnen verhaßten Eintheilung Galiziens in 11 Verwal-
waltungskreise für das Wehrgesetz gestimmt und der Regierung dadurch einen
so wichtigen Dienst geleistet haben, daß der Kaiser ihnen direct seinen Dank
abstatten ließ. Ein Opfer haben die Vertreter Galiziens mit ihrem Votum
nicht gebracht, auch Nichts von dem zurückgenommen, was sie auf dem letzten
lemberger Landtage als ihre Meinung aussprachen — sie waren in der
günstigen Lage gleichzeitig dem von ihnen gekränkten Cabinet ein Pflaster
auf die Wunde legen und dem Grundgedanken aller polnischen Politik, dem
Haß gegen Rußland, treu bleiben zu können. — In der östlichen Reichs-
hälfte hat die Deäkpartei sich noch immer an der Spitze der öffentlichen
Meinung zu behaupten gewußt und in allen wichtigen Fragen den Ausschlag
gegeben. Die im Pesther Unterhause geführte Debatte über das Nationalitäten¬
gesetz hat auch dieses Mal zu einem Conflict zwischen dem herrschenden Stamm
und den nach Gleichberechtigung ringenden kleinen Nationalitäten geführt;
die rumänischen und ein Theil der serbischen Vertreter verließen den Conferenz-
saal ohne daß das Haus sich durch diesen Zwischenfall (den Deal als „rein
privaten" bezeichnete) in seinen Verhandlungen unterbrechen oder aufhalten
ließ. In Belgrad und Bucharest wird dieser Vorgang sicher nicht mit der'
selben Gleichgiltigkeit aufgenommen werden wie im pesther Ständehause,
sondern neues O»l in das Feuer des Hasses gießen, welches in den West»
slavischen Völkern gegen Ungarn entbrennt. Das Verhältniß der außer¬
halb Ungarns lebenden Serben und Rumänen zu der Stefanskrone ist
von dem der Kroaten, die sonst für die gefährlichsten südslavischen Gegner
des Dualismus gelten, stets verschieden gewesen. Als Katholiken sehen die
Kroaten den Fortbestand der türkischen Macht aus wesentlich anderen Ge¬
sichtspunkten an als ihre der griechischen Kirche angehörigen Stammver¬
wandten und Nachbarn, denen die Wiederaufrichtung des griechischen Kreuzes
auf der Aja Sophia traditionell das höchste irdische Ziel ist; sie haben ferner
bei ihrem Sträuben gegen die Vereinigung mit Ungarn nie einen andern
Stützpunkt gehabt als die Habsburgische Dynastie und seit diese sich mit den
Magyaren versöhnt hat, auch in Wien keinen Rückhalt mehr. Zwischen
Kroaten und Magyaren haben endlich nur nationale, aber niemals religiöse
Gegensätze obgewaltet und diese sind es welche im östlichen Europa immer
in letzter Instanz entscheiden und in den Massen, die das Nationalitäts¬
princip nie recht verstanden haben, den Ausschlag geben. In der kirchlichen
Gemeinschaft der Rumänen, Serben, Bulgaren u. s. w. mit den Russen
liegt die eigentliche Gefahr des Panslavismus und aus diesem Grunde er¬
scheinen selbst untergeordnetere Differenzen zwischen Magyaren und deren
griechisch-orthodoxen Mitbürgern gefährlicher, als die ernstesten Händel mit
den zahlreicheren und an und für sich wichtigeren Kroaten. Kroatische
Klagen über magyarische Bedrückung verhallen ziemlich spurlos in Agram
und Fiume und werden nur der Form^ wegen in Neusatz, Prag und Moskau
nachgedruckt, während jede Beschwerde über Beeinträchtigung von Gliedern
der „ rechtgläubigen" Kirche bis an den Bosporus, das weiße und schwarze
Meer und den finnischen Meerbusen lebhaften Widerhall findet. Allen Be¬
mühungen der panslavistischen Schultheorie zum Trotz gilt dem gemeinen
Mann in Rußland, Rumänien, «Serbien und der Türkei immer nur der
Glaubensgenosse als slavischer Bruder; es ist darum völlig begreiflich und
gerechtfertigt, wenn man in Pesth ungleich größeres Gewicht auf die Vor¬
gänge und Stimmungen in Bucharest und Belgrad legt, als auf Alles, was
in Agram oder Prag geschieht*) und das neu erschienene östreichische Roth¬
buch hat durch die Ausführlichkeit mit welcher es auf diese Länder eingeht
in der That einem vorhandenen Bedürfniß wenigstens der ungarischen Reichs¬
hälfte entsprochen.
Mit dem breiten Raum verglichen, den das östreichische Rothbuch den
souzeränen Staaten der Pfordte widmet, ist der Abschnitt, welcher die türki¬
schen Zustände behandelt, ziemlich unbedeutend und flüchtig. Sehr viel deut¬
licher hat sich über die Trostlosigkeit der ottomanischen öffentlichen Zustände
Lord Stanley in selner Wahlrede ausgesprochen. Kaum jemals früher dürste
ein brittischer Minister so unzweideutig eingestanden haben, daß es mit
dem „kranken Manne" zu Ende geht, ein Umstand der von der officiellen
russischen Presse wiederholt und nachdrücklich hervorgehoben und utiMer accep-
tirt worden ist.
Das kühle Urtheil des leitenden englischen Staatsmanns über die in¬
nere Auflösung des türkischen Reichs steht mit dessen Sympathien für das
Nichtinterventionsprincip in engem Zusammenhange. Dieses Princip beginnt
mehr und mehr der Angelpunkt aller auswärtigen Politik Englands zu wer.
den und seine Anwendung auf das große orientalische Zukunftsproblem ist
vielleicht nur noch Frage >er ^eit. Schon vor Jahr und Tag behaupteten
die Münchner „historisch-politischen Blätter" mit der ihnen eigenthümlichen
Drastik, der Zeitpunkt sei nicht mehr fern, wo die brittischen Mammonsdiener
in der Hoffnung auf gesteigerten Absatz ihrer Baumwollwaaren die verarm¬
ten Türken fallen lassen wurden, um mit deren slavischen Feinden und Prä¬
sumption Rechtsnachfolgern Frieden und Freundschaft zu schließen. Wenn
es in der bisherigen Weise fortgeht, so ist nicht unmöglich, daß diese Pro¬
phezeiung sich verwirklicht. Eifrige Theilnahme an der continentalen Politik
galt in früherer Zeit für eines der Hauptmerkmale alt-englischer Torydoctrin;
heute fragt sich nur noch, ob Tories oder Whigs in ihrem Abscheu gegen
jede Betheiligung an europäischen Händeln weiter'gehen und auf welcher Seite
die Politik von 1853 am härtesten verurtheilt wird. — Stanley und Disraeli
haben mit den Reden, welche sie auf dem Bankett des Lord-Mayors hiel¬
ten, um ihren Glauben an Preußens deutsche Zukunft noch einmal zu be¬
kräftigen, wahrscheinlich ihr ministerielles Schwanenlied gesungen. Troiz aller An¬
strengungen der Tories und ihrer weitverbreiteten hochkirchlichen Bundesge¬
nossenschaft sind die nach dem Reformgesetz vorgenommenen Wahlen entschie¬
den whigistisch ausgefallen. Tories und Radicale sind aufs Haupt geschlagen
worden und trotz der Vermehrung der Wählerzahl um Hunderttausende von
Arbeitern gebieten die Gegner des Reformministers über eine Majorität von
Mindestens 110 Stimmen; John Stuart Mill, Milnar Gibson und Roebuck sind
der Concurrenz konservativer Gegner unterlegen — der traditionelle Charak¬
ter des englischen Unterhauses ist aus der Krisis des letzten Winters noch
siegreicher hervorgegangen, als aus dem großen Kampf von 1832.
Es gilt schon gegenwärtig für ausgemacht, daß, wenn die Opposition
ans Ruder kommt, John Bright neben Gladstone auf der Ministerbank Platz
finden wird. Bon dieser bevorstehenden englischen Staatsveränderung haben
wir Deutsche mithin für den Fall eines kriegerischen Zusammenstoßes
Nichts zu erwarten; der bloße Name des bekannten Manchestermannes ist mit
entschiedener Abneigung gegen Alles, was nach Krieg oder leisester Schädi¬
gung der Interessen des englischen Handels klingt, identisch und wir müssen
uns darauf gefaßt machen, das Nichtinterventionsprincip bis auf die äußerste
spitze getrieben zu sehen. Einem Politiker, dem kein Ausdruck zu stark war.
wenn es sich um die Verurtheilung eines Krieges handelte, dessen Unterlas¬
sung einen vollständigen und principiellen Verzicht auf Englands orientalische
Stellung und die Auflösung der türkischen Monarchie bedeutet hätte, einem
-Politiker dieser Art kann zugetraut werden, daß er selbst einer unbeschränkten
iranzösischen Herrschaft über Mitteleuropa unerschütterlich zusehen würde, so
Ange dieselbe nicht etwa Protectionistische Grundsätze für ihr Handels- und
^Mhschaftssystem adoptirte oder eine neue Continentalsperre ins Werk
letzte. Wenigstens für die nächste Zukunft zählt England in der großen eu¬
ropäischen Politik nicht mehr mit, mögen die Whigs oder die Tories die
Herrschaft behaupten. Diese Lücke in dem Concert unseres Welttheils wird
um so fühlbarer werden, als von kundiger Seite versichert wird, der Anspruch
Nordamerikas darauf, im Rath der europäischen Mächte anzustimmen, werde,
wenn General Grant in das weiße Haus zu Washington gezogen, mit be¬
sonderer Lebhaftigkeit aufgenommen werden. Die Wahl des Siegers von
Vicksburg kann als gesichert angesehen werden, obgleich sie ihr zweites Stadium
noch durchzumachen hat. Wohl läßt sich mit einiger Sicherheit voraussagen,
daß der republicanische Präsident, wenn er das Gewicht seines jungen Staats
in die europäische Wagschale wirft, zu Deutschland und nicht zu Frankreich
— dem weiland Verbündeten der südlichen Secessionisten — stehen werde,
die europäische Großmacht, welche am Meisten von amerikanischer Unter¬
stützung zu hoffen hat und im Gebiet der Union am populärsten ist, wird
aber nicht Preußen, sondern Rußland sein. Seit dem Triumphzuge, den der
Unterstaatssecretär Fox im I. 1866 durch Rußland hielt, ist kein Gedanke
in den beiden Staaten, welche die äußersten Endpunkte unserer Cultur¬
welt bilden, so populär, wie der eines engen Bündnisses zwischen der nord-
amerikanischen Republik und der russischen Autokratie. „Von der felsigen
Küste des finnischen Meerbusens bis an die flachen Ufer der Wolga" so heißt
es in einer 1866 veröffentlichten Betrachtung über Fox' russische Mission,
„tönen Iubelrufe zum Preise der großen Republik des Westens, bärtige
Mushiks von Twer und Nowgorod schwingen begeistert das Sternen¬
banner, Adelsmarschcille, Kammerherrn, wirkliche und gemeine Staatsräthe
schwärmen für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und Halt Columbia
ist ein russisches Volkslied geworden." Anderthalb Jahre früher hatten die
Officiere einer in New - U'ort ankernden russischen Escadre einen ähnlichen
Triumphzug durch das Gebiet der damals noch im Bürgerkriege liegenden
Union gemacht. Seitdem ist das Band zwischen der Nationalpartet in
Rußland und den nordamerikanischen Nepublicanern nur noch befestigt
und durch die Heranziehung angeblicher Analogien in der neueren Geschichte
beider Staaten enger gezogen worden. Dieselbe Rolle, welche die Re-
publicaner des Nordens als Sclavenbefreier in den Südstaaten gespielt
haben, nehmen die moskauer Demokraten sür ihre rettenden Thaten in
Polen und Litthauen in Anspruch und der mit ihnen verbündete rus¬
sische Protectionismus steift sich nicht wenig darauf, daß sein System
durch einen Bürger der Union (Carrey) wissenschaftlich begründet und
nirgend rücksichtsloser und konsequenter durchgeführt worden ist, als in dem
Vaterlande der Freiheit und der modernen liberalen Ideen. Die wirthschaft¬
liche Unfreiheit ist nach dieser Theorie das nothwendige Correlat demokra¬
tisch nationaler Entwickelung — Arm in Arm mit der Nation der occiden-
talen Zukunft marschirt das Volk des jungfräulichen Ostens an der Spitze
der Civilisation, die entartete europäische Culturwelt weit hinter sich lassend!
— Bei so bewandten Umständen kann es uns nicht Wunder nehmen, daß
Grant's Erwählung in der officiellen Petersburger Presse wie eine neue
Bürgschaft für die verheißungsvolle Zukunft der russischen auswärtigen Po¬
litik gefeiert dar'do Ob diese russisch-amerikanische enteilte eoräiale, wenn sie
dereinst erst.'to voller Blüthe steht, nicht England wieder in die Arme einer
thätigeren^heilnahme an den Geschicken unseres Continents zurückführen
wirdü.'^ F
Die Einheit jener großen Nationalpartei, welche sich schon vor 1859 ge¬
bildet hatte und in den folgenden Jahren die feste Stütze der Cavour'schen
Politik war. besteht längst nicht mehr. Auch Cavour hätte schwerlich auf die
Länge seine Getreuen zusammengehalten, und die Scenen, die er noch selbst
im Parlament mit Garibaldi hatte, kündigten bereits die erbitterte Fehde an
die seitdem um sein Erbe geführt wird. Es macht dem politischen Tact der
Italiener alle Ehre, daß sie es wenigstens damals verstanden das Vaterland
über die Secten zu stellen, daß dort, durch bittere Erfahrungen belehrt, alle
Parteien, die Monarchisten und Republikaner, Unitarier und Föderalisten
auf dem Boden eines Compromisses sich einigten, der so lange währte, bis
die Grundlagen der Wiedergeburt gesichert waren. Es hat allen Anschein
als ob es in Deutschland selbst in den entscheidendsten Momenten vergeblich
wäre, allen Parteien die Einsicht zuzumuthen. daß es Zeiten gibt, in wel¬
chen das Vaterland die oberste und einzige Rücksicht ist.
In Mailand ist dieser Tage eine Schrift erschienen, welche mitten in die
heiße Arbeit hineinblicken läßt, welche den patriotischen Agitatoren da¬
mals jene Vereinigung der Parteien kostete. Ausonio Franchi, der bekannte
Freidenker, hat nämlich die Correspondenz des unlängst verstorbenen Lafarina
herausgegeben, der erst Secretär, dann Präsident des Nationalvereins und
immer dessen Seele gewesen ist, treu in den Fußtapfen Mamin's wandelnd,
von welchem zuerst die Anregung zu jenem Compromiß ausging. Es gehörte
ganz diese unverwüstliche Arbeitskraft, diese selbstlose Hingebung an die Sache
dazu, wie Lafarina sie besaß, um den Einwendungen und Rechthabereien der
Parteien zum Trotz mit dem Grundsatz durchzuringen, daß man jeden Weg,
wenn er nur zum Ziele führe, einschlagen müsse, ob er zu den bisherigen
dogmatischen Glaubensbekenntnissen passe oder nicht. „Mit dem König von
Piemont, wenn er seine Krone für Italien einsetzt; wo nicht, nicht."
Aber dieselbe Publication ist zugleich ein sprechender Beweis, wie weit
entfernt Italien heute von jener freiwilligen und freundschaftlichen Neutrali-
tat der Parteien ist. Es fehlen in der Sammlung gerade solche Briefe, aus
welche der Leser vor allen gespannt ist, nämlich die Briefe Lafarina's an den
Marchese Giorgio Pallavicino, den ehemaligen Gefangenen des Spielberg,
und an Garibaldi, die beide mit ihm zusammen eine Zeitlang den National¬
verein leiteten. Sie fehlen, weil diese beiden fanatischen Parteimänner heute
nicht mehr daran erinnert sein wollen, daß sie einst zusammengingen mit der
Nationalpartei. Sie haben die Herausgabe der an sie gerichteten Briefe
verweigert, sie haben dieselben vielleicht vernichtet; ein wahrhaft klägliches
Verfahren, womit sie sicher den Verdiensten Lafarina's Nichts entziehen, der
später von wüthendem Hasse der Garibaldianer verfolgt wurde, das vielmehr
nur wider Diejenigen spricht, welche von ihren Schmeichlern als die leben¬
dige Verkörperung strenger Heldengröße und edler Bürgertugend sich preisen
lassen. So ist das Buch, eine Erinnerung an jene Zeit begeisterten Auf¬
schwungs, zugleich ein Denkmal heutigen Parteihasses geworden.
Nicht das ist zu bedauern, daß die Parteien seitdem sich wieder geschie¬
den haben. Das lag in der Natur der Sache. Sobald die Existenz des
Vaterlands gesichert war, trat die Partei wieder in ihr Recht. Aber das muß
von den Freunden Italiens beklagt werden, daß das Parteiwesen sofort
nicht nur einen leidenschaftlichen, sondern mehr noch, einen kleinlichen und
persönlichen Charakter angenommen hat, der einen geordneten Gang der
Staatsverwaltung überaus erschwert. Vergebens fragt man nach den gro¬
ßen Principien welche die Parteien scheiden. Es ist ein ununterbrochenes
Jntriguiren zu dem einen Zweck, das jeweilige Ministerium zu stürzen und
selbst seine Stelle einzunehmen. Nie ist es ein bestimmtes Programm, sei es
in den äußeren oder in den inneren Fragen, auf deren Grund diese oder
jene Partei die Gewalt beansprucht. Es erfordert freilich wenig Witz, Er¬
sparnisse in den Ausgaben zu verlangen oder Reformen in der Verwaltung
oder eine energische Politik in der römischen Frage. Wie aber diese schönen
Dinge verwirklicht werden sollen, auf diese Frage Pflegen die kühnen Refor¬
matoren die Antwort schuldig zu bleiben. Dieser fortwährende innere Krieg,
an welchem persönliche Eitelkeit oder Ehrgeiz den größten Antheil haben, hat
bisher die Organisationsarbeiten wesentlich gehemmt.
Seit der Verlegung der Hauptstadt nach Florenz ist dazu noch ein An¬
deres gekommen: ein Wiederaufleben des Municipalgeistes, der für immer in
der siegreichen Revolution begraben schien. Nicht als ob in den Provinzen
eine Reaction gegen die Form des Einheitsstaats sich bemerklich machte. Von
einer Agitation für die Restauration der Depossedirten, von föderalistischen
Programmen ist in Italien keine Rede, der Geschmack für solche Liebhabereien
ist den Italienern ein für alle Mal vergangen. In Palermo allein regt sich
dann und wann der Geist einer trotzigen Autonomie, der an das Mittelalter
erinnert. Aber von ernster Bedeutung sind diese Regungen schon deshalb nicht,
weil Palermo damit auf der Insel selbst völlig isolirt steht.
Die holde Unwissenheit deutscher Doktrinäre beruft sich zuweilen auch
auf Italien, um an ihm die unseligen Folgen des centralisirten Einheits¬
staats zu erweisen. Man beliebt dann das italienische Volk als seufzend un¬
ter dem piemontesischen Corporalstock. als eingeschnürt in die straffen Formen
des piemontesischen Regiments darzustellen; anstatt daß Piemont aufgegan¬
gen sei in Italien, sei vielmehr dieses in Piemont untergegangen. Das ge¬
naue Gegentheil ist die Wahrheit. Die üble Lage Italiens rührt zum gro¬
ßen Theil daher, daß es allzufrüh vom Hegemoniestaat sich emancipirt und
diesen damit in die Opposition gestoßen hat. Jeder Vorrang irgend einer
Provinz hat längst aufgehört und alle Provinzen sind zufrieden mit dieser
Form des Staats, alle mit Ausnahme von Piemont. Seit der Verlegung
der Hauptstadt macht diese Provinz der Regierung, und zwar einer jeden,
einen unversöhnlichen Krieg, der bis heute noch Nichts von feiner Bitterkeit
verloren hat. Keine Appellation an den Patriotismus will fruchten, jeder
Versuch einer Verständigung ist bisher gescheitert. Nur der ewigen Stadt
will Turin seinen Rang abtreten. Die loyale Residenz der savoyischen Könige
ist unter die Garibaldianer gegangen. Straßendemonstrationen, revolutionäre
Rufe, sonst hier unerhört, haben sich seitdem eingebürgert. Graf Ponza ti
San Martino, der sonst genannt wurde, wenn ein Cabinet von streng con-
servativer Färbung gebildet werden sollte, ist das Haupt der permanenten
Association, die mit der Linken sich zum Sturz der Regierung verschwört
und mit ihr in den Ruf Koma Oaxitale! einstimmt. Durch dem Abfall die.
ser Piemontesen von der großen conservativen Partei ist vollends Confusion
in das Parteiwesen gekommen. Es ist durch locale. ebenso wie durch per¬
sönliche Motive vergiftet und die Regierung empfindet es schwer, daß die geg¬
nerischen Parteien durch die Opposition derjenigen Provinz verstärkt sind, die
doch immer noch die stärkste und gewichtigste ist und deren Schmollen der
Staat in der That nicht auf die Länge ertragen kann. Es ist klar, wie
auf diese Weise schon vom Gesichtspunkt der inneren Politik eine Lösung
des römischen Problems zu einer Lebensfrage des Staats geworden ist.
Es ist ein Zufall, daß die wieder zusammengetretene Kammer gleich inrer
zweiten Sitzung sich mit Rom beschäftigt hat. Daran trug der heilige Vater
selbst die Schuld, dessen Regierung den Tag der Parlamentseröffnung zu
Florenz in ihrer Art durch die Hinrichtung zweier politischer Verbrecher feiern
zu müssen glaubte. Aber auch ohne diesen Zwischenfall war die römische Frage
von der Opposition längst als einer der Hauptangriffspunkte gegen das Mi¬
nisterium Menabrea ausersehen. Die Hinrichtung auf der Piazza de' Cerchi
War eher ein günstiger Umstand für das Ministerium, sofern sie demselben
"
Veranlassung gab Gefühle auszudrücken, welche mit denen sämmtlicher Parteien
übereinstimmten. Doch wurde der Beschluß, der einer Vertrauenserklärung
für Menabrea gleichkommt, nur mit kleiner Mehrheit gefaßt. Jedenfalls ist
die stürmische Sitzung vom 23. nur das Vorspiel zu einem ernsteren
Gange.
Aber es ist schwer zu sagen was die Linke damit eigentlich erreichen will.
Zu der Taktik der extremen Parteien, die in Italien nicht schlechter und nicht
besser sind als überall, gehört es, dieses Ministerium als einen Ausbund von
reactionärer Gesinnung, als ein gehorsames, sclavisches Werkzeug der französischen
Politik darzustellen. Der Ruf: adg,s80 it miuistsro! darf überhaupt niemals
fehlen, gleichviel wer die wenig beneidenswerthen und doch vielbegehrten Sitze
inne hat. In Wirklichkeit ist das Ministerium Menabrea, obwohl es eine eonser-
vativere Färbung hat als seine Vorgänger, so correct verfassungsmäßig gewesen
als diese und es hat sich auch in der römischen Frage, obwohl nach Mendana
ins Amt getreten, immer zu denselben Grundsätzen bekannt, wie Cavour
und dessen sämmtliche Nachfolger. Auch seine Meinung ist, daß die Einheit
Italiens erst auf dem Capitol vollendet sein wird, daß aber nur moralische
Mittel zu diesem Ziele fuhren und daß es nur im Einverständniß mit Frank¬
reich erlangt werden könne. Erst unlängst hielt der Minister Broglio vor
seinen Wählern in Bassano eine Rede, worin er ganz unumwunden den
Besitz Roms als Ziel der italienischen Politik hinstellte. Der hartnäckige
Widerstand L. Napoleon's und die thatsächliche Abhängigkeit von dessen Willen
wird von dem Ministerium ohne Zweifel noch viel lebhafter empfunden, als
von den Ungeduldigen, die ihm vorwerfen nach der Pfeife der Tuilerien zu
tanzen. Die Zeiten der herzlichen Allianz sind längst vorbei; was von ihr
übrig, ist wenig mehr als verhaltener Haß und wenn die „Consorterie"
dennoch an dem Bündniß mit Frankreich festhält, während die Linke offen
ihre Sympathien für Preußen ausspricht, so geschieht jenes nicht, weil man
auf der conservativen Seite Sympathien für Frankreich hätte — diese sind
jetzt dünn gesät in Italien — sondern einfach weil Frankreich thatsächlich
die Gewalt in der römischen Frage besitzt, weil ein Bruch Italiens mit
Frankreich unter den jetzigen Umständen unmöglich ist und, wenn versucht,
jedenfalls nur dazu dienen würde, die französische Herrschaft die im Mittel¬
punkt Italiens aufgerichtet ist zu befestigen. Man weiß daß es an Sym¬
pathien für die preußische Allianz auch den Staatsmännern der Consorterie
nicht fehlt, wenn ihnen auch eine darauf gebaute Politik — ohne Zweifel
mit Recht — für jetzt nicht praktisch erscheint. ^.
Das Ministerium sieht daß irgend ein Schritt in der römischen Frage
geschehen muß, aber es muß gleichzeitig die Unmöglichkeit bekennen diesen
Schritt von den Tuilerien zu erzwingen. Das ist eine schwierige, unleidliche
Lage, aber das Ministerium hat sie nicht geschaffen, sondern vorgefunden.
Daß das französische Banner heute auf der Engelsburg weht, ist nicht
Menabrea's Schuld, sondern das gemeinsame Verdienst Garibaldi's und
Rattazzi's. Die Unbesonnenheit des Einen und die Zweideutigkeit des Anderen,
der hinter den Rothhemden in Rom einschleichen wollte, hat die Franzosen
wieder nach Rom zurückgerufen und damit die römische Frage auf den Punkt
zurückgeworfen, aus welchem sie vor dem Septembervertrage stand. Man
sollte jetzt wenigstens darüber belehrt sein, auf welchem Wege man Rom nicht
gewinnt. Nämlich nicht durch einen Freischaarenzug und durch den Bruch von
Verpflichtungen, infolge deren das große Resultat des Abzugs der Franzosen
aus Italien bereits erreicht war. Die Linke geht nun mit der Absicht um
von der Regierung zu verlangen, daß sie den Septembervertrag in Folge
der Rückkehr der Franzosen für erloschen, für null und nichtig erkläre, damit
ihr für irgend welche künftige Eventualitäten die Hände nicht gebunden seien.
Jetzt nach der Hinrichtung vom 25. Nov. hat sie noch ein weiteres Motiv
für diese Taktik. Allein diese Taktik läuft doch nur auf ein negatives Re¬
sultat hinaus; es wäre Nichts damit gewonnen, als etwa das Aufhören der
Zahlungen für den italienischen Antheil an der vormals päpstlichen Schuld.
Ein positives Resultat strebt das Ministerium an, indem es auf irgend eine
Weise den Septembervertrag erneuern und damit die Verpflichtung der Fran¬
zosen zum Abzug wiederherstellen will. In der That ist nicht wohl abzusehen
wie ein Fortschritt in der römischen Frage möglich ist, ohne daß zuvor wieder¬
hergestellt wird, was bereits erreicht war und durch Garibaldi's Römerzug
wieder verscherzt ist. Bis jetzt sind freilich alle Anstrengungen des Ministe¬
riums in dieser Richtung vergeblich gewesen. Weder das Angebot der ein¬
fachen Erneuerung des Septembervertrags, noch das Angebot eines moäus
vivenäi hat L. Napoleon angenommen, und ebensowenig hat durch das
Finanzprotokoll vom 31. Juli 1868, die Zahlung der päpstlichen Schuld be¬
treffend, irgend ein Zugeständniß erlangt werden können. Man müßte denn
als solches das päpstliche Decret betrachten, durch welches jüngst eine erheb¬
liche Herabsetzung der Zölle auf Gegenstände des gewöhnlichen Verkehrs
angeordnet worden ist: eine Maßregel, welche allerdings der Bevölkerung in
den benachbarten italienischen Gebieten zu statten kommt und den Grenz¬
verkehr erleichtert. Diese Unmöglichkeit irgend einen namhaften Erfolg auf¬
zuweisen, macht die Stellung des Ministeriums gegenüber der Kammer über¬
aus schwierig. Allein diese wird zu erwägen haben, ob ein anderes Ministe¬
rium glücklicher gewesen wäre oder mehr Aussichten hätte die Tuilerien günstig
zu stimmen. Daß ein Cabinet der Linken diese Aussichten nicht hat, liegt
auf der Hand.
Die römische Frage ist zwar die gewichtigste, aber doch nur eine von
den vielen, welche sich die Opposition während der Ferien zurechtgelegt hat,
um mit ihnen den Sturm auf das Ministerium zu unternehmen. Schon über
die außerconstitutionelle Zusammensetzung desselben will die Linke wieder
Klage erheben. Auch durch die seit der letzten Session vorgenommenen Ver¬
änderungen hat nämlich das Ministerium von Mendana Nichts gethan, den
„Fehler seines Ursprungs" zu verbessern. Cantelli für das Innere. Ludovico
Pasini (der Bruder von Valentino, dem Diplomaten Mamin's) für die öffent¬
lichen Arbeiten sind aus dem Senat, nicht aus der Wahlkammer genommen.
Indessen haben sie sich wenigstens nachträglich um Sitze in dieser beworben
und dieselben erlangt. Auch sind Viele der Meinung, daß es eher ein Ge¬
winn als ein Schaden für die Regierung sei, wenn sie Mitglieder gewinnt
von jungfräulicher Reinheit, unberührt durch die unerquicklichen und ver¬
bitterten Parteikämpfe der Kammer.
Eine andere Beschwerde bilden die Bedingungen der Emission der 180
Millionen Obligationen aus dem Verkauf des Tabaksmonopols. Lanza,
welcher der Hauptgegner dieses Gesetzes war, ist auch dazu bestimmtes aufs
Neue zur Sprache zu bringen. Es ist wahr, jene Bedingungen sind ungünstig
genug; die Frage ist nur auch hier, ob ein Ministerium der Linken günstigere
Bedingungen erzielt hätte und überhaupt der Geschäftswelt größeres Ver¬
trauen einflößen würde.
Ferner schwebt noch immer der Streit über die Reform der Verwaltung,
nachdem seit sieben Jahren über diese Frage eine Reihe von Vorschlägen ge¬
macht, Commissionen niedergesetzt und Berichte erstattet worden sind, die bis
jetzt alle schätzbares Material geblieben. Jetzt soll die Sache zur Erledigung
kommen, nachdem die Mittelpartei nur unter der Bedingung dieser Reform
den Finanzplänen des Ministeriums ihre Zustimmung ertheilt hat. Auf einen
von Bargoni (welcher der genannten Partei angehört) vorgelegten Entwurf
wird sich ohne Zweifel die Mehrheit der Kammer vereinigen, während die
Linke an dem Project des früheren Ministers Cadorna festhält, welches nur
unwesentliche Modifikationen in der bisherigen aus Piemont herübergenom¬
menen Gesetzgebung einführen will. Bargoni's Entwurf ist radikaler und
beseitigt namentlich die Unterpräfecturen, an deren Stelle Regierungs¬
delegationen für kleinere Bezirke von 40 — 50,000 Seelen treten und
mit welchen zugleich die bisherigen kostspieligen Finanzämter verschmolzen
werden sollen.
Endlich hat man noch eine besondere Beschwerde gegen den früheren
Minister für die öffentlichen Arbeiten wegen einiger Verträge mit der Süd-
vahngesellschast. Sie betreffen die Abänderung projectirter Eisenbahnlinien
in Unteritalien und haben in einigen Gegenden, die durch diese Abänderung
venachtheiltgt sind, namentlich in den Städten Campobasso und Riedl sehr
böses Blut gemacht. Die Sache wurde gleich in der ersten Sitzung vorläufig
angeregt.
So scheint denn die Minister eine ziemlich dornenvolle Session zu er¬
warten. Ob sie aus allen Fährlichkeiten siegreich hervorgehen werden, ist
eben bei der Zersplitterung der Parteien schwer mit Sicherheit vorauszusagen,
und das ist es, was den Gang der Staatsmaschine nicht aus einer gewissen
Unsicherheit herauskommen läßt. Die Rechte ist zwar die stärkere Seite des
Hauses, aber die Mehrheit ist nicht bedeutend und vor Allem nicht eompact;
ein Zufall kann neue Gruppirungen schaffen; freilich ist die Linke noch viel
weniger eine geschlossene Partei.
Rechnet man, daß bei wichtigeren Fragen etwa 300 und etliche Mit-
glieder zugegen zu sein pflegen, so wird man auf die vereinigte Linke 130—
140 Stimmen rechnen dürfen. Das Gros derselben bilden die Abgeordneten
aus den südlichen Provinzen unter Führung des Sicilianers Crispi. eine
Partei von etwa 100 Mitgliedern. Ihr Organ ist die Riforma. Davon zu
unterscheiden ist das Häuflein der Mazzinisten, das wenig über ein halbes
Dutzend stark der Leitung des Dr. Bertani folgt, in der Unita italiana sein
Organ hat und das durch seine Talente nicht schwerer ins Gewicht fällt
als durch seine Zahl. Es sind die Republicaner, während Crispi entschieden
sein monarchisches Glaubensbekenntniß abgelegt und sich dadurch „möglich"
gemacht hat. Eine dritte Gruppe sind die Permanenten, ihr Haupt der Graf
Ponza ti San Martino, ihr Hauptredner, schwülstig und phrasenhaft, der
turiner Advocat Ferraris. Es sind die schmollenden Piemontesen, zwanzig
an der Zahl, ihr Organ die Turiner Volkszeitung. Eine vierte Gruppe hat
sich unter Lanza und Sella bei der Abstimmung vom 8. August über das
Tabakgesetz von der Rechten getrennt und wird in dieser Session zur Linken
zu rechnen sein. Endlich ist Rattazzi, den Mendana in die Opposition ge-
worfen hat, hier zu nennen, eine Partei für sich, coquettirend mit allen anderen,
unberechenbar, der Nachfolger in sps eines jeden Ministeriums und je nach
den Umständen gerade wegen seiner Geschmeidigkeit die bequemste Auskunft,
obwohl er bei Vielen der Linken so verhaßt ist wie bei der Rechten.
Die Rechte wird zum größten Theil von jener rein ministeriellen Partei
gebildet, die bisher die Hauptstütze aller Ministerien war und die Trümmer
der Cavour'schen Mehrheit in sich begreift. Ihre Führer sind die Patrioten
von 1860, die Männer der Annexionen: Ricasoli, Peruzzi, Minghettt, Vis-
contt-Venosta, Spaventa, Pisanelli u. s. w. Die Hauptorgane dieser Partei,
der Consorterie, sind die Nazione in Florenz und die Perseveranza in Mai¬
land. Es ist bemerkenswsrth, daß fast alle venetianischen Abgeordneten
dieser Partei beigetreten sind. Es hätte den Venetianern widersinnig ge¬
schienen, blos dazu den Anschluß an den Nationalstaat zu vottren, um sich
innerhalb desselben sofort auf den bequemen Fauteuils der Opposition nieder¬
zulassen. Oberitalten. Toscana und die Emilia bilden das Hauptcontingent
dieser Gruppe, in welcher noch immer der Schwerpunkt des Parlaments ruht.
Sie wird verstärkt durch die sogenannte dritte Partei, teriZv xartito, aus
etwa 20 Abgeordneten bestehend, die, früher der Linken angehörig, später eine
Mittelstellung einnahmen und jetzt der Rechten beizuzählen sind. Namentlich
am 8. August waren sie es, welche den Sieg des Ministeriums entschieden.
Dieser Uebergang einer gemäßigten Demokratie zur Partei der Regierung
ist ebenso bezeichnend als der Uebergang der hochconservativen Piemontesen
zu den Garibaldianern. Führer dieser Partei ist Mordini, das konservativ
gewordene einstige Haupt der Linken; auch an Bargoni, Correnti u. A.
besitzt sie hervorragende Talente, wie sie überhaupt eine Zukunft hat. Ihr
Organ ist der Diritto.
Endlich hat sich bei der Abstimmung vom 23. Nov. noch eine kleine
clericale Partei gezeigt, als deren Wortführer der Prof. der Philosophie in
Pisa, A. Conti, auftrat. Zu dieser Gruppe, die 8—9 Mitglieder zählt, ge¬
hört auch der bekannte Palermitaner Baron d'Ortes Reggio.
Es mag noch erwähnt sein, daß sich auch in Italien lebhaft das Be¬
dürfniß geltend gemacht hat, durch einfachere Formen aus den schleppenden,
zeitraubenden Gewohnheiten des französischen Constitutionalismus herauszu¬
kommen. Die Geschäftsordnung war in dieser Beziehung um so mangel¬
hafter, als der Italiener sich im Uebermaß gern sprechen hört und bei wich¬
tigeren Fragen wo möglich ein Jeder zum Wort kommen will, wo möglich
Jeder auch seinen besonderen Antrag stellen zu müssen glaubt. Es kommt
vor, daß ein Redner — so Rattazzi nach Mendana — nicht weniger als
drei Sitzungen braucht, um seine Rede zu vollenden! Solchem Drange ist
nun freilich schwer durch die Geschäftsordnung ein Damm entgegenzusetzen.
Aber immerhin ist schon dies ein Fortschritt, daß der übermäßige Zeitverlust
von allen Seiten gefühlt und anerkannt worden ist. Man hat eine Com¬
mission aus bedeutenden Mitgliedern aller Parteien niedergesetzt, die Wochen
und Monate auf das Studium der englischen Geschäftsordnung verwandt
und nach diesem Vorbild die eigene zu reformiren versucht hat. Lanza war
Vorsitzender. Massari Berichterstatter dieser Commission. Nach ihren Vor¬
schlägen sollen künftig die Wahlprüfungen nicht mehr vom Plenum des
Hauses vorgenommen werden, weil sich herausgestellt hat, daß gewöhnlich
schon diese Gelegenheit zu politischen Reden benützt und die Entscheidungen
mehr nach politischen als nach juridischen Gründen getroffen wurden. Die
Prüfung der Wahlen soll deshalb künftig einem Ausschuß von 12 Mit-
gliedern zustehen. Gerade dieser Punkt stieß aber auf lebhaften Widerspruch,
als in der ersten Sitzung die neue Geschäftsordnung en divo angenommen
werden sollte und man behielt sich weitere Berathung darüber vor, während
man beschloß es im Uebrigen provisorisch mit dem neuen Reglement zu ver¬
suchen. Von den sonstigen Aenderungen desselben ist die wichtigste die Ab¬
schaffung der durch das Loos gewählten 9 Abtheilungen (uKH), die das erste
Stadium waren, das jeder Gesetzesvorschlag zu passiren hatte. Ersetzt sollen
sie werden durch die allerdings eigentlich einem ganz anderen Zweck dienende
englische Einrichtung des Comites des Hauses. Auch in Italien soll künftig
die Kammer als Privatcomite' berathen können unter einem zeitweiligen
Vorsitzenden, der vom Kammerpräsidenten verschieden ist; es genügt die An¬
wesenheit von 30 Mitgliedern. Der Unterschied ist nur, daß in England die
Berathung im Comite' stattfindet, wenn ein Gesetz nach seinem allgemeinen
Inhalt bereits im Plenum genehmigt ist und nun seine Einzelheiten fest¬
gestellt werden sollen, während in Italien die Berathung des Privatcomite's
das Erste ist. Dann wählt das Comite einen Ausschuß, der Ausschuß macht
einen Bericht, der Bericht wird gedruckt, binnen 24 Stunden vertheilt und
die Berathung im Hause ist dann, genau wie jetzt, erst die allgemeine, dann
die specielle Debatte. Der Unterschied reducirt sich also im Ganzen darauf,
daß an die Stelle der bisherigen 9 durch den Zufall gebildeten Abtheilungen
eine einzige Abtheilung tritt, in welcher alle Abgeordneten zugleich sein
können und voraussichtlich diejenigen sein werden, die sich besonders für den
Gegenstand interessiren. Ob damit Zeit gewonnen wird, steht noch dahin.
Man fürchtet namentlich, daß die Verhandlungen des Comites leicht unge¬
regelt und turbulent und die Wahl der Ausschüsse schwieriger sein werde.
Indessen mag darüber die Erfahrung entscheiden. Die bisherige Geschäfts¬
ordnung scheint derart gewesen zu sein, daß jede Aenderung als solche er¬
wünscht ist.
Die Artikel d. Bl. über die Parlamentsreform waren geschrieben, ehe
die Wahlen zum neuen Parlament begonnen hatten.
Es wurde darin behauptet 1) daß Disraeli's Rechnung, eine konser¬
vative Majorität zu erhalten indem er die Liberalen überbot und die nicht¬
besitzenden Arbeiter der Städte zum Wahlrecht zuließ, falsch sei und er viel¬
wehr für seine Gegner gearbeitet haben werde; 2) daß auch die Radicalen,
Welche Disraeli geholfen die Bill durchzubringen, in ihren Erwartungen sich
getäuscht sehen würden, daß vielmehr das nächste oder zweite Parlament sich
in seiner Zusammensetzung nicht sehr von dem bisherigen unterscheiden werde
und in demselben weder die philosophischen Radicalen wie Mill und.Fawcett
noch die Arbeiter viele Vertreter haben würden; 3) daß dies aber Nichts
für die Unschädlichkeit der Reform beweise, vielmehr erst abzuwarten sei, wie
sich das neue Parlament entwickele und ob nicht die Agitation, wenn trotz der
Wahlreform die Zusammensetzung des Unterhauses dieselbe bleibe, sich gegen
die konservativen Grundlagen der Gesellschaft wenden werde; 4) daß sehr
Viel von dem Verhalten Gladstone's abhängen werde und seine bisherige
Taktik gerechte Bedenken einflöße, ob er den richtigen Weg einschlagen
werde; 5) daß eine starke conservative Partei für England eine Nothwendig¬
keit sei, dieselbe aber Disraeli's Führerschaft abschütteln müsse.
Wir meinen richtig prophezeit zu haben. g,ä 1) hat Disraeli sich verrechnet;
die liberale Partei ist aus den Wahlen mit einer Majorität hervorgegangen,
wie sie kaum je zuvor dagewesen: bis jetzt gehören ihr 383 Mitglieder an,
während die Conservativen nur 269 zählen; die einzelnen Nachwahlen werden
dies Resultat nicht ändern. Dies ist der Erfolg der Mittel, die Lord Derby
anwandte um seine Minorität in eine Majorität zu verwandeln; die Con¬
servativen gaben ihre Traditionen auf und verbündeten sich mit den Radi¬
calen um 50 Stimmen zu verlieren. So rächt sich die Principienlosigkeit.
Wir sagten voraus, daß Disraeli's macchiavellistische Politik, sich auf die
Massen gegen die intelligente Mittelclasse zu stützen, keinen Erfolg haben
werde, weil in England bis jetzt noch die Vorbedingungen des Cäsarismus
fehlten, nämlich eine allmächtige Bureaukratie und gleiches Wahlrecht für Stadt
und Land. Wäre England in gleich große Wahldistricte getheilt und wäre
auch auf dem Lande schon das Haushalterwahlrecht eingeführt, so hätte er
vielleicht mehr Erfolg gehabt; bis jetzt aber wird die Mehrheit der Parla¬
mentsmitglieder von den Städten gewählt und die Herabsetzung der Graf-
schastsqualisication hat nur die Folge gehabt liberalen Elementen Einfluß zu
geben: so haben z. B. die Conservativen Esser fast ganz verloren, das ihnen
seit Menschengedenken gehörte. In den Städten hatte die Arbeitermajorität
durchweg liberal gewählt; die Fiction des conservativen Arbeiters, womit
die Regierungspresse so viel Lärm gemacht, die Behauptung, daß wenn
man nur tief grabe man auf eine Toryschicht in der Bevölkerung komme,
ist zerstört; Lord Shaftesbury, welcher durch lebenslängliche philanthropische
Bestrebungen das Volk kennt, hat Recht behalten als er in der Reform¬
debatte des Oberhauses sagte, es sei Träumerei zu glauben, daß die Hand¬
werker eine geheime Neigung für die Aristokratie hätten. Auch die Halb¬
liberalen, welche Disraeli 1866 halfen Gladstone zu stürzen, sind durch die
Wahlen gerichtet: nur zwei von den 21 Adullamiten sind wieder gewählt:
Lord Grosvenor, weil seine Familie in Ehester durch ihren Reichthum all-
mächtig ist, und Löwe von der londoner Universität, weil er ein radikales
Programm für die Erziehungsreform aufgestellt.
Disraeli macht sich selbst keine Illusion mehr über seine Niederlage:
seine Wahlrede in Buckinghamshire, eine der wenigen unciffectirten und
Würdigen Reden die er gehalten, ist mehr die Apologie eines Ministers der
sich zurückziehen muß, als das Programm eines Führers der sich zu behaupten
gedenkt und die Verleihung des Titels einer „Vieountk-js ok Leaeonsüvlä"
an seine Gemahlin, da er selbst die Peerswürde abgelehnt, weil er noch
Führer der Opposition im Unterhaus zu bleiben gedenkt, ist offenbar ein
Zeichen der Sympathie seiner königlichen Gebieterin um ihn über die Nieder,
läge zu trösten.
aÄ 2) Die radicale Partei hat nicht nur keine Fortschritte gemacht, son¬
dern eine Niederlage erlitten, welche unsere Voraussicht weit übertroffen;
nicht blos ist kein einziger Arbeitercandidat gewählt, nicht blos sind die Führer
der Reformliga, Beates, Bradlaugh, E. Jones u. s. w. durchgefallen, sondern
mehrere hervorragende Radicale, vor allem Mill, haben ihre Sitze verloren.
Daß kein Arbeiter gewählt wurde, ist in mancher Hinsicht zu bedauern; ein
befähigter Vertreter des Standes wäre wahrscheinlich instructiver zu hören
gewesen, als die Theoretiker, die bisher für die Interessen der Arbeiter oft
ziemlich sentimental plaidirt haben. Aber daß die Arbeitercanditaten nirgends
durchgedrungen, daß auch in Chelsea Odger sich vor einem Baronet zurück¬
ziehen mußte, bleibt doch sehr charakteristisch für das große Publicum, welches
offenbar noch dem Vorurtheil huldigt, daß ein unabhängiger Gentleman
besser zum Vertreter geeignet sei, als ein Mann, der auf seiner Hände Arbeit
angewiesen ist. Am merkwürdigsten ist, daß in den schottischen Städten, welche
durchweg liberal gewählt haben und durchschnittlich wohl die gebildetsten
Arbeiter im Königreich haben, nicht einmal ein Candidat des Standes aus¬
gestellt ihl.
Im Gegentheil erklärte das bedeutendste schottische Blatt, der Scots-
Man: „Es ist ein principieller Trugschluß anzunehmen, daß, um die poli¬
tischen Ansichten dieses Landes zu repräsentiren. nothwendig sei, Vertreter
einer besonderen Classe zu wählen und es ist ein thatsächlicher Irrthum an¬
zunehmen, daß es thunlich sei, Personen, welche für ihr tägliches Brod von
ihrer täglichen Arbeit abhängen, zu Gesetzgebern zu wählen/' Ob dies die
herrschende Stimmung bleiben wird, wenn andere Fragen die Arbeitermassen
bewegen werden, ist allerdings abzuwarten, augenblicklich herrscht sie un¬
leugbar. Noch mehr für die Gesundheit des öffentlichen Urtheils beweist es,
daß keiner der Führer der Liga gewählt ist; die Arbeiter mögen den rich-
ttgen Jnstinct gehabt haben, daß solche Demagogen gut genug als Agita¬
toren, aber nicht in der verantwortlichen Stellung von Volksvertretern zu
brauchen seien. Auch die Niederlage Mill's, eines Mannes von ganz ande¬
rem Schlage, können wir nicht bedauern, weil er im Parlament durchaus
nicht an seinem Platze war. Es hat uns trotz alles seines Talentes, trotz¬
dem daß er sich in unerwarteter Weise als schlagfertiger Redner zeigte, immer
einen trüben Eindruck gemacht, ihn im Parlament zu beobachten. Mit Uhr¬
werksregelmäßigkeit erschien er aus seinem Platze zugleich mit dem Sprecher
und wich nicht bis die Sitzung zu Ende war; aber er blieb ohne jeden Einfluß,
das Haus wußte die Feinheit seiner Argumentation nicht zu würdigen, son¬
dern verstand nur die Sonderbarkeit der Schlüsse, zu denen er kam. Seine
Vertheidigung des weiblichen Stimmrechts, das wilde Project der Land¬
vertheilung in Irland und persönliche Taktlosigkeiten bei den Wahlen, wie
die Empfehlung des seichten Atheisten Bradlaugh, haben sein politisches An¬
sehen nicht gefördert und so war es nicht zu verwundern, daß er von der
Wählerschaft von Westminster, die ihn 1863 als unbekannte Größe gewählt,
gegen einen konservativen Zeitungsagenten unterlag. Das Land wird dabei
Nichts verlieren und Mill selbst entschieden gewinnen, indem er sich seinen
Studien wieder ausschließlich widmen kann. Er ist unstreitig einer der be¬
deutendsten Denker und Schriftsteller unserer Zeit, obwohl sein Scharfsinn
ihn oft auf Wege führt, welche dem praktischen einfachen Verstände als Ab¬
wege erscheinen; jedenfalls wird ein kleines neues Buch von ihm mehr werth
sein, als seine ganze parlamentarische Thätigkeit. — Das Resultat der Wahlen
ist also im Ganzen genommen, daß der Charakter des neuen Parlaments
derselbe sein wird, wie der des letzten; höchstens wird es etwas ernsthafter
hergehen, da gerade die kaustischer Sprecher Osborne und Roebuck und die
wider Willen komischen Herren Darby Griffith und Serjeant Gasedee fehlen,
so daß der Witz künftig durch Löwe und Disraeli ziemlich allein vertreten
sein wird. Von bedeutenderen Männern sind nur Milner Gibson, Roebuck,
Lushington und Bruce durchgefallen, sonst sind die alten Mitglieder wieder¬
gewählt; die neuen Wählerschaften haben nicht, wie die Radicalen prophe¬
zeiten, verlangt, Leute eines ganz neuen Schlages als Vertreter zu haben.
aÄ 3. Dagegen bezweifelten wir ob dies so bleiben werde und thun
dies noch. Ob wir irren, kann freilich erst die Zukunft lehren; indeß fehlen
Argumente für unsere Ansicht nicht. Die Partei der Radicalen, welche das
treibende Element in der Neformfrage war und die größten Hoffnungen aus
das Haushalterwahlrecht gesetzt, kommt getäuscht, gedemüthigt und erbittert
aus der Wahlschlacht. Kein Arbeiter gewählt, Mill verstoßen, die Führer
der Liga ignorirt, dafür Tories in Liverpool, Manchester, Blackburn, Ashton,
Salsord und Westminster gewählt, das kann ihnen nicht passen. Vielleicht
wäre es im allgemeinen Interesse nicht so übel gewesen, wenn einige der
Schreier gewählt wären; ihr Volksrednerruhm würde im Parlament rasch
zu der verdienten Unbedeutendheit zusammengeschrumpft sein: die Herren
v. Schweitzer, Bebel und Liebknecht thun im Reichstag- weit weniger Schaden,
als wenn sie draußen geblieben wären und nun über die Ausschließung ihrer
Partei declamiren könnten. Wie die Sache jetzt steht, darf man nicht glauben,
daß die Radicalen sich bei dem Resultat zufrieden geben werden. Sie haben
zu ihrer Enttäuschung gesehen, daß sie bei einem allgemeinen Appell an den
Liberalismus des Landes niemals das Parlament bekommen werden, nach
welchem sie streben; sie werden daher darauf bedacht sein, solche Fragen aus
die Tagesordnung zu bringen, welche die arbeitende Bevölkerung zu einer
Partei gegen die Mittelclassen vereinigen, könnten. Zunächst wird wohl bei
der Correctur der Reformbill das Ballot, die geheime Abstimmung, zur
Sprache kommen. Unserer Ansicht nach ist es eine Täuschung, davon Hilfe
gegen Bestechung und Einschüchterung zu erwarten, welche sich auf beiden
Seiten trotz der neuen Bill gegen beides bei den letzten Wahlen so breit
gemacht haben; es wird nur zu mehr Heuchelei und zur Unterdrückung der
freien Discussion führen. Indeß, wie auch die Entscheidung darüber aus¬
fallen mag, für politische Machtfragen herrscht in den unteren Schichten der
Gesellschaft geringes Interesse, man kann sie in ihrer Tiefe nur aufrühren
durch religiöse, nationale oder ökonomische Fragen. Kirchliche Fragen von
Belang können die Radicalen augenblicklich nicht anbringen; was die irische
Kirche betrifft, so hat sie unter den arbeitenden Classen wahrscheinlich eben¬
soviel Anhänger als Gegner, das no popvi^ findet im ungebildetsten Theile
des Volkes noch am meisten Anklang. Auch die einzige nationale Frage
die sie angeregt: „Gerechtigkeit für Irland", hat keine Sympathie unter den
Arbeitern, welche vielmehr die Jrländer hassen, weil dieselben geringeren
Lohn nehmen und ihnen den Markt verderben. Aber um so empfänglicher
werden sie für ökonomische Fragen sein und daß die Radicalen damit um¬
gehen, diese aufs Tapet zu bringen, läßt sich schon aus den neuesten Reden
von Bright schließen; a, trss dreal:kg.se tadle ist der Ruf den er erhebt: die
Zölle auf Thee, Kaffee und Zucker sollen abgeschafft werden. nationalöko-
nomisch kann es nichts Verkehrteres geben, als diese Loosung; die englische
Steuergesetzgebung ist nach den großen Reformen Peel's und Gladstone's
musterhaft, alle nothwendigen Bedürfnisse, wie Fleisch, Getreide, Milch,
Kleidungsstücke u. f. w. sind vollkommen frei; England kennt weder Schlacht-
noch Mahlsteuer, noch Belastung der Rohstoffe. Das Budget wird haupt¬
sächlich aufgebracht einmal durch die Zölle auf Thee, Kaffee, Zucker, Tabak,
Wein und einige weniger bedeutende Artikel, sodann durch die Bier- und
Spirituosensteuer (exeisch, zusammen 43 Will. Pfd. Sterl., die einzige große
directe Staatssteuer; die income ox gibt daneben nur 6 Mill. Die indirecten
Steuern sind keineswegs drückend; sie belasten Artikel, welche stets consumirt
werden, die aber nicht zu den ersten Bedürfnissen gehören; es hat sich bei
denselben demgemäß eine fortwährende Steigerung der Erträge gezeigt.
Wenn Bright nun die Abschaffung der Zölle auf Thee, Kaffee und Zucker
verlangt, so streicht er damit, da er nicht eine Verdreifachung der Einkommen¬
steuer wollen kann, einfach etwa 12 Mill. aus den Staatseinnahmen, folg¬
lich müßten die Ausgaben um ebenso viel verringert werden; und da die ca.
28. Mill. Zinsen für die Staatsschuld doch gezahlt werden sollen, müßte das
Kriegs- und Marinebudget von 26 Mill. auf 13 herabgesetzt werden. Das
wäre allerdings nach dem Herzen des Friedensmannes, der den Krimkrieg
für Unsinn erklärte; setzte er das durch, so könnten ihm Rußland und Frank¬
reich Denkmale errichten, aber England müßte die Standbilder Wellington's
und Nelson's als altes Metall verkaufen.
Vorläufig wird noch zu viel gesunder Sinn im Volke sein, als daß solche
Projecte Fuß fassen könnten; aber man muß darauf vorbereitet sein, daß die
radikale Partei Fragen aufs Tapet bringt, welche die jetzige Majorität der
Wähler, die Arbeiter, bei einer Neuwahl zu einer compacten Partei vereinigt,
und erst dann würde man sehen, was Haushalterwahlrecht in England be¬
deutet. —
«,Ä 4) Der Gang der Dinge hängt von Gladstone ab, dessen Politik
zweifelhaft ist. Gladstone wird binnen Kurzem Premier sein; die Nachricht,
daß die Königin versuchen werde ein Cabinet durch Lord Granville zu bil¬
den, ist nicht ernsthaft zu nehmen, da, selbst wenn Disraeli mit einem so
schlimmen Rathe bei der Königin durchdringen sollte, Granville der Erste sein
würde seiner Gebieterin zu sagen, daß er eine so unmögliche Aufgabe ab¬
lehnen müsse. Zunächst wird es dann aus die Zusammensetzung des Glad-
stone'schen Ministeriums ankommen. Kann der Eintritt Brights vermieden
werden, so wäre das ein großer Gewinn für die liberale Partei. Bright ist
zwar als Individuum vielleicht der mächtigste Mann im Parlament; als Mini¬
ster würde er auflösend auf die Partei wirken. Allen alten Whigs ist er im
Herzen antipathisch; sie fürchten mit Recht seine weitgehenden Projecte, die
namentlich in Bezug auf Irland und auf Steuern kürzlich wieder stark her¬
vorgetreten sind, und falls er im Cabinet mit solchen Ideen durchdränge,
würden Viele eine starke Neigung spüren, zu den Tones überzugehen; es
könnte sich demzufolge eine ganz neue Gruppirung bilden welche mehr den
continentalen Parteien, Centrum, Rechte und Linke entspräche. In ähnlicher
Weise ungünstig würde Bright's Eintritt auf die auswärtige Politik wirken;
Lord Stanley's neuliche unglückliche Aeußerungen über die Türkei werden
nur den Erfolg haben. Die zu ermuthigen. welche auf ihren Zerfall speculiren,
aber die Freude in Se. Petersburg und Athen würde vollkommen sein, wenn
die personificirte Nichtintervention in London ans Ruder käme. Auch auf
die Verhandlungen mit Amerika würde Bright's Eintritt nicht im englischen
Interesse wirken; es ist jedenfalls auffällig, daß gerade gleichzeitig mit dem
Sieg der Liberalen aus Washington telegraphirt wird, Seward verlange noch
gewisse Abänderungen an dem von Lord Stanley und Johnson unterzeichne¬
ten Protokollen. Sollte sich der schlaue Staatssecretär nicht vielleicht schmei¬
cheln, daß er unter dem Einfluß von Bright's Enthusiasmus für Amerika
noch günstigere Bedingungen von dem neuen Cabinet erhalten könnte? All' diese
Klippen würden vermieden, wenn Bright auf ein Portefeuille verzichtete; ihm
selbst wird wenig daran liegen und die Partei ist seiner mächtigen Unter¬
stützung sicher auch wenn er unabhängig bleibt.
Ist diese Frage beseitigt, so wird im Uebrigen die Constituirung des
Ministeriums keine großen Schwierigkeiten bieten: Cardwell, Löwe, Göschen
werden im Unterhaus, der Herzog von Argyll, Lord Kimberley und Granville
im Oberhaus die Hauptposten nehmen*). Damit sind aber nur die Personal¬
fragen erledigt; dann wird man den sachlichen näher treten müssen. Für zwei
Punkte hat sich Gladstone engagirt: wohlfeilere Verwaltung und Abschaffung
der irischen Kirche. Das erstere wird ihm bei seiner Kenntniß der Finanzen
keine ernsten Schwierigkeiten machen: der abyssinische Krieg ist aus, die Hin¬
terlader bezahlt, im Uebrigen wird man Flotten- und Armeebudget etwas re-
duciren; daneben heben sich die Einkünfte wieder, sodaß es leicht sein wird
2—3 Mill. zu sparen. Aber um so schwieriger liegt die irische Kirchenfrage.
Gladstone hat sich bis jetzt rein in der Negation gehalten: die Staatskirche soll
aufhören; aber er hat noch nie gesagt, was mit ihren verfügbar werdenden
Einkünften geschehen soll, er hat nur bemerkt, hierüber könne er erst als
Minister Vorschläge machen. Den Grund hiervon hat er nicht angegeben.
Wir vermögen ihn auch nicht ausfindig zu machen und muthmaßen stark,
daß Gladstone nur schweigt, weil diese Frage so ungemein schwer zu lösen
ist und jeder positive Vorschlag die Gefahr mit sich bringt seine Partei zu
spalten die bisher seine Negation gutgeheißen hat. In der That lassen sich
gegen jede Lösung ernste Bedenken geltend machen. Will man die Einkünfte
nach Verhältniß unter die drei Confessionen Irlands, Katholiken, Anglicaner
und Presbyterianer vertheilen, so erheben sich dagegen sowohl die Prote¬
stanten, welche den Katholiken nicht den Löwentheil gönnen, als die katho¬
lische Geistlichkeit, die Nichts vom Staate nehmen will. Soll das Geld für
Schulen, Hospitäler:c. verwendet werden, so wirft man dagegen ein, daß
Fonds, die religiösen Zwecken gewidmet waren, nicht für weltliche Anstalten
verwendet werden sollten, daß es auch nicht gerecht sei, Localeinkünfte, wie
die der irischen Kirche es sind, allgemeinen Anstalten zuzuwenden. Die ganze
anglicanische Partei würde in solcher „Confiscation" ein gefährliches Präce-
dens für England sehen. Vielleicht wäre es das Billigste, die disponibel wer¬
denden Fonds zur allmäligen Verminderung der Armensteuer zu benutzen;
nur muß man dabei nicht übersehen, daß, da dieselbe zur Hälfte auf den
Grundeigenthümern ruht und «/i« des Bodens in Händen von Protestan¬
ten ist. der Vortheil einer solchen Maßregel allein diesen zukäme; denn
wenn auch die andere Hälfte der Steuer der Pächter zahlt, so wird doch
der Eigenthümer von ihm sofort um so viel höheren Pacht fordern, als er
an Abgaben entlastet wird. Ob daher diese Maßregel die Katholiken befriedi¬
gen würde, ist sehr zweifelhaft. Auch die Frage der Constituirung der irischen
Kirche als freie religiöse Organisation ist keineswegs einfach. Gladstone sagt,
sie solle sich selbst constituiren, wie sie es für gut finde; aber damit
hörte sie auf ein Theil der Kirche von England zu sein, denn das Wesen
derselben beruht auf ihrer Verbindung mit dem Staat. Nicht aus einer re¬
ligiösen Bewegung ist sie hervorgegangen wie die protestantischen Kirchen des
Festlandes: das Parlament hat sie gemacht, die Jurisdiktion des Papstes
abgeschafft, die 39 Artikel eingeführt, den König zum Oberherrn der Kirche
gesetzt. Katholiken und Dissenters sind jetzt von dem früheren Drucke befreit,
aber das englische Staatsrecht kennt noch heute als Kirche nur die ang¬
licanische, die nach ihm einfach die Nation vom religiösen Gesichtspunkt bedeutet.
Alles das sind schwere, verwickelte Fragen, die sich nicht mit einem Schlage
lösen lassen; eine Institution abschaffen ist leicht, aber sagen, was an ihre
Stelle treten soll, oft sehr schwer. Und dabei hat Gladstone es mit einer
Opposition zu thun, die zwar in der Minorität, aber wohl disciplinirt und
entschlossen ist den Boden Schritt für Schritt zu vertheidigen, auch möglicher¬
weise wie 1866 Unterstützung im Lager der Ministeriellen finden könnte. Es
kommt hierzu, daß Disraeli als Führer der Opposition in dieser Frage eine
sehr viel günstigere Stellung hat als bisher auf der Ministerbank. Er hat
bisher nur erklärt: keine Zerstörung der irischen Kirche; er kann jedes Com-
promiß annehmen und selbst vorschlagen, welches die vollständige Zerstörung
vermeidet, mag die Reform auch sehr weit gehen, und zu einem solchen Com-
promiß werden sehr viele Liberale im Herzen geneigt sein. Gladstone aber
kann darauf nicht eingehen, denn er hat sich für Abschaffung der Kirche ge¬
bunden. Nun erwäge man noch seine Reizbarkeit, seine Unfähigkeit die
Menschen zu behandeln, seinen Hochmuth der durch den großen Sieg nicht
vermindert sein wird und man wird wenigstens nicht die Möglichkeit in Ab¬
rede stellen können, daß er seine jetzige Majorität von 110 Stimmen ebenso
ruiniren könnte wie 1866 die von 60. Große Majoritäten sind außerdem
gewöhnlich schlecht disciplinirt und verlangen, daß die Führer sehr tolerant
für offene Fragen seien. Jedenfalls muß man abwarten wie die Sachen sich
entwickeln, und wir können nur wiederholen, daß es von Gladstone's Taktik
allein abhängen wird, wie lange er sich hält.
aä 5) daß eine starke neu organisirte konservative Partei für England
Bedürfniß sei.
Daß die Elemente für eine solche nicht fehlen zeigen die Wahlen. Eine
Partei welche nicht wie die der Liberalen aus verschiedenen Fraktionen besteht,
sondern über eine compacte Masse von 258 Stimmen gebietet, ist auch als
Minorität sehr mächtig im Parlament und vielleicht noch mehr im Lande,
wenn man in Anschlag bringt, daß auch da wo sie geschlagen ward oft der
Kampf ein sehr heißer war und bis zum letzten Augenblicke unentschieden
blieb. In Westminster, das immer radical gewählt, ward Mill geschlagen,
in Liverpool nur Tories gewählt, in Manchester und der City je einer durch¬
gesetzt; nimmt man den Durchschnitt der Stimmenzahl, den die Gewählten
dieser drei größten Städte gehabt, so kommen auf jeden konservativen Can-
didaten 13,605, auf jedem Liberalen 10,335 Stimmen. Das bedeutendste Re¬
sultat aber ist, daß die Tories in der Fabrikgrafschaft xs.r exeklleuee, in Lan-
cashire, alle vier Landdistrikte und von 24 Städten, welche als die Burgen
des Radikalismus galten, 14 gewonnen haben; Gladstone ist am Vorabend
seiner Premierschaft in seinem alten Distrikt, den er inne hatte, seit Oxford
ihn verworfen, durchgefallen und kommt nur durch den für ihn in Reserve ge¬
haltenen Sitz von Greenwich ins Parlament; seine rednerischen Gastrollen
haben ihm also wenig genützt. Der Grund dieses Umschlages ist wahrschein¬
lich in dem Haß der englischen Arbeiter gegen die Jrländer zu suchen, welche
sie nicht begünstigt sehen wollen, aber das Resultat bleibt darum nicht min¬
der merkwürdig. Jedenfalls ist die konservative Partei trotzdem, daß sie sich
durch Disraeli zu einer selbstmörderischen Politik hat verleiten lassen, deren
Folgen sie jetzt trägt, noch stark genug Gladstone das Leben sauer zu machen
und ihn zu controliren. Auf den Wechsel in ihrer Führerschaft, den wir als
nothwendig für ihr Ansehen erklärten, wagen wir freilich jetzt noch nicht zu
hoffen, weil im Unterhause kein Mann ist Disraeli zu ersetzen, nachdem Lord
Cranborne ins Oberhaus hat übersiedeln müssen. Diese Frage wird auch erst
brennend werden, wenn es sich um ein neues konservatives Cabinet handelt.
Ein entschiedener Tory, Sir Rainald Knightley, der bisher Disraeli gefolgt
ist, hat übrigens offen in seiner Wahlrede gesagt, er hoffe, daß Disraeli bald
in die heitere Temperatur des Oberhauses versetzt werde, da er allein das Hin¬
derniß einer Verbindung zwischen den Conservativen und dem konservativeren
Theile der Liberalen sei. Wir Deutsche haben inzwischen vorläufig von dem
Ausgang des Kampfes wenig zu hoffen oder zu fürchten, können aber sicherlich
aus dieser neuen Entwickelung des parlamentarischen Lebens Viel lernen.
Von der Havanna kamen uns in neuester Zeit ziemlich unklare Nach¬
richten über einen im Inneren der Insel ausgebrochenen Aufstand. So viel
ist klar, daß derselbe nicht von den Negern, sondern von Creolen ausge¬
gangen ist. die Nichts von Freilassung der Sclaven wissen wollen: es ist ver¬
wildertes Raubgesindel, welches nach seiner Niederlage durch die Truppen
am Is. Oct. sich in einzelne Banden auflöste und die Plantagen zu brand¬
schatzen suchte. Man wird mit denselben schon fertig werden, zumal die
Creolen sich überhaupt in Cuba in einer verschwindenden Minderzahl be¬
finden. Mit der spanischen Revolution hat die Sache Nichts zu thun, da
der Aufstand schon lange vor dem Eintreffen der Nachrichten von den ca-
dixer Ereignissen datirt. Dagegen ist unleugbar, daß die Revolution in
Spanien, welches auch ihr Ausgang sein mag, einen tiefgreifenden Einfluß
auf die Sclaven Cubas haben muß; denn sei es, daß die Republik oder
demokratische Monarchie das Feld behauptet, sei es daß Prim sich zum Dic¬
tator aufschwingt, immer wird die Staatsgewalt auf die Besserung der so¬
cialen Zustände ausgehen müssen, und die Ausbeutung der Colonien war
einer der wundesten Punkte des bourbonischen Regiments. Die Aufhebung
der Sclaverei in Cuba, die durch ein Decret der provisorischen Regierung
bereits angebahnt ist, wird demnach nur eine Frage der Zeit sein können.
Aber so sehr wir uns freuen müssen, daß es dann außer Brasilien keinen
civilisirten Staat mehr geben wird, in welchem die Sclaveret besteht, so sehr
müssen wir doch im Interesse Cubas wie der Sclaven selbst wünschen, daß
man bei der Emancipation mit Vorsicht zu Wege gehe. Was daraus wird,
wenn man in mißverstandenen philanthropischen Interesse die Sclaven ohne
Weiteres vom Zustand der Knechtschaft in die volle Freiheit übergehen läßt,
zeigen uns Hapel, die englisch-westindischen Colonien und die Südstaaten der
Union; was dagegen durch vorsichtige Politik aus einer Sclavenbevölkerung
zu machen ist, sieht man an den französischen Colonien Martinique und
Gouadelouve.
Hapel ist vollkommen unabhängig die Neger sind die herrschende Race;
aber diesem gesegneten Lande ist unter ihrem Regiment eine Reihe der blutigsten
Revolutionen und absolute Verkommenheit geworden, wovon jeder Reisende,
der die Insel besucht, zu erzählen weiß. Nicht viel besser ist es mit Jamaica, wo
die Sclaven durch die große Emancipationsmaßregel Englands zu Eigenthümern
des von ihnen bebauten Landes gemacht und ihre Herren durch Geld ent¬
schädigt wurden. Die Neger, welche damals zu den Weißen im Verhältniß
von 16:1 standen, haben sich so vermehrt, daß sie jetzt wie 34:1 stehen;
dennoch ist die ehemals blühende Insel der traurigsten Zerrüttung anheim¬
gefallen: der Boden ist durch Raubbau erschöpft, die Ausfuhr spärlich, die
Bevölkerung lebt in Schmutz. Unzucht. Unwissenheit, Armuth und Trunk¬
sucht. Aehnlich in den anderen englischen Colonien, mit Ausnahme von
Barbados, welches eben schon zur Zeit der Emancipation so bevölkert war.
daß kein Boden mehr zum Anbau zu vergeben war, wo die Schwarzen also
wenigstens soviel um Taglohn arbeiten müssen, daß sie leidlich leben können.
Der Drang der Umstände hat in den Vereinigten Staaten zu einer gleichen
hastigen Emancipation ohne Uebergang geführt; aber die schlimmen Folgen
zeigen sich schon hinreichend. Man hat den Sclaven nicht blos alle bürger¬
lichen, sondern auch politische Rechte gegeben; die Folge ist, daß die Cultur
des Südens sinkt und der Neger der Spielball der kämpfenden Parteien ge¬
worden ist: so lange ihn die Militärgouverneure gegen seine früheren Herren
schützen, stimmt er für die Republikaner, wo nicht, für die Demokraten. Weit
Weiser verfuhr die französische Republik 1848 bei Abschaffung der Sclaverei;
sie hatte die warnenden Beispiele von Hapel und Jamaica vor sich und sah
ein, daß es thöricht sei, in solchen Fragen nach idealen Gesichtspunkten zu
verfahren. Die Erfahrung zeigt, daß der Neger eine natürliche Abneigung
gegen andauernde Arbeit hat, wie sie allein ein Land zum Gedeihen bringen
kann: er thut eben nicht mehr als nöthig ist, sich über Wasser zu halten,
und auch das nicht immer, sondern er versinkt bei an sich großer Gutmüthig¬
keit aus Faulheit leicht in Laster. Demzufolge erklärte man die Sclaven
in Martinique und Gouadeloupe zwar für frei, aber nur unter der Bedingung
des Nachweises, daß sie sich ernähren könnten; man behandelte sie wie Kin¬
der, die gegen die Folgen der eignen Thorheit geschützt werden müssen, und
die beiden Colonien sind blühend geblieben. »
Ein ähnliches Verfahren ist auch für Cuba nöthig; es liegt dort der
günstige Umstand vor, daß die weiße Bevölkerung zahlreicher ist als die
Sclaven: 311,000 gegen 287.000. Es ist also zunächst weder an einen wirk-
lichen Aufstand der Neger in Masse zu denken, noch daran, daß sie die Ober¬
hand bei der Emancipation bekommen könnten wie in Jamaica: sie sind den
Spaniern auch nicht blos der Intelligenz nach sehr untergeordnet, sondern
betrachten dieselben mit höchster Ehrerbietung. Auch haben die Pflanzer ihre
Sclaven im Ganzen gut und mit einer gewissen familiären Freundlichkeit
behandelt, die den Angelsachsen der Vereinigten Staaten ganz fremd war; die
Sclaven haben sogar gegen ihre Herren einen öffentlichen Vertreter ihrer In¬
teressen, der gegen etwaige Grausamkeiten Einsprache thun kann: „el s^näieo
yui tiens los esclavos". Der Neger ist außerdem wie alle niedrigstehenden
Völker durchaus zur Nachahmung geneigt: er versucht das zu werden was die
höhern Classen sind, die ihm umgeben, und der kubanische Pflanzer gehört zu
den besten seiner privilegirten Rase, Der Sclave wird auch nicht, wie früher die
Sclaven der Union, durch fanatische Prediger aufgestachelt, sondern betrachtet
die Spanier noch als höhere Wesen und es fällt ihm selten ein sich gegen ihre
Autorität aufzulehnen. Alle Elemente sind also gegeben zu einer allmäligen
Emancipation, welche die Hilfsquellen des reichen Landes wahrscheinlich reich
entwickeln würde. Auch ist die Gefahr einer Annexion durch die Vereinigten
Staaten sehr vermindert: zur Zeit der ostender Conferenz von 1834 waren die
Sclavenhalter in Washington am Nuder, welche nur strebten das Gewicht
des Südens durch Erwerbung neuer Sclavenstaaten zu stärken; die jetzigen
Machthaber aber finden sich schon so hinreichend durch die Sclavenfrage be¬
schäftigt, daß sie sich schwerlich darnach sehnen werden die Emancipation auch
in Cuba durchzuführen. Wir wollen deshalb hoffen, daß die Frage der
Emancipation mit Entschiedenheit, aber auch mit Besonnenheit in Madrid
in die Hand genommen werden möge.
Seitdem die meisten Regierungen diplomatische Actenstücke in regel¬
mäßigen Sammlungen veröffentlichen, sind die Blau-, Gelb-, Grün- u. s. w.
Bücher erheblich im Preise gesunken. Niemand wird so naiv, sein zu glauben,
daß die auswärtigen Angelegenheiten jetzt plötzlich vor aller Welt Augen
verhandelt würden; muH man die officiellen Depeschen drucken, so werden
die vertraulichen und die Privatbriefe in denen die eigentlichen Instruktionen
und Auffassungen gegeben sind desto zahlreicher sein. Der frühere Cabinetschef
Guizot's Mr. Genie, von Manchen Is irmuvais Zöniv du miuistöre genannt,
sagte dem Schreiber dieses einmal von den Blaubüchern der Julimonarchie:
Nonsieur, vous n'g,ve2 ä'iciöö <incl!t) Mre coin, von« Kusaie <!s com-
poser ees livrss! und beschrieb dann, wie schwierig es sei, Depeschen nur
stückweise zu veröffentlichen und doch so zuzustutzen, daß die Opposition nicht
merken könnte, daß Etwas fehle. Indeß wenn man nicht glauben kann in
diesen officiellen Kundgebungen wirklich hinter die Coulissen zu sehen, ge¬
währen sie doch immer merkwürdige Einblicke; sie zeigen vor Allem was
die betreffende Regierung gewußt und geglaubt wissen will und lassen dem¬
zufolge auf die Ausgangs- und Zielpunkte der Politik der Mächte schließen.
Von diesem Gesichtspunkt ist auch das gegenwärtige östreichische Rothbuch
interessant, namentlich weil offenbar zwischen den Zeilen zu lesen ist, daß
wo so gravirende Documente, wie z. B. S. 80 über die rumänischen Waffen¬
transporte, publicirt werden, offenbar die Regierung wohl noch bedeutsamere
Beweise in Händen haben wird. Im Ganzen geben diese Actenstücke wie
auch die vorausgeschickte Einleitung einen neuen Beweis sür die Thatsache,
welche jeder Denkende sich klar gemacht hat, daß eine unmittelbare Gefähr¬
dung des Friedens nicht vorliegt, daß dagegen die Situation höchst precär
ist und ein Vertrauen in die Dauer des Friedens nicht aufkommen lassen kann. —
Man kann die besprochenen Angelegenheiten füglich unter drei Rubriken
bringen: deutsche, orientalische und Verhandlungen mit der römischen Curie.
1) Was die deutschen Angelegenheiten betrifft, so wäre es vergeblich
sich darüber zu täuschen, daß trotz der unleugbar versöhnlichen Sprache in
diesen Ackerstücken aufs Neue der tiefe Gegensatz constatirt ist, in welchem
die östreichische Politik zu der preußischen steht.
Oestreich hält an dem prager Frieden fest, in dem Sinne, daß jede
Ueberschreitung des Maines von Preußens Seite eine Verletzung des Ver¬
trages sein würde: wir aber fühlen daß wir auf irgend welche Länge nicht am
Main stehen bleiben können, wir fühlen das jetzige Stehenbleiben als einen
drückenden Stillstand in der ganzen deutschen Frage. Damit ist alles gesagt.
Welchen Werth die östreichische Regierung darauf legt, die öffentliche Mei¬
nung in Süddeutschland für sich zu gewinnen, zeigen die beiden Berichte des
Grafen Trauttmannsdorff aus München und die Antwort Beust's darauf.
Auch Norddeutschland wird nicht außer Augen gelassen; bei den Hansestädten
ist noch dieser Tage nach zweijähriger Unterbrechung der diplomatischen Ver¬
tretung ein Gesandter neu beglaubigt, obwohl man nicht absieht, was der¬
selbe noch neben einem Generalconsul zu thun haben kann, und der Reichs¬
kanzler stimmte in den Delegationen ausdrücklich den Ausführungen Kuranda's
zu, daß es eine Schwächung des prager Friedens sein würde, die Gesandt-
schaften bei den kleinen deutschen Staaten einzuziehen. Bei dem precären
Stande, in welchem sich diese Verhältnisse befinden, möge man sich nicht dazu
verleiten lassen, einige tausend Gulden zu sparen und damit eine Politik zu
schwächen, die zu erhalten man alle Ursache habe.
Neben der Anerkennung dieses Gegensatzes finden wir aber keinerlei
Anlaß uns über die Haltung zu beschweren, welche Oestreich in der nord-
schleswigschen Frage angenommen und sehen keinen Grund über die einzige
Publicirte Depesche einen Lärm zu machen, wie es die Kreuzzeitung zu thun
für gut gefunden hat. In dieser Depesche bestätigt Gras Beust indireet die Be¬
merkung des Grafen Bismarck im preußischen Landtag, daß die Einschaltung
des betreffenden Artikels nicht von Oestreich d. h. also von Frankreich aus¬
gegangen sei und direct die Erklärung des Bundeskanzlers im Reichstag, daß
Oestreich allein legitimirt sei in dieser Frage mitzusprechen. Der Reichs-
kanzler sagt ferner nur, daß die Zögerung eine Verbindlichkeit zu er¬
füllen, die man im Grundsatz nicht zu bestreikn vermöge, dem allgemeinen
Interesse an Sicherstellung des Friedens nicht eben förderlich zu sein scheine.
Er könne sich vom preußischen Standpunkt die Ausführung des betreffenden
Artikels auf doppelte Weise vorstellen: entweder nach dem Wortlaut durch
freie Abstimmung der Bevölkerung, dann sei es erklärlich wenn Preußen für
die deutschen Minoritäten der abzutretenden Districte Garantien fordere;
oder mehr nach politisch-strategischen als nach nationalen Momenten, dann
könne es sich nur um die Abtretung eines kleinen Bezirks handeln, der ziem¬
lich rein dänisch sein werde, sodaß für die Deutschen nur die freie Aus¬
wanderung auszubedingen sein würde.
Wir wissen gegen diese Argumentation Nichts einzuwenden, nachdem ein¬
mal der unglückliche Artikel in den prager Frieden zugelassen ist und glauben
auch zu wissen, daß Graf Bismarck durchaus für jene zweite Alternative ist,
aber damit nicht hat durchdringen können.
Die orientalischen Actenstücke zerfallen in zwei Theile: solche welche
Rumänien und solche welche die allgemeine große Frage berühren, die man sich
gewöhnt hat schlechtweg die orientalische zu nennen. In der ersten Frage stehen
wir in keinem Gegensatz zu der Politik des Reichskanzlers; hinsichtlich der
zweiten haben wir auch vom östreichischen Gesichtspunkt erhebliche Bedenken. Die
über Rumänien veröffentlichten Actenstücke zeigen aufs Neue wie unsicher die
Grundlagen dieses ganzen Staatswesens sind: zuerst die Judenhetze, welche'
bis zum letzten Augenblick von den Machthabern mit der größten Unver¬
schämtheit geleugnet, im Grunde aber von ihnen ins Werk gesetzt ist; sodann
in neuester Zeit die Waffentransporte.
Ueber die Judenverfolgungen hat der Unwille der ganzen civilisirten
Welt gerichtet und die verdächtigen Rüstungen ließen sich schließlich doch so
wenig vertheidigen, daß der Hauptunruhestifter, Braticmo, darüber gefallen
ist. Daß es nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn in Preußen be¬
stellte Waffen trotz des weiten Umwegs und der damit verbundenen Kosten¬
vermehrung über Rußland unter der falschen Bezeichnung von Eisenbahn¬
schienen nach Bukarest gehen, liegt auf der Hand und man kann sich nicht
wundern, wenn die östreichische Regierung, welche bisher stets den directen
Transit durch ihr Gebiet gestattete, an solchem Verfahren, das mit dem Er¬
scheinen der bulgarischen Banden auf rumänischen Boden zusammenfiel, An¬
stoß nahm. Die officiöse preußische Presse hat zuerst diese Angaben als Ver¬
dächtigungen abgewiesen, während sie keine der angeführten Thatsachen
widerlegen konnte und hat doch auch eine Schwenkung vollzogen, indem
sie Rumänien auf den Frieden hinwies. Wir können uns dieser Schwenkung
nur freuen, denn wir halten der Ungarn wegen die Gefahr eines agitatori-
schen Unterstützens der rumänischen BewegungM größer, als den eventuellen
Nutzen, welchen Preußen von den Waffen Rumäniens zu hoffen hat. Was
den Reichskanzler betrifft, so wird man nicht leugnen können, daß die von
ihm veröffentlichten compromittirenden Actenstücke wesentlich dazu beigetragen
haben des Ministerium Bratiano unmöglich zu machen und damit eine Ge¬
fahr des Friedens zu beseitigen. Im Sinne des Friedens, dessen Oestreich
so sehr bedarf, sind auch gewiß seine Rathschläge an die Pforte für die Be¬
handlung der inneren Fragen gemeint; aber wir bezweifeln, daß dieselben
im wirklichen Interesse Oestreichs sind, wenn man sich nicht an den Augen¬
blick hält. Graf Reuse faßt nämlich als Lösung der orientalischen Frage
die Erfüllung der Aufgabe „die nationalen Bestrebungen und Interessen ihrer
Provinzen in innigen Verband mit den oberherrlicher Rechten der Pforte
zu bringen" (Rothbuch S. 4 Al. 3.) d. h. also den nationalen Bestrebungen
die größtmöglichen Concessionen zu machen. Daß dies bei Serbien geboten
War ist nicht in Abrede zu stellen, weil dort die Oberherrlichkeit der Pforte
schon längst nur nominell war und durch die Besatzung in Belgrad nicht
stärker wurde; aber dies als Princip der Pforte empfehlen scheint uns mehr
im russischen als östreichischen Interesse, denn die consequente Anwendung
des Grundsatzes würde unfehlbar zur Auflösung der Türkei führen. Serbien
ist so gut wie unabhängig geworden, weil es eine compacte Nationalität
bildet; dies ist aber von keinem der Stämme in den andern Provinzen zu
sagen, welche sich vielmehr unter einander weit mehr als die Türken hassen:
Wollte die Pforte ihren nationalen Bestrebungen Raum geben, so würden
sie sich nur unter einander bekriegen und es würde daraus einfach jene
Anarchie entstehen, auf welche Rußland hinarbeitet, seit ihm durch den
Pariser Frieden directe Angriffe unmöglich geworden sind. Hätte die Pforte
nach diesem Grundsatz gehandelt, so hätte sie Candia an Griechenland ab¬
treten müssen. Ganz in ihrem eigenen Interesse ist es dagegen, wenn Oest¬
reich mit andern Mächten auf energischeres Vorgehen in den inneren Refor¬
men dringt; hierin allein liegt noch eine Zukunft für die Türkei oder wenig¬
stens doch die Aussicht, daß sich die Rajah allmälig so cultiviren um für die
Selbständigkeit reif zu werden.
Ueber die Verhandlungen mit der Curie können wir uns kurz fassen;
in ihr stehen die Sympathien der ganzen nichtultramontanen Welt aus
Oestreichs Seite und allgemein läßt man dem Grafen Beust Gerechtigkeit wider-
fahren für die Festigkeit und Geschicklichkeit, mit der er diese Frage durch¬
geführt. Das Concordat, zugleich Gesetz und auswärtiger unkündbarer Ver¬
mag, war ein Cirkel aus dem ohne einen Sprung nicht herauszukommen
war; da man sich in Wien selbstverständlich hinter das non xossumus ver¬
schanzte, mußte man von Seiten des Staates einseitig vorgehen. Man setzte
sich dabei einem Proteste des Papstes aus, dessen Bedeutung bei der mächtigen
Stellung, die der Clerus noch immer in Oestreich hat, nicht zu unterschätzen
war; es handelte sich darum, diesem Protest die Spitze abzubrechen und einen
diplomatischen Bruch zu vermeiden, andrerseits aber mit fester Hand die
Versuche der Bischöfe zu unterdrücken, welche den neuen Gesetzen Gehorsam
weigerten. Beides ist gelungen: die diplomatischen Beziehungen sind erhalten
und der Agitation des Clerus gegenüber ist Langmuth und Schonung ge¬
zeigt, damit derselbe nicht die Miene des Märtyrers annehmen könne, aber
Widersetzlichkeit ist nicht geduldet und der Angriff der päpstlichen Allocution
vom 22. Juni auf die Grundgesetze der Monarchie mit Nachdruck durch die
Depesche vom 3. Juli zurückgewiesen worden. Von allen schwierigen Auf¬
gaben, die Beust vorfand, ist diese bei den persönlichen Hindernissen, die er
am Hofe zu überwinden hatte, gewiß die dornigste gewesen.
Die innere Reorganisation der östreich-ungarischen Monarchie fällt eigent¬
lich außerhalb des Bereichs des Nothbuchs und Graf Beust hat sie auch
nur zum Gegenstand von Depeschen gemacht um den auswärtigen Credit
Oestreichs zu heben. Bis jetzt ist die Sache allerdings gegangen, aber die
Probe hat das Werk noch keineswegs bestanden und Nichts wird weniger
geeignet sein dasselbe zu befestigen als Concessionen an die Czechen, von denen
jetzt wieder die Rede ist. Der Dualismus ist nur unter einer Bedingung,
wenn überhaupt möglich, der daß in der östlichen Hälfte die Ungarn, in der
westlichen Hälfte die Deutschen herrschen. Die Ungarn kämpften auf dem
historischen Boden ihrer positiven Verfassung, die Czechen verlangen für
Böhmen ein Verhältniß welches nie bestand und nur durch gewaltsame Unter¬
drückung von 2/z der Bevölkerung erreicht werden könnte, bei denen die über¬
wiegende Intelligenz und das Capital des Landes ist. Was Concessionen
an die Verfechter der Wenzelskrone bedeuten, hat das Ministerium Belcredi
erfahren und dies sollte dem Reichskanzler ein warnendes Beispiel sein. Am
wahrscheinlichsten und besten bleibt es freilich, daß die Czechen durch eigene
Unvernunft und Maßlosigkeit jede Vereinbarung unmöglich machen.
Zu sanguinisch scheint uns endlich Herr Beust die Stimmung anzusehen,
mit der das Ausland seine Couponsteuer aufgenommen; daß man sich wohl
oder übel darin gefunden, ist wahr, aber es ist unnöthig und klingt fast wie
Hohn, wenn der Minister eines großen Staates den Gläubigern, die durch
diese Maßregel doch offenbar verkürzt werden, zuruft, sie hätten ja von An¬
fang gewußt, daß sie keine englischen Consols oder holländischen Papiere
kauften. Auch das Argument, daß der verbleibende Zinsbetrag um so sichrer
sei, weil die Couponsteuer nicht erhöht werden dürfe, ist hinfällig; ihre Ein¬
führung hat bereits bewiesen, daß Noth kein Gebot kennt, und sogut wie man
jetzt das Versprechen bei Seite gesetzt, welches auf allen Metalliques zu lesen
steht, daß der Betrag ohne Abzug in Silber zu zahlen sei, so gut kann man
künftig im Drange der Umstände die Steuer verdoppeln oder verdreifachen.
Welchen Eindruck die Sache an der Börse gemacht, darüber könnte Herr
Beust sich nicht besser belehren, als wenn er in der City nachfragte, zu
welchen Bedingungen ein neues östreichisches Anlehen zu schließen sein würde.
Die altbekannte journalistische Emsigkeit des Grafen Beust verdient — nebenbei
bemerkt — auch vor dem Rothbuch die kollegiale Anerkennung der deutschen
Zeitungspresse.
Vorbemerkung. Die unsern Lesern bisher mitgetheilten Fragmente aus
dem Leben eines Genossen der Verschwörung vom I. 1823 reichten bis zu dem
Zeitpunkte der Uebersiedelung der tschitaer Sträflinge in das Gefängniß von
Petrowsk. Die folgenden Schilderungen sind zu ausführlich und gehen in
zu zahlreiche interessante Details, als daß ihr Abdruck innerhalb des engen
Raumes der grünen Blätter möglich wäre. Bei dem Interesse, das die schlichte
und gerade durch ihre ungeschminkte Wahrheit ergreifende Erzählung des
vielgeprüften Mannes bei Denen wachgerufen hat, die ihm gefolgt waren,
haben wir es indessen nicht über uns gewinnen können, die Leser dieser Blät¬
ter bis zum Erscheinen des Memoirenwerks, welches diese Schilderungen ent¬
halten soll*), ohne alle Kunde von den ferneren Geschicken des Dekabri¬
sten zu lassen. Indem wir erwähnen, daß derselbe seit einer Reihe von
Jahren vollständig begnadigt und nach längerem Aufenthalt im Innern
des Reichs in seine Heimath Esthland zurückgekehrt ist, wo er noch gegen¬
wärtig lebt, theilen wir noch zwei Episoden aus der sibirischen Epoche dieses
seltsam gewundenen Lebenslaufes zum Schlüsse mit: Die Uebersiedlung in
das Städtchen Kurgan, wo der Verurtheilte mit seiner Familie als Ansiedler
lebte, und die durch den Thronfolger, jetzigen Kaiser Alexander II. bewirkte
Begnadigung desselben zum Militärdienst im Kaukasus.
Die Zeit rückte heran, wo ich Petrowsk verlassen mußte um angesiedelt
Zu werden; der Termin meiner Zwangsarbeit und damit zugleich mein Ge¬
fängnißleben waren am 11. Juli 1832 zu Ende. Ich wußte, daß die Ver¬
wandten meiner Frau die Regierung gebeten hatten, uns in Kurgan in
Westsibirien anzusiedeln und daß diese Bitte erhört worden war; dameine Frau
Ende August ihre Entbindung erwartete, so überredete ich sie, schon den 3.
Juli nach Jrkutsk voraus zu reisen und daselbst die Expedition der erfor¬
derlichen officiellen Papiere auszuwirken, damit wir gleich nach meiner An¬
kunft unsere weite Reise fortsetzen könnten. Den 2. Juli trug ich meinen
Sohn Conrad zu mir ins Gefängniß um von ihm Abschied zu nehmen; das
Kind hatte einen hellblauen Mantel um sich, den Fürst Obolensky ihm mit
großer Geschicklichkeit genäht hatte, und wurde nicht verlegen, als meine Ka¬
meraden es umringten und mit sichtbarem Antheil liebkosten. Meine Frau
nahm einen rührenden Abschied von unseren treuen Gefährten; unsere Damen
fürchteten für ihre Gesundheit und ihren Zustand, dem die Strapazen der be¬
vorstehenden Reise gefährlich werden konnten. Alerandrine Murawjew schickte
ihr einen zusammenzuklappenden Reisesessel, bot ihr tausend Sachen an und
beredete sie, während der Ueberfahrt über den Baikalsee eine Kuh mitzuneh¬
men, damit das Kind zu jeder Stunde frische Milch haben könne. Torson
verfertigte eine Hängematte aus Segeltuch, N. Bestushew Schrauben und
Schnallen, mit denen er das Bettchen an das Verdeck der Kalesche befestigte,
in welcher meine Frau die Ueberfahrt machen sollte. — Den 3. Juli trat
meine Frau die Reise an; ohne Aufenthalt erreichte sie das Ufer des Baikal,
wo sie ein Fischerboot mit Segeln miethete; die Kalesche wurde aufgerollt
und so ging es in Begleitung der Fischer und einiger Reisegefährten in See.
Mitten auf dem Baikal erhob sich ein Sturm, der einige Tage anhielt und
das Fahrzeug auf derselben Stelle hin und her schaukelte. Mein Sohn wurde
krank, die vorräthig mitgenommene Milch sauer, abgekochte Milch wollte er nicht
trinken; anfangs begnügte er sich mit Reiswasser, zuletzt nahm er gar keine
Nahrung zu sich: er schien dem Tode nah. Den fünften Tag legte sich der
Sturm, der Wind wurde günstig und nach einigen Stunden konnten die Schif¬
fer landen. Meine Frau erinnert sich noch heute mit Entzücken des Augen¬
blicks als sie wieder aufs Land kam und ihren kranken Sohn nach fünftägi¬
gen Leiden und Hunger wieder mit frischer Milch erquicken konnte. — Sie
langte den 12. Juli in Jrkutsk an und erwartete mich am folgenden Tage; aber
ich traf erst zwei Wochen später ein. Die Verspätung meiner Ankunft hatte
zwei Ursachen. Der Generalgouvemeur Lawinsky besichtigte damals seine
Gouvernements und hatte vergessen unsern Commandanten rechtzeitig über
meinen Bestimmungsort zu benachrichtigen. Leparsky erhielt dieses Papier
erst am 20. und fertigte mich noch an demselben Tage ab; so mußte ich neun
Tage über den Termin im Gefängniß bleiben. — Bald nach meiner Ab¬
reise wurden die Termine der Gefangenschaft und Strafarbeit auch für meine
nachgebliebenen Kameraden in Veranlassung der Geburt des Großfürsten
Michail Nikolcrjewitsch bedeutend abgekürzt. Die zweite Ursache meiner ver«
spätsten Ankunft in Jrkutsk war gleichfalls ein Sturm auf dem Bai¬
kalsee. —
Den 20. Juli 1832 trennte ich mich von meinen Kameraden und von
meinem Gefängniß: gern und und freudig verließ ich die eingeschlossene Zelle,
traurig und besorgt die zurückbleibenden Gefangenen. Gemeinsame Erinner¬
ungen und Leiden hatten uns fester aneinander geknüpft, als Verwandschafts-
bande es thun können. — Nicht weniger schwer war es mir, mich von un-
seren Damen zu trennen; mit Entsagung und Entbehrung hatten sie Alles
gethan, um unseren Zustand zu erleichtern, sie selbst litten mehr, als wir;
auch sie wünschte ich wiederzusehen — aber wo und wann? Niemand gab mir
Antwort. — Am Gefängnißthore standen zwei Postwagen, ein Unterofficier
und ein Soldat sollten mich begleiten. Der Commandant Levarsky ließ mich
in die Wachtstube rufen, wo er von mir Abschied nahm und höflich bedauerte,
daß er nicht früher meine Bekanntschaft gemacht habe; ich bat ihn, meine
Unglücksgefährten zu schonen, wie er es bis jetzt gethan habe. Als ich
die Stufen der Wachtstube herabstieg, sah ich meine Kameraden noch ein¬
mal sich an das Thor drängen und mir Lebewohl zurufen. — Ich reiste
mit M. N. Glebow bis Werchne-Udinsk. wo wir uns trennten, weil er in
der Nähe dieser Stadt, im Dorfe Kabansk, angesiedelt wurde; er starb da¬
selbst zwanzig Jahre später, 1852. Ich fuhr möglichst rasch und ohne mich
aufzuhalten; die reizenden Ufer der Selenga flogen an meinen Augen vor¬
über, die hellen Tage und Nächte erleuchteten alle Schönheiten derselben bald
mit grellem, bald mit blassem Licht, aber meine Gedanken waren in Jrkutsk
bei meiner Frau und meinem Kinde, in dem kürzlich verlassenen Gefängnisse
kaum daß ich auf meine Umgebung Acht gab. Ich fuhr nicht zum Pot-
solsky-Kloster, wo gewöhnlich die Fahrzeuge im Hafen liegen, sondern dem
Rathe meiner Begleiter folgend längs des Ufers der Selenga zum kleinen
Flußhafen Tschertovkino. von wo aus große Fischerfahrzeuge nach Jrkutsk
gehen, indem sie aus der Mündung der Selenga in den Baikalsee einlaufen.
Kaum hatte ich mich dem Dorfe Tschertovkino genähert, als ich in der Ent¬
fernung einer Werst eine vor kurzer Zeit abgegangene Barke bemerkte; im
Hafen waren keine anderen Fahrzeuge; mir blieb nur ein Mittel übrig —
die schwimmende Barke am Ufer fahrend einzuholen. — Indem wir durch
das Dorf jagten, hörte ich ein kreischendes Zurufen, daß sich einige Mal wie¬
derholte: ich sah mich um und erblickte einen Menschen, der meinem Post¬
wagen nachlief, mit der Hand winkte und dann vom Laufen erschöpft nie¬
derstürzte. Ich kehrte um, hob den Menschen auf und erkannte meinen
Wacht- und Geleitesoldaten in Tschita und Petrowsk, den mit dem Georgien¬
orden belohnten Wisgunow, der vor einigen Monaten seinen Abschied be¬
kommen hatte und mich nun inständigst anflehte, ihn mitzunehmen. — „Ich
weiß selbst nicht, wohin man mich schickt; auch habe ich keinen Platz für
Dich, lieber Freund!" war meine Antwort. „Wenn ich erst eingerichtet sein
werde, so nehme ich Dich gern auf, in Irkutsk kannst Du meinen Bestimmungs¬
ort erfahren." Damit trennten wir uns.
Wir fuhren längs des Ufers weiter, über Feld und Wiesen eilend
immer dem Boote nach. Nach einer halben Stunde gelangten wir in die
nächste Richtung zum schwimmenden Fahrzeuge; aus allen Kräften schrie ich
dem Steuermann zu: Halt! Nimm mich auf! — Aber gibst du mir dafür
2S Rubel? — Gern! — Aber 30 Rubel? — Gut. — Aber 38 Rubel? —
Abgemacht! — Aber 40 Rubel? — Nur geschwind ein Boot!—Zwei Fischer
stiegen aus der Barke in ein kleines Boot und ruderten zum Ufer. Mit
meinen Begleitern stieg ich hinein, ich hatte nur einen Mantelsack, einen Korb
mit etwas Brot und eine Flasche Wein bei mir, die die Fürstin Trubetzkoy
mir zur Reise mitgegeben. Ich hatte keine Zeit gehabt, mich mit Lebens¬
mitteln weiter zu versehen; dabei war der Wind günstig und wir konnten
hoffen in fünf Stunden über den Baikal zu segeln. Auf der Selenga wurde
die Barke mit einem Taue von drei Mann gezogen, die längs des Ufers
langsam fortschritten ; der Steuermann hatte nur sechs Mann, die sein Fahr¬
zeug bedienten. Quer über der Barke stand ein Tarantaß, in demselben
saß ein Mann mit ergrautem Haupte, in einen Militärmantel eingehüllt. —
Unser kleines Boot glitt rasch auf dem klaren Wasser der Selenga hin;
bald hatten wir die Barke eingeholt, wir kletterten hinein, und nachdem ich
meinen unbekannten Reisegefährten begrüßt hatte, befahl ich dem Unterofficier,
daß er sogleich dem Steuermann das verlangte Geld für die Ueberfahrt aus¬
zahlen sollte, indem ich Letzteren bat, alle Mittel zur schleunigsten Fahrt an¬
zuwenden, und in solchem Falle seinen Leuten ein gutes Trinkgeld versprach.
Diese Seeleute, die ihr ganzes Leben auf dem Wasser mit den Fischen zu¬
bringen, waren zögernder und langsamer als Amphibien und schienen den
Begriff Eile nicht zu kennen. Es war drei Uhr Nachmittags; bis zur Mün¬
dung des Flusses zählten sie noch 16 Werst und waren im Begriff, das
Tau an einem Baume zu befestigen, um dann auf dem Fahrzeuge zu essen
und zu ruhen. — Wir haben Zeit genug, sprachen sie; der Wind ist günstig,
morgen früh sind wir hinüber, wenn wir nur glücklich aus der Selenga
herauskommen, die in vielen Armen und Krümmungen sich in den Baikal
ergießt und in ihrem Delta viele Sandbänke und Klippen birgt. — Die
Barke blieb am Ufer stehen; ich überredete meine Begleiter herauszuspringen,
um das Tau zu schleppen, bis die Fischer gegessen und geruht hätten. Die
unermüdlichen Soldaten folgten mir sogleich und wir schleppten die Barke
vorwärts. Aber beim Hinausspringen aus derselben hatte ich meinen Fuß
verstaucht, so daß es mir mit jedem Schritte schwerer wurde, aufzutreten.
Ich fühlte daS aber kaum, weil ich an meine Frau und an mein Kind dachte,
die mich mit der größten Unruhe erwarteten, da die Trennung schon 14 Tage
länger währte, als ausgemacht war. Erst am Abend machten wir Halt.
Der Steuermann versicherte mich, daß es im Dunkeln gefährlich sei durch
die vielen Klippen in die See zu laufen, daß wir mit Aufgang der Sonne in
einer Stunde aus dem Flusse heraus sein würden und dann die Segel auf.
ziehen könnten. — Mir schien der Abend genügend hell zu sein, der Mond
stand in seinem ersten Viertel und leuchtete genugsam; aber was konnte ich mit
meinem beschädigten Fuße und zwei erschöpften Soldaten thun? unbekannt mit
der Schifffahrt, mit dem Strome und seinen Windungen mußte ich warten.
Ich hüllte mich in meinen Mantel, streckte mich nieder, hörte, wie mein
Reisegefährte im Tarantaß meine Begleiter über mich ausfragte, und schlief ein.
Als ich anderen Morgens aufwachte, sah ich die Ufer des Flusses nur
noch von fern; wir waren auf der See, die Segel waren aufgezogen, der
Wind wurde aber mit jeder Minute schwächer; endlich blieben die Segel
hängen, der eiserne Wimpel kreischte auf der Stange, bewegte sich nach allen
Richtungen, stand zuletzt unbeweglich still und wir blieben ungefähr 20 Werst
vor der Mündung der Selenga liegen. Man kann sich meine Ungeduld und
Verzweiflung vorstellen; die Fischer legten sich schlafen und sagten: „Kommen
wir nicht heute, so kommen wir doch morgen an". — Ich hatte Zeit genug,
den Baikal zu studiren: seine Ufer sind steil, hoch und meist wellenförmig,
hie und da schroffe, nackte Felsen aus Granit, Kiesel- und Feuerstein, da¬
zwischen grüner Rasen, wenig Wald. Ueberall machen sich vulcanische Wirkungen
geltend und man kann annehmen, daß die Selenga. der Baikalsee und die
Angora in früherer Zeit einen einzigen Fluß bildeten. An einigen Punkten
ist der See grundlos. Auf der Stelle, wo die Angora aus dem Baikalsee
hinausfließt, stehen in der Mitte zwei Granitblöcke, welche als Schleusen
dienen; neben diesen Steinmassen zur Seeseite ist die Spur der vulcanischen
Einwirkungen deutlich wahrnehmbar. — Allmälig wurden die Schmerzen meines
beschädigten Fußes unerträglich, ich befeuchtete ihn fortwährend mit Wasser
und bat die Fischer, sie möchten für Zahlung meine Begleiter beköstigen; sie
hatten Lebensmittel aus sieben Tage, ohne solchen Vorrath schiffen sie sich nie
auf dem Baikal ein, da dieser höchst unzuverlässig ist.
So lagen wir zwei Tage mitten auf dem See; am dritten Tage erhob
sich ein Sturm. Die Barke schaukelte, am Anker befestigt, wie eine Wiege
von ungeduldiger Hand bewegt. Der Wind war immer conträr; meine Lage
wurde immer unerträglicher. Wir wurden Tag und Nacht geschaukelt;
meine Augen waren durch das Zurückprallen der Sonnenstrahlen auf der
Wasserfläche und durch den Wind stark entzündet; ich konnte nur einige Zei¬
len aus Göthe's Genius lesen, der sich zufällig in meiner Tasche befand.
Schließlich wurde ich seekrank und lag größtenteils auf dem Verdeck, des
Nachts in meiner kleinen Kajüte, in die ich nicht hinein gehen, sondern nur
hineinkriechen konnte. Je größer meine Ungeduld wurde, desto unüberwind¬
licher zeigten sich die Hindernisse, nach zweitägigem Sturm blies sechs Tage
lang unausgesetzt ein conträrer Wind, Schon sieben Tage lagen wir vor
Anker, der Mundvorrath erschöpfte sich: noch einen Tag, und wir hätten nach
Tschertowkino umkehren und im Delta der Selenga aufs Neue Zeit verlieren
müssen. Am achten Tage wurden bereits die Ueberbleibsel der Brodkrumen
gesammelt; die Fischer hatten noch Branntwein, aber Brod nur wenig, und
versicherten kaltblütig, daß sie bisweilen zwei Wochen auf dem See zu¬
gebracht und auf günstigen Wind gewartet hätten. Ich mengte Brodstücke
und Grützeüberreste mit dem Tokaier Wein, den mir die Fürstin Trubetzkoy
zur Reise mitgegeben hatte, und lebte von diesem eigenthümlichen Gemisch
Tage lang. Diesen Wein, aus dem Keller des berühmten Gastronomen,
Grafen Laval, hatte ich meiner Frau für den Fall einer Krankheit aufbewahren
wollen; jetzt mußte er geopfert werden. Am neunten Tage wurde beschlossen,
um Mittagszeit zurückzusegeln. Da begann der Wimpel des Schiffes sich zu
bewegen. Die Fischer riefen: „Entweder kommt nun Stille oder günstiger
Wind! — Richtet den Mast aus, zieht die Segel aus! Der Wind ist gut!"
Es ging wirklich vorwärts: nach einigen Stunden erreichten wir unweit einer
Poststation das andere Ufer. Hier erfuhr ich, daß meine Frau gleich mir
viele Tage lang auf dem See aufgehalten worden war. Bis Jrkutsk jagte
ich jetzt mit Windeseile; um Mitternacht kam ich an; ein Polizeidiener be¬
gleitete mich zur Wohnung meiner Frau.
Die Magd öffnete leise die Thüre; ich sah das Licht einer Nachtlampe
und hörte die Stimme meiner Frau, die ihr schlummerndes Kind einwiegte.
Die Freude des Wiedersehns war unbeschreiblich und wir versprachen einander
uns künftig nicht wieder zu trennen; in den Gesichtszügen meiner Frau las
ich sogleich die Krankheit meines Sohnes. Er war gefährlich krank, nahm keine
Nahrung zu sich, seine Gesichtsfarbe wurde noch blässer als sonst. Die Mutter
hob ihn aus dem Bette und trug ihn zu mir; er sah mich lange und starr
an, hob dann hastig seine Hand auf und lächelte: — von diesem Augenblicke
an bekam ich Hoffnung aus seine Genesung. Da der Herbst heranrückte,
war an Aufschub der Reise nicht zu denken, wir mußten uns trotz der Krank¬
heit des Kindes auf den Weg machen. Ich fuhr zum Gouverneur I. B.
Zeidler. erhielt meinen Paß und zum Begleiter einen Kosakenunterofficier.
Den 4. August Nachmittags setzten wir über die klaren Wasser der Angora-
Der Abend war freundlich; jenseit des Angora brach die Sonne durch die
Wolken und beleuchtete mit ihren Abendstrahlen die zweite Hauptstadt Sibiriens
und einige große Gebäude, rings von Gärten umgeben und sich in der An-
gora und Jrkuta spiegelnd. — Jeder Schritt führte uns einem neuen Leben
näher; derselbe Weg, den ich vor sechs Jahren im Winter zurückgelegt hatte,
schien mir jetzt völlig verändert zu sein.
Da es mit der Gesundheit unseres Kindes besser zu gehen begann, fa߬
ten wir frischen Muth und setzten unsere Reise nach Kurgan, wo uns doch
nur eine neue Art von Gefängniß erwartete, mit einiger Freudigkeit fort.
Wir fuhren sehr schnell und eilten absichtlich, um zeitig in Kurgan anzukom.
men. Von Petrowsk bis zu unserm neuen Bestimmungsorte zählte man nicht
weniger als 4200 Werst (600 deutsche Meilen); die unvorhergesehene Ver-
zögerung meiner Abfertigung aus dem Gefängnisse, die Hindernisse auf dem
Baikalsee hatten uns drei Wochen guter Jahreszeit geraubt: es war schon
Anfang August und die Nachtfröste begannen. Dafür waren wir von den
kleinen Fliegen befreit, die während des kurzen sibirischen Sommers Mer«
schen und Thiere so schrecklich quälen, daß man am Tage gar nicht arbeiten
kann und selbst gemeine Dienstarbeiter das Gesicht mit Schleiern aus Draht
oder Leinwand bedecken müssen. — Ich habe schon der ungewöhnlichen Rasch¬
heit der sibirischen Pferde erwähnt; wir fuhren Tag und Nacht; Abends
setzte ich mich neben den Fuhrmann aus den Bock und versprach ihm ein gu¬
tes Trinkgeld, wenn er vorsichtig und etwas langsamer fahren würde; aber
mein Versprechen und meine Drohungen waren vergeblich — die Pferde unauf.
sattsam. Wenn sie aus der Station angespannt wurden, stand eine Menge
Menschen vor diesen unbändigen Thieren und hielt sie an den Halftern fest;
sobald sich der Reisende eingesetzt hatte rief der Fuhrmann: „Laßt los!" Die
Menschen warfen sich dann rasch nach rechts und links in die Flucht und
der Wagen flog ohne Uebertreibung wie eine Kugel dahin. Alle Anstreng¬
ungen des Fuhrmanns sind fruchtlos: je mehr er zurückhält, desto rascher ren¬
nen die Pferde, er kann nur die Richtung des Weges festhalten. — Nach
den Mer vier Wersten, wo gewöhnlich Thor und Umzäunung des Weide-
Platzes für die Dorf- und Stationsheerde den Weg hemmen, werden die
Pferde ruhiger und ist die eigentliche Gefahr vorüber, denn die Thiere sehen
Wenigstens auf den Weg. Ging es im vollen Lauf bergab oder über einen
Fluß, so konnte einem immer noch Hören und Sehen vergehen.
Wir übergehen die ferneren Abenteuer der Reise, welche unsern Me¬
moirenschreiber und seine Familie von Jrkutsk nach Kurgan führte. In
diesem Städtchen, in welchem sich allmälig auch andere politische Verbrecher
von 1825 einfanden, lebte der Verfasser fünf Jahre lang mit seiner heran-
wachsenden Familie als Ansiedler. Ueber die Umstände, welche zu einer Um-
Wandlung der „ewigen Ansiedlung in Sibirien" in Verweisung nach Kau-
kasien führten, lassen wir ihn selbst berichten:
„In den ersten Tagen des Jahres 1837 verbreitete sich das Gerücht, daß
der Großfürst Thronfolger (jetzige Kaiser) Alexander Nikolajewitsch eine
Reise nach Sibirien unternehmen und auch Kurgan berühren werde. Im
April fuhr man für ihn Pferde ein und dressirte man die Vorreiter; für den
Fall, daß der Thronerbe Nachts die Stadt passiren sollte, wurden die Pferde
daran gewöhnt vor den erleuchteten Laternen und angezündeten Fackeln, mit
denen mehre Reiter auf beiden Seiten des Weges neben den angespannten
Pferden sprengen sollten, nicht zu erschrecken. Diese Vorbereitungen belustigten
viele Zuschauer, nur nicht die Mütter der Vorreiter und der Fackelträger,
welche jeden Augenblick Gefahr liefen von ihren unbändigen Rossen zu
stürzen und den Hals zu brechen. Diese Vorbereitungen bildeten Wochen lang
den Hauptgegenstand aller Gespräche in Kurgan. Im Kreise meiner Kame¬
raden wurde die Frage aufgeworfen: Sollen wir die Gelegenheit benutzen
und um unsere Rückkehr in die Heimath bitten? — Aber welche Zukunft
konnten Männer erwarten, die zum bürgerlichen Tode verurtheilt waren?
Was für einen Trost würden unsere Verwandten davon haben, uns ohne
Stellung, ohne bürgerliche Rechte, ohne Beschäftigung unter Aufsicht der
Polizei verkümmern zu sehen? — Außerdem mußten wir uns sagen, daß wenn
die Vermittelung des Thronfolgers auch Einige von uns aus der Verban¬
nung befreite, nur ein geringer Theil unserer Unglücksgefährten dieser Gnade
theilhaftig werden könne und die Uebrigen, ja die Meisten, in allen Richtungen
Sibiriens zerstreut, in eine noch üblere Lage gerathen müßten. — Als die
Nachricht kam, daß der Thronfolger schon in Tobolsk sei, daß er nur den
westlichen Grenzstrich Sibiriens berühren, über Jalutorowsk und Kurgan
nach Orenburg reisen und den 6. Juni in unserer Stadt eintreffen werde,
wuchs meine Unruhe täglich. Für mich selbst hatte ich Nichts zu bitten,
aber für die Zukunft meiner Kinder, meiner treuen Gattin mußte ich sorgen,
da meine zunehmende Kränklichkeit mir den Gedanken nahe legte, nicht mehr
lange ihr Beschützer und Rathgeber zu bleiben. — In einem solchen Kampfe
wurde es mir nicht schwer mich zu entschließen. Drei Tage vor der Ankunft
des Thronfolgers fuhr ich zu meinen Kameraden und that ihnen meinen
Entschluß kund, eine Audienz beim Thronfolger zu erbitten, um ihm mündlich
das Schicksal meiner Familie anzuvertrauen, wenn ich selbst nicht mehr sein
würde. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich eine solche Gelegenheit
verabsäumt hätte, um meinen Kindern, wenn auch nicht sogleich, doch mit
der Zeit, einige Erleichterung zu verschaffen.
Den 6. Juni Nachmittag strömte das Volk in festlicher Tracht dem
Thronfolger entgegen, den man zur Nacht erwartete. Außer den Einwohnern
der Stadt kam eine Menge Landvolk aus den umliegenden Dörfern und be¬
setzte Werste weit beide Seiten des Weges auf dem er kommen sollte. Die
Sonne ging unter, doch die Sommernächte im Norden werden nie dunkel;
dessenungeachtet fand sich ein listiger Speculant, ein unbedeutender Lichtsabri-
kant. der eine Masse Lichter in Vorrath hatte, und dem Volke einredete,
wenn der Thronfolger in der Nacht eintreffe müsse er mit brennenden Kerzen
bewillkommnet werden. Das Volk saß an beiden Seiten des Weges mit an¬
gezündeten Lichtern in der Hand. Endlich um Mitternacht, als Alles wieder
finster geworden war, kam ein Feldjäger angesprengt, dem nach einer Viertel¬
stunde der hohe Gast mit seiner Suite folgte. Im Hause des Kreisrichters
nahm der Thronfolger seine Wohnung; die Reisenden begaben sich sofort
nach ihrer Ankunft zur Ruhe, das Volk aber stellte sich vor der Wohnung
seines künftigen Herrschers auf der Straße auf, um das Erwachen abzuwarten
und ihn dann zu sehen. — Um vier Uhr Morgens fuhr ich an das Haus
das den Thronfolger beherbergte, ließ die Brettdroschke inmitten eines dichten
Haufens halten und schleppte mich auf meinen Krücken bis vor die Thür.
Von Weitem kam mir der Polizeimeister entgegen, und bat mich ihn doch
keiner Verantwortung auszusetzen, da der Adjutant des Generalgouverneurs
ihm streng vorgeschrieben habe, Niemand von den Staatsverbrechern zum
Thronfolger zuzulassen. Ich bemerkte ihm, daß ein solcher Befehl mir zweifel¬
haft erscheine und daß, wenn eine solche Maßregel für unumgänglich noth¬
wendig gehalten worden wäre, die Behörde ihn wohl schon früher davon
benachrichtigt und uns entweder eingesperrt oder doch verboten hätte, an
diesem Tage das Haus zu verlassen. Ich mußte aber doch der ängstlichen
Bitte des guten Polizeimeisters nachgeben und suchte die Wohnung des
Gendarmen-Stabsofficiers auf, der den Thronfolger begleitete; es war ein
Obristlieutenant Hoffmann, der mir auf der Straße begegnete. Ich ersuchte
ihn, mir die Gelegenheit zu einer Audienz zu verschaffen. Diese Bitte mußte
der Obrist mir abschlagen; er äußerte aber seine Bereitwilligkeit, eine von mir
zu verfassende Bittschrift zu überreichen. Als er erfuhr, daß ich gar keine
Bittschrift aufgesetzt hätte, bat er mich, einen Augenblick auf ihn zu warten,
er wolle sich über die Möglichkeit der Erfüllung meines Wunsches instruiren.
Während ich auf Obristlieutnant Hoffmann wartete, kam ein stattlicher
Mann in einen Militärmantel eingehüllt gerade auf mich zu und sagte:
„Gewiß sind Sie der Baron R. Mein Freund Krutow hat mir auf die
Seele gebunden, Sie, wenn ich über Kurgan reisen sollte, zu besuchen und
Ihnen zu helfen; ich bitte Sie bei mir einzutreten." Es war I. V. Jenochin,
der Leibarzt des Thronfolgers, der diese Worte zu mir sprach. Einen Augen¬
blick später hatten mich zwei geschickte Feldscherer ausgekleidet; ich lag auf
einem Divan, und nachdem Jenochin mein krankes Bein untersucht hatte,
erklärte er sogleich, daß es eine „halbe Verrenkung nach vorn" sei. die mir die
Schmerzen verursacht habe. Da schon ein halbes Jahr seit der Verrenkung
verstrichen war, so konnte man mir nicht augenblicklich helfen. Während ich
mich ankleidete, trat Hoffmann ein und holte mich in die Wohnung des
Thronfolgers, wo mich der Generaladjutant Kawelin empfing. Als ich ihm
meinen Wunsch mitgetheilt hatte, erklärte er mir, daß es unmöglich sei, den¬
selben zu erfüllen, da seine Instruction ihm Solches verbiete; ich möchte ihm
(Kawelin) meine Bittschrift überreichen. er werde dieselbe Er. Kaiserl. Hoheit
übergeben. Da ich bemerkte, daß ich keine Bittschrift abgefaßt hätte, fragte
der General mich: „Was wünschen Sie zu erbitten?" — „Für mich selbst kann
ich gar Nichts verlangen, weil ich in meinem hilflosen kranken Zustande
von gar keiner Gnade Gebrauch machen kann; ich wollte den Thronfolger
bitten, daß für meine Gattin und für meine Kinder im Fall meines Todes
gesorgt werde". — General Kawelin gab mir den Rath, sogleich eine Bitt¬
schrift aufzusetzen und sie ihm eine halbe Stunde vor der Messe abzugeben, weil
man nach der Kirche sofort die Reise fortsetzen werde. Im Vorhause befahl
er dem daselbst anwesenden Geistlichen die Messe um sechs Uhr anzufangen
und sie eiligst zu vollenden, damit der hohe Reisende an demselben Tage
zur Nacht Slatoust erreichen könne, einen 200 Werst (29. d. M.) entfernten
Ort. Auf der Treppe begegnete ich dem Flügeladjutant S. A> Jurjewitsch,
der mich bat, Frau von Naryschkin die Grüße ihrer Brüder, der Grafen
Gregoire und Alexis Konownitzin. abzustatten. Beim Weggehen bemerkte ich
den Thronfolger am Fenster stehend: der Ausdruck seiner Gesichtszüge schien
mir zu sagen, daß er mein Beschützer sein werde.
Vor meiner Hausthür stand ein Wagen. Aus meine Frage, wer zu
mir gekommen sei, antwortete der Kutscher „ein General" (das russische Volk
nennt bekanntlich alle Excellenzen, wenn sie auch Professoren, Aerzte oder
Richter sind, Generale). — Zu meiner unaussprechlichen Freude war es der
edle unvergeßliche Wassily Andrejewitsch Schukowsky, der rühmlich bekannte.
Dichter und Lehrer des Thronfolgers; er tröstete meine Frau, liebkoste meine
kaum vom Schlaf erwachten Kinder und küßte sie, obschon sie sich blöde ab¬
wendeten und weinten. Als ich ihm meine erfolglosen Bemühungen, den
Thronfolger persönlich zu sprechen, mittheilte und hinzufügte, daß General
Kawelin mir den Rath gegeben, sogleich eine Bittschrift aufzusetzen, sagte er
mir: „Sie haben jetzt keine Zeit dazu, wir reisen sogleich ab; Sie können
aber ganz ruhig sein, ich werde Sr. Kaiserlichen Hoheit Alles vortragen.
Seit dreizehn Jahren bin ich täglich um ihn, und ich habe mich schon längst
davon überzeugt, daß sein Herz an der rechten Stelle schlägt; wo er Gutes
thun kann, da thut er es gern." — Nicht lange konnte ich mich an der
Unterhaltung des liebenswürdigen Dichters erfreuen. Er wunderte sich, daß
wir in Sibirien schon sein neuestes Werk „Undine" gelesen hatten; mit großem
Lobe erwähnte er der Dichtungen unseres Odojewsky und bedauerte innig,
«
daß er in Jalutorowsk meinen Kameraden Jakuschkin nicht hatte spre¬
chen können. Auch über den künftigen Erben der russischen Krone konnte
wir einige Worte wechseln; Alles was Schukowsky vom Gemüthe des Thron-
folgers sagte, schien mir ein Pfand für das künftige Wohl Rußlands zu bie¬
ten. — Der Thronfolger war über die Strecke Sibiriens, die er gesehen hatte,
höchst verwundert gewesen; anstatt verfallener Hütten, großer Armuth und
Niedergeschlagenheit hatte er Zufriedenheit, einen gewissen Wohlstand und
hübsche Dörfer gefunden. Dieses Volk von Verbannten hatte den Großfür¬
sten, wie dieser selbst gesagt, in Tjumen und Tobolsk empfangen, wie man
ihn in Nybinsk und Jaroslaw nicht besser hätte empfangen können.
Während Shukowsky noch bei mir war, wurde zur Kirche geläutet; der
Cesarewitsch hatte dem Gensdarmen-Stabsofficier anzuordnen befohlen, daß
diese Herren (unter dieser Benennung meinte er uns Staatsverbrecher)
in die Kirche kämen; „nur dort kann ich sie sehen." — Die aus Petersburg
gegebene Instruction hatte einen solchen Fall nicht vorgesehen. Der Poli¬
zeimeister schickte sogleich Boten in unsere Wohnungen, damit wir uns so¬
gleich in der Kirche versammeln sollten. Der Thronfolger mit seinem gan¬
zen Gefolge stand vor dem Hauptaltar, rechts an der Seitenmauer standen
meine Kameraden, links.Frau von Naryschkin; die Beamten und das Volk
standen im Hintergrunde, längs der Seitenaltäre, der größte Theil des Volks
drängte sich außerhalb der Kirche um die Equipagen. — Während der Liturgie
sah der Thronfolger mehrmals meine Unglücksgefährten an und hatte Thrä¬
nen in den Augen. Ich konnte nicht zur rechten Zeit zur Kirche gelangen
und als ich mit meinen Kindern aus dem Hause trat, kündigte ein lufter¬
schütterndes Hurrah bereits die Abreise des Cesarewitsch an, des einzigen
hohen Gastes, dessen Erscheinen an einem Verbannungsort Freude und Hoff¬
nung einflößte. Das Volk jauchzte, seinen künftigen Herrscher gesehen zu
haben, einzelne furchtsame alte Weiber aber bekreuzigten sich und sagten
laut: „Gottsei gedankt, daß wir am Leben geblieben sind!" — Dem ihn be¬
gleitenden Obrist Nasimow, der ihn um Erlaubniß gebeten, einen meiner Ka¬
meraden zu besuchen, hatte der Großfürst gesagt: „Ich freue mich, daß Du
Gelegenheit hast, einen Verwandten zu besuchen, der im Unglück ist." — Auf
seiner Rückreise berührte der Thronfolger Saratow, daselbst stellte ihm der
General Arnoldi alle anwesenden Artillerie-Officiere vor, und als der Name
meines jüngeren Bruders genannt wurde, fragte der Cesarewitsch ihn, ob er
nicht einen Verwandten in Sibirien habe? Als mein Bruder geantwortet
hatte, daß er dort einen leiblichen Bruder habe, äußerte der Thronfolger in
Gegenwart aller Umstehenden: „Ich freue mich, Ihnen mitzutheilen, daß ich
Ihren Bruder gesehen habe; obgleich er auf Krücken geht, kann seine Ge-
sundheit doch wiederhergestellt werden, und ich habe den Kaiser bereits um
Milderung seines Looses gebeten."
Der Tag der Abreise des Thronfolgers aus Kurgan, der 6. Juni,
war der Pfingsttag und zugleich das Kirchenfest unserer Stadt. Das Volk
feierte diesen Tag außerhalb der Stadt, ungefähr vier Werst beim großen
Hügel, von welchem die Stadt ihren Namen erhielt. Dort am Ufer des
Tobol. in einem nahen Wäldchen, wandelten die Fröhlichen, tranken Thee,
Bier und Branntwein, knackten Nüsse, sangen und tanzten nach einem Accor-
dion. Gegen Abend fuhr ich mit meinen Kindern dahin; Städter und
Landbewohner umringten mich mit Fragen, die Theilnahme verkündeten.
„Haben Sie den Thronfolger gesehen? was hat er Ihnen gesagt? hat er
Ihnen Befreiung versprochen? Gott gebe Ihnen Trost und Befreiung!" —
Den 8. August erfuhren wir, daß, der Großfürst aus der Slatoust'schen
Fabrik, seinem ersten Nachtlager, einen Courier mit einem Brief an den
Kaiser abgefertigt habe, in welchem er um unsere Befreiung und Rückkehr
in die Heimath gebeten. Der Kaiser Nikolaus hatte nach Empfang dieses
Schreibens geäußert, daß für „diese Herren" der Weg nach Rußland nur
über den Kaukasus führen könne, und sodann befohlen uns als gemeine
Soldaten in das abgesonderte kaukasische Corps überzuführen. Wir erhielten
diese Nachricht zu gleicher Zeit durch unseren Generalgouvemeur und durch
den nach Kurgan gekommenen Capitän des finnländischen Garderegiments
Grafen Gregoire Konownitzin, der um die Erlaubniß nachgesucht hatte, seine
Schwester, Frau von Naryschkin, zu ihrer Mutter zu begleiten. Von diesem
Befreiungsacte war > allein unser Camerad A. F. von der Brügger aus¬
geschlossen und zwar)ohne allen Grund; fast ein Jahr nach unserer Abreise
wurde er als Canzelist im kurganschen Kreisgerichte angestellt und erhielt
nach zehn Jahren den ersten Classenrang. — Da der kaiserliche Befehl sofort
ausgeführt werden mußte, reisten meine Gefährten schon nach einigen Tagen über
Tooolsk. Kasan und Rostow an unsern neuen Bestimmungsort ab. Meiner
Krankheit und meiner Familie wegen hatte der Generalgouvemeur Fürst
D. T. Gortschakow mir gestattet, gerade über Orenburg und Saratow zu
reisen und einige Tage lang Reisevorbereitungen zu treffen.
Am 6. Sept. reisten wir in dem Wagen, mit dem meine Frau aus
Moskau gekommen war, nach Europa zurück, des wackern deutschen Meisters
gedenkend, der dieses solide Fahrzeug gebaut und Wort gehalten hatte, als
er meine Frau versicherte, sie werde in demselben wieder nach Moskau zu¬
rückkehren können. — Aus dem Lande der Verbannten scheidend, gedachte
ich meiner Kameraden, die zurückgeblieben waren; mein Segen ruht auf
ihnen, wie auch auf diesem Lande, welches mit der Zeit aufhören wird, ein
Mittel des Schreckens und der Strafe zu sein, weil es alle Aussicht hat,
wenigstens zum großen Theil ein Land des Wohlstandes zu werden. Viel«
leicht hat die Vorsehung viele meiner Unglücksgefährten und der vaterlands¬
losen Polen dazu ausersehen, die Begründer einer besseren Zukunft Sibiriens
zu werden. Als Pfänder einer günstigen Zukunft dieses Himmelsstrichs
dienen jetzt schon drei Umstände: Dieses Land hat keine privilegirten Stände,
sehr wenig Beamte, und ein Volk das sich selbst zu regieren versteht.
Die nationale Politik, welche Baden seit 1866 bewährt, hat diesem süd¬
lichen Grenzstaat deutschen Lebens die Sympathien aller deutschen Patrioten
verschafft und mit der wärmsten Theilnahme, nicht ohne Sorge, haften die
Blicke auf diesem Theile unseres Bodens. Gerade dort sind die Schwierig¬
keiten einer bundestreuen Regierung so groß, daß sie die stärkste Festigkeit
und Besonnenheit der Regierenden, dazu ein ungewöhnliches Organisations¬
talent erfordern. So lange der Eintritt Badens in den großen deutschen
Bund als nahe bevorstehend zu hoffen war, vermochte die Regierung leichter
die Zumuthungen an ihre Staatsbürger zu steigern, sie durfte erwarten, in dem
Zwang übermächtiger Thatsachen und in der Autorität des Bundes ihre
Stützen zu finden und so mit den abgeneigten Elementen in der Bevölkerung.
Mit Ultramontanen, Großdeutschen und Radikalen, fertig zu werden. In
dieser Hoffnung wurde durch das Ministerium Mctthy Vieles für den Eintritt
vorbereitet: die Steuerleistung des Landes ward gesteigert, und so die Militär¬
organisation des Bundes möglich gemacht, für jeden Kreis der Bundes¬
interessen wurden die Verhältnisse des Staates der Einordnung angepaßt.
Der Tod Mathy's traf zusammen mit einer vorläufigen Entscheidung der
süddeutschen Frage, welche gegen die höchst berechtigten Wünsche der badischen
Regierung und der nationalen Deutschen auffiel. Die Aufgabe des Mi¬
nisteriums Jolly wurde dadurch noch schwieriger. Allein und ohne die
Autorität des Bundes mußten Finanzen, Heerwesen und Verwaltung in
hundestreuem Sinne fortgeführt werden, sollten Regierung und Volk die
Lasten der Neuzeit tragen ohne die entsprechende Erhebung des nationalen
Gefühls, des freien Verkehrs, der höchsten Staatsinteressen, welche die Aus¬
dehnung des Bundes über den. Süden gebracht hätte. Wir haben jeden
Grund, dem neuen Ministerium die Hochachtung und Dankbarkeit der Na¬
tion auszusprechen für Festigkeit, Thatkraft und Energie, womit dasselbe
die Geschäfte Badens geleitet. Ohne sich gegen das Ausland Blößen zu
geben und ohne sich von den andern Südstaaten feindlich zu isoliren, hat
das Ministerium Jolly die Militärverfassung durchgeführt, der innern
Verwaltung Präcision und Disciplin gegeben, die in Baden nur zu lange
fehlte und dabei der Landescultur, der Vermehrung des Wohlstandes, der
Gertchtsorganisation und den Anfängen einer Selbstregierung der kleineren
Volkskreise eine Aufmerksamkeit und Arbeitskraft zugewendet, welche in Süd-
deutschland fast unerhört sind. Es ist eine der wenigen' Regierungen in
Deutschland, welche den Beweis führt, daß man durchaus liberal und von
dem edelsten Patriotismus beseelt sein und doch dabei mit sicherer Hand
die Zügel einer Staatsregierung leiten kann.
Ihr größter staatsmännischer Vorzug aber ist, daß sie stets verstanden
hat, die wichtigste Frage, die des nationalen Anschlusses, obenan zu stellen. Der
gegenwärtige Zustand des Staates ist ein provisorischer. Noch ist ein großer
Krieg, welcher über die Zukunft des Südens entscheiden soll, nicht unmög-
lich, Vielen gilt er für nahe bevorstehend. Nach den Erfahrungen von 1866
war die erste Aufgabe, Zucht und Gehorsam in Heer und Beamtenthum
durchzusetzen und die nächste zu verhüten, daß die konfessionellen und politischen
Parteien im Lande selbst durch ihre Zmistigkeiten die Regierung in neue
Conflicte warfen, welche bei der eigenthümlichen Configuration des Landes
für Baden stets gefährliche Lebensfragen geworden sind.
Bei dieser weisen Politik hatte die Regierung auf die schwächliche, aber
geräuschvolle Feindseligkeit der Ultramontanen und Großdeutschen zu rechnen
und auf die verständige und hingebende Unterstützung der nationalen Partei
in Baden.
Denn die Führer dieser Partei, bisher unsere politischen Freunde, wußten
am besten wie unsicher die Majorität war, welche sie gegenwärtig als Erwählte
darstellten, wie kurz der Gesichtskreis, schwankend und wechselvoll die Stim¬
mungen ihrer Wähler, und sie vermochten einzusehen, daß ihre beste Weisheit sein
mußte, treu in allen großen Fragen zu der nationalen Gesinnung der Regie¬
rung zu stehen, und dafür auch berechtigte innere Forderungen zurückzuschieben;
gerade sie hatten die dankbare Aufgabe, vor dem übrigen Deutschland, welches
sie im vorigen Jahre mit lauter Freude als Vorkämpfer der deutschen Sache
begrüßt hatte, zu constatiren daß auch im Süden zuverlässige politische Charak¬
tere von großem Zuschnitt nicht fehlten. Aber während wir im Nordbunde solche
Politik der Badenser als selbstverständlich annahmen, was thun dieselben Männer,
die seit dem Jahre 1866 als Vertreter unserer Partei galten? Sie vereinigen
sich zu Offenburg im vorigen Monat bei einer Zusammenkunft, die sie mit
einigem Geheimniß umgeben, gegen ihre alten Parteigenossen in der Re¬
gierung zu Forderungen, welche einem Mißtrauensvotum gegen dieselbe und
in Wahrheit einem Abfall von der nationalen Partei gleichkommen.
Dieser Verabredung folgen Zeitungsartikel, deren Spitze gegen das
Ministerium gerichtet ist; in dem Lande wird von denselben Liberalen für
Unzufriedenheit aMrr, die Steuerlast und Militärlast beklagt und der
Verdacht gemurmelt, daß das Ministerium Jolly ein Verbündeter der preußi¬
schen Reaction za werden drohe. Endlich werden auch die offenburger Forde¬
rungen veröffentlicht, auf deren Erfüllung diese Herren jetzt bestehen müßten.
Die Sache macht in Baden und außerhalb das größte Aufsehen, das Mi¬
nisterium, von seinen eigenen Freunden bedroht, findet sich durch diesen plötz¬
lichen Abfall veranlaßt beim Großherzog die Entlassung einzureichen und nur
der ausgesprochene Wille des Fürsten erhält dasselbe jetzt im Amte.
Und sieht man näher zu: welchen Grund haben die liberalen Vertreter
des badischen Volkes zu solch' unerhörtem Verhalten? welche schwere Ver¬
schuldungen und welcher Abfall von liberalen Grundsätzen macht eine Auf¬
lehnung der Partei gegen ein Ministerium von ihrer eigenen Farbe er¬
klärlich? Es ist absolut kein Grund vorhanden; die Unzufriedenen vermögen
dem Ministerium keine einzige Maßnahme vorzuwerfen, welche entweder
illiberal oder gegen die besten Interessen des Landes und der Nation sind.
Ja im Gegentheil, so weit aus den Forderungen, welche sie selbst aufstellen,
ihr eigener Standpunkt klar wird, muß sich der patriotische Unwille gegen
sie selbst richten. Zwar mehre dieser Forderungen mögen an sich sehr be-
rechtigt sein und nur ihr Aufregen in diesem Momente unzeitig, sowie die Art
und Weise sie geltend zu machen ungeschickt; andere aber, vor Allem die
Forderung, daß das Militär-Budget jetzt verringert werde, sind gradezu ein
Preisgeben der nationalen Sache und ein Rückfall in die alte elende Klein¬
staatswirthschaft des Südens. Wahrlich, nicht Schule, nicht Kirche, nicht
liberale Reden vermögen grade in Baden das alte leidige Bummelwesen so
schnell zu bessern und den Männern aus dem Volke so sehr die Selbst¬
verleugnung und Hingabe an den Staat einzuflößen, wie die allgemeine
Wehrpflicht und die als preußisch gescholtene Militärzucht. Und suchen wir die
letzten Motive für diese plötzliche Ablösung von dem Ministerium, so ver-
mögen wir wieder keine anderen zu erkennen^ als kleine Verstimmung, verletzte
Selbstliebe, nicht erfüllte persönliche Hoffnungen. Dann den Mangel jener
Parteizucht, welche das erste Erfordernis? jedes handelnden Politikers sein
soll. Und endlich den Mangel an männlichem Muth, welcher große Usber¬
zeugungen auch gegen das ' Geräusch des Tages und die kleinbürgerliche
Unzufriedenheit der Wähler aufrecht zu erhalten weiß.
Sind die Herren so kurzsichtig, zu meinen, daß auf eine Abdication des
Ministeriums Jolly ein Ministerium Lamey und Bluntschli folgen werde?
Es gehört wenig Weisheit dazu, um zu verstehen daß nach solchem Fiasco
und Zerwürfniß der nationalen Partei in Baden ein völliger Umsturz des
Systems eintreten muß und daß entweder die großdeutsche Partei die Re¬
gierung übernehmen wird oder daß eine Krisis anderer Art über den Staat
hereinbrechen mag, welche das selbständige Leben Badens noch tiefer schädiget.
An dem unglücklichen Tage von Offenburg haben die Liberalen Badens
sich ein Armuthszeugniß ausgestellt, welches von Niemandem mit größerer
Freude gelesen wird, als von ihren pfäffischen und großdeutschen Gegnern.
Und was wir nicht weniger schmerzlich empfinden: sie haben uns andere
Deutsche um das Vertrauen ärmer gemacht, welches wir auf sie und ihre
Thätigkeit für den Staat deutscher Zukunft setzten.
Es wird uns schwer zu glauben, daß Deutsche, deren Talent und Ge¬
sinnung mehr als einmal der deutschen Sache von Nutzen war, sich so ganz
auf falschem Wege verlieren sollten. Sie werden leider schon jetzt schwer
finden, den Schaden wieder gut zu machen, den sie angerichtet. Dem Mini¬
sterium Jolly aber, das nächst dem Großherzog gegenwärtig der letzte Vor¬
kämpfer der nationalen Sache in Baden ist, möchte dies Blatt die achtungs¬
volle Bitte ans Herz legen, den Posten, auf den es durch ein großes Schicksal
gestellt wurde, festzuhalten bis zum Aeußersten. 'Wie dann auch die Ge¬
schicke Badens sich gestalten, ihm wird der Ruhm bleiben, unter schlaffen ver-
rätherischen Freunden und gegen eine Ueberzahl von Feinden die höchste
Pflicht deutscher Patrioten erfüllt zu haben. Selten vermag der Lebende zu
ermessen, wie die Nachwelt seine Erdenarbeit betrachten wird; wenn uns aber
jemals ein solcher Blick in die Zukunft gestattet war, so ist es jetzt bei un¬
serem Kampfe für den deutschen Staat. Und wir ahnen, daß die Nachwelt
diesen Kampf für groß halten und die Männer, welche damals fest für
die Einheitsidee standen, als die Gründer deutscher Freiheit und Größe be¬
trachten wird.
Carstens' Werke, in ausgewählten Umrißstichen von Wild. Müller, herausgegeben
von Hermann Riegel. 2. Auflage. 43. Tafeln. Leipzig, Verlag von Alphons
Dürr. 1869.
Eine neue Auflage der trefflichen Nachbildungen von Carstens' Compositionen,
welche der vor Kurzem verstorbene weimarische Kupferstecher Will). Müller seit einer
Reihe von Jahren heftweise herausgab, war lange ein Wunsch der Kunstfreunde
und Forscher. Die Verlagshandlung von A. Dürr in Leipzig hat sich, wie an man¬
chem ähnlichem Werke, das durch falsche geschäftliche Behandlung dem Publicum
entfremdet war, so auch an diesem das Verdienst der Wiederherstellung erworben,
was um so dankenswerther ist, weil wir dasselbe nicht blos in handlicherer und
geschmackvollerer Form, sondern zugleich auch wohlfeiler erhalten. Dabei ist in der
neuen Auflage für einen reichlichen Text gesorgt, welcher über den Lebensgang des
Künstlers und die Bedeutung der Kompositionen sachkundigsten Aufschluß gibt. Ganz
besonders verdient diese Auflage der Kupferstiche nach Carstens' noch deßhalb em¬
pfohlen zu werden, weil ihre Aufnahme über die Veranstaltung einer Fortsetzung
der Publicationen von Carstens'schen Werken entscheiden soll, von denen noch eine
stattliche Reihe dem Publicum fast gänzlich fremd ist und die theilweise auch dem
Kunstforscher schwer zugänglich sind.'
Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ist die Anerkennung Carstens gewachsen; bei den
Künstlern versteht sich das von selbst; aber auch von jedem Gebildeten, der die
Schicksale der deutschen Kunst mit Interesse verfolgt, wird heute verlangt, daß er
sich eine Vorstellung von der Eigenthümlichkeit dieses Mannes bilde, dessen gesin¬
nungsvolles Streben ihn selber in den Tod, die deutsche Kunst zu neuem Leben rief.
An Mitteln dazu fehlt es heute nicht mehr. Die vorliegende Bildersammlung weist
uns auf die vorm Jahre von demselben Herausgeber, Dr. H. Riegel, veröffent¬
lichte Bearbeitung der Biographie Carstens' von K. L. Fernow zurück (Hannover
bei Karl Rümpler 1867), eine Arbeit, welche die Kunde von Künstler und Werk
auf das erwünschteste vervollständigt. Mit schöner Pietät hat der Verfasser den
Text des Fernow'schen Buches, das fast ganz aus dem Handel verschwunden war,
zunächst neu abgedruckt, um das Verdienst des ausgezeichneten Mannes zu wahren
und dieses in seiner Art classische Denkmal eines Freundes wieder aufzufrischen. Er
gibt sodann in Anmerkungen eigene Kritik sowohl der historischen wie der ästheti¬
schen Seite der Originalbiographie, erweitert und berichtigt dieselbe durch urkundliche
Beiträge, unter denen namentlich die Correspondenz Carstens' mit Berlin von
Wichtigkeit ist, und setzt in einen eigenen Capitel sein Urtheil mit dem Fernow's
und den Künstler mit seiner Zeit und der nachfolgenden Kunstentwicklung aus¬
einander. Das letzte, aber nicht minder dankenswerthe und jedenfalls mühevollste
Stück der Arbeit ist ein genaues, mir allen erforderlichen Angaben versehenes Ver-
zeichniß der Werke.
Mit Ubr. A beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im December 1868.Die Verlagshandlung.
Zutrauliches, für mich so ehrenvolles Schreiben hat mir die angenehme Em¬
pfindung gegeben, daß meine Versäumniß, Hochdenenselben vorigen Herbst nicht
aufgewartet zu haben, hierdurch zum Theil wenigstens ausgeglichen wird.
So wie denn auch des Herrn Staats-Minister von Stein, Excellenz, durch
Empfehlung meiner vorhabenden Arbeit, zu so vielem Guten, das ich diesem
trefflichen Manne schuldig geworden, noch ein neues und so vorzügliches
hinzuthut.
Da die Sache von großer Wichtigkeit ist, und eine Erklärung über
dieselbe viele Schwierigkeiten hat; so sei es erlaubt mich aphoristisch aus¬
zudrücken, vorher aber die Entstehung jener Druckschrift, deren Ausgabe
leider verspätet worden, mit wenigem anzugeben.**)
Bei meinem zweimaligen^ Aufenthalt am Main und Rhein, in beiden
vergangenen Sommern, war mir angelegen, nachdem ich meine vaterländische
Gegend so lange nicht gesehen, zu erfahren, was nach so vielem Mißgeschick
sich daselbst, bezüglich auf Kunst, Alterthum und Wissenschaft befinde? wie
man es zu erhalten, zu vermehren, zu ordnen, zu beleben und zu be¬
nutzen gedenke?
Ich besah die Gegenstände, vernahm die Wünsche, die Hoffnungen, die
Vorsätze der Einzelnen, so wie ganzer Gesellschaften, und da ich meine Ge¬
danken dagegen eröffnete, forderte man mich auf, das Besprochene nieder
zu schreiben, um vielleicht eine öffentliche Uebersicht des Ganzen zu geben und
zu Privatunterhandlungen gleichsam einen Text zu liefern. Da ich aber auf
gedacht'er Fahrt Jhro Königl. Maj. Staaten nur im Fluge berührte; so ist
leicht zu ermessen daß dieser Theil des Aussatzes der magerste und unzuläng¬
lichste seyn werde, wenn dasjenige was über andere Ortschaften und Gegen¬
den gesagt wird, vielleicht befriedigender ausfallen möchte.
Bey allem konnte ich jedoch nur daraus ausgehen zu bemerken, was
vorhanden und was für das Vorhandene allenfalls zu wünschen sey; das
Wie hingegen habe ich von meinen Betrachtungen ausgeschlossen, weil dieses
nur von denjenigen beurtheilt werden kann, welchen die Ausführung der
Sachen, unter gegebenen Bedingungen, der Zeit und Umstände, anver¬
traut ist.
Die Rhein- und Mayngegenden. im breitesten Sinne genommen, zeigen,
so wie das übrige Deutschland, ausgesäte größere und kleinere Lichtpunkte.
Die Natur der nebeneinander gelagerten Staaten bringt mit sich, daß
wir niemals zu denen Vortheilen gelangen können, deren sich die Pariser,
zwar mit Unrecht, aber doch zu eigenem und zum Vortheil der übrigen ge¬
bildeten Welt erfreuten. Alles denkbare, was der mannigfaltig Thätige zu
seinen Zwecken bedürfen mag, fand sich beysammen, so daß Männer wie
Humbold und Gall, wenn sie sich selber nicht verkürzen wollten, einen
solchen Aufenthalt nicht verlassen durften.
Dieser Körper ist auseinandergefallen, und wenn der deutsche Freund
der Kunst und Wissenschaft sich umsieht, wo er irgend ähnliche Vortheile
finden könnte; so wird er sich als einen Reisenden betrachten müssen, da er
denn freylich die größten Schätze von Wissenschaft und Kunst nach und nach
wird aufsuchen und benutzen können.
Die Hauptrichtung meines kleinen Aufsatzes geht deshalb dahin, einem
jeden Orte das seinige zu lassen und zu gönnen, das Vorhandene hingegen
allgemeiner bekannt zu machen, damit man leichter beurtheile, wie es er¬
halten und belebt und von Einheimischen und Fremden benutzt werden könne.
Wenn nun aber.das vorhergesagte hauptsächlich von demjenigen gilt,
was wirklich schon besteht, so findet bey dem, was erst eingerichtet werden
oll, eine neue Betrachtung statt.
Die Bildung nämlich unserer Zeit steht so hoch, daß weder die Wissen¬
schaft der Kunst, noch diese jener entbehren kann. Seit Winkelmanns und
seiner Nachfolger Bemühungen ist Philologie ohne Kunstbegriff nur einäugig.
Alle mehr oder weniger gebildete Völker hatten eine zweite Natur durch
Künste um sich erschaffen, die aus Ueberlieferung, Nationalcharakter und
climatischen Einfluß hervorwuchs, deswegen uns alle alterthümlichen Reste
von Götterstatuen bis zu Scherben und Ziegeln herab, respeetabel und be¬
lehrend bleiben.
Und so fördern die verschiedenen Zweige der Wissenschaften einander,
wie denn auch die verschiedenen Zweige der Kunst einander fördern. Mit
dem Bildhauer sinkt der Medailleur, der Kupferstecher mit dem Zeichner.
Ein Kenner und Liebhaber der Naturgeschichte kann das glücklich nach¬
ahmende Talent sorgfältiger Künstler nicht entbehren, und so geht es durch
alles durch, bis Wissenschaft und Kunst endlich Technik und Handwerk zu
Hülfe rufen und auch diese veredeln.
Wer sich ein solches Ganze lebendig denkt, wird es an Einen großen
Ort, wo alle Glieder sich unmittelbar berühren, hinwünschen: denn gerade
diese Berührung ist es. woraus das wechselseitige Leben und eine Förderniß
entspringt, welche sonst auf keine Weise denkbar ist.
In diesem Sinne also mußte der Wunsch, diese Totalität in Cöln zu
sehen einem Fremden nicht tadlenswerth erscheinen, wenn er auch gleich bey
Unkenntniß der besondern Umstände, denselben nur problematisch auszu¬
sprechen wagte. In demselben Fall befinde ich mich und so habe ich mich
auch in meiner Druckschrift gehalten und die Frage zwischen Bonn und Cöln
schweben lassen.
Eine neue, mir bisher unbekannt gebliebene Etntheilung der Provinzen
aber, scheint die Vertheilung der verschiedenen Anstalten räthlicher zu machen.
Ew. Hochwohlgeb. haben sich hierüber deutlich ausgedrückt und ich glaube
auch die hierzu veranlassenden Gründe einigermaßen einzusehen. Wie sollte
auch derjenige nicht seine Gründe wohl überdacht haben, der an Ort und
Stelle schon längst vorläufig wirksam, einer von Ihm einzuleitenden neuen
Einrichtung den besten Fortgang zu sichern wünscht.
Es sey mir um der beliebten Kürze willen ein Gleichniß erlaubt: Man
hat in dem Raume zwischen Mars und Jupiter längst einen großen, allen¬
falls mit Satelliten umgebenen Planeten gesucht, und hat endlich an der
Stelle vier kleine gesunden. So werden nun auch nach gedachten Vorschlä¬
gen die getheilten Anstalten, sich um die Centralsonne des wissenschaftlichen
Vereins bewegen. Alles an einem Orte vereinet, würde durch Realität und
Lebenskraft der Oberaufsicht sowohl das Ueberschauen als das Einwirken er.
leichtern, anstatt daß sie, in dem gegenwärtigen Falle, ein ideeller Punkt wird,
der sich mit mächtigen Abtractions- und Repulsionskräften zu waffnen hat,
Wenn er die sämmtlichen Bahnen um sich her und unter ihnen selbst in re¬
gelmäßiger Bewegung erhalten will. .
Ich sage dies nicht, um gegen die vorgeschlagene Einrichtung zu argu-
wentiren, sondern nur auszusprechen, was gewiß schon bedacht ist. daß näm¬
lich jeder von diesen beiden Fällen von obenherein eine andere Behandlung
bedürfe.
Eine Besorgniß jedoch muß ich noch aussprechen, daß Deutschland, so
groß es ist, so groß es ist, kaum so viele mobile Individuen liefern werde,
welche sich qualificiren eine große Gesammt-Anstalt am Rhein wahrhaft zu
beleben, wobey doch mancher in verschiedene Fächer eingreifen und durch ein
mehrfaches Talent nützen könnte. Zu vertheilten Anstalten aber ist ein weit
größeres Personal, das zugleich mehr Fähigkeit, Tüchtigkeit und guten Willen
hat, erforderlich. Anderer ernsteren und anhaltenden Bemühungen der Vor»
gesetzten nicht zu gedenken, welche nöthig seyn werden, um die schon an und
für sich getrennten und nun auch durch Ortsentfernung geschiedenen Ele¬
mente, in einer wechselseitigen, wohlwollend verbundenen Thätigkeit zu
erhalten.
Daß dieses kräftigen, energischen, erfahrenen und geprüften und mit hin¬
länglicher Autorität versehenen Männern, die sich zum Mittelpunkt consti-
tuiren zu leisten möglich sey, will ich nicht in Zweifel ziehen; auch spreche ich
hier nur als einer der sich einen Augenblick anmaßt, über das Wie seine
Bedenklichkeiten zu eröffnen.
Sobald mein Aufsatz oder wenigstens dessen erstes Heft gedruckt ist,
nehme mir die Freyheit solches zu übersenden. Es kann nichts die königl.
Provinzen betreffendes enthalten, was Ew." Hochwohlgeboren nicht schon be¬
kannt wäre. Wie man aber die Städte weiter aufwärts zu einem Verein ein¬
laden und sie dafür interessiren könne, hierüber werden vielleicht einige
brauchbare Notizen hervorgehen.
Der ich, mit nochmaliger aufrichtiger Anerkennung des Werthes eines
so schätzbaren Zutrauens, um Verzeihung bitte, der flüchtig geäußerten Ge¬
danken. Dero Schreiben ist mir erst am zwölften Tage zugekommen, deshalb
ich gegenwärtiges beeile. Sollte mir etwas weiteres beygehen, das ich der Mit¬
theilung werth achten dürfte, so wird mir die Erlaubniß solches nachzubrin¬
gen gefällig gestattet seyn. Wie ich denn mit vollkommenster Hochachtung
die Ehre habe mich fortdauerndem Zutrauen angelegentlichst zu empfehlen
Weimar, den 15. Januar 1816.
Volkstätt, den 7. Jul. 1788.
Haben Sie Dank, liebster Freund, für Ihre Bemühungen um die Thalia.
Es hat mich nachher geärgert, daß ich Sie überhaupt nur mit dem Ein-
treiben derselben gequält habe. Ein einziger Brief nach Leipzig hätte sie mir
ja verschafft. Indeß ist es wirklich eine merkwürdige Begebenheit, daß —-
ein Prinz etwas zurückgibt.
Ich wünschte Sie schon manchen Tag hierher; der Umgang mit Ihnen
würde meine hiesige Existenz noch einmal so schön machen. Auch Ihnen
würde dieser Selbstgenuß wohl thun. Meine Tage verschwinden mir hier
so angenehm, so schnell. Ich werde um den Sommer gekommen sein, ehe
ich mir's denke. Besonders viel gearbeitet wird nicht. Meine Gesellschaft in
Rudolstadt ist so anziehend für mich, daß ich oft ganze Tage darin verliere,
biß mich einer meiner Verleger aus diesem süßen Traum wieder aufpocht.
Gestern habe ich die schönen und ehrwürdigen Ruinen vom Schlosse Planken¬
burg gesehen, die größten die mir noch vorgekommen sind. Es verlohnte
sich wohl der Mühe, eine Zeichnung davon zu machen. Ich wünschte nur
einen Tag hier zuzubringen und mich ganz in die alte Ritterzeit hinein-
zuträumen.
Goethe ist jetzt bei Ihnen.*) Ich bin ungeduldig, ihn zu sehen. Wenige
Sterbliche haben mich noch so interessier. Wenn Sie mir wieder schreiben,
liebster Freund, so bitte ich Sie, mir von Goethe viel zu schreiben. Sprechen
Sie ihn, so sagen Sie ihm alles schöne von meinetwegen, was sich sagen
läßt. Die Iphigenia hat mir wieder einen recht schönen Tag hier gemacht;
obschon ich das Vergnügen, das sie mir gibt, mit der niederschlagenden Em¬
pfindung büßen muß, nie etwas ähnliches hervorbringen zu können.
Ich trage jetzt auch das Gerüste zu einem Stück zusammen und der
Sommer, hoffe ich, soll es vollenden.**) Wird es fertig, wie ich wünsche,
so sehe ich es in Hamburg vielleicht spielen; ich bin stark versucht im Spät¬
jahr dahin zu reisen.
Leben Sie recht wohl und lassen Sie bald etwas von sich hören.
Chroniken der deutschen Städte, 6. Band! Braunschweig I.Band. (Herausgegeben
durch die historische Commission bei der königl. Akademie der Wissenschaften in
Baiern.) Leipzig, S. Hirzel. 1868.
Der vorliegende Band der deutschen Städtechroniken, der sechste der gan-
Zen Sammlung, der ^erste der niedersächsischen Reihe, ist, bis auf das von
Karl Schiller in Schwerin verfaßte Glossar,*) in sprachlicher wie in
historischer Beziehung ganz von dem braunschweigischen Stadtarchivar Ludwig
Hänselmann bearbeitet, demselben, dem wir bereits das vortrefflich edirte
Urkundenbuch der Stadt Braunschweig verdanken. Er enthält nach einer
allgemeinen lehrreichen Einleitung, welche das Entstehen und Zusammen¬
wachsen der fünf Weichbilde Braunschweigs darstellt, vier Texte aus dem
Ende des 13., des 14. und aus dem Anfange des 18. Jahrhunderts:
die inaeninatio tratrum amol-um 1279, das Fehdebuch 1377—88, die
Heimliche Rechenschaft 1406. und Hans Porner's Gedenkbuch 1417—27.
Dieselben werden erläutert durch sieben Beilagen, die wir nicht anstehen,
als Muster sorgfältiger Untersuchung zu bezeichnen und die zu dem Besten
gehören, was die städtische Historiographie überhaupt aufzuweisen hat.
Eigentlich gehören zu diesem Bande neun Beilagen; aber zwei sind für den
folgenden zurückgelegt worden, ohne Zweifel auf Veranlassung des Heraus¬
gebers der ganzen Sammlung, Professor Hegel, der in der Vorrede bemerkt,
daß „den selbständigen historischen Ausführungen des Bearbeiters in den
Beilagen dieses Bandes ein großer, vielleicht zu großer Raum gelassen sei."
Wir theilen diese Sorge nicht. Was zur Erklärung einer dunklen Schrift
von einem Kenner irgend sachliches beigebracht werden kann, soll gerade
in solcher Sammlung nicht vorenthalten werden. Das entgegenstehende Bei¬
spiel des sonst so hochverdienten Böhmer, der „den monumentalen Charakter
der alten Quellen durch kein fremdartiges Beiwerk beeinträchtigt wissen wollte"
sollte man nur beiziehen, um es seiner Autorität zu entkleiden; denn ein Kind
sieht ein, daß es etwas Anderes ist, einen Dom mit Häusern bekleben und
eine Chronik durch Beilagen erläutern.
An eigentlich chronikalischem Material bietet dieser Band nur die
ganz kurze Aufzeichnung über die iliacdinatio tra-drum minorum und das
Fehdebuch, und auch dies ist mehr ein Conto über erlittene Schäden als
eine Chronik; das dritte Stück, die Heimliche Rechenschaft, ist eine officielle
Denkschrift, das vierte das Notizbuch eines einflußreichen und vtelerfahrenen
städtischen Beamten. Aber man that sehr wohl, den Begriff der Chronik so
weit auszudehnen, daß er die vorliegenden Monumente, obgleich sie zum
äußerlichen Verlaufe der braunschweigischen Geschichten direct nur wenig
Neues beibringen, noch mit umfaßte. Denn bieten sie nicht Geschichte, so
bieten sie etwas unendlich Werthvolleres, nämlich eine authentische Interpre¬
tation der Geschichte, und das für eine Reihe von Vorgängen, die nicht aus¬
schließlich der besonderen Entwickelung Braunschweigs angehören, sondern
gleichzeitig und mit fast gleichem Verlaufe in beinah allen deutschen Städten
wahrzunehmen sind. Die „Heimliche Rechenschaft", absichtslos unterstützt
durch das Fehdebuch und Hans Porner's Gedenkbuch, ist die officielle Kritik
jener Periode städtischen Lebens, die unter schweren Erschütterungen mit dem
14. Jahrhundert zu Ende ging, und zugleich das Programm der neuen, in
welcher die Städte zu einer kurzen aber kräftigen Blüthe gelangten. Sie
gibt zu der bekannteren politischen Charakteristik des ausgehenden Mittelalters
in lehrreichen Details die Ergänzung einer financiellen Würdigung. Mit
Hilfe dieses höchst werthvollen Schriftstückes und einer Reihe anderer bisher
noch nicht benutzter Archivalien, namentlich der Klagschriften der unterlegenen
Partei, der betr. hansischen Recesse u. s. w.. ist es der umsichtigen und viel¬
seitigen Untersuchung Hänselmcmn's gelungen, sowohl die Krisen des braun-
schweigischen Aufruhrs v. I. 1374 gegenüber der herrschenden Auffassung in
ein ganz neues Licht zu rücken als auch den eigentlichen Charakter desselben
völlig klar zu machen. In letzterer Beziehung gewinnen wir einige allgemeine
Gesichtspunkte, die sich ohne Zweifel für die Erforschung der großen und um¬
fassenden communalen Bewegung, welche das letzte Viertel des 14. Jahrhun¬
derts charakterisirt, als sehr fruchtbar erweisen werden. Dieser sechste Band
der Chroniken ist ein Commentar zu allen übrigen.
Was Kriegk in seinen „Frankfurter Bürgerzwisten und Zuständen im
Mittelalter" bereits für den frankfurter Aufruhr der sechziger Jahre andeutete,
ist hier für den braunschweigischen des darauf folgenden Jahrzehntes zur
völligen Evidenz gebracht: daß er sich nämlich wesentlich in financiellen und
volkswirtschaftlichen Motiven bewegte und Nichts weniger war als die
Machination einiger unruhiger Demagogen in den Gilden. Er schloß auch
keineswegs, wie in den bisherigen Darstellungen angenommen wurde, die auf die
Aeußerlichkeiien der Wecker Sühne zu vielGewicht legten, mit einer einfachen Re-
activirung der alten Persönlichkeiten und Zustände und einem Widerrufe der
revolutionären Thatsachen, sondern mit einem höchst fruchtbaren Compromiß
Mischen den Leuten der alten und den Forderungen der neuen Zeit. Und in
der Vollziehung dieses Compromisses ist die Heimliche Rechenschaft zum Nutzen
des Rathes von einer Anzahl seiner älteren Mitglieder (wahrscheinlich zumeist
durch den trefflichen Hermann v. Vechelde) geschrieben worden, Männern,
welche die Uebelstände der alten Zeit wohl kannten, aber zugleich auch ein¬
sahen, daß es weniger persönliche Verschuldungen als sehr tief gehende in all¬
gemeinen Verhältnissen begründete Schäden gewesen waren, welche dem alten
Regimente einen jähen Sturz bereitet hatten. Sie haben diese Schäden ver¬
zeichnet und zugleich angegeben, wie die neue Verwaltung der Stadt sie zu
heilen sich bemühte, und der Rath, der ihre Arbeit dankbar entgegennahm,
verordnete, daß sie alle drei Jahre verlesen und je und je der Fortschritt der
reformatorischen Arbeit dazu vermerkt werden sollte.
Jene Mißstände wurzelten, wie gesagt, in der Finanzwirthschaft des 14.
Jahrhunderts, die allerdings ein höchst unbeholfenes verwirrtes Wesen und
von vorn herein zu einem permanenten Minus verurtheilt war. Um sie zu ver¬
stehen, muß man sich erinnern, daß gerade damals der Staat noch kaum irgend
einer seiner natürlichen Aufgaben gerecht wurde und daß er im Ganzen
nur dazu diente, dem Kampf Aller gegen Alle, in welchem das öffentliche
Leben damals bestand, eine gewisse Form zu geben. Es fehlte durchaus und
überall die Sicherheit des Verkehrs und des Besitzes, die uns Neueren als
die selbstverständliche Leistung des Staates gilt, und der Einzelne mochte zu¬
sehen, wie er einen dürftigen und höchst unzuverlässigen Schutz sich entweder
erkaufte oder mit den Nächstinteressirten vereinbarte. Der offene Schaden des
täglichen Krieges verzehrte unablässig die besten Säfte der Nation; es war
sehr schwer möglich, überschüssige Kraft zu produciren. Fast ergötzlich ist es zu
lesen, mit wie leidenschaftsloser Ruhe der Rath zu Braunschweig über die
Schäden Buch führt, die ihm aus der täglichen Fehde erwachsen, als wäre
sie eine unabwendbare Zugabe des öffentlichen Lebens. Die wichtigsten dieser
schloßgesessenen Räuber bekommen ein stehendes Conto, und ihre Schuld
wird dann gelegentlich behufs einer Richtigung summirt. So lesen wir von
denen von Ampleve, von Tzampleve, von Sowinge und ihren Helfern, was
sie z. B. im Jahre 1379 auf braunschweigischen Dependenzen geleistet haben:
„erstens in einem Bergfried in der Mühle zu Achen auf 100 Mark; item zu
Dencte an Brand, an Raub auf 150 Mark; zu Sotterum auf 40 Mark; zu
Symmenstidde auf 200 Mark, Einen todtgeschlagen; zu Neulinge auf 100
Mark; zu beiden Bywende auf 130 Mark; zu Tymberen auf 70 Mark ohne
Todte und ohne Gefangene, die sie viele fingen, besonders unseren Bürger
Corte Callem, dem sie 40 Mark abschätzten; item zu Callem auf 50 Mark
ohne Todte; item zu Hedevere auf 200 Mark; zu Zenstidde auf 40 Mark;
zu Rokele auf 100 Mark; zu beyden Winniughestidde aus 260 Mark."
Andere Räuber werden zum laufenden Datum registrirt. Verfolgen wir z. B.
den August des I. 1381: „Aug. 1. Kokerbeke und seine Helfer. 1. Aug. da
sagte er hier auf um ein Unrecht, als ob wir ihm jetzt Rechtes weigerten.
Während der Zeit er Vogt war, schlug er unserer Meier zu Wendecelle, zu
Lengede, zu Kyssenbrucge, zu Hedebere und anderswo Is todt. Er schätzte den
Unseren ab über Recht und Pflicht mehr denn 1200 kolbige Mark. —
Aug. 1..... Desselben Tages brannten sie (die Veltheims und Herzog
Friedrich) Swulbere und thaten den Unsern wohl auf 100 Mark Schaden.
— Aug. 2. Kokerbeke nahm vor Se. Michaelisthor Corte van Evense
3 Pferde werth 10 Mark, und schlug Henning seinen Ohm todt und fing
Dornebuschen. — Aug. 3. da nahm er bei Se. Leonhard aus 2 Pflügen 10
Pferde und fing unseren Bürger Bekedöre in der Altenwik. Der schwur ihm
6 Mark zu geben. —So haben Herzog Otto Borchard van Lüttere, Borchard
van Goddenstidde, Jan von Escherde, Hinrik Welchem, Vrederik van Alvens-
leven u. A. ihre stehende Rubrik.
Wenn man erwägt, daß solcher Fehde eigentlich nie ein Ende wurde
und daß sie sich in den endlosen Streitigkeiten der Landesherren, in den
Privathändeln der Ritter, den Feindschaften der Städte fort und fort aus
sich selbst neu gebar, so wird man begreifen, welche unermeßliche Menge von
Werthen in diesem unablässigen Schinder, Schätzen, Brennen und Auspochen
zwecklos zu Grunde ging, und in der That begegnet man in den Aufzäh¬
lungen aus jener Zeit, den Werthunterschied des Geldes von damals und
heute in Anschlag gebracht, durchweg nur geringen Vermögensziffern. Und
irgend ein politischer Gewinn kam für jene Verluste nicht herein; die Macht¬
fragen standen nach der Fehde so wie vorher; es waren lediglich so und so
viel hundert Mark zu Grunde gegangen, und die Sache konnte allernächst an
irgend einer niederträchtigen Clausel. die in eine Richtigung, in eine Urfehde
oder einen Geleitsbrief eingeschmuggelt war, an den frechen Uebergriffen eines
Vogtes oder an der Laune eines müssigen Ritters wieder losgehen. Denn
der „frischen und freien Rittersleute" von der Art des Eppele von Geilingen,
die ein Handwerk aus der Fehde machten, gab es zu viele; ihr Vergnügen
und ihr Erwerb war es, den die fleißigen Leute zu bezahlen hatten. Dieser
tägliche Krieg bestand vor Allem im Nehmen und Verderben, und die Feind¬
schaft der Stadt hatte auch der Einzelne mit seiner Habe zu büßen, wie
wiederum diese für ihren Bürger aufkam, wenn er sonst eine einigermaßen
angesehene Stellung hatte. Geringeres Volk zwar schlug man sich gegenseitig
todt, aber Leute, für die man Hoffnung hatte Auslösung zu erlangen, fing
man behutsam ein: so gab es für die Stadt stets eine Anzahl ihrer Bürger
und Diener mit schwerem Gelde freizulaufen. Daß Letztere sich dadurch nicht
abhalten ließen, bei der nächsten Fehde in den Reihen der Feinde zu erscheinen,
hatte sie öfters zu erfahren. Sie selbst konnte schließlich, um sich schadlos zu
halten, kein anderes Mittel anwenden, als mit denen ihr selbst begegnet
wurde, und so verdoppelte sich nur der Verlust für's Ganze.
Nur gab es leider kein Gefühl für's Ganze: über die Mauern des Weich¬
bildes, über den Wall der Burg ging der Blick nicht hinaus. Daß Nachbarn
einander schädigten, wo sie konnten, daß z. B. Herzog Ludwig von Bayern
das Korn nicht durch sein Land ließ, mit dem Augsburg einer dringenden
Hungersnoth abhelfen wollte, und daß er es ihr dadurch um ein Viertel
des Preises vertheuerte, dergleichen war ganz selbstverständlich; aber auch im
eigensten Bereiche wurde der brutalste Egoismus überall vorausgesetzt und
geübt. Denn der Staat war noch nicht in den Idealismus hineingezogen,
auf den die Kirche jener Zeit gegründet war, und er erschien lediglich als
eine gute Entreprise: Grund genug, sich gegen ihn und seine Aemter, so lange
er in keiner höheren Rechtfertigung auftrat, nach Möglichkeit zu wehren. Es
gab jedenfalls — ehe nicht ganz neue Ueberzeugungen aufkamen — keine
Macht, die stark genug gewesen wäre, die Friedensstörer nachdrücklich zu
strafen, Fleiß und Unternehmungsgeist zu schützen. Selten kam es zu einem
Richterspruch, der aus den höheren Gesichtspunkten des Staates ergangen
wäre, und noch seltener zur Execution eines solchen; neben dem täglichen
Kriege ging ein tägliches Theidingen der Parteien her, das eigentlich nur im
jeweiligem gegenseitigen Aufrechnen der Kerbhölzer bestand. Das Theidingen
wurde recht eigentlich die Signatur einer Zeit, welcher das strenge Maß der
Gesetzlichkeit abhanden gekommen war.
Eine weitere wirthschaftliche Erschwerung dieser ungünstigen Verhältnisse
lag in der eigenthümlichen unfertigen Existenzweise der Städte. Bei dem
oben mitgetheilten Verzeichnisse ist es sehr auffällig, daß die Stadt zumeist
auf ihren Dörfern, auf den Höfen der Ihrigen geschädigt wurde. Nun be¬
gegnen freilich an anderen Stellen auch die Nachrichten von weggenommenem
Tuch-Producten-Ladungen :c., aber in der That überwiegen doch die land¬
wirtschaftlichen Verluste. Schon hieraus erkennt man — und jenes Ver¬
hältniß wiederholt sich auch anderwärts — wie sehr die Stadt noch in das
agrarische Leben verflochten war und daß mit Nichten die Mauer den Bürger
und Bauer völlig trennte. Die alten Burgensen waren zum Theil Grund¬
besitzer (in verschiedenen Stellungen), die in die Stadt gezogen waren, zum
Theil Kaufleute, die sich auch draußen zu begütern gesucht hatten, und diese
regierenden „Geschlechter" haben noch einen durchaus feudalen, rittermäßigen
Zug; sie haben ihre Existenz noch keineswegs allein auf den Handel, auf die
Industrie gestellt, und nicht selten muß es die Stadt büßen, wenn ihre Ehr¬
baren die ritterliche Lust einer Rauferei anwandelt. Gerade eine solche ohne
rechten Grund mit dem Magdeburger Erzbischof angezettelte Fehde war es,
die in Braunschweig, als sie übel auslief und die Auslösung einer Anzahl von
Bürgern nöthig machte, den Aufruhr von 1374 ausbrechen ließ. Von aus¬
schließlich bürgerlicher Existenz waren wohl nur die Handwerker, wenn auch
unter ihnen Manche angetroffen werden, die draußen Grund und Boden,
Belehnung und Pfandschaft erworben haben. So gab es in den Städten
zwei Arten von Bürgern, die, von verschiedener socialer Stellung und ver¬
schiedener socialer Lebensanschauung, einander nur mit Mißtrauen betrachteten
und die erst eine innigere Verbindung unter sich eingehen mußten, ehe sich
die Städte als selbständige Organismen von den Landschaften ablösen konnten.
In der Reihe von Revolutionen, welche das 14. Jahrhundert brachte, hat
sich dieser Proceß vollzogen. Für unseren Gesichtspunkt aber ist es wichtig
hervorzuheben, daß die Städte, so lange sie jenes Doppelleben führten, den
Schädigungsversuchen ihrer zahlreichen Gegner immer doppelte Blößen boten;
daß sie auf der einen Seite in die endlosen Händel der Ritter hineingezogen
und, um sie auszufechten, genöthigt wurden sich unter den Rittern selbst ihre
Freunde zu suchen; daß sie andererseits ihre Waaren auf den überall un¬
sichern Wegen zu decken hatten. Durch diesen Mangel an Concentration
wurde der Schutz, den die Stadt sich und den Ihrigen schuldete, unVerhältniß'
mäßig vertheuert.
Es liegt auf der Hand, wie schwer schon die Summe der hier berührten
Verhältnisse auf den Etat einer Stadt drücken mußte, direct durch eine
Menge unproductiver Ausgaben, indirect durch eine beträchtliche Minderung
der Steuerkraft ihrer Angehörigen. Ueberdieß war es-bei dem Charakter jener
Ausgaben gar nicht möglich, auch nur annähernd einen Voranschlag für die
Verwaltungskosten der Stadt aufzustellen; und wenn dann, wie so häufig, der
Fall eines außerordentlichen Bedürfnisses eintrat, so war dies Bedürfniß den
Gilden und der Gemeinde nur selten einleuchtend zu machen. Im Gegentheil
hatten diese die Einsicht oder mindestens das Gefühl, daß es sich dabei mehr
oder weniger um eine Angelegenheit ihrer privilegirten Mitbürger handle, und
jede Schoßerhöhung wurde unter solchen Umständen ein gefährliches Experi¬
ment. Der Rath mußte sich das nothwendige Geld daher auf einem Wege
zu verschaffen suchen, der sich der Controle der Bürger entzog: er machte
Anleihen und wieder Anleihen, und bald genug hatte er die Stadt mit einer
Masse von Passiver belastet, für welche nirgends ein reales Aequivalent vor¬
handen war. Der Zinsfuß war außerordentlich hoch: in den sechziger Jahren
gab der Rath 11 und 10 Procent, und für die in der beliebten Form der
Leibzucht angelegten Capitalien — die so in kurzer Zeit sowohl dem Staate
als der Familie verloren gingen — 10 Procent auf je 4 Leben. Die Stadt
geriet!) auf diese Weise allgemach in die schwebende Schuld und bei der Un¬
regelmäßigkeit der Schoßeinzahlung gab es bald eine Zeit, wo der Rath neue
Anleihen aufnehmen mußte, um die Zinsen der alten zu decken. Der gemeine
Mann konnte bei alledem nur das Gefühl haben, daß der Capitalist das
gemeine Gut für eigenen Nutzen mißbrauche, und so verschärfte sich der
Gegensatz von Vornehm und Gering durch den von Reich und Arm.
Gehen wir nun auf die stehenden Ausgaben der Stadt ein, so treffen
wir zunächst auf zwei Punkte, die mit den eben bezeichneten Verhältnissen in
allernächster Verbindung stehen. Von erheblichsten Nachtheile war für die
Stadt vor Allem der Besitz der Pfandschlösser. Sie kamen ihr zu Handen
theils als Pfänder für Anleihen, die den Fürsten nicht gut zu weigern
waren, theils suchte man sie auch wohl im eigenen Interesse zu erwerben, um
nicht einen bösen Nachbar in bedrohliche Nähe zu bekommen, oder um einen neuen
Vertheidigungspunkt zu gewinnen, und endlich ging überhaupt die Neigung
'
der städtischen Gebieter dahin, die eigene Herrschaft möglichst breit auszu¬
dehnen. Aber jedenfalls war ihr Besitz ein Krebsschaden am gemeinen Wesen:
ihr Ertrag und ihr praktischer Werth standen in gar keinem Verhältnisse zu
den Kosten. die sie verursachten. Denn sie bedurften fortwährend einer kost¬
spieligen Vertheidigung und Reparatur und bedeuteten für den Schutz der
Stadt selbst schließlich Nichts. „Und hatten" sagt die Heimliche Rechenschaft,
„manche Zeit, daß da Nichts war, wovon die Stadt und der Rath so sehr
zurückgingen und in so großen Schaden kamen, als von den vorgenannten
Schlössern." '
Da ist sodann die Besoldung Derjenigen, welche den städtischen Kriegs¬
dienst zu besorgen hatten und der übrigen Diener der Stadt. „Ferner so
war das eine große Unordnung mit den Stadtdienern" sagt die Heimliche
Rechenschaft; „denen war man viel schuldig, und der Schuld wußte man mit
ihnen kein Ende. Besonders die aus der Altstadt wußten das auf 100 Mark
nicht, was sie ihnen schuldig wären; was sie abbezahlten, die Schuld blieb
gleich groß." Diese naive Praxis hing mit der stillschweigenden Voraus¬
setzung zusammen, daß wer zu den Gefreundeten des Rathes gehörte — und
die Diener der Stadt wurden doch vom Rathe bestellt — den Seckel der
Stadt wie seinen eigenen betrachten dürfe. Eine Rechnungsablage gab es
nicht; die Geldangelegenheiten der Stadt gehörten zu den „heimlichen Dingen"
des Rathes. Daß die städtischen Reisigen das Futter für ihre Pferde ver¬
kauften und ihrer oft zwei in einem Jahre verhungern ließen, scheint wenig
Rüge gefunden zu haben; „auch so hatten sie eine Weise" sagt die Heimliche
Rechenschaft, „wem seine Pferde gediehen, dem gediehen sie selbst, also daß
er die verkaufte und behielt den Vortheil selbst; verdarben ihm aber die
Pferde, so waren sie der Stadt verdorben."
Natürlich standen die Herren in einem noch innigeren Verhältnisse zum
gemeinen Beutel, als die Diener. Erst als die im Aufruhr Vertriebenen
zurückkehrten, kam es bei jedem Einzelnen zu einem klaren Abschluß darüber,
was er der Stadt und was die Stadt ihm schulde; vorher gab es weder in
den fünf Weichbilden eine Rechnungsablage noch an der gemeinschaftlichen
Casse. Es war nun einmal hergebracht, daß die bevorzugten Familien des
öffentlichen Gutes in besonderer Weise genießen dürften, und fast an letzter
Stelle erscheinen wohl noch die Kosten, die sie dem Beutel der Stadt durch
die Schmausereien an den großen kirchlichen und städtischen Festen, bei der
Sargtragung (Se. Autor's), am Gründonnerstage, an Se. Borchard's Abend,
in den Fasten, durch Geschenke an die Gefreundeten, an die Propstei und die
Geistlichkeit, durch Gratulationsgelder für die Rathsfrauen u. s. w. verur¬
sachten. Freilich ist die Summe von 20 Mark, die man später bei einer
Reduction dieser Festlichkeiten nur gespart haben will, wohl zu niedrig ge-
griffen; es find dabei die Naturallieferungen. welche die Stadt dazu leistete,
offenbar nicht mitberechnet. Von weit größerer Erheblichkeit erscheint es,
wenn die begüterten städtischen Geschlechter sich selbst durch den Rath, in
welchem sie sitzen, jenen schon oben bezeichneten hohen Zinsfuß bewilligen;
denn daß auch um weit niedrigeren Zins Capitalien zu haben waren, zeigte
sich, als der neue Rath später die 10 Procent allmälig auf 3 herabbrachte.
Endlich führte die Art der Verausgabung selbst zu neuem Schaden.
Theils nämlich wurde Sold, Zins und Leibzucht ausbezahlt, wenn es die
Berechtigten gerade begehrten, theils gab man in halbjährigen Raten und
zwar sonderbarer Weise an Terminen. die in die Ebbezeit der Casse fielen.
Dadurch wurde man. um nur die laufenden Ausgaben zu decken, wieder genöthigt
Anleihen zu erheben: eine Art der Verwaltung, die sich eben nur aus der
Boraussetzung erklärt, daß man Niemanden dafür Rechnung zu legen habe.
Nicht minder nachlässig war die Art und Weise der Vereinnahmung. Die
Einnahmen der Stadt flössen theils aus mancherlei Eigenthum und Gulden
an Grund und Boden und Gebäuden, aus einträglichen gewerblichen Unter-
nehmungen, namentlich den Weinkellern. Mühlen. Ziegeleien. Steinbrüchen
und aus der Münze, theils aus der Judenbede, den Erbschaften, Testamenten,
Bürgerbriefen und aus der Gerichtsbarkeit, theils aus den Zöllen, besonders
dem Mühlen-. Korn- und Markt-Zoll, endlich aus der directen Steuer des
Schlosses. Was nun jene Art von Einnahmen betrifft, die aus Besitztiteln
und nutzbaren Rechten stammten, so fällt in dem Eide der Rathsleute wie
nachmals Derjenigen, welche aus der Verbannung zurückkehrten, eine Clausel
auf. durch die sie verpflichtet werden, städtische Besitz, und Rechtsansprüche,
die ihnen bekannt sind, zur Kenntniß des Rathes zu bringen. Sie erklärt
sich einerseits aus der Heimlichkeit, mit welcher der Rath die Angelegenheiten
der Stadt betrieb, andrerseits aus der Zersplitterung und Zusammenhangs-
losigkeit seiner Geschäftsführung. Nur das. was als das Wichtigste erschien,
wurde collegialisch erledigt, die laufenden Geschäfte waren einzelnen Deputir-
ten aufgetragen, die ihren Aemtern willkürlich genug vorstehen mochten;
denn es gab keine Controle und keine geschäftliche Tradition, die über ihnen
gewesen wäre. Wie manches nutzbare Recht, um das vielleicht nur ein
Einzelner gewußt hatte, mochte auf diese Weise, besonders in unruhigen Zeiten
bei dem auffallenden Mangel an officiellen Aufzeichnungen, für die Stadt
verloren gegangen sein! Nicht besser stand es um die directe Steuer. Da¬
von berichtet uns die Heimliche Rechenschaft: „Hatte ein Bürger Schuld aus-
siehn. da brachte er ein Pfand für. wenn er wollte. Hatte auch ein Kauf-
Mann sein Gut draußen, da brachte er auch ein Pfand für, wenn er wollte.
Hatte ein Rentner Gut in einem Processe, der brachte auch ein Pfand, wenn
er wollte. Und die Pfänder die sammelten sich von einigen unserer Bürger
von Jahr zu Jahr, daran gab es großen Schaden."
Genug, es wird überall ersichtlich, daß das Gemeinwesen weit entfernt
war. eine wichtige oder gar die wichtigste Stelle unter den Interessen seiner
Mitglieder einzunehmen. ..Alles politische Dichten und Trachten verfiel" so
charakterisirt Hänselmann jene Periode, „den niederen Mächten der Erde:
vorab einem fessellosen Eigennutze, blind für Alles, was außerhalb des engsten
Kreises der Zunft oder Sippe lag, ängstlich bemüht, jede erworbene und er-
sessene Gerechtsame in unwandelbare Formen festzubannen. Das war die
Wurzel jenes herrischen Anspruchs auf verantwortungsloses Schalten mit dem
öffentlichen Gute, von daher wucherten die zahllosen Mißbräuche der Ver¬
waltung auf, welche das Finanzwesen überall zur schwächsten Seite der städti¬
schen Geschlechterherrschaft machten."
Die Revolution von 1374 machte in Braunschweig diesen Mißbräuchen
ein Ende und strafte in blutigster Weise an den bis dahin herrschenden Ge¬
schlechtern die allgemeine Schuld der Zeit. Die Motive, in denen sie sich
ohne ein Programm aufgestellt zu haben und ohne Vorbereitung vollzogen
hatte, treten zu Tage in der ersten positiven Wirkung, zu welcher sie es
brachte: der Einsetzung eines neuen Rathes aus allen Ständen und der Be¬
rufung der Gildemeister und Gemeindevertreter zur Mitwirkung bei den Aus¬
gaben der Verwaltung. Alsdann wurde, während sich die Revolution in
langwierigen Unterhandlungen nach Außen Anerkennung zu verschaffen suchte,
der Etat der Stadt in allen Theilen einer sorgfältigen Revision unterzogen,
alles Zweifelhafte auf's Reine gebracht und ein Budget geschaffen.
Vor Allem wurde das Verhältniß zwischen den Specialetats der fünf
Weichbilde und dem Hauptetat der Stadt geregelt, nachdem bis dahin gar
nicht festzustellen gewesen war, ob von Seiten der einzelnen Weichbilde auch
nach dem Maße ihrer Leistungsfähigkeit wie ihrer Ansprüche zum gemeinen
Beutel beigesteuert wurde. Als Organ für diese Vermittelung sowohl wie
für die Verwaltung der städtischen Kasse überhaupt wurde ein Ausschuß von
zehn (später sieben) Männern eingesetzt. Ihm hatte damals wie späterhin
jährlich jeder der Weichbildsräthe seine Einnahmen wie Ausgaben darzulegen
und nachzuweisen, und unter seiner Mitwirkung wurde festgestellt, was jedes
Weichbild zu zahlen, an gemeinen Lasten zu tragen und was es etwa an
Beisteuer für seine besonderen Unternehmungen zu fordern habe. Mit dieser
Centralisirung der Finanzen war der Willkür, welche die fünf Weichbilds-
cassen so lange zum Schaden der Gemeinheit gezehntet hatte, war dem all¬
gemeinen Mißtrauen, welches daher entsprang und das nur zu leicht zur
Rechtfertigung des eigenen Nichtwollens wurde, ein Riegel vorgeschoben.
Die zweite der wichtigen Aufgaben, welche dem Zehnerausschusse zuertheilt
wurden, bestand in der Minderung und Klärung der öffentlichen Schulden.
Hierzu bedürfte es vor Allem baarer Mittel. Ein Theil derselben wurde da¬
durch herbeigeschafft, daß der neue Rath sich selbst mit einer.beträchtlichen
Steuer belegte: jedes seiner Mitglieder hatte 10 Mark zum gemeinen Beutel
zu zahlen. Das Uebrige warb der Ausschuß selbst unter den Freunden des
Regimentes und der Stadt zu niedrigen Zinsen. Mit diesen Mitteln in der
Hand lud er Diejenigen, deren Capitalien die Stadt in Händen hatte, ein,
sich darüber zu erklären, ob sie zu einer Herabsetzung des Zinsfußes bereit
seien. Wer dies weigerte, der erhielt sein Geld sofort zurück, und es hob den
Credit der Stadt nicht wenig, daß eine Anzahl göttinger Gläubiger auf der
Stelle befriedigt wurde; Andere ließen der Stadt ihr Geld noch ein Jahr zu
einem etwas geringeren Zinse, und endlich konnte die Verwaltung überall
bis auf 3 Procent heruntergehn. Aehnlich verfuhr man mit der Leibzucht.
Hatte der Rath früher 10 Mark auf 4 Leben bezahlt, so gab man jetzt auf
3 Leben für das erste 10, für das zweite 8, für das dritte 6 Mark, später
sogar nur 10 Mark auf ein oder 7 auf zwei Leben. Und wer irgend Zins
oder Sold von der Stadt zu erheben hatte, mußte sich fortan die Zahlung
an zwei Terminen gefallen lassen, die der Stadt bequem lagen, nämlich zur
Schoßzeit.
Eine sehr wichtige Stelle in der Reihe dieser Operationen nahm endlich
die Kündigung der Pfandschlösser ein, welche allmählich vor sich ging. Mit
'sum gab die Stadt ebenso viele Anlässe zum täglichen Kriege, ebenso viele
Berührungspunkte mit der feudalen Gesellschaft auf, um mehr und mehr
^n eigentlich bürgerlichen Charakter ihrer Existenz herauszubilden, und die
Maßregel ist somit von ebenso politischer wie financieller Bedeutung. In
jener Beziehung entsprang sie derselben Einsicht, welche zur nämlichen Zeit die
Städte lehrte, sich im Kampfe mit der feudalen Welt ganz auf sich selbst zu
stellen und in größeren Bündnissen mit Ihresgleichen Schutz zu suchen.
Wurde so gegen Außen der bürgerliche Charakter des Gemeinwesens
deutlicher hervorgehoben, so gibt sich in der Art und Weise, wie jene finan-
ciellen Maßregeln begonnen und später fortgeführt wurden, die Tendenz kund
"^es Innen seinen staatlichen Charakter strenger durchzubilden. Wir nehmen
nämlich einerseits das Bestreben wahr, das Eigenthum der Stadt aus der
breiten Verzetteluug, in der es sich befand, zu sammeln und auf wenige er-
giebige Besitzstücke, wie z. B. die Mühlen, zu concentriren, diese aber von
fremden Mitbesitz und dritten Rechten ganz freizukaufen, andrerseits das
System der Anleihen zu beschränken und unter Aushebung unbequemer Zölle
die Finanzwirthschaft der Stadt möglichst ausschließlich auf die directe Steuer
on stellen. Indem sich die Stadt so mehr und mehr von dem Charakter
privater Existenzen unterschied, mußte dem Bürger die Vorstellung aufgehn,
daß sie über den Interessen der Einzelnen stehe und mit einer höheren Recht'
fertigung ausgestattet sei, als die gewesen war, für eine Anzahl privilegirter
Familien eine ergiebige Versorgungsanstalt zu sein.
Dem Ausschusse der Zehn wurde auch das ganze Ausgabenwesen über¬
tragen. „Ferner so wurden sie gebeten, daß sie wollten hiervon wieder aus¬
geben des Hauptmanns und der Diener Sold, Hufschlag. der Schreiber und
Stallwärter Lohn, und auch für Pferde auf die Ställe, (die damals erst zu
besserer Handhabung des Reisigenwesens gebaut wurden) und allen Aufwand
und Kosten dazu, und auch Botenlohn heimlich und offenbar, den man ver¬
schenkte und vergab, und auch die Kleidung der Stadtschreiber und alle
Zehrung, wenn der Rath oder die Seinigen (im Dienste der Stadt) wohin
ritten, und auch zu der Landwehr, wenn das nöthig wäre. Auch wurden sie
gebeten, daß sie aufgaben allen Zins, den der gemeine Rath pflegte zu geben
drinnen und draußen, Weddeschatz und Leibzucht. Dieß ist also wohl ge¬
schehn und dieß ist wohl beschrieben und berechnet von Jahr zu Jahr, und
jedes Jahr in einem besondern Buche ... Und diese vorbeschriebene Einrich¬
tung hat den Rath und die Stadt in großen Nutz und Frommen und in
großen Credit gebracht." Der niedersächsische Chronist konnte die Wirkung
all' dieser heilsamen Neuerungen mit den Worten bestätigen: „Braunschweig
ist von Tag zu Tage, von Jahr zu Jahren besser, stärker, mächtiger geworden,
und ist Krone und Spiegel des Landes Sachsen und der Fürsten zu Braun¬
schweig und Lüneburg." Die financielle Leistung der Stadt war auch in der
That außerordentlich. In den Revolutionsjahren selbst hatte die Schuld der
Stadt etwa 60.000 Mark betragen: im Jahre 1406 war sie auf etwa 8000
Mark heruntergearbeitet, alles Bauwerk der Stadt in den besten Stand gesetzt,
die Mühlen waren sämmtlich sreigekaufr, Mühlen- und Korn-Zoll waren aus¬
gehoben, und nichtsdestoweniger konnte mit dem Schoß auf ein Viertel
seines früheren Betrages heruntergegangen werden. Die Vortrefflichkeit der
neuen financiellen Principien war also auf's Glänzendste bewährt.
Allein was wichtiger war als dies Alles: es war ein neuer Geist in
Braunschweigs Mauern eingezogen, ein Geist der Hingebung, des Patriotis¬
mus und einer Tugend, welche ihre Bewährung in der aufopfernden Arbeit
für's Ganze und ihren Lohn im ewigen Leben suchte. Nur der Kraft solcher
sittlichen Mächte konnte auch jener gewaltige Umschwung gelingen, dessen die
Heimliche Rechenschaft Kunde gibt; aber an einigen Punkten dieser Schrift
kennzeichnet er sich auch ganz unzweideutig in seinem eigensten Wesen. „Hierum
so mag ein Jeder gern sich dazu erproben und sich da treulich mit bearbeiten
daß es ja dabei bleibe. Könnte man auch ferner noch was Besseres hierbei¬
setzen und erproben, das der gemeinen Stadt zu Gut und zu Vortheil kom-
men möchte, das sollte ein Jeder gern thun um Gotteswillen und auch um
seiner selbst willen, auf daß er davon empfangen möge den rechten Lohn,
das ist das ewige Leben. Denn wer einem Gemeinen dient und arbeitet,
der dient Niemandem besonders; darum lohnt ihm auch hier in der Zeit
Niemand besonders, und das Gemeine kann durch seine Mannigfaltigkeit
Niemanden lohnen. Und nach dem Mal, daß alle Wohlthat unverloren sein
soll, und daß der gemeine Dienst hier nicht belohnt wird, so ist daran kein
Zweifel, er werde belohnt von dem, aus welchem alle Wohlthat entsprossen
ist, und das ist Gott, und der lohnt mit der Freude des ewigen Lebens.
Daß die uns Allen werde, das helfe uns der Vater und der Sohn und der
heilige Geist, Amen."
Es ist kein anderer als der Geist der Reformation, der sich hier an¬
kündigt. Schon eine Weile ehe der durchschlagende theologische Ausdruck für
die neuen Ueberzeugungen gefunden wurde, hatte man in den Städten ein¬
sehen lernen, daß wahre Sittlichkeit etwas Anderes bedeute als eine Reihe
inhaltsloser sogenannter „guter Werke" aufsummiren, die nirgends eine Spur
von sich hinterlassen; daß der Mensch getrosten Muthes in die Mannigfal¬
tigkeit der irdischen Verhältnisse, vor Allem in den Staat zu gedeihlicher Ar¬
beit eintreten dürfe und solle, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen. Und
an solchen Einsichten ging jener Egoismus, der den Staat zersetzte, gründ¬
licher zu Schanden, als an dem Idealismus der Kirche, der nun auch längst
Zur Lüge geworden war. Wenigstens in den Städten führten sie eine Periode
kräftigen und gesunden Strebens herauf, das zu den besten Hoffnungen für
ganz Deutschland berechtigte, dem aber leider die Rechtsgewalt nicht, wie sie
sollte, entgegenkam.
Von diesem neuen Geiste ist die „Heimliche Rechenschaft" in all' ihrer
Nüchternheit und Trockenheit ein schönes und erhebendes Denkmal.
Die Eigenthümlichkeit der deutschen Küste, welcher fast nur die Flußmün¬
dungen als Handelshafen brauchbar sind, hat zu dem auffallenden Ergebniß
geführt, daß Deutschland keine hart an der See gelegenen Großstädte besitzt,
sondern daß wir bei den Strommündungen nur kleinere Häfen finden, während
die großen Seehandelsstädte alle weit aufwärts am Flusse liegen; so Bremen
an der Weser, Hamburg an der Elbe, Stettin an der Oder, Danzig an der
Weichsel. Königsberg am Pregel, Riga an der Dura. Deshalb ist das
Fahrwasser bei allen diesen Städten nicht sonderlich tief: auch Hamburg, der
am meisten begünstigte Platz, hat nicht mehr als 14—19 Fuß Wassertiefe
in der Ebbe — tiefgehende Schiffe mit schwerer Ladung müssen die Fluth,
welche das Wasser 18 Meilen aufwärts staut, zum Herauskommen abwarten
und auch diese genügt oft nicht: man muß erst einen Theil der Ladung bei
Cuxhaven. Brockdorf (z. B. die Guanoschiffe von 23—24 Fuß Tiefgang)
oder Stade in flachgehende Fahrzeuge löschen, damit das erleichterte Schiff
gefahrlos nach Hamburg hinaufzugehen vermag. Diese Verhältnisse sind
auch für den Schutz der Häfen und der Küste von Wichtigkeit und es ist
wohl der Mühe werth, gerade bei Hamburg dieselben genauer ins Auge
zu fassen.
Wir begeben uns in Hamburg an Bord eines Dampfers, welcher nach
Cuxhaven hinab und weiter nach England geht. Auf dem hohen östlichen
User der Elbe liegt rechts die altehrwürdige Hansestadt, in der sich die größten
Contraste vereinigen. Ueberall Erinnerungen an eine lange schicksalsreiche Ver¬
gangenheit und doch Alles durchzogen von modernem, schnellpulsirendem Leben,
die stattliche Behäbigkeit der alten Zeit in wundersamer Mischung mit dem
aufstrebenden Erwerbseifer unseres Jahrhunderts. Die gemüthlichen Häuser
des alten Stadttheils an der oberen Elbe mit ihren Giebelfronten, blanken
kleinen Fenstern und grünen Jalousien wie in Holland, im Farbenschmuck
ihrer rothen Ziegel, freundlich halb versteckt hinter dem Laub einzelner Bäume,
Seemannstreiben in allen Winkeln der schmalen Gäßchen, und im Gegensatz
dazu die stolzen Paläste des neuen Stadttheils an breiten prächtigen Straßen,
lange Fronten hellschimmernder fünfstöckiger Prachtbauten und großartige
Quais am breiten Spiegel des Alsterbassins, die neue Börse, die gothischen
Spitzen der Nicolaikirche und die entzückenden Parkanlagen an den ehe¬
maligen Wällen. Ein anderes Bild bietet wieder der Hafen, den früher
die Elbe ausschließlich bildete, während man jetzt noch einen großen und
schönen Seitencanal nach der Seite des Sandthors geschaffen hat. Früher
konnten nämlich die Schiffe, selbst wenn sie bis auf 16 Fuß geliechtet hatten,
zu Hamburg nur im Elbstrom, nicht hart am Ufer anlegen und es wurde
somit eine vierfache Umladung der Waaren nothwendig: in Stade auf einen
Liechter oder vor Hamburg in einen Ewer, von diesem ans Land, vom Quai
einen Wagen und vom Wagen auf die Bahn. Seit Vollendung des Sand-
thorquais vermögen die Seeschiffe ihre Waaren mittelst der Ladetakel und
Nocktakel (Flaschenzüge an den Raaen) direct auf den Quai zu übertragen,
von wo sie entweder in die längs des letzteren laufenden ungeheueren langen
Schuppen geschoben oder mittelst der Eisenbahn nach dem Binnenlande ver-
sandt werden. Denn auf dem Quai selbst, hart am Wasser, laufen Schienen¬
gleise mit Eisenbahnwagen, auf welche die Ladetakel die Ballen aus dem
Schiff übersetzen. Noch leichter geschieht dies durch die zahlreichen locomo-
bilen Dampfkrahne, kleine Dampfmaschinen, die auf den Gleisen laufen
und an jeder Stelle, wo es gewünscht wird, rastlos schnarrend mit außer¬
ordentlicher Schnelligkeit wie die Heinzelmännchen der Volkssage die Um¬
setzung der Güter zwischen Schiff und Quai besorgen. Endlos dem Auge
dehnt sich dieser Quai am Grasbrook hin, und wenn ihn auch nicht Schiffe
allergrößter Art mit voller Ladung benutzen können, so hat er doch bet Ebbe
wie bei Fluth stets 20 Fuß Wasser ; hier löschen und laden die größeren Dampfer
(außer den amerikanischen) fast ausschließlich und die Großartigkeit der Ein¬
richtungen nähert sich wenigstens der in den Bassins in Havre. Außerdem
sind neue Bassinanlagen auf dem Grasbrook selbst im Entstehn. Rechts steigt
steil und hoch die Uferhöhe empor, durch deren grünbebuschte Schluchten die
Straßen aus der Stadt nach dem Hafen herabführen, während darüber die
dem Seefahrer vertrauten geschnörkelten Linien des alten Michaeliskirchthurms
gegen den Himmel ragen. Und wie auf Vorgebirgen liegen dazwischen statt¬
lich die rothen Gebäude der Vorstadt Se. Pauli und das weithinschauende
rothe Schloß des „Seemannsasyls" mit seiner wehenden Flagge, wo beschäf¬
tigungslose Seeleute fürsorgliche Aufnahme finden.
Drüben aber, links vom Hafen, auf der anderen Seite des Stroms, wo
die Inseln am Reiherstieg mit seiner großen Eisenschiffbauanstalt und Stein¬
marder mit der bewährten einzigen Seemannsschule Deutschlands, den
zahlreichen Werften und den Sloman'schen Docks das flache Ufer füllen, bietet
sich ein neues Bild: niedrige Häuser und davor die hohen Körper der Schiffe
.auf Stapel und im Dock. Und inmitten der ganzen Scenerie liegen schwim-
wenden Burgen gleich fünf Reihen mächtiger Seeschiffe vor Anker oder an
Pfahlgruppen verdaut, stolze Klipper der größten Classe mit hochragenden
Masten und bunten spielenden Flaggen, aus Amerika, Ostindien und den
entferntesten Ländern der Erde. Dazwischen kreuzen kleine Ewer mit
ihren spitzen weißen Topsegeln und den rothbraunen Gaffelsegeln den Strom,
majestätisch wie Schwäne kommen Briggs und Barkschiffe im Gewände ihrer
Weißen Segel den Strom heraufgezogen, während dazwischen unaufhaltsam
daherschäumend die Dampfer sich den Weg bahnen.
Hier liegen am User von Se. Pauli die kolossalen Schraubendampfer der
..Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actiengesellschaft" — der
allerdings ein kürzerer Name zu wünschen wäre — die mit den bremer nord¬
deutschen Lloydsteamern wetteifernd den Verkehr Deutschlands mit Nord-
amerika unterhalten. Es ist eine prächtige Flotte, diese mächtigen als Barth
getakelten Schiffe, deren Deck wie eine Burgmauer hoch über den Wasser¬
spiegel ragt: „Germania", „Teutonia". „Borussia". („Austria" verbrannte
leider vor einigen Jahren auf See) „Bavarta", „Saronia", „Hammonia",
zu denen sich in neuerer Zeit noch die in England gebauten Prachtschiffe
„Alemannia", „Kimbria", „Holsatia" und „Westphalia" gesellt haben und
die „Silesia" (bei Caird in Greenock im Bau) sich gesellen wird, Schiffe")
von etwa 3000 Tons und 400 Pferdekraft (nommat), welche die Ueberfahrt
von Land zu Land wohl in neun Tagen machten und dabei berühmte eng¬
lische Dampfer um fast zwei Tage übertroffen haben. Von den genannten
Schiffen befahren „Teutonia". „Bavaria" und „Saronia" die Linie Hamburg-
Neworleans, die übrigen aber die alte Hauptlinie Hamburg-Newyork.
Noch gewaltiger erscheinen die Gegensätze, welche Hamburg als Seestadt
in sich vereinigt, wenn wir als Vorstädte**) die Theile hinzunehmen, die der
Lage nach fast als solche zu betrachten sind, Altona und Harburg.
Drüben jenseits der grünen flachen Strominseln (Wilhelmsburg), zwischen
denen schmale Canäle hindurchführen, liegt die freundliche neue Stadt
Harburg (14,000 Einwohner) mit ihrer kleinen Citadelle, einem bastionirten
Fünfeck, das in hannöverscher Zeit durch ein Commando von 48 Mann der
lüneburger Garnison besetzt war und dessen Wallgraben in seiner Verbreite¬
rung eigentlich den „Hafen" bildet, welcher durch eine Schleuse mit der
Süderelbe in Verbindung steht. Dies Harburg mit seinen rothen Parkhäusern,
dem Bahnhof und den regelmäßigen Hafencanälen dazwischen sollte früher
ebenso ein hannöverscher Concurrenzhafen von Hamburg werden, wie Geeste-
münde für Bremerhaven, wird jetzt aber in preußischen Händen verstän¬
diger verwaltet und erhält eine Austiefung seiner Elbstromrtnne zugleich
mit der Hamburger, statt daß früher Hannover beide Verbesserungen zu
hintertreiben suchte um Hamburg zu schaden I Denn nach einem vor Kurzem
zwischen Preußen und Hamburg geschlossenen Vertrag wird in der Norder¬
elbe wie im Köhlbrand das Fahrwasser verbessert, und zwar erhält dadurch
der Zugang zum harburger Hafen 12 Fuß Tiefe und 300 Fuß Breite gegen
früher nur 8 Fuß Tiefe und 180 Fuß Breite. Dagegen diesseits, auf dem
rechten User der Elbe, unterhalb an Hamburg oder vielmehr an seine Vor¬
stadt Se. Pauli anschließend, dehnt sich Altona auf der hundert Fuß hohen
steilen Uferbank, an deren Fuß eine Reihe Speicher mit geöffneten Luken sich
hinzieht, halbverdeckt von dem Mastengewirr der Schiffe, während oben über
die Häuser des Höhenrandes die Baumwipfel der Palmaille herüberschauen,
jener schönen doppelten Lindenallee, die sich schnurgerade in der langen
Hauptstraße Altonas hinzieht und ihren Namen wohl wie die holländischen
Maliebanen vom Ringstechen erhalten hat.
Das große Centrum des Elbhandels und der Verbindung mit Amerika,
Hamburg mit Altona und Harburg, liegt vor einem Angriffe durch feindliche
Flotten schon an sich ziemlich gesichert. Gegen leichte Kriegsfahrzeuge würden
in der Elbe stationirte Kanonenboote, die hier nicht Schlingern, genügend
schützen. schweren Kriegsschiffen verbietet die geringe Wassertiefe der Ebbezeit
das Herauskommen; auch während der Fluth dürfen sie es kaum wagen, aus
Furcht während der Ebbe abgeschnitten zu werden. Konnte doch der ameri¬
kanische Doppelthurmmonitor „ Miantonomoh", obwohl er nur Is Fuß 10
Zoll Tiefgang hat und gerade Hamburg imponiren sollte, nicht einmal nach
Altona, geschweige denn nach Hamburg hinauskommen: er mußte bei.Neu¬
mühlen unterhalb Altona vor Anker gehen. Außerdem würde die hohe Lage
von Altona und dem neuen Theil Hamburgs den Monitors und selbst an¬
dern Kriegsschiffen nicht gestatten, mit ihren Geschützen beträchtlichen Schaden
zu thun, selbst wenn sie heraus kommen könnten. Schwere Kriegsschiffe
könnten höchstens bis Neumühlen, Panzerfregatten nicht einmal bis dahin
hinaufdampfen. Neumühlen liegt, wie wir von unserm Dampfer, der sich
stromab bewegt, deutlich sehen können, nahe jener Ecke, wo der Altona tra¬
gende Höhenzug scharf vom Wasser zurücktritt und flachen grünen Wiesen
das rechte Ufer überläßt, Schon beginnen die geankerten Schiffe seltener zu
werden, während wir in raschem Laufe zahlreiche ausgehende Schiffe über¬
holen — links aber dehnt sich wie vorher flaches grünes Wiesenufer, der
Werber, dahin. Bald sehen wir, daß die Elbhöhen nur auf eine kurze
Strecke vom Flußlauf zurückgetreten sind; die Hügel von Blankenese mit ihren
Weißen Villen im Grün der Bäume erheben sich rechts wieder höher dicht
am Flusse. Nur das linke Ufer dehnt sich in flacher Einförmigkeit unab¬
sehbar grün dahin. Weiter führt uns der Dampfer, dem der weiße Gischt
am Buge emporspritzt: wir haben Stade oder vielmehr die auf dem linken
Ufer hart am Wasser liegenden Schanzen von Brunshausen erreicht. Hinter
niedrigen grünen Wällen schauen kleine rothe Jnspectionshäuser hervor.
Sie dienten früher, von der wehenden hannoverschen Flagge überragt, zur
Sicherung des Staber oder brunshäuser Elbzolls, und noch jetzt löschen hier
gewöhnlich die stromauf segelnden großen Klipper einen Theil ihrer Ladung
Mr Erleichterung der Fahrt — auch transatlantische Dampfer steht man
aus gleichem Grunde öfters hier liegen. Es wird zweckmäßig sein diese
Schanzen, obwohl sie nicht gerade hohen fortificatorischen Werth beanspruchen
sonnen, in Zukunft für den Fall bestehen zu lassen, daß eine feindliche Flotte
die Befestigungen bei Cuxhaven forcirt hätte und ihre leichteren Schiffe nach
Hamburg hinaufdampfen wollten. Von hier elbabwärts erscheinen in rascher
Folge auf dem linken ehemals hannöverschen Ufer Grauerort — nach einigen
Karten Graverort — etwa eine Stunde unterhalb Brunshausen, wo um¬
fassende Küstenbefestigungswerke beabsichtigt werden und die Erdarbeiten schon
im Laufe dieses Herbstes begonnen werden sollten; sodann auf dem rechten
Ufer Glückstadt mit vortrefflichem eisfreiem Hafen und Kopfstation einer
Zweigbahn des holsteinschen Schienennetzes; dann links gegenüber die Insel
Krautsand, die auch befestigt werden soll, und darauf wieder auf dem
rechten Ufer die Mündung der Stör, von wo einer der Pläne den Nord-
ostseecanal begonnen haben will; darauf die Kirchthürme von Brookdorf und
Brunsbüttel mit einer vorzüglichen, geräumigen und tiefen Rhede, Stellen,
welche von Andren als Ausgangspunkte dieses Canals vorgeschlagen sind,
und noch vor ihnen Se. Margarethen, von wo aus der Geh. Oberbaurath
Lentze seine Canallinie projectirt hat. Auch diese Küste entflieht rasch unsern
Blicken, die flachen Ufer verschwinden mehr und mehr, die Elbe rauscht brei¬
ter und mächtiger dahin und nach kurzer Fahrt haben wir auf dem impo¬
santen Strome Cuxhaven erreicht, das von Hamburg nicht weniger als 14 deutsche
Meilen entfernt ist.
Cuxhaven ist ein kleiner, fast ärmlicher Ort, mit niedrigen Häusern:
auch der Leuchtthurm ist klein, durchaus nicht schön zu nennen, und auf die
Bedeutung des Platzes lassen nur die mächtigen Psahlbollwerke schließen,
welche theils als Schutz des Ufers, theils wie aus Pfahlrost gebildete Mo¬
len, durch die das Wasser spült und die in England piers heißen, als Lan¬
dungsbrücken dienen. Dennoch ist dieser Punkt für den Schutz unsrer Kü¬
sten und der weiter aufwärts gelegenen Seehandelsplätze von höchstem Werth.
Hier vielleicht besser als bei Brunsbüttel wird diejenige Marinestation der
Nordsee anzulegen sein, welche die Elbe deckt, und wenn an beiden Orten,
in Cuxhaven und in Brunsbüttel, sich tüchtige Befestigungen mit weittragen¬
den Geschützen erheben, wird man dem Angriff einer feindlichen Flotte auf
die Elbe und auf die Mündung des vielbesprochenen Canals genügende Hin¬
dernisse in den Weg gelegt haben. Allerdings ist für die Erreichung des
letzteren Zweckes auch noch vorausgesetzt, daß, wie schon der verdiente General-
consul Sturz vorgeschlagen, auch die kleine vor der Elbmündung (westlich)
gelegene Insel Neuwerk mit ihrem Leuchtthurm ebenso wie Wangerooge
befestigt wird — sie liegt noch innerhalb der drei Feuerschiffe — stark und kurz
gebauter und an schweren Ketten verankerter Fahrzeuge, auf deren Mast eine
Kugel. Nachts eine Laterne den Schiffen den Weg angibt. Sogar die Elb-
sandbank Vogelhaut, nahe dem dritten Feuerschiff, hat man landfest zu machen
und mit Befestigungen zu versehen vorgeschlagen, um von hier aus das
Elbfahrwasser wirksamer zu beherrschen. Die Befestigungen bei Curhaven
waren schon 1860 von der deutschen Küstenbefestigungscommission projectirt:
aber erst jetzt werden sie, allerdings in erster Linie, ausgeführt. Nach dem
Bundeshaushaltsetat für 1869 werden verwandt für Beendigung des Werks
an der Kugelbaak (einem Wegweiser, der für die Seefahrer am Lande aufge¬
stellt ist und eine Kugel trägt) bei Curhaven 80,000 Thlr.. für die artilleri-
stische Ausrüstung desselben (und zugleich des Weserforts bei Brinkhammers-
hof) 80,000 Thlr., ferner für das Werk am Leuchthurm bei Curhaven
120,000 Thlr. und für das Werk am Groden (eigentlich Außendeichland) bei
Curhaven 60.000 Thlr.: sämmtlich Werke, die natürlich blos von Schiffsge¬
schützen beschossen werden können, da sie den Positionsgeschützen eines von
Jütland herabmarschirenden Heers wegen der Breite der Elbe nicht erreich¬
bar sind.
Glücklicherweise sind wir jetzt auch durch die tegler Schießversuche mit Arm¬
strong. 300 Pfdrn., Krupp-300Pfdrn. und 200Pfdrn. (nommat 90Pfd. und
72 Pfd.) zur definitiven Feststellung der Geschützarten gelangt, welche als
Einheitscaliber für Panzerschiffe und Küstenbefestigungen dienen sollen. Jetzt
kann, unbeirrt von wechselnden Erfolgen einzelner Proben, die Fabrikation,
schnell und im Großen vor sich gehen und eine baldige Herstellung der Ver¬
theidigungsfähigkeit unserer Küstenforts wird somit zur Gewißheit.
Wir würden nach Allem, was wir bisher ausführten, bei einem voll¬
ständigen Ausbau unsrer Küsten und Hafenetablissements in der Nordsee,
außer dem Centralkriegshafen an der Jahde, eine Station an der Knocke
unterhalb Emden auf dem äußersten linken Flügel, die Weserstation bei
Bieren bez. Jmsum und die Elvstation bei Curhaven besitzen, wozu als
Marinedepots für kleinere Fahrzeuge vielleicht Norden, Tönning oder Husum
kommen könnten. Die Lage aller dieser Punkte kann sich der Leser recht gut
auf der schon erwähnten Karte der deutschen Nordseebäder im Bädeker S. S8
veranschaulichen. Doch hätten wir für die künftige Erneuerung dieser Karte
und selbst für die Herstellung der Karten in Schulatlanten noch den Wunsch,
baß Untiefen nicht blos im Allgemeinen durch punctirten Grund angedeutet
werden, sondern daß statt der unnützen, dem Land parallel laufenden Schraf-
firung vor Allem distinct diejenigen Grenzlinien von flachem und tiefem Wasser
angegeben werden, die praktisch für die Schifffahrt von Bedeutung sind.
Wir meinen erstens die Linie von S oder auch 6 Faden (36 Fuß) Tiefe bei
mittlerer Fluth, welche angibt, bis wohin das Terrain allen, auch den schwer¬
sten Kriegsschiffen zugänglich ist. Die zweite Linie wäre die von 3 Faden,
(18 Fuß) Tiefe bei mittlerer Fluth, die also Kauffahrteischiffen von nicht allzu
bedeutender Größe d. h. von 16 Fuß Tiefgang binnen längstens 12 Senn-
den stets den Zugang gestattet, auch den größten Schiffen, wenn sie etwas
geliechtet sind. Diese beiden Linien sollten auf jeder Karte angegeben sein,
wobei ihre Distanz ohne Schaden im Interesse der Deutlichkeit nach der See
hin größer genommen werden kann, als sie nach dem Maßstab der Karte sein
müßte, wie ja auch der Kartograph die Flüsse stets breiter zeichnet, als sie
eigentlich sein dürften — es handelt sich hier lediglich darum zu zeigen, wo
diese Tiefen ans Land herantreten bez. Verbindungscanäle bilden. Der
Raum zwischen beiden punktirten Linien würde dann auf der Karte passend
mit einem locker punktirten Grunde, der Raum zwischen der inneren Linie
und dem Lande mit einem dicht punktirten Grunde auszufüllen sein. In
Handatlanten mit Karten etwas größeren Maßstabs könnten noch zwei an¬
dere Linien eingezeichnet werden: die Linie von 4 Faden — 24 Fuß. welche die
Grenze für gedeckte Corvetten angiebt, und die Linie von 2 Faden — 12 Fuß
welche die Grenze für leichte Schiffe der Handelsmarine und für Kanonen¬
boote bezeichnet. Derartige Linien würden auch dem Laien oft erwünschten
Aufschluß geben. Gerade jetzt ist die so lange ersehnte, durch Deutschlands
Uneinigkeit bisher nie zu Stande gekommene, nunmehr aber auf Grund
mehrjähriger Vermessungen der norddeutschen Marine glücklich vollendete of-
ficielle Seekarte der deutschen Nordseeküsten von den Seeleuten mit wahrem
Jubel begrüßt worden.
Die Eisenbahnverbindung dieser Stationen, auf welche ganz besonderes
Gewicht zu legen ist, wird bei der geringen Ausdehnung der Nordseeküste
weit weniger schwierig sein als in der Ostsee. Bereits ist zur Herstellung
derselben Bedeutendes geschehen. Die Eisenbahn, welche von Süd nach Nord
die untere Hälfte der cimbrischen Halbinsel durchzieht, genügt auch für die
westcimbrische Küste als Parallelbahn für Truppenbeförderung, sobald nach
dem Strande gegenüber Sylt ebenso eine Zweigbahn gebaut, d. h. die
Zweigbahn nach Tondern etwa bis Hoher fortgeführt ist, wie im Süden
nach Glückstadt, Husum und Tönning. Alle wichtigen Punkte der nordsrie-
sischen Küste sind dann genügend mit Hamburg verbunden. Die Eisenbahn
von Hamburg nach Harburg mit ihrer kolossalen Ueberbrückung der Eibinseln
(Wilhelmsburg) ist im Interesse der Linie Hamburg-Verlöv bereits sicher ge¬
stellt, und auch die Bahn von Harburg nach Stade wird dem Vernehmen
nach binnen Kurzem durch die Regierung ausgeführt werden. Ebenso ist der
Bau von Stade nach Cuxhaven bereits projectirt, und nur für die directe
Verbindung von Cuxhaven mit Bremerhaven über Jmsum und Bremerlehn
fehlt es noch an festen Projecten. Die Bahnen von Bremen zur Wesermün¬
dung und Jahde sind bereits im Betrieb und auch die Herstellung einer 10
Meilen langen Bahn von Heppens über das oldenburgische Jever, Witt-
mund, Esens. Dornum und Norden nach Emden und von letzterem Orte
nach der Knocke soll von einer englischen Gesellschaft gegen 4»/, procentige
Zinsgarantie in Aussicht genommen und ti« Vermessung bereits begon¬
nen sein.
Auch die Bahnen, welche zur Verbindung der erwähnten Marinestationen
mit den Festungen und größeren Garnisonen des Hinterlandes nöthig er¬
scheinen, find zum größten Theil ausgeführt. Die schleswigschen Plätze sind
durch die Nordsüdbahn und Curhaven wird durch die eben besprochene Bahn
nach Harburg - Hamburg mit Spandau (Berlin) und Magdeburg direct
verbunden. Ebenso ist Bremerhaven durch die Bahn nach Bremen mit Han¬
nover und Minden in Verbindung gebracht. Dasselbe gilt von Heppens
(Jahde), das außerdem binnen einiger Zeit noch eine directe Verbindung
über Oldenburg nach Minden erhalten wird. Emden ist schon gegenwärtig
durch die Emsbahn mit dem Hinterkante (Leer. Minden. Wesel. Köln) in
bester Verknüpfung — nur eine Bahn von Blexen über Brock nach Ol¬
denburg wird sich vielleicht noch als nöthig herausstellen.
Wenn es erlaubt ist, noch weiter in die Zukunft hinein Pläne zu machen,
so sei hier erinnert, daß auch eine Fahrt der Kriegsschiffe über das Festland
nicht mehr zu den unmöglichen Dingen gehört. Es mag wohl geschehen,
daß einst unsere Kriegsschiffe per Eisenbahn von Blexen (Nordenhamm) oder
dem linken Weserufer zu dem Kriegshafen an der Jahde quer über die schmale
Halbinsel Butjadingerland transportirt werden. Da für die Landenge von
Panama bereits ein solches Project besteht (Seezeitung „Hansa" Ur. 21). so sei
hier kurz die Methode erwähnt. Nach diesem Project laufen über die Landenge
eine große Anzahl paralleler Schienenstränge dicht neben einander: auf diesen
Schienengleisen aber fährt ein einziger außerordentlich großer und starker,
aus Eisen construirter Wagen, dessen Breite die sämmtlichen Schienengleise
nebeneinander bedeckt und dessen Länge auf mehrere Achsen hintereinander
vertheilt ist. während seine Platform ungefähr wie der Boden eines schwim¬
menden Docks zur Aufstellung eines Schiffs eingerichtet ist. An jedem Ende
der Bahn aber liegt ein schwimmendes Dock, das man mittelst Anlassens
von Wasser auf eine unter Wasser liegende feste Bettung hart am schimm¬
erte niederlassen kann, und in dieses Dock wird auf den Schienen der Eisen-
wagen mit dem Schiff darauf durch Locomotiven übergeführt. Sobald dies
geschehen, wird das Dock durch Aufpumpen von Wasser gehoben, dann in
tiefes Wasser geschleppt und hierauf so weit gesenkt, daß das Schiff darauf
von selbst flott wird und herausfahren kann. Durch eine Einrichtung dieser
Art. die sich trotz ihrer Kostspieligkeit bet dem ganz ebenen Terrain wohl
immer billiger als ein Canal stellen und vor Allem die Wasserverhältntsse
nicht wie ein solcher verändern würde, ließen sich dann Schiffe aus der Weser-
station nach dem Jahdebusen überführen. Man vermöchte so ganz außer
dem Bereich der feindlichen Kanonen zu Lande die Flotte auf einen Punkt
zu concentriren. Wir verkennen nicht das Kühne und Ungewöhnliche dieses
Planes; indessen ist die heutige Technik in präciser Bewegung schwerer Massen
so weit vorgeschritten, daß die Schwierigkeiten durchaus nicht unüberwindlich
erscheinen. Es werden ja auch jetzt schon große Panzerfregatten mit voller
Armirung und Ausrüstung vom Boden eiserner Schwimmdocks getragen, und
bei dem angeführten Project vertheilt sich die Last auf so viel Achsen und
Räder bez. Berührungsstellen der letzteren mit den Schienen, daß das Pro¬
ject keineswegs als utopisch zu betrachten ist.
Es traf sich günstig für mich, daß Sie meiner Correspondenz aus dem
September d. I. auf dem Fuße einen Bericht aus Kiel über den Empfang
König Wilhelm's in Schleswig-Holstein folgen lassen konnten. Der mit
Absicht einseitig gewählte Gesichtspunkt, von dem aus ich Ihnen die neue
Ordnung in den Herzogthümern zu charakterisiren versuchte, erhielt dadurch
ausgleichendes Licht. Gerade das ist ja der ideellste und unzerstörbarste Be¬
ruf wahrhaften Königthums, daß es in der Vorstellung der Menschen über
den Kämpfen und Irrungen der Zeit stehend und als Verkörperung der
reinsten und unvergänglichsten Seite des Staats die Interessen der Ver¬
gangenheit wie der Zukunft umfassend die Gegensätze der Gegenwart aus¬
söhnt, den Widerstreit particulären Selbstrechts aufhebt in dem der Ge¬
sammtheit gewährleisteten öffentlichen Frieden. Und König Wilhelm müßte
durch die rein menschlichen Eigenschaften seiner Person, Hoheit, Würde und
Wohlwollen seines Wesens, wie durch ruhmreiche Thaten unter den leben¬
den Fürsten weniger ausgezeichnet sein, hätte er nicht auch in dieser neuen
Provinz durch sein Erscheinen Herzen zu gewinnen und seines Regiments An¬
sehen fester zu begründen gewußt. Nach meinen Eindrücken trat diese
Wirkung noch unendlich lebhafter, als in dem meist konventionellen Prunk
und Auflauf städtischer Begrüßung überall da zu Tage, wo unser Landvolk
heranströmte, um den neuen Landesherrn zu sehen und willkommen zu heißen.
Ist erst die Generation von heute ausgestorben, die den Stachel verübter
oder erlittener Unbillen im Herzen mit verbitterten Gemüth und unruhigem
Gewissen nach Conflicten sucht und von der Feindschaft gegen Preußen lebt,
hat erst die allgemeine Wehrpflicht des jungen Geschlechts eine Reihe von
Jahrgängen dem preußischen Heerwesen einverleibt, so wird, daran ist kein
Zweifel, die Monarchie in dem Landvolk dieser Nordmarken ihre festesten
Wurzeln schlagen und der Segen des großen nationalen Gemeinwesens un¬
berechenbare Gebiete des Volksthums auch hier befruchten.
Für den Augenblick muß einem solches Vertrauen freilich über manche
verwirrende Erscheinung des Tages forthelfen. Bekanntlich führte die königliche
Reise zu einer hohen Auszeichnung des Oberpräsidenten v. Scheel-Plessen.
Aengstliche Leute sind dadurch derartig decontenancirt worden, daß ernsthaft
die Möglichkeit besprochen wurde, ob der wirkliche Geheimerath Baron v. Scheel-
Plessen nicht vielleicht der Nachfolger des Grafen Eulenburg als Minister
des Innern werden könne. Etwas ephemerer Art ist das Oberpräsidium ohne¬
hin seit dem 1. October d. I. geworden, seit die vereinigte Regierung in
Schleswig unter Elwanger's Präsidium installirt ist und der Oberpräsident
in Kiel seinen Sitz behalten hat. Die Bedenken, welche von nationalliberaler
Seite im Abgeordnetenhause gegen die gesetzliche Basis der Schleswiger Regierung
geltend gemacht worden sind, vermag ich nicht zu theilen. Die vereinigte Re¬
gierung hat selbstverständlich eine andere interne Organisation, aber materiell
keinen andern Wirkungskreis, keine anderen Befugnisse, als sie die getrennten
beiden Regierungen bereits besaßen, und ich meine, das Ministerium hat jene
Organisation vollkommen borg, Käs im Verordnungswege geregelt, nachdem der
vorjährige Beschluß des Abgeordnetenhauses die Vereinigung beider Re¬
gierungen budgetmäßig forderte, ohne die leiseste Andeutung dafür, daß die
Vereinigung nicht als mechanische Verschmelzung zweier gleichartiger Behörden,
sondern als Combination ganz neuer Verwaltungsideen zu denken sei. Aber
neben dieser einen Regierung ein davon vollkommen getrenntes Ober-
Präsidium, mit drei vortragenden Räthen und Bureau-Personal ausgestattet,
das scheint mir in der That eine Art von Nebenregierung zu sein, ebenso
neu gegenüber dem bisherigen wie allem übrigen Verwaltungsrechte des Staats.
Alles, was Graf Eulenburg als natürliche Erklärung und Rechtfertigung dieser
Eigenthümlichkeit anzuführen versucht hat, gehört in die Classe der wohl¬
feilsten Brombeeren. Ein derartiges Oberpräsidium für eine Provincial-
verwaltung von kaum einer Million Einwohner neben nur einem Regierungs-
collegium ist ein Unicum, das nirgend anderwärts zu finden, das durch
keine sachlichen Bedürfnisse bedingt ist und das unfehlbar mit Herrn v. Scheel-
Plessen eingehen wird. Wäre, was noch im vorigen Jahre eine Zeit lang
möglich schien, v. Zedlitz Oberpräsident geworden, er präsidirte heute sicherlich
der vereinigten Regierung in Schleswig, und Niemand dächte daran, daß es
anders sein könnte.
Bald nach dieser, so zu sagen, vorläufig definitiven Gestaltung der
obersten Administrativbehörde erfolgte die Eröffnung der ersten Session der
Schleswig-holsteiner Provincialstände in Rendsburg. Nach der ihnen durch
königliche Verordnung v. 22. September v. I. gegebenen Composition bestehen
dieselben aus 19 Abgeordneten des großen Grundbesitzes, darunter 4 Ver¬
tretern der ritterschaftlichen Korporationen, 19 Abgeordneten der Städte und
ebenso 19 Abgeordneten der Landgemeinden. Mit einer Virilstimme sind
außerdem die hessischen Fideicommißgüter vertreten. Es ist gewiß, daß diese
Dreitheilung dem wirklichen Verhältniß der ständischen oder socialen Bestand¬
theile der Herzogthümer herzlich wenig entspricht und ein ziemlich verzwickter
und willkürlicher Wahlmodus macht die Sache noch schlechter. Auch blieb
beim Mangel jedes Provincialfonds und jeder darauf zu gründenden stän¬
dischen Verwaltungsorganisation unser Provineiallandtag von vorne herein
weit hinter den Aufgaben der in Hannover, Kassel und Wiesbaden lagerten
Provincialvertretungen zurück. Trotzdem hat die Geschichte der preußischen
Provinciallandtage vor dem Jahre 1848 gezeigt, daß mit einiger Energie
und Geschicklichkeit selbst diesem barocken ständischen Rahmen ein lebendiger
Inhalt und vorwärts treibende Kraft zu geben ist. Wenn die Verhand¬
lungen der Schleswig'holstein'schen Stände stark unter dem erlaubten Maße
von Eintönigkeit und Langweiligkeit blieben, so lag der beste Theil der
Schuld entschieden an dem Mangel politischer Capacitäten. Sie sind wohl
auch im alten Ständesaale zu Itzehoe nicht sehr zu Haufe gewesen: heute,
wo die wenigen weitsichtigen Führer der alten nationalen Partei stille
Männer geworden und der Gegensatz gegen das Dänenthum Nichts mehr
verdeckt, starrt einem ein trostloser Mangel positiver politischer Kräfte, in den
öffentlichen Dingen gewiegter Geschäftsleute peinlich entgegen. Es wurde in
Rendsburg von liberaler Seite ein Anlauf genommen, das Postulat einer
der Zeit und dem Lande entsprechenderen Zusammensetzung der Provincial»
Vertretung zu formuliren. Nachdem jedoch der königliche Commissär davor
gewarnt, nicht zu früh an dem „Fundamentalgesetz" zu rütteln, und der
Klosterpropst von Ahlefeld, einer der intelligentesten Vertreter der Ritterschaft,
in jenem Versuch den Ausdruck des Mißtrauens gegen einen Theil der
Stände erblicken zu wollen erklärt hatte, verwahrte man sich gegen jede bös¬
willige Absicht und ließ die Sache fallen. Etwas einmüthiger, aber nicht
kräftiger verlief ein zweiter Ansturm, den sog. Zuchthaussond im Betrage von
650,000 Thlrn., der aus Beiträgen der Communen hervorgegangen, darauf hin
den Provincialständen zu eigener Verwaltung zu vindiciren. Gegen die
kategorische Erklärung des Ooerpräsioenten, daß die fragliche Summe nach
der Ansicht der Staatsregierung schlechterdings nicht der Provinz, sondern
den allgemeinen Staatsfonds gebühre, war nicht auszukommen. So blieb
denn die Begutachtung verschiedener Gesetzentwürfe übrig, von denen ein
Jagdgesetz einiges, der Entwurf einer Schleswig-holstein'schen Städteordnung,
sollte man meinen, sehr viel Interesse darbot. Graf Eulenburg hatte ohne
Umstände die Städteordnung der sechs östlichen Provinzen Preußens zu Grunde
gelegt, doch aber zu Gunsten unserer überkommenen Eigenthümlichkeiten die
zwei großen Concessionen gemacht, daß Magistrat und Deputirtencollegium
wie bisher so auch fernerhin der Regel nach in gemeinsamer collegialer Be-
rathung tagen und die Magistratsmitglieder, vom Bürgermeister und Bei¬
geordneten abgesehen, auch fernerhin unmittelbar von der Bürgerschaft ge¬
wählt werden dürfen: dafür sollen aber die Bürgermeister nach Präsentation
dreier Candidaten unmittelbar vom Könige bez. der Regierung, ernannt
werden. Die schöne Erfindung der altpreußischen Reactionszeit, die Graf
Schwerin im I. 1862 vergeblich zu beseitigen versuchte, daß jeder Dissens
zwischen Magistrat und Stadtverordneten durch die löbliche Regierung zu
entscheiden sei, fand sich trotz der zugestandenen Vereinigung der städtischen
Collegien glücklich im Entwürfe wieder vor. Gegen die letzteren beiden Be¬
stimmungen richteten sich hauptsächlich die Bedenken einiger getreuen Stände.
Indessen Graf Eulenburg hatte dem Oberpräsidenten und seinen Räthen
wohl nicht das erforderliche Feuer zugetraut, um diese gesetzgeberische That
mit der gehörigen Energie zu plaidiren: es wurde der intellectuelle Urheber
des Entwurfs, natürlich ein Geheimrath aus dem Ministerium des Innern,
nach Rendsburg geschickt, und an dem bureaukratischen Panzer dieses Herrn
Prallten fast klanglos alle von schwachen, ungeübten Händen geführten An¬
griffe ab. Etwas Humor lag für den entfernten Beobachter immerhin in
dem Schauspiel, dramatisches Interesse gar nicht. Oder ist es nicht ein humo¬
ristischer Zug, wenn der Geheimrath auch jenen auf erweiterte Selbst¬
verwaltung gerichteten Wünschen nicht blos den Widerspruch der Staats¬
regierung, nicht blos das Interesse gesammtstaatlicher Uniformität, nein, auch
die gewisse Abneigung des preußischen Landtags gegen derartige Eigen¬
thümlichkeiten drohend entgegen hielt und nur im tapferen Zusammenstehen
der Stände mit der Staatsregierung einige Aussicht auf Erfolg gegen den
berliner Parlamentartsmus verhieß? Wir hoffen, die liberalen Parteien des
Abgeordnetenhauses werden dem Schleswig-holstein'schen Provinciallandtage
dennoch zu Hülfe kommen, selbst auf die Gefahr hin, die Städteordnung
bleibt Entwurf, und wir behelfen uns noch ein und das andere Jahr
länger mit unseren bunten Localstatuten.
Etwas lebhaftere Wellen schlug in jüngster Zeit unser politisches Leben
nach andrer Seite hin. Als im Spätherbst v. I. die ersten Wahlen zum
Landtage der Monarchie stattfanden, etablirte sich in Kiel, der Hofburg unseres
Particularismus, ein Wahlverein, verzweigte sich über das Land und
octroyirte den Wahlkreisen die Candidaten. Die kieler Staatsanwaltschaft
hatte die Schwäche, dem Andrängen des Oberpräsidiums nachzugeben und
wegen Uebertretung des bekannten Coalitionsverbots im Vereinsgesetz die
kieler Vorstandsmitglieder zu verfolgen. Sie erreichte in erster Instanz eine
Verurteilung zu einigen Ordnungsstrafen und nachdem sich der Proceß fast
ein Jahr hingeschleppt, führte er in zweiter Instanz zu der Feststellung, daß
es sich nur um einen großen Gesammtverein handele, und folgeweise zur
Freisprechung. Flugs wurde von Kiel aus dies Ereigniß den Parteigenossen
in einem ausführlichen Rundschreiben mitgetheilt und dieselben aufgefordert,
nunmehr dem zu allgemeiner politischer Thätigkeit verjüngten Vereine männig-
lich beizutreten, sür sein Programm kräftig zu wirken. Das recht glatt ge¬
schriebene Circulär erwähnte Nichts mehr von den Programm von Neumünster,
dem bisherigen Evangelium unserer Partieularisten, es vermied in Wort und
Gedanken ebenso geschickt jede Erwähnung Preußens, der nationalen und ge-
sammtstaatlichen Interessen und betonte in unendlichen Variationen lediglich
die Vertheidigung, Förderung, Entwickelung der provinciellen Institutionen.
An der Spitze dieser Art von Bewegung stand und steht Herr Hänel,
Professor der Rechte an der Universität Kiel, Abgeordneter des 18-
Schleswig-holstein'schen Wahlkreises. Er gehört unbedenklich zu den risioZ nett
in unserem Phäakenlande und ich hätte allen Grund, mein oben ausgesprochenes
abfälliges Urtheil über die Herrschaft politischer Impotenz zu seinen Gunsten
wesentlich einzuschränken, wäre Herr Hänel nicht ein ziemlich fremdes
Element in unserer Gesellschaft. Als er, irre ich nicht, i. I. 1862 als
sächsisches Landeskind von Leipzig hierher kam, brachte er anscheinend bereits
ein gutes Theil sowohl jenes Preußenhasses, wie jener politischen Geschmeidig¬
keit mit, deren Vorbild Herr von Beust damals und vielleicht auch heute
noch ist. Während der augustenvurger Episode entwickelte er im auswärtigen
Departement des Erbprinzen als Hülfsarbeiter beide Eigenschaften in frucht¬
barster Weise. Später als der leitende Genius det „Kieler Zeitung" und
als Vorstandsmitglied der Schleswig-holstein'schen Wahlvereine fand er mehr¬
fach Gelegenheit, sich mit der kieler Staatsanwaltschaft zu messen, und im
Augenblick sind seine beiden Reden im Nbgeordnetenhause gegen den Ober¬
präsidenten von Scheel-Plessen und gegen die preußischen Staatsanwälte das
große Ereigniß im Lande. Schade, daß Herr Hänel, so ächt auch sein Par-
ticularismus ist, doch selbst keine Hetmathsrechte in Schleswig-Holstein
besitzt! Dies allein thut seinem Ruhme unter uns Abbruch.
Hülf entern Lsineelws 6e seäitiollö yuerelltös! Ich habe durchaus keine
Neigung, sei es sür unser Oberpräsidium, sei es sür das Institut der Staats¬
anwaltschaft eine Lanze einzulegen. Aber Herr Hänel und seine Partei ge¬
hören nicht zu den Leuten, in deren Munde sich Klagen über Partei¬
regiment und politische Verfolgungssucht gut und ehrlich ausnehmen. Unsere
Administration und unsere Strafgerichtsverfassung, die auch in ihrer jetzigen
Gestalt immer noch einen Fortschritt von Jahrhunderten gegen das alte
hiesige Chaos darstellen, könnten dem Ideale um ein Unendliches näher sein:
trügen sie die Farbe Preußens, so würden die Querelen jener Partei über
Mißregierung sich in anderer Tonart, aber mit nicht minderer Festigkeit er¬
gehen. Zudem ist das. was HerrHänel in Betreff der „Herrschaft" der Staats¬
anwälte über die „Inferiorität" der Gerichte klagend vorgebracht hat. zwar
mit leidlicher Klugheit ausersonnen, aber doch eben nur eine Erfindung des
Herrn Professors. Etwas Absonderliches sollte vorgebracht werden. und so
mußte ein in der Literatur über die Reform der Staatsanwaltschaft häufig
als eine mögliche Gefahr herangezogener Gesichtspunkt dazu herhalten, in
schärfster Zuspitzung dem Vortrage besonderen Reiz zu verleihen. Je stärker
die darin enthaltene Beleidigung gegen unsere Richter, desto gewisser die
Aussicht. Mißtrauen auch da zu säen, wo es im Interesse Aller bisher noch
unbekannt war. Grade das war es. was ich in meiner letzten Correspondenz
den hiesigen Staatsanwälten zu Gute hielt, daß sie im Allgemeinen ent¬
schieden das Bestreben zeigen, in collegialen Einvernehmen mit den Gerichten
und mit richterlicher Unabhängigkeit die Strafrechtspflege zu handhaben. Der
Justizminister hatte ganz Recht darin: die Schleswig-holstein'schen Richter
sind im Ganzen nicht aus dem Holze geschnitzt, um sich durch ein bischen
Geschäftsroutine und gewandte Plaidoyers moralisch unterjochen zu lassen.
Auch haben wir schon jetzt sowohl Richter wie Rechtsanwälte zur Genüge,
die vollkommen befähigt sind, dem Parquet das Gleichgewicht zu halten, wo
eine Präponderanz sich geltend machen möchte. Ich bin überzeugt, hätte der
jetzige Justizminister nicht in ganz unnöthiger Weise einige der verrufensten
Ministerial-Rescripte aus der Simons'schen Zeit, welche die Staatsanwalt¬
schaft in Preßsachen und bei Anklagen gegen Beamte in eine abscheuliche
Abhängigkeit von Polizei- und Administrativbehörden bringen, plötzlich en
bloc den Staatsanwälten der neuen Provinzen aufoctroyirt. er hätte mit
noch besserem Gewissen die ganze Hänel'sche-. Insinuation abfertigen können.
In Summa entspricht es trotzdem allein der Wahrheit, wenn ich behaupte.
Schleswig-Holstein erfreut sich einer erheblich größeren thatsächlichen Pre߬
freiheit und einer viel geringeren Zahl politischer Verfolgungen, als die alten
Provinzen.
Die Beispiele, mit denen Herr Hänel seine zweite Rede illustrirt hat.
sind sämmtlich den Acten der kieler Staatsanwaltschaft entnommen und
zum Theil eine recht wunderliche Blumenlese. Eins davon, das zugleich die
hiesigen Zustände charakterisirt. möchte auch ich mir in den Strauß binden.
Vor etwa Jahresfrist gerathen bei Gelegenheit irgend einer Festfeier und
einer dabei veranstalteten Sammlung von Geldbeiträgen ein Amtmann Gr. R.
und ein Amtsrichter R. in einen persönlichen Conflict. Ersterer gehört der
nationalen Partei an. Letzterer ist strammer Augustenburger; obwohl der
Letztere seinen Gegner schon vordem einmal die unter Männern in Ehren¬
sachen übliche Genugthuung verweigert hat, benutzt er taktvoll die Gelegen¬
heit jener Geldsammlung, um dem nationalen um früherer in der Landes¬
sache gesammelter Gelder willen den Verdacht der Unehrlichkeit und Untreue
zu insinuiren. Dieser verlangt sofortigen Widerruf der Beleidigung und
greift schließlich, als der Amtsrichter sich dazu nicht bereit findet, zu dem
letzten Schutzmittel gegen derartige Bubenstreiche, dem Stock. Der gemi߬
handelte Amtsrichter denuncirt bei der kecker Staatsanwaltschaft, wird aber
nach dem wohl bei allen Staatsanwälten für solche Fälle der einfachen
Realinjurie herkömmlichen Formular auf den Weg der ihm zustehenden
Privatklage verwiesen. Leider machen es nunmehr auch mehrere Advocaten
wie der kieler Staatsanwalt und wollen mit der Anklage gegen Gr. R. Nichts
zu thun haben; der Amtsrichter scheut sich aber, selbst seine Ehrensache vor
der Strafkammer zu plaidiren — und so hat er die Stockschläge noch heute
ungesühnt sitzen. Der Amtmann ist unangefochten. Landrath in einer guten
alten Stadt Schleswigs, der Amtsrichter dagegen von seiner vorgesetzten
Dienstbehörde wegen unwürdigen außeramtlichen Verhaltens disciplinarisch
belangt worden. Und obwohl die Staatsanwaltschaft weder über Landräthe,
noch über Amtsrichter irgend eine Disciplinar- oder sonstige Gewalt aus¬
zuüben hat, macht Herr Hänel zu Gunsten seines Parteigenossen in seiner
Diatribe gegen die Staatsanwälte von jenem Histörchen doch die brauchbare
Nutzanwendung, daß Jedermann daraus ersieht, wie in Schleswig-Holstein
vermöge der Herrschaft der Staatsanwaltschaft richterliche Beamte von
höheren Verwaltungsbeamten ungestraft gemißhandelt, jene obenein dis-
ciplinirt, diese befördert werden!
Die Thronrede, mit welcher gestern König Karl die neue Ständever-
sammlung eröffnet hat. befleißigt sich der sachlichen Kürze, welche die Feder
des Hrn. v. Geßler vortheilhaft auszeichnet. Geschäftlich und bescheiden ver¬
meidet sie diesmal Anspielungen, wie die auf das „vierhundertjährige Verfassungs¬
leben", in welchen sich noch die letzte Thronrede vom 20. Febr. d. I. gefallen
hatte. Auch die wehmüthige Sympathie für ..das schöne Reich, das bis dahin
seine Geschicke mit uns getheilt und nun von uns geschieden" hat keine Wie-
derholung gefunden. Herzlich und entgegenkommend ist der Ton dem eigenen
Volk gegenüber, keine Spur einer Verstimmung über den Ausfall der Wah¬
len, die der Regierungspartei eine so empfindliche Niederlage bereiteten.
Eine Anzahl Vorlagen ist angekündigt, die meisten von wenig allge¬
meinem Interesse. Herr v. Golther, der sonst die Reformen in seinem Departe¬
ment schockweise aus dem Aermel schüttelt, begnügt sich ein Gesetz zu verspre¬
chen, das die Rechtsverhältnisse religiöser Vereine im Sinne der Religions¬
freiheit ordnet. Der Einfluß der norddeutschen Bundesgesetzgebung ist zu
spüren, wenn die Beseitigung der politischen Hindernisse in Schließung der Ehen,
wenn eine Vorlage über gleiches Maß und Gewicht mit ganz Deutschland,
wenn die Aufhebung der Personalexecution in Wechselsachen angekündigt wird.
Diese Vorlagen zeigen aufs Neue, wie die Südstaaten die Erhaltung ihrer
internationalen Selbständigkeit um den Preis bezahlen, die norddeutsche Ge¬
setzgebung einfach für sich zu adoptiren.
„Die freie Bewegung im Staatsleben soll gefördert werden." Doch ist
von dem Entwurf einer Reform der Verwaltungsbehörden, der, zu Ende der
vorigen Periode eingebracht, nicht mehr erledigt werden konnte, keine Rede.
Er hat wenig Beifall gefunden und scheint zurückgezogen. Ebenso wenig ist
der Entwurf einer Verfassungsreform wieder eingebracht. „Aber auch diese höchst
wichtige Frage wird bei versöhnlichem Sinn und aufrichtiger Hingebung an
das wahre Wohl des Landes ihre zeitgemäße Lösung finden." Das heißt
wohl: man will erst die politische Temperatur des jetzigen zum großen Theil
aus Neulingen bestehenden Hauses abwarten und eine betreffende Vorlage
vom Wohlverhalten desselben abhängig machen. In seiner bisherigen Ge¬
stalt hat freilich auch dieser Entwurf in der neugewählten Kammer so wenig
Aussicht auf Annahme, wie in der vorigen. Indessen wird nicht zu umgehen
sein, daß auch in dieser Richtung bald Etwas geschehe. Unser Verfassungs¬
organismus hat trotz, oder vielmehr wegen seines vierhundertjährigen Alters zu
viel für die Gegenwart Abnormes und man wird dagegen auf die Länge die
Augen nicht verschließen können, wenn man gleichzeitig so empfindlich ist gegen
constitutionelle Schwächen fremder Staaten. Die feudalen Reminiscenzen in
der Zusammensetzung beider Kammern, die sechsjährigen Landtags- und drei¬
jährigen Budgetperioden lassen sich beim Blick auf die Fortschritte der con-
stitutionellen Entwicklung in andern Ländern schwer vertheidigen. Daß die
Kammer ihren Präsidenten nicht selbst wählt, daß ihr das Recht der gesetz¬
geberischen Initiative versagt, daß das Recht der Redefreiheit nicht verfassungs¬
mäßig garantirr ist, dies Alles sind Punkte, die man allerdings bisher
im eigenen Hause recht gelassen ertrug, die aber doch nicht ganz stimmen wol¬
len mit dem gerühmten Hort der Freiheit des Beobachters und mit dem
Eldorado Moritz Mohl's.
Der kurze Abschnitt über die politische Stellung des Landes, mit welchem
die Thronrede schließt, enthält nichts Neues und Unerwartetes. Er bestätigt
daß die Politik der Regierung unverrückt dieselbe ist, abwartend, zwischen den
Forderungen der Parteien die goldene Mitte haltend. Der deutschen Partei
soll es ohne Zweifel gelten, wenn vor Allem die Selbständigkeit Württembergs
betont wird; der Volkspartei gilt die Stelle von der Pflege der nationalen
Interessen und den Pflichten gegen das weitere Vaterland. Mit anderen
Worten: die Regierung will sich weder zum Anschlusse an den norddeut¬
schen Bund, noch zu undeutschen Experimenten drängen lassen; an dem durch
die Verträge geschaffnen Zustand soll Nichts geändert werden, obwohl die
Verträge selbst bezeichnenderweise nicht erwähnt waren. Es liegt auf der
Hand, daß diese Rede, die unter diesen Umständen gehalten einfach auf das
Nächstliegende sich beschränkt, keine Herausforderung zu einer Adresse und
Adreßdebatte enthält. Ihr knapper Ton scheint einer solchen eher vorzubeugen
und die Abgeordneten an ihre Geschäfte zu verweisen. Auch läge es sür die
Vertretung eines Staats, der sich zu besonders musterhafter Ausbildung des
Constitutionalismus berufen weiß, in der That nahe, mit Vermeidung von
Allotrien an die dringlichen Arbeiten zu gehen. Und der Nutzen einer poli¬
tischen Debatte ist um so weniger einzusehen, als seit den letzten höchst
gründlichen politischen Kämpfen, die in demselben Saale geführt wurden, le¬
diglich keine Wendung, kein nennenswertes Ereigniß eingetreten ist, das der
Begutachtung durch den schwäbischen Areopag bedürfte. Wozu also das
grausame Spiel abermals aufführen?
Allein damit wäre freilich der Demokratie, die durch die Pforte des all¬
gemeinen Stimmrechts in so imponirender Anzahl in die Kammer eingetreten
ist, schlecht gedient. Wenn auch nicht in der Lage der Dinge, so ist doch im
Halbmondsaal selbst eine erhebliche Veränderung vor sich gegangen. Eine
Reihe von Leuten, die bisher nur in Volksversammlungen oder auf Schützen¬
festen Proben ihrer staatsmännischen Fähigkeiten abgelegt hatten, erfreuen sich
nun eines gesetzlichen Maubads und sind nicht gewillt ihr Licht unter die
Tribüne zu stellen. Die Volkspartei der strengen Observanz, von der euro¬
päischen Nuance, ist in der Kammer in solcher Zahl vertreten, daß sie sich
als eigene Partei, gesondert von der alten Linken, constituiren konnte, mit
der sie indessen vorläufig noch mit einer Art von Herablassung als „Ver¬
einigte Linke" gemeinsame Parteiversammlungen hält. Von dem Augen¬
blick nun, da diese neuen Kräfte mit ihren lange aufgesammelten Gefühlen
auf den Brettern erscheinen, hebt offenbar ein neuer Abschnitt der Weltge¬
schichte an. Mitleidwürdig erlischt der Stern von Sadowa und in blut¬
rother Gluth geht über dem erstaunten Europa die Freiheitssonne von Be-
Sighelm auf. Glücklich Diejenigen, welche sich einst rühmen können diesen
weltgeschichtlichen Moment erlebt zu haben!
„Das Werk von 1866 muß aus der Welt geschafft werden." Das war
das cetorum eevsev der Wahlreden aus dem Lager der Volkspartei. So ge¬
schwind wird sich dies nun freilich nicht machen, daß sich darauf mit Fug
das Goethe'sche Wort anwenden ließe: „Es war gethan, fast eh gedacht.«
Man wird ja wohl zufrieden sein, wenn es gelingt, in mehreren Etappen
das Werk Bismarck's wieder aus den Augen der dadurch unangenehm be¬
rührten Volkspartei zu schaffen, und als erste Etappe wird nun ohne Zweifel
die Rednerbühne in der Kronprinzstraße zu Stuttgart zu betrachten sein oder
mindestens sich selbst betrachten. Schade, daß sich aus derselben nicht viel
Neues wird sagen lassen. Schade, daß zu einer so heroischen Arbeit nur längst
verbrauchte Waffen zur Verfügung stehen. An dem besten Willen zwar wird
es nicht fehlen. Man wird vor Allem revidiren, was die letzte Kammer zur
Verpreußung des Landes gethan. schlechterdings erfordert die Neugestaltung
Deutschlands eine abermalige vernichtende Kritik durch die württembergische
Volkspartei. Die taube Welt kann nicht oft genug die gewaltigen Proteste
gegen die Blut- und Eisenpolitiker, gegen den Militarismus und Cäsarismus
anhören. Nicht oft genug kann die napoleonische Idee des Südbundes als
die einzige Rettung der deutschen Libertät gepriesen, oder dem barbarischen
Mischlingsvolk in der norddeutschen Ebene die Überlegenheit der echtdeut¬
schen Raxe bewiesen werden. Kurz, man wird sich in Geduld auf die uner¬
schrockene Wiederholung von Reden gesaßt halten müssen, die längst alle ge¬
halten, stenographirt, gedruckt und gebunden sind, eine neue Ausgabe, die
nur durch ein noch lebhafteres Colorit von den bisherigen sich unterscheiden
wird. Irgend einen Erfolg mögen sich die Urheber selbst im Ernst nicht
versprechen und im übrigen Deutschland wird die Wirkung kaum mehr als
ein erneutes Schütteln des Kopfes sein Nur der eine Gewinn ist allerdings
nicht zu unterschätzen: der hingeworfene Handschuh wird von schlagfertigen
Kämpfern aufgenommen werden, neben der undeutschen kommt auch die
deutsche Gesinnung nachdrücklich zum Wort, ein kräftiges nationales Zeugniß
wird in Schwaben sich Gehör erzwingen und in unserem Volk selbst wird
durch diese wiederholten Turniere eine angenehme Erregung der Gemüther
wachgehalten, die nun einmal nicht zur Ruhe kommen sollen, bis die eine
Frage gelöst ist, die deutsche.
Nachdem die Regierung durch den Mund des Grafen Eulenburg ver¬
kündet hatte, daß sie sich der Ausführung des Guerard'schen Antrages nicht
widersetzen werde, sah alle Welt die Berathung über den Etat des Cultus-
und Unterrichtsministeriums als den wichtigsten und entscheidendsten Punkt
des parlamentarischen Winterfeldzugs, mindestens als den Punkt an, der für
die liberalen Parteien die größte Wichtigkeit haben werde. Diese Parteien
mußten, wenn überhaupt, so bei dieser Gelegenheit zeigen, was sie konnten
und was sie gelernt hatten. Der Minister von Muster hatte nach allen
Seiten hin den peinlichsten Anstoß gegeben, in den alten, wie in den neuen
Provinzen, bet den nationalen und bei den Demokraten mannigfaches Aergerniß
bereitet, hier durch einseitige Betonung des starrsten Confesstonalis'mus, dort
durch büreaukratische Einmischung in städtische und ländliche Schulverhält¬
nisse böses Blut gemacht. Wurde die Sache mit einigem Geschick behandelt,
so ließ sich mindestens ein starker Eindruck auf den leitenden Minister
erwarten, dem an der Erhaltung eines unbeliebten Collegen nicht viel gelegen
sein konnte.
Wie hoch die allgemeine Aufmerksamkeit gespannt war, zeigte schon ein
Blick aus die überfüllten Galerien und auf den ziemlich schwach besetzten
Ministertisch, in dessen Mitte der blasse, etwas steife und trotz aller äußeren Ruhe
sichtlich erregte Mann dasaß, der den heranziehenden Sturm mit Hilfe zweier
düster blickender Commissarien bestehen sollte. Die Bänke des Hauses waren
dicht besetzt — die Rechte saß in erwartungsvollen Schweigen da, auf der
Linken zeigte sichs, daß Etwas im Werk sei.
Auf der Rednerliste (die Dank den Bemühungen der Demokratie sammt
der alten Geschäftsordnung noch immer in Uebung ist) standen nicht weniger als
sechszehn Redner; zwei Dritttheile derselben wollten den Minister angreifen.
Kam auch nur die Hälfte zu Wort, so ließ sich ein günstiges Ende nicht
absehen. Wie war eine so lange, noch dazu wesentlich mit unbekannten
Namen erfüllte Liste mit einer ordentlichen Taktik der aggressiven Fractionen
zu vereinigen? Zwei Punkte, auf die es wesentlich ankam, und für jeden
derselben fünf Redner? Wie mochten da wohl die Rollen vertheilt sein, wer
die Regie übernommen haben?
Nichtsdestoweniger ließ die Sache sich recht günstig an. Prediger Richter
eröffnete den Kampf mit einer Rede, die zwar an Länge und Breite des
Guten zu viel that, auch wegen der eingestreuten Liederverse nicht besonders
taktvoll genannt werden konnte — aber im Ganzen doch einen guten Ein¬
druck machte. Das Hauptgewicht' war auf die Gefährlichkett der hyper¬
orthodoxen Richtung gelegt, welcher der Minister folgte; aber auch der andere
Punkt, die unerträgliche Bevormundung der Communen war nicht uner¬
wähnt geblieben. Herrn v. Muster's Antwort bewies am deutlichsten, daß
der Vorredner nicht wirkungslos gesprochen hatte; der Minister sprach aus¬
führlich, sehr gemäßigt, in entschieden versöhnlicher Absicht. Als seine etwas ein¬
tönige, aber mit formeller Sicherheit gesprochene Antwort beendet war, wandte
er sich wieder den Papieren zu, die vor ihm lagen und seine Aufmerksamkeit
sehr viel lebhafter in Anspruch zu nehmen schienen, als die krampfhaften
Beifallsbemühungen der Rechten und die etwas mesquinen Zischlaute der
Linken — Laute, welche trotz der tadelnden Bemerkung des Präsidenten
übrigens consequent und von beiden Seiten des Hauses wiederholt wurden,
so oft ein Gegner sprach. Der nächste Redner, Domherr Kürzer, feierte den
Confessionalismus des Ministers und wünschte denselben künftig für die katho¬
lische Kirche fruchtbar gemacht zu sehen — ein Umstand, der den Angreifern der
gegenwärtigen Cultusverwaltung noch sehr viel mehr zu Gute gekommen wäre,
wenn statt der Rede des Abgeordneten Lent die zweite von Dr. Wantrup ge¬
führte Vertheidigungscolonne sofort ins Treffen geführt worden wäre, um
alle Zweifel darüber auszuschließen, wo die Stützen des Muster'schen Systems
zu suchen seien. Statt dessen trug Herr Lent eine Reihe Bemerkungen über
reichenbacher Gesangbücher und deren Einflüsse auf die Frauen und Töchter
seiner Mitbürger vor, welche zu dem ein Mal angeschlagenen Ton wie die
Faust aufs Auge und überhaupt nicht in eine Versammlung von politischen
Männern paßten; dann sprach der Cultusminister noch ein Mal; die Vertagung
wurde unter dem Eindruck beschlossen, daß ein wirklicher Erfolg noch nicht
erzielt, nicht ein Mal eine Steigerung der Wirkungen herbeigeführt worden
sei, welche Richter's Worte hervorgerufen.
Die Debatte des zweiten Tages wurde durch Herrn Wantrup in einer
Weise eröffnet, die jede Kritik ausschließt. Die einzelnen sachlichen und mit-
unter witzigen Brocken, welche zur Widerlegung der Gegner vorgebracht wurden,
schwammen in einer Brühe platter,' bajazzoartig vorgetragener Späße, die
übrigens nicht nur auf den Galerien belacht wurden; daß der Präsident den
Redner mit einem Ordnungsruf unterbrechen mußte, störte weder diesen noch
den Humor des Publicums. Die Versammlung fand ihre Würde erst wieder,
als der Abgeordnete Wehrenpfennig die Tribüne bestieg und nach einigen
wohlgezielten Sarkasmen auf den scurrilen Vorredner hervorhob, daß das
herrschende System nicht nur die Freiheit der Communen beeinträchtige, ihren
Eifer für das Schulwesen lähme und die neuen Provinzen verbittere, sondern
auch die beiden Hauptconfessionen zu Eifersüchteleien aufstachele, die ihnen selbst
ebenso schädlich seien, wie der nationalen Sache. Der Schluß dieser Rede,
welcher die Staatsgefährlichkeit der wieder erwachten confessionellen Gegen¬
sätze nachwies, hob die Debatte aus den Wantrup'schen Sümpfen aus eine
Höhe, wie sie noch nicht erreicht worden war. Ihr Erfolg mißt sich nicht
sowohl an dem lebhaften Beifall, mit dem sie aufgenommen wurde, als an
dem Ton, den der Minister in seiner Antwort anschlug: er begann mit der
Versicherung, die Auffassung des Vorredners zu theilen. Schulrath Bleak,
der sodann das Wort ergriff, machte keinen Eindruck-, Dr. Techow, der ihm
folgte, sprach außerordentlich sachlich und klar — es bedürfte nur noch eines
kräftigen, resumirenden Schlußworts, das die Summe der dem Minister
nachgewiesenen Fehlgriffe zog, und die >sache der Opposition war in den
Augen der Zuschauer gewonnen. Wenn Graf Bethusy-Huc dieses Wort
auch nicht sprach, so machte die Energie, mit welcher er Herrn Wantrup
den Weg wies, doch einen sehr günstigen Eindruck; Namens seiner Partei
erklärte der Redner, daß er nur ungern gegen die Regierung zu Felde ziehe,
sich aber verpflichtet fühle, den Cultusminister vor Ausschreitungen zu warnen
welche das Interesse der nationalen Sache schädigten.
Hatten die liberalen Parteien keinen ihrer Hauptredner mehr ins Treffen
zu führen, so mußte jetzt geschlossen werden. Die Hauptsachen waren gesagt
— konnten sie nicht noch besser gesagt werden, so war es die höchste Zeit
zu schließen — Anträge auf Schluß lagen bereits vor. Aber das Unglaub¬
liche geschah: die vereinigten Fractionen der Linken stimmten ihrer Majorität
nach gegen den Schluß und obgleich die wenig versprechende Rednerliste
verlesen wurde, beschloß man die Debatte Abends fortzusetzen.
Trüber Ahnungen voll kehrte ich Abends um 7 Uhr auf meinen Platz
zurück — aber Alles, was ich gefürchtet hatte, wurde weit übertroffen. Herr
Grund recht, der den Reigen mit einem höchst langathmigen Vortrag er¬
öffnete, hatte das Unglück, den Augenblick, wo der Niedergang der Debatte
begann, mit der Mahnung, der Minister möge zurücktreten, aller Welt deut¬
lich zu bezeichnen; Herr Lesse gab statistische Daten über den traurigen Zu¬
stand des Volksschulwesens in Westpreußen, auf die kaum noch Jemand
hörte; Herr v. Sybel wiederholte, was bereits Vormittags und mit sehr viel
mehr Nachdruck über den schädlichen Einfluß des Confessionalismus gesagt worden
war. Als er schloß, sah ich zum Mtnistertisch hinüber: Herr v. Muster. der sonst
wenigstens zuweilen hinausgeschaut hatte, war so ausschließlich mit den vor ihm
liegenden Papieren beschäftigt, daß sich ersehen ließ, erhalte die Debatte längst
für geschlossen. Das Haus aber war anderer Ansicht und die Debatte in der That
nicht geschlossen: HerrLaßwitz betrat den Rednerplatz, um Allem, was von erhe¬
benden und wirksamen Resultaten des Vormittags übrig geblieben war. vollends
den Todesstoß zu geben. Er verstand es, sofort jenen tiefsten Ton der Leut¬
seligkeit anzuschlagen, der jedes feinere Gefühl, mag es mit liberalen oder
konservativen Saiten bespannt sein, an und für sich verletzt. Hätte Herr La߬
witz nicht durch die Energie seines Bekenntnisses für Unglauben. Freiheit, Fort¬
schritt, Zeitgeist u. s. w. alle Zweifel daran ausgeschlossen, daß er die „ent¬
schiedene" Demokratie Breslaus vertritt — wir hätten ihn für einen Agen¬
ten der Wantrup'schen Humoristenschule gehalten, dazu bestimmt Vor- und
Nachredner der liberalen Partei lahm zu legen. Von dem was folgt zu
reden, ist eigentlich überflüssig — die Sache, welcher es galt, war nicht mehr
zu retten, obgleich die Verhandlungen noch anderthalb Stunden dauer¬
ten und zunächst von Reichensperger fortgesetzt wurden. Virchow, dem
die schwierige Aufgabe zugefallen war. nach Herrn Laßwitz im Namen der
Opposition zu reden, begnügte sich leider nicht damit, zu constatiren, daß
Herr v. Muster an den orthodoxen Ultras (Wantrup und Bleak) und den
katholischen Ultramontanen die einzigen Freunde habe, sondern kehrte auf
das Gebiet der „berechtigten Denkfreiheit" (dessen Betreten, wie mir schien,
Herr Laßwitz mindestens für 24 Stunden unrathsam gemacht hatte) zurück,
und zwar ohne die Grenzen desselben zu bezeichnen, welche der Schule unter
den gegebenen Verhältnissen einmal gesteckt sind und welche die übrigen
Oppositionsredner (Herrn Laßwitz natürlich ausgenommen) anerkannt hatten.
Zum Schluß erhob sich Herr v. Windthorst-Meppen, um mit wahrhaft
vernichtenden Spott zu constatiren, daß die Resultate der endlos langen
Debatte gleich Null seien. So vollständig stand die Versammlung unter dem
Eindruck, daß die Abendsitzung das Werk der Penelope gethan und alle Ar¬
beit der beiden früheren Versammlungen wieder aufgetrennt habe, daß Nie¬
mand gegen das absprechende Urtheil, welches Windthorst mit dem ihm eigen¬
thümlichen Aplomb und der Sicherheit des überlegenen Debatters sprach, zu
Protestiren in der Laune war.
Um den vollen Becher peinlicher Eindrücke überfließen zu machen, folgte
noch eine Reihe persönlicher Bemerkungen, an denen Herr Wantrup den Haupt-
antheil hatte. Nur der Energie des Präsidenten war es zu danken, daß die
neue Harlekinade, zu welcher der berühmte Schulrath sich anschickte, nicht zu
voller Entfaltung kam. Dann trennte man sich. — Mangel an Disciplin und
überquellendes Redebedürfniß hatten die Volksvertretung um einen wichtigen
Erfolg, um eine Gelegenheit zur Bethätigung ihres Einflusses gebracht, wie
sie nicht so. leicht wiederkehrt. „Sie ist die erste nicht" — und doch scheint
man noch immer nicht glauben zu wollen, daß ohne Fractions-Disciplin
Parlamentarische Erfolge nirgend möglich sind, auch nicht unter günstigeren Ver¬
hältnissen, als den unsrigen. Daß diese Disciplin auch nicht für den Aus¬
nahmefall eines Zusammengehens zwischen Nationalliberalen und Demokra¬
ten hergestellt werden konnte, beweist, wie es überhaupt um sie bestellt ist;
alliiren Gegner sich, so pflegt sonst jeder derselben seine Armee als möglichst
gut geschulten Organismus zu zeigen, dieses Mal schien man es auf den ent¬
gegengesetzten Eindruck abgesehen zu haben!
Bon diesem mit Spannung erwarteten Werke liegt jetzt die erste Lieferung
vor, welche landschaftliche Darstellungen aus Cairo, der vorder- und hinterindischen
und chinesischen Küste bietet. Die Blätter reproduciren die coloristische Virtuosität
jüngst verstorbenen Malers mit überraschender Wirkung und geben sicherlich den
^esammteindruck der fremdartigen Natur aufs Vollendetste wieder; aber der Farben-
Effect überwiegt durchweg die Form in einer Weise, welche um so mehr auffallen
muß, weil gerade die südliche Sonne alle Erscheinungen schärfer ausprägt. Beson¬
ders bei den an sich sehr gut behandelten Städteansichten und Interieurs ist dies
bemerkenswert!). Auffassung und Behandlung selbst sind nichtsdestoweniger manirirt.
Was die Technik anlangt, so wird die Chromolithographie der Breite und
Lästigkeit des Pinsels in staunenswerthen Grade gerecht und wir erhalten hier einen
yenen Beweis von der Ausgiebigkeit und Bravour dieser Vervielfältigungskunst. —
Entstanden aus dem sehr beherzigenswerthen Wunsche, Schülern der oberen
Gymnasialclassen und'Akademien Einführung in die Kunstmythologie zu gewähren,
muß dieses Handbuch, welches durchweg dem Verständniß solcher Leser angepaßt ist,
als eine geschickte und verdienstliche Arbeit bezeichnet werden. Mit gutem Takt sind
die neuen Resultate archäologischer Forschung benutzt, ohne daß irgendwo auf Hy¬
pothesen gebaut wird, und so entsteht ein sachlich und klar gehaltener Text, dessen
positive Beschaffenheit in entscheidenden Fragen doch nicht über den wissenschaftlichen
Thatbestand täuscht. Die Abbildungen sind zum überwiegenden Theile sehr gut,
die Auswahl ist überall entsprechend. — Einer neuen Auflage würde einerseits deutlichere
Hervorhebung der Haupttypen durch größere Holzschnitte (wobei dann u. A. die
Nachbildung der Athene Parthenos nicht fehlen dürfte) und andererseits ein etwas
reichlicherer, gleichmäßigerer Quellenverweis nützlich sein. —
Die beste Apologie großer und eigenthümlicher Menschen, deren Chrakterbild in
der Geschichte schwankt, ist achtungsvolle Beurtheilung ihrer Werke. Diesen Zweck
schätzen wir zunächst in dem Unternehmen, das Buch vom Fürsten, das den modernen
Staatsrechtslehrern wie feurige Kohle durch die Hände gegangen ist, uns aufs Neue
zu eigen zu machen. Aber wir dürfen hinzufügen, es geschieht hier in so exacter
und vollkommener Weise, daß wir nur zu bedauern hätten, wenn uns der Ueber¬
setzer nicht den ganzen Machiavell reproducirte. Der kleine trefflich geschriebene Essay,
welcher die Uebersetzung des Principe als Vorwort einleitet, gibt dem vielgeschmäh¬
ten Werke und seinem Autor die historische und zugleich die sittliche Rechtfertigung.
Denn so fremdartig und erschreckend die Moral ist, welche dieser „Schwärmer des
Verstandes" predigt, sie will dennoch aus einem Ideale verstanden sein, das die be¬
wegende Macht seiner Zeit war. Feind oder Freund, Jeder muß erkennen, daß die
Politik in ihrer wahren Natur, die sittliche Mathematik zu sein, nie schärfer erfaßt,
nie rückhaltloser dargelegt ist und daß die Staatswissenschaft durch dieses kleine
Buch zuerst von Theologie und Jurisprudenz emancipirt wurde. Schon um des¬
willen ist diese Erinnerung an den großen florentinischen Staatsmann, der mit
antiker Selbstverleugnung unter jeglichem Adspect nur seinem Vaterlande und dessen
höchsten Zwecken diente, willkommen. Und gerade wir Deutschen haben heute ganz
im Frischer Anlaß genug, den vierten Säculartag seiner Geburt (Mai 1469) mit
Selbstbetrachtungen zu feiern. —
Mit Ser. R beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im December 1868.Die Verlagshandlung.
Habe ich es Ihnen nicht vorausgesagt, daß man bei uns zu Lande über
die Abführung der hildesheimer Silbersachen nach Berlin in Jeremiaden aus¬
brechen würde? Es wäre auch schließlich stillos gewesen, wenn man sich diesen
Anlaß zu neuem Jammern hätte entgehen lassen. Denn unsere berechtigtste
Eigenthümlichkeit ist und bleibt nun einmal die Unzufriedenheit, und die sou¬
veränste Blindheit unserer Wünsche regiert uns nach wie vor Herz, Willen.
Verstand und selbst das Bischen politische Einsicht, was auch uns nicht versagt
ist, und die Fügsamkeit gegen den Stärkern als selbstverständlich empfiehlt. Wir
haben uns zwar wiederholt sagen lassen, daß der Fund nach dem bestehenden
gemeinen Recht, als auf einem Grundstück des Militärfiscus erfolgt, zu gleichen
Theilen den Findern und dem Staat gehöre, daß die gute Stadt Hildes¬
heim gar kein Anrecht daran habe und schwerlich im Stande sein würde, eine
auch nur entfernt entsprechende Summe aufzubringen, im Fall ein Theil des
Deficits damit gedeckt werden sollte. Wir wissen sogar, daß die hochverdien¬
ten Vorsteher des dortigen Museums ihre Freude geäußert haben, der großen
Verantwortlichkeit überhoben zu sein, die ihnen die Ueberwachung und Con-
sttvirung des seltenen Schatzes auferlegte. Wir können uns auch nicht ganz
der Wahrnehmung entschlagen, daß solche Alterthümer besser als in Pro-
vincialsammlungen in großen öffentlichen Museen ausgehoben sind, wo sie
am öftesten gesehen und unter gleichartigen Monumenten am besten studirt
werden können. Wir täuschen uns vollends darüber gar nicht, daß in dem
goldenen Zeitalter des verflossenen Regiments, in welchem Hildesheim als
schlechtgesinnte Stadt in allerhöchster Ungnade stand, Alles den natürlichen
Weg nach Hannover zu den gelben Hosen gefunden hätte. Aber all' diese
Erwägungen hindern uns doch schließlich nicht, unsere politische Einfalt
auch in dieser Frage zu erweisen. Oder wozu hat uns denn ein nam-
hafter Gelehrter aus Göttingen, welcher sich gewiß nicht ohne Grund „einen
Hannoveraner an Leib und Seele" nennt, in gelehrten Zeitungsartikeln
haarscharf bewiesen, daß der Fund von Varus, aus der teutoburger Schlacht
herrührt und von Armin gleichsam nur aus Vergeßlichkeit nicht wieder ausge¬
graben ist, daß es also vaterländische, das heißt hannoveranische Alterthümer
sind, von denen jeder deutsche Patriot, das heißt jeder Hannoveraner wün¬
schen müsse, daß sie in Hildesheim, der ehemaligen Hauptstadt der Cherusker,
verblieben?
Glauben Sie indessen ja nicht, daß diese Aufregung die einzige Naive¬
tät sei, welche bei dieser Gelegenheit hier zu Tage gekommen ist. Von dem
großen und langen Weg ungemüthlicher Irrungen, den man gegangen ist,
ehe man zum Glauben an das Glück eines Antikenfundes den nöthigen
Muth fand, will ich als von einem verzeihlichen Mißgeschick, welches meines
Erachtens die Gelehrten von Anfang an zu ernst genommen haben, nicht reden.
Auch hat man recht sentimentaler Weise, als ob Kunstgeschichte in unseren
Volksschulen gelehrt würde, die gemeinen Soldaten, welche die glücklichen
Finder waren, für die Unkenntniß und Unbehutsamkeit verantwortlich ge¬
macht, mit welcher man die Gegenstände am 17. October in der Abenddäm¬
merung neun Fuß tief aus dem Erdreich herausgeschafft hat. Die Hacke
richtete einigen Schaden an; einige Stücke wurden anfänglich bei Seite ge¬
worfen, andere gedankenlos eingesteckt: man hielt die Gefäße, ganz mit
Erde bedeckt wie sie waren, für Bleiwaare. Man las die Fragmente schlecht
zusammen — am andern Morgen hielten einige Jungen an Ort und Stelle
eine Mine Nachlese — lud was vorhanden auf einige Schtebkarren und
schleppte den Schatz so in die Stadt und durch die ganze Stadt hin¬
durch in gemüthlicher Procession, die wie billig an einigen Schenken nicht
theilnahmlos vorübergehen konnte, nach dem Hof der Caserne, wo er die
erste Nacht unter freiem Himmel campiren sollte. Eine geraume Zeit lang
hat er sich dann in einer ewfenstrigen engen Dachkammer auf dem Fußboden
in den Winkeln oder in Tragkörben ausgestellt befunden. Und ich will nicht
näher beschreiben, wie oft für die zahlreich zuströmenden Besucher die zarten
kostbaren Gegenstände vom Boden auf den Tisch gehoben worden sind, wie
viele Damen sich das Vergnügen, etwas Antikes in Händen zu halten und
aus den Händen entgleiten zu lassen, nicht versagen konnten. Schlimmer als
diese moderne Geschichte der antiken Gefäße, die eben nur beweist, daß wir
uns bei solchen Gelegenheiten nicht viel besser als die dassa, sevts in Italien
benehmen, ist, wie mir scheint, die Unbedachtsamkett, daß man vor lauter Auf¬
regung das Nächstliegende versäumt hat, eine sorgfältige Durchforschung des
ganzen Terrains vorzunehmen und namentlich durch Abhörung der Finder
alle Umstände des Fundes festzustellen. Denn es cursiren schon jetzt, da um
jedes ungewöhnlichere Ereigniß sich auf der Stelle eine kleine Mythologie
bildet, die verschiedenartigsten Aussagen, die sich zum Theil geradezu wider-
sprechen; und für sicher kann nur das Eine gelten, daß der Schatz sich nicht
innerhalb einer Baulichkeit befand, also für ein Depositum anzusehen ist.
Lehrreich wäre ein „Pergamentstück", das aus dem Tumult gerettet worden
ist, aus welchem ein handschriftenkundiger mittelalterlicher Gelehrter, vermuth¬
lich aus keinem anderen Anlaß als um sein Licht nicht unter den Scheffel
zu stellen, dreifache Schrift aus verschiedener Zeit und unter AnderM den
Namen Herzogs Ulrich von Braunschweig gelesen hat. Leider Gottes steht
auf dem Pergament auch nicht ein Buchstabe und das ganze Pergament ist
ungeglättetes simples Leder.
Interessant und erfreulich war es zu beobachten, wie rasch sich die Nach¬
richt von dem Funde verbreitete, wie schnell und rege von allen Seiten die
Theilnahme wuchs — mag immerhin die Neugierde vor dem Kunstinteresse
die Oberhand behalten haben. Nach den zahlreichen Besprechungen in Zeit¬
schriften und Tagesblättern, welche schon Abbildungen gebracht haben oder in
kurzer Zeit bringen werden, darf ich darauf verzichten, Ihnen eine umständ¬
liche Beschreibung des Ganzen zu geben, die ohnehin aus zurückliegender
Erinnerung geschrieben des Vorzugs frischer Eindrücke entbehren würde, und
beschränke mich für heute darauf, Ihnen dasjenige kurz und trocken zusammen¬
zustellen, was nach den Untersuchungen, die von verschiedenen Seiten geführt
worden sind, gegenwärtig für gesichert gelten darf. Photographien welche
Herr A. H. Burdorf in Hildesheim besorgt und verschickt, oder Gipsabgüsse
aus dem Atelier des Herrn Lusthardt, Bildhauers in Hildesheim, befinden
sich vermuthlich schon in Ihren Händen wie in Händen aller Derer, die sich
näher für den Fund interessiren. Auch steht wohl zu hoffen, daß bald Nach¬
bildungen in Bronce zu haben sein werden.
Wie unschätzbare Dienste die Epigraphik der Kunstgeschichte leistet, hat
sich auch hier wieder einleuchtend gezeigt. Die Meinungen über Entstehungs¬
zeit und Kunst der gefundenen Gegenstände würden vermuthlich noch jetzt sich
kreuzen, wenn nicht lateinische Inschriften — im Ganzen vier und zwanzig
— nach ihrer Fassung und der Form der Buchstaben mit aller Bestimmtheit
auf die erste Kaiserzeit hinwiesen, stadtrömischen Ursprung wahrscheinlich
machten und einen Spielraum von höchstens 30—40 Jahren zuließen. Sie
sind wie die Stempel auf unserm Silbergeschirr, an Orten wo sie nicht auf¬
fallen, möglichst unscheinlich und klein angebracht, meist punctirt, aber auch
eingravirt. Sie enthalten sämmtlich, außer den üblichen Abkürzungen und Zei¬
chen genaue Angaben des Gewichts nach römischen Pfunden, Unzen und
Scrupeln d. h. Vierundzwanzigsteln einer Unze; außerdem aber eine Reihe von
Nummern, welche vermuthlich blos Bedeutung für den Verkauf gehabt haben.
Die Namen der Künstler, die man sich nach zahlreichen Analogien als in
Rom arbeitende griechische Sclaven vorstellen darf, sind nicht genannt; tage-
gen einige Male diejenigen der Fabrikbesitzer, welche bisher noch nicht be¬
kannt gewesen zu sein scheinen, z. B. I^uoius, Nallius Looous oder LoeeKus,
alles Thatsachen, aus denen klar hervorgeht, daß die Gefäße, wie sehr sie
auch unsere Bewunderung erregen und verdienen, in keiner Hinsicht unge¬
wöhnliche Gegenstände des Kunsthandels gewesen sein können.
Die Gefäße sind ohne Ausnahme von reinem Silber, welches außer eini¬
gen kaum bemerklichen Spuren von Eisen ungefähr 3 ^/z °/o Gold sowie 2 "/<>
Kupfer enthält und im Laufe der Zeit einen Proceß der Oxydation durchge¬
macht hat, sodaß es im Bruche mitunter porös erscheint. Die äußere Ober¬
fläche ist theilweis mit einer stark angegriffenen dünnen Schicht überzogen,
welche sich von der wenig veränderten Grundmasse leicht ablöst und wesent¬
lich aus Chlorsilber mit einer geringen Menge von Schwefel besteht. Die
Art der Verarbeitung des Silbers ist eine verschiedene: einige Stücke sind
gegossen, die Mehrzahl getrieben. Eine runde Schale zeigt auf ihrem innern
Boden ein nachlässig eingravirtes Pflanzenornament, dessen Herstellungs¬
weise und Stil mehrfach an Decorationen etruskischer Spiegel erinnert. Zwei
Becher und ein unvollständig erhaltener großer Eimer haben einen ringsum
laufenden Kranz eingelegter Emailblätter. Alle übrigen Verzierungen be¬
stehen in Reliefs von verschiedener Erhebung, welche mit Bunzen von innen
herausgeschlagen, von außen nachciselirt und öfters vergoldet wurden. Da¬
gegen sind die Reliefs, welche das Innere einiger Schalen oder Schüsseln
zieren, aus besondern Stücken gefertigt und mit einer Lothsubstanz aufgeheftet,
welche auch für das Ansetzen der durchgängig besonders gearbeiteten Henkel
und Füße, auf welche aber bei dem Heraustreiben der Reliefs nicht
immer Rücksicht genommen werde, verwendet ist. — Eine äußerst mühsame
chemische Untersuchung, welche Herr Dr. Hübner in Göttingen anstellte, hat
erwiesen, daß die Lothsubstanz lediglich aus Zinn bestand, welche in die schwer
lösbare krystallisirte Zinnsäure übergegangen ist. Das zur Analyse verwen¬
dete Quantum enthielt außerdem etwas Silber und Kupfer, also Bestand¬
theile der Gefäßmasse, die wahrscheinlich beim Ablösen des Loths von den
Vasen abgekratzt worden sind, serner eine sehr kleine Menge Eisen, eine fast
nie fehlende Verunreinigung der Metalle und etwas Chlor, welches jeden¬
falls erst aus der Erde aufgenommen worden ist.
Hinsichtlich der Bestimmung der Gegenstände — Größeres und Kleineres
zusammengerechnet, sind es über sechzig Stück — unterliegt es gegenwärtig
keinem Zweifel, daß sie alle einem großen Tafelservice angehört haben. Von
einem ursprünglich etwa vier Fuß hohen Dreifuß sind nur die Füße, welche
auf die tektonisch gebräuchlichste Weise mit Thierklauen gebildet sind, einige
Verbindungsstäbe mit noch beweglichen Scharnieren und drei Aufsätze in
Form kleiner bärtiger Bacchushermen noch vorhanden. Von einem ansehn-
lichen Candelaber ist der schwere dreigliedrige Fuß, von einer großen Wanne
nur noch ein Fragment erhalten. Zu zwei verschiedenen massiven, ungewöhn¬
lich großen Eimerhenkeln fehlen die Gefäße. Mehrere große Teller, einige
Tiegel mit verzierten Handgriffen und eine Anzahl oblonger und ovaler flacher
Schüsseln mit wenig erhabenem Rand und niedrigen Füßen werden zum
Serviren verschiedener Speisen gedient haben. Ein kleiner Becher sieht einem
Salzgesäß nicht unähnlich. Schließlich sind eine ganze Reihe sehr verschiedent¬
lich geformten Trinkgeschirrs und mehrere große Eimer zu nennen, in denen
nach antiker Sitte der Wein gemischt wurde. Diese letztern Stücke haben
aus praktischen Gründen inwendig einen besonders aufgelötheten Einsatz
aus dünnem Silberblech, während die genannten Schalen mit ihren im
Innern aufgesetzten stark erhabenen Reliefs, welche beinahe die Höhe des
Gefäßrandes erreichen, wenigstens nicht zur Aufnahme von Flüssigkeiten
tauglich erscheinen und wohl überhaupt zu bloßer Schaustellung verwendet
worden sind.
Die Arbeit der Verzierungen rührt von verschiedenen Händen her und
zeigt stilistische Unterschiede, die sicher auch auf die Verschiedenheit der be<
nutzten Vorlagen zurückzuführen sind. Die geringsten Stücke der Sammlung
sind ein hohes humpenähnliches Trinkgefäß mit mehreren Reihen von Thier¬
figuren und zwei Schalen, offenbare Pendants, welche je ein Brustbild in Hoch¬
relief inmitten der Innenseite haben: eine Khbele mit Mauerkrone und Tym-
panon und eine Darstellung des phrygischen Mondgottes mit der Mondsichel
und einer schweren Halskette. Gelungener ist eine dritte Schale, aus welcher
eine Büste des jungen Hercules vorsieht, welcher lächelnd die beiden Schlan¬
gen würgt. Eine vierte Schale, das mythologisch interessanteste Stück, ist
mit der ganzen Figur einer Minerva geschmückt. Die Göttin sitzt in voller
Rüstung, mit Schild, Aigis und Helm auf einem Felsen und legt die rechte
Hand aus ein Attribut, welches noch am wahrscheinlichsten für eine Pflug¬
sterze angesehen worden ist, für welches aber der rechte Name vielleicht noch
gesunden werden muß; vor ihr hockt neben einem Oelkranze eine Eule auf
dem wieder ansteigenden Boden. Das Gewand der Figur ist mit großer
Meisterschaft behandelt, die Composition des Ganzen im runden Raum aber
ist wenig glücklich zu nennen und fällt namentlich in der Photographie un¬
angenehm auf. Hingegen können zu den vollendetsten Kunstwerken dieser
Gattung, die wir überhaupt aus dem Alterthume kennen, einige Trinkbecher
gezählt werden, welche mit einer ganzen kleinen Welt der reizendsten Gegen¬
stände des bakchischen Cultus, mit Masken, Thyrsusstäben, Tamburinen,
Pfeifen, Schellen und dergleichen umkleidet erscheinen. Und das größte und
in jedem Betracht ansehnlichste Stück, ein glockenförmiger Krater, welcher mit
den anmuthigsten Ornamenten umzogen ist und, wie eine Inschrift aussagt,
auf einem besondern Fußgestelle stand, zeigt einen Geschmack in der Behand¬
lung der Decoration und eine Feinheit der Ausführung, welche durch jede
Vergleichung gewinnt und als ein Höchstes in seiner Art betrachtet wer¬
den darf.
Dinge von solcher Bedeutung gehören nur zur Hälfte dem, der sie be¬
sitzt; ihre Wirkung reicht über die engen Grenzen hinaus und dem Besitzer
fällt fast möchte ich sagen die Pflicht zu, diese Wirkung zu erleichtern und
zu vervielfachen. Den großen artistischen Publicationen der Engländer und
Franzosen haben wir nur wenig ähnliche Werke an die Seite zu stellen. Hier
wäre eine günstige Gelegenheit, zu zeigen, daß auch bei uns weder der Sinn
noch die Mittel für solche Unternehmungen fehlen, die für Bildung des Ge¬
schmacks folgewichtiger sind als Hunderte von unsern halb belletristischen Hand¬
büchern der Kunstgeschichte und Aesthetik. Wichtiger als eine endgiltige
wissenschaftliche Feststellung des Thatbestandes wäre die Anfertigung treuer
Abbildungen in Originalgröße durch die Hand eines geübten Künstlers.
Möchte diese Einsicht bald an der entsprechenden Stelle Platz greifen und
dann die rechte Ausführung durch die rechten Männer nachfolgen. Die Archäo¬
logie mag unberührt und unbeschadet ihre Wege weitergehen; sie wird bald
auch über diesen Gegenstand eine eigene zweifelhafte Literatur zu verzeichnen
haben. Und die gewohnten Duodezbilder werden ihr nicht fehlen. Wie ich
höre, wird man schon in nächster Zeit von Berlin aus derlei Waare zu
Markte tragen, von der schwerlich etwas Treffenderes gesagt werden kann,
als das Ihnen wohl bekannte: pieeoli, xieeoli, sono xulei.
Zum Schluß möchten wir bei mehreren gelehrten Zweifeln, welche dieser
Fund aufgeregt hat, eine Intervention der Militärbehörde erbitten. Es ist
nicht unwahrscheinlich, daß in den ersten Tagen des Tumultes Einiges von
dem Schatze verkommen, verloren, verschleppt worden ist; es ist durchaus
nicht unmöglich, daß Fragmente desselben oder noch Anderes an dem Fund¬
orte wieder verschüttet und vergraben liegen. Ein flüchtiges Durchwühlen des
Schuttes, welches dem Vernehmen nach stattgefunden hat, gibt nach keiner
Richtung die Sicherheit, daß alles Vorhandene der Erde entnommen sei.
Eine nochmalige gründliche Untersuchung der Fundstätte durch die Militär¬
behörde unter geneigter Zuziehung eines sachverständigen Archäologen würde
nur wenige Arbeitstage in Anspruch nehmen und die sehr nöthige Beruhigung
schaffen, daß wenigstens die Grundlagen für die gelehrte Arbeit unserer
Philologen feststehen.
„Händel und Shakspeare" von Gewinns. (Leipzig, 1868)
In seinem Vorwort, der Zueignung an Chrysander, läßt sich Gewinns
also vernehmen: „Ihnen ist bekannt, daß ich über Musik nur als ein Laie
spreche, dessen Interesse in dieser wie in jeder anderen Kunst nur auf die
Kunst und durchaus und -in keiner Weise auf die Technik und Wissenschaft
geht, von der ich so gut wie Nichts verstehe. Wo ich je unternommen habe,
über musikalische Gegenstände zu reden, habe ich stets in einseitigster Strenge
diesen einseitigen Laienstandpunkt der bloßen Betrachtung des geistigen Ge¬
haltes, der ästhetischen Bedeutung, des eigentlichen Kunstwerthes musikalischer
Werke eingehalten. So thue ich auch hier. Und ich höre schon die gering¬
schätzigen Rügen dieser Einseitigkeit von Seiten der Kenner und Meister,
denen ich nur zu bedenken gebe, daß die bloße Möglichkeit, die bloße Neu¬
heit eines solchen einseitigen Standpunktes nach so vielen Jahrhunderten, ja
Jahrtausenden musikalischer Praxis unstreitig doch eine unendlich größere,
eine säculäre Einseitigkeit von der andern Seite beweist". Und weiter, nach¬
dem er den „mitrathenden und mitthatenden, ja den geradezu bahnbrechenden"
Einfluß der Laien hervorgehoben, fährt er fort: „Sie verargen mir daher
selbst den Ton der Zuversicht nicht, mit dem ich den Stand der Laien zu
vertreten unternehme.......Gleichwohl bleibt mir ein Zweifel der Be¬
scheidenheit zurück: es hätte ein Berufnerer dieses Schweigen brechen sollen."
Nachdem er die Schwierigkeit des ganzen Unterfangens, „die fast unmögliche
Ausstattung von Geist und Wissen" betont, „die zusammengeschossenen Kräfte
eines Physikers und Physiologen, eines menschenkennenden Philosophen und
Psychologen, eines Meisters der musikalischen Technik" u. s. w., und bekannt,
daß er sich in „keinem einzigen dieser Fächer eigentlich zu Hause weiß",
tröstet er sich damit, „daß in diesem Momente bei der maßlosen Verirrung
und Verwirrung des musikalischen Kunsturtheils Nichts vielleicht übler an¬
gebracht wäre als eine tiefe Grundlegung zu einem festen wissenschaftlichen
Bau, wo eher ein rasch aufgeführtes Schirmdach am Orte scheint, unter
dessen Schutz man die Fundämentirung eines monumentalen Gebäudes be¬
ginnen mag."
Dieses „rasch aufgeführte Schirmdach" hat Gervinus in seinem 496
Seiten umfassenden Buche mit dem „Tone der Zuversicht" zu geben ver¬
sucht. Die das Buch mehr als alles Uebrige charakterisirende Vorrede
schließt, nachdem Gervinus die Sorge ausgesprochen, daß auch Chrysander
bei diesem seinM Versuche „die Grundlinien der Kunst zu zeichnen" einigen
Widerspruch erheben möchte, mit folgendem herausfordernden Passus: „Wäre
es nicht so, könnte auch dieser theoretische Theil Ihre Beistimmung erhalten
so wären alle meine Ringe, für mich zunächst, gestochen. Die Stimme der
übrigen Welt wird auf alle Fälle Zeit und Weile brauchen, sich
zu entscheiden".
Wieviel „Zeit und Weile" Gervinus der „übrigen Welt" (der ganzen
nämlich, mit Ausnahme Chrysander's) gönnen will, hat er in seiner orakel¬
haften Sprache nicht verkündet. Es gibt im Leben Auszeichnungen, über
denen ein gesunder Kopf den Verstand verlieren könnte. Zu diesen Aus¬
zeichnungen darf man wohl auch die Sonderstellung rechnen, zu der Gervinus
Herrn Chrysander erkoren hat. Doch das mögen die Herren mit einander
abmachen. Herr Gervinus mag es in seiner pretiösen Weise zweifelhaft
finden, „ob derjenige Tonkünstler, der sich zu einer Antwort am geneigtesten
zeigen sollte, auch am geeignetsten dazu sei"; aber nicht von seiner Zustimmung,
sondern von der der „übrigen Welt" wird es ja ganz allein abhängen zu
entscheiden, ob Beruf und Neigung hier mit einander gehen oder nicht.
Doch zur Sache. Zur Beurtheilung einer Kunst im Ganzen ist nach des
Verfassers überzähliger Aufzählung „nicht der verstandeskalte Naturforscher,
der irrlichtelirende Kunstphantast, der systemfrohe Philosoph, der klügelnde
Künstler und Techniker, der herbe Kenner von eigensinniger Einseitigkeit,
der süßliche Liebhaber von verschwommener Geschmacksbildung, der denkende
Kopf, der nicht empfinden, die empfindsame Seele, die nicht denken, der
genußsüchtige Feinhörer, der weder denken noch empfinden kann" berufen.
Luft, Clavigo! Diese Stylprobe mag beweisen, wie sehr es dem ganzen
Buche an der rechten Ventilation fehlt. Ueberall ein Gedränge von in
fürstlichen Gewändern einherschreitenden Gedanken, die sich gegenseitig die
Schleppen abtreten. Hätte Gervinus statt der luxuriösen Reihe von Ne»
gationen doch lieber positiv gesagt, welche Eigenschaften ein Kunsturtheil
haben muß, um Etwas zu gelten. Nicht partielle Kennerschaft, nicht all¬
gemeine Bildung allein berechtigen einen Mann, sich zum Schiedsrichter einer
Kunst aufzuwerfen, sondern vor allen Dingen und in erster Reihe die ächte
Pietät vor der geschichtlichen Entwickelung derselben. Ein Laie, wie sich
Gervinus mit vielseitigem Erkennen selbst nennt, müßte, wenn er eine wesent¬
liche, unendlich bedeutungsvolle, ja man kann wohl sagen die größte und
eigenthümlichste Entwickelung einer Kunst nicht begriff, für diesen Mangel
seines Fassungsvermögens nicht die Kunst selbst verantwortlich machen wollen.
Das ist gerade so, als wollte Jemand, blos weil er selbst nicht ohne Stütze
gehen kann, von einem Anderen verlangen, daß er Krücken trüge. Es ist
zu bezweifeln, daß es in der Geschichte der Kritik jemals das Beispiel eines
Unberufenen gegeben hat, der sich ohne alles eigentliche Kennerthum, nur'
gestützt auf seine allgemeine Bildung und seine noch allgemeinere Meinung
von sich unterfangen hätte, über eine Kunst zu Gericht zu sitzen, von der er
nur eine einzelne Erscheinung begreift oder zu begreifen meint. Der aus¬
schließliche Enthusiasmus für einen einzelnen Künstler — er stehe nun so
hoch er wolle — würde selbst da immer von dem bedenklichsten Werthe
sein, wo eine vollkommene Bekanntschaft mit allen anderen vorauszusetzen
wäre, weil alles Ausschließliche zur Schranke und zur Beschränktheit führt:
welche Bedeutung soll man ihm aber in dem Munde eines Mannes ein¬
räumen, der von Bach fast gar nicht und von Beethoven als einem Irrenden
spricht? Wenn ein Privatmann zu den tristen und barocken Resultaten des
Gervinus'schen Buches gelangte, so könnte man ihn als eine Curiosität gelten
lassen: die vernünftige Gesellschaft wird ihm dem Wunderstuhl, auf den er
sich setzt, mit der Dankbarkeit des Humors gönnen. Tastet jedoch ein Mann,
der alle Ursache hat sich für berühmt zu halten, in einem umfangreichen
Buche das Vermögen der Tonkunst an, leugnet und verhöhnt er ihre größten
Meister, spricht er einem wesentlichen Theil ihrer Macht alle Berechtigung
ab, so hat der Humor Nichts mehr mit ihm zu schaffen, sondern nur noch
die beleidigte Kunst, welche Abwehr gebietet solchen unberufenen Ein¬
mischungen.
In dem ersten Abschnitt seines Buches gibt Gervinus mit antiquarischen
Behagen eine historische Studie über die ersten Phasen der Tonkunst. Wer
sich über diese Dinge instruiren will, thut besser das Buch von Ambros zu
lesen, weil es sachlicher und concreter ist. Trotzdem wird man der geist¬
reichen Behandlung dieses dunkeln Stoffes seine Bewunderung nicht entziehen
können. Die Abhandlung wird charakteristisch genug mit dem Aristotelischen
Satz von der auf Nachahmung beruhenden Natur aller Künste, also auch
der Musik, eröffnet. Das Resultat der sich hieran knüpfenden Untersuchung
beruht in dem tiefsinnigen Satze, daß „der Ton der Gegenstand der Nach¬
bildung für die Tonkunst" sei. Also der Ton. Was denn nun für ein
Ton? Zugegeben selbst, daß aller Tonkunst Anfang der „Sprachgesang"
gewesen sei. was ahmte der Grieche denn nach, wenn seine Sprache sich zum
Gesang erhob? Was Wasser und Winde rauschen oder was die Nachtigall
schlägt? „Es ist ganz nagelneu" sagt Gervinus, „nicht länger als ein
Menschenalter her, daß eine entgegengesetzte Behauptung auftauchte, welche
die Tonkunst als eine abgeschiedene Welt für sich dem Gerichtsbann der
übrigen Künste entziehen möchte, ableugnend, daß ihr wie der Malerei, der
Sculptur oder Dichtung in der Natur ein bestimmtes Vorbild zur Nach¬
ahmung gegeben sei" und fährt bald darauf fort: „wie irrig und ober¬
flächlich dieser Gedanke sei, hätten selbst die oberflächlichsten Nachdenker und
Nachforscher, wenn sie sich nur mit der einseitigen Vorliebe für die In¬
strumentalmusik nicht den Ausgangspunkt hätten verrücken wollen, leicht
inne werden müssen." Wie ist es nun aber, wenn sich Jemand durch ein¬
seitige Vorliebe für die Voealmusik den Ausgangspunkt verrückt? Be¬
weist nicht die bloße Möglichkeit der reinen Instrumentalmusik, daß die
Musik, mag sie nun in ihren dunklen Anfängen mit Nachahmung der Natur
begonnen haben oder nicht, ganz gewiß nicht bei ihr stehen geblieben, sondern
überhaupt ganz etwas Anderes geworden ist, in dem Sinne nämlich, als die
wohlarticulirte Sprache eines ausgebildeten Menschen ganz etwas Anderes
ist als die Stimme eines Thieres? Will man Meinungen über eine Sache
citiren, welche sie in ihrem innersten Wesen erklären sollen, so darf man sie
doch nur in einer Zeit suchen, welche diese Sache am gründlichsten verstand.
Daß die Ansicht, die Tonkunst sei unter allen Künsten die einzige, welche die
Natur nicht nachahme, „nagelneu", „kaum ein Menschenalter alt" sei, be¬
weist doch Nichts gegen ihre Nichtigkeit? Also nicht in dem reifsten Zeitalter
einer Kunst hätte man ihr tiefstes Verständniß zu suchen, sondern in einer
Zeit, wo sie noch in der Wiege lag? Und die bloße „Neuheit" einer An¬
schauung disereditirte ihren Werth? Hat Gervinus denn nicht geahnt, daß
seine eigene „nagelneue" Verurteilung der Instrumentalmusik, die ja noch
nicht einmal ein „Menschenalter" alt ist, dadurch in ein schlimmes Licht ge¬
räth? Die Sucht, berühmte Männer des Alterthums über die Tonkunst
sprechen zu lassen, geht durch das ganze Buch und wird im Verlaufe desselben
nur abgelöst durch das ebenso unbegreifliche Bemühen, aus unserem und
dem vergangenen Jahrhundert gerade die Aussprüche derjenigen Schriftsteller
anzuführen, bei denen man Alles findet, nur nicht gerade ein specifisch
musikalisches Verständniß, wie Lessing, Hegel und Göthe. Man weiß bei
diesem Verfahren nicht recht, wen Gervinus eigentlich damit düpiren will, sich
selbst oder das Publicum. Wer es unternommen, gegen den gesunden
Menschenverstand einer Kunst zu schreiben, der kann citiren wen und was
er will, die Musen geben ihm doch keinen Credit. In unserer Jahrhundert¬
mitte noch behaupten, die Musik nehme sich ihre Anlässe nicht rein aus sich
selbst, sie müsse mit dem Wort Hausirer gehn, ihr Ton sei eine Nachahmung
von dem was klingt und rauscht und zwitschert, das heißt erklären, daß
man in dieser Kunst ein völlig Fremder ist.
Um aber den Gervinus'schen Gedankengang, dessen letztes Resultat, die
Verurtheilung der reinen Instrumentalmusik, sogleich näher beleuchtet werden
soll, vollkommen würdigen zu können, bedarf es eines Abstechers in den
zweiten Abschnitt des Buches: „zur Aesthetik der Tonkunst". Ließe sich Musik
mit dem Verstände allein messen, bedürfte es zu ihrer Erkenntniß nicht neben
diesem einer ganz eigenthümlichen Gemüthsanlage, welche die exclusive Fähig¬
keit besitzt, das Törtchen ohne jede weitere Auslegung unmittelbar auf sich
wirken zu lassen, so hätte die Gervinus'sche Interpretation einen Sinn, weil
sie in ihrer Weise streng logisch verfährt. Hat der Verfasser damit angefangen,
die Musik in den Chor der übrigen Künste als eine von ihnen nicht wesent¬
lich verschiedene einzureihen, hat er sie mit Aristoteles auf der Nachahmung
der Natur überrascht, so ist es nur folgerecht, wenn er an der alten Formel
„das Wesen der Tonkunst sei der Ausdruck von Empfindungen" festhält und
über den Dehn'schen Satz, daß sie solche nur „anrege" — obwohl er die
Sache unendlich tiefer trifft — mit Spott und Geringschätzung hinweggeht.
Das bloße „Anregen" ist dem Verfasser schon zu subtil; er nimmt nur solche
Münze, die sich überall, in jedem anderen Fache, einwechseln läßt, deren Ge¬
halt er aus Heller und Pfennig ästhetisch calculiren kann. Diese Caleula-
tionssucht ist sein Stolz und sein Unglück zugleich. Jene unübersetzbaren
Werthe einer Macht, welche zwischen Himmel und Erde die wunderbare
Mitte hält und das durch keine andere Kunst Aussprechbare, das ewig Un¬
nennbare, in ihrer geheimnißvollen Weise zu verkünden weiß — ihm sind sie
ungestalte Wirrniß, Dämmerung, Nebel. Und ein Mann, dem die Natur
dies specielle Organ versagt hat, dem jede Melodie, die nicht einen Zettel im
Munde trägt, zur Faselei wird, wirst sich zum Richter auf! Das Wesen der
Tonkunst ist ihm also nur der Ausdruck von Empfindungen, und auf diesem
Gebiete der Empfindungen, oder wie der Verfasser sich schamhaft ausdrückt
„in diesem Geschäfte der Orientirung" (S. 207) sich umzuschauen, versuchen
sich nun ästhetische Erörterungen, welche mit schönem Glauben an die Muße
seiner Leser den anspruchslosen Raum von 113 Seiten (S. 207—322) ein¬
nehmen. Um einen Begriff von. der theoretischen Haarspalterei des Buches
zu geben, mögen die Gruppen der Empfindungen hier einen Platz finden,
welche der Verfasser aus ihre musikalische Darstellbarkeit hin recognoscirt.
Zunächst werden die Gefühle in solche der Lust oder Unlust eingetheilt.
Beide werden körperlich oder psychisch empfunden. Die psychischen Ge¬
fühle zerfallen in drei Stufen: Gefühlsstimmungen, Gemüthsbe¬
wegungen (Affecte) und die eigentlichen Gefühle. Die Gesühlsstim-
mungen werden wieder untergeordnet in habituelle, vorüberg eh ende und
drittens noch flüchtiger vorübergehende. (Es ist hier nicht ersichtlich,
warum nicht noch eine Gruppe der „am allerflüchtigsten vorübergehenden" notirt
ist.) Bet der dritten Kategorie macht Gervinus die Bemerkung, daß die In¬
strumentalmusik „in diese dunkelsten Regionen des Gefühlslebens, anfangs
ohne Wissen und Willen, in der bloßen Kraft ihrer eigenen dämmerigen....
Natur hineingerathen ist und daß sie dann......mit bewußter Absicht sich
darin niederließ" (S. 226). In die „noch flüchtiger vorübergehenden"? Wer
es dem Autor nur verrathen hat, daß es so und nicht anders gekommen!
Bei seiner seinen Empfindung für instrumentale Kunst möchten wir ihn doch
fragen, ob das Adagio der v-moll - Sinfonie nicht schon mehr den Charakter
des „Habituellen" trüge?
Wir können uns die Aufzählung der weiteren Ordnungen ersparen. Es
genügt zu wissen, daß „Rührung. Mitleid, Bitte und Gebet. Liebe und
Sehnsucht, Haß, Hoffnung, Furcht" u. s. w, in des Verfassers musikalischen
Paßbureau aufs strengste controlirt werden. Wenn man einen Maler früge,
welche Tonart er sich bei dieser oder jener Farbe gedacht, so würde sein Er¬
staunen kein geringes sein. Ebenso wunderlich wäre es, wenn man einen
Tonkünstler fragen wollte, welche Empfindung er bei diesem oder jenem
Thema gehabt hat. Er hat eben nur musikalisch empfunden oder gedacht.
Bestimmte Empfindungen, wenn er solche nicht unmittelbar wie bei
der Gesangsmusik geben will, leiten ihn sicherlich nicht bei der Komposition
eines Jnstrumentalmusikstückes. Es ist hierbei von gar keinem Gewicht, daß
Beethoven bei einzelnen wenigen Werken, der Pastoralsinsonie. der Sonate
1'aäieu, I'-rbsenee et 1s retour und in einem seiner letzten Quartette aus
besonderen Empfindungen, die ihn ausnahmsweise bei seiner Arbeit in-
spirirt haben, kein Hehl gemacht hat. Die Musik hat ganz sicherlich die
Fähigkeit, einzelne bestimmte Empfindungen, wenn sie es will, wiederzugeben;
ihr eigentlicher Beruf aber ist es nicht. Ein wirklich musikalischer Kopf
wird sich von einem unmusikalischen in erster Reihe immer dadurch unterscheiden,
daß er zum Verständniß der Tonkunst keiner Vermittelung und keiner Ueber-
tragung bedarf. Der Verfasser sagt an einer Stelle (S. 165): „wenn man
die zahllosen Deutungen der Beethoven'schen Werke zusammenstellen wollte,
es wäre eine peinlich lächerliche Scene, wie in einem Irrenhause." Gewiß. Der
Unsinn der Deutung gehört in ein Irrenhaus. Die 6-moI1-Sinfonie
Mozart's bedeutet beispielsweise im Gervinus'schen Sinne gar Nichts: so lange
es aber musikalische Menschen auf Erden gibt, wird sie dieselben entzücken.
In dem Einen wird sie diese, in einem Andern jene Empfindung erregen,
in keinem Fall eine bestimmte. Das Bestimmte an ihr ist ewig nur
die Musik, alles Andere derivativ, secundär. Aber die gelehrten Herren,
welche so Viel begreifen, den ganzen Shakspeare und wie sie meinen auch den
ganzen Händel, können es schlechterdings nicht vertragen, daß es Etwas auf
der Welt geben soll, das sie gar nicht begreifen können. Nun sollte man
meinen, ein bedeutender Mensch würde angesichts einer ungeheuren Kunst-
entwickelung, wie jene ersten Herausgeber Shakspeare's dem Leser des Dichters,
sich selber zurufen (S. 338) „lies ihn, und lies ihn wieder und wieder, und
wenn du ihn dann nicht lieb gewinnst, so bist du in der augenschein¬
lichen Gefahr, ihn nicht zu verstehen"; aber es gibt merkwürdige
Constitutionen, welche eher die ganze Welt für einen Irrthum halten, als
sich selbst eine Unfähigkeit einräumen würden. Wie weit Gervinus von die-
sem Eingeständnis) entfernt ist, geht aus folgender Stelle hervor, der stärksten
des ganzen Buches (S. 168): „dann aber hatte die Instrumentalmusik zuletzt
bei Beethoven unternommen, geschieden von der Dichtung, das innere und
äußere eheliche Doppelvermögen aus sich selbst zu ersetzen, und der Nöthig¬
ungen, Hemmungen un.d Verlegenheiten (?) des Bundes mit der Poesie sich
entledigend, das allein zu leisten, was bis dahin beide Künste zusammen
geleistet hatten. Diese Vermessenheit aber strafte sich (nach der Auffassung
selbst seiner hingegebensten Bewunderer) an eben dem Tondichter, der diesen
Weg so kühn, mit so vertrauenden Bewußtsein, aber nicht zu seinem
Frieden betreten hatte, durch das rächende Bewußtsein des Enten
und Irrigen seines Unterfangens." Vermessenheit? Wer ist hier ver¬
messen? Wer sind die hingegebensten Bewunderer, die Gervinus hier citirt?
Doch hören wir erst weiter. „Er gerade, der die Mittel und die Formen
dieser Kunst am weitesten ausgedehnt, die Sinfonie im Vergleiche mit Mo¬
zart auf das Doppelte erweitert____ er empfand zuletzt die Ueberschätzung
dieser Kräfte und Mittel." Wer? Beethoven? und wo? „Er sah die überspitzte
Spitze (!) abbrechen und begriff, daß die Seele des musikalischen Körpers
doch nur die Dichtung sei, daß die Gesangmusik allein das Allerheiligste der
Kunst erschließe. Er war ausgesteuert, eine neue Welt zu entdecken (also
doch!) und er kehrte zu der alten zurück. In seiner concertircnden Fantasie
und in der neunten Sinfonie rief Beethoven die Menschenstimme wieder zu
Hilfe, nicht in zufälliger Laune----sondern er schrieb diese Werke (wie uns
die verschiedensten Beurtheiler, Gegner, Anbeter, Unbefangene, gleichmäßig, und
nicht aus bloßer „Vermuthung", und Alle in voller Billigung berichten und
sagen), er schrieb diese Werke als feierliche Urkunden über die Macht
und die Grenzen der Instrumentalmusik, in welchen er seine Ueber¬
zeugung aussprach, daß Menschenstimme und Wort allein in der Tonkunst
vollenden könnten, was das „Stammeln" der Instrumentalmusik nur ver¬
sucht und nur ahnen läßt."
Also noch einmal der längst begrabene Wahn, Beethoven hätte zur
neunten Sinfonie deshalb den Menschenchor hinzugezogen, weil seine in¬
strumentalen Kräfte erschöpft waren, oder weil er sich gar bewußt geworden,
daß „die Sangmusik allein das Allerheiligste der Kunst erschlösse"! Und mit
diesem Bewußtsein hätte sich ein Mann von seiner Taille dann wieder hin¬
gesetzt, um seine letzten Quartette zu schreiben? Und nun gar die Chorfan¬
tasie? Weiß Herr Gervinus nicht, daß sie die Opuszahl 80 trägt? All' die
großen Jnstrumentalwerke, welche ihr folgen, hätte Beethoven gegen seine
„Ueberzeugung" geschrieben? Gibt es, fragen wir, einen gebildeten Tonkünst¬
ler, der es nicht für in hohem Grade wahrscheinlich hielte, daß seine zehnte
Sinfonie ohne „Hilfe der Menschenstimme" geschrieben worden wäre? Mit
den „hingegebensten Bewunderern" verhält es sich aber folgendermaßen. Leute
hat es gegeben, und es gibt deren noch heute, welche dem letzten Satz der
neunten Sinfonie Ungeheuerlichkeit, Unklarheit, Unschönheit, vielleicht gerade
wegen der Vermischung eines Menschenchors mit sinfonisirendem Orchester vor¬
werfen. Darüber läßt sich streiten, man hat doch wenigstens Boden unter den
Füßen. Daß es eben außer Gervinus im Bereiche der musikalischen Welt
— ästhetische „Däumerlinge" und Tagfalter in beliebiger Vertheilung mit¬
gerechnet — einen Menschen mit einem Anflug von gesundem Kunstsinn
geben sollte, welcher in der neunten Sinfonie und der harmlos liebens¬
würdigen Chorfantasie „Urkunden über die Grenzen der Instrumentalmusik"
sähe, glauben wir nicht eher, als bis sich derselbe dazu bekennt. An Herrn
Chrysander, dem Biographen Händel's und Redacteur einer Kunstzeitung,
wäre es jetzt, sich offen für oder gegen die Kunstansichten seines Freundes
auszusprechen. Wer eingreifen will in die Kunstbestrebungen seiner eigenen
Zeit, muß Farbe bekennen. Es gibt ein viel größeres Mißgeschick als seinen
Namen auf der Widmungsseite eines verunglückten Buches zu lesen: das
Mißgeschick nämlich, mit solchem Gevatterthum den Argwohn auf sich zu
laden, als adoptire man seinen Inhalt bona, Käs und in seiner ganzen
Ausdehnung. Niemand, auch der Freund nicht, darf es dulden, daß ein
Schriftsteller die Autorität und das Prestige seines Namens dazu mißbraucht,
die wunderlich kranken Ausgeburten seines Hirns mit dem ungemeinen Be¬
hagen der Unfehlbarkeit in die Welt zu schicken, wenn die Gefahr, daß sie
Theilnahme erwecken, auch noch so verschwindend klein wäre. Jede Theorie,
welche darauf herausläuft, eine von Unzähligen — man kann bald sagen
von Generationen — anerkannte Wahrheit als einen Irrthum hinzustellen,
ohne ihn mit positiv stichhaltigen Gründen beweisen zu können, ist Thorheit,
mag sie mit noch so viel casuistischem Geschick behandelt sein. Es gibt heut
zu Tage — man kann dies mit fast statistischer Bestimmtheit behaupten —
keinen einzigen sich mit der Tonkunst sei es nun fachgemäß oder dilettirend
beschäftigenden Menschen, welchem die großen Schöpfungen der reinen In¬
strumentalmusik, die Orgelmusik Bach's, die Sinfonien, Quartette, Trios
und Sonaten Beethoven's, Mozart's und Haydn's, von neueren Meistern
nicht zu reden, nicht zu dem Theuerster gehörten, was diese Kunst ge¬
schaffen. Was mag Gervinus von all' diesen Werken nur kennen und wie
mag er sie kennen! Für ihn gibt es Nichts als Händel! Mit Händel hat
die Kunst eigentlich angefangen, mit Händel hat sie aufgehört. Für seine
antiquirteste, zopfige Oper kann er sich begeistern: die Eroica sagt ihm
Nichts. Für all' die Mängel seines großen Lieblings, das vielfach Conven¬
tionelle und Monotone, von dem selbst einige seiner bedeutendsten Oratorien
nicht ganz freizusprechen sind, ist er gänzlich blind. Das nennen wir aber
nicht mehr Kritik; das ist Idolatrie. Die wahre Liebe zu einem großen
Manne, wie es Händel gewiß war, nimmt wohl auch seine Fehler mit in Kauf,
aber sie sieht die Fehler. Der beste (letzte) Theil des Gervinus'schen Buches,
die Parallele zwischen Händel und Shakspeare, welche in der That viele
merkwürdige und wahre Vergleichungspunkte zu Tage fördert, leidet auch,
ganz abgesehen von dem Zwang, den jede vergleichende Schätzung solchen
Umfangs und von solchem Detail'mit sich führt, an dem euphemistischen
Uebermaß seines Händelcultus. So sagt er gleich im Anfang (S. 325):
„Es gibt unter allen Tonmeistern vor und neben und nach ihm nicht
Einen, der mit so sicherem Griffe der genialen Inspiration, ja mit so sicherem
Begriffe bewußter Kunsteinsicht zu aller Zeit an dem rechten Kern und Wesen
dieser Kunst festgehalten hätte, von ihm in keinem Momente abgeirrt wäre,
wie er." Uns dünkt, ganz dasselbe ließe sich von Seb. Bach sagen.
Nach allem Vorangegangenen ist es nur begreiflich, daß für Gervinus
die ganze neuere, die nachbeethovensche Kunst, so gut wie gar nicht
eristirt. Daß ein Liederheft von Schumann wie „Frauenliebe und Leben"
mehr poetische Erfindungskraft birgt als manche Oper von Händel, daß
die Ouvertüre zum Sommernachtstraum, die Schubert'sche Sinfonie ganz ebenso
echte Kunstwerke sind, wie sie Händel nur jemals geschaffen, das ahnt er nicht.
Der ödeste Pauken- und Trompetenchor, die phrasenhafteste Chorfuge seines
Lieblings erscheint ihm als vollendetes Kunstwunder, wie es kein Anderer
vor, neben und nach Händel aus sich geboren hat. „Wer solchen Fehler
machen konnte" sagt Lessing im Laokoon von Pope, „dem war es erlaubt,
von der ganzen Sache Nichts zu wissen."
Daß durch die Möglichkeit beschleunigter Verwerthung von Erzeugnissen
des Bodens und des Gewerbefleißcs die Produetivnsthätigkeit gesteigert, der
Werth des Grundbesitzes und der Arbeit durch den Eisenbahnverkehr wesent¬
lich gehoben wird, ist eine Thatsache, welche, überall durch schlagende Er¬
fahrungen bestätigt, weit überzeugender noch für den Nutzen dieser modernen
Communicationsmittel spricht, als der Betrag der aus dem Betriebe der¬
selben gewonnenen Verzinsung des Anlagecapitals.
Schon deshalb liegt in den hohen Transportkosten der Eisenbahnen,
welche immer noch bestehen, die schwerste und drückendste Steuer die ein Land
und dessen arbeitende Bevölkerung zu zahlen haben. Sie nehmen in geo¬
metrischem Verhältnisse zu, wenn die Entfernung vom Markte in arithme¬
tischen wächst, so daß das Korn, das auf dem Markte 23 Thaler erzielt,
in einer Entfernung von nur 120 Meilen Nichts mehr werth ist, wenn die
Communication mittelst des gewöhnlichen Führwegcs stattfindet, weil als¬
dann die Transportkosten dem Verkaufspreise gleichkommen. Mit der Eisen¬
bahn betragen diese Kosten ungefähr den zehnten Theil oder 2^/s Thaler,
so daß es 22^2 Thaler sind, die der Landwirth durch die Eisenbahn an Trans¬
portkosten erspart. Dies ist der Grund, warum der Morgen Land bei
London Tausende von Thalern werth ist, während in Iowa oder Wisconsin
ein Morgen von ganz gleicher Qualität wenig über zwei Thaler gilt. Der
Besitzer in England kann von seinem Felde mehrere Ernten im Jahre er¬
zielen, indem er ihm eine Quantität Dünger zurückgibt, die dem gleich¬
kommt, was er ihm entzogen hat, und so sein Feld von Jahr zu Jahr ver¬
bessert. Er schafft eine Nahrung producirende Maschine; sein nordamerika¬
nischer Concurrent dagegen, der seinen Dünger wegen der Transportkosten
nutzlos verlieren muß, zerstört die Maschine, denn unter allen zu den Zwecken
des Menschen erforderlichen Gegenständen ist es gerade der Dünger, der am
wenigsten den Transport erlaubt. Jede Ernte entzieht dem Boden gewisse
Elemente, und wenn ihm diese nicht zurück erstattet werden, so kann in
Kurzem das Product nicht mehr gedeihen. Wenn Vieh auf dem Lande er¬
nährt wird, so geben die Ercremente desselben einen großen Theil der Be¬
standtheile zurück, den die zu seiner Nahrung dienenden Pflanzen dem Boden
entzogen haben. Werden aber die sämmtlichen Producte wie Butter und Käse
nach entlegenen Märkten geschickt, so wird die Weide schließlich erschöpft.
Die verschiedenen Producte entziehen dem Boden sehr verschiedene Substanzen,
allein jede raubt dem Lande doch irgend einen Bestandtheil, der wieder
zurückerstattet werden muß, wenn die Fruchtbarkeit nicht bedeutend abnehmen
soll. Der Werth des Düngers, der im Jahre 1850 auf dem Boden von
Großbritannien verwendet wurde, betrug 103,369,139 Pfd. Sterl., eine
Summe,, die dem ganzen Werth des auswärtigen Handels gleichkam. Das
Cloakenwasser der Städte enthält die Nahrungsabfälle in einem Zustand der
Verdünnung, der der Zunahme der Fruchtbarkeit höchst günstig ist. Aus
jeder Stadt von tausend Einwohnern wird alljährlich eine Quantität von
Dünger in die See geführt, die 270 Tonnen Guano gleichkommt und nach
dem laufenden Preise des Guano in England 13,000 Thaler werth ist. Das
Cloakenwasser eines Theiles der Stadt Edinburg wurde auf eine Strecke
ebenen Landes geleitet, welches dadurch so fruchtbar wurde, daß es oft sieben
Mal in einem Jahre gemäht ward. Ein deutscher Landwirth, von Thüren,
hat die Entfernung, aus welcher der Landwirth noch Dünger von der Stadt
zu holen vermag, berechnet: die Quantität, die in den Borstädten einen Werth
von 8 Thalern hat, ist nur 6 Thaler werth, wenn das Gut eine deutsche
Meile entfernt ist, 4 Thaler, wenn die Entfernung zwei Meilen beträgt.
2 Thlr. 20 Sgr. auf 3 Meilen und 1 Thlr. 5 Sgr. auf 4 Meilen Ent¬
fernung. Bei einer Entfernung von 4^ Meilen kann der Landwirth gar
Nichts mehr für den Dünger bezahlen, weil dann die Transportkosten ebenso
hoch sind, wie der Werth desselben.
Wir sehen an diesem einen Beispiel, daß die Nähe des Consumenten
unentbehrlich ist, oder die Frachtsätze äußerst gering sein müssen, wenn der
Producent fähig sein soll Früchte zu pflanzen, welche die Erde in Masse
producirt. In der Entfernung vom Consumenten schwächen zwei Umstände
seine Kraft: die Transportkosten des Ernteertrags nach dem Markte und die
Schwierigkeit den Dünger zurückzubringen.
Die Landwirthschaft wird um so größeren Gewinn bringen, je näher
der Markt für ihre Erzeugnisse gelegen ist. oder je wohlfeiler die Verkehrs¬
mittel zum Markte sind.
Wo der Producent und der Consument neben einander wohnen, herrscht
rasche Bewegung in den Producten der Arbeit nebst vermehrter Fähigkeit
der Mutter Erde ihr Darlehn zurückzuzahlen. Wo es dagegen auf einem
bestimmten Terrain nur Landwirthe oder Pflanzer gibt, vermindern sich die
Kräfte der Erde und der Producent und Consument werden mehr von ein¬
ander getrennt. Das sieht man in allen reinen Agriculturstaaten. In
Virginien und den Carolina's der vereinigten Staaten erschöpften sich die
im Boden ruhenden Elemente der Fruchtbarkeit immer mehr, weil die Con¬
sumenten mangelten und man so in Abhängigkeit von entfernten Märkten
gerieth. Der Consument muß sich neben dem Producenten niederlassen, damit
der Mensch fähig werde, die Bedingung zu erfüllen, unter welcher er die
Darlehen von der Erde erhält, die einfache Bedingung nämlich, das ihm an¬
vertraute Capital an den Ort zurück zu bringen, von welchem er es be¬
zogen hat.
Ueberall wo diese Bedingung erfüllt wird, sehen wir eine Zunahme
in der Bewegung des Stoffs, der bestimmt ist den Menschen mit Nahrung
zu versehen und eine ebenso constante Zunahme der zu ernährenden Menschen^
zahl nebst steter Verbesserung der Quantität und Qualität der Nahrung, die
unter die zunehmende Bevölkerung vertheilt werden kann. Zur Zeit der
Plantagenets, als die Bevölkerung Englands nicht viel über zwei Millionen
betrug, producirte ein Morgen Land nur sechs Bushel Weizen. Jetzt leben
achtzehn Millionen auf demselben Raum und erhalten bedeutend vermehrte
Vorräthe weit besserer Nahrung, weil alle erforderlichen Bedingungen in der
Beseitigung aller Verkehrshindernisse dort erfüllt werden, sowohl durch die
rationelle Förderung der Fluß- Canal- und Küstenschiffahrt wie durch die
billigsten Frachtsätze der vielen Eisenbahnen.
Nächst den Wasserwegen sind es die Eisenbahnen, welche die wohlfeilste
Fracht gestatten oder doch gestatten könnten. Leider aber sind die Fracht¬
sätze der Eisenbahnen noch so hoch, daß die Verfrachtung von Roherzeug¬
nissen der Landwirthschaft nur auf sehr kleinen oder sehr großen Entfernungen
vortheilhaft ist. Die Eisenbahngesellschaften begünstigen in ganz ungerecht¬
fertigter Weise die großen Entfernungen durch , niedere Frachtsätze. Durch
diese Differentialtarife erleidet namentlich die deutsche Landwirthschaft auf den
zum Theil von ihrem Capital erbauten Eisenbahnen den größten Nachtheil.
Die Differentialtarife heben den natürlichen Schutz der Entfernung für den
inländischen Ackerbau auf.
Wir haben oben den bedeutenden Einfluß der Entfernung des Produc-
tionsortes vom Marktorte und die Wichtigkeit der Verkehrsmittel auf die
Rentabilität des Landbaues berührt. Der landwirthschaftliche Betrieb richtet
sich nach der Entfernung vom Markte und nach der Art der Verkehrsmittel.
Die Anlage einer Eisenbahn wird naturgemäß den landwirthschaftlichen Be¬
trieb der zugehörigen Gegenden ändern, weil die Entfernung vom Markte
kürzer wird. Aber alle der Eisenbahn anliegenden und dieselben benutzenden
Landschaften stehen immer in einem gleichen Verhältniß zu einander, solange
der Frachtsatz der Eisenbahn ein naturgemäßer d. h. ein nach der Entfernung
berechneter ist. Dieses natürliche Verhältniß des landwirthschaftlichen Be¬
triebes, welcher stets dem erweiterten Absatzgebiete folgt, wird aber voll¬
ständig verändert, sobald ein für weitere Entfernungen ermäßigter Frachtsatz
dem Hinterkante gestattet, zu denselben Preisen wie die dem Markte näher
gelegenen Landschaften ihre Erzeugnisse abzusetzen. Naturgemäß bilden die
Transportkosten einen Theil der Produktionskosten des Getraides, und zwar
einen um so größeren Theil, je weiter der Productionsort vom Marktorte
entfernt ist. Der Differentialtarif begünstigt nun die Productionskosten ent¬
fernter Landschaften zum Nachtheil der dem Markte näher gelegenen Land¬
schaften. In Folge dieser Tarifbegünstigung wird das Angebot von Ge-
traide aus entfernter gelegenen Landschaften vermehrt; der Preis sinkt und
zwar in weit stärkerem Verhältniß als das Angebot, weil die regelmäßige
Nachfrage nach Brodstoffen sich nur innerhalb einer sehr engen Grenze ver¬
mehren kann und daher niemals einem größeren Angebote zu folgen vermag.
Zu diesen gerechten Klagen der deutschen Landwirthschaft über die Bahn¬
verwaltungen gesellen sich die beklagenswerten Erfahrungen der deutschen
Eisenindustrie, der immer noch die hohen Eisenbahnfrachten hemmend ent¬
gegenstehen. So lange nicht unsere Hütten energisch die Concurrenz mit
den englischen Eisenwerken aufnehmen können, ist es noch immer recht mißlich
mit ihrer Lage bestellt. Man lese nur die Einfuhrlisten der Ostseehäfen, um
sich zu überzeugen, wie sehr dort das englische resp, schottische Roh- und
Stabeisen dominirt. In Danzig, wo Großbritannien mit 62°/<> des Waaren¬
werthes beim Seeimport betheiligt ist, führte England ein 1867: 3,373,226
Centner Kohlen; 1866: 2,181.492 Ctr.; 1868: 2.654.420 Ctr.; an Eisen,
Stahl und Schienen wurden in dem Jahre 1867 eingeführt: 212.076 Ctr.
resp. 371.479 Ctr. 1866, und 320.567 Ctr. 1863. Der Geldwerth für
letztere betrug 1867 1,769,030 Thlr., 1866 2,584,378 und 1865 2,523,737
Thlr. Der Geldwerth der Kohlen war 843.306 Thlr. in 1867, 545.373
Thlr. in 1866 und 662,605 Thlr. in 1865. Die übrigen Häfen weisen ähn¬
liche Einfuhren von Großbritannien auf. Dieser Concurrenz gegenüber, die
sich der niedrigen Seefrachten bedient, können unsere Hüttenbesitzer nicht auf¬
kommen, da ihre Selbstkostenpreise höher sind, als jene der britischen Werke.
England verschifft sein Roh- und Schmiedeeisen, seine Eisenwaaren von
Glasgow, Liverpool und Newcastle zu der billigen Schifffracht von acht
Schillingen pro Tonne von 20 Centner nach Danzig und nach Stettin. An
der Ruhr sind zwar Steinkohlen, aber nur wenige Eisenerzlager vorhanden.
Diese liegen weit entfernt von den Hütten, sodaß schon das Rohmaterial
unseren Producenten viel höher zu stehen kommt, als den schottischen, die
Kohlen und Eisenerze zusammen haben und sich der Vortheile von Canälen
und billigen Eisenbahnfrachten erfreuen. Alle Anstrengungen der Eisen¬
industriellen helfen Nichts, so lange nicht wenigstens auf den nach den Nord-
uud Ostseehäfen führenden Eisenbahnen der Einpfennigtarif für Eisensen¬
dungen in ganzen Wagenladungen eingeführt ist, was schon mit Rücksicht
auf die dem Zollverein beigetretenen Gebiete von Schleswig-Holstein, den
beiden Mecklenburg und Lübeck' dringend geboten ist, wenn dort der Con¬
currenz Englands auf dem Eisenmarkt endlich gründlich entgegengetreten
werden soll.
Im Auftrage des Ausschusses des ersten Congresses norddeutscher Land¬
wirthe sind die gedachten Klagen der Landwirthschaft in einer Denkschrift
über die bestehende Krisis wegen des Mangels an Verkehrsmitteln nieder¬
gelegt. Diese Denkschrift schließt mit der Resolution:
„Die im Artikel 45 der Verfassung des norddeutschen Bundes in Aus¬
sicht genommene Gleichmäßigkeit und Herabsetzung der Eisenbahntarife ist für
die Landwirthschaft von höchster Bedeutung und zu wünschen, daß dieser
Artikel der'Reichsverfassung baldigst zur Ausführung komme."
Wir schließen uns dieser Resolution aus voller Ueberzeugung an und
hoffen, daß die Bundesgewalt, welche die Tariffrage für wichtig genug hielt,
um ihr in der Reichsverfassung eine Stelle einzuräumen, dieser Erkenntniß
auch die Ausführung recht bald folgen lassen wird. Die Interessen der Boden¬
cultur, der Landwirthschaft und der Industrie gehen hier Hand in Hand: sie ver¬
langen die Herabsetzung einer „Steuer", welche die Aufbringung der meisten
übrigen Steuern wesentlich erschwert, weil sie einmal verhindert, daß dem
Boden zurückgegeben werde, was ihm genommen wurde, und weil sie zweitens
die Ausbeutung der vorhandenen Erträge beeinträchtigt.
Die Introduction ist vorüber, und wenn man von ihr auf den Charakter
des nachfolgenden Stücks schließen darf, verspricht dasselbe lebhaft, bewegt,
effectreich zu werden. Ein rascheres Tempo muß in den Gang unserer Staats¬
maschine kommen. Das bedeuten, wie wir belehrt worden sind, die Neu¬
wahlen, die so viele Frischlinge der Kammer zugeführt haben. Krieg gegen
das Ministerium! so tönt der Ruf auf der Linken wie auf der Rechten, aus
den Reihen der Volkspartei wie aus denen der nationalen. Mögen nur,
sagte Karl Mayer, von der einen Seite wir von der Volkspartei, von der
anderen die „Preußen" auf das Ministerium dretnschlagen, so wird doch
Klarheit in die Situation kommen. Von dieser wünschenswerten Klarheit
war überhaupt in den einleitenden Debatten viel die Rede. Die Linke scheint
ganz besonders dieses Bedürfniß zu empfinden.
Unter so kriegerischen Auspicien eröffnet die neue Session. Es liegt auf
der Hand, daß der Lieblingswunsch des Particularismus, innerhalb des
souveränen Staats das Haus der Freiheit zu errichten und auszubauen, um
darin gegen alle Stürme wie gegen alle Verlockung gesichert ein behagliches
Dasein zu führen, beneidenswerth für die außerhalb wohnenden Brüder —
wofern dieser Name, den man gern für die Gesinnungsgenossen jenseits der
Vogesen reservirt, anwendbar ist auf das barbarische Mischvolk nördlich vom
Main — es liegt auf der Hand, daß die Verwirklichung dieses Lieblings¬
wunsches bei so kriegerischer Disposition der Gemüther erhebliche Schwierig¬
keiten haben' wird. Man versteht jetzt, warum die Regierung vorsichtig mit
der Ankündigung großer Reformen gewesen ist. So wie die Parteien sich
gegenüberstehen, wird Niemand diese Kammer zu der Pflanzung lebensfähiger
und grundlegender Einrichtungen für berufen erachten. Es überwiegt die
Leidenschaft des Moments. Für jetzt ist die Losung nicht aufbauen, sondern
niederreißen, nämlich das Ministerium, ^dasso ü mal-störo!
Auch das Ministerium hat seine Partei, aber sie besteht aus acht Mit¬
gliedern. Acht Abgeordnete von dreiundneunzig, ausschließlich Staatsbeamte,
nebst dem Oberbürgermeister der Residenzstadt, haben den Muth gehabt, sich
als conservative Partei zu constituiren. Damit sind natürlich die Mittel
nicht erschöpft, die das Ministerium in einer Kammer besitzt, in welcher noch
ein namhafter Bruchtheil seine Sitze kraft Privilegien einnimmt. Aber es ist
bezeichnend als Resultat eines Wahlkampfes, in welchen die Regierung als
Partei eingetreten ist. Es ist ein Gradmesser für das Vertrauen, welches die
Politik der Regierung im Lande sich erworben hat.
Sie selbst hat durch ihre Haltung bei den Zollparlamentswahlen sich
diese Lage geschaffen. Damals konnte-man schon die Folgen voraussehen
und man hat sie vorausgesagt. Ihr widernatürliches Bündniß mit der
Volkspartei, welche von ihr als Avantgarde benutzt wurde, hat der letzteren
den Einfluß verschafft, mit dem sie die Landtagswahlen beherrschte. Damals
gingen die konservativen Elemente aus Rand und Band. Die Bureaukratie
gefiel sich darin die Jacobinermütze aufzusetzen, der Beobachter wurde das
Leiborgan der Oberamtleute; nicht mehr nur verstohlenerweise, wie bisher,
durfte man an den „pikanten" Artikeln des Volksblattes aus Schwaben sich
ergötzen. War doch geradezu Alles erlaubt, wenn es nur gegen die ver¬
haßten Preußen ging. Auf offenem Markt empfahl der Oberamtmann den
Candidaten der Volkspartei, der sonst alle Fürsten ins Pfefferland gewünscht
hatte und jetzt zum Schwärmer für kleinfürstliche Legitimität geworden war,
die Polizeidiener warben Stimmen für denselben und die Volkspartei zeigte
sich erkenntlich, indem sie Hochtories, wie dem Frhrn. v. Neurath, Empfehlungs¬
briefe auf die Wahlreise mitgab. Der Republikaner in der Maske des Legi¬
timsten, der conservative Angstmann in der bunten Jacke des genfer Friedens-
ligutsten — es war ein toller Carneval ohne Gleichen, eine Verwirrung aller
Begriffe und Grundsätze, eine politische Demoralisation, die noch lange in
unserem Lande nachwirken wird. Viel Naivetät gehörte dazu, wenn die
Regierung meinte, bei der Landtagswahl die Dinge auf Commando wieder
in ihr natürliches Geleise bringen zu können. Heute verschließt man sich auch
gar nicht mehr der Einsicht, daß man sich durch das damalige Bündniß mit
der Demokratie in die jetzige Lage gebracht hat. Ich wollte, flüsterte einer
der Minister mit Seufzen, diese verwünschte deutsche Partei hätte es bei den
Zollparlamentswahlen gewonnen. Nur Herr v. Varnbüler blickt sorglos wie
immer in die Zukunft. Mit jener fröhlichen Miene, die ihm unverändert
eigen ist, ob er Kriegsentschlüsse faßt oder Friedensverträge schließt, und die
ihn nur damals verließ, als er dem Zollparlament Rechnung ablegen sollte,
drückt er die Hoffnung aus, daß, wenn nur erst die Gemüther sich herzhaft
werden expectorirt haben, dann die Kammer ganz leidlich traetabel sein werde.
Er kann sich allerdings auf Beispiele berufen. Allein bis jetzt erscheint es
doch zweifelhaft, ob die jetzige Kammer bestimmt ist, erst in sechs Jahren eines
natürlichen Todes zu sterben. Das Verhältniß der Parteien macht dies nahezu
unmöglich.
Dies ist in der That seltsam genug. Kunstvoller könnten die Gruppen
gar nicht vertheilt sein, um sich gegenseitig im Schach zu halten. Aeußerste
Linke 23 Mann, linkes Centrum (sogenannte Großdeutsche) 20 Mann, macht
für die vereinigte Linke 4S Stimmen. Regierungspartei 8, Ritter und Prä¬
laten 23, nationale Partei 14, thut zusammen wieder 45 Stimmen. Sobald
also die vereinigte Linke zusammenhält und andererseits die nationale Partei
mit der Rechten geht, stehen sich die Parteien in gleicher Stärke gegenüber,
jede richtige Entscheidung ist unberechenbar, vom Zufall abhängig. Die
geringste Anwandlung von Jndisciplin oder die wenigen Stimmen der
Wilden vermögen das Zünglein der Wage hierhin oder dorthin zu neigen.
Doch hat es bis jetzt eher Neigung zur Linken, theils weil die Rechte aus
zu verschiedenartigen Elementen besteht, um eng zusammenzuhalten, theils
durch den Ausschlag der Ultramontanen, welche an Eifer gegen das Mini¬
sterium, wenigstens im Stillen, es der Volkspartei fast noch zuvor thun und
gemeinschaftlich mit ihr für ein Ministerium Neurath-Mittnacht arbeiten, .dem
dann, wie man hofft, bald in den Nachbarstaaten rechts und links homogene
Ministerien folgen werden, Ministerien des Südbundes.
Was ist unter diesen Umständen die Aufgabe der nationalen Partei?
Sie faßt sich in die Frage zusammen: Hat die nationale Partei ein Interesse
daran, das Ministerium Varnbüler zu halten, weil hinter diesem ein Mini¬
sterium Neurath steht? Stünden die Dinge auch nur so wie in München,
wo eine, wenn auch höchst behutsame, doch ehrliche und zuverlässige Verwal¬
tung, der ein nationales Gewissen schlägt, am Ruder ist, eine Verwaltung,
hinter welcher zugleich eine ansehnliche, politisch achtbare Mittelpartei steht,
so könnte jene Frage gar nicht aufgeworfen werden. Allein das Ministerium
Varnbüler-Mittnacht-Golther hat sich in den deutschen Dingen einen ganz
anderen Ruf erworben, es nimmt nicht zur Schonung der Stammesvorurtheile
eine vermittelnde Stellung ein. sondern es hat eben diese Vorurtheile aufs
Aeußerste gereizt und gesteigert. Niemand hat das Vertrauen, daß es öst¬
reichischen oder französischen Einflüssen das Ohr verschließe, und hinter diesem
Ministerium steht eine kleine Partei, unzuverlässig, politischer Grundsätze bar,
die ihre Fühlung gar nicht nach der nationalen Seite sucht, außer wo sie
die dortigen Stimmen für ihre Zwecke braucht, die vielmehr ihre natürlichen
Anknüpfungspunkte in der großdeutschen Linken hat. wo es längst nicht an
Symptomen der Gegenneigung fehlt und wo z. B. Oesterlen ebenso gern
sich finden läßt, als er aufgesucht wird. Unter diesen Umständen ist es eine
starke Zumuthung für die nationalen, sich für ein Ministerium zu interessiren,
das zudem gleichzeitig in den inneren Fragen keine Zugeständnisse im frei¬
heitlichen Sinn machen zu wollen scheint.
Den Versuch einer Verständigung hat die nationale Partei gemacht,
indem sie bei der Präsidentenwahl mit der Rechten zusammenging und dieser
half, nicht ohne Mühe wenigstens den ersten der drei dem König zu präsen-
tirenden Candidaten durchzusetzen, während bei den beiden anderen Wahlen
der Sieg der Linken blieb. In die Wahl zwischen Geßler und Probst gestellt,
konnte freilich die nationale Partei keinen Augenblick schwanken. Geßler, der
Kanzler der Universität Tübingen, Bruder des Ministers, ist ein Mann von
gemäßigten Ansichten, derjenige unter der ministeriellen Partei, dem man
vielleicht am wenigsten eine principielle Abneigung gegen die nationale Sache
zuschreiben kann. Zwar darauf ist natürlich kein Gewicht zu legen, daß er
im Jahr 1830 zum sogenannten plochinger Programm, einer schwäbischen
Filiale des gothaer Programms, durch öffentliche Unterschrift sich bekannte;
steht doch in jener Liste, die damals aus dem ganzen Lande zahlreiche Zu¬
stimmungserklärungen erhielt, dicht neben seinem Namen der — des jetzigen
Cultusministers v. Golther. Allein Geßler war auf dem vorigen Landtage
von der Regierungspartei der Einzige, welcher wenigstens mit ein paar
Worten für das neue Militärgesetz eintrat, während sonst die Vertheidigung
dieses unpopulären Gesetzes einzig auf den Schultern der deutschen Partei
ruhte, welche für die Regierung die Kastanien aus dem Feuer holen und
dabei gleichzeitig noch den weiteren Dienst leisten sollte, sich selbst gründlich
zu ruiniren und unpopulär zu machen. Welche menschenfreundliche Absicht
indeß von dem allgemeinen Stimmrecht nicht ratificirt wurde, aus welchem
vielmehr die deutsche Partei gestärkt und vermehrt hervorgegangen ist. Die
Wahl Probst's zum Präsidenten der Kammer hätte ausgesehen, als ob man
von vorn herein eine Provocation gegen den norddeutschen Bund beabsichtigen
wollte, und als solche war auch ohne Zweifel von der vereinigten Linken
die Candidatur des Abgeordneten gestellt, der im Zollparlament dem Grafen
Bismarck den Anlaß zu dem glücklichen Wort gegeben hat, daß der Appell
an die Furcht keinen Widerhall in deutschen Herzen finde.
Daß die Unterstützung, welche die deutsche Partei der Regierung bei der
Präsidentenwahl lieh, nicht mißverstanden werde, dafür sorgte gleich die
Debatte über die Frage: Adresse oder nicht? Römer war der Einzige, der
den ohne Zweifel richtigen Satz verfocht, daß es am vernünftigsten wäre
von einer Adresse Umgang zu nehmen. Er wollte Vorgänge vermieden
wissen, die nur dazu dienen könnten, die schiefen Urtheile des Auslandes zu
bestärken und dessen Einmischungsgelüste zu reizen. Dabei griff er aber aufs
schärfste die zweideutige Politik des Ministeriums in der deutschen Frage an,
während Pfeiffer die Dürftigkeit des ministeriellen Programms in den inneren
Fragen geißelte und ganz, wie K. Mayer vorschrieb, gleichzeitig von der
anderen Seite die Volkspartei auf das Ministerium losschlug. So wurde
das Ganze zu einem Vorgefecht für die Adreßdebatte, das dadurch noch mehr
Colorit erhielt, well auch die nationalen und-die Particularisten zum ersten
Mal gegenseitig die Waffen prüften für den heißeren Kampf in der nächsten
Woche.
Frankreich hat sich von jeher gern zum Beschützer mehr oder minder
unterdrückter Nationalitäten gemacht, einerseits wegen des Reliefs, welches
dergleichen Proteetorrollen verleihen, andererseits wegen der willkommenen
Gelegenheit zur Einmischung in Angelegenheiten benachbarter Staaten. Es ist
aber ziemlich neu, daß ein französischer Schriftsteller ganz allein und auf. eigene
Faust eine „unterdrückte" Nationalität und zwar mit Eifer und nicht
ohne Geschick protegirt. Schon wegen der Neuheit dieses Vorkommnisses
verdient die literarische Thätigkeit dieses Schriftstellers einige Aufmerksam¬
keit. — Der Schriftsteller von dem wir reden ist Herr Louis Leger, der
Pariser Czechophile, dessen Name bei Gelegenheit der Hußfeier in Constanz
(wo er eine Rede halten sollte, aber nicht gehalten hat) durch alle deutsche
und französische Zeitungen .die Runde machte. Herrn Louis Leger's Name
wurde aber damals nicht zuerst in Verbindung mit den czechischen Nationa¬
litätsbestrebungen genannt. Schon im vergangenen Jahre hatte er durch
ein in Gemeinschaft mit I. Frie, herausgegebenes, übrigens in Oestreich ver¬
botenes, Sammelwerk „I^g, Lodeinv diktorique, pitwroLyuo et litt^iairo"
sein Interesse für die czechische Sache bekundet und im Jahre 1866 unter
dem Titel „Otumts tustoriquös et ckansons poxulaireiz clef Llavvs 6e 1a
Lotiöme" eine Übersetzung der Gedichte der bekannten königinhofer und grüne-
berger (!) Handschrift herausgegeben. Herr Leger hat in dieser Publication,
welche sich an einen größeren Leserkreis adressirt, die Frage der Authenticität
schwebend gelassen, indem er von den hauptsächlichsten Einwendungen, die ge-
gegen dieselbe gemacht sind, keine einzige zu widerlegen sucht. Auch mag
ihm wohl selbst, trotz allen guten Willens, den Glaubensartikel jedes guten
Czechen zu adoptiren, die Authenticität des Manuscripts nicht ganz über allen
Zweifel erhaben sein, zumal er in seinen neuesten Publicationen, die einen
wissenschaftlichen Werth haben und von eingehenden Specialstudien zeugen,
neben aller Voreingenommenheit Proben seiner gelehrten Gewissenhaftigkeit
gegeben hat. Es sind dies zwei Schriften, die er zur Erlangung des Grades
eines voetsur of lettrsg kürzlich bei der pariser ?s,en1te Ach Isttreg ver¬
theidigt, von denen die eine lateinische den ältesten russischen Chronisten
Nestor, die andere französische die Slavenapostel Cyrill und Method be¬
handelt. Es ist Sache der betreffenden Specialisten, diesen Publicationen
den ihnen gebührenden Rang zuzuweisen; für uns haben hier nur die allge¬
meineren Gesichtspunkte, welche Herr Leger mehr oder minder eingehend zu
behandeln nicht unterlassen hat, ein directes Interesse. Wir bemerken na¬
mentlich, daß die Russen der slavischen Raxe zugewiesen werden, welche H. L.
in die russische, polnische, böhmische und südslavische Gruppe eintheilt. Er
trennt sich damit von jener extremen Partei der Polenfreunde, welche den mos¬
kowitischen Russen das slavische Bürgerrecht streitig und sie zu Turaniern machen.
Er berührt bei dieser Gelegenheit leise das größte Hinderniß jeder czecht-
schen Propaganda in Frankreich, dem Lande, welches in der alten Vorliebe
für die Polen und der noch immer lebendigen Erinnerung an die Kosaken,
nicht minder in einer berechtigten Scheu vor dem Panslavismus das Lieb¬
äugeln der Czechen und Südslaven mit dem Czaren aus mißliebigen Augen
ansieht. Dieses Hinderniß wird die Propaganda für den Slavismus, wie
der von Hrn. L. statt des discreditirten Panslavismus gebrauchte Ausdruck
lautet, in Frankreich niemals einen günstigen Boden finden lassen. Die
Franzosen besitzen außerdem zu viel bon ssus (man muß freilich den bon
heilg der Franzosen nicht nach den Herrn Emile de Girardin und Graner
aus Cassagnac bemessen), als daß man ihnen die crasser Utopien und gefähr¬
lichen Schwärmereien des Panslavismus so leicht plausibel machen könnte.
In diese Kategorie gehören aber doch wohl die letzten Ziele der Slavophilen,
so weit man sich davon eine annähernde Idee aus dem Bilde machen darf,
das Herr Leger von der Geschichte der slavischen Welt ausmalt, wenn die
Schüler Cyrill's und Method's das Apostolat ihrer Lehrer hätte fortsetzen
können. Dergleichen auf dem Eintreten von nicht eingetretenen Eventuali¬
täten basirende historische Calcule haben stets etwas Vages und Müßiges;
Leger's Erwägungen darüber, was möglicher oder wahrscheinlicher Weise hätte
eintreten können, wenn man die Slavenapostel ihr Werk hätte vollenden
lassen, wohnen diese Eigenschaften in eminenter Weise bei. — Da der be¬
treffende Passus für uns Deutsche vielfach interessant ist und auf die letzten
Ziele des Slavismus einige nicht zu unterschätzende Streiflichter wirft, theilen
wir ihn mit:
„Wenn die Schüler Cyrill's und Method's das Apostolat ihrer Lehrer
hätten vollenden können" sagt Herr Leger (OMIs se NstKoclo, x. 223 f.)
„so hätte die slavische Liturgie aller Wahrscheinlichkeit nach von Böhmen und
Mähren aus bei Süd- und Nordslaven gestrahlt und ihnen die Idee einer
moralischen Zusammengehörigkeit gebracht, welche ihnen den nöthigen Halt
gegeben hätte, den Einbrüchen der Deutschen, der Magyaren, der Griechen,
der Tartaren und der Osmanlis zu widerstehen. Rußland hätte seine Civi¬
lisation dem Occident und nicht der vergifteten Quelle von Byzanz entlehnt,
es wäre unmittelbar in die große europäische Familie eingetreten und hätte
weder die Unterjochung der Mongolen, noch den Despotismus des mosko-
vitischen Czars zu erleiden gehabt. Die Slaven des baltischen Meeres wären
den blutigen Bekehrungen der deutschen Missionäre, der schwerttragenden
Ritter, entronnen und der preußische Staat, der verhängnißvolle Keim
eines geeinten und kriegerischen Deutschlands, wärenicht^auf dem
Grabe ihres Geschlechts aufgeblüht. Böhmen und Polen, entzogen den
deutschen Anmaßungen, hätten die Religionskriege nicht entbrennen sehen,
welche ihren Ruin herbeigeführt haben. Die Südslaven hätten sich an den
Ufern des adriatischen Meeres der Sau und der Donau consolidirt, sie hätten
in harmonischer Einheit die doppelte Civilisation vereint, welche sie gleich¬
zeitig von Griechenland und Italien erhielten und hätten vielleicht schon im
Mittelalter dieses südslavische Kaiserreich begründet, welches sie heute nur
träumen können."
Wie man sieht, streift der Slavismus des Herrn Leger trotz der von
ihm beliebten Namensvertauschung stark an den uns wohlbekannten Pan-
slavismus an, der in einer neueren Broschüre desselben Verfassers (I^s Llavvs en
1867) noch klarer zu Tage tritt:
„Die Gründung eines großen Deutschland, welches seinen Ehrgeiz nicht
verheimlicht und die Moldau und Donau als deutsche Flüsse in Anspruch
nimmt, flößt den Slaven eine berechtigte Furcht vor der Zukunft ein. Auf
der andern Seite erfüllt die Protectorrolle, welche Nußland zu Gunsten der
Christen im Orient übernommen hat, sie mit einem Zutrauen, welches man
häufig tadelt, ohne sich erst darüber klar geworden zu sein. Zum Beherrscher
wollen sie Nußland nicht: als Verbündeten glauben sie es aber nicht zurück¬
weisen zu dürfen, wenn russische Hilfe jemals nöthig würde."
Und weiter:
„Sie (die Slaven) wissen, was sie unter ihren jetzigen Beherrschern er¬
litten haben, und glauben, daß die russische Herrschaft (welche für sie nur
das letzte Auskunftsmittel ist) vielleicht weniger hart sein würde, als die der
Deutschen, der Türken oder der Magyaren. Führt ihnen nicht das Beispiel
Polens an. Sie würden Euch antworten, daß der Haß zwischen Polen und
Rußland nicht von gestern datirt, daß, wenn die Russen heute in Warschau
sind, die Polen einst in Moskau waren: sie beklagen einen brudermörderischer
Streit, aber in ihren Augen sind die Russen nicht schuldiger als die Oestrei¬
cher in Venedig oder Galizien, die Engländer in Irland oder die Franzosen
in Mexico."
Herr Leger legt endlich einem Südslaven folgende Worte in den
Mund:
„Angenommen, daß wir an einem Tage der Verzweiflung den Russen
zu Hilfe riefen, wer wollte wohl wagen, uns daraus einen Vorwurf zu
machen? Haben nicht einst Preußen und Oestreich die heilige Allianz mir
Rußland abgeschlossen? Hat nicht Franz Joseph den Kaiser Nikolaus gegen
das empörte Ungarn zur Hilfe gerufen? Warum sollten wir unsere wahren
Interessen Vorurtheilen opfern, welche wir nicht theilen?"
Auf wissenschaftlichem Gebiete hat der Panslavismus übrigens in Frank¬
reich neuerdings eine nicht zu unterschätzende Niederlage erlitten und zwar
durch ein kürzlich (am 11. Nov.) im Moniteur veröffentlichtes Decret des
Unterrichtsministeriums. — Bekanntlich hatte im April 1840 Cousin, damals
Minister des öffentlichen Unterrichts im Cabinet Thiers, der Deputirtenkam-
mer einen Gesetzentwurf vorgelegt, welcher die Errichtung eines Lehrstuhls
für slavische Sprache und Literatur am LoIIöZe us I^aues zum
Gegenstande hatte. Sehr spaßhaft sagte der Moniteur vom 30. April bei
dieser Gelegenheit: „Beinahe 70 Millionen Menschen sprechen die slavische
Sprache (sie!) und dieses in seinen Dialekten so reiche und mannigfaltige Idiom
hat in hohem Grade ein politisches Interesse." Noch spaßhafter klingt es,
wenn das Expose der Motive des Gesetzvorschlages sagt, daß beinahe 70
Millionen Menschen die verschiedenen Dialekte dieser Sprache reden. Es
steht da wörtlich: „das ganze russische Kaiserreich ist slavisch." — Die be¬
kannte Stärke der Franzosen in geographischen Materien wird hier officiell
durch die Thatsachen documentirt, daß so und soviel Tataren, Finnen, Esthen,
Lappen, Deutsche, Armenier, Georgier. Bessarabier, Einwohner Sibiriens ze.
ohne Weiteres zu Slaven gemacht werden. — Trotz eines vereinzelten Wider¬
spruchs wurde der Gesetzvorschlag angenommen und seit der Zeit existirre in
Frankreich eine eluürs as lemgus et littöraturo Slave, was eine Art Aner¬
kennung der panslavistischen Tendenzen involoirte, von der natürlich Rußland
nicht versäumte, politisches Capital zu schlagen. Noch in demselben Monat
erschien ein Ukas, worin das Petersburger Cabinet officiell erklärte, wie durch
die Geschichte und die öffentliche Meinung Europas bewiesen sei, daß die
Großrussen mit den Kleinrussen und den Weißrussen durch das Band ge¬
meinsamen slavischen Ursprungs vereint seien. Officiell inspirirte russische
Gelehrte erklärten wenig später das Russische für die slavische Sprache, zu
welcher die anderen slavischen Idiome sich wie bloße Dialekte verhielten.
Diese Anmaßung erfuhr, namentlich von Seiten der polnischen Emigration,
lebhaften Widerspruch und der Hauptvertheidiger der Theorie, welche die
moskovitischen (Groß-) Russen aus der slavischen Völkerfamilie verbannt und
ihnen einen turanischen Ursprung zuweisen möchte, Hr. Duchinski, forderte
die pariser linguistische Gesellschaft zur Intervention bei dem Unterrichts¬
minister behufs Verwandlung des unmotivirten Singulars (in der Benennung
des Lehrstuhls am Lollegs as Kranes) in einen Plural auf. Diese gelehrte
Gesellschaft, deren Thätigkeit durch andere Fragen in Anspruch genommen
war, ging über diesen Antrag zur Tagesordnung über, womit sür dieses Mal
die Angelegenheit erledigt war. Im Beginne dieses Jahres jedoch machte
sich Herr Casimir Delamarre aufs Neue in einer vielverbreiteten
Broschüre (IIr xluiiel xour un smAuliör et 1e Mvslavismk est ä6truie
äans Lvu xrineixe) zum Organe dieser berechtigten Opposition und wurde
dieser neue Anlauf auf das Princip des Panslavismus (das Hr. Delamarre
nicht ohne französisches Selbstgefühl in der Benennung eines Lehrstuhls
am Oollvgs av ?rauee findet) von Erfolg gekrönt, indem neuerdings das
obenerwähnte Decret die Benennung des Lehrstuhls 'dahin geändert hat,
daß er jetzt „crairs as lanFuss et as littsrawres ä'oriAMö slavs" heißt.
In der Benennung dieses Lehrstuhls haben die französischen Unterrichts¬
ministerien offenbar kein Glück.
Es ist übrigens nur gerecht, zu bemerken, daß Herr Louis Leger, yui
niliil soviel s, se s-Iionuin putat, schon im Januar dieses Jahres auf die
factische Unrichtigkeit der Benennung des betreffenden Lehrstuhls in der
üevus ach cours litt^raires (wo er einen Lehrstuhl für das Russische in
Paris verlangte) aufmerksam gemacht hatte. Herr Leger bewies dadurch,
daß er sich nicht einseitig für die Czechen interessire obgleich diesen der
größte Theil seiner Sympathien gehört, sondern daß er auch den anderen
Nationalitäten slavischen Ursprungs seine Aufmerksamkeit zuwende. Nur von
den Polen, welche Demjenigen, der in diesen Fragen keinen Parteistandpunkt
einnimmt, unter allen slavischen Völkern das meiste Interesse zu verdienen
scheinen, hat sich die politisch und literarisch-agitatorische Thätigkeit des Herrn
Leger in neuerer Zeit abgewendet. Dies war nicht immer so und die
bezügliche Veränderung in Leger's Anschauungen steht mit den Oscillationen
der böhmischen und südslavischen Nationalpolitik, welche namentlich seit dem
ethnographischen Congreß in Moskau dahin gekommen ist, den Messias des
Slaventhums im Czaren zu sehen, in engem Causalzusammenhang. Seine
panslavistischen Tendenzen direct auf die Fahne zu schreiben, nimmt Herr
Leger zwar Anstand; sie werden „ernsten Leuten" und „ausgezeichneten Publi-
cisten" in Agram in den Mund gelegt; auch für die unglücklichen Polen
werden an geeigneter Stelle einige Thränen vergossen, aber als Gesammt-
eindruck ergibt sich eine ganz directe Parteinahme sür die panslavistischen
Bestrebungen im russischen Sinn — moderirt durch gewisse in Frankreich
gebieterische Schicklichkeitsrücksichten. Etwas anders als diese Erklärungen
über den „vorgeblichen" Panslavismus, die Herr Leger seinen prager und
agramer Lehrern nachspricht und durch eine Schilderung des ethnographischen
Congresses, welche in Schönmalerei das Mögliche leistet, belegen zu wollen
scheint, nehmen sich die Betrachtungen aus, welche derselbe Autor vor etwa
drei Jahren einer von ihm übersetzten Broschüre vorausschickte. Diese Bro¬
schüre war von der russischen Regierung verbreitet worden, um die öffentliche
Meinung für sich und gegen die Polen zu gewinnen und den Fanatis¬
mus des litthauischen Landvolks gegen die katholischen Polen anzufachen.
Diese Schrift, deren französischer Titel „I/me^eliquö 6u Isar, 1s äroit
as ig, üussie et 1ö tort as la, ?oloZmz" lautet und die im Jahre 1863
in Rußland in Tausenden von Exemplaren unter der Landbevölkerung
verbreitet wurde, leitete Herr Leger, als er sie zwei Jahre später über¬
setzte, mit einer nicht eben russenfreundlichen Vorrede ein. Wir erfahren
aus derselben, daß das „söurimsnt r6IiZi<zux on plutot töticdisw" das Ein¬
zige ist, was Eindruck auf das Gefühl des russischen Bauern macht, daß
deshalb die russische Regierung zu diesem Gefühle ihre Zuflucht nahm und
diese Broschüre publicirte, und zwar nicht in Petersburg, sondern in Moskau.
In Petersburg, heißt es weiter, hätte dieser Appell an den religiösen Fanatis¬
mus in die Hände eines Europäers fallen und die russische Regierung com-
promittiren können, die, obgleich sie Europa insultirt, sich doch in Peters¬
burg darin gefällt, einen gewissen Liberalismus zu affeetiren; deshalb sei diese
Schrift in Moskau veröffentlicht worden, dem Heiligthume des altrussischen
Geistes, dessen übelriechende („nausvalzonäLs") Elucubrationen in der „LrÄ2<zttö
ac Noscou" bis nach Paris gelangten. Weiter macht Herr Leger auf ver¬
schiedene Stellen aufmerksam, die eine merkwürdige Verdummung des russi¬
schen Bauern anzeigen, eine Verdummung, die heute nur lächerlich und be¬
dauernswerth ist, vor der sich Europa aber in Acht nehmen-möge, da man
bei einem Volke, wie das russische, von der Knute und dem Fanatismus
Alles erwarten könne. „Noch einmal hat Europa verabsäumt, den Deich
auszubessern, welcher den Welttheil nach Osten hin decken sollte. Gebe Gott,
daß die Fluth nicht eines Tages über Europa hereinbreche: die Macht, welche
die gefährlichste auf der Welt ist, die Macht, welche die Kaiserreiche gebrochen'
hat, die Macht, welche uns heute bedroht, das ist die Macht der trägen
Masse!"
Ob der pariser Czechophile wohl noch heute dieselbe Sprache über den
Slavenmessias führen mag? Schwerlich; die Böhmen und Südslaven, deren
Politische Bestrebungen Herr Leger vertritt und versieht, gehen in ihren pan-
slavistischen Sympathien noch viel weiter als Herr Leger es vor dem frau-
zöstscheu Publicum auszusprechen gewagt hat. Der Russenhaß und vielleicht
auch die Russenfurcht der Franzosen sind zu stark, als daß ihm nicht schon
bei geringer panslavistischer Nüancirung die nationalen Bestrebungen der
verschiedenen slavischen Völker mißliebig werden sollten. Herr Leger ist des¬
halb auch in seiner politischen Agitation für slavische Interessen in Paris
mehr oder weniger ein Prediger in der Wüste.
Mehr Erfolg scheint er auf rein literarischem Gebiete zu haben. Seiner
unermüdlichen Thätigkeit in Revüen, Broschüren und größeren Werken ge¬
lingt es vielleicht wirklich, der Kenntniß slavischer, namentlich böhmischer Ge¬
schichte und Literatur ein weiteres Publicum zu gewinnen. — Wie wir hören,
wird er diesen Winter in den „Louis annexW als ig, Lordorms" (einer neuen
Einrichtung, die der deutschen Privatdocentur entspricht) Vorlesungen über
südslavische Literatur halten und ohne Zweifel dazu beitragen, daß den Fran¬
zosen die slavischen Dinge nicht mehr völlig böhmische Dörfer sind. Er müßte
es übrigens sehr geschickt anfangen, wenn er seine französischen Zuhörer ver¬
hindern wollte, die Bemerkung zu machen, daß sich Literaturen doch nicht so
aus der Erde stampfen lassen und daß die nöthigen Dichter und Schriftsteller
nicht auf der flachen Hand wachsen. Mit der rechtzeitigen Auffindung eini¬
ger mehr oder minder authentischen Manuscripte, mit der Errichtung von
Akademien ist es eben noch nicht gethan. Vor allen Dingen — künstlich läßt
sich so etwas nicht hervorbringen und die Treibhauscultur ist auf Geistes-
producte nicht anwendbar; doch dem Allen wird die Zeit sein Recht
werden lassen.
Dem neuerdings von Deutschland entlehnten Institut der Privatdocenten,
einer Einrichtung des um den secundären und namentlich um den höheren
Unterricht so verdienten Unterrichtsministers Duruy (der sür diese Zweige
während der kurzen Zeit seiner Amtsdauer mehr gethan, als alle die berühm¬
ten Namen, die in den letzten dreißig Jahren seine Amtsvorgänger waren),
diesen Lours lmuexes as ig. Lordonng, denen jetzt ein eigenes Gebäude neben
der alten Sorbonne errichtet wird, können wir als einer Stätte ernsthafter
Gelehrsamkeit, in der namentlich auch die Resultate der friedlich erobernden
Thätigkeit des deutschen Geistes auf dem Felde der Wissenschaft unsern über¬
rheinischen Nachbarn vermittelt werden, nur von Herzen Glück und Gedeihen
wünschen. Diese Einrichtung tritt jetzt in das zweite Jahr ihres Bestehens
und zu mehreren vortheilhaft bekannten Namen, die bereits im ersten Jahre
ihr Programm zierten und unter welchen namentlich Gaston Paris zu nen¬
nen ist', der bekannte Verfasser der „Ilistoire po6tiquv d«z LiligrlömgZne",
welcher auch in Deutschland eines wohlverdienten wissenschaftlichen Rufes ge¬
nießt, treten jetzt außer Herrn Leger noch mehrere Neue hinzu, unter
welchen wir namentlich Charles Morel, den bekannten Redacteur der
Rovue ol-itiquö und tüchtigen Archäologen und Latinisten erwähnen. — Möge
Herr Leger auf diesem neuen Felde der Wirksamkeit sich veranlaßt sehen,
außerhalb aller politischen Agitation die Resultate seiner Specialstndien seinen
Landsleuten zu vermitteln und dadurch zur Klärung der kindlichen Vorstel¬
lungen beitragen, die man sich in Frankreich immer noch von allem Nicht¬
französischen macht.
Disraeli hat nicht nur die äußerlich würdigste, sondern vor Allem die
klügste Politik befolgt, als er die Welt mit seinem Entschluß vor Eröffnung
des Parlaments zurückzutreten überraschte. Er hatte Alles aufgeboten, um
vor den Wahlen die Actien der Conservativen in die Höhe zu treiben: in
den Banketten für den neuen amerikanischen Gesandten Reverdy Johnson
wurde die Lösung der schwebenden Streitfragen durch ein schon unterzeich¬
netes Protokoll verkündet und beim Lord-Mayors-Schmause sogar die Fata
Morgana einer allgemeinen Vermittelung Englands heraufgezaubert, welche
allen Kriegsbefürchtungen ein Ende machen sollte. Aber es half Nichts, die
Wahlen wurden zur schwersten Niederlage der Tones und nachträglich er¬
fährt jetzt das Publicum, daß die Ausgleichung mit Amerika noch in weitem
Felde ist, während Niemand auf dem Continent Lord Stanley's gute Dienste
nachgesucht hat. Aber was noch schlimmer für Disraeli erschien, war, daß
in feinem eigenen Lager Zwiespalt ausbrach: Lord Stanley wollte der Glad-
stone'schen Offensive durch weitgehende Concessionen in der irischen Kirchen¬
frage die Spitze abbrechen, die Altconservativen wollten hiervon Nichts hören;
so wäre er nicht nur einer sicheren Niederlage im Parlament entgegen¬
gegangen, sondern hätte nicht einmal in der Thronrede ein Programm für
die Stellung der Regierung zu Stande bringen können; es wär daher sicher
das Klügste, diese demüthigende Eventualität zu vermeiden und sich in den
Mantel der gewissenhaftesten Ergebung in das Urtheil der Wählerschaften
zu hüllen, nach welchem es als Gebot der Ehre und Pflicht für das Mi¬
nisterium erscheine, nicht einen Tag unnöthigerweise im Amt zu bleiben.
Disraeli tritt nun wieder in die Offensive der Opposition zurück, welche viel
leichter für ihn ist, da er mit einem bestimmten Programm gar nicht heraus¬
zurücken braucht, sondern sich darauf beschränken kann, das Gladstone'sche zu
bekämpfen.
Sehr richtig war es auch von Disraeli, daß er der Königin nicht aus
Ranküne gegen seinen Nebenbuhler empfohlen, Lord Granville mit der Bildung
eines Ministeriums zu beauftragen, da dies die Königin nur in eine schiefe
Stellung gebracht haben würde, weil der genannte Peer den Auftrag hätte
ablehnen und erklären müssen, daß Gladstone allein als Premier möglich sei.
Derselbe ist denn auch ohne große Schwierigkeiten mit der Bildung seiner
Verwaltung zu Stande gekommen, aber dieselbe bietet gleichwohl überraschende
Momente. Zunächst ist der Charakter des Ministeriums keineswegs so fort¬
schrittsmäßig liberal, wie man es wohl erwartet hat, Gladstone hat es keines¬
wegs als seine Aufgabe angesehen, die Scheidewand zwischen dem Liberalis¬
mus und Radikalismus niederzubrechen, sondern hat sich nach dem Charakter
der Wahlen gerichtet; es ist mit Ausnahme Bnght's ein Whigcabinet. wie
es Palmerston ohne großen Widerstand hätte acceptiren können. Forster und
Stansfield haben sich mit Plätzen zweiten Ranges begnügen müssen. Brtght
selbst war im Cabinet nicht zu entbehren; er wäre außerhalb desselben auch
in einer schiefen Stellung gewesen, da er es hätte unterstützen müssen und
doch keine Verantwortlichkeit getragen hätte. Aber man glaubte, daß ihm
ein wichtigerer Posten zufallen würde, wenigstens ein Staatssecretariat wie
das des Innern: er hat sich mit dem des Präsidenten des Handelsamts be¬
gnügt oder begnügen müssen. Ob diese Wahl vom sachlichen Gesichtspunkte
besonders glücklich ist. steht dahin. Die Abschaffung der wichtigsten Zölle,
die Bright als sein Programm verkündet, wird er in jener Stellung nicht
durchsetzen, denn das schlägt ins Gebiet des Schatzkanzlers. Daneben ist es
fraglich, ob er zu der Function taugt, die augenblicklich besonders dem Han¬
delsamt obliegt. Bekanntlich ist beschlossen, sämmtliche Telegraphen zu expro-
priiren und unter den Betrieb der Regierung zu stellen, außerdem verlangt
man allgemein für die Eisenbahnen zum wenigsten eine scharfe Controle, damit
den zu Tage gekommenen Sccmdalen in der Verwaltung derselben ein Ende
gemacht werde. Bright aber ist als abstracter Manchestermann principiell
gegen die Einmischung des Staates in solche Verhältnisse; unserem Gefühl
nach hätte Göschen's klarer, eombinirender Kopf besser für diese Aufgabe
gepaßt. Die Hauptsache sür das Cabinet ist indeß die parlamentarische Unter¬
stützung, welche ihm Bright auf der Ministerbank geben wird und die es
nicht entbehren konnte. Wie er übrigens mit seinem alten Gegner in der
Reformfrage, Löwe, auf die Länge zusammengehen kann, bleibt noch ein
Räthsel, obwohl derselbe in seiner letzen Rede an der londoner Univer¬
sität plötzlich ziemlich radicale Sätze aufstellte, z. B. das Oberhaus zu
einem amerikanischen Senate umzubilden vorschlug. Jedenfalls hat Löwe's
Ernennung zum Schatzkanzler noch mehr Wunder genommen als die Bright's;
unter allen Ccmdtdaten hätte man zuerst wohl aus Cardwell gerathen, der
als specieller Schüler Peel's sich hauptsächlich mit Finanzfragen beschäftigt.
Daß Löwe dies gethan, hatte bisher Niemand gewußt und sein schlechtes Ge¬
sicht (er ist Albino) wird ihn zu Studien in Zahlenmassen nicht besonders
geeignet machen; man hat ihm wohl mit Rücksicht darauf zwei Unterstaats-
secretäre (Zeeretaries ok tus Ireasur^) gegeben; die leitenden financiellen
Ideen werden von Gladstone kommen und des Schatzkanzlers Aufgabe wird
wie die Bright's wesentlich eine parlamentarische sein, zu der ihn seine große
Beredsamkeit in hohem Grade geeignet macht. Gleichwohl hätte Gladstone
sich Löwe durch einen'andern Posten sichern können, z.B. wenn er ihn zum
Kriegsminister gemacht hätte. Da dies nach englischen Traditionen gewöhn¬
lich ein Civilist ist, so wäre Löwe's Energie wahrscheinlich sehr am Platze ge¬
wesen, die so dringlichen Reformen auf diesem Gebiete durchzuführen, was
der friedliche Cardwell, von dessen Interesse für Kanonen und Batterien Nie¬
mand bisher gehört hat, schwerlich bewirken wird. Und doch läßt sich die
englische Art der Recrutirung sicher ebensowenig lange halten, wie die Thei¬
lung der Geschäfte zwischen dem Kriegsministerium und den Horse-
Guards. —
Gladstone, Löwe, Bright und Cardwell sind im Unterhause die Mi¬
nister auf deren Schultern die Leitung der großen politischen Fragen
ruhen wird; im Oberhause wird Lord Granville Führer sein und bei seiner
würdigen und versöhnlichen Weise und anerkennenswerther Redegewandt¬
heit diese Aufgabe gewiß gut durchführen. Der Herzog von Argyll, früher
General-Postmeister, hat den Staatssecretärposten für Indien übernommen,
den er durch seine bedeutenden Gaben auszufüllen im Stande sein wird; außer¬
dem hat er einen trefflichen Unterstaatsseeretär an Grant Duff erhalten,
obwohl wir denselben bei seiner deutschfreundlichen Gesinnung noch lieber
in gleicher Stellung im auswärtigen Amte gesehen hätten. Indeß auch
Mr. Otway, dem dieser Posten zugefallen, ist durchaus deutsch gesinnt und in
Deutschland erzogen. Sein Chef ist nicht wie man vermuthete Lord Kimber-
ley geworden, der sich vielmehr mit einem untergeordneteren Posten hat be¬
gnügen müssen, sondern Lord Clarendon ist auf seinen früheren Posten zu¬
rückgekehrt, obwohl er noch kürzlich erklärte, er sei zu alt und kränklich da¬
zu. Daß er Deutschland unfreundlich gesinnt sei, ist unbegründet; er hat als
entschiedener Liberaler wohl starke Bedenken gegen die innere Politik Bis-
march's geltend gemacht und bezweifelt , ob man mit solchen, Mitteln zum
Ziele kommen werde, aber an sich hat er sich der Einigung Deutschlands
immer sympathisch gezeigt. Außerdem hat er jetzt den Vortheil nicht mehr
Lord Russell neben sich zu haben, dessen unglückliche auswärtige Politik das
ganze Ministerium disereditirte. Am wenigsten wird sich Fürst Gortschakoff
über seine Ernennung zu freuen haben, denn Clarendon's Antecedentien sind
entschieden antirussisch und als Unterzeichner des pariser Friedens wird er
Alles aufbieten um im Einklang mit Frankreich und Oestreich den russisch,
griechischen Agitationen entgegenzutreten. Außerdem bringt er dem Cabinet sür
die nächste Hauptfrage eine besonders werthvolle Unterstützung, weil er längere
Zeit Mcekönig von Irland war und als solcher mit Autorität über die Kirchen¬
frage sprechen kann. Secretär für Irland ist Forteseue geworden, der Mann
der bekannten Lady Waldegrave, der Egeria der Whigs; er hat sich durch
^ eingehende Studien und einige tüchtige Schriften über irische Verhältnisse
bekannt gemacht.
Die augenblickliche kurze Session des Parlamentes ist nur zum Ein¬
schwören der Mitglieder bestimmt; erst Mitte Januar wird die eigentliche
Arbeit beginnen; bis dahin muß Gladstone seine Bill über die irische Kirche
einbringen und alle Welt erwartet mit Spannung, was er vorschlagen wird.
Leicht ist seine Aufgabe nicht: Disraeli wird das Seinige thun sie so schwer
wie möglich zu machen und seine Stellung in der Opposition wird um so
gefährlicher als er jeden Compromiß annehmen kann, welcher nur die Staats¬
kirche nicht vollkommen zerstört, während Gladstone sich durch seine Resolu¬
tionen schon für dieses Extrem gebunden hat. Das Schiff des neuen Ca-
binets ist vom Stapel gelaufen, aber erst die Folge wird zeigen, ob und wie
es schwimmen kan».
Für die politische Welt pflegt bereits der 24. December den Jahresschluß
zu bezeichnen und die letzte Deeemberwoche der Ruhe gewidmet zu sein. In
diesem Jahre kann es leicht geschehrn, daß die sonst neutralen letzten Deeem-
bertage kriegerischer und ereignißvoller werden, als die 355 Tage, welche ihnen
vorausgegangen waren. In Spanien ist der Bürgerkrieg ausgebrochen, der
schon nach dem ersten Monat Prim-Serrano'scher Politik voraus zu berechnen
war; im Orient stehen Türken und Griechen einander mit entfesselter Leiden¬
schaft gegenüber; Oestreich zeigt trotz seiner unaufhörlichen Friedensversicherungen
die deutliche „Absicht, aus der Zurückhaltung, in welche es durch das Jahr
1866 versetzt worden, wieder herauszutreten; in Frankreich ist ein Minister¬
wechsel eingetreten, dessen Bedeutung sehr viel disputabler ist, als die. Opti¬
misten wahr haben wollen; in England ist Lord Clarendon Leiter des aus¬
wärtigen Amtes geworden und die deutsche Frage droht durch die Rüstungen
der offenburger Coalition gegen das Ministerium Jolly in eine neue Phase
von wesentlich reaktionären Charakter gezogen zu werden.
Was zunächst den türkisch - griechischen Conflict anlangt, so steht über
denselben nur fest, daß er mit dem Sturz des Ministeriums Bratiano in Ver¬
bindung steht und daß die Pforte erst seit sie an der Donau degagirt wor¬
den die. Möglichkett gehabt hat, energisch gegen Griechenland, als den intel.
lectuellen Urheber der Fortdauer des Candiotenaufstandes vorzugehen. Im
Uebrigen wissen wir nur, was über die Dinge gesagt wird, nicht wie es
wirklich um dieselben bestellt ist. Die Journale Frankreichs und Englands
begnügen sich damit die Haltung des griechischen Cabinets zu tadeln, lassen
aber völlig unerörtert, daß dasselbe unter dem Druck einer nationalen Agi¬
tation steht, die der jungen Dynastie leicht über den Kopf wachsen kann,
wenn sie sich den Volkswünschen unzugänglich erweist. In Wien bemüht man
sich das neue rumänische Cabinet für ebenso friedensgefährlich auszugeben wie
das frühere und die hohe Pforte in den Anläufen zu einer energischen
Haltung nach Kräften zu unterstützen; die offieiöse preußischePresse wälzt dagegen
die Hauptverantwortung, für die Friedensstörungen im Orient auf den zum
Grafen ernannten Reichskanzler von Beust — nur darin sind die Organe
der verschiedenen Länder und Farben einig, daß die europäischen Großmächte
allesammt bemüht seien, einen Ausgleich zwischen dem Divan und dem Mi¬
nisterium Bulgaris herbeizuführen. Daß auch Rußland an diesen Bestre¬
bungen Theil nehme und die griechische Nachgiebigkeit ebenso lebhaft wünsche,
wie irgend einer der anderen betheiligten Staaten, ist bis jetzt von Niemanden
in Zweifel gezogen worden, obgleich die russische Presse eine von der west¬
europäischen wesentlich verschiedene Sprache spricht. Auch der Invalide hofft
auf die Möglichkeit einer Verständigung, aber er erklärt zugleich, daß die
türkischen Forderungen nur sehr theilweise zu erfüllen seien; seiner Meinung
nach ist der Vorwurf einer Unterstützung des Candiotenaufstandes durch den
griechischen Staat oder die griechische Regierung vollständig unbegründet —die
griechische Gesellschaft habe es nicht über sich gewinnen können,die unter dem
Joch der barbarischen Muselmänner schmachtenden Brüder ohne Weiteres
Preis zu geben, und die Regierung könne sie an der Bethätigung dieser
löblichen Empfindungen nicht verhindern, ohne die Verfassung und nament¬
lich das verfassungsmäßige Coalitionsrecht zu verletzen. Wenn hinterher ver¬
sichert wird, Griechenland könne immerhin im Einzelnen nachgeben, z. B.
der Rückkehr der geflüchteten Candioten in ihre Heimath keine Hindernisse in
den Weg legen, so will das Nichts sagen: daß die Türkei sich mit der Er¬
füllung dieser einen Forderung nicht begnügen kann, nachdem sie in ihrem
Ultimatum Garantien gegen jede fernere Unterstützung der Aufständischen
verlangte, liegt auf der flachen Hand. Gegenstand des Unwillens und Störer
des orientalischen Friedens ist in den Augen des russischen ofstciösen Blattes
überhaupt nicht Griechenland, sondern Oestreich, welches die Pforte aufge-
hetzt, England auf die Seite der Türkei gebracht und dadurch Preußen ge¬
nöthigt hat, die bekannte Schwenkung in der rumänischen Frage vorzunehmen
und dadurch die Pforte zu degagiren. Noch weiter gehen die Organe der
national-russischen Partei: nicht Oestreich — Preußen ist an d'em Conflict
zwischen Türken und Griechen Schuld; Graf Bismarck hat diesen Handel an¬
gestiftet, um Frankreich abzulenken, nachdem ihm die Erreichung dieses Zwecks
weder in Spanien, noch in Rumänien, noch in der Bulgarei gelungen war.
An diese in heftigster Weise vorgebrachte Anschuldigung knüpft sich dann die
erneute Forderung, die Situation richtig zu benutzen, dem isolirten Frank¬
reich die Hand zu bieten und über Preußens Kopf hinweg mit Napoleon III.
ein Bündniß zu schließen.
Entsprechend dieser Verschiedenheit in der Auffassung des türkisch-griechi¬
schen Conflicts stehen sich auch die Meinungen der verschiedenen Cabinette
über die gegenwärtige Lage in Rumänien ziemlich unvermittelt gegenüber.
Während man in Berlin der Ansicht ist, das Ministerium Ghika-Golit-
scheano habe in ruhige und friedliche Bahnen gelenkt, während die Russen
darüber klagen, daß Rumänien sich vollständig der Pforte gefügt und dieser
dadurch freie Hand gegeben habe, bleiben die wiener Officiösen dabei, daß
Bratiano nach wie vor die Seele der Negierung bilde, daß nur die Namen
gewechselt hätten und daß das bukarester Cavinet nach wie vor den Frieden des
Welttheils gefährde. Auch in Paris scheint man über die rumänische „Gefahr"
keineswegs ganz beruhigt zu sein.
Wie die Dinge wirklich stehen und ob die Kriegsgefahr drohend ist,
wird schwerlich irgend Jemand wissen; alle Conjecturen darüber sind vergeb¬
lich. Aber auch ohne Kenntniß der wahren Sachlage und blos auf Grund
dessen, was die officiösen Organe der verschiedenen Staaten für ihre Meinung
ausgeben, läßt sich behaupten, daß der Ausbruch eines wirklichen Conflicts
zwischen Freunden und Feinden der Pforte im gegenwärtigen Augenblick für
uns eine Verlegenheit wäre. Preußen müßte seine Partie nehmen, ohne vor¬
aus berechnen zu können, wie weit es gehen will — selbst der Einsatz und
Gewinn, auf den für den Fall einer neuen Blutarbeit an der orientalischen
Frage für uns zu rechnen wäre, ist ein schwankender. Kommt es zu einem
wirklichen Zusammenstoß, so steht Preußen nicht nur zwischen Nußland und
Frankreich, sondern zugleich zwischen Rußland und England. Eine Ver¬
ständigung zwischen Napoleon III. und dem großen Slavenstaat ist an und
für sich unwahrscheinlich, doch aber nicht unmöglich — sicher ist nur, daß
diese Verständigung auf Unkosten Preußens erfolgen würde. Bleibt es bei
einem Zusammengehen des berliner Cabinets mit Petersburg, so muß Preußen
sich soweit engagiren, daß seine guten Beziehungen zu England für die Dauer
nicht mehr haltbar bleiben.
An all diese Möglichkeiten zu denken, ist freilich jeht noch nicht an der
Zeit; will man aber ein klares Bild unserer wirklichen Situation behalten,
so dürfen sie nicht außer Augen gesetzt werden — auch nicht bei Beurtheilung
jener Fragen der inneren Politik, welche so sehr im Vordergrunde der öffent¬
lichen Aufmerksamkeit stehen, daß sie und nicht unsere Beziehungen zum Aus¬
lande die Kriterien für die Parteinahme und die Gesinnungsgenossenschaft in
Deutschland bilden. Der andere Grund, aus welchem die Bedeutung, welche
der türkisch-griechische Conflict für unsere Zukunft hat, häufig genug über¬
sehen wird, ist die Gewöhnung daran, immer nur nach Frankreichs augen¬
blicklichen Stimmungen und Absichten zu fragen. Diese gelten seit der Er¬
nennung Lavalette's zum Nachfolger des Marquis de Moustter für besonders
friedliche — nicht sowohl, weil Herr v. Lavalette an und für sich eine Friedens¬
garantie bietet, als weil die Befürchtungen vor der Reactivirung Drouyn's
de Lhuys unerfüllt geblieben sind. An Lavalette's Namen knüpfen sich sogar
Hoffnungen auf eine friedliche Haltung Frankreichs in der orientalischen
Frage, da dieser Staatsmann sich im Februar 1853 abberufen ließ, um nicht
die Verantwortung für einen Bruch mit Rußland auf sich zu laden. An
der gegenwärtigen Beurtheilung Lavalette's haben das Friedensbedürfniß und
der Optimismus offenbar einen bedeutenden Antheil: wie die französische Re¬
gierung es fertig bringen will, auf dem gegenwärtig beschrittenen Wege der
Repressiv« im Innern Frieden zu behalten und zugleich mit Preußen und
Rußland auf gutem Fuß zu bleiben, ist aber um so schwerer abzusehen, als die
Griechen sich eigentlich schon um die Möglichkeit des Nachgebens gegen die
Pforte gebracht haben. — Was Frankreichs Beziehungen zu uns anlangt, so
werden die Leser der vielbesprochenen Mediationsartikel des Journal des
Debats sich der Empfindung kaum erwehren können, daß dieselben auf ein
Ultimatum gestellt sind, dessen Einhaltung beiden Theilen gleich schwerfällt.
Der Preis, um den die Debats den europäischen Frieden gewahrt glauben,
kann unsererseits nicht gezahlt werden, und die Franzosen glauben bereits
eine Concession zumachen, wenn sie sich die Auslegung des prager Friedens
dauernd gefallen lassen, welche die Basis unserer gegenwärtigen Beziehungen
zum Süden bildet. Freilich wenn man keine anderen politischen Barometer
zur Hand nimmt, als die Aeußerungen der officiösen Journale von Paris
und Berlin, fo steht Alles zum Besten. Man braucht aber nur nach Wien
hinüber zu sehen, um andere Eindrücke zu erhalten — und unserer Meinung
nach ist kein Grund vorhanden, aus welchem der frühere Zusammenhang
zwischen wiener und pariser Stimmungen gegenwärtig nicht mehr bestehen
sollte. Nahm man noch vor Kurzem an, daß die pariser Lärmtrompeten
immer zugleich im eigenen Namen und in dem der wiener Regierung er¬
klangen, so ist nicht abzusehen, warum nicht gegenwärtig die Rollen ge¬
tauscht sein sollten. Sind doch die Regisseure unverändert dieselben geblieben.
Aber diese Erwägungen, in denen man sich zwei Jahrelang bis zum Ueber-
druß erging und deren Nichtberückstchtigung für ein Zeichen des gröbsten
Dilettantismus galt, sind jetzt zurückgestellt und die Conjecturalpolitiker haben
die Friedenssicherheit plötzlich zur Bedingung jeder Art politischer Zurech-
nungsfähigteit gemacht. Gerade wie damals gehen wir auch jetzt im Nebel
und die Sprache scheint der Presse nur gegeben zu sein — nicht um die
Gedanken, sondern um die Thatsachen zu verhüllen.
Neben den Baudin-Processen und den polizeilichen Untersuchungen über
die Demonstrationen vom 2. und 3. December stehen die spanischen Nachrich¬
ten im Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit von Paris. Die großen
Tage des Gaulois und seiner madrider Gönner sind rasch zu Ende gegangen;
das von der provisorischen Regierung bewaffnete Volk hat seine Waffen gegen
diese Negierung und damit zugleich gegen die Sache der Revolution gewandt.
Carlisten und Clericale der verschiedensten Richtungen haben sich mit den
Republikanern verbunden, um die mühsam gewahrte Ordnung über den Hau¬
fen zu werfen und in den trüben Wassern eines allgemeinen Bürgerkrieges zu
fischen. Zwar sind die Rebellen von Cadix nach ziemlich hartem Kampf zur
Unterwerfung gezwungen worden — aber um einen hohen Preis. Die An¬
leihe, welche eben im Gange war, ist auch nach der Meinung der Freunde
der provisorischen Regierung als gescheitert anzusehen und es bedarf eines
besonders günstigen Gangs der Dinge, damit die Börsen auch nur zu der
Simmung zurückkehren, welche sie vor dem cadixer Pronunciamiento zeigten.
Dem steigenden Einfluß der Republicaner und ihrer Bundesgenossen wissen
die Regierungsmänner Nichts entgegen zu setzen, als langathmige Manifeste,
die dieselben Dinge bis zum Ueberdruß wiederholen. Keines der Glieder der
provisorischen Regierung kann sich rühmen in der Meinung seiner Landsleute
eine wirklich unerschütterliche Ehren-und Machtstellung zu besitzen; der Glaube
an die Ehrlichkeit der Prim, Serrano :c. reicht nicht weiter als ihr Parteieinfluß
und daß der General-Capitän der spanischen Armee ausdrücklich versichern mußte,
daß er sich nicht mit ehrgeizigen und egoistischen Plänen trage, beweist, daß
der moralische Credit dieses Mannes in Spanien auf ebenso schwachen Füßen
steht, wie sein politischer Credit im übrigen Europa.
Wie die Sache der konstitutionellen Monarchie auf der Halbinsel gerettet
werden soll, wissen ihre Freunde uns am wenigsten zu sagen: die kleinen
Mittel, mit denen eine Regierung unbändig werdende Massen zu bändigen pflegt,
sind verbraucht worden, ehe die provisorische Regierung auch nur selbst wußte,
was sie damit wollte. Das eine große Mittel zur Sammlung und Concentration
des Volkswillens und der Volkskraft, die Aufstellung einer ernstlich gewollten
Throncandidatur ist im rechten Augenblick versäumt worden und kann nicht
mehr nachgeholt werden, zumal der leitende Staatsmann selbst erklärt hat,
in dieser Beziehung keine bestimmten Ueberzeugungen zu besitzen und nur dem
guten Glück Spaniens zu vertrauen. Hat sich zur Zeit der Flitterwochen
der spanischen Revolution kein europäischer Prinz gefunden, der zur Thron¬
folge Jsabella's II. Neigung und Fähigkeit zeigte, so sind die Hoffnungen,
einen solchen ausfindig zu machen, seit den Stürmen von Cadix unter Null
gesunken. Von der Republik aber irgend Etwas für die Freiheit jenseits der
Pyrenäen zu erwarten, ist von Hause aus das Privilegium einzelner unverbes¬
serlicher Doctrinäre gewesen, deren Zahl sich neuerdings noch beträchtlich
vermindert haben dürfte, und so ergibt sich schon jetzt das Chaos als letztes
Resultat. Hätte die französische Regierung nicht durch die Ungeschicklichkeiten
der letzten Monate allzu tief in das eigene Fleisch geschnitten und stünden
für Frankreich nicht Neuwahlen vor der Thür, welche die Activität der alten
Parteien ungewöhnlich gesteigert haben, so hörte die spanische Revolution
wohl schon in nächster Zukunft auf, die Handlungsfreiheit Napoleon's III.
zu beschränken. Diese Revolution und ihren moralischen Einfluß auf die
Franzosen gefürchtet zu haben, gehört zu den deutlichsten Armuthszeugnissen,
welche das zweite Kaiserthum sich selbst ausgestellt hat.
Die constituirenden Cortes treten erst im Februar des nächsten Jahres
zusammen, das englische Parlament ist nach der Constituirung des neuen
Cabinets Gladstone-Clarendon-Löwe-Bright bis zu dem gleichen Zeitpunkt
vertagt worden, der Zeitpunkt für die Wiedereinberufung des Lorxs
IgM noch nicht bekannt; die Volksvertretungen beider östreichischen Reichs¬
hälften, das italienische Parlament und die Kammern von Preußen, Bayern
und Württemberg haben ihre winterliche Thätigkeit bereits aufgenommen.
Während man in Stuttgart und München noch damit beschäftigt ist, das
Räderwerk der konstitutionellen Maschine in Gang zu bringen, die schwäbische
Volksvertretung eine jener großen europäischen Adreßdebatten vorbereitet, mit
denen die Kleinstaaterei sich herkömmlich für ihre äußere und innere Ohnmacht
entschädigt, sitzt man in Preußen bereits tief in der praktischen Arbeit. Seit
die Budgetberathungen im Plenum üblich geworden sind, hat für den preußi¬
schen Parlamentarismus ein neuer Lehrcursus begonnen, an dessen instruk¬
tiver Wichtigkeit wir nicht zweifeln, der aber zugleich die Unfertigkeit unseres
konstitutionellen Lebens aufs Deutlichste nachgewiesen hat. So lange das
eigentliche Gewicht in den Commissionsverhandlungen lag, trugen die Plenar-
versammlungen das Gepräge einer formalen Sicherheit, die allerdings für die
Masse der Außenstehenden imposant war. dem Verständniß derselben aber
ebenso wenig abwarf, wie der Förderung der nicht zu diesen Commissionen ge¬
hörigen Parlamentsglieder. Das ist gründlich anders geworden, seit die
Oeffentlichkeit der Verhandlungen zur Wahrheit geworden ist und auch Nicht-
eingeweihte mit dem eigentlichen Mechanismus der Budgetbehandlung bekannt
gemacht hat. Die eine Debatte über das Cultusministerium hat uns be¬
wiesen, wie viel noch zu thun ist. damiö unsere Volksvertretung auch nur
den Einfluß vollgiltig ausübt, den ihr die Regierung zugesteht und über
dessen Beschränktheit wir bisher zu klagen gewohnt waren. Im preußischen
Abgeordnetenhause ist zu viel wirkliche Tüchtigkeit und zu viel guter Wille
vorhanden, als daß nicht schon von dieser Debatte gelernt und der Wieder¬
kehr ähnlicher Mißerfolge durch Verstärkung der Parteidisciplin vorgebeugt
werden könnte und darum braucht es uns noch nicht zu gereuen, daß der
große, lang vorbereitete Angriff auf den Unterrichtsminister in den Sumpf
verlaufen ist. Und ein Sumpf ist es, in den die Wasser der parlamentarischen
Beredtsamkeit den zum Ziel führenden Weg verwandelt haben. Der gegen¬
wärtige Zeitpunkt und ganz besonders der Vorgang mit dem Justizm'inister
Leonhardt hätten allerdings wünschenswert!) gemacht, daß das Abgeordneten¬
haus der Regierung den ganzen Umfang des Gewichts zeige, das ihm immer
noch geblieben; aber es ist für eine gesunde, nicht blos auf den Schein
gerichtete Entwickelung unseres parlamentarischen Lebens zu hohe Zeit, als daß
Mißgriffe und Unfälle bedauert werden dürften, die gemacht werden konnten,
von denen sich aber, wenn sie gemacht wurden. Etwas für die Zukunft lernen
läßt. Ob schon die nächste Zukunft für die Verwerthung der gemachten Er¬
fahrungen günstig sein wird, mag dahin gestellt bleiben; das aber dürfte fest¬
stehen, daß die Fähigkeit zum Lernen überhaupt zugenommen hat, seit das Jahr
1866 die Nothwendigkeit einer Revision unserer politischen und parlamenta¬
rischen Begriffe schlagend nachwies.
Daß die Zahl der umbekehrten Deutschen immer noch eine sehr beträcht¬
liche ist, haben wir leider in dem letzten Monat durch ein neues Exempel
erfahren müssen und zwar von einer Seite her. die lang genug für ein Muster
parlamentarischer Reife galt. In Baden ist das Ministerium Jolly, der ein-
zige sichere Vorposten, den die nationale Sache südlich vom Main besitzt, die
einzige Regierung, welche mit ihrer deutschen Gesinnung Ernst machte und den
Worten die entsprechenden Thaten folgen ließ —in seinem Bestände erschüttert
worden und zwar nicht durch die Uebermacht „feudaler" oder ultramontaner
Gegner, nicht durch das Geschrei unzurechnungsfähiger Föderativ-Republicaner
oder „europäischer" Demokraten, sondern durch die Disciplinlosigkeit und Kurz¬
sichtigkeit der eigenen Freunde, die sich durchaus der Philisterschaar gleichstellen
wollen, für welche es nur das Entweder-Oder der Theorie gibt und die was
sie besitzt aus Händen geben will, weil sie nicht Alles hat. Was für das Kennt-
zeichen wahrer politischer Bildung und bisher für den besondern Ruhm des
badischen Liberalismus galt, die Fähigkeit alle Kräfte auf ein Hauptziel zu
concentriren, in weiser Selbstbeschränkung, continuirlich und nicht sprungweise
vorzurücken, gesicherten Besitz chimärischen Möglichkeiten vorzuziehen — das
Alles soll kleinlichen Verstimmungen des Augenblicks, localen Rücksichten und
Vorurtheilen geopfert werden, auf deren Verständniß außerhalb Badens die Män¬
ner von Offenbach selbst nickt rechnen und für die man um die Namen ver¬
legen sein wird, wenn dereinst über die große deutsche Sache Abrechnung
gehalten wird. Wenn die badischen Unzufriedenen irgend gewissenhaft sind,
so werden sie sich selbst sagen müssen, daß es sich bei der Entscheidung über
Sein oder Nichtsein des Ministeriums Jolly in erster Linie um ein Interesse
handelt, über welches sie gar kein Verfügungsrecht besitzen, weil es kein speci¬
fisch badisches ist. Gäbe es wirklich eine große nationale Partei — und die
badischen Liberalen haben sich mit Stolz zu dem Kern derselben gezählt—so
durften die Männer von Offenburg nicht wagen, ohne-Zustimmung dersel¬
ben eine Negierung-zu stürzen, welche Freunden und Feinden bis jetzt für die
beste Garantie der nationalen Sache im Süden, das wesentlichste Hinderniß jenes
Südbundes galt, dessen Aufrichtung die Hälfte aller Errungenschaften von
1866 in Frage stellte. Zum Ueberfluß steht noch außerdem fest, daß das
Zustandekommen dieses Bündnisses die Liberalen Badens um die Arbeit
eines Jahrzehnts bringen und ihre intimsten Gegner in die Herrschaft ein¬
setzen würde. Aber das Alles wird herkömmlich außer Augen gesetzt, wo
die deutsche Leidenschaft der Rechthaberei in kleinen Dingen ein Mal erregt,
die Möglichkeit aufgethan ist, urtheilslosen Wählern die frohe Botschaft von
einem neuen Siege des parlamentarischen „Princips" zu verkünden. So
sind die Hoffnungen auf Ernüchterung^ und Besinnung in der elften
Stunde als ziemlich gering anzusehen. Ob die preußische Regierung dieser
Gefährdung des einzigen zuverlässigen Alliirten im Süden ruhig zusehen oder
durch dieselbe zu einem entscheidenden -iHchritt in der deutschen Frage ver¬
anlaßt werden wird, hängt wesentlich davon ab, ob die Lage der großen
europäischen Politik dieselbe bleibt oder ob der türkisch-griechische Conflict
einen Umschwung und eine Klärung herbeiführt. Erst nach der Entscheidung
hierüber wird es überhaupt wieder möglich sein, über die Aussichten des
Z. 1869 sür Deutschland zu urtheilen und nicht blos zu conjecturiren.
Mit Mr. A beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Dostämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im December 1868.Die Verlagshandlung-