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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur.
27» Jahrgang.
I. Semester. I. Band.
Leipziq,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig,
Er. Will), Grmiow.)
18lZ8.
Schulze: Einleitung in d. d. Staatsrecht:c.
S. 36. — Eras, Jahrbuch der Volks-
wirthschaft. S. 319. — Grundzüge der
couserv. Politik. S. 320. — Rückert
poet. Werke. S. 436. — v. Donner,
Handbuch d. Musikgesch. S. 436. —
Roskicwicz: Studien über Bosnien :c.
S. 437. - W. Ditmar, der deutsche
Zollverein B. 2. S. 438. - Nöhring,
Album der Baudenkmals. S. 439. —
Otto-Walster, an der Schwelle des euro¬
päischen Kriegs. S. 439. — Biedermann,
Deutschland im 18, Jahrh. II. 2. S. S17.
— Droysen, Aischylos. 'S. S17. —
Graf Münster, Antheil an den Ereignissen
V. 1866. S. 520.
Es gibt einige sociale Wahrheiten, über welche in der Theorie alle Welt
einig ist und die in der Praxis von Staaten und Einzelnen mit großer
Naivetät verleugnet werden. Zur Besprechung einer solchen allbekannten
und viel gemißhandelten Wahrheit wählt dies Blatt die Christwoche, in
welcher Menschenfreundlichkeit und billige Rücksicht sür die Schwächen des
Nächsten oben auf sind. Denn es ist dabei nicht die Absicht, wehe zu thun,
vielmehr zu gewinnen, und heilsam, nicht schädlich zu werden. Vielleicht ist nicht
unnütz, das längst Giltige wieder einmal von den Gesichtspunkten zu betrach¬
ten, welche dem Deutschen durch die politischen Ereignisse der letzten Jahre
nahe gelegt sind.
Ueber den politischen Werth, welchen das Institut des deutschen Adels
für die Nation hat, mag die Nachwelt urtheilen, welche diese sociale Erfin¬
dung als eine historische Erscheinung vom Anfang bis zur Vollendung über¬
sehen wird. Die Institution ist uns aus dem Mittelalter überkommen, sie
ist entstanden unter einer Staatsform, welche mit dem modernen Staat
wenig Aehnlichkeit hat; sie hat in verschiedenen Jahrhunderten sehr verschie¬
dene Bedeutung gehabt. Jetzt ist sie zahlreichen unserer Landsleute, Mit¬
bürger und Freunde ein werther Familienbesitz, für viele Tausende ein we¬
sentliches Moment ihrer Selbstachtung, insofern auch ein Quell von sittlichen
und ethischen Forderungen, die sie an sich und ihre Genossen stellen.
Wir wollen also bereitwillig zugeben, daß der Adel nicht wenigen eine
wesentliche Stütze und Bereicherung ihres Lebens ist; wir halten die
Freude, welche dem Sohn eines alten Geschlechts ansehnliche und ge¬
ehrte Vorfahren gewähren, für höchst berechtigt; wir alle sind willig zu
rühmen, wo in der Vergangenheit unserer Adelsgeschlechter Tüchtigkeit und
ein wohlthätiger Einfluß auf die großen Interessen der Nation erkennbar ist;
ja wir sind auch bereit, uns um die Wette mit unsern adligen Freunden
an-den schwierigen Problemen der adligsten aller Wissenschaften, der Heraldik,
zu versuchen, und über den Ursprung des Rautenkranzes und aller Sparren
und Schrägbalken Vermuthungen aufzustellen, und wir erklären eifrig, daß
wir durchaus in der Ordnung finden, wenn deutsche Hausfrauen bei jedem
geselligen Vergnügen ihrer adligen Freundin den besten Sophaplatz und die
erste Schale Kaffee anbieten. Wir halten allerdings für kein Glück, wenn
einzelnen unserer Adligen die Phantasie begehrlich auf Zuständen der Ver¬
gangenheit haftet, wo die Privilegien des Adels zahlreicher, seine Herren¬
stellung im Volke unzweifelhaft war, aber wenn solche Vorliebe für abge¬
storbene Rechte hier und da das Urtheil unserer Mitbürger über die Bedürf¬
nisse des modernen Staates beschränkt, so werden wir auf gesetzlichem Kampf¬
platz, in der Presse und in parlamentarischen Körperschaften, eine freiere und
größere Auffassung ihrer Pflichten ihnen gegenüber geltend machen. Zuletzt
wiederholen wir freudig die Anerkennung, daß viele Namen unsers Adels
mit unsern theuersten Erinnerungen, mit großen Erfolgen auf Schlachtfeldern,
in Wissenschaft und Kunst eng verbunden sind, und daß die Nachkommen alter
Landbeschädiger durch loyale Hingabe an die besten Interessen des Staates
mehr als einmal das Unrecht der Väter in ausgezeichneter Weise gesühnt
haben. Nirgend so sehr und so ruhmvoll als in Preußen.
Aber eine andere Frage ist, ob eine fortwährende Vermehrung unserer
Adelsfamilien durch modernen Briefadel für die Geadelten selbst, für die
Regenten, welche den Adel ertheilen, und für die Nation nützlich, gleich-
giltig oder schädlich ist. Unleugbar neigt die große Majorität der Zeit¬
genossen zu der letzten dieser drei Ansichten.
In den despotischen Staaten, welche die deutschen Fürsten mit ihren
Beamten auf den Trümmerhaufen des 30jährigen Krieges neu ordneten und
welche bis zu dem französischen Wetterswrm im Aufgange dieses Jahrhun¬
derts bestanden, war die Nation nach den Traditionen früherer Zeit in
Stande gegliedert, die Familienhäupter des hohen Adels waren die Regen¬
ten , den ersten Stand ihres Landes bildete der niedere Adel. Seine Standes¬
rechte waren damals groß und für einen aufstrebenden Mann in Wahrheit
begehrenswerth. Denn es hatte der landsässige Adel, das heißt diejenigen
Familien, welche seit alter Zeit als adelig in der Landschaft begütert waren,
fast allein durch Geburt das Recht des Domanialbesitzes auf dem Lande —
die zahlreichen Ausnahmen zu Gunsten einzelner Städte, Bürger und Cor-
porationen beruhten nicht immer, aber in der Regel ebenfalls auf Privilegien.
— Der Adlige mit acht und mehr Ahnen besaß das nicht weniger werthvolle
Vorrecht, seine Söhne und Töchter in einer großen Anzahl geistlicher Stifter
versorgen zu können, er allein hatte mit seinen Frauen die Hosfähigkeit, das
heißt das Vorrecht, seinen Landesherrn in Gesellschaft und höherem Hofdienst
zu umgeben. Der Adel war nicht ausschließlich im Besitz der Offizierstellen
und der höheren Staatsämter, aber er wurde bei diesen Carriuren in so aus¬
gezeichneter Weise begünstigt, daß er allerdings befugt war, diese Stellen
als einen Standesbesitz zu betrachten, und daß jedes Herauskommen eines
Bürgerlichen als eine grobe Unregelmäßigkeit erschien. Das Interesse des
fürstlichen Staates machte aber schon damals das Eintreten neuer Menschen¬
kraft in ritterlichen Grundbesitz, Offiziers- und Beamtenstellen nothwendig, und
den Nichtadeligen wurden Adelsbriefe gegen Geld und aus Gnade reichlich
ertheilt. Wer sich heraufbringen wollte als Gutsbesitzer, Offizier, Beamter,
kaufte einen Brief. Alle größern Landesherren ertheilten die Briefe, welche
in ihrem Lande den Adel verliehen, aber für den in ganz Deutschland gil¬
tigen Adelstand galt nur der kaiserliche Hof als der vollberechtigte Spender,
andere deutsche Fürsten, die Preußen und Sachsen erst, seit sie als Souve¬
räne eine Königskrone außerhalb des Reiches trugen. Ein Adelsbrief gab
aber durchaus nicht alle Vorrechte des Adels, zwar Offizieren und Beamten
galt er als genügend, weil hier die persönliche Tüchtigkeit doch eine Haupt¬
sache blieb; für Erwerbung des rittermäßigen Grundbesitzes mußte in vielen
Territorien, vor allen in den kaiserlichen Erbländer, außer dem Diplom,
welches zum „Edeln" machte, ein zweiter Ritterbrief gekauft werden, und
auch dieser öffnete dem Neuling nicht sofort die Aufnahme' in die Corpora¬
tion des landsässigen Adels. Der Zutritt zu adeligen Stiftern aber und die
Hvsfähigkeit wurden durch Brief nicht erworben, vollends nicht für Frauen
und Töchter der Geadelten.
In dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts rüttelte die Aufklärung
ein wenig an diesen Verhältnissen; die Landesherren, welche das Bedürfniß
fühlten, sich mit der neuen Bildung des Bürgerthums in Verbindung zu setzen,
nahmen sich die Freiheit, die alte Ordnung ihres Hofes gering zu,achten,
und es war nicht unnatürlich, daß dieser Despect an einzelnen Höfen Mode
ward. Die freiere Ansicht von Menschenwerth, welche vielen der bessern
Fürsten gekommen war, wirkte nach jeder Richtung wohlthätig auf die Be¬
setzung der Staatsstellen, zuweilen auch auf den persönlichen Verkehr und
dadurch auf Ansichten und Bildung des Landesherrn, aber als Regel bestand
bis über die französische Revolution in ganz Deutschland das alte Adelsrecht,
und wenn Goethe, Schiller und Andere von ihren Herren wohlwollend mit des
Kaisers Brief beschenkt wurden, so geschah dies immer mit der Empfindung,
daß sie erst durch solche Gnade für den Verkehr mit ihrem Landesherrn legi-
timirt und in den Rang der Vollfreien Deutschlands erhoben würden. Und
diese Ansicht lebte nicht nur an den Höfen, auch im Volke, trotz den bereits
zahlreichen Opponenten, welche das Ideal eines neuen Staates, der noch
nicht eristirte, in ihrer Seele trugen.
Seit Napoleon das römische Reich zerbrach und durch die Erhebung der
norddeutschen Stämme zerbrochen wurde, constituirten sich auf ganz neuer Grund¬
lage die deutschen Staaten. Seit dem Jahre 1813 kam für den Adel, vor
andern für den preußischen, eine merkwürdige Uebergangszeit, welche bis zur
Gegenwart währt. Einige politische Privilegien, die er als Stand im Staate
besessen, waren gleich den Rechten und Beschränkungen der übrigen Stände
aufgehoben, das Vorrecht des adeligen Grundbesitzes und der Standschaft,
die fast ausschließliche Bevorzugung bei Offiziers- und höhern Beamtenstellen.
Aber er dauert als ein besonderer politischer Stand im Staate, die
Regenten fahren fort, den Adel als erbliches Familienvorrecht oder auch als
persönliche Auszeichnung zu ertheilen. Schon im Jahre 1812 ward in Preußen
ein verlebter Orden neu constituirt, der nur Adeligen verliehen wurde, auch
bei andern Orden fordert die oberste Klasse den Adel. Bedenklicher war,
daß für gemeine Verbrechen adeligen Individuen ihr Adel aberkannt wurde,
denn alsdann mußte der Richter, allem Volke fühlbar aussprechen, daß über
dem Volk eine Classe von erblicher Rechtschaffenheit und Ehre bestehen und da¬
durch erhalten werden solle, daß sie ihre unwürdigen Mitglieder in das Volk
herabstoße. Und was wichtiger war, dem Adel bleibt das Hofrecht und den Sou¬
veränen die Pflicht, alle Ehrenämter ihres Hofes mit Adeligen zu besetzen, auch
für die Staatsämter, welche zu regelmäßigem Verkehr am heimischen oder am
fremden Hofe verpflichten, gilt der Adel als Erforderniß. Und es erhält sich
wenigstens Neigung und Tendenz, höhere Offizier- und Beamtenstellen mit
Adeligen zu besetzen und für diese Functionen den wohl geeigneten Nicht¬
adeligen den Adel zu ertheilen. Man unterläßt nicht, auch Künstlern und Ge¬
lehrten von Bedeutung, oder wenn sie sich zufällig "dem Hofe empfehlen,
einen Adelsbrief zu schenken, außerdem aber Adelsbriefe an Bewerber aus¬
zutheilen, zuweilen gegen Geld, ja es bestanden in einigen Staaten bis
fast zur Gegenwart feste Preise für die einzelnen Adelstitel, und es hals
wenig, daß man diese Kaufsummen nur als Ausfertigungstaxen darzustellen
suchte, und die persönlichen Verdienste des Geadelten als Hauptsache; dieselbe
Beschönigung eines abgeschmackten Geschäftes hatten schon die Habsburger
vergeblich versucht. Dabei fuhren die Regenten fort, ihre Verleihungen als eine
Erhebung in höheren Stand zu bezeichnen. Auch die Regierungen hatten
zuweilen die Empfindung, daß solche privilegirte Stellung eines einzelnen
Standes nicht ganz in der Ordnung sei, man vermied vielleicht, in den
Statuten eines adeligen Ordens die letzte Vorbedingung für die Aufnahme
zu erwähnen, man versuchte vergeblich eine Unterscheidung zwischen staats¬
bürgerlichen Rechten und Ehrenrechten, zwischen Stand und Rang u. s. w.
Unter den Bürgerlichen, welche in diesen fünfzig Jahren geadelt wurden,
sind einige unserer besten Männer. Wer als Diplomat hohe Interessen zu
vertreten hatte an einem Hofe, wo die Adelstraditionen galten, dem war der
Adel wie die Uniform, der Titel und andere Decorationen eine bequeme
Hilfe für den Verkehr mit Anspruchsvollen, und er durste, falls ihm die
Adelsprädicate angeboten wurden, eine Ablehnung nachtheilig für die
großen Geschäfte halten, welche zu fördern sein Beruf war. Wir sind auch
nicht gemeint, streng zu urtheilen über den jungen Offizier, der unter den
adeligen Kameraden Brief und Wappen für begehrenswerth fand, obgleich
er einem großen Prinzip des neuen Staats und wahrscheinlich allen seinen
bürgerlichen Kameraden weh that. Und ferner möchten wir besondere Nach-
sicht erbitten den deutschen Künstlern, welche höchst souverän im Reich der
Farben. Töne und schöngeschwungenen Linien walteten, und doch auf deut¬
schem Boden, in einem noch armen und mühevoll erwerbenden Volk von der
Gnade eines kleinen Fürsten abhingen, wenn ihnen in enger Lust der Künst¬
lerstolz klein wurde und wenn sie, unpolitische Männer, einmal vergaßen, daß
der von keinem irdischen Fürsten einen Adelsbrief nehmen darf, den eine
höhere Macht selbst gefürstet hat der Nation zu Freude und Segen. Schwerer
wird uns, den Mangel an Selbstgefühl und politischem Tact bei den zahlrei¬
chen bürgerlichen Industriellen und Gutsbesitzern zu entschuldigen, die in der
Höhe ihres Mannesalters, mitten im Volk stehend, eine Verleihung des Adels
als Auszeichnung für sich begehren.
Denn wie kommt es doch, daß die. Nation mit Unwillen und Spott, ja
mit sehr lebhafter Mißachtung, auf solche Ertheilung neuen Adels blickt, zumal
wenn sie einer Bewerbung folgt? Ist es Neid, welchen die distinguirende
Hervorhebung des Einzelnen aufregt? Ist es deutscher Unwille über die
Eitelkeit und das Streben nach äußerlicher Distinction? Ist es Parteigeist,
welcher einen ansehnlichen Bürger nicht übergeführt sehen will in einen
Stand, der in seiner Majorität immer noch politische und sociale Anschau¬
ungen bewahrt, welche den Quellen bürgerlicher Thatkraft und bürger¬
lichen Ehrgefühls nicht völlig entsprechen? Oder ist es im letzten Grunde
ein größerer politischer Vorwurf, welcher gegen solche erhoben wird, die sich
den Adel suchen?
Angenommen, es wäre in unsrer Zeit noch möglich, zwischen dem Regen¬
ten und den Regierten einen erblichen Adelstand von Gentlemen aufzurichten,
welcher die Tendenz hat, alle in sich aufzunehmen, die durch Vermögen,
Talent und ansehnliche Stellung aus dem Volke herausragen, so würde
bei cousequenter Durchführung dieses Prinzips zunächst das Volk zweitheilig
zerschnitten, ein durchaus unerträglicher Gegensatz zwischen Herrschenden und
Beherrschten hervorgerufen. Freilich auch im Laufe der Zeit der Adel selbst
vernichtet, denn die Kinder und Nachkommen aller Männer, welche in solcher
Weise aus dem Volk herausgehoben sind, würden bei einer Abnahme ihrer
Tüchtigkeit und ihres Vermögens vor dem Zurücksinken in die Masse des
Volkes doch nicht bewahrt werden können, und man könnte im besten Fall
nichts schaffen als eine immer zahlreicher werdende Kaste von Braminen
oder Radschputen, denen für unehrlich gelten würde, hinter dem Pfluge her¬
zugehen oder Sohlen zu schneiden. Bis zuletzt nach Jahrhunderten so ziem¬
lich das ganze Volk aus Gentlemen in Lumpen bestehen müßte.
Da aber Niemand an eine solche conseguente Verleihung des Adels
denkt, was soll dann die fortgesetzte Scheidung der Staatsbürger in zwei
Kategorien, welche als Kaufleute, Gutsbesitzer, Offiziere, Beamte in glei¬
cher Thätigkeit neben einander stehen? Ist für die Geadelten der Adel irgend
etwas, ein Mittel, besser Carriere zu machen, mit höher Stehenden auf
gleichem Fuß zu verkehren, ein wirklicher Schmuck und eine Erhebung ihres
Lebens, so wird bei dem besten Herzen und der größten Billigkeit ihrer
Berufsgenossen von diesen die Bevorzugung Einzelner immer als ein Un¬
recht gegen alle Uebrigen empfunden werden. Und eine Verleihung des
Adels wird die Mehrzahl der nicht Nichtgeadelten selbst in dem Falle de¬
müthigen und benachtheiligen, wenn der Adel nur wirklichem persönlichem
Verdienst und nur auf Lebenszeit verliehen würde; wir wissen, daß dies
nicht der Fall ist.
Alles Leben und Gedeihen des modernen Staates beruht darauf, daß
neue Familienkraft reichlich und unablässig aus den kleinen Kreisen mensch¬
licher Thätigkeit emporringe und ohne jedes Hinderniß für jeden Zweck des
Staates nutzbar gemacht wird. Der Staat als solcher darf nichts dazu
thun, um träge, schwache und untüchtige Familien in anspruchsvoller und
geschützter Stellung zu conserviren und dadurch frischer Menschenkraft Raum
und Luft zu verengen. Wenn eine Familie der naturgemäßen Neigung
folgt, ihre Angehörigen durch gesetzliche Mittel des Privatrechts, im Be¬
sitz von Land oder Vermögen auf mehrere Geschlechter zu erhalten, so ist
das ihre Sache, der Staat wird solche conservirte Familienkraft zu gebrauchen
wissen, soweit sie seinem Interesse dient. Wenn unser alter Adel in der
Erinnerung an angesehene Vorfahren eine ihm vorzugsweise fließende Quelle
von politischer Zucht und Sittlichkeit, von treuer Hingabe an den Staat
und von edlem Selbstgefühl gegenüber Russen und Franzosen findet, so würde
dies allerdings ein Gewinn für den Staat, auch Freude und Gewinn für
die Nation werden. Niemand wird zu behaupten wagen, daß ein Adelsbrief,
der jetzt erlangt wird, solche wohlthätige Wirkungen habe, er mag weichen
und schwachen Empfindungen des Individuums wohlthun, er ist aber nichts
weniger als Beweis eines gesunden Kraftgefühls, und wir leugnen deshalb
sehr entschieden, daß er die Kraft und politische Sittlichkeit der nächsten Ge¬
ratenen des Geadelten zum Vortheil für den Staat steigern werde.
Und um endlich das Allbekannte mit groben Worten zu sagen, wir
Deutsche haben allen Respect vor einem wackern Edelmann, und gönnen
ihm herzlich gern seine Ehren und Titel. Aber wir sehen nicht, und wir
glauben nicht, daß unser Adel nach irgend eine< Richtung tingere, bessere
und tüchtigere Männer und Frauen hervorbringe, als andere gebildete Kreise
unseres Volkes. Weder in Wissenschaft und Kunst, noch in der Landwirth¬
schaft, noch in der Politik, sogar nicht da, wo er am bravsten ist, im Heere
räumen wir dem Adel einen Standesvorzug größeren Talentes und stärkerer
Kraft ein. Dagegen fühlen wir wohl, daß er besondere Schwächen der In¬
dividuen begünstigt, gerade weil er noch einiges von einem gesonderten Stande
hat. Und deshalb meinen wir, wenn jetzt ein Bürgerlicher den Adel für sich
sucht, so thut er es nicht, um gebildeter, besser, kräftiger zu werden, sondern
aus begehrlicher Eitelkeit, aus Schwäche oder um sich und den Seinen kleine
Vortheile zu schaffen. Und deshalb verübeln wir ihm den erbetenen Wappen¬
brief um so mehr, je mehr wir ihm politisches Urtheil zutrauen.
Auch unsere Fürsten haben in der Gegenwart jede Ursache, der Nation
gegenüber den Schein zu vermeiden, als ob ihnen der Bürger ihres Staates
erst mit einem Adelsprädicat für vollberechtigt gelte. Die alte Hoffähig¬
keit, jenes Vorrecht des Mannes von altem landsässigen Adel, mit seiner
ebenbürtigen Frau und seiner Familie sich bei Hofe zu präsentiren und
mit seinen Standesgenossen die ausschließliche Umgebung der Souveräne
zu bilden, ist in neuer Zeit kein Privilegium des alten Adels geblieben; sie
ist namentlich in Preußen sehr erweitert worden, wo alter Adel nicht ein¬
mal mehr als Vorbedingung zu einer Hofcharge gilt, wo vollends in der
Adjutantur und in den höchsten Beamtenposten auf das Alter des Adels
wenig Rücksicht genommen wird. Wohl aber ist unsern Souveränen, mit
sehr einzelnen Ausnahmen, immer noch die Empfindung anerzogen, daß von
den Landeskindern nur der Adelige für den Tagesverkehr des Hofes vollbe¬
rechtigt sei. Wahrscheinlich hat auch der beste und freieste Fürst Stunden,
wo ihn diese Anschauung untilgbar beherrscht.
Allerdings, das Bedürfniß, mit den verschiedenen Kreisen des Volkes in
Verbindung zu treten, mit Individuen von anderartiger Bildung zu verkehren,
hat an jedem Hofe zu geselligen Auskunftsmitteln geführt, durch welche der
Regierende sich für einzelne Stunden Nichtadelige zu nähern vermag. Im
Ganzen aber bildet die Gesellschaft jedes Hofes einen Adelskreis, der
die erlauchten Familien eng umschließt. Nicht gering ist die Zahl ausge¬
zeichneter und guter Menschen, welche an deutschen Höfen den Hoshalt
unserer Herren zieren. Ja es sei hier, und nicht zum ersten Mal, die Ansicht
ausgesprochen, daß gegenwärtig, im Ganzen betrachtet, der Adelige in solcher
Hosstellung weit besser ruhiges Gleichgewicht und eine wohlthuende Sicher¬
heit zu bewahren versteht, als wir dem strebsamen Nichtadeligen zutrauen.
Auch soll durchaus nicht der Wunsch ausgesprochen werden, daß jemals
Phantasie und Ehrgeiz des Bürgerthums nach solchem Amt dränge. Aber die
Freiheit soll unsern Herren werden, jede Art von Gentlemen aus ihrem Volke
um sich zu sammeln, damit die größte Gefahr ihrer hohen und isolirten Stel¬
lung beseitigt werde, die Abhängigkeit von den Anschauungen und Vorur-
theilen eines bestimmten Standes; denn diese Abhängigkeit hat nur zu oft
beigetragen, ihr Verständniß und Urtheil über die höchsten Interessen des
Staates zu verengen. Solange der Adel die Hoffähigkeit als sein Vorrecht
betrachten darf, sind unsere Fürsten in Gefahr, in dem Gesichtskreise deutscher
Junker zu beharren, und ihrerseits wieder der Loyalität ihres Adels einen Zu¬
satz von höfischer Unselbständigkeit und von Carriöresucht zu geben, welcher
die Tüchtigkeit vieler ehrenwerthen Männer nicht steigert. So ist dem Fürsten
nicht weniger als dem Staat nachtheilig, wenn er neue Kraft, die er an
sich heranziehen möchte, dadurch vom Volke isolirt, daß er ihr die Traditio¬
nen und Ueberlieferungen eines bestimmten Standes aneignet.
Aus diesen Gründen ist es für Regenten nicht vortheilhaft, die Zahl
unserer adeligen Familien durch neue Adelsdiplome zu vermehren, den
Nichtadeligen aber ein Unrecht, solche Verleihung für sich zu suchen.
Leider ersolgt die Ertheilung der Adelsdiplome in der Regel nur auf
das Gesuch Begehrlicher, und in manchen Jahren ist, wie man vernimmt,
der Andrang von eitlen Bewerbern besonders stark. Als Act freiwilli¬
ger Gnade scheint die ungesuchte Ertheilung eines Adelsbriefes und Wap¬
pens fast nur bei Thronbesteigung oder andern außergewöhnlichen Staats-
actionen. Es hat deshalb dem ganzen Volke wohlgethan, daß man in
Preußen nach den Siegen des Jahres 1866 völlig vermieden hat, unter
die Decorationen und Gnadenbeweise auch die Verleihung des Adels an Bür¬
gerliche aufzunehmen. Möge dies Prinzip fortan in Preußen Geltung be¬
halten und das Königsgeschlecht der Hohenzollern seine Hingabe an die Be-
dürfnisse des neuen Staates auch dadurch erweisen, daß es von einem
Fürstenrecht, welches aus weit andern Kulturzuständen überkommen ist.
fortan nicht mehr Gebrauch mache. Dann wird der stille Gegensatz, welcher
hie und da noch zwischen den Interessen des Adels und des Volkes zu Tage
kommt, sich von selbst leise und allmählich, ohne daß darum Acte der Gesetz¬
gebung nöthig wären, in den Fortschritten versöhnen, welche Wohlstand,
und Bildung, und die Hingabe Aller an das Vaterland machen.
Die Panzer-Fregatten der preußischen Marine sind für den Kampf
auf hoher See bestimmt und werden die Aufgabe haben, feindliche Flotten,
namentlich Blokadeflotten aus unseren Meeren zu vertreiben oder dieselben
in ihren eignen Gewässern und Häfen anzugreifen und zu vernichten. Da
zu diesem Zwecke die Schiffe im Stande sein müssen, größere Reisen zurück¬
zulegen und doch ihren Kohlenvorrath bis zur Zeit des Kampfes aufzusparen,
so haben sie sämmtlich eine umfängliche dreimastige Vollschifftakelage, mit
Raaen an allen drei Masten, oder wenigstens eine Barktakelage, mit Raaen
an den beiden vorderen Masten, wie fast alle Panzerfregatten der übrigen
Nationen. Und da ferner diese Fregatten auch für schlechtes Wetter einen
hervorragenden Grad von Seefähigkeit besitzen müssen, so sind sie sämmtlich
nach dem Breitseitensystem gebaut, das wegen der großen Höhe des Schiffs¬
körpers und somit des Oberdecks über Wasser — Hochbordigkeit — von allen
jetzt eristirenden Systemen") die größte Seefähigkeit besitzt. Denn wie bei
Besprechung des „Arminius" und des Coles'schen Systems bemerkt wurde,
die Höhe der Geschützmündungen über Wasser — bei allen Schiffen aller Ma¬
riner etwa 5—9 Fuß, — ist das normgebende Moment. Bei dem Thurm-,
dem Kuppel-, dem Kasematten-Schiff liegt das Oberdeck niedriger als die
Geschützmündung, bei dem Breitseitenschiff höher, dies kann also nicht so sehr
von Wellen überspült werden, und gewährt im Sturm, wenn man die
Stückpforten schließt, eine beträchtlich größere Sicherheit.
Ein Nachtheil des Breitseitcnsystems ist allerdings, daß es stets nur die
Hälfte seiner Geschütze nach einer Flanke gebrauchen kann, und daß auch diese
Geschütze aus den Pforten nur einen kleinen Winkel, also ein beschränktes
Feld mit ihrem Schusse beherrschen — indessen ließe sich dem letzteren Uebel¬
stand größtentheils durch Need'sche Jndents abhelfen, eine Einrichtung, auf
die wir unten eingehen wollen. — Als Breitseitenschiffe mit dreimastiger
Takelage bieten die Panzerfregatten, abgesehen von kleinen Eigenthümlich¬
keiten in Form des Bugs, des Heath, der Stückpforten u. s. w. dem Anblick
kaum einen Unterschied gegen Holzfregatten oder Sloops, nur haben sie keine
weiße Batterie, sondern sind ganz mit dem schwarzen Panzer bedeckt; ihrer
Geschützausrüstung nach wären sie eigentlich als gepanzerte gedeckte Corvetten
zu bezeichnen, da sie wie diese auf dem Oberdeck nur an jedem Ende ein
paar Pivotgeschütze, sonst aber alle Geschütze in der Batterie und zwar stets
nur einer Batterie führen.
Als die preußische Regierung vor zwei Jahren an Erweiterung der
Flotte ging, bestellte sie zuerst zwei Panzerfregatten der gewöhnlichen Größe
(3000—4000 Tons) für zusammen etwa 3.900.000 Thlr im Auslande, da
die Fabrikation des Inlandes noch nicht im Stande war, derartige Schiffe
zu liefern oder überhaupt 4 —8zottige massive Walzeisenplatten herzustellen,
und zwar ließ man eine dieser Panzerfregatten in England auf der Werft
bauen, die uns mit dem „Arminius" schon gut bedient hatte, die andre in
Frankreich bei einem Etablissement, daß sich durch den Bau der in vielen
Beziehungen ausgezeichneten spanischen Panzerfregatte „Numancia" einen sehr
geachteten Namen erworben hatte. Beide Schiffe sind vor kurzem vollendet"
und von der preußischen Negierung übernommen worden.
Eine dieser Fregatten, und zwar die in England gebaute, ist der „Kron¬
prinz", 16 Kanonen, 800 Pferdekraft, 3404 Tons (englisch — und zwar
duiläers msasurement), nach dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm
benannt, ein ganz vorzügliches Schiff, das in Manövrirfähigkeit und Schnel¬
ligkeit zu den allerbesten seiner Klasse gezählt werden muß, und in der Pan¬
zerdeckung wenigstens dem Gros der fremden Panzerschiffe als vollständig
ebenbürtig zu betrachten ist.
Schon die Dimensionen des „Kronprinz" lassen gute Eigenschaften er¬
warten. Seine Länge in der Wasserlinie beträgt 277V-. Fuß (zwischen den
Perpendikeln 286 Fuß englisch), verspricht also eine gleich gute Lenkbarkeit
und Manövrirfähigkeit wie bei den französischen Panzerfregatten, die in diesem
Punkte den englischen Monstreschiffen unbestreitbar überlegen sind und, von
feindlichen Widderschiffen angerannt, viel leichter ausweichen können. Seine
Brette in der Wasserlinie beträgt dabei nur 48'/^ Fuß (auf Deck SO Fuß
englisch), sodaß seine Länge SV«, mal größer ist als seine Breite, also in einem
für die Schnelligkeit äußerst günstigem Verhältniß steht, und bei der Probe¬
fahrt nach englischen Berichten die bei „rauhem Wetter" für Panzerschiffe
fast unerhörte Schnelligkeit von 14'/» Knoten ermöglichte, fast 2 Knoten
mehr als der allerschnellsten englischen Holzfregatte, dem „Orlando", dem
„Wunder der Meere", zugeschrieben wurden. Die Tiefe im Raum (Holl —
ZkM ok tue Jwiä, die Distanz zwischen Kiel und Deckbalken) beträgt 36
Fuß, vom Sprung bis zum Oberdeck äußerste Raumtiefe 36'/» Fuß, der
durchschnittliche Tiefgang dagegen ist nur 23'/, Fuß, etwas weniger als bei
den meisten Panzerfregatten anderer Nationen, sodaß der „Kronprinz" den
letzteren in jedes Fahrwasser zu folgen vermag, auch bei ungünstigster Stau-
ung liegt er hinten nicht mehr als 26 Fuß im Wasser. Entsprechend den
eben angegebenen Dimensionen bestimmt sich das Deplacement*) der Panzer¬
fregatte auf S600-S700 englische Tons, und da der ganze Schiffskörper von
Eisen ist, wie bei den meisten englischen Panzerschiffen, also bedeutend leich¬
ter, als wenn er aus der starken Holzconstruction der französischen Panzerfre¬
gatten bestände, ergiebt sich schließlich eine Tragfähigkeit von 3404 Tons,
die dem Schiff 600 Tons Kohlen an Bord zu nehmen gestattet.
Die Formen des Schiffkörpers sind den besten Modellen nachgebildet.
Das Hinterschiff ist ziemlich voll gehalten und in der Wasserlinie, von der
es senkrecht aufsteigt, weit nach hinten überbaut, so daß es die Schraube
des Schiffs und das Steuerruder gegen Schüsse von oben oder gegen ein
Anrennen völlig deckt. Als Steuer soll „Kronprinz" ein balaneeä ruääer
bekommen, wie die meisten neueren Panzerfregatten Englands. Das Steuer
bewegte sich bekanntlich bisher an einem senkrechten Pfosten, dem Hintersteven,
wie eine Thür in Angeln, also um eine Are, die ganz im Rande der Thür¬
fläche liegt, und die Ruderpinne, der horizontale Balken, welcher gerade in
entgegengesetzter Richtung wie die Thür in das Innere des Schiffes hinein¬
geht, hat somit die ganze Fläche der „Thür" durch das Wasser zu pressen,
wenn er behuf des Steuerns bewegt wird. Diese Arbeit war schon bei den
früheren größeren Schiffen nicht unbeträchtlich, hat sich aber bei den colossalen
Dimensionen und der großen absoluten Schwere und Trägheit der Panzer¬
schiffe ins Unerträgliche gesteigert, bis man dem Uebelstand durch das sinn¬
reich erfundene Balance Ruder abhalf, dessen Prinzip übrigens schon auf
den altgriechischen Ruderkriegsschiffen zur Anwendung gebracht worden ist.
Die senkrechte Are, um welche das Nuder sich dreht, wird nämlich beim
modernen Balance Nuder nicht mehr in die vordere Kante desselben, sondern
nahezu in die Mitte der „Thürfläche" verlegt, jedoch etwas mehr nach
vorn als nach hinten, somit paralysirt bei der Bewegung der Pinne der
Widerstand der vorderen Ruderfläche den Widerstand eines gleich großen
Stücks der Hinteren Ruderfläche, und nur der Ueberschuß der letzteren bleibt
durch die Pinne zu bewegen, was natürlich sehr leicht geschieht und dennoch
die Steuerwirkung der ganzen Fläche nicht im Mindesten beeinträchtigt.
Hoffentlich wird man übrigens bei allen norddeutschen Panzerschiffen eine
Verbesserung dieses Nuderprinzips anbringen, die auf der diesjährigen Pariser
Ausstellung zu sehen war, und wonach im Hinteren Theil der Ruderfläche
noch Einschnitte sind, welche für starke Eisenbügel zur Verbindung des Ruder¬
pfostens mit der Nuderare Platz lassen und das ganze Ruder viel mehr als
bisher zu sichern gestatten.
Auch die Form des Bugs, des Vordertheils, ist bei der Panzerfregatte
„Kronprinz" nach dem Vorbild der besten englischen und türkischen in Eng¬
land gebauten Panzerschiffe gewählt. Während der Vorsteven, die vordere
Kante des Schiffskörpers im oberen Theile senkrecht niedergeht, beginnt sie
sich in der Nähe der Wasserlinie leise nach außen zu krümmen und setzt sich
dann unter Wasser in Form eines Halbkreises oder eines noch flacheren Kreis¬
bogens aufspringend fort, dessen Scheitel nach vorn gerichtet ist. Diese Form
ist einmal vorzüglich dazu geeignet, das Wasser gut zu durchschneiden und
das Vorschiff im Ganzen zu stärken, besser als der gewöhnliche Bug der Holz¬
schiffe: sodann aber bietet sie für den Fall, daß das Anrennen eines feind¬
lichen Schiffes möglich werden sollte, erhebliche Vortheile vor den anderen
bekannten Bugformen. Die meisten französischen Panzerschifftypen, z. B.
Linienschiff „Magenta", Fregatte „Marengo", Corvette „Alma", auch einige
italienische Panzerfregatten, z. B. „Maria Pia", und auch unser „Prinz
Adalbert" haben vorn einen Sporn (öperon, sporomz), eine massive außer¬
ordentlich weit, bis 30 Fuß nach vorn aufspringende Spitze. Dabei dieser
Construction die im Anrennen wirksamen Theile nur eine ganz kleine Fläche
bieten, wird allerdings der Stoß eine größere Kraft haben und weiter in
das feindliche Schiff eindringen, als bei allen anderen Bugformen. Aber
dieses tiefe Eindringen ist ein Fehler, kein Vortheil, da nicht Festhalten
des Gegners, sondern Zerbrechen der Schiffswand, damit das Wasser ein¬
dringen kann, Zweck des Anrennens ist, und durch spitzen Sporn die Ge¬
fahr vergrößert wird, daß das eigene Schiff sich im Gegner sestbohrt und
die Freiheit seiner Bewegung völlig verliert. Dies hatten schon die altgrie¬
chischen Schiffsbaumeister mit dem feinen praktischen Sinn, den alle ihre
Einrichtungen zur Schau tragen, erkannt: sie gaben ihren Nuderkriegsschiffen,
die vornehmlich durch Anrennen des Gegners zu wirken bestimmt waren,
und denen Napoleon III. seinen Schiffssporn entlehnt hat, vorn nicht eine
einzelne scharfe, sondern meist eine dreizackige Spitze, deren mittlere Zacke
ein klein wenig weiter hervorragte, sodaß, wenn die Zacken ein wenig in die
feindliche Schiffswand eingedrungen waren, die zwei kürzeren ein weiteres
Eindringen hinderten, während sie doch zugleich auch ihrerseits die Schiffs¬
wand noch mehr zerbrechen halfen.*) Wie groß die Gefahr, sich festzubohren
und hängen zu bleiben^ für die neueren Widderschiffe mit einem Sporn ist,
haben französische Versuche in Toulon gezeigt, die gegen ein altes dienstun¬
tüchtiges Holzschiff angestellt wurden, und wo bei der Probe das Widder-
schiff sich so fest in das Holzschiff einbohrte, daß man. um das erstere nur
zu befreien, letzteres mit Pulver lossprengen mußte. Und daß andrerseits
das Anrennen mit einem ganz senkrechten Vorsteven genügt, der also gar
keine Spitze hat, sondern blos wie mit einer scharfen Axtschneide wirkt, hat
in der Seeschlacht bei Lissa die östreichische Panzerfregatte „Erzherzog Ferdi¬
nand Max" gezeigt, die, wie alle östreichischen Panzersregatten mit senkrech¬
tem stahlüberkleideten Vorsteven construirt, dennoch die starke gepanzerte
Wand des italienischen „Rh d'Italia" dermaßen einräumte, daß die Schiffs¬
wand förmlich in zwei Hälften zerschnitten und das Schiff sofort zum Ver¬
sinken gebracht wurde. Wenn nun hiernach ein senkrecht abfallender Vor¬
steven auch sür das Einrennen völlig genügt, so hat er doch den Nachtheil,
daß er nicht so allmälich wie ein gewölbter Steven einschneidet, und daß
die vorstehenden Theile des eignen Vorschiffs, namentlich das Bugspriet, wo
ein solches vorhanden ist, Beschädigungen ausgesetzt werden; eine schwach
nach vorn ausgewölbte Form des Vorstevens, wie sie die Fregatte „Kron¬
prinz" besitzt, dürfte- daher die vortheilhafteste sein. Noch höher aber ist
gegenüber dem französischen System der Vortheil anzuschlagen, den sie für die
Seefähigkeit des Fahrzeugs hat. Denn sie beschwert, da der Bug hohl ist,
keine viel stärkere Wand besitzt, als ein gewöhnlicher starker Eisenschiff-
bug, und somit bedeutende Schwimmkraft entwickelt, das Schiff vorn nicht
mehr als die gewöhnliche Bugform der Kauffartheidampfer. während der
massive französische Sporn, der z. B. beim „Magenta" und beim „Solferino"
30,000 Kilogramm, also 600 Zollcentner wiegt, das Vorschiff in unglück¬
lichster Weise überlastet. Der schlimmste Fehler der Panzerschiffe aber ist zu
große Beschwerung der beiden Enden, sodaß die Engländer, um ihn zu ver¬
meiden, selbst bei Schiffen ohne Sporn die Panzerung von Bug und Heat
bedeutend schwächer genommen haben als in den übrigen Theilen, ja daß
sie bei den großen Panzerfregatten „Warrior" und „Black Prince", diese
Partien sogar in der Wasserlinie gänzlich ungepanzert ließen. Ueberdies hat
das Anrennen verhältnißmäßig zu wenig Chancen, als daß man es als
Hauptzweck betrachten und dafür große Nachtheile in den Kauf nehmen sollte.
Denn wenn das anrennende Schiff nicht einen stillliegenden Gegner findet, wie
der „Merrimac" den vor Anker liegenden „Cumberland" oder der „Erzherzog
Ferdinand Max" den steuerlos und hilflos daliegenden „R6 d'Italia", so
wird die Gewalt des Stoßes auf ein unschädliches Minimum reducirt wer¬
den, sobald der Gegner zu entrinnen sucht und nicht allzulangsam ist; selbst
wenn er nur 8 Knoten läuft und das Widderschiff 12 Knoten in See macht,
bleibt nur die für den Choc ungenügende Differenz von 4 Knoten für den
Stoß übrig. Es empfiehlt sich also dringend, wie beim „Kronprinz", den
Bug so schwimmfähig als möglich zu machen und lieber die Seefähigkeit des
Schiffs zu steigern oder die Anbringung einer schweren Bugbatterie zu ermög¬
lichen, als einen schweren Sporn für das Anrennen zu construiren.
Unter Wasser ist der Körper der Fregatte „Kronprinz" nach dem Zellen-
system geschützt, wie z, B. auch der englische „Bellerophon": Der Boden,
die Eisenwand, ist völlig doppelt, als ob in dem Eisenschiff noch ein andres Eisen¬
schiff von nur wenig geringeren Dimensionen steckte. Der Zwischenraum
zwischen beiden Eisenwänden ist durch sich kreuzende horizontale und senk¬
rechte Eisenplatten in Zellen abgetheilt, sodaß, wenn die Schiffswand an einer
Stelle beschädigt wird, das Wasser nur in diese Zelle eindringt, sonst aber
das'Schiff gänzlich unbelästigt bleibt. Und ebenso läuft hinter dem Panzer
eine ^VÄtLi-tiglrt vving' pg-ssagö, ein freier Gang, auf dem Beschädigungen der
Panzerung ausgebessert werden können, und der den Schaden eines Leckes
an dieser Stelle ebenfalls localisirt.
Die Panzerung der Fregatte „Kronprinz" stammt aus der berühmten
Fabrik von Brown in Sheffield und besteht aus einem hohen Eisengürtel,
der rings um das ganze Schiff läuft und die Wasserlinie durch Panzerplatten
sowohl über als unter Wasser gänzlich sichert, da die Platten bis 6 Fuß
unter Wasser reichen — weiter als bei irgend einem englischen Schiffe — und
aufwärts bis zum Batteriedeck (unir aceti) gehn. Von den letzteren Platten¬
gängen, d. h. den über Wasser befindlichen senkrecht auseinanderstehenden
Plattenlager, haben die drei oberen 4V- Zoll, die drei unteren 3 Zoll Stärke,
eine Stärke, die an den Enden des Schiffs der Erleichterung halber auf 4'/-"
abnimmt, immer noch eine Dicke wie an den stärksten Theilen der meisten
englischen Schiffe.
In der Mitte des Schiffs steigt für eine Länge von 120 Fuß der Panzer
auf beiden Seiten noch über das Batteriedeck hinaus bis zum Oberdeck empor,
um die 14 Kanonen der Batterie zu schützen, während das vordere und das
Hintere Drittel des Schiffskörpers, soweit er über dem Batteriedeck liegt, un¬
gepanzert ist. Etwaige Schüsse in diese Theile werden nicht gerade gefährlich,
da dieselben während des Gefechts geräumt sind, und Wasser bei der Höhe
des Batteriedecks nicht eindringen kann. An seinen Enden ist dieses schu߬
sichere zwischen Batteriedeck und Oberdeck liegende Drittel durch gepanzerte
Querschotten (Querwände, duilckeuäs) abgeschlossen und ganz gegen das ge¬
fährliche Enfilirfeuer geschützt: es enthält die Batterie, die ursprünglich 32
Kanonen erhalten sollte, jetzt aber nur 14, dafür um so stärkere Geschütze, 7
an jeden Bord, bekommt, gezogene 300Pfänder Hinterlader, von 7 Tons
d. h. 140 Centner Rohrgewicht. Die Batterie liegt 7V» Fuß über Wasser,
über 2 Fuß mehr als bei den meisten französischen Panzerfregatten: und dies
ist wichtig, da letztere bei nur etwas bewegter See des eindringenden Wassers
wegen die Pforten schließen müssen, die Fregatte „Kronprinz" aber auch
dann noch zu feuern und den Gegner zu schädigen im Stande ist. Sonst ist
die Batterie der Fregatte wie gewöhnlich eingerichtet, nur die Geschützpforten
sind, wie bei den meisten englischen, nicht aber den ersten französischen Pan¬
zerschiffen, sehr schmal gehalten, um das Eindringen von Schüssen zu ver¬
wehren, während die Höhe behuf genügender Elevation der Kanonen die
gewöhnliche ist.
Natürlich bekommen die Batteriegeschütze Nahmlafetten, Lafetten von
einer neuen Erfindung, deren Ehre wieder dem geistreichen Capitän Coles
zuzuschreiben ist, wenn sie auch ein wenig später noch von andern selbständig
ersonnen wurden. Bei Schiffsgeschützen gewöhnlicher Construction hatte man,
sobald das Geschütz durch den Rückstoß der Pulverladung auf dem ebenen
Boden der Batterie zurückgelaufen war, dasselbe immer erst wieder an die
Pforte schieben müssen; und da es Neigung hatte, allzuweit zurückzukaufen,
mußte man es immer mit starken Tauen an der Schiffswand festmachen, die
deshalb natürlich bei jedem Schusse litt. Aus diesen Gründen stellte Coles
die Lafette in querschiffs laufende Schienen auf einem rechteckigen Rahmen
(einem Keil bei jener andern Erfindung), dessen inneres Ende etwas höher
lag. als das Ende an der Pforte. Nunmedr ward der Rücklauf durch das
„Bergaufsteigen" des Geschützes sehr gehemmt, immer mehr, je höher es kam,
und ohne jede Anstrengung der Batteriewand; sobald es aber den Scheitel¬
punkt erreicht hatte, lief es auf der schrägen Fläche von selbst wieder an die
Pforte. Der Nahmen seinerseits steht nun wieder auf Querrädern, die in
Kreisschienen laufen, und die Kanone als Pivotgeschütze nach jeder Richtung
stellen lassen: beim neuesten Modell für die engen Panzerschiffpforten (ebenso
bei der oben erwähnten Erfindung) läuft indessen nur der Hintere Theil des
Rahmens in Kreisschienen und der vordere liegt auf einem festen Drehungs¬
punkt, so daß die Mündung immer auf einem Punkt (in der Pforte) bleibt,
und das ganze Geschütz sich um diesen Punkt dreht, mit dem Hintertheil
einen Bogen um die Pforte beschreibt.
Das Oberdeck, dessen Balken von Eisen und zum Schutz gegen Bomben
unter den Planken mit Stahlplatten bekleidet sind, trägt ganz analog der
Armirung gedeckter Corvetten nur 2 Pivotgeschütze, ebenfalls gezogene 300-
Pfünder, die durch Panzerschilde gedeckt sind, und zwar steht eins im Bug
für die Verfolgung, das andere hinten über dem Heat für den Rückzug. Das
Schiff führt somit im ganzen sechzehn 300Pfünder, kein englisches Schiff Hat
zur Zeit eine so große Zahl gleich schwerer Geschütze.
Außerdem erheben sich vom Oberdeck die drei Masten einer Barktakelage,
von denen also die beiden vorderen Naasegel, der Hintere ein Gaffelsegel
führt. Die Untermasten und das Bugspriet sind hohl und von Eisen, wo¬
durch sie stärker und dennoch leichter als Holzmasten werden und zugleich
als Ventilatoren für die Räume unter Deck zu fungiren im Stande sind,
wie bei „Augusta" und' „Victoria"; die Stengen und Bramstengen (Mast¬
verlängerungen) dagegen, die aus einem Stück bestehen, find von Holz, da
sie biegsamer sein müssen und keine so große Dicke zu haben brauchen, wäh¬
rend die Unterraaen wiederum hohl und von Stahl sind.
Die Maschine von 800 Pferdekraft (nommat), die aber bis zu 4800
effectiven (indicirten) Pferdekräften zu arbeiten vermag, ist von Peru gebaut
und rechtfertigt den hohen Ruf dieses Constructeurs. da sie nach der Berech¬
nung dem Schiffe eine Schnelligkeit von etwa 13 Knoten geben sollte, in
Wirklichkeit aber über 14 Knoten erreichte.
Gebaut ist das Schiff von der Firma „Samuda Brothers" in Poplar,
London, wie der drei Jahre früher dort vollendete „Arminius". Obwohl
erst Ende Februar 1866 -der Kiel gelegt war, fand doch sein Ablauf von
Stapel schon am 7- Mai d. I., seine Abnahme durch die preußische Fach¬
commission bereits am 19. September statt, nachdem die Probefahrt äußerst
günstig verlaufen war, ungleich günstiger als bei den etwa gleich großen
(doch 6 Fuß breiteren) englischen Schiffen „Defence" und „Resistance", die nur
11,6 und 11,8 Knoten erreichten. Am 28. October traf das Schiff „Kron¬
prinz" in Kiel ein, ward dort drei Tage darauf, am 31. October, vom Prinz
Admiral besichtigt, mit dem es eine kurze Probefahrt in See machte und
ward dann abgetakelt, um in Kiel außer Dienst gestellt zu werden. Gegen¬
wärtig liegt die Fregatte an der Wasserallee, wohin sie durch die Kanonen¬
boote „Chamäleon" und „Habicht" am 14. Nov. vom Marinedepot bugsirt
wurde. Dort überwintert das gute Schiff an Seite des „Arminius", der
mit ihm aus derselben Werft Samuda in London hervorgegangen ist und
neben ihm zur Zeit den schätzbarsten Bestandtheil unsrer dienstfähigen Panzer¬
slotte bildet.
Im Frühjahr wird die Fregatte „Kronprinz" unter den ersten Schiffen
sein, welche in Dienst gestellt werden, damit man auf größeren Fahrten ihre
Seetüchtigkeit erproben könne.
Es ist kaum zu verwundern, daß die lebhafte Erregung, von welcher
die Verhandlungen über die Verträge mit Preußen begleitet waren, einer ge¬
wissen Abspannung Platz gemacht hat. Das vorläufige Ziel ist erreicht, eine
Pause begreiflich. Es ist ein Wechsel der Temperatur, der in der Natur
der Dinge liegt, und der in dem vorliegenden Fall um so unvermeidlicher
war, als jene Bewegung bei den vorhandenen Widerstandkräften durch un¬
gewöhnliche und künstliche Mittel hatte unterstützt werden müssen, die erst
dann wieder zu gewinnen sind, wenn abermals die eherne Nothwendigkeit
sie ruft. Auch würde es eine allzu lebhafte Ungeduld verrathen, wenn man
sich beklagen wollte, daß seit jenen Verträgen nicht bereits weitere That¬
sachen im Sinn der Vereinigung von Nord und Süd zu verzeichnen sind.
Und übrigens fehlt es ja gar nicht an Dokumenten, daß auch seitdem die
Einheitskräfte nicht geruht haben; ist doch wenigstens der Zollvertrag ein
weiterer Schritt für Einheit auf einem zwar beschränkten, doch nicht verächt¬
lichen und unwichtigen Gebiet.
Dennoch will dieser Trost mit sammt dem herabgesetzten Briefporto nicht
recht verfangen. Wir sind nun einmal verwöhnt durch den Sturmschritt, in wel¬
chem das vorige Jahr einhergegangen ist. Rückschritt erscheint uns, wenn
Stillstand in der Bewegung eintreten will, die für uns noch lange nicht zur
Ruhe gekommen ist. Die bisherigen Erfolge sind Etappen, die uns das Ziel
näher bringen sollen, aber das Ziel nicht ersetzen können. Und wo es nicht
anerkannt wird, daß die jetzigen Zustände nur provisorische sind, nur Ab¬
schlagszahlungen, die höchstens eine Weile befriedigen können, da ist der
Verdacht verzeihlich, daß selbst jene Verträge, wenn durch sie dauernde Ein¬
richtungen geschaffen werden sollten, zweischneidige Instrumente sind, die mög¬
licherweise ebenso aufhalten als fördern können.
Und hier ist der Punkt, wo die Wege des Ministeriums Varnbüler und
der nationalen Partei des Landes sich trennen oder vielmehr sich getrennt
haben. Die Freundschaft, wenn man so sagen darf, die zwischen beiden zum
Zweck, jene Verträge durchzusetzen, bestand, hat nie einen hohen Wärmegrad
gehabt. Es war vorauszusehen, daß sie sich wieder lockern würde. Daß
sie aber so rasch und vollständig in die Brüche ging, daran trifft jedenfalls
die nationale Partei keine Schuld, welche ihrerseits aus ihren letzten Zielen
kein Hehl gemacht und nichts von dem , was sie in jenen Wochen gethan und
gesprochen, zurückzunehmen hat.
Wie ein längst entschwundener Traum gemahnen jetzt in eisiger Winter¬
zeit jene sonnigen Herbsttage, da die Regierung und die Krone selbst ein so
feuriges Interesse für die nationale Verbindung mit Preußen an den Tag
legten. Herr v. Varnbüler war ein anderer vor Königgrätz, ein anderer nach
Königgrätz; ein anderer vor Genehmigung der Verträge, ein anderer nach
derselben. Kaum war der knappe Sieg in den Kammern erfochten, so be¬
gann der Wind aus anderer Himmelsgegend zu blasen. Bis Hieher und nicht
weiter — mit diesem Gedanken erfolgte die zustimmende Unterschrift. Nach-
dem das lästige, unvermeidliche Geschäft gethan, besann man sich, was von
Souveränitätsstücken übrig geblieben war, und man fand, daß im Grund
nur wenig verloren, daß noch immer ein recht erheblicher Bestand gerettet
war, mit dem sich gemüthlich weiter wirthschaften ließ. Es galt, sich wieder
so bequem als möglich in den vier Wänden des Particularstaats einzurichten.
Als ob man fast bereute, sich gar zu tief herabgelassen zu haben, stellte man
fest, daß für das Verhältniß zum Nordbund die definitive Form gegeben,
daß nunmehr die Reihe der Zugeständnisse an Preußen definitiv geschlossen
sei. Es erging ein Rundschreiben an die diplomatischen Vertreter S. Maj.
des Königs von Würtemberg im Ausland, das eben diesen Charakter der
abgeschlossenen Verträge bündig ins Licht setzte.
Am wenigsten konnte es überraschen, daß die in den Spuren der Re¬
gierung wandelnde Presse sich alsbald für den ihr eine Zeitlang auferlegten
Zwang ausgiebig entschädigte. Der Rücksichten auf die deutsche Partei ent¬
ledigt, konnte sie ungestört wieder dem Zug ihres Herzens folgen. Die
nationalen Redensarten hatten ihr auch in der That übel genug gestanden.
Jetzt ergossen sich die zurückgehaltenen Ströme ihrer Beredtsamkeit jauchzend
über das nationale Lager, über die entarteten Söhne des „Landes", wie
Probsts Commissionsbericht anmuthig sich ausgedrückt hatte.
Eben recht kam in diesem Augenblick der Regierung die Aussicht, auf
einer europäischen Conserenz sich im Vollglanz ungebrochener Souveränität
zeigen zu können. Auch am würtembergischen Hof ist, wie versichert ward,
die Einladung zum europäischen Concert mit aufrichtiger Genugthuung auf¬
genommen worden, wenn man auch die Form der Annahme vorsichtig wählte.
Man sah darin ein willkommenes Pflaster für die frische Wunde. Man
rüstete sich sogar bereits, seine Stimme in die Wagschale der weltlichen Herr¬
schaft des Papstes zu legen, und gedachte damit zwei Fliegen auf einen Schlag
zu treffen, nicht blos die Unabhängigkeit von Berlin zu zeigen, sondern auch
die Katholiken des eigenen Landes wieder zu gewinnen, die man seit der
preußischen Aera verstimmt und grollend zur Seite stehen sah.
Während bis dahin das Kriegsdepartement im Rufe stand, daß es auf¬
richtig, loyal und mit Eifer seine Reformen im Sinn der Annäherung an
das preußische System betreibe, erfuhr man jetzt, daß auch diese Reformen
anfingen ins Stocken zu gerathen. Die Arbeiten, hieß es, seien noch so
weit zurück, daß auch im nächsten Frühjahr die Aushebung wieder ganz in
der alten Weise, mit Loosziehen und Stellvertretung vor sich gehen werde.
Ob die Münchener Militärconferenz in dieselbe Reihe von Symptomen zu
stellen ist, bleibt bis aus nähere Nachrichten abzuwarten. Aber erfreulich
konnte es in keiner Weise berühren, daß anstatt directer Verständigung mit
Preußen abermals dieser Weg beliebt wurde, der wenigstens bisher im
günstigsten Falle zu nichts geführt hat.
Vor allem aber sollte sich die neue Wendung in den Verhandlungen
und Parteiverhältnissen der Kammer zeigen. Es begannen sich wieder die
natürlich verwandten Elemente einander zu nähern. Die Zeiten des pas
piceis schienen wiederzukehren. Die Demokratie und die Regierungspartei
bemühten sich zu vergessen, was kurze Zeit trennendes zwischen ihnen ge¬
standen war. Man erinnerte sich wieder, daß der gemeinsame Gegner die
verhaßte deutsche Partei ist und bleibt, und um sich zu rächen für die un¬
vermeidliche Annahme der Verträge, läßt man es diese fühlen, daß sie nur
ein verschwindendes Häuflein sei, man stieß das Dutzend rebellischer Schwaben
wieder in die verdiente Jsolirung. Auf diese Weise gelang es, daß der Par-
ticularismus einen großen Sieg erfocht durch den nach zweitägiger Verhand¬
lung erfolgten Beschluß, auf die von der Regierung eingebrachten Justizvor¬
lagen einzugehen und so für Würtemberg den Weg der Particulargesetzgebung
einzuschlagen, in einer Zeit, da die Aussicht auf eine gemeinsame deutsche
Gesetzgebung näher als je gerückt war.
Wahr ist, daß diese Vorlagen: eine Civilprozeßordnung, eine Strafproze߬
ordnung und eine neue Gerichtsverfassung, nur einem schon längst dringend
gefühlten Bedürfniß abzuhelfen bestimmt sind. Alt genug ist die Klage, daß
Würtemberg in der Umwandlung des Justizwesens nach den Grundsätzen der
Oeffentlichkeit und Mündlichkeit zurückgeblieben sei und jetzt mit seinem in¬
quisitorischen Prozeß fast isolirt stehe. Was in jener Richtung bisher ge¬
schehen ist, wie die Schwurgerichte und die Handelsgerichte, war Stückwerk
und Flickerei. Seit Jahren haben die Stände gemahnt, hat die Regierung
versprochen und endlich einleitende Schritte gethan. Seit dem Jahr 1861,
wo der erste Entwurf einer neuen Organisation veröffentlicht wurde, sind die
Arbeiten fortwährend in Angriff genommen, unterbrochen, wiederaufgenom¬
men und umgeändert worden. Es war kein Ende abzusehen. Jetzt auf ein¬
mal, da der norddeutsche Bund constituirt ist und kaum constituirt.eine un¬
erwartet rührige legislative Thätigkeit entwickelt, wird die Nacheiferung des
süddeutschen Particularstaats angespornt. Man will zeigen, daß man auch
reformiren kann, man will durch vollendete Thatsachen zuvorkommen der
Frage, warum man denn nicht einfach der norddeutschen Gesetzgebung sich
anschließe, und der Gefahr, daß die Competenz der gemeinsamen Organe
über die abgeschlossenen Verträge hinaus erweitert werde; man beeilt sich,
jetzt die rasch vollendeten Entwürfe vorzulegen, wenige Wochen bevor in
Berlin die Civilgesetzgebungscommission zusammentritt. Nur insofern läßt
sich das einseitige Vorgehen rechtfertigen, als die Aussicht auf ein deutsches
Strafverfahren noch ferner gerückt ist und gerade die Reform des Strafver-
fahrens am wenigsten Aufschub duldet, die Civilprozeßordnung aber auf den¬
selben Grundsätzen beruht, wie das norddeutsche Gesetzgebungswerk, also einer
künftigen Gleichförmigkeit jetzt schon wenigstens vorgearbeitet wird. Allein
neben den sachlichen Gründen war man gar nicht bemüht, die particularisti-
schen Gründe, welche die eigentlich durchschlagenden waren, zu verbergen.
Nach des Ministers Erklärung will man es ausdrücklich vermeiden, daß die
Blicke bei abermaligem Scheitern des eigenen Gesetzgebungswerks hilfesuchend
nach dem norddeutschen Bund sich wenden, er erklärte überdies, daß völlige
Gleichförmigkeit mit den norddeutschen Einrichtungen gar nicht wünschens¬
wert!) sei und es war der Refrain der Redner die Wahrheit: man müsse
zeigen, daß auch Württemberg noch ein lebenskräftiger Staat sei und das
Zeug habe, eine gesetzgeberische Reform ins Werk zu setzen.
Wenn schon die Erklärungen des Justizministers über das Verhältniß
Würtembergs zu einer späteren gemeinsamen Gesetzgebung Befremden erreg¬
ten, so schien Herr v. Varnbüler vollends jeden Zweifel über die Gesinnun¬
gen der Regierung beseitigen zu wollen, als er am Tag darauf, am 11. Dez.,
.seine geharnischte Rede gegen den norddeutschen Bund und gegen den Ein¬
tritt Würtembergs in denselben von Stapel ließ.
Den Anlaß bot die Debatte über das Budget des auswärtigen Depar¬
tements. Es handelte sich um den Gesandtschaftsposten in Florenz, der spä¬
ter mit großer Mehrheit von der Kammer als überflüssig vom Budget ge¬
strichen wurde. Holder hatte die nationalen Gründe gegen eine selbständige
diplomatische Action der kleinen Staaten hervorgehoben, daran erinnert, daß
nach den mit Preußen abgeschlossenen Verträgen eine selbständige auswärtige
Politik gar nicht mehr statthaft sei und die Hoffnung ausgedrückt, daß man
bald dem Ausland gegenüber eine gemeinsame deutsche Politik erhalten werde.
Er hatte in Form und Inhalt so gemäßigt wie möglich gesprochen. Nie¬
mand erwartete, daß eine so nachdrückliche Erklärung des Ministeriums
folgen werde, die den Eindruck machte, als ob sie, lange vorbereitet, nur
auf die erste beste Gelegenheit warte. Der Minister sprach im Tone eines
biedern würtembergischen Patriotismus, der sich durch den Gedanken, die
Selbständigkeit an ein größeres Ganzes zu verlieren, gekränkt und entrüstet
fühlt. Er begnügte sich nicht mit der Erklärung, daß Würtemberg mit
den Verträgen seine nationale Pflicht erfüllt habe und nicht der mindeste
Grund vorliege, über die vertragsmäßig festgestellten Grenzlinien hinauszu¬
gehen, sondern er machte sich auch an eine Kritik der Verfassung des nord¬
deutschen Bundes. Er rechnete vor, sein Publikum kennend, wie viele Millio¬
nen das Land nach dem Eintritt in den Bund mehr aufzubringen hätte, wie
die Militärlast um so und so viele Rekruten jährlich eine größere würde,
was man zu Marinezwecken beizusteuern hätte; er führte aus, daß die selb-
ständige Verwaltung des 200 Millionen betragenden Eisenbahneapitals ver¬
loren ginge, daß man nicht mehr so bequem seine Wünsche in Postsachen
anbringen könnte und daß das Land die verhaßte Branntweinsteuer wieder
einführen müßte: er führte den Abgeordneten zu Gemüth, daß sie im Parla-
lament keinen Einfluß auf die Finanzverwaltung auszuüben hätten, daß ihnen
die Berathung des Militäretats entzogen würde, daß die Competenz des
Parlaments — abgesehen von den Zollangelegenheiten, bei denen die Süd¬
deutschen bereits zugezogen, — sich nur auf untergeordnete Dinge erstrecke.
Ja er erklärte schließlich, wenn die Kammer selbst der Entwickelung der Ge¬
schichte vorgreifen und einen Antrag in jenem Sinne stellen wollte, so würde
er dem König rathen, an das Land zu appeliren, und selbst wenn der un¬
denkbare Fall einträte, daß das Land sich für den Eintritt in den Nord¬
bund ausspräche, so würde er im Rath des Königs zur Erwägung geben,
ob ein solcher Schritt mit den Rechten und Pflichten des Königs und mit
der europäischen Stellung des Landes vereinbar sei. Es schien, als ob die
Lorbeeren Rouhers vom 5. Decbr. Herrn von Varnbüler den Schlaf geraubt
hätten. Wie sein französischer College, hatte er den Muth, sich offen zu einer
reactionären Politik zu bekennen. Die Mehrheit schien gründlich zufrieden
gestellt, alle Täuschungen beseitigt. Und dennoch war in Wahrheit der Er¬
folg ein entgegengesetzter: Herr von Varnbüler hatte höchst nachdrücklich ge¬
redet, aber es war ihm nicht einmal gelungen, den Eindruck hervorzubringen,
daß er aus wirklicher Ueberzeugung gesprochen.
Zwar wurde von klerikaler Seite sofort dem Minister der Dank für
dessen unzweideutige Erklärung ausgedrückt, und Graf Bissingen, von der¬
selben Seite, bemerkte ironisch, der Minister scheine fast Neue zu empfinden,
daß er die Verträge abgeschlossen habe, wogegen jener sich jedoch selbst ver¬
wahrte. Aber die Demokratie war nicht nur bedenklich über die Stelle, wo¬
rin Herr v. Varnbüler seine Achtung vor Kammerbeschlüssen so seltsam illu-
strirt hatte, sondern sie gab auch unverholen ihr Mißtrauen über die neueste
Wendung des Ministers zu erkennen. Und in den Reihen der nationa¬
len Partei hatte vollends die Philippina desselben nichts weniger als einen
niederschmetternder Eindruck gemacht. Hölder und Römer entgegneten in
glücklichster Weise, daß ihre Zuversicht auf einen baldigen Eintritt Würtem-
bergs in den Nordbund nicht im geringsten erschüttert sei, weil einfach die
Natur der Verhältnisse stärker sei und gerade in der neuesten Zeit an Wür«
temberg stärker sich erwiesen habe, als noch so starke Wünsche und Abnei¬
gungen. Sie erinnerten daran, daß ein Staatsmann niemals: niemals sagen
sollte, am wenigsten Herr v. Varnbüler, der früher schon mit wenig Glück
sich dieser Phrase bedient hatte. War es doch derselbe Herr v. Varnbüler.
der vor nicht gar langer Zeit erklärt hatte, er werde niemals das Königreich
Italien anerkennen, derselbe, der heute die Errichtung eines Gesandtschafts¬
postens in Florenz dringend befürwortete, derselbe, der wiederholt als das
Kennzeichen eines Staatsmanns die Fähigkeit aufgestellt hatte, sich ohne vor¬
gefaßte Meinungen auch in veränderte Lagen und Verhältnisse zu schicken.
Und Römer, der dem Minister alle seine Handlungen ins Gedächtniß zurück¬
rief, drückte schließlich in heiterer Wendung die zuversichtliche Erwartung
aus, daß Herr v. Varnbüler, durch die Macht der Verhältnisse genöthigt,
seinen bisherigen Verdiensten um die nationale Sache in Bälde auch noch
das weitere hinzufügen werde, den Eintritt Würtembergs in den norddeutschen
Bund zu beantragen und durchzuführen.
In der That hatte Herr v. Varnbüler nicht vergessen, sich auch diesmal
ein Hinterpförtchen offen zu lassen. Er hatte in seiner Rede dazwischengestreut,
man möge mit Ruhe abwarten, „was das Geschick über uns verhängt", er
hatte von unberechenbaren „Fügungen der Vorsehung" gesprochen, und auf
Römers Aeußerungen hin gab er zu, daß sich allerdings „mit absoluter Ge¬
wißheit die Ereignisse der Zukunft nicht voraussagen lassen." Es fehlt nicht
an boshaften Stimmen, welche hinter der antipreußischen Demonstration eine
sehr berechnete Absicht wittern: es gilt die abgeneigte Kammermehrheit gün¬
stig zu stimmen für das neue Militärgesetz.
Wie dem aber auch sei, so viel geht aus all den angeführten Sympto¬
men hervor, daß. was an unsrer Negierung liegt, der durch die Verträge
geschaffene Zustand von unberechenbarer Dauer sein wird. Sie denkt nicht
daran, aus eigenem Antrieb einen Schritt weiter zu thun. Sie wird allem
Anschein nach auch bei den Wahlen zum Zollparlament nur solche Candida-
ten begünstigen, welche, mit dem Zollparlament zufrieden, nicht nach weiterem
begehren. Bleibt es wirklich dem freien Willen der Südstaaten überlassen,
wie bald die definitive Vereinigung zu Stande kommen soll, so darf man sich
das Warten nicht verdrießen lassen. Wird Baden dazu verurtheilt, gleichen
Schritt zu halten mit Würtemberg und Bayern, so ist die Beseitigung der
Mainlinie vertagt bis ans Ende aller Tage.
Ist dagegen Baden, wozu es früher oder später kommen muß, dem
norddeutschen Bund beigetreten, so darf man bei den bewährten staatsmän¬
nischen Eigenschaften unsers Premiers mit Sicherheit annehmen, daß auch
dieses Ereigniß eine jener „Fügungen der Vorsehung" sein wird, denen er
Als wir vor kurzem in diesen Blättern (Ur. 48, die römisch-italienische
Frage) die Ansicht aussprachen, die Logik der Ereignisse werde den Kaiser
Napoleon nach der zweiten römischen Expedition immer mehr ins klerikale
Lager hinüberdrängen, konnten wir kaum voraussehen, daß dies so rasch und
in so eklatanter Weise bestätigt werden würde, wie es durch die Erklärungen
Rouhers in der denkwürdigen Sitzung des 6. December geschehen ist. Daß
die Haltung der französischen Regierung in dieser Frage, wie überhaupt in
der letzten Zeit, schwankend und widerspruchsvoll gewesen, ist unzweifelhaft,
der Kaiser hat seine frühere Sicherheit verloren und für seine Entschlüsse gibt
der Einfluß bald dieser bald jener Persönlichkeit seiner Minister und Um¬
gebungen den Ausschlag. Noch in Biaritz discutirt er mit dem italienischen
Gesandten Nigra die Möglichkeit einer Abänderung der Septemberconvcntion
und schließt mit dem vieldeutigen Wort: „it ne taut xas eomproinöttrs ins,
politiyue". Als bald darauf die Crisis ausbrach, hat nach dem italienischen
Grünbuch, dessen Angaben die offiziöse französische Presse nicht in Abrede zu
stellen wagt, Rouher zuerst die Idee einer gemeinsamen Besatzung Roms
hingeworfen, als Nigra darauf dieselbe Moustier vorschlägt, weist derselbe
sie entrüstet zurück und bezeichnet im Corps legislatif den Vorschlag als einen
hinterlistigen, welcher Frankreich die Rolle nicht blos eines Betrogenen, son¬
dern auch eines Verräthers zugemuthet habe. Ebenso schwankt man in Betreff
der Expedition; der Befehl der Einschiffung war auf Andrängen Italiens
zurückgenommen, als ein Telegramm des französischen Geschäftsträgers in
Rom eintraf, daß in diesem Falle der Nuntius in Paris beauftragt werden
soll, sein Wappen abzunehmen und seine Pässe zu fordern; dies gab den
Ausschlag. Lavalette blieb allein im Conseil mit seiner Opposition, die Trup¬
pen schifften sich ein. Am auffälligsten aber traten die Schwankungen in der
letzten Debatte selbst hervor. Die Thronrede stellte die Intervention als eine
traurige Nothwendigkeit dar und äußerte sich sympathisch für Italien, im
Senat sprach Moustier den klerikalen Heißspornen gegenüber sehr gemäßigt,
in der Rede mit welcher er im gesetzgebenden Körper debütirte und die zuvor
mit dem Kaiser vereinbart war, trat er schon schärfer gegen Italien auf,
aber lavirte doch vorsichtig, ohne sich für eine oder die andere Seite zu ent¬
scheiden; nun aber kam Thiers mit seiner gewaltigen Rede, welche die Ma¬
jorität zu stürmischem Beifall hinriß, erst dadurch ward die Regierung ganz
nach rechts gedrängt und Rouher erklärte, daß Italien sich niemals Roms
bemächtigen solle, Rom aber bedeute das jetzige päpstliche Gebiet. Mit Recht
ist gesagt, der Sieg gehöre nicht dem Minister, sondern Thiers. Am sitt¬
lichen Maßstabe gemessen, ist dieser Triumpf der Majorität ein sehr trau¬
riges Zeichen für Frankreich, es klingt fast wie eine Satire, daß Thiers, der
erklärteste Freigeist, Retter des Papstes wird. „Voltaire beschützt den Vatican"
ruft Philaret Charles, in d'er That kämpfte Thiers nicht mit religiösen, son¬
dern mit politischen und naturrechtlichen Argumenten, wenngleich der sophistischen
Art. Er erklärte z. B., seine Ansicht verstoße keineswegs gegen die Grund¬
sätze von 1789, welche alle Bekenntnisse gleichstellten, es müßten aber auch
dann alle beim Staate gleichen Schutz finden; nun seien alle Katholiken dar¬
über einig (?), daß der Papst im Besitz Roms bleiben müsse, folglich müsse
Frankreich ihn in demselben schützen! Also wenn die Juden einmüthig er¬
klärten, das Heil ihrer Religion verlange, daß sie wieder in den Besitz Pa¬
lästinas gesetzt würden, so wäre Frankreich verbunden, ihr Verlangen zu be¬
friedigen, oder wenn die Bewohner Algeriens überzeugt wären, daß die
französische Herrschaft den Interessen des Muhamedanismus zuwiderlaufe, so
müßte die Colonie aufgegeben werden. In der That, solche Argumente ver¬
dienen kaum nähere Betrachtung, sie sind auch nicht die wahren Motive für
Leute von Thiers Schlage, dieselben liegen einfach im Neid, im Haß gegen
das neue Königreich, welches sich neben Frankreich gebildet, noch mehr in
der Erbitterung gegen den werdenden deutschen Staat; Frankreich will seine
Stellung dadurch erhalten, daß es seine Nachbarn schwach und getheilt erhält.
Diese Beweggründe wirken unzweifelhaft auch bei vielen Mitgliedern der
Majorität mit, aber im ganzen läßt sich nicht bezweifeln, daß dieselbe wirklich
klerikal ist. Man beurtheilt die öffentliche Meinung Frankreichs im Aus¬
lande viel zu sehr uach einigen großen pariser Zeitungen, welche vorzüglich
redigirt und bei uns am meisten gelesen werden. Zu Hause aber beschränkt
sich ihr Publikum auf die Gebildeten der großen Städte: wer liest auf dem
platten Lande das Journal ass V6half oder das Fiöels? Dort herrschen
die Provinzialblätter, die fast durchweg klerikal sind. Auch ist das nicht zu
verwundern; wer Frankreichs ländliche Bevölkerung kennt, der weiß, daß es
bei ihr nur zwei Mächte gibt, die Regierung und den Klerus. Wer vom
Ministerium des Innern aus die große Verwaltungsmaschine in Bewegung
setzen kann, sich gut mit der Geistlichkeit steht und Paris militärisch beherrscht,
der gebietet über Frankreich. Louis Philipp 'hatte diese Elemente vernach¬
lässigt und fiel; Louis Napoleon hat Paris strategisch gegen die Revolution
gesichert und sucht die Arbeiter durch Brod und Spiele bei guter Laune zu
erhalten, aber seinen Thron gegründet hat er auf die Sympathie der Bauern
und des Klerus. Wenn er also jetzt der Majorität des Corps legislatif nach¬
gegeben hat, so ist es nicht geschehen, weil er ihren Haß gegen Italien theilt,
sondern weil er ihre Ansicht für zu mächtig im Lande hält, um ihr zu wider-
streben. Es ist ganz verkehrt, dies als ein Zurückkommen auf die parla¬
mentarische Regierung anzusehen. Napoleon wird gegen den Wunsch der
Majorität seinen Willen rücksichtslos durchsetzen, wo er nicht die ländliche
Bevölkerung gegen sich fühlt, sein Armeegesetz hat er modificirt, weil die
Präfekten berichteten, daß die Bauern laut dagegen murrten, andere Gesetze
wird er trotz des Murrens der Kuh Ah 1'^reaäö^nicht aufgeben.
Freilich setzt er sich durch die jetzt genommene Richtung auch großen
Gefahren im Innern aus, er muß wissen, daß man die Kirche nie befriedigt,
jede Concession nur neue Forderungen hervorruft; kaum glaubt der rüstige
Vorkämpfer der weltlichen Herrschaft, Monseigneur Dupanloup, diese gesichert,
als er in einer Flugschrift offen den Unterrichtsminister Duruy angreift, weil
derselbe die Schule nicht unbedingt der Kirche unterordnen will. Allmacht
des Klerus aber will die große Masse der Franzosen ebensowenig, als seine
Ohnmacht; die französischen Könige, welche Waldenser und Hugenotten rück¬
sichtslos verfolgten und den Papst beschützten, behaupteten gegen denselben
doch hartnäckig die Privilegien der gallikanischen Kirche. Und Napoleon, der
Pius IX. wieder in Rom einsetzte, aber das Concordat durchsetzte, trat in ihre
Fußstapfen. Das Votum vom 5. Dezbr. ist die Reaktion gegen eine Politik,
die mehr italienisch als französisch war und die Existenz des Papstes be¬
drohte; geht man zu weit nach der andern Seite, so könnte sich eine Reaktion
anderer Art zeigen, wie sie der Julirevolution vorausging.
Sodann hat Napoleon durch die Erklärung, Rom für immer den Ita¬
lienern vorenthalten zu wollen, mit der Macht gebrochen, welcher die Cabi-
netspolitik kurzweg den Namen der Revolution gibt. Wir überschätzen die
Macht derselben nicht, die gewöhnlich erst durch andre hinzutretende Umstände
zu einer wirklichen Gewalt wird, aber es ist unbestreitbar, daß eine Partei
existirt. deren Ideal die sociale Republik ist und die den Kaiser tödtlich haßt;
ihre Apostel, die sich aus fanatischen Theoretikern, verbitterten Juden und
Emigranten rekrutiren, haben-einen bedeutenden Anhang unter den franzö¬
sischen Arbeitern und noch mehr unter den Italienern. Der Kaiser wird Orsini
nicht vergessen haben, ist doch bezeichnender weise wieder scharfe Paßcontrole
an den südöstlichen Grenzen eingeführt.
Indeß diese Gefahren im Innern treten gegen die zurück, welche von
außen drohen. Zunächst hat der Kaiser die italienische Allianz und damit die
beste Frucht seiner ganzen italienischen Politik auf immer verloren, es kann
keinen italienischen Staatsmann mehr geben, der noch mit Frankreich zu
gehen wagte. Die Ironie des Schicksals ist in der That seltsam, von Haus
aus lag das einheitliche Italien keineswegs in Napoleons Plan, denn auf
die Proklamation, die er als unreifer Carbonaro erließ, ist kein Gewicht zu
legen; der Plan, welcher zwischen ihm und Cavour verabredet ward, ging
vielmehr nur auf eine Consöderation, aber allerdings auch auf vollständige
Vertreibung der Oestreicher. Als diese durch Villafranca vereitelt war, mochte
er der unitarischen Bewegung nicht entgegentreten, er ermuthigte sogar zur
preußischen Allianz, weil er dadurch sein Programm „frei bis zur Adria" er¬
füllt zu sehen hoffte, für das er selbst nicht wieder Krieg führen konnte.
Nachdem aber jetzt Oestreich wirklich ganz vertrieben, würde er sich schwerlich
übermäßig grämen, wenn Italien wieder zerfiele und sich in ein subalpinisches
Königreich, das päpstliche Gebiet und Neapel theilte.
Noch spricht man in Se. Cloud für die Einheit Italiens, aber man
denkt bereits wie Thiers, der ja auch nicht verlangt, daß man Krieg erkläre,
aber arglistig hinzusetzt, es werde nicht Frankreichs Schuld sein, wenn sich
die verblendete Nation auf die Spitze seines Schwertes stürze! Die Legiti-
misten und Anhänger der vertriebenen Fürsten schöpfen wieder Muth, schon
sollen dem römischen Stuhl sranzösischerseits Aussichten auf Erweiterung seines
jetzigen Gebietes gemacht worden sein, falls jene Dreitheilung eintrete. Daß
es zu derselben komme, welche allerdings allein ein päpstliches Regiment ohne
fremde Besatzung möglich macht, ist nicht unmöglich, jedenfalls aber wird
dies nicht ohne einen großen Kampf geschehen, bei dem die Italiener schwer¬
lich allein stehen dürften.
Und hier kommt das deutsche Interesse in Frage. Die Politik von
Thiers gegen Italien geht ebensowohl gegen Preußen, man wagt nur nicht,
dem Starken dasselbe zu bieten, wie dem Schwachen. „Kein Souverän
sollte an seinen Grenzen die Bildung eines Staates von 25 Millionen
fördern", ruft der Bewunderer Nichelieus, er will wohl die einmal vollen¬
deten Thatsachen anerkennen, aber nicht weiter soll sich die Flut ergießen;
Frankreichs Beruf ist es, die kleineren Staaten zu schützen, Rouher deutet
an, daß die Langmuth des Kaisers ein Ende haben könne, Luxemburg sei
das erste Avertissement gewesen. Dies ist zugleich ein Wink nach Darmstadt,
Stuttgart und München, der dort wohl verstanden zu sein scheint, hatte doch
Herr von Beust von Paris zurückkehrend dort Station gemacht und die Ein¬
ladung zur Conferenz an die deutschen Mittelstaaten angekündigt, welche
zwischen Frankreich und Oestreich verabredet war. Herr von Dalwigk zeigte
sich als gelehriger Schüler, und auch bei Herrn von Varnbüler scheinen die
alten Sympathien wiedergekehrt, die Demonstration in der würtembergischen
Kammer gegen den Eintritt in den norddeutschen Bund war wohl vorbe¬
reitet. Aber auch die baierische Regierung hat nach Paris geantwortet, ohne
sich erst in Berlin zu benehmen, wie es schicklich und klug gewesen wäre.
Die wohlverdiente Lektion, welche Herr von Dalwigk erhielt, richtete sich also
ebenso sehr nicht nur nach Stuttgart und München, sondern auch nach Paris
und Wien. Man kann demnach nicht sagen, daß die italienische Krisis uns
fern liegt, denn gibt Preußen Frankreich und Oestreich freies Spiel im Süden,
so hat es dann später wahrscheinlich den Kampf mit den besser gerüsteten
Gegnern allein aufzunehmen, während jetzt, mag man auch noch so gering
von der italienischen Armee denken, dieselbe doch einige Corps Frankreichs
beschäftigen würde. Viel wird bei dem Gang, den die Dinge zunächst^ neh¬
men werden, auf die Haltung Italiens ankommen, eine bedeutende Politik
läßt sich dort schwerlich erwarten.
Die Politik Ratazzis war die eines kleinlichen Intriguanten; auf Schleich¬
wegen zum Ministerium gelangt, begann er über eine Allianz mit Frank¬
reich gegen Deutschland zu unterhandeln, der Dank dafür war die Mission
des Generals Dumont; Cavour hätte dieselbe mit der Kündigung der Sep¬
temberconvention beantwortet, Ratazzi gab sich mit einer nichts Sagenden
Erklärung Moustiers zufrieden, um nicht die Gunst in Paris zu verscherzen.
Sein Fiasko im October mag ihn über den Erfolg dieser Politik belehrt
haben. Menebrea hat mit einem Rückzug debütirt, und auch jetzt sieht man
wohl gute Absicht, aber keinen festen klaren Willen. Die ganze endlose De¬
batte in Florenz macht überhaupt einen peinlichen Eindruck: gegenseitige An¬
klagen und ohnmächtige Deklamationen füllten die Sitzungen aus. statt daß
man offen und kurz erklärte, man sei jetzt nicht im Stande, das römische
Programm durchzuführen, halte aber an demselben fest und stelle sich dafür
frei hin, indem man die Septemberconvention als beseitigt betrachte. Wie
sich die Dinge, nach dem nun auch die von Anfang an aussichtslose Con-
ferenz formell gescheitert ist, weiter gestalten, ist kaum zu berechnen, aber
seit lange hat. zumal bei der gleichzeitig wiederaufwacbenden orientalischen
Frage, kein Jahr unter so drohenden Auspicien für den Weltfrieden ge¬
schlossen, als das gegenwärtige; nicht umsonst hat der Baarvorrath der fran¬
zösischen Bank die noch nie erhörte Ziffer einer Milliarde erreicht: der Ge¬
schäftsmann macht gern große Zinsen, aber lieber keine, wenn das Capital
in Gefahr kommt.
Das erste Jahr des norddeutschen Bundes ist vorüber, gefüllt wie kein
früheres mit parlamentarischen Versammlungen, Verträgen, den wichtigsten
Acten der Gesetzgebung. Der gehobenen Stimmung und unsichern Erwar¬
tung im Anfange des Jahres ist Befriedigung, Ernüchterung, hier und da
eine starke Reaction im Interesse früherer Zustände gefolgt; nicht auf jedem
Gebiete des Lebens ist dem Deutschen das frohe Gefühl erhöhter Kraft ge-
kommen. Handel und Verkehr litten schwer unter der drohenden Haltung
Frankreichs, nicht weniger unter den Folgen einer englischen und amerika¬
nischen Geschäftskrisis und unter den socialen Sorgen, welche eine ungenü¬
gende Ernte fast allen Landschaften des neuen Staates bereitet; die Schnee¬
flocken fallen auf Fluren und Dächer eines ernsten und sorgenvollen Volkes-
Auch politischer Mißerfolg hat geschmerzt, und bei Regelung der Bundes¬
verhältnisse blieb manches hinter dem Wunsch zurück, welchen die großen Ent¬
scheidungen des Jahres 1866 aufgeregt hatten. Dennoch würde der Deutsche
sehr ungerecht gegen die Gewalten sein, welche sein Schicksal regieren, wenn
er aus den Resultaten der verflossenen Monate nicht Muth und Hoffnung
holen und nicht eine Steigerung der nationalen Kraft erkennen wollte.
Es ist das Prinzip einer allmählichen Verbrüderung der deutschen Staa¬
ten und allmählicher Einordnung der höchsten nationalen Interessen unter
eine Bundesregierung und einen Reichstag, auf den wir nach einigen
acuten Territorialveränderungen zurückgekommen sind: es ist das alte Prinzip
des Bundesstaates unter preußischer Führung. Das Jahr 1866 hat
das Haupthinderniß dieses nationalen Wunsches, den Dualismus zwischen
Preußen und Oestreich, beseitigt, und es hat die Herrenstellung Preußens
durch die Annexionen zweifellos gemacht, denn es hat diesem Staat mit der
Nordsee und geschlossenen Grenzen fortan die Möglichkeit gegeben, auch ohne
solchen Bund zu bestehen. Darin liegt fortan das Uebergewicht des führen¬
den Staates, er bedarf der andern weit weniger, alle andern vermögen ihn weit
weniger zu entbehren. Im Jahr 1866 konnte Herr v. Beust noch meinen,
eine Wahl zu haben; im Jahr 1867, wo Preußen Herr der deutschen Nord¬
seeküsten und der Schienenwege nach Hamburg und Bremen ist, wäre auch
ohne jede Bundespflicht für die Regierung Sachsens eine preußenfeindliche
Politik unmöglich. Die ersten Forderungen, welche den souveränen Regie¬
rungen nach dem Frieden von Prag von dem neuen Preußen gestellt wur¬
den, traten als herrische Zumuthungen auf, aber aus Grundlage derselben
hat sich eine vorsichtige und rücksichtsvolle Behandlung der neuen Bundes¬
genossen eingerichtet. Die Grundlage des Bundesstaates sind Verträge und
Vereinbarungen souveräner Regierungen geblieben.
Wir sind also auf eine verhältnißmäßig langsame Vollendung des
deutschen Staatsbaues angewiesen, auch in unserer nächsten Zukunft werden
Verzögerungen und Mißerfolge nicht ausbleiben. Dieses Jahr hat erwiesen,
daß die Südstaaten ohne ernste Gefahr für Deutschland als Tummelplatz fran¬
zösischer, östreichischer und ultramontaner Einflüsse auf die Länge dem Bunde
nicht fern bleiben können, und daß selbst die Zoll- und Heeresverträge keine
Sicherheit geben, solange nicht dem Bund die Oberaufsicht über die nitida-
rischen Einrichtungen zusteht. Nur die patriotische Haltung Badens läßt
uns, die einige Hoffnung, daß das nächste Jahr dort die Nothwendigkeit eines
Eintritts in die norddeutsche Konföderation nahe legen werde.
Die Gesetzgebung des Bundes gibt der Parteikritik Blößen. Aber
jedermann kann sich sagen, daß es bei großen Neubildungen zunächst darauf
ankommt, die wesentlichen Punkte des Gewonnenen zu befestigen; an Fähig¬
keit und an Gelegenheit zu weiterer Ausführung wird es dem systematischen
Sinn der Deutschen nicht fehlen. Als den größten Gewinn für das Ver¬
fassungsleben der Deutschen aber betrachten wir in diesem Jahre die Bildung
einer großen nationalen Partei, welche dem Bundesstaat eine Unterstützung
durch die Liberalen sichert.
Und noch ein anderer großer Fortschritt ist eingeführt. Wir haben für
die höchsten Angelegenheiten der Nation das Einkammersystem angenommen.
Bereits macht sich die Wirkung dieses neuen Prinzips auf den Landtagen
der Einzelstaaten geltend, in Preußen, in Sachsen, in Bayern. Wenn man
bisher die deutschen Herrenhäuser als Hemmnisse unserer politischen Entwick¬
lung auffaßte, griff man nicht das Prinzip, sondern die zufällige Zusammen-
setzung oder gar die Personen an, welche in die eximirte Stellung geschickt
waren. Aber nicht in den Mängeln der Zusammensetzung liegt für uns das
Unhaltbare eines Oberhauses, sondern in der unwahren Idee, auf welche sie
gegründet ist. Es gibt in Wahrheit keine politisch wichtigen Herreninteressen;
und die Vorurtheile und zufälligen Stimmungen einer Anzahl distinguirter
Individuen in besonderem Hause zu sammeln und zu einem Faktor der Ge¬
setzgebung zu machen, liegt weder im Interesse der Regierungen, noch des
Volkes. Auch als retardirendes Element, welches gegen Überstürzungen oder
excentrische Wünsche der Volksvertretung zu sichern habe, sind unsere Herren¬
häuser ohne Gewicht, weil sie außerhalb des Hauses keine Macht darstellen,
auf welche sich eine mit den Vertretern des Volks verfeindete Regierung zu
stützen vermag, sobald die Aufregung im Volke in Wahrheit hochgestiegen ist.
Wir Deutsche hätten für ein Herrenhaus nur eine Kategorie von Persön¬
lichkeiten, und das sind unsere Herren, die Häupter der jetzt regierenden Fa¬
milien und ihre präsumtiven Thronfolger.
Das allgemeine Wahlrecht für den Reichstag hat in mehreren Land¬
schaften eine Bewegung für ausgedehntes Wahlrecht hervorgerufen. Nirgend
mit größerer Berechtigung als im Königreich Sachsen, wo auch die Regie¬
rung empfand, daß sich mit den fast abenteuerlichen Beschränkungen des
Wahlgesetzes nicht mehr auskommen lasse. Wenn aber diese Agitation hier
und da das allgemeine Wahlrecht auch für die Landtage fordert, so sind
wir' der Meinung, daß die nationale Partei sich hüten sollte, ein solches
Experiment zu begünstigen, es ist vielmehr ihr Interesse, den Modus
festzuhalten oder einzuführen, welcher der besten Intelligenz des Landes die
größten Aussichten gewährt.
Der Stadt, in welcher diese Zeilen geschrieben werden. brachten die letz¬
ten Tage einen besonderen Beweis, daß die Constituirung des norddeutschen
Bundesstaats vollendet sei, die preußische Besatzung Leipzigs wird heraus¬
gezogen, die Garnison wieder sächsischen-Bundestruppen übergeben. Von
officiösen Correspondenten Preußens wurde die Maßregel als ein Zeichen
des herzlichen Einvernehmens zwischen den beiden hohen Regierungen her¬
vorgehoben, wie auch Graf Bismarck die Bundestreue Sachsens mit
warmen Worten gerühmt hat. Erfreut enthalten wir uns darüber jeder eige¬
nen Reflexionen. Wir haben aber für das Zurückziehen der preußischen
Truppen einen andern Grund anzuführen: die Besatzungen von Leipzig und
Bautzen waren nach Erfüllung der Bestimmungen des Separatvertrages vom
7. Febr. 1867, welche dem Staat Sachsen ein eigenes geschlossenes Armee¬
corps und Sr, Majestät dem König von Sachsen gegenüber andern Bundes¬
fürsten einige souveräne Prärogative mehr zutheilte, eine bloße Demonstra¬
tion geworden, welche den sächsischen Localpatriotismus der Regierenden und
Regierten dauernd demüthigte. Da ein gutes Einvernehmen mit Sachsen
bereits werthvoll geworden ist, so war solche Demüthigung nicht weise. Die
Besetzung zweier Grenzstädte hatte aber auch keine militärische Wichtigkeit,
wenn eine Viertelmeile davon Truppen unter sächsischen Commando lagen,
deren Officiere an den kriegerischen Traditionen und Anschauungen der
tapfern sächsischen Armee ihr Selbstgefühl zu nähren verpflichtet sind. Grö¬
ßeren Nutzen für kameradschaftliche Verbindung des zwölften Bundescorps mit
den übrigen würde es nach unserem Dafürhalten gewähren, wenn der Bun¬
desfeldherr, sein vertragsmäßiges Recht wohlbedacht gebrauchend aus den
sächsischen Regimentern einzelne Offiziere in preußische commandiren wollte,
und umgekehrt, damit Gleichförmigkeit in der Dienstpraxis erhalten bleibe
und unter den tapfern Männern, welche fortan als Waffenbrüder neben ein¬
ander stehn sollen, auch persönlich gute Kameradschaft und das herzliche Ver¬
trauen gefördert werde, welches alle Offizierstische des Bundes verbrü¬
dern soll.
Dem 82. Regiment aber, welches jetzt die Mauern Leipzigs verläßt,
wird von der Stadt und den Bürgern warme Anerkennung für musterhafte
Haltung unter schwierigen Verhältnissen ausgesprochen; wir vermögen dem
Regiment keinen besseren Scheidegruß nachzusenden, als die Versicherung:
Offiziere und Mannschaft haben sich in Leipzig ganz und völlig so gehalten,
wie Preußen geziemt.
Immer von neuem wird dem geistigen und gesellschaftlichen Leben jener
berühmten Zeit Weimars nachgespürt, in welcher die Dichter und Denker
unserer Nation an der Ilm lebten und wirkten. Und mit Recht; denn" es
ist in hohem Grade lehrreich, zu erforschen, wie jene Geister großer Zeit sich
gegenseitig anregten, wie sie von Verhältnissen, die zu beherrschen keinem
Sterblichen gegeben ist, in ihren Thaten und Schöpfungen bestimmt wurden,
und welchen Einfluß sie selbst in ihrer Umgebung ausübten. In vielen
Fällen genügt es freilich, die Thatsache zu kennen, anziehend aber ist und
bleibt es, die Wirkung zu verfolgen. So weiß man, daß die Herzogin
Amalie, von der an ihrem Hofe herrschenden geistigen Strömung mit fort¬
gerissen, den lebhaften Wunsch hegte, griechisch und lateinisch zu lernen, um
die alten Dichter in der Ursprache zu lesen. Den äußern Anstoß zum Be¬
ginn dieser Studien gab die Erscheinung des berühmten Philologen Jean
Battiste Gaspard d'Anssc de Villoison zu Weimar. Der Herzog Karl August
hatte auf jener Reise, welche seinem Regierungsantritt unmittelbar voraus¬
ging, den jungen Gelehrten, welcher sich durch fleißige Ausgaben der
alten Schriftsteller einen Namen erworben hatte, in Paris aufgesucht (1774).
Villoison schloß sich mit Wärme dem Herzoge und seinen Begleitern an,
erwies sich ihnen während ihres Aufenthalts sehr gefällig und blieb fortan
mit ihnen und namentlich mit Knebel in Correspondenz. Seine Briefe
geben ein höchst eigenthümliches Bild des wunderlichen Ehrgeizes dieses
gründlichen Kenners der alten Sprachen und ihrer Literatur. (Vergleiche:
Zur deutschen Literatur und Geschichte, ungedruckte Briefe aus Knebels Nach¬
laß, herausgegeben von Düntzer, Nürnberg 1858). Nachdem er in Venedig
die Ausgabe des Homer bearbeitet hatte, welche seinen dauernden Ruf
begründete, kam er 1782 nach Weimar, wo er bei Hof gut aufgenommen
wurde und die Herzogin Amalie für seine Griechen so begeisterte, daß ihr die
Laune kam, bei ihm Unterricht in griechischer Sprache zu nehmen. Er zeigte
dies unterm 22. Mai 1782 Knebel an. Sie selbst aber schrieb ihm:
Tiefurt den 23. Juni 1782.--Seit Villoisons Hiersein habe ich
das Griechische angefangen; ich kann sieben anakreontische Oden lesen und
verstehen; ich bin aber auch une knnessss pleins ac gSniö. Knebel, was
sagen Sie dazu? Wären Sie hier, wie wollten wir die Sprache der Götter
treiben! Es macht mir wirklich unendlich viel Freude, und bringt mir viele
Stunden sehr angenehm hin.
Tiefurt den 29. Aug. 1782.--Das Griechische aber nimmt mit
großen Schritten seinen glücklichen Fortgang. Wie habe ich doch so ver¬
lassen sein können und nicht eher diese Sprache der Seele gelernt! Mir ist
es. als wäre ich in einer ganz andern Welt; meine Seele flattert so leicht
mit dem liebenswürdigen Täubchen, welches aus Anakreons Hand sein
Brod pickt.
Weimar den 4. Januar 1784.--Mein Fleiß im Griechischen
geht mit großen Schritten; diesen Winter studire ich den Aristophanes, wel¬
chen ich zuweilen mit Wieland lese; ich finde an ihm sehr viel Vergnügen,
sein beißender Witz ist unerschöpflich, und mit allem dem hat er so viel
Grazie, daß man ihm alles gern verzeiht, auch selbst seine schmutzigen Sachen.
Ich habe mit den Fröschen den Anfang gemacht, die so gut auf unsere Zeit
passen, daß, wenn Aristophan jetzt noch lebte, er nicht besser über unsere
^ovi-x^ ^ä»pcov und Kw^rin rs^s sprechen könnte.
Gleichzeitig trieb sie das Lateinische so eifrig, daß Knebel ihr bei Ueber¬
sendung seiner Uebersetzung des Properz einen Antheil an derselben zuschrei¬
ben konnte. Sie erwiderte darauf:
Weimar den 29. Oktbr. 1798.--Wie sehr Sie mich durch Ihre
Uebersetzung des Properz überrascht haben, und das Vergnügen, was Sie
mir damit gemacht, ist schwer mit Worten auszudrücken. Ebenso ist es mit
dem schmeichelhaften Compliment, was Sie mir machen, indem Sie mir einen
Antheil an diesem Werke der Kunst und des Geistes, womit Sie dem gelehr¬
ten Publikum ein so schönes Geschenk machen, zueignen wollen; ich kann es
nur annehmen als eine poetische Empfindung, die Sie aus einen Augenblick
getäuscht hat.
Aus den uns handschriftlich vorliegenden Uebersetzungen (es sind 15 Ele¬
gien des Properz und 4 Idyllen des Theokrit und Bion) — überzeugt man
sich, daß diese Sprachstudien von der trefflichen Fürstin mit Liebe und Aus¬
dauer getrieben wurden. Die Uebersetzerin hat ihre Concepte wiederholt ge¬
ändert und umgearbeitet, und endlich ihre Arbeit in zierlicher Reinschrift
ihren Lehrern zur Correctur vorgelegt. Wenn es schon überhaupt zu den
Ausnahmen gehört, daß Frauen sich mit der Erlernung der alten Sprachen
beschäftigen, so sind die Beispiele in so hoher Stellung noch seltener. Es
zeugt aber von ganz besonderer Begeisterung und Energie, wenn solche Stu¬
dien noch in spätern Jahren angefangen und fortgesetzt werden. — Mag
man auch an diesen Uebersetzungen vielerlei als falsch oder ungenügend zu
tadeln haben, so wird man die Mittheilung derselben nicht ohne Interesse
ausnehmen, schon weil sie die Möglichkeit der Beurtheilung dessen liefert,
wie weit es die Verfasserin mit ihren Studien gebracht hatte. Aus diesem
Grunde theilen wir die nachstehenden beiden Proben mit.
Theokritos, Idylle I.
Thyrsis: Wie lieblich stimmt das Gelispele der Quellen in das Säu¬
seln der Fichte! Und auch du, o Hirt, du bläsest die Flöte so sanft, daß du
nach Pan den zweiten Preis davon tragen wirst. Wenn er einen Bock mit
starken Hörnern zur Belohnung erhält, so wird dir eine Ziege zu Theil
werden. Bekommt er aber diese, so soll dir eine zarte junge Ziege gegeben
werden; sie hat ein zartes Fleijch, solange sie noch nicht, geboren hat und
nicht gemolken worden ist.
Hirt: O Schäfer, dein Gesang ist süßer als das rauschende Wasser,
welches dort von dem hohen Felsen herabträufelt; wenn die Musen ein
Schaf zum Geschenk erhalten, so hast du zum Preise ein Lamm, oder ge¬
fällt es ihnen das Lamm zu nehmen, kannst du dir das Schaf zueignen.
Thyrsis: Bei den Nymphen bitte ich dich, setze dich hierher an den
Abhang dieses kleinen Hügels unter den Tamariskenbaum, und blase die
Flöte, und ich will indessen hier meine Ziegen weiden.
Hirt: Hier dürfen wir nicht zur Mittagszeit die Flöte blasen; wir
fürchten uns vor Pan; wenn er müde von der Jagd heimkehrt, so ruht er
hier; er sieht immer mürrisch aus, sein Gesicht ist immer voll Zorn. Du,
Thyrsis, der die Leiden des Daphnis kennest, und der du bist der große
Hirtensänger, komm und setze dich nieder hier, mit mir unter die Ulme,
gegenüber dem Priap und den Quellen der Nymphen, wo der Schäfersitz
und die Eichen sind, und wenn du singest, wie du ehedem mit Chromis von
Lybien um den Preis hangest, so gebe ich dir eine Ziege, die du dreimal
des Tages melken kannst und welche zwei Junge auf einmal geworfen hat.
Diese, welche zwei Böckchen hat, mußt du noch in zwei Gefäße melken. Auch
gebe ich dir ein Trinkgefäß voll süßen Honigs, mit zwei Henkeln, welches
ganz neu ist und noch nach dem Schnitt des Künstlers riecht. Den Rand
umwindet ein zierlicher Kranz von Epheu, um den sich die Goldblume schmiegt.
Man sieht in der Mitte auf dem Gefäße eine weibliche Gestalt geschnitzt,
einer Göttin ähnlich mit einem Gewände und Kopfputz. Zu ihren Seiten
stehen männliche Figuren mit schönem langen Haar, die mit einander in
einem Wortwechsel begriffen sind. Aber sie scheint keinen Antheil an dem
Streit zu nehmen, bald lächelt sie dem einen, bald dem andern zu, diese
aber, in vergeblicher Liebe entflammt, staunen sie an.
Auf einen schroffen Felsen sieht man auch einen alten Fischer, der ein
ungeheures Netz mühsam nach sich schleppt; man sieht es ihm an, daß er alle
seine Kräfte zum Fischen anstrengt, denn die Sehnen des Halses schwellen
ihm auf; obschon er ein Greis ist, zeigt er doch die Stärke eines Jünglings.
Nicht weit von dem auf dem Meere grau gewordenen Alten erscheint ein
mit rothen Trauben prangender Weinberg; ihn zu bewachen, sitzt ein Knabe
am Zaun; nicht fern von ihm schleichen zwei Füchse, deren einer sich durch
die Gänge und Reben schmieget und Trauben nascht, der andere aber auf
den Sack des Knaben einen gierigen Blick wirft und ihn auszuleeren trach¬
tet, ehe der Knabe sein Frühstück nimmt und während er eine Grillensalle
von Stroh und Binsen baut, und dabei seinen Sack und seinen Weinberg
vergißt. Um das Ganze Mängeln sich die biegsamen Zweige von Bären¬
klau, alles in schöner erhabener Arbeit nach äolischen Geschmack, Du wirst
darüber erstaunen. Dieses erhielt ich von einem kanonischen Schiffer gegen
eine Ziege und einen großen Kuchen von Käse. Noch ist das Gefäß nicht
an meinen Mund gekommen, ich habe es wohl aufbewahrt. Mit Vergnügen
werde ich dir ein Geschenk damit machen, wenn du mir das bewegte und
schöne Lied singen wirst. — Wohlan, lieber Freund, ich glaube nicht, daß
du das Lied für den Orkus versparen willst, wo man alles vergißt! —
Wir lassen das nun folgende Lied des Thyrsis von den' Leiden und dem
Tode des Daphnis weg, da das Mitgetheilte genügt, um die Uebersetzung zu
beurtheilen, geben aber noch eine Uebersetzung einer Elegie des Properz (II. 13.):
„Das persische Heer verdunkelt den Himmel nicht mit soviel Pfeilen, als
Amor wider mein Herz abschießet. Er befiehlt mir, den zärtlichen Musen
mich zu weihen, und ihren geheiligten Haym zu bewohnen. Nicht, daß durch
den Zauber meines Gesanges die Eichen mir nachlaufen, und nach Griechen¬
land jedes wilde Thier hinter mir herziehen würde, sondern nur, daß Cynthia
sich erweichen lasse. Wenn ich dieses erhalte, so verlange ich keinen Vorzug
vor Linus oder seinem Schüler Orpheus. —
Mich reizt kein Mädchen ihrer Schönheit wegen, oder weil sie von Halb¬
göttern abstammt, aber dieses wünschte ich, daß ich meiner Cynthia gefalle,
wenn ich ihr meine Gedichte an ihrer Seite vorlese. Könnte ich ein so seltenes
Glück haben, verlangte ich keine theatralische Ehre, denn der Beifall meiner
Geliebten ist mir alles. Wenn sie mit mir Friede hält und ihren Zorn
gegen mich besänftigt, so werde ich Jupiter minder fürchten, wenn er wieder
mir zürnt.
Sollte der Tod seine Waffen gegen mich richten und meine Augen
schließen, so höre meinen letzten Wunsch, wie ich begraben sein will: Ich
will nicht, daß mein Bild in feierlichem Aufzuge erscheine, noch daß die
eitle Trompete meinem Tode Nachhalle, noch daß' mir ein mit Elfenbein ein¬
gefaßtes Bett zubereitet werde, noch daß alkalische Schätze mein Kopfpfühl
schmücken. Ich verlange keine in Reihen gestellten Gefäße mit Wohlgeruch,
nur gemeine Salben soll meine Urne einschließen. Wenige meiner Schriften
sollen meine einzige Zierde sein, besseres kann ich der Proserpina nicht zum
Geschenke bringen. Du aber folge mir, wenn man mich zu Grabe trägt;
trage die Zeichen deines Schmerzes auf deiner Brust und höre nicht auf,
meinen Namen zu rufen. Gib meinen verblaßten Lippen den letzten Kuß,
wenn du meinen Leib mit Assyrischer Balsam mitleidig salbest. Wenn die
Flammen meinen Leib in Asche verwandeln, so sammele sie in ein kleines
Gefäß. Aus mein Grab pflanze einen Lorbeerzweig, damit diese heilige Stätte
einen stillen und ruhigen Schatten bekomme. Setze diese zwei Verse über
meine Asche: der in wenig Staub verwandelt hier liegt, starb als Sclave
einer einzigen Geliebten.
Dieses Grab, welches ich dir in Gedanken vorzeichne, wird, hoffe ich,
so berühmt werden, als das blutige Grabmal des Achilles.
Auch du denke, daß du sterben mußt und erinnere dich des schweren
Uebergangs. Komme zum Ziel, doch so spät als möglich. Verschmähe nicht
meine kalten Gebeine, wenn du bei meinem Grabe vorüber gehst, denn Grab¬
steine haben Gedanken und Gefühl.
Ach, hätten mir die Parzen ohne weitern Schmerz beim Eintritt in die
Welt das bittere Leben genommen. Wozu wird so ein langer Lebensfaden
gesponnen? Klotho vergönnte freigebig dem Nestor drei Jahrhunderte; hätte
ein phrygischer Krieger am Simois, welcher soviel Menschenblut trank, sein
Leben verkürzt, so würde er seinen Sohn, den Antilochus, nicht mit Wunden
bedeckt gesehen, noch gesagt haben: Warum verweilst du, o Tod, mir mein
elendes Leben zu nehmen?
Laß manchmal Thränen über mich fließen. Es ist billig, daß die Liebe
nach dem Tode nicht erlösche. So bewies sich Venus, da Adonis von dem
grausamen Eber auf dem Jdalischen Gebirge tödtlich verwundet war. Sie
beweinte ihn mit zerstreuten Haar in jenen sumpfigen Thälern. — Aber ver¬
gebens wirst du meinen stummen Schatten zurückrufen, denn was können
meine in Staub verwandelten Gebeine dir sagen!
Wir können es uns nicht versagen, bei dieser Gelegenheit einer hand¬
schriftlichen Notiz aus dem in den „Grenzboten" wiederholt erwähnten
Nachlaß des Livländers Garlieb Merkel Erwähnung zu thun, sie
bietet einen kleinen Beleg für die Ungezwungenheit und Humanität,
welche die Beziehungen der Herzogin Amalie zu ihrer Umgebung und
den Gelehrten des Hofes charakterisirten. Merkel gehörte zu Wielands an¬
hänglichen Freunden und hatte, um diesem während der Sommermonate des
I. 1799 möglichst nahe zu sein, eine Wohnung im Hause des herzoglichen
Hofgärtners zu Tieffurt gemiethet. Herder und dessen Frau, Böttiger, der
Satiriker Johannes Fakel und Wieland waren Nachmittags und Abends häufig
Merkels Gäste, um bei diesem den Kaffee oder eine bescheidene „Abendcolla-
^
lion" einzunehmen. „Meine hochfürstliche Nachbarin, die Herzogin Amalie"
so berichtet Merkel in einem „Meine Lebensweise in Weimar" überschriebe-
nen Manuscript, „und ihr kleiner Hof thaten mir in keiner Weise Zwang an.
Ich lustwandelte des Morgens in ihrem kleinen Park, der eigentlich nur
aus zwei oder drei schattigen Schlangenwegen zwischen der Ilm und einer
Bergwand bestand, ich arbeitete in einer kleinen Grotte, der „Höhle", die auf
dem Rande dieser letzteren stand und eine weite Aussicht gewährte. An
einem Abende war verabredet, daß die Falckin eine Freundin mitbringen
sollte und ich hatte ein anderes Ehepaar, einen Kaufmann, dessen Frau eine
Rigaerin war, eingeladen. Als Falcks aber kamen, war ich sehr überrascht,
statt des weiblichen Gastes einen Mann zu sehen. Es war Wieland. Ich
wußte die Ehre, die mir dadurch widerfuhr, nach Gebühr zu würdigen und
die Freude darüber riß mich zu einer Unbesonnenheit hin. Wielands Gegen¬
wart möcht' ich nicht in der Stube genießen. An den Park stieß eine ziem¬
lich große Rosenlande, die eben in Blüthe stand. Ich fragte den Hofgärtner
und in der Voraussetzung, daß die Herzogin Amalie so spät nicht mehr im
Garten spazieren werde, .willigte er ein, den Tisch in der Laube decken zu
lassen. Kaum hatte die Mahlzeit begonnen, so brachte der Gärtner die Nach¬
richt, die Herzogin komme mit ihren Hofdamen gerade den Gang zur Laube
her: sie war ihr Lieblingssitz. In großer Verlegenheit sprang ich auf und
wollte der Fürstin entgegengehen um ihre Verzeihung zu erbitten; aber sie
war der Gesellschaft gewahr geworden und bog eben lächelnd in einen Gang
ein und kehrte zurück in ihr Schlößchen____Dies schonend nachsichtsvolle
Benehmen der edlen Fürstin war ganz in dem so geistvoll humanen Charak¬
ter, den ihr ganzes Leben bezeugte; ein kleiner, aber vielsagender Zug!"
Aber die Gelehrten und Dichter waren damals auch dankbar für mensch¬
liche Behandlung durch die Großen der Erde. —
Hermann Schulze, Einleitung in dus deutsche Stciatsrccht mit besonderer Berück¬
sichtigung der Krisis des I. 18V6 u. d. Gründung des nordd. Bundes. Leipzig 18V7.
Unsere deutschen staatsrechtlichen Bücher spiegeln meist noch literarische
Zustände -und Gewohnheiten ab, die auf andern Gebieten überwunden
sind. Sie gelten jedem, der nicht selbst zu der Schule zählt, für unge¬
nießbar, und sie sind es auch. Früher verband sich damit ein gewisser Glo¬
rienschein unbegreiflicher Weisheit; jetzt, wo der leidige Grundsatz immer
mehr in Fleisch und Blut übergeht, daß jedes schwerfällige und pedantische
Buch auch auf einen ebenso construirten Autor zurückschließen läßt, ist aus
der Glorie ein dicker Zopf worden. Möglich, daß ihn mancher mit Würde
trägt, möglich auch, daß dieser Kopfschmuck im Kreise strenger Weisen noch
etwas gilt, aber zum Lesezeichen will er uns nicht mehr recht behagen.
Und doch wäre es zur Förderung großer Interessen sehr wünschenswert!),
wenn es sich anders verhielte, wenn wir eine deutsche staatsrechtliche Lite¬
ratur besäßen, aus der man nicht blos gründliche, sondern auch geschmack¬
volle Belehrung schöpfen könnte. Das Bedürfniß ist verbreiteter wie je. Die
praktische Theilnahme an dem Staatswesen wächst in Dimensionen, die man
vor zwanzig Jahren kaum ahnen konnte. Gern oder ungern muß so ziem¬
lich jeder Gebildete, nicht etwa aus Liebhaberei, sondern im Drange der
reelsten Verhältnisse eine bestimmte Position zu dem politischen Leben neh¬
men. Die fast zu zahlreichen parlamentarischen Körperschaften, die nicht wie
Pilze aus der Erde schießen, sondern als spät befruchtete Keime einem auf
der Oberfläche spröden, in der Tiefe unendlich fruchtbaren Boden ent¬
wachsen, beschäftigen sich alle mit Fragen, zu deren klarer und gründ¬
licher Lösung eine gewisse Klarheit und Gründlichkeit staatsrechtlicher
Bildung gehört. Selbst in dem- bescheidensten Gehege einer Locolgemeiude
wird es nöthig sein, über das Verhältniß der ganzen Corporation zu den
Rechten der Individuen, über die gegenseitige Abstufung der Rechtsverhält¬
nisse zwischen der Gemeinde und dem Staate, und über tausend andere
Dinge etwas zu wissen, die alle nicht aus. den Fingern gesogen werden kön¬
nen, wenn nicht blamable Geschichten entstehen sollen, die sich der anmaß-
lichen Öffentlichkeit dieser Tage nicht mehr so leicht vorenthalten lassen, wie
etwa dreißig Jahre früher. °
Freilich kann sich jeder, der Zeit und Mühe daran setzt, gerade so gut
in unser deutsches Staatsrecht einarbeiten, wie in jedes andere Wissen. Aber
es handelt sich hier eben darum, daß die meisten nicht in der Lage sind,
solche Opfer zu bringen und doch bei jedem Schritte in das öffentliche Leben
jenes unangenehme Gefühl der Unsicherheit empfinden, das sich durch einige
zufällig erworbene Notizen aus Leitartikeln und Kammerdebatten nicht be¬
schwichtigen läßt. Auch unsere Staatswörterbücher wollen dazu nicht aus¬
reichen, so wenig wie Jemand die gewöhnlichen Conversationslexica als aus¬
reichend zum Erwerb einer allgemeinen Bildung ansehen wird. Wer schon
etwas im Zusammenhang weiß, mag aus ihnen gelegentlich einmal mit Nutzen
Vergessenes oder Uebersehenes herausholen, eben wo eine solche Grundlage
fehlt, werden sie nicht so wohl verflachend, wie man zu klagen pflegt, als
verwirrend wirken. Wir sind eben keine Franzosen, denen die Schlittschuhe
angeboren sind, um auch auf dem bedenklichsten Glatteis graziös hinzu-
zuschweben. Wir bleiben bedächtig und gründlich, und wo wir dies nicht
sein können, werden wir confus.
Gründlich ist freilich selbst wieder ein vieldeutiger Begriff. Wir Deutsche
verstehen darunter, falls wir unsere eigenste Art und Anlage zur Geltung
kommen lassen, ein praktisches Wissen von einem Gegenstand, nicht ein
buntes Vielerlei von Notizen über denselben. Wir glauben zwar häusig,
daß unsere deutsche Gründlichkeit mit Viel- oder Alleswisser identisch sei, aber,
wenn auch Deutschland wahre Ungeheuer von Polyhistoren erzeugt hat, so
war dies nur eine vorübergehende Entwickelungskrankheit, noch dazu in einer
Zeit, in der der Kern des deutschen Wissens tiefer als zu irgend einer an¬
dern unter fremdem Schutt und Gerümpel vergraben lag. Im Gegentheil
liegt dem deutschen Volksgeiste oft weniger, als es uns nützlich und förder¬
lich ist, an der Kenntniß eines Gegenstandes, als an der Erkenntniß. Jeden¬
falls kann er sich Kenntniß nur als Folge von Erkenntniß denken und in
der That auch nur so zu eigen machen. Anderwärts ist der Weg umgekehrt,
oder vielmehr die bloße Kenntniß genügt, und die Erkenntniß wird als über¬
flüssige Dreingabe behandelt.
Auf das Gebiet des Staates und de« Politik übertragen bezeugt dieser
unvertilgbare Zug des deutschen Wissens, daß wir, um über seine hand¬
greiflichen Erscheinungsformen in der Wirklichkeit unserer Tage urtheilen und
demgemäß eine praktische Position zu ihnen nehmen zu können — denn das
Urtheilen muß bei uns immer der Praxis vorhergehen — wissen müssen, wie
das alles zu dem geworden ist, was es jetzt vorstellt. Die Geschichte, und
zwar die genetische Geschichte des deutschen Staates, ist für uns nicht blos
ein theoretisches Fach, das zur Zierde und Bildung des Geistes sehr nützlich
sich erweist, sondern eine unerläßliche Vorbedingung, um an dem Staat
der Gegenwart den lebhaften und kräftigen Antheil zu nehmen, zu welchem
uns alles hindrängt.
Gerade hier hat aber unsere Wissenschaft oder haben ihre Vertreter so
viel versäumt und gerade deshalb erregt das Buch, dessen Titel wir ange¬
führt haben, unsere besondere Theilnahme. Denn es ist ein wohlgelungener
Versuch einer'genetischen Geschichte des deutschen Staates und der Ideen,
aus denen er sich aufgebaut hat. Insofern darf es auch mit Recht als das erste
seiner Art bezeichnet werden, denn unsere bisherigen Staats- und Neichsge-
geschichten haben zwar häufig eminente gelehrte Verdienste, aber sie stellen
sich von vornherein in die engumschlossene Sphäre der Zunftgelehrsamkeit
oder, wenn man an diesem Ausdruck Anstoß nimmt, der -specifisch juridischen
Bildung. Sie gehen alle von der Voraussetzung aus, daß niemand außer
einem systematisch geschulten Juristen befähigt, und was noch weniger für die
Gegenwart passen will, berechtigt sei, von dem Dinge, Staat genannt, etwas
zu erfahren. Hier aber ist dieser Grundirrthum glücklich vermieden und
zwar, wie kaum bemerkt zu werden braucht, nicht etwa auf Kosten der Gründ¬
lichkeit und, sachgemäßen Kenntniß des Materials. Denn eine populäre
Schrift in dem leider noch immer gewöhnlichen Wortsinn darf man sich unter
dieser Einleitung in das deutsche Staatsrecht nicht vorstellen. Sie gibt die
Resultate der Einzelarbeit auf dem ganzen Gebiet, auf dem sich ihr Verfasser
schon früher bewährt hat, in systematischer, streng geordneter Folge. Sie ist
nicht bestimmt, halb im Schlafe gelesen zu werden, sondern sie verlangt eine
Sammlung und Fesselung der Aufmerksamkeit und des Denkens, ohne die
man überhaupt kein Buch zur Hand nehmen sollte. Aber man braucht kein
Jurist zu sein, um sie zu verstehn, und die nach dem heutigen Bildungsstand
unabweisbaren Anforderungen des guten Geschmacks werden in ihr nicht
ignorirt.
.Doch darauf allein möchten wir nicht alles Gewicht legen, ja nicht ein¬
mal das hauptsächliche. Mehr noch als der umsichtige Fleiß und die gründ¬
liche Durchforschung des Materials, mehr als die klare und durchsichtige
Darstellung gilt uns die Gesinnung, die aus dem ganzen Werke spricht.
Und nicht blos deshalb, weil sie dieselbe ist, zu der auch wir uns bekennen.
Auch dies ist nichts geringes in unseren Augen, denn wir sind so unbeschei¬
den zu glauben, daß es die rechte und wahre ist und daß jeder rechte und
wahre Mann, der den deutschen Namen trägt, zumal jeder, der die Präten¬
sion erhebt, in irgend einer Art ein geistiger Führer der Nation zu sein, sich
zu ihr von Rechts wegen bekennen müßte. Wir sind durchaus nicht gemeint,
jenen quietistischen Jndifferentismus gelten zu lassen, der unter dem beliebten,
Mantel der Toleranz so häufig Faulheit und Feigheit verbergen mußte.
Wer nicht zu uns gehört, von dem wissen wir, daß er im Irrthum befangen
ist und es kommt nur darauf an, sich klar zu machen, warum er es ist, um
darnach unsere Stellung gegen ihn zu nehmen. Eine doctrinäre, bis ins
ein zelnste ausgetüftelte Uniformität des politischen Bekenntnisses würde uns
ebenso ungeheuerlich vorkommen, wie die Subtilitäten einer confessionellen
tormuls, eonec>i'<1la,(;. Nicht blos aus Ehrfurcht vor dem Rechte der subjec-
tiven Ueberzeugung, sondern aus dem praktischen Grunde, daß damit alle
und jede Lebensregung erstickt wäre, verzichten wir gern darauf. Wir halten
also nicht jeden, der z. B. über die Frage der activen und passiven Wahl¬
berechtigung, über die Nothwendigkeit einer ersten Kammer, über die jährliche
Vorlage des Budgets und hundert andre Controversen von großem Belange
für die politische Praxis anders denkt wie wir, für unsern Feind; wir rech¬
nen ihn zu den unsrigen, trotz momentaner Gegnerschaft, wenn er nur in den
Haupt- und Cardinaldogmen mit uns eins ist. Und solcher gibt es für uns
nur wenige und ganz klare, unzweideutige, ohne alle Subtilitäten und men-
tale Reservationen, Das erste davon lautet: das deutsche Volk hat das
Recht und die Pflicht, einen deutschen Staat zu gründen und zu erhalten.
Das zweite: dieser wirkliche deutsche Staat war einst in Preußen dargestellt,
ist gegenwärtig im norddeutschen Bund zu suchen und muß demnächst das
ganze Deutschland sein. Und dazu noch das dritte und letzte: jedes und
jeder, gleichviel wie exclusiv gestellt und wie privilegirt bisher, hat in dem
deutschen einheitlichen Staat der Gegenwart und Zukunft keinen andern
Platz, als ein gleichberechtigtes Glied neben den andern. Wer als Particu-
larist und Separatist sich damit nicht begnügen will, ist ein Verräther an
der deutschen Nation. — Mit diesem kurzen Credo ist alles erschöpft, was
uns von unsern Gegnern, den Welsen und Mtramontanen, den schwarz¬
gelben und Rothen trennt; wer sich dazu bekennt, mag sich außerdem zu den
Altliberalen oder Nationalliberalen zählen, er ist in der Hauptsache doch der
unsrige, während wir eine Uebereinstimmung in den Nebendingen für ganz
gleichgültig halten, wenn der Grund und Kern der Gesinnung nicht der ein¬
zig berechtigte und wahre ist.
Gerade darauf aber möchten wir für die Würdigung des Buches, wel¬
ches wir der Aufmerksamkeit unserer Gesinnungsgenossen aller Farben zu
empfehlen wünschen, besondern Nachdruck legen.' Mit echt geschäftlichem und
wissenschaftlichem Sinne drängt es dem Leser niemals eine formulirte poli¬
tische special- und Schuldoctrin auf; sein Verfasser ist unbefangen genug,
um nicht in einem fertigen Recept das Heil der Nation für alle Zeiten und
Verhältnisse in der Tasche haben zu wollen. Eine lebendige Einsicht in den
innern und äußern Pragmatismus der bisherigen Staatsbildungen in
Deutschland, insbesondere während der verwickelten Evolutionen der Neuzeit,
die in der Gründung des norddeutschen Bundes ihren vorläufigen Abschluß
gefunden haben, gilt ihm — und setzen wir hinzu auch uns und jedem wahren
Patrioten — mehr als der Ruhm, eine neue unfehlbare Formel gefunden zu
haben, die doch im besten Falle nicht mehr ist als ein geschickt gelöstes Rechen¬
exempel nach einem willkürlichen Ansatz. Zur Einübung der Elemente des
politischen Wissens mag dergleichen ganz praktisch sein, aber dem männlichen
Ernst des wirklichen Staates gegenüber kann man sich eines mitleidigen und
abweisender Lächelns nicht erwehren, daß man noch immer Leute sehen muß,
die Wunder was gethan zu haben glauben, sobald sie zu den vielen alten
noch ein neues Exempelchen erfinden. Ja es möchte noch immer gehn, wenn
sie nur nicht so tückisch sich geberdeten, sobald man sie bedeutet, daß ihre
Scherze wohl für die Schule, aber nicht für das Leben passen.
In der Reihe der Festlichkeiten, die man zu Athen beim Empfang des
neuvermählten Königspaares veranstaltete, war die Aufführung einer neu¬
griechischen Übersetzung der Antigone von Sophokles im Theater des Hero-
des Attikus die letzte und eigenthümlichste. Erlauben Sie, daß ich Ihnen
mittheile, was ich mit den Augen des Barbaren dabei wahrgenommen habe.
Schon seit Monaten war aus der Bühne und im Zuschauerraum viel
gehämmert und gezimmert worden und die Besucher der Akropolis, an welche
das Odeion des Herodes sich anlehnt, konnten sich täglich von dem Fleiß
überzeugen, mit dem man zu Werke ging, freilich auch von dem abenteuer¬
lichen Geschmack, der sich entwickelte, und der immer toller zu werden schien,
je mehr die Vorbereitungen ihrem Ende nahten. Das Gebäude, obwohl
bedeutend kleiner als das alte Dionysostheater, welches eine geringe Strecke
weiter östlich neuerdings wieder aufgedeckt worden ist, war mit Recht für
die Bewohner des heutigen Athen zu groß befunden worden; man hatte
nur einen Theil desselben zum Gebrauche hergerichtet. Die Bühne war ver«
kleiner: worden indem man zu beiden Seiten Wände aufführte und zwischen
ihnen auf vier Säulen ein Giebeldach herstellte, das den eigentlichen Aktions¬
raum bedeckte. Die Scenenwand hatte die üblichen drei Thüren erhalten;
rechts und links aber von der mittelsten standen große von unten drehbare
Pyramiden, deren Malereien zur Veranschaulichung der Scenerie dienen
sollten; an beiden Seiten fehlten auch Coulissen nicht, und zwei Treppen
führten in die Orchestra herab. Alles von Holz und alles mit sogenannten
Farben überzogen. Im Giebelfeld-; hatte man sich sogar zu einer großen
Malerei, grau in grau, verstiegen! Apollo hatte sich bequemen müssen, auf
einer nach beiden Winkeln hin verlaufenden Ranke Platz zu nehmen, um mit
enthusiastischem Blick gen Himmel die Leier zu spielen. Als weitere Deco-
ration waren noch zwei Gipsstatuen aus dem Atelier eines neugriechischen
Phidias auf der Bühne angebracht, und damit der Vergleich mit der Antike
nicht gar zu sehr aufgedrängt werde, war die alte Plastik nur durch Sta¬
tuetten vertreten, indem man alles zur Verwendung gebracht hatte, was im
Magazin des Gipshändlers gerade vorräthig stand: den Apoll von Belvedere
neben der Astragalosspielerin, den Sophokles neben einem pompejanischen
Faune und dergleichen. Den Bühnenraum zwischen den vier Säulen ver¬
deckten Vorhänge, welche herabgelassen werden konnten, alle drei von ziegel¬
rothem durchsichtigem Kattun. Im Zuschauerraume schließlich hatte man die
Steinsitze für mehr als 2000 Personen mit Brettern überdeckt und oben in
der Mitte des mittelsten Treppenausschnitts für das jugendliche Königspaar
eine Behausung eingerichtet, welche viel Aehnlichkeit mit einer Puppenstube
zeigte. —
Alle diese Herrichtungen hatte das Wetter, das in diesem Winter nach
langer Dürre ungewöhnliche Nässe brachte, nicht begünstigt. Wiederholt war
vom Sturm und Regen der Stuck von dem Veräs antico der Säulen und
vom leierspielenden Apollo im Giebel unbarmherzig zu Boden gefallen.
Wiederholt hatte der durchsichtige Kattun der Vorhänge zu zerreißen gedroht,
und die auf ihm hochgelb ausgemalten schönen Sprüche und Grundsätze hatten
sichtlich gelitten. Von einem Termin auf den andern war die Stadt durch
kolossale polychrome Theaterzettel, die quer über die Straßen hingen, ver¬
tröstet worden, und erst am 19. December, einem sonnenlosen milden Tage,
fügten'es die Umstände, daß zur Ausführung geschritten werden konnte.
Leider blieb dem Publikum das angenehme Schauspiel eines gefüllten
Theaters versagt, zwischen den seidenen Kleidern der Damen sahen oft be¬
denklich lange Bretter hervor, und das Aussehn besserte sich nur, als im
Lauf des Stücks der Demos im Gefühl der Gleichheit aller Menschenrechte
über- und herunterstieg. Gegen ein Uhr erschien der König mit Königin
und Gefolge, den Wartenden durch die lauten Rufe der draußen versammel¬
ten Menschenmenge angekündigt. Als sie in der Loge Platz genommen,
begann das in der Orchestra aufgestellte Musikchor eine italienische Ouvertüre,
die der arme Dirigent, obgleich er vor Aufregung auf dem antiken Marmor¬
boden den Takt mit dem Fuße trat, nicht ins Gleis bringen konnte.
Nach den Qualen dieser Musik und nach den weitern einer unvermuthet
langen Pause, während welcher man laut hinter dem Vorhange zanken hörte
und die Festordner besorgt zu der königlichen Loge auf- und abeilen sah,
fiel endlich der Kattun, und Antigone trat mit Jsmene aus dem thebavischen ^
Palast hervor, zwei griechische Damen nicht ohne Reifrock, die eine weiß, die '
andere violett, beide aber an den Rändern ihrer Gewänder durch halbellig
hohe ä. Ig. 6rec<zu0-Ornamente legitimirt. Dasselbe große antike Ornament,
wie es schien direkt von einem Tempel copirt, zeigten im Verlauf alle Ge¬
wänder des gesammten Personals, auch die der Choreuten, welche feierlich,
fünfzehn an der Zahl, von links eintraten: keiner wie der andere, sondern
einer buntscheckiger als sein Nachbar, aber alle in Unterbeinkleidern statt
Tricots und mit unglaublich langen Perücken, die das Greisenalter in allen
Schattirungen darstellten und deren Locken ihnen bei jeder Bewegung wie
eine Mähne über das Gesicht fielen. Sie sangen Mendelssohn und stellten
sich inmitten der Orchestra auf, rings um einen Leinwandverschlag, hinter
dem eine Physharmonika die Begleitung lieferte und zugleich der unentbehr¬
liche Soufleur versteckt war. Während der Parodos erschien Antigone wie¬
der, um in mächtigen Schritten eine schwarze berliner Modevase als Aschen¬
urne quer über die Bühne zu tragen. In gleichem Sinne klassisch war das
Austreten Kreons, der nicht anders als auf einem Beine stand, indem das
andere nur mit den Fußspitzen den Boden berührte, und der bei je^em Aus¬
druck seiner Herrseherwürde den'rothen Mantel entrüstet über die Achsel
warf. So konnte es auch nicht befremden, daß Haimon tobte, daß Teiresias
beständig zitterte, daß der Chorag, wenn er auf die Bühne trippelte, als
Greis gebeugt in einem Winkel von 45 Grad dastand. Aber entschieden
neu war die Wendung, daß die Dame, welche Eurydike gab, statt sich als
Leiche zu der des Haimon herauftragen zu lassen — was ihr wohl zu indecent
war, da man das Auskunftsmittel einer Bahre nicht zu kennen schien —
aus dem Palast hervorwankte, um unvermuthet neben Kreon todt niederzu¬
stürzen. Und alle gerechten Erwartungen übertraf der Umstand, daß, so oft
Kreon durch die mittelste Thür in der Haltung des borghesischen Fechters
sich entfernte, die Thürflügel offen blieben und währenddem ein Photograph
in lichten Beinkleidern sich eifrig mit seiner Maschine beschäftigte, um vom
hohen und höchsten Publikum Sekundenbilder aufzunehmen. Da Kreon sich
öfters zu entfernen hatte, so sah man zu verschiedenen Malen viele gefällige
Leute in gefälligen Attitüden, und gute Beobachter wollen selbst bemerkt
haben, daß sogar die sehr würdige Dame, welche als Oberhofmeisterin der
Königin in hohen Jahren aus dem Norden zu den Athenern gekommen ist
und beim Einzug der Königin von dem Volk mit wenig schmeichelhaften
Bemerkungen bezeichnet worden war, ihrem vornehmen Ernst zu Gunsten
des Photographen entsagte, und ihre Züge jedesmal mit lächelndem Wohl¬
wollen verklärte, so oft Kreon der Tyrann verschwand und Bosko der Photo¬
graph erschien.
Das Publikum, das eifrig im Textbuch nachlas, verhielt sich bis gegen
das Ende ruhig, belohnte aber dann den vielen Aufwand mit großem Bei¬
fall. Der Stolz, ein sophokleisches Stück wieder gesehen zu haben, ist begreif¬
licherweise groß, und gern mögen wir den Hellenen und Philhellenen glauben,
daß der Unterschied zwischen dieser Aufführung und einer antiken nur darin
bestand, daß Antigone am Südabhang der Akropolis einige hundert Schritt
weiter westlich auftrat. Etwas bedenklicher freilich mochte das Urtheil man¬
cher europäischer Barbaren lauten, die das Glück hatten, ihre Vorstellungen
vom alten Athen an diesen Vorstellungen des jungen zu prüfen. Und den
Deutschen konnte es fast zu Muth werden, als ob sie der Leistung eines
Liebhabertheaters in Nürnberg oder Zwickau unter Beirath eines großen
Alterthumskenners vom Progymnasium beigewohnt hätten.
Athen, Weihnachten 1867.
Politische Skizzen über die Lage Europas vom wiener Kongreß bis zur Gegenwart
(1815—1867). — Nebst den Depeschen des Grafen Ernst Friedrich Herbert zu
Münster über den wiener Kongreß. Von Georg Herbert Graf zu Münster
(Leipzig bei F. A. Brockhaus 1867).
Bücher, welche von Mitgliedern des deutschen Adels geschrieben' waren,
fanden in unserer Literatur zu allen Zeiten besondere Beachtung — am mei¬
sten die Werke solcher, welche an den großen Interessen der Nation Theil hat¬
ten. An der Spitze der Bildung seines Volks zu stehen, hat der deutsche Adel
lange verschmäht; die großen und noch mehr die kleinen Höfe waren die Mittel¬
punkte seiner Interessen, für den wahren Inhalt des großen Kampfes der Zeit
galt ihm — um ein Wort Münsters des Vaters zu brauchen — „das Bestreben
der Antichcunbre in den Salon zu gelangen." Im Gegensatz zu der Aristo¬
kratie Englands, beziehungsweise selbst Frankreichs, übergab die unsrige die
Vertretung, der conservativen Prinzipien, ebenso wie die der liberalen, den Par¬
venus aus dem Bürgerstande, indem sie sich und ihren Söhnen die Repräsen¬
tation vorbehielt. Man überließ es den Adam Müller und Gentz, den
Stahl und Wagener, die eigentliche Arbeit zu thun; von diesen wurden die
Programme und Doctrinen ausgearbeitet, deren Vertretung dann die über¬
nahmen, welche Anspruch auf die Rolle deutscher, d. h. östreichischer, preußi¬
scher, hannoverischer u. f. w. Tories erhoben. Daß sich auf diese Weise
jenes „Prestige" nicht gewinnen ließ, in welchem man es den fremden Aristo¬
kratien so gern gleich gethan hätte, daß die politische Bedeutung des „Salons",
den man um jeden Preis von Eindringlingen rein erhalten wollte, noch unter
die der deutschen Bierstube sank, mußte freilich in den Kauf genommen werden:
der deutsche Adel war schließlich fast nur da zu finden, wo die andern Aristo¬
kratien ihre Hauptfeinde suchten, in der Civil- und Militärbureaukratie. So ist
es geschehen, daß aristokratische Namen in unserer politischen Literatur ebenso
selten, wie in andern Literaturen häufig vorkommen und daß Bücher, wie
das vorliegende, ganz abgesehen von ihrem Inhalt, ein angenehmes Aufsehen
machen und noch immer für Fremdlinge des „Salons" gelten, aus welchem
das deutsche Volk seine politische Parole zu holen gewohnt ist. Ernst Fried¬
rich Herbert Graf zu Münster, dessen an Georg IV. gerichtete Depeschen
über den Wiener Congreß die Veranlassung zur Herausgabe der politischen
Skizzen seines Sohnes gegeben haben, ist eine in der Geschichte der Restau¬
rationszeit viel genannte Person, gewissermaßen der Prototyp kleinstaatlich-
liberaler Minister. Im Gedächtniß ist die mit Furcht gepaarte Abneigung
jenes Staatsmannes gegen die preußische Hegemonie, aber vergessen sind
die gelegentlichen Anläufe, welche derselbe nahm, um die ständischen
Rechte gegen den Absolutismus großer und kleiner Dynasten sicher zu stellen,
so daß man nur noch im Lande der Weisen von jener seitdem oft wieder¬
holten Frage etwas weiß, welche der hannöversche Premier dem Fürsten
Metternich vorlegte: „Muß man denn Absolutist werden, um das monarchische
Prinzip aufrecht zu erhalten?" Daß zwischen den Anschauungen des Mannes,
der in dem Gegensatz zwischen Antichambre und Salon den eigentlichen
Kampf der Zeit sah, und denen der Vorläufer des deutschen Constitutiona«
lismus kaum eine Verbindung bestand, war natürlich genug; Graf Münster,
der selbst den Hochtories vom Schlage Castlereagh's für einen Ultra galt,
begnügte sich mit einer avancirten Stellung im reactionären Lager, schon
seine Hingabe an die specifisch welfische Sache schloß ihn von den Kreisen
aus, in welchen nach den Grundlagen des deutschen Staats gestrebt wurde,
den erst sein Sohn erleben sollte. Die geistreiche Theorie von der Solida¬
rität zwischen kleinstaatlichen und freiheitlichen Interessen, welche die Aller¬
neusten unter unsern Radikalen ausfindig gemacht haben, war damals noch
nicht erfunden, ein Zweiherrendienst dieser Art kaum möglich; die weiland
„Demagogen" bemaßen den Patriotismus der Fürsten und Staatsmänner
ihrer Zeit ebenso nach den Opfern, welche dieselben dem deutschen Gesammt-
interesse brachten, wie nach den Zugeständnissen an die Unterthanen; die
liberale Rolle der Beust und Pfordten ist dem Grafen Münster ebenso er¬
spart geblieben, wie die Popularität derselben. Erst die metternichschen Klagen
über die freisinnigen Staatsmänner Preußens veränderten die Stellung der
kleinstaatlichen Minister zu inneren Fragen, und wo diese anfangen, hören
die münsterschen Depeschen, so weit sie in der vorliegenden Sammlung ent¬
halten sind, auf. „I^g Z6Sir as ig, ?t'U8SL, <Zö 8'g.Zranäir en ^IlöMÄANö et
ä<Z 86 mvttre sur la. moins ligne aveo Is8 AriwäöZ moral-euiö3 as l'Lurope"
ist das Hauptthema der Klagen, welche der „echt deutsche" Staatsmann seinem
englischen Fürsten zu berichten hat. Von der eigentlichen Wurzel aller der Uebel,
welche die deutsche Sache auf dem wiener Congreß trafen, der dominirenden
Stellung, die Talleyrand's unvergleichliches Geschick gegenüber den ver¬
bündeten Großmächten zu erobern wußte — (vergl. v. Bernhardy, Geschichte
Rußlands und der europ. Politik) — scheint der hannoversche Bevollmächtigte
nichts erfahren zu haben, denn die gleichberechtigte Stellung Frankreichs im
europäischen Comite wird von ihm wie eine selbstverständliche Thatsache be¬
richtet und auch daran, ,,pus tmalsmönt 1s rösultat as leur travail serait
I^Lvutv an eonZi^s Aöllvral", scheint er fest zu glauben, obgleich dem Ur¬
heber dieses Plans, dem Lord Castlereagh der Wahn von einem „Gesandten¬
parlament" schon früher benommen worden war. Das große Interesse Hanno¬
vers und — Deutschlands besteht nach ihm in der Aufrechterhaltung des Kö¬
nigreichs Sachsen und in der Verhinderung der preußischen Hegemonie, für
welche die deutschen Revolutionäre „sourätimeut" thätig sind; gelingt es,
beide Pläne durchzusetzen, so winkt die Königswürde Hannovers als schöner
Lohn. „Die sächsische Angelegenheit ist die wichtigste für die Ruhe Europas,
wichtiger selbst als die polnische Frage", „kommt Dresden in preußische
Hände, so ist Böhmen verloren und der Mittelpunkt der östreichischen
Monarchie bedroht"; es gilt für einen Erfolg, daß Talleyrand erklärt hat,
„Sachsen zu Liebe sei sein Herr bereit, 150,000 Mann marschiren zu lassen",
daß „Frankreich die deutschen Fürsten zu einem gemeinsamen Protest gegen
die Vernichtung Sachsens eingeladen hat"; höchstes Lob wird dem Herzog
von Coburg gespendet, weil er „die Rechte seiner Familie" in einer heftigen
Scene mit dem Kaiser Alexander „mit Würde aufrecht erhalten hat" und
Bayern wird als schätzbarer Bundesgenosse betrachtet, weil es der Jncorpo-
rirung Sachsens „mit dem Schwert in der Hand" entgegentreten will und
„Preußen beinahe ebenso feindlich gesinnt ist", wie das restaurirte Frankreich.
Schade nur, daß Preußen versichern kann, die Majorität der sächsischen Be¬
völkerung werde das Aufhören dieses Staats immer lieber sehen, als seine
Zerstückelung. Aus Abneigung gegen Preußen, dem unter keiner Bedingung
eine Art von Vorrang vor den übrigen deutschen Staaten eingeräumt wer¬
den soll, verzichtet der Graf selbst auf die Durchsetzung seines Lieblingsge¬
dankens, der Kreiseintheilung und Kreisverfassung Deutschlands, und „rangirt"
sich auch in dieser Beziehung, „wie Bayern es bereits gethan hat", der An¬
sicht des Fürsten Metternich.
So war die deutsche Politik Münsters des Vaters beschaffen. Wir
wissen zu genau, wie wenig dieselbe von der Staatsweisheit Gagerns und
anderer aristokratischer „Patrioten" jener Zeit verschieden war, um ein har¬
tes Urtheil übrig zu haben, wir finden es aber auch begreiflich, daß das
Volk von diesen seinen „geborenen" Führern zu keiner Zeit etwas gewußt
hat, noch wissen wollte. So verworren und unklar auch die Bestrebungen
der damaligen Liberalen waren, in Bezug auf ihre Ziele haben dieselben
schon vor fünfzig Jahren eine richtigere Witterung gehabt, als ihre Gegner,
wenngleich diese in den Geschäften saßen und durch die Verhältnisse ungleich
mehr dazu befähigt waren, die Dinge von einem großen, wahrhaft politi¬
schen Standpunkt zu übersehen.
Das halbe Jahrhundert, welches zwischen damals und heute liegt, hat
mit den ungeheuren Umwälzungen, welche es brachte, auch an den An¬
schauungen der deutschen Aristokratie vieles geändert. Daß der Inhalt
dieser Anschauungen ein wesentlich anderer ist, oder doch ein anderer sein
kann — davon legen die vier „Skizzen über die Lage Europas", mit welchen
Graf Münster der Sohn die Herausgabe der Hinterlassenschaften seines
Vaters begleitet hat, in erfreulicher Weise Zeugniß ab. Der hannoversche
Erblandmarschall stellt sich mit bewußter Entschiedenheit auf den Boden der
1866 gewordenen Thatsachen, er wirft das hohe Haus Hannover für immer zu
den Todten und läßt „die Todten ihre Todten begraben." Er geht aber noch
einen Schritt weiter — er entzieht sich dem Bekenntniß nicht, daß das Loos
der welfischen Dynastie ein verdientes gewesen sei und nennt die Verblendeten,
welche auf eine mit französischer Hilfe zu ermöglichende Restauration speculiren,
Verräther an der Sache ihrer Nation und ermahnt sie, nicht zu vergessen,
daß sie, wenn auch nicht mehr Hannoveraner, so doch Deutsche geblieben seien.
Auch in Beziehung auf innere Fragen begegnen wir hier und da einer
Gesundheit des Urtheils, von welcher zu wünschen wäre, daß sie die Regel,
nicht die Ausnahme in den Kreisen unsrer grundbesitzenden Familien bilde. Der
Verfasser spricht sich entschieden gegen alle Versuche, den Absolutismus neu zu be¬
leben, aus und hält das Repräsentativstem für nothwendig und historisch be¬
gründet, nachdem die alten ständischen Verfassungen ihren Boden verloren und
an dem Mangel einer Aristokratie zu Grunde gegangen. Mit großer Klarheit
wird dieser Mangel darauf zurückgeführt, „daß die deutschen.Fürsten einen un¬
abhängigen, grundbesitzenden, politisch gebildeten Adel mit unabhängiger Ge¬
sinnung nicht geduldet haben." Auch das Urtheil, welches der Verfasser
über die „Theoretiker und Professoren" fällt, welche den englischen Parla¬
mentarismus nachahmen wollen, ohne England zu kennen und das parla¬
mentarische Material zu besitzen, „ohne welches Parlamente zu schlechten Ko¬
mödien werden", können wir gern gelten lassen. — Es sind aber nichtsdesto¬
weniger sehr getheilte Empfindungen, in denen wir der Lectüre dieser Schrift
gefolgt sind. Mit der Befriedigung darüber, daß ein hervorragendes Mitglied
des hannöverischen Adels einer gesunderen Beurtheilung unserer Verhältnisse
das Wort redet, geht die Ueberzeugung Hand in Hand, daß wir zu lange in
dem Elend kleiner Verhältnisse gesteckt haben, als daß uns die Aussicht ge¬
blieben wäre, von denen, die sich in solchem Kleinleben am behaglichsten bewegt
haben, in die große Zukunft geführt zu werden, welche dem Vaterlande be¬
vorsteht. Nicht mit dem Grafen Münster, der auf eine historisch-wissenschaftliche
Bedeutung der vorliegenden Schrift von Hause aus anspruchslos Verzicht ge-
leistet, sondern mit den Verhältnissen haben wir zu rechten. Der deutsche
Aristokrat kann Welt und Leute ebensogut kennen gelernt haben, wie der
Engländer, Italiener oder Franzose, er kann mit der junkerhaften Be¬
schränktheit seiner Standesgenossen vollständigste Abrechnung gehalten und die
ernstesten Versuche gemacht haben, sich auf jenen höheren Standpunkt zu
stellen, zu dem eine begünstigte sociale Stellung besonders befähigen — so¬
lange er die Empfindung nicht los werden kann, vor Allem seine Gattung
repräsentiren zu müssen, gelingt es ihm nicht, in seines Volkes und der Fremden
Augen der geborene Repräsentant einer Nation zu sein. Es macht sich immer
wieder geltend, daß er nur in einem engen Kreise zu Hause, in der großen
Welt ein Fremdling ist, mag er die Sprache derselben noch so geläufig reden.
Zu Bemerkungen darüber, daß Advokaten, die Volksvertreter werden, gewöhn¬
lich Stellenjäger sind, daß „ältere gebildete Familien" sich auch in Deutsch¬
land leichter beim Adel, als bei anderen Ständen vorfinden, kommt man nur
in kleinen Verhältnissen und bei gelegentlicher Beschäftigung mit der Politik,
nicht aber, wenn man auf der Höhe eines großen Staats steht und in dessen
Leben die eigene Existenz sieht; daß die deutschen Kleinstaaten erst klein ge¬
worden sind, seit sie auf Eisenbahnen binnen wenigen Stunden durchflogen
werden können, mag vom Standpunkt des Kleinbürgers ganz richtig sein, für
in großen Verhältnissen aufgewachsene Politiker hat es dieses argumenwm
«,<! Kominom schwerlich bedurft. Die Gewöhnung an einen kleinen Maßstab
beengt nicht nur das Urtheil über die nächste Umgebung, es verhindert zugleich
richtige Anschauungen über Zustände, welche größere Dimensionen haben: man
vergleiche die Urtheile, welche Custine und Sir Hamilton Seymour über Ru߬
land gefällt haben mit denen unseres Autors, der das Reich des Ostens gleich¬
falls aus direkter Anschauung kennt und durch seine Bemerkungen über den
russischen Gemeindebesitz deutlich bekundet, daß er an und sür sich wohl befähigt
gewesen wäre, die richtigen Gesichtspunkte für die Abschätzung russischer Zu¬
stände zu gewinnen.
Doch dieser Vergleich braucht nicht erst gezogen zu werden, damit wir
wissen, welches das Verhältniß unseres Volks zu denen ist, welche seine Füh¬
rer sein sollten. Das Buch des Grafen Münster mag uns vielmehr in dem
Bestreben unterstützen, jene Ausgleichung, welche das Jahr 1866 zwischen der
Partei des Bürgerthums und den Patrioten unter den Conservativen angebahnt
hat und von dessen Wirkungen die „Skizzen" mannigfaches Zeugniß ablegen,
eifriger denn je zu beschleunigen. Wird der in Wirklichkeit längst vorhandene
Verzicht unserer Aristokraten auf eine privilegirte Führerschaft der Nation zu
einem frei gewellten und anerkannten, geht der Adel in der Nation auf, so ist
nichts verloren und Anspruch und Maßstab, die an den Einzelnen gestellt werden,
werden hüben und drüben dieselben, in der praktischen Politik, wie in der Presse.
Die zweite Panzerfregatte des Bundes, in Frankreich gebaut, noch etwas
größer als die Fregatte „Kronprinz", ist „Friedrich Karl", 16 Kanonen,
960 Pferdekraft, 4044 Tons (englisch), benannt nach dem preußischen Prinzen,
welcher im Feldzug 1866 Führer, der ersten Armee war.
Die Dimensionen der Panzerfregatte, welche nach dem Breitseitenprinzip
und ganz aus Eisen gebaut ist, betragen in der Länge der Wasserlinie
282V» Fuß (Länge über Deck 299' 10", Länge zwischen den Perpendikeln
282' 3'/-"). und in der Breite der Wasserlinie 52-/» Fuß (52' 10'/2" größte
Breite .über Panzer gemessen), sodaß sich das Verhältniß der Länge zur Breite
etwa wie 5V» stellt, für die Schnelligkeit nicht ganz so günstig wie bei der
Fregatte „Kronprinz", welche auch hinsichtlich der Manövrirfähigkeit (Wend-
barkeit) wegen ihrer absolut geringeren Länge bevorzugt ist. Der durch¬
schnittliche Tiefgang dagegen, beläuft sich für die Fregatte „Friedrich Karl"
nur auf höchstens 23 Fuß (22' 3'/«" mittlerer Tiefgang), er ist um etwas ge-
ringer als bei Fregatte „Kronprinz", trotz der bedeutend stärkeren Maschine.
Unter Wasser ist der Rumpf des „Friedrich Karl", wie der des „Kron¬
prinz" und auch des „König Wilhelm", bis zur Wasserlinie mit doppeltem
Boden von, V-, Migen Platten gebaut, sodaß eine Beschädigung der äußeren
Schiffswand leinen merklichen Schaden anrichten kann, außerdem das ganze
Innere in wasserdichte Abtheilungen getheilt^ die durch 5 eiserne Querschotten
(Querwände) gebildet werden, zwei der letzteren steigen bis zum Zwischen¬
deck, drei bis zur Batterie auf. In der Gegend der Wasserlinie beginnt
die Panzerung, die das ganze Schiff von Steven zu Steven in der Form
eines massiven 9 Fuß hohen Gürtels umgibt, welcher 3 Fuß unter Wasser
reicht und sich 6 Fuß über Wasser bis zum Batteriedeck erhebt. Diese Panze-
^'rung besteht aus massiven, 5 Zoll dicken, in Se. Chamont bei Lyon ge¬
walztem Eisenplatten, auf deren innerer Seite eine 5 Zoll dicke Schicht hori¬
zontal gelegter, dann eine 10 Zoll dicke Schicht senkrecht stehender Theka-
holzbalten folgt. Die Holzschicht, deren Anordnung größtmöglichen Wider¬
stand der Holzsibern in jeder Richtung bezweckt, ist somit im Ganzen 15 Zoll
stark und füllt den Zwischenraum zwischen den Panzerplatten und der dünnen,
von den Eisen-Spanten (Nippen) des Schiffs getragenen eigentlichen Eisen¬
wand der Fregatte völlig aus. Diese letztere Eisensand ist etwa V» Zoll
stark, indem sie sich von ihrem untersten Theile (2,8 Centimeter ---- 1 Zoll)
nach oben zu bis auf 2,0 Centimeter — V° Zoll verjüngt.
Unterhalb der Szölligen Platten, welche bis 3 Fuß unter Wasser gehn, liegt
übrigens noch ein zweiter 4'/,, Zoll starker Eisengürtel um das ganze Schiff,
dessen Panzerung somit im Ganzen bis 6 Fuß unter Wasser reicht.
Ueber dem Batteriedeck, bis zu welchem der 5zottige Panzer der Wasser¬
linie reicht, erhebt sich die Batterie mit 17 Geschützpforten in jeder Flanke,
die ursprünglich für 26 gezogene 72 Pfänder bestimmt waren. Es ist jedoch
von der Batterie nur das mittlere Drittel gepanzert, in welchem jederseits 7 ge¬
zogene 300Pfünder ihren Platz finden werden: der Panzer besteht in den
Flanken dieses mittleren Theils der Batterie aus 4V- Zoll starken Platten,
und ebenso ist dieser Theil gegen die beiden anderen Theile hin durch ge¬
panzerte Querschotten (Querwände) abgeschlossen, um die 14 Batteriegeschütze
auch gegen das gefährliche Enfilirfeuer, also gegen jedes Feuer zu decken.
Die Geschützpforten liegen 7'/° Fuß über Wasser, höher als bei fast allen
französischen Schiffen, und die Höhe der Batterie selbst, welche auch zum
Aufenthalt für die etwa 500 Mann starke Besatzung bestimmt ist, beträgt
6'/°- Fuß bis zur Unterkante der Oberdecksbalken, während die übrigen Decke
nur 6 Fuß hoch sind.
Der Hintere Theil der Batterie hat gar ke-me Panzerung, der vordere
einen Panzer nur im Bug, damit die Enden des Schiffs erleichtert und das
ganze seefähiger werde. Die Ventilation im Inneren ist in doppelter Weise
geregelt, durch Ventilatoren wird die kalte reine Luft von oben nach unten
geführt, während die erwärmte schlechte Luft durch die hohlen Masten nach
oben hin entweicht.
Das. Oberdeck besteht aus 4 Zoll dicken Planken, unter welchen zur
Sicherung gegen. Brandgeschosse Vszöllige Eisenplatten liegen. Auf diesem
Oberdeck steht nun, vom halbrunden Panzer des Bugs gedeckt, vorn in
letzterem ein schweres gezogenes Pivotgeschütz, welches zur Verfolgung be¬
stimmt ist, ein eben solches Geschütz für Vertheidigung beim Rückzug steht
auf dem hintersten Theil des Oberdecks. Außerdem ragt vom vordersten Theil
des letzteren ein horizontal liegendes Bugspriet hervor, das man zurückziehn
kann, wenn man mit dem rundlich keilförmigen Sporn ein feindliches Schiff
anrennen will. Im Uebrigen ist die Takelage wie beim „Kronprinz" eine
Barktakelage, mit Raaen nur an den vorderen beiden Masten; die drei
Untermasten sind hohl und bestehn aus Eisenröhren, wie bei „Kronprinz",
„Augusta" und „Victoria", die Unterraacn bestehn aus Stahlröhren, und
nur die Mars- und Bran-Stengen, aus einem Stück gefertigt, sind von
Holz, ebenso die Marsraaen, somit schwächer, aber elastischer als die eisernen.
Endlich steht auf dem Oberdeck hinter dem Großmast noch ein 13 Fuß hoher
Commandothurm von ovalem Grundriß für den Capiteln, der mit 4'/2Zottiger
Eisenplatten und 7zolliger Thekafütterung gepanzert ist. Er wird durch einen
Boden von eisernem Rösterwerk in zwei Etagen getheilt, von denen die
untere das Gefechtssteuerrad enthält, die obere aber für den Commandanten
bestimmt und mit Telegraphen und Sprachröhren für die Maschine und alle
Theile des Schiffs ausgestattet ist. Die ovale Form erlaubt dem Comman¬
danten, an jeder Seite der Masten vorbei gerade nach vorn zu sehn.
Die Maschine des Schiffs ist so stark, wie bei den allerstärksten fran¬
zösischen Panzerfregatten des neuesten Modells, („Marengo". „Friedland",
„Suffren") nämlich 950 Pferdekraft nommat, und sie soll bis zu 4000 indi-
cirten Pferdekräften aufarbeiten und mittelst einer vierflügligen Schraube
von Grifsiths Modell das Schiff mit 13 Knoten Schnelligkeit treiben können,
also schneller als bei den etwa gleich großen (jedoch 2 Fuß breiteren) eng¬
lischen Schiffen „Detence" und „Resistance" die nur 11,5 und 11.8 Knoten
erreichten. Auch die Construction der Maschine ist fast ganz dieselbe wie bei
der französischen „Marengo" - Classe, und zwar mit 2 Cylindern von 2 Meter
(6'/, Fuß) Durchmesser und 1,2 Meter (3^ Fuß) Hub. welche bei 58 Um¬
drehungen der Nominalkraft entsprechend arbeiten, nach dem Prinzip der
„dielles rizuvörsäös". das sehr gerühmt wird. Während sonst gewöhnlich die
Schraubenwelle quer vor den Cylinder-Endflächen liegt, aus welchen die Kol¬
benstangen herauskommen, und zwar in einer Horizontal ebene mit der
horizontal gelegten Cylinderaxe, ist hier die Schraubenwelle mit ihren
Krummzapfen über die Cylinder verlegt, die Kolbenstange aber ist durch
ein Gelenk in zwei Hälften getheilt: die untere, welche im Cylinder hin und
her geht, bleibt stets horizontal; die andere dagegen geht vom Gelenk aus
wieder rückwärts und zwar etwas schräg nach oben, sodaß sie in die Krumm¬
zapfen der oben liegenden Schraubenwelle eingreift — auf diese Weise ist es
möglich, das enorme Gewicht der Cylinder und der ganzen Maschine mit
dem Schwerpunkt genau unter die Schraubenaxe zu legen, nicht nur auf eine
Seite derselben, wie bei anderen Maschinen, was für die Balancirung sehr
Wesentlich ist.
Daß die Maschine des „Friedrich Karl" ebenso construirt ist, wie die
gleich starken Maschinen der französischen Panzerfregatten, konnte man auf
der diesjährigen Pariser Ausstellung deutlich sehn. Es befand sich dort im
Ausstellungspalais ein Modell der Maschine des „Friedrich Karl", das durch
die LooiiM clef torM« et clos eliantiei'S <lo In. N6cIit,ol'iÄn6<z ausgestellt war
und zeitweise in Bewegung gesetzt wurde; ebenso fand man die Maschine
des französischen Panzerschiffs „Friedland" (Typus „Marengo") in ng-wi-s. in
dem zur Ausstellung gehörenden Hangar am Seinequai, wo sie zu gewissen
Stunden des Tages arbeitete, dem „Friedrich Karl"-Modell bis auf die
Schraube treu, ein Anblick, so instructiv und so großartig, wie man ihn sonst
nicht so leicht schaut, denn Schraubenmaschinen von 950 Pferdekraft kann
man überhaupt nur auf Kriegsschiffen, nie auf Passagierdampfern finden!
aber auch auf ersteren ist man in der Beobachtung der Maschine durch die
Dunkelheit und die Beschränktheit des Raumes in unerwünschten Maße ge¬
hindert. Hier stand die ganze Maschine, von der Fabrik zur Ausstellung
nach Paris transportirt, in einem geräumigen Gebäude, von allen Seiten
aufs beste beleuchtet und so aufgestellt, daß man sie in ihrer vollen Aus¬
dehnung vom Kesselraum bis zur Schraube bequem übersehn konnte.
Wir treten an dem Ende in die Maschine ein, das am meisten nach
dem Vordertheil des Schiffs hin liegt. Wie eine düstere unterirdische Grotte,
in der die Feuergeister der Märchenwelt ihr Wesen treiben, empfängt uns
hier der gewaltige Heizraum, ein mächtig hoher längsschiffs laufender Cor-
ridor; in ihm steigen an beiden Seiten über zahlreichen Eisenthüren der Oefen
colossale schwarze Kesselwände auf und drohen über dem Haupt des Be¬
schauers zusammenzuschlagen. Wir durchschreiten den Corridor auf seinem
eisernen gerippten Fußboden nach dem hinteren Theile des Schiffes zu, und
stehn auf einmal in dem räthselvollen Wunderwerk einer Maschine, welche
die Kraft von viertausend Pferden zu entwickeln vermag. Wie eine wunder¬
same, unendlich complicirte Krystallbildung aus Hunderten von Röhren und
Röhrchen, aus Aesten und Gliederchen ragt sie vor unseren Augen und um¬
gibt uns von allen Seiten, wahrhaft sinnverwirrend für den nicht sachver¬
ständigen Beschauer, in einer Größe wie sie von Maschinen auf dem Lande
nie auch nur entfernt erreicht wird! Bei Schiffsmaschinen kommt es mehr
noch als bei andern darauf an, das Gewicht auf einen möglichst engen
Raum und zwar ungefähr in der Form eines Würfels zusammenzudrängen,
deshalb formt sich ein Gebilde, als wenn in ein großes Zimmer durch eine
Oeffnung eine Baumkrone hineingewachsen wäre und dasselbe gänzlich mit
ihren Aesten ausgefüllt hätte: aber die Zweige sind sämmtlich in Röhren
und Gestänge und Kurbeln und Hebel und Ventile verwandelt aus blankem
Eisen und goldig funkelndem Messing, ein Gewirr, durch das nur mühsam
enge Gänge gebrochen sind, welche Trepp auf Trepp ab in allerlei Windun¬
gen nach den Stellen führen, wo der Maschinist den Gang der Maschine
zu regeln hat. Als mächtiges Hauptstück des Ganzen liegen aber die beiden
gigantischen Cylinder da, mit einem Durchmesser von Mannshöhe; aus ihnen
schieben sich, wenn die Maschine arbeitet, majestätisch die gewaltigen massiven
Kolbenstangen mit ihren fußdickem Gelenken hervor, die mittelst der Krumm¬
zapfen die colossale Schraubenwelle drehn. Und diese Welle lM'w'v), ein
wahrer Baum von Mannsdicke aus massivem Schmiedeeisen, streckt sich von
der Maschine aus, immer aus neuen Theilen zusammengesetzt, über hundert
Fuß lang durch das ganze Schiffsgebäude hin bis an dessen hinterstes Ende,
und trägt hier an dem vgivalen Kopf eine colossale vierflüglige Bronze-
Schraube. Wie vier Riesenflügel einer Windmühle, in einer Höhenausdeh¬
nung von über 20 Fuß Schraubcndurchmesser rotiren die fein gewundenen
Bronzeplatten majestätisch lautlos durch die Luft, und führen uns anschau¬
lich die Bewegung vor Augen, mittelst deren sie dereinst im Wasser ein Pan¬
zerschiff von 100.000 Centnern Schwere pfeilschnell dahintreiben werden. Jetzt
aber stehen staunend noch die artigen Pariserinnen dicht dabei und lassen
es sich lächelnd gefallen, daß der gewaltige Luftzug, den die Schrauben¬
flügel hervorbringen, statt ihres Fächers die heiße Stirne kühlt. —
Wie bereits erwähnt, ist das Schiff selbst und die Maschine des „Fried¬
rich Karl" von der französischen Loeietö ach torZes et ach et^ntiers as
1^ mecUteriÄnne« unter Aufsicht eines Schiffs- und Maschinenbau-Ingenieurs
und eines Werkmeisters aus Preußen construirt, wo es am 16. Januar 1867
von Stapel lief. Nachdem die Panzerfregatte von der betreffenden preußi¬
schen Commission abgenommen war, ging sie mit einer Besatzung von 269
Mann und in Begleitung der beiden preußischen Holzcorvetten „Hertha" und
„Medusa" am 12. October d. I. bei ruhiger See und gutem Wetter nach
Gibraltar, wo sie nach 2 Tagen 18 Stunden anlangte. Am 16. October
dampfte sie von dort, nachdem sie ihre Kohlen aufgefüllt hatte, durch die bis-
cayische See dem Canal zu. Leider hatte sie hier mit schlechtem Wetter und
hohem Wogenschwall zu kämpfen, durch welchen sie ihre beiden vorderen
Masten verlor. Es liegen uns über den Unfall selbst zur Zeit erst zwei
Briefe von Augenzeugen vor, aus denen trotz der genauen Beschreibung des
Hergangs dennoch die Ursache des Unglücks nicht hervorgeht. Daher kann
das Urtheil über diesen Fall nur ein bedingtes sein.
Der „Friedrich Karl" hatte bei seiner Abfahrt von Toulon noch keine
Geschütze an Bord und besaß darum viel zu geringen Tiefgang; das Panzer¬
gewicht lag also sehr hoch und fast ganz über Wasser, während der untere
Theil zu wenig Stütze im Wasser hatte; man mußte deshalb Eisenballast
einnehmen, und brachte so das Schiff auf die richtige Wasserlinie. Wie aber
in diesem Blatte bereits zu der Beschreibung des „Arminius" bemerkt wurde,
pflegen die Constructeure bei Panzerschiffen das bedeutende Obergewicht des
Küraffes und der Geschütze durch die Maschine sehr kräftig zu contrebalan-
ciren, und in übermäßiger Würdigung jenes Obergewichts oft sogar zu
kräftig zu balanciren; wenigstens haben dies die Probefahrten der englischen
und der französischen Panzerflotte in der atlantischen See gezeigt, wo gerade
die anscheinend zu hoch belasteten französischen Zweidecker, bez. die höchstge¬
panzerten englischen Fregatten sich gegen alle Erwartung am besten hielten.
Sie machten die weichsten Bewegungen, schlugen nicht so heftig aufwärts,
während die steiferen Schiffe, sobald sie sich auf eine Seite gelegt hatten, mit
enormer Gewalt in die Höhe schnellten und mit den Masten nach der andern
Seite zu hauen pflegten, trotz der schweren Geschützausrüstung. Das letztere
ist offenbar auch bei der Fregatte „Friedrich Carl" der Fall gewesen, welche
eben zu steif war. Aber den Fehler dürfen wir wohl weniger darin suchen,
daß das Schiff überhaupt ein Panzerschiff ist, als vielmehr in der Stauung,
der augenblicklichen Gewichtsvertheilung. Der erwähnte Eisenballast soll
nämlich nicht in der Batterie, an den Stellen, wohin die Geschütze kommen,
sondern wie gewöhnlich unten im Raum befestigt gewesen sein, sodaß seine
Schwere doppelt wirken mußte, einmal, indem sie oben fehlte, wo sie statt der
Geschütze sein sollte, dann indem sie unten das Schiff noch steifer machte. Der
hieraus folgenden übermäßigen Steifheit war nun einzig die Takelage im
Stande das Gegengewicht zu halten, und wirklich bezeugt auch der Brief eines
Augenzeugen, daß die Fregatte, nachdem man die unteren Schratsegel und
die Marssegel gesetzt, weit ruhiger lief, indem der Segeldruck sie auf einer
Seite liegend erhielt. Daß die Takelage zu hoch gewesen, darf man be-
zweifeln, da dieselbe überhaupt für Kriegsschiffe nicht leicht zu hoch und
gefährlich ist. Denn Kriegsschiffe haben bei ihrer verhältnißmäßig zahlreichen
Bemannung immer die Möglichkeit, bei schwerem Wetter die Stengen zu
streichen, d. h. eine Mastverlängerung herunterzunehmen, wie es Kauffahrer
sehr, oft thun, wenn sie in Ballast segeln. Vielmehr genügte die Takelage
noch nicht einmal, um das fehlende Geschützgewicht zu ersetzen: durch das
heftige Schlingern (seitliche Bewegung) reckten sich daher die Warten, die den
Mast nach den Flanken haltenden Taue, aus, und da dieselben aus Draht
bestanden, konnten sie offenbar nicht genügend festgesetzt, d. h. nachgespannt
werden, Ueberhaupt haben Drahttaue, obgleich nicht unbedeutend stärker als
gleich schwere Hanftaue, und unverbrennbar, doch den großen Nachtheil, daß
sie, einmal locker geworden, sich nicht gut wieder festsetzen lassen. Es möch¬
ten deshalb fast Hauswänden vorzuziehen sein, namentlich wenn sie, wie im
Mittelmeer, mit Klappläufern festgesetzt sind: sie werden, obwohl brennbar,
durch in der Luft crevirende Granaten nicht leicht in Brand gesteckt; sind
sie aber durch Brand eines Segels oder des Rumpfs gefährdet, so muß
doch der Spritzenschlauch helfen, wie auf der Nymphe im Gefecht bei Jas-
mund. — Sobald die Warten locker waren, bekamen natürlich die Masten
bei dem heftigen Schleudern noch mehr auszuhalten, wobei Stützung der¬
selben mit Takeln beiderseits wenig half: und außerdem erwies sich jetzt
auch das Material der Eisenplatten, aus welchen die hohlen Masten gefertigt
waren, als zu schwach, und da dem Eisenmast, auch wenn er stärker ist als
ein Holzmast, die Elasticität des letzteren sehlt, namentlich wenn er innen
Winkeleisen von kreuzförmigem Querschnitt hat, so begann beim Fockmast
die Vernietung zweier Platten nachzugeben. Um den Mast zu erleichtern,
nahm man sein Marssegel ein, verlor aber dadurch die Stütze des Windes;
das Schiff schlug mehrmals heftig nach der Gegenseite, wodurch der Mast
einen Sprung von V» Zoll um den ganzen Umfang bekam, und endlich
2—3 Fuß über Deck abbrach und mit allen Raaen über Bord stürzte, wo¬
bei er die Stengen (Verlängerungen) der beiden andern Masten auch noch
abbrach aber nicht mitriß. In dieser Gefahr verfuhr man offenbar, trotz des
Schlingerns, das ohne Segel noch heftiger werden mußte, mit Geistesgegen¬
wart. Man stoppte die Maschine, um nicht die Schraube in das Tauwerk
der seitlängs gefallenen Masten zu verwickeln und brachte einen Theil der
noch hängenden.Raaen und Stengen in Sicherheit. Bei der Großraa in¬
dessen, die an 3 Punkten am Mast befestigt ist, hier aber nur noch an einem
einzigen, dem Hanger, hing, gelang dies nicht mehr; sie riß vielmehr auch
den Großmast mit sich, der 3 Fuß über Deck abbrach, nachdem er an der-
selben Stelle schon eine Stunde früher einen Riß erhalten. Dieser Mast fiel
weniger glücklich als der Fockmast; er brach in 3 Stücke und eins derselben
kam auf das Deck und auf Taugut zu liegen und erschwerte so das Kappen
des letzteren ungemein, während ein anderes sich in die Schraube verwickelte
und die Maschine am Arbeiten verhinderte, sodaß das Schiff steuerlos wurde
und wirklich gefährlich zu arbeiten begann. Da indessen zum Glück die hoch¬
gehende-See nicht durch Sturm verschlimmert wurde, gelang es, ohne Ver¬
lust an Menschenleben und, abgesehen von der eingeschlagenen Reiling, ohne
Beschädigung des Schiffskörpers am 22. Oetober Plymouth zu erreichen, von
wo das Schiff nach Hamoaze und dann ins Dock von Devonport ging.
Im Ganzen ist der Vorfall nicht so bedenklich, wie er bei uns wegen
Mangel an maritimer Erfahrung aufgefaßt wird. Dem englischen Panzer¬
geschwader sind vor Lissabon, dem französischen bei Teneriffa wiederholt Reinen
und Theile der Takelage weggeblasen worden, ohne daß man davon viel
Aufhebens gemacht hätte; vollends über Holzschiffe findet man alle Augen¬
blicke in den englischen Zeitungen derartige Notizen. Ueberdies hat nach
unserm Gewährsmann das Schiff selbst keinen Schaden gelitten und sich so¬
mit trotz der großen Anstrengung gut bewährt, besser vielleicht, als sich ein
Holzschiff in ähnlicher Lage erhalten haben würde. — Ein Gerücht, das
ganze Schiff sei nicht mehr zu brauchen, wäre hiernach ganz ungegründet.
Es ist aber freilich die Takelage wieder zu ersetzen, die wegen der Stahlrohren
sehr theuer ist (ca. 130,000 Thlr., während sie bei einer gedeckten Corvette
noch nicht 40,000 Thlr. kostet); aber auch der Ersatz dieser Summe soll durch
eine zweijährige Garantie der Gesellschaft in Toulon (also nicht des flüchtig
gewordenen Nheders Armand in Bordeaux) sicher gestellt sein. Bei der neuen
Takelage wird man eben die Eisenmasten stärker machen müssen, vielleicht
auch elastischer durch Weglassung der Winkeleisen von kreuzförmigem Quer¬
schnitt und entsprechende Verstärkung der Wand; ebenso wird man die Wan-
ten stärker nehmen müssen, und vielleicht nicht von Draht, sondern von Hanf.
Dann empfiehlt es sich wohl, die Warten zum Theil durch Colessche tripvds
zu ersetzen, d. h. durch eine stützende Eisenröhre statt des mittleren Wand¬
taues für jeden Untermast, die also sowohl stützend als ziehend in Lee und
in Luv zu halten geeignet ist; doch bleibt dabei eine Anzahl dünnerer War¬
ten als Strickleitern für die Mannschaft wünschenswerth, da Coles' eine
Strickleiter hinter dem Mast nicht genügt, und außerdem für den Fall ge¬
sorgt sein muß, daß eine tripocl-Stütze weggeschossen wird.
Endlich wird man die Takelage im Ganzen etwas höher machen müssen
als bisher, um bei gutem Wetter das Schiff durch den Segeldruck ruhiger
zu halten; zugleich aber richte man sie nach dem Muster der östreichischen
Panzersregatten zum Streichen der Stengen ein und dämpfe im Gefecht mit
gestrichenen Stengen und Raaen, damit diese nicht über Bord fallen und die
Schraube unklar machen können. Damit aber bei schlechtem Wetter und ge¬
strichenen Stengen die Gewichtsvertheilung besser wird, mache man die
Untermasten niedriger, als früher — dieselben sind schon bei unserer „Augusta"
verhältnißmäßig sehr hoch — und dafür die Stengen verhältnißmäßig
höher*).
Der Hauptgrund der Beschädigung aber wird wahrscheinlich von selbst
wegfallen, sobald die Fregatte ihre Geschütze erhält, den Hilfsballast los wird
und dadurch zu der Gewichtsvertheilung kommt, für welche sie berechnet ist.
Die Reparatur der Eisenbemastung ist schwerer als eine andere herzustellen,
und kann bis zum Frühjahr aushalten.
Die öffentlichen Zustände in Würtemberg bewegen sich nicht vorwärts
und am wenigsten in einer geraden Linie vorwärts. Vielmehr herrscht der
Stillstand und nur der gouvernementale Pendel schwingt, stets an der näm¬
lichen Stelle, manchmal nach rechts und manchmal nach links. Als es sich
um Genehmigung der Zollvereins- und Allianzverträge handelte, da schwang
er links nach der Seite der politisch-militärischen Einheit und der wirthschaft-
lichen Freiheit. Heute schwingt er wieder rechts nach der großdeutsch-klein¬
fürstlichen Seite, nach Seite der politischen Jsolirung des Südens, der
Schutzzöllnerei und der wirtschaftlichen Unfreiheit.
Anderwärts würde man es kaum für möglich halten, daß ein und das¬
selbe Ministerium fast zu der nämlichen Zeit, oder wenigstens nach sehr kur¬
zen Zwischenräumen, so entgegengesetzte Richtungen einschlage. Bei uns ist
Alles möglich. Wir sind heute preußisch-norddeutsch; morgen östreichisch-süd¬
deutsch; — vielleicht auch übermorgen französisch-rheinbündnerisch. Die poli¬
tischen Stimmungen und Verstimmungen sind in einem ewigen Wechsel be¬
griffen. Heute lauscht unsere rothe Demokratie, die sonst die „Aristokraten
an die Laterne" wünscht und nur von dem Selbstbestimmungsrechte der
Völker und der deutschen Föderativ - Republik spricht, mit spähenden Augen
und gespitzten Ohren nach der Stadt der Mönche im Baierland und er¬
wartet die Rettung von dem Ausspruche einiger baierischen Prinzen, Bischöfe
und Grundherrschaften. Morgen setzt sich das Land, die Hauptstadt an der
Spitze, in Bewegung, um die Zollvereinsverträge zu retten aus den Ge¬
fahren, womit die Coalition zwischen der ausbeutungslustigen Schutzzöllnerei,
klerikaler Reaction und staatsfeindlicher Winkelradicalen bedroht.
Es war am 31. October 1867, als das verehrliche Mitglied für Aalen,
Herr Moriz Mohl, früher würtembergischer Finanz- und Steuerrath und
als solcher zum Zwecke der Unterhandlung über das Verhältniß Würtem-
bergs zum Zollverein seiner Zeit nach Berlin geschickt, wo er sich in Folge
seiner Rechthaberei in allerlei Fehden verwickelte und einen bis auf den
heutigen Tag höchst getreulich bewahrten Abscheu vor Preußen und dessen
Hauptstadt in sich aufnahm, als Herr Moriz Mohl in dem bekannten Halb¬
mondsaale des Stutengartens an dem Nesenbache mit den schwärzesten Far¬
ben schilderte, welche Greuel uns bevorständen, wenn wir den neuesten Zoll¬
vereinsvertrag genehmigten, und dann ausmalte, welche himmlische Freuden
uns nach ausgestandenen Kreuz und Leiden erwarteten, wenn entweder wir
Würtenberger allein oder in Gemeinschaft mit Baiern ein schutzzöllnerisches
Musterreich der Mitte gründeten und solches mit einer chinesischen Mauer
umgaben.
Darauf erwiderte der Minister des Auswärtigen, Freiherr von Varn-
büler: „Der Abgeordnete für Aalen ist in politischen Dingen nicht außer¬
ordentlich conservativ, aber in wirthschaftlichen Dingen kommt er allemal
in eine große Bewegung, wenn es sich darum handelt, etwas Neues in
das Leben zu rufen; — und in dieser Hinsicht wenigstens ist er sich seit
vierunddreißig Jahren consequent geblieben. Denn denselben Angstruf, den
er heute ausstößt, dieselben schwarzen Prophezeiungen, die er jetzt vor¬
bringt, konnte man schon im Jahre 1833 von ihm hören, als es sich um
die Eingehung des Zollvereins handelte, den er heute auf so klägliche Weise
zu Grabe trägt. Er hat damals in einer 42 Bogen langen Eingabe an den
König auseinandergesetzt, daß Würtemberg ruinirt sei, wenn der Zollvereins¬
vertrag ausgeführt werde/'--
„„Das ist nicht wahr!"" donnerte Moriz Mohl, das verehrliche Mit¬
glied für Aalen, Varnbüler greift in sein Portefeuille, holt ein Manuscript
heraus, hält es triumphirend in die Höhe, sodaß sich Mohl unwillkürlich
bückt, als wolle es ihm Varnbüler an den Kopf werfen, und fährt ge¬
lassen fort:
„Hier sehen Sie diese schriftliche Arbeit." (Homerisches Gelächter) „Das
verehrliche Mitglied für Aalen kam in dieser Arbeit zu folgender Conclufion:
„ „Durchdrungen von der Ueberzeugung, daß dieser Vertrag den Rechten
und Interessen der Krone und des Landes zu nahe tritt, und bei der an
die Unmöglichkeit gränzenden Auflösung desselben, würde ich meiner Pflicht
nicht genügen, wenn ich nicht ehrfurchtsvoll (gegenüber dem Könige) dies
ausspräche.""
Und er hat damals verlangt, daß dieser Zollverein, der jetzt von Jeder¬
mann als die glückliche Frucht der deutschen Einigung erkannt wird, und
auch von ihm selbst gegenwärtig als solche erkannt wird, nicht zu Stande
komme. Er handelte damals aus bester Ueberzeugung, ebenso gewiß wie auch
heute. Allein ich schließe daraus, daß auch die redlichsten Ueberzeugungen
Irrthümer sein können."
Und Herr Moriz Mohl schwieg.
Wie am 30. October 1867 der Antrag, dem Allianzvertrag vom 13.
August 1866 die verfassungsmäßige Zustimmung zu ertheilen, mit S8 gegen
32 von der zweiten Kammer angenommen wurde, so erfolgte am Tage da¬
nach, am 3l. October 1867, die Annahme des Antrages: „dem Vertrage
zwischen dem norddeutschen Bunde, Baiern, Würtemberg, Baden und Hessen,
die Fortdauer des Zoll- und Handelsvereins betreffend, vom 8. Juli 1867,
und der Uebereinkunft vom 8. Mai 1867 wegen Erhebung einer Abgabe
von Salz, unter der Voraussetzung, daß die Regierung auf Herabsetzung
der Salzverbrauchsabgabe hinwirke und demnächst die Interessen des Tabaks¬
baues und der Tabaksfabrikation nach Möglichkeit wahre, die verfassungs¬
mäßige Zustimmung zu ertheilen" mit 73 gegen 16 Stimmen. Diese 16
Stimmen gehörten Herrn Mohl, sowie 3 Rittern und einem Dutzend
von Schutzzöllnern ü. la. Deffner und Ammermüller, Radicalen Z. Ja Tafel
und Hopf und Großdeutschen ä la Osterlen, Schott und Probst, welcher
letztere seiner Zeit im würtembergischen Abgeordnetenhause die durch einen
dunkeln Canal von Wien nach Stuttgart importirte östreichische Concordats-
politik zwar mit Eifer und Geist, aber ohne Erfolg vertheidigte.
Nach den Ereignissen vom letzten und vorletzten October d. I. hätte
Jedermann, der unsere Zustände nicht kennt, glauben sollen, bei uns sei nun
die Einheitsbewegung im besten Zuge. Welch' ein Irrthum! Unser gouver-
nementaler Pendel hatte blos seine Schwingung nach links erschöpft. Daraus
folgt bei uns natürlich nichts, als daß er nun wieder zurückgeht und nach
rechts schwingt.
„^ever lor ever" tickt die alte englische Standuhr. „Nimmer für immer"
ist auch bei uns die Parole. Es waren keine sechs Wochen nach dem letzten
October verflossen, da wehte der Wind wieder aus dem schwarzgelben Loche.
Den Beginn machte der Chef des Justizdepartements Staatsrath Mitt¬
nacht. Er gehörte bis tief in das Jahr 1867 hinein zu den entschiedensten
Großdeutschen. Trotzdem war er noch nach dem Tage des Schutz- und Trutz¬
bündnisses, nach dem 13. August 1866, auf Antrag Varnbülers zum Justiz¬
minister ernannt worden. Als Abgeordneter, was er damals war und jetzt
noch ist, setzte er an der Spitze der gouvernementalen Mittelpartei seine gro߬
deutsche Politik mit Entschiedenheit fort und zeigte namentlich gegen die
deutsch-nationale Partei eine solche Feindseligkeit, daß die letztere, obgleich
in ihren Reihen die anerkanntesten Kapacitäten sitzen, bei den damaligen
Ausschußwahlen auch nicht ein Mitglied durchsetzen konnte und sich daher
von allen Commissionsarbeiten ausgeschlossen sah.
Vielleicht wußte damals der Justizminister selbst noch nichts von dem
Schutz- und Trutzbündniß des 23. August 1866, das bis zum März 1867
ein wohlbewahrtes Geheimniß des König Karl und des Minister Varnbüler
blieb. Vielleicht hoffte man damals noch am Nesenbach, der norddeutsche
Bund werde ebenfalls einen Ausgang nehmen, wie das Hornberger Schießen
und die Erfurter Union. Berechtigte ja doch die Haltung, welche der äußerste
Flügel der liberalen Partei in Preußen selbst annahm, die süddeutschen Par-
ticularisten zu den angenehmsten Hoffnungen.
Allein sie täuschten sich. Die Verfassung des norddeutschen Bundes
kam zu Stande. Der Reichstag sanctionirte diese Verfassung und sie errang
im Sturme die Zustimmung der einzelnen Regierungen und der Particular-
Landtage. Sie erwies sich als ebenso dauerhaft, wie entwicklungsfähig. Die
Schutz- und Trutzbündnisse wurden bekannt. Die Zollvereinsverträge wurden
reformirt und erneuert. Das luxemburger Gewitter verzog sich. Die Feinde
Preußens waren abermals um eine Reihe von Hoffnungen ärmer.
Der Chef des würtembergischen Justizdepartements war zwischenzeitig
immer mehr von seiner großdeutschen Richtung zurückgekommen, sodaß er
nicht mehr das volle Vertrauen der Klerikalen genoß. Herr Mittnacht ist
weder Phantast noch Fanatiker, sondern ein kluger, kalter, wohl berechnender
Realist, der namentlich seine Person und seine Stellung nie aus den Augen
verliert. Gerade dadurch hatte er sich seinem Protector, Herrn v. Varnbüler,
empfohlen, mit welchem er sich auch heute noch im herzlichsten Einvernehmen
befindet.
Am 30. Octbr. war er entschieden für den Allianzvertrag vom 13- Aug.
1866, am 31. Octbr. noch entschiedener für den Zollvereinsvertrag vom
8. Juli 1867.
Kürzlich nun hatte der Chef der Justiz aufs neue Gelegenheit, politisch
Farbe zu bekennen. Es handelte sich darum, ob auf die vorgelegte Gerichts¬
verfassung seitens der zweiten Kammer einzugehen sei. Die nationale Seite
des Hauses verlangte Garantie dafür, daß die Annahme der Regierungs¬
entwürfe, namentlich der Civilproceßordnung, der künftigen Einführung
eines gemeinsamen Gesetzes über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitig¬
keiten nicht blos für den norddeutschen Bund, sondern für ganz Deutschland,
kein Hinderniß bereite.
Dies gab Herrn Mittnacht Veranlassung, eine Rede großen Stils zu
halten, die eine ganz andere Farbe trug, als die Vorträge vom 30. und 31.
October. Er appellirre aus das nachdrücklichste an den würtembergischen
Particularismus. Er beschwor die Kammer, doch ja nur auf die Vorlage
einzugehen, denn sonst könne sich ein schweres Unglück ereignen, das Unglück
nämlich, daß die würtembergischen Juristen, welche eine Reform der Gerichts¬
verfassung und der Prozeßordnung dringend verlangten, so sehr des würtem¬
bergischen Particularismus (euphemistisch: Patriotismus) vergäßen, daß sie
am Ende gar ihre Blicke ausschließlich nach dem Norden richteten, als ob
von da jedes Heil der Welt, und auch in dieser Beziehung Abhilfe zu
erwarten stehe.
Ein würtembergischer Jurist, der den Blick nordwärts richtet und, im
Widerspruch mit dem Beobachter-Dogma: „Wie kann von Nazareth Gutes
kommen?" von Berlin das Heil erwartet, war für unsere „Großdeutschen"
etwas so entsetzliches, daß sie dem Justizminister beipflichteten.
Dem preußischen Herrenhaus war es vorbehalten, den Pendant zum
würtembergischen Abgeordnetenhause zu liefern. Denn zu derselben Stunde,
wo man hier mit Schaudern an die Möglichkeit dachte, daß ein würtember¬
gischer Jurist nordwärts blicke, machten einige hoehconservative Mitglieder
des Herrenhauses in Berlin die Entdeckung, daß es doch mit der Proze߬
ordnung sür das ganze norddeutsche Bundesgebiet fast ebenso bedenklich be¬
stellt sei, wie mit dem Nordwärtsblicken des schwäbischen Jurisconsultus;
denn sagten die Hochconservativen, „besagte Proceßordnung wird die Orga¬
nisation der Gerichte und die Etatsregulirung in Preußen berühren, worin
ohne Zustimmung beider Häuser <— natürlich also auch des Herrenhauses —)
des Landtags der Monarchie eine Abänderung nicht erfolgen kann.
Wie es den würtembergischen Juristen verboten ist, nordwärts zu
blicken ohne Genehmigung des Justizministers, so ist es der Bundesregierung
und dem Reichstag untersagt, innerhalb seiner unzweifelhaften Competenz
Gesetze zu erlassen, — ohne die Zustimmung des preußischen Herrenhauses.
Die Jungradicalen in Stuttgart und die Altconservativen in Berlin
verstehen einander. Das war in Stuttgart der erste Tag am Wendekreis
des Krebses. Und auch der zweite Tag ermangelte nicht des Ruhmes.
Am Tage nach der Apostrophe des Justizministers erfolgte nämlich eine
Rede des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, Herrn von Varnbüler,
welche jene an Deutlichkeit bedeutend übertraf und daher von den Zeitungen
ausführlich wiedergegeben wurde, was bei der des Justizministers jenseits
der schwarzrothen Grenzpfähle nicht der Fall war. Varnbülers Diatribe gegen
den norddeutschen Bund und dessen Verfassung leistete im östreichischen Sinne
alles mögliche; namentlich erging sie sich für den Fall des Beitritts von
Würtemberg in Prophezeiungen, die an düsterer Wahrheit den kassandrischen
Weisagungen Moriz Mohls nichts nachgaben; und sie erschien um so auf¬
fallender, als die Verhandlungen gar keine Veranlassung dazu gaben, vielmehr
die Sache geradezu vom Zaune gebrochen war.
Es handelte sich nämlich um die Anforderung der Besoldung für einen
würtembergischen Gesandten in Florenz; und der Umstand, daß einige Ab¬
geordnete einen solchen Posten für ein Ländchen von nur 1,700,000 Ein¬
wohnern und nicht allzustarker Finanzkraft überflüssig fanden, reizte den
Premier so sehr, daß er Würtembergs Eintritt in den norddeutschen Bund
mit den schwärzesten Farben malte und im Gegensatze zu der diplomatischen
Regel, daß man niemals ^niemals" sagen solle, und daß man, um zu reussi-
ren, nicht zu viel Eifer zeigen dürfe, sein „Niemals! — Niemals! — Nie¬
mals!" mit einem solchen Eifer in die Welt rief, daß jeder Zuhörer die
Ueberzeugung gewann, es sei ihm 1867 mit seinem „Niemals" ebenso bluti¬
ger und heiliger Ernst, wie 1866 mit seinem: Vae piceis!"
Er erklärte, er werde jede Kammer auflösen, welche sich für den Beitritt
ausspreche.
Während des Redens schien jedoch ihm selbst eine trübe Reminiscenz
an das. was seinem „Wehe den Besiegten" gefolgt ist, aufzublitzen. Wie
der Regen dem Donner, so folgte die Wehmuth dem drohenden Zorn; und
der mächtige Minister schloß fast sentimental: „dem Geschicke, das man ja
nicht voraussehen könne, müsse man sich freilich unterwerfen; und auch das
Schicksal Würtembergs müßte man schließlich doch der Vorsehung anheim¬
geben." Diese Worte, welche so elegisch anklangen an das hannoversche
„Ende aller Dinge", fehlen in den Zeitungsberichten. Ich bringe sie
hier in dem Feuilleton in Sicherheit, damit sie der Nachwelt nicht ver-
loren gehen. Denn sie sind es, welche der Sache die'politische Färbung
geben. Offenbar war es Herrn von Varnbüler sehr eilig, seine antinord¬
deutsche Diatribe an den Mann zu bringen. Sonst hätte er sich eine vor¬
theilhaftere Position ausgesucht, als die, welche die Frage des diplomati¬
schen Verkehrs mit dem jungen Königreiche Italien gerade für ihn bot.
Es sind nämlich noch nicht drei volle Jahre, daß er schon einmal auf diesem
Gebiet ein „Niemals" rief, welches er bald reponiren mußte, und das sich
ebensowenig realisiren ließ, als das: „Wehenden Besiegten" von 1866.
Es war am 16. Februar 1863, als Herr von Varnbüler, damals noch
großdeutsch vom Wirbel bis zur Zehe, und in Gemeinschaft mit Wydenbrugk,
Heinrich von Gagern, Ministerialrath Weis, Freiherrn von Lerchenfeld und
Moriz Mohl, demselben Moriz Mohl, den Herr von Varnbüler am 31. Oe-
tober 1867 so glänzend abfertigte, in dem Centralvorstand des großdeut¬
schen Reformvereins, welcher am 23. October 1862 in Frankfurt am Main
sein Rutil gehalten und beschlossen hatte, sich für die damals bestehende
Bundesverfassung nebst Delegirtenprojekt und gegen den deutschfranzösischen
Handelsvertrag zu echauffiren ebenfalls — bei der Budgetberathung, Etat des
Auswärtigen, in der würtembergischen zweiten Kammer erklärte, er werde
niemals dem Könige zur Anerkennung des Königreichs Italien rathen; das
verbiete die Rücksicht auf Oestreich. Es waren keine drei Jahre vergangen,
da focht derselbe Herr von Varnbüler vor derselben Kammer, bei derselben
Budgetberathung, bei demselben Etat des Auswärtigen, mit? der größten
Wärme für die Dauer der würtembergischen Gesandtschaft bei dem Könige
von Italien, woraus wohl mit einiger Sicherheit darauf geschlossen wer¬
den kann, daß der nämliche Herr von Varnbüler, der im Februar 186S die
Anerkennung Italiens repudiirte, sie in der Zwischenzeit wohl vollzogen
haben dürfte, wahrscheinlich auch aus dem Motiv, daß „man sich dem nicht
voraussehbaren Gange der Geschicke unterwerfen müsse." Seine bei Gelegen¬
heit der Florentiner Gesandtschaft gegen den norddeutschen Bund vorgetra¬
gene Ihilippika fand sofort eine geharnischte Erwiderung durch den Abge¬
ordneten R. Römer, Professor der Rechtswissenschaft an der Universität
Tübingen, einen der unerschrockensten und geistvollsten Vorkämpfer der natio¬
nalen Sache im Süden, und im Norden namentlich bekannt durch seine vor¬
treffliche Schrift: „Die Verfassung des norddeutschen Bundes und die süd¬
deutsche insbesondere die würtenbergische Freiheit" (Tübingen, 1867, zweite
Auflage), worin er den süddeutschen Illusionen mit unbarmherziger Logik zu
Leib geht. — Es eristire kein anderer Weg zur Einheit Deutschlands, sagte
Römer, als der des Eintritts in den norddeutschen Bund; und deshalb sei
es ihm keine Minute zweifelhaft, daß auch Würtemberg eintreten werde und
eintreten müsse. Deshalb sei er aber auch fast erschrocken über" die so eben
vernommene Aeußerung eines süddeutschen Ministers, und daß ein solcher
eine so klare Wahrheit noch so sehr verkenne. Für den Minister sei er
erschrocken, nicht für die Ereignisse und deren unerbittliche Logik, an der
jener nichts ändern könne. Der Schreck habe aber alsbald sich wieder ge¬
legt, als ihm eingefallen, daß vor zwei Jahren derselbe Minister die Aner¬
kennung des Königreichs Italien auf das schroffste abgelehnt, der nun für
die Besoldung eines Gesandten in Florenz kämpfe, und wie sehr und wie
schnell die Auffassung der deutschen Frage bei eben demselben Minister ge¬
wechselt. Der Schreck sei aber ganz geschwunden, fuhr Professor Römer fort,
als er die elegisch-fromme Schlußtirade der ministeriellen Rede vernommen;
des Herrn Ministers Hinweisung auf die Unterwerfung unter die Vorsehung
und die Geschicke habe ihn vollständig beruhigt; sie berechtige ihn zu der
Hoffnung, daß Herr von Varnbüler selbst noch in diesem Hause den Eintritt
Würtembergs beantragen und auch durchsetzen und sich so ein weiteres großes
Verdienst um das Land und die Dynastie erwerben werde."
Dies war der zweite Tag am Wendekreise des Krebses. Allein auch der
dritte ermangelte nicht seiner Lorbeeren. Die Militärcommission wollte, bevor sie
in die Berathung des Wehrgesetzentwurfs eintrat, in Betreff der im Februar
1867 zwischen den süddeutschen Regierungen über die Reorganisation ihres
Heerwesens geschlossene Convention die Ansicht der zweiten Kammer, d. h.
des Plenums, hören. Die Commission war der Meinung, über diese Con¬
vention zur Tagesordnung überzugehn, d. h. jede staatsrechtliche Verbindlich¬
keit derselben abzulehnen. Der Kriegsminister hatte sich privatim hiermit
einverstanden erklärt. Man glaubte, dieser Antrag würde im Hause ohne
weiteres angenommen werden. Man irrte sich. Der Abgeordnete Probst,
ein großdeutsch-demokratisches Mitglied, der beredte Vertheidiger des Concor-
dats, opponirte dem Antrage der Commission mit großer Leidenschaft: fast
scheine es, meinte er, die Negierung wolle durch den Beschluß des Hauses
ihre Verbindlichkeit gegen Baiern und Baden loswerden, aber jeder Patriot
müsse wünschen, daß diese separat süddeutsche Militärconvention zu vollster
Geltung gelange u, s. w. — Bei der Abstimmung votirten die Herren von
Varnbüler und Mittnacht, die beide Mitglieder des Hauses sind, gegen den
Commissionsantrag, für Probst.
Das neueste Heft der staatswissenschaftlicher Zeitschrift unter Redaction
des Herrn Schaffte, Professors in Tübingen, vormals großdeutschen Kammer¬
mitgliedes, der, obgleich Freihändler, dennoch den deutsch-französischen Handels¬
vertrag, lediglich aus politischen Gründen, aus das heftigste bekämpfte, bringt
eine Abhandlung, welche gegen das preußische Wehrsystem und zu Gunsten
der Milizverfassung plaidirt.' Ihr Verfasser — ich nehme keinen Anstand,
dies zu sagen, da es Jedermann weiß und es öffentlich verkündigt wird —
ist ein höherer würtembergischer Offizier im activen Dienste. Die Stutt¬
garter Bürgerzeitung, das Organ des Hoff und der Regierung, besprach
laut dies neu verkündete antipreußische Project — das Heft der Zeitschrift
war nämlich kaum erschienen — und empfahl auf das wärmste den Herren
Abgeordneten diese vortreffliche Abhandlung zum Studium und zur ernstesten
Erwägung.
Ich habe Ihnen die „Drei Tage in Würtemberg" erzählt; und da eine
jegliche Geschichte auch ihre Moral haben muß — so behauptet nämlich der
Hosschulze in Immermanns Münchhausen — so will ich versuchen, ob es
mir gelingt, einige Nutzanwendung aus dem Erzählten zu ziehen.
Herr von Varnbüler gilt für einen klugen Mann, und wie mir scheint,
nicht mit Unrecht. Sein „Wehe den Besiegten!" beweist nichts dagegen. Es
beruhte auf dem Glauben der Ueberlegenheit der östreichischen Armee; und
dieser Glaube war ja damals an den mittlern und kleinen Höfen der allein¬
herrschende und alleinseligmachende. Kein Wunder, daß sich ein kluger, aber
in militärischen Dingen völlig unkundiger Mann, wie Herr von Varnbüler,
demselben nicht entzieh» konnte.
Daß er später die Situation richtig auffaßte, beweißt die Bereitwillig¬
keit, mit der er auf den Abschluß des Allianzvertrages vom 13. August 18KC
und auf den des Zollvereinsvertrags vom 8. Juli 1867 einging, und der
Eifer und das Geschick, die er zeigte, diese Verträge glücklich zwischen der
Scilla der ersten uno der Charybdis der zweiten Kammer durchzulootsen. Er
verdarb es dadurch mit der östreichischen Partei, sowohl mit der radicalen,
als auch mit der reactionären, sowohl mit Karl Mayer, als auch mit dem
Freiherrn von Neurath, welchen Varnbüler aus dem Sattel gehoben hat,
und der gerade nicht vergeßlichen Gemüths ist.
Gewiß hat Varnbüler, nachdem er es mit der östreichischen Partei so
gründlich verdorben, daß er von derselben, trotzdem, daß er ihr Jahre lang
das schwere Opfer brachte, an der Spitze des geiht- und trostlosen großdeut-
schen, Vereins zu stehen und in dieser Eigenschaft zeitweise den Salons des
Senators Bernus in Frankfurt am Main als Decoration dienen zu müssen,
schwerlich jemals wieder zu Gnaden an- und aufgenommen werden wird,
gegenwärtig selbst wenig Gelüste, es nun auch obendrein mit der nationalen
Partei zu verderben und sich so gleichsam zwischen zwei Stühle zu setzen.
Wenn nun aber trotzdem seine Handlungen den Schein erzeugen, als sei
er im Begriff, eine so bedenkliche Evolution auszuführen, so muß man,
(natürlich immer vorausgesetzt, daß die Annahme, Herr von Varnbüler sei
ein kluger Mann, in Wahrheit begründet ist), nothwendiger Weise schließen,
diese Handlungen seien nicht von obbemeldeter intersellarischer Tendenz, son¬
dern von anderweitigen zwingenden Motiven dictirt.
Diese Motive können nur in specifisch würtembergischen Voraussetzungen
beruhen. Denn mit diesen muß Herr von Varnbüler rechnen, wenn er sich
auf dem Sammt des Ministersessels behaupten will. Daß er überwiegend von
der Stimmung des Landes regiert wird> glaube ich durchaus nicht. Denn die
Stimmung des Landes ist in sich unklar und wird bei einem Theile der Be¬
völkerung regiert von den allerkleinlichsten Interessen. Ob das Maß Getränk
um einen Kreuzer aufschlägt, oder das Packet Tabak einen halben Kreuzer
theuerer wird, — das sind die hohen und wichtigen Dinge und Fragen,
um welche sich diese so frische und fromme, fröhliche und freie Realpolitik
dreht. Und dabei untersucht man nicht die Wirklichkeit der Dinge, sondern
begnügt sich mit dem Schein. Alle Welt weiß, daß die Frage des Eintritts
von Würtemberg in den norddeutschen Bund mit der Branntweinsteuer nichts
zu thun hat, und daß auch der Zollvertrag vom 8. Juli d. I. hier an dem bis¬
herigen Stande dieser Frage gar nichts ändert. Gleichwohl glaubt — warum?
das ist nicht ersichtlich — die Mehrzahl aller Würtenberger an die von
Preußen drohende Vertheuerung des Branntweins so fest, wie an ein Evan¬
gelium; und das Durchschnittsurtheil der Ungebildeten läuft darauf hinaus,
daß zwar die „deutsche Einheit" ein recht schönes Ding, aber daß billiger
Schnaps ohne Einheit besser sei, als theuerer mit Einheit.
Einer solchen Theorie gegenüber, selbst wenn sie (was bei der Art,
wie sich in Würtemberg die Volksvertretung componirt, bekanntlich durchaus
nicht der Fall ist) in der Möglichkeit wäre, ihrer politischen Anschauung
einen klaren und wirksamen Ausdruck zu geben, hat Herr von Varnbüler
solche Opfer, wie er sie in seiner Philippika gegen den norddeutschen Bund,
gewiß nicht ohne schweres Widerstreben, gebracht hat, nicht nöthig. Das
kann er ja billiger haben.
Man muß daher, um sich seine Handlungsweise zu erklären, annehmen,
daß die Stimmung an einem höhern Orte gewechselt hat, sei es durch eine
spontane Reaction gegen den 30. und 31. October, sei es durch Einwirkungen
von Wien oder von Paris, wo man bekanntlich wieder sehr oben auf ist,
seitdem die Chassepots, auf das heilige Gebiet von Rom verpflanzt, Wunder
gethan haben, — Wunder, woran in dem ungläubigen Norden, der in seiner
Ketzerei an die Zündnadel glaubt, vielleicht noch Heterodoxe zweifeln. Denn
es glaubt natürlich jeder an seinen eigenen Heiligen. Aber ebensowenig wie
Herr Mittnacht, der von ihm zum Justizminister empfohlene Großdeutsche, ist
Herr v. Varnbüler ein Fanatiker oder ein Phantast. Kühl bis ans Herz hinan
glaubt er weder an Heilige noch an Wunder. Allein er ist klug genug, daß,
wenn jemand, von dem seine Stellung abhängt, an den Saint-Chassepot glaubt,
er sich wohl hütet, in dieser Richtung den Schein einer Ketzerei auf sich zu
laden. Hier zu Lande aber wechselt der Glaube zum öfteren, und man er-
innert sich noch an die Rechtsparömie des siebzehnten Jahrhunderts: „OuMg
i'vgio, ejus religiö". Auf die Möglichkeit eines Krieges zwischen Frankreich
einerseits und Deutschland, d. h. Preußen , andererseits, angewandt, heißt
diese Rechtsparömie ins Deutsche übertragen so: Wer von beiden streitenden
Theilen zuerst in Stuttgart, in Ulm und in Friedrichshafen ist, dem gehört
das Land (roZio) und an den glaubt man (religiö), heiße er nun Monsieur
Chassepot oder Herr von Dreyse.
Dieser Umstand ist traurig, aber noch trauriger wäre es doch, wenn
man sich in Betreff dieses Umstandes einer neuen Täuschung hingäbe, und
in Folge dessen Begehungs- oder Unterlassungssünden vorkämen, die nicht
wieder gut zu machen sind. Namentlich darf man nicht vergessen, daß Vor¬
kommnisse, wie sie die Chronik der drei Tage in Würtemberg aufweist, und
wie sie jeder folgende Tag von neuem bringen kann, auch wenn dies
in Stuttgart gar nicht beabsichtigt sein sollte, ihren Wellenschlag in ver¬
stärktem Maße wieder zurückwälzen zu dem Orte, von wo sie ausgingen;
daß sie namentlich in Wien und Paris in gewissen Kreisen geradezu als
piovoeationes agenäum wirken. So lange über das Schicksal des deut¬
schen Süden noch nicht definitiv und unabänderlich entschieden ist, so lange
gibts keine Ruhe in der Welt; so lange wird ein solcher süddeutscher Staat
abwechselnd von Wien, von Paris und von Berlin angezogen; und das
nationale, wirthschaftliche und militärische Band, das ihn an Norddeutschland
fesselt, scheint leider noch nicht stark genug zu sein, um die Abirrungen nach
Wien und Paris zu Paralysiren. Es ist hoch Zeit, daß man den letzteren
einen Riegel vorschiebt.
Der Riegel ist da. Er heißt Baden. Warum macht man keinen Ge¬
brauch davon? Jede Minute ist kostbar.
Je schwankender man im Süden gesinnt ist, desto fester muß man im
Norden sein. Altmeister Göthe sagt am Schlüsse von Hermann und Dorothea:
„Denn der Mensch, der in schwankender Zeit auch schwankend gesinnt ist,
Der vermehret das Uebel und breitet es weiter und weiter.
Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich!"
Während man bei Ihnen in Deutschland durch, das gesammte Jahr 1867
beinahe unausgesetzt mit der Beobachtung der Vorgänge in Frankreich beschäftigt
gewesen ist, haben sich bei uns im Osten Dinge vorbereitet, welche der öffent¬
lichen Theilnahme nicht minder werth sind, als die Schwankungen, in welche
die französische Politik zu Folge der zweiten römische'- Expedition gerathen
ist. Darüber, ob die orientalische Frage wirklich ihrer Lösung entgegengeht,
und ob die letzten kriegerischen Artikel des russischen Invaliden in der That
die Aufgabe haben, eine entscheidende Wendung unserer Politik vorzubereiten,
kann ich Ihnen nichts sagen. Von den desir''' .i Absichten unseres Cabi-
nets wissen die moskauer und Petersburger Journale ebensowenig, wie die
pariser Blätter von den Plänen, mit welchen Napoleon III. sich für das
nächste Frühjahr trägt. Der Publicist kann nicht mehr thun, als die Ge¬
danken und Stimmungen seiner Umgebung aufmerksam zu verfolgen und aus
den Gegenständen, welche man dieser durch die Presse nahe legt, auf die
Dinge zu schließen, welche für die Zukunft beabsichtigt werden. Die Wichtig¬
keit, welche pariser Zeitungsartikel, Brochüren und Reden sür die Zukunft
Deutschlands haben, ist im Grunde nicht viel größer, als die Bedeutung der
Symptome unseres öffentlichen Zustandes sür den Orient; was die Regie¬
rungen schließlich thun werden, wissen sie vielleicht selbst nicht, wir müssen
uns hier wie in Frankreich damit begnügen, nach den natürlichen Consequen-
zen ihrer bisherigen Handlungen und der Einflüsse zu fragen, welche auf die
Völker ausgeübt werden.
Die Beschäftigung mit den Zuständen der außerrussischen Slaven ist
in Nußland vielleicht niemals so lebhast gewesen, wie während der letzten
sechs Monate. Jede freie Stunde, welche die Presse der Betrachtung der
schwebenden Fragen innerer Politik abmüssigen konnte, war den Vorgängen
in Galizien, an der untern Donau und am Bosporus gewidmet, und die
Theilnahme des Publikums sür dieselben wurde trotz des Eifers, mit welchem
man den Verhandlungen der Tarifcommission und den neuesten Maßregeln
gegen die Ostseeprovinzen folgte, in Permanenz erhalten. Man hatte dabei
den ungeheuern Vortheil, einen Gegenstand zu behandeln, über welchen es, im
Grunde genommen, gar keine erhebliche Meinungsverschiedenheit gab und der
allen Parteien gleich willkommen war. Hatte man sich wegen der Rathsam-
keit einer Herabsetzung des Zolltarifs, oder wegen der Frage, ob es heilsam
, sei, den russischen Güterlausern in Litthauen seitens der Bodencreditgesellschast
keine größeren Vorschüsse zu Theil werden zu lassen, als andern Guts¬
besitzern, noch so feindselig gerauft, die Beschäftigung mit der orientalischen
Frage bot sofort die Möglichkeit der Verständigung und Aussöhnung. Dar¬
über, daß es Rußlands heiligste Pflicht sei, der Unzufriedenheit der türki¬
schen Slaven zu ihrem Recht zu verhelfen, immer wieder an das Un¬
genügende der den orientalischen Christen gemachten Concessionen zu er¬
innern, und die übrigen Großmächte zu einer möglichst wirksamen Jnterccssion
für die Candioten zu drängen, darüber war alle Welt einig. Nach der herr¬
schenden Anschauung ist Rußland dem europäischen Frieden zu Liebe immer
noch hinter der Erfüllung seiner natürlichen Aufgabe zurückgeblieben und
officiöse wie unabhängige Journale überbieten sich in Klagen darüber, daß
das Petersburger Cabinet von seinem guten Recht allzu bescheidenen Gebrauch
gemacht habe, allzu maßvoll geblieben sei. Die einzige Partei, welche an
diesem Drängen der öffentlichen Meinung zu energischer Action keinen An¬
theil hat, ist die aristokratisch-constitutionelle und zwar aus mehrfachen Grün¬
den. Einmal deckt sich die panslavistische Partei so vollständig mit der demo¬
kratischen, daß man nicht zu der einen gehören kann, ohne zugleich an den
Bestrebungen der anderen Theil zu nehmen, und zweitens gilt es für ausge¬
macht, daß jeder Versuch zu einem Vorgehen gegen die Psorte mit der
Occupation Galiziens und der Befreiung der glaubensverwandten Nuthenen
vom polnisch-katholischen Joch beginnen werde. Die Aristokratie, welche die
Vernichtung der conservativen Elemente in Litthauen und Polen bereits höchst
ungern gesehen hat und nicht mit Unrecht fürchtet, das in diesen Theilen
des Reichs aufgerichtete Bauernregiment werde mit der Zeit zur vollständigen
Vernichtung des russischen Adels und seines Einflusses führen, will aber um
keinen Preis etwas von der Begünstigung der bäuerlichen Unabhängigkeits¬
gelüste in Galizien wissen, ihre Sympathien stehen entschieden auf Seiten der
polnischen Gutsbesitzer; zudem ist die Aristokratie Gegnerin jedes Krieges,
weil sie die finanziellen Schwierigkeiten, in denen wir stecken, lebhaft empfin¬
det und sehr pessimistisch beurtheilt, und weil sie ihrem Gegner, dem Kriegs¬
minister Miljutin, keine Gelegenheit gönnt, in der Gunst des Monarchen zu
steigen und seinen Einfluß zu vergrößern. Dazu kommt noch eine andere
Personenfrage: der Kanzler, Fürst Gortschakow, der gleichfalls Gegner des
Krieges ist, gilt für eine Hauptstütze der conservativen Interessen im kaiser¬
lichen Cabinet, während der Hauptanwalt der kriegerischen Nationalpartei,
der constantinopolitanische Botschafter Jgnatjew, vorNder Aristokratie demo¬
kratischer Tendenzen beargwohnt wird und für einen Mann von plebejen
und verletzenden Formen gilt. Freilich ist unsere constitutionelle Adelspartei
nie einflußloser und unpopulärer gewesen, als im gegenwärtigen Augenblick;
mit dem Hof hat sie es durch ihre Unbotmäßigkeit bei Gelegenheit der Peters¬
burger Gouvernementsversammlung im Februar 1867 verdorben; der öffent¬
lichen Meinung hat sie sich durch ihre Gegnerschaft gegen die russificatorischen
Maßnahmen in den Ostseeprovinzen und zin Litthauen und durch die kühle
Ablehnung entfremdet, welche ihr Organ, die Zeitung „Weßth", dem Slaven-
congreß gegenüber zur Schau trug.
Mit der gesteigerten Theilnahme für die orientalische Frage, welche durch
die neuerdings erfolgte Veröffentlichung von 30 diplomatischen Ackerstücken
noch beträchtlich genährt worden ist, hat dieser Congreß aber unleugbar im
engsten Zusammenhang gestanden und man irrt vollständig, wenn man sich
dem-Glauben hingibt, die Wirkungen desselben hätten seine Dauer nicht über¬
lebt. Allerdings waren die Eindrücke, unter welchen man sich nach Abschluß
der langen Reihe hier und in Petersburg gefeierter Feste trennte, zum Theil
höchst peinlicher Natur: trotz der maßvollen Art, mit welcher Ryger für die
Polen eingetreten war und trotz der Selbstbeherrschung, mit welcher dieser
Czechenführer die bitteren Ausfälle des Fürsten Tscherkaßtly unbeantwortet ge¬
lassen hatte, empfand man auf beiden Seiten, daß zwischen griechisch-orthodoxen
und römisch-katholischen Slaven eine Verständigung über die polnische Frage
nicht möglich sei, und daß die Czechen (die man als die Führer des östreichischen
Panslavismus betrachtete und mit besonderer Zuvorkommenheit behandelte)
von ihren alten Verbindungen mit den Polen nicht lassen würden. Aber die
Czechen waren nicht die einzigen Gäste gewesen, welche die Pilgerfahrt in
die weißsteinerne Moskwa unternommen hatten; gerade die geistige Unbe¬
deutendheit der Repräsentanten Serbiens, Slavoniens u. s. w. hatte auf die
Führer unserer Nationalpartei einen höchst befriedigenden Eindruck gemacht
und dieselben in der Ueberzeugung befestigt, Nußland könne mit Sicherheit
daraufrechnen, die unbeschränkte Gebieterin der slavischen Welt zu bleiben.
Daß die ungebildete Masse unserer Stadtkaufleute und städtischer
Bauern mit den Stammesgenossen von der Donau in Berührung gekom¬
men war, dieselben mit Augen gesehen und sich davon überzeugt hatte, daß
die oft genannten Brüder, welche unter türkischem Joch schmachteten, wirk¬
lich von demselben Fleisch und Bein seien, wie die Bewohner der Mutter
Wolga und des Don, fiel gleichfalls ins Gewicht. Während die Nachrichten
aus der außerrussischen Slavenwelt, welche die größeren Journale seit Jahren
veröffentlichten, bis dazu nur aus den gebildetsten Theil ihrer Leser zu rechnen
hatten, wird die „slavische Rundschau" überschriebene Rubrik, welche sich
neuerdings auch in den unbedeutenden Volksblättern wiederfindet, seit dem
Sommer v. I. auch vom gemeinen Mann gelesen und in Erwägung gezogen.
Wichtiger noch ist, daß die schon früher mit den Donauslaven angeknüpften Ver¬
bindungen seit dem Sommer an Lebhaftigkeit und Umfang beträchtlich gewonnen
haben. Mag auch der größte Theil der nach Prag, Agram, Warasdin oder
Neusatz gesendeten russischen Bücher und Zeitschriften ungelesen bleiben, ist es
auch sicher übertrieben, wenn die Narodny Listy bereits gegenwärtig von den
ungeheuren Fortschritten reden, welche die Kenntniß der russischen Sprache
unter den östreichischen Slaven gemacht habe, so steht doch fest, daß der
Verkehr zwischen hüben und drüben niemals so lebhaft gewesen ist, als wäh¬
rend der letzten Wochen. Ueber den Inhalt der in Oestreich erscheinenden
slavischen Parteiblätter ist man bei uns regelmäßig auf das genaueste unter-
richtet; die ezechischen Zeitungen ausgenommen, wiederholen diese Journale
eigentlich nur, was von den großen Blättern Moskaus gesagt worden. Mit
ganz besonderer Theilnahme verfolgte unsere Presse das Geschick der einzelnen
Congreßglieder, welche wegen allzu kecker Provocationen gegen die östreichi¬
sche Negierung ihrer Aemter entlassen oder bestraft worden sind. Jede der¬
artige Entlassung gab zu endlosen Anklagen gegen die deutschen Machthaber
in Wien Veranlassung und viele dieser Männer, namentlich galizische Ru-
thenen, haben an unsern, ewig an dem Mangel brauchbarer Lehrkräfte dar¬
benden Universitäten und Fachschulen bereits Verwendung gefunden, während
andererseits aus dem Königreich geflüchtete Polen in Galizien freundlich ge¬
nug aufgenommen wurden. Der Gegensatz gegen Oestreich, das man wegen
seiner polnischen Politik ebenso giftig haßt, wie wegen der geheimen Unter¬
stützung, welche es der rennenden Pforte gewährt, ist dadurch ein äußerst
gespannter geworden und die Sprache, welche die Patrioten der Moskaner Zei¬
tung und der Moskwa gegen diesen Staat sühren, ist durch nichts von der
unterschieden, über welche Aali Pascha sich vergeblich beim Fürsten Gortscha-
kow beschwert hat. Noch vor wenigen Wochen verlangte der Invalide z.B.,
daß die östreichischen Slaven einen allgemeinen slavischen Kongreß abhielten,
um über die schwierige Frage zu berathen, in welche sie durch die Ungunst
des tyrannischen wiener Cabinets gerathen seien. Nachdem hier in Moskau
schon vor Monaten der Prospekt zu einem in periodischen Lieferungen erscheinen¬
den Gesammtorgan für slavische Interessen und zum Zweck einer fortlaufen¬
den Agitation für Die „slavische Idee" ausgegeben worden, ist neuerdings
in Petersburg ein Conn6 zusammengetreten, welches die Vermittelung des
geistigen und literarischen Austausches zwischen den verschiedenen Bruder¬
stämmen übernehmen soll. Zum Präses desselben will man den Unter-
richtsminister und Oberprokureur des Scherds (der Kirchenbehörde) Grasen
Tolstoy, zum Vicepräsioenten den Staatsrath Hilserding, den Verfasser
der Geschichte Serbiens und zahlreicher anderer panslavistischer Schriften,
machen. Der Name dieses Schriftstellers ist bezeichnender als ein ganzes
Programm. — Auch zu den Czechen, die wegen ihrer Intervention zu
Gunsten Polens russifcherfeits bereits aufgegeben waren, ist man neuer¬
dings in ein festes Verhältniß getreten. Nachdem die böhmische Aristokratie
und der katholische Klerus sich von der Nationalpartei losgesagt haben, ist
diese direkt aus russische Unterstützung angewiesen. Diese wird ihnen nach
Kräften gewährt, wofür sie ihrerseits erklärt haben, die Herrschaftsanfprüche
der russischen Sprache anerkennen und nach Kräften fördern zu wollen. Man
weiß auf beiden Seiten, daß eine engere Alliance nicht möglich ist und be¬
gnügt sich damit, gegenseitig von einander den größtmöglichster Vortheil zu
ziehen, ohne die streitigen Punkte zu berühren. Bei dem großen moralischen
Einfluß, welchen die Czechen auf die übrigen östreichischen Slaven ausüben,
ist der größere Vortheil offenbar auf Seiten der Russen; diesen kommt es
darauf an, die Aufregung unter den Donauslaven, namentlich unter den
Serben, möglichst zu schüren und das kann nur geschehen, wenn die prager
Presse diese Bestrebungen unterstützt. Als wichtigstes Moment möchte ich
aber hervorheben, daß der Congreß vom vorigen Sommer nicht nur die Be¬
ziehungen zwischen den verschiedenen Stämmen belebt, sondern die bis dazu
ziemlich verschwommenen An- und Aussichten unserer panslavistischen Führer
geklärt und die Grenzen des zunächst Erreichbaren deutlich abgesteckt hat.
Schon vorher war es das Verdienst der Moskaner Zeitung gewesen, die ver¬
schwommenen Träume der alten Panslavisten von einem allgemeinen slavi¬
schen Föderativstaat zerblasen und durch ein festes Programm ersetzt zu haben;
an die Stelle der chimärischen slavischen Zukunftsrepublik trat der concrete
russische Staat — in diesem sollen alle slavischen Stämme, welche es mit der
Sache ihrer Race ehrlich meinen, aufgehen. Der Lehre von der Gleichberech¬
tigung der einzelnen Stämme wurde förmlich die Stelle einer schädlichen
Ketzerei angewiesen, die polnische Frage zum Criterium für die Gesinnungs¬
tüchtigkeit jedes Einzelnen und jedes Stammes gemacht, der an dem allge¬
meinen großen Bunde Theil haben wollte. Seit dem Congreß ist man noch
weiter gegangen; man hat zunächst daraus verzichtet, die Czechen, Croaten
und sonstigen Westslaven katholischer Confession zu assimiliren, um desto
directer für eine Heranziehung der ruthenischen und serbischen Glaubensbrüder
arbeiten zu können. Gleichzeitig hat die Moskaner Zeitung den politischen
Katechismus der nationalen Partei durch einen neuen höchst wichtigen Para¬
graphen bereichert, für dessen Durchführung sie seit Wochen thätig ist, um
eine spätere Verständigung mit den katholischen Stammesgenossen anzubahnen.
Sie fordert nämlich die Begründung einer katholisch-russischen Kirche, die bis¬
her identificirten Begriffe Katholicismus und Polonismus sollen künftig von
einander getrennt und streng auseinander gehalten werden. Nur wenn das
geschieht, hält Herr Katkow eine Lösung der polnischen Frage im russischen
Sinne für möglich — und eine Heranziehung der Czechen und Croaten, wie
wir hinzufügen müssen.
Es ist wohl auch außerhalb Rußland bekannt, daß die Begriffe Pole
und Katholik sich in dem südwestlichen Theil unserer Monarchie seit lange
vollständig decken. Die Polonisirung Litthauens und der kleinrussischen
Westprovinzen ist zugleich eine Katholisirung gewesen; die Geistlichkeit und
und die Aristokratie arbeiteten sich zur Zeit der polnischen Herrschaft und'
später so glücklich in die Hände, daß ein großer Theil der Bevölkerung jener
Länder, namentlich der höheren Klassen, mit der polnischen Kultur zugleich
die Lehre der römischen Kirche annahm. Seit dem Jahre 1863 wurde darum
von den Murawjew. Kaufmann. Annenkow, Kryschanarski und Befall ebenso
an der Vernichtung des polnischen Adels wie der katholischen Geistlichkeit,
welche die Hauptträgerin des unglücklichen Aufstandes gewesen war. gear¬
beitet; der Uebertritt zur „rechtgläubigen" Kirche ist für Tausende von Indi¬
viduen, welche mit Recht oder Unrecht für compromittirt gelten, das einzige
Mittel zur Rettung, von Galgen und Exil gewesen, denn es galt für aus¬
gemacht, daß der Wechsel der Religion mit dem Wechsel der Nationalität iden¬
tisch sei. Aehnlich ist es in dem nördlichen Theil des Königreichs Polen zu¬
gegangen, und daß der propagandistische Eifer der Popen nicht ganz resultat¬
los gewesen ist, geht aus den nach zehntausenden zählenden Conversionen
Hervor, welche während des abgelaufenen Jahres allein im Gouvernement
Korono vorgenommen worden sind. Die klarer Sehenden unter den Häup¬
tern der, nationalen Russificationspartei erkannten indessen bald, daß mit
diesen Scheinerfolgen im Grunde nichts gewonnen sei, daß der confessionelle
Eifer der Propagandisten vielmehr dem polnischen Widerstande in die Hände
arbeite und das Volk gegen die wesentlich politischen Absichten der Regie¬
rung mißtrauisch mache. Die Moskaner Zeitung war es, welche zuerst
verkündete, eine Institution wie die katholische Kirche auszurotten, sei
Rußland außer Stande. Die Herausgeber dieser Zeitung, die es auf
nichts weniger als die allmähliche Assimilation auch der bäuerlichen Be¬
völkerung des Königreichs absahen, konnten sich der Einsicht nicht ent¬
ziehen, daß man die polnischen Bauern allenfalls zu Russen, aber nimmer¬
mehr zu Rechtgläubigen machen könne und daß die russische Sache durch
ihre Unduldsamkeit gegen den Katholicismus in den Augen der katho¬
lischen Slavenstämme zum entschiedenen Schaden der panslavistischen Sache
compromittirt werde. Den bestehenden Gesetzen gemäß ist es streng verboten,
den katholischen oder irgend einen andern „fremdgläubigen" Gottesdienste in
russischer Sprache zu celebriren; die Furcht vor einer katholischen Propaganda,
welche mindestens so alt ist wie die gegenwärtig herrschende Dynastie, hat
dieses Verbot schon vor Jahrhunderten erlassen und unerbittlich aufrecht er¬
halten. Selbst in den Provinzen, in denen der Gebrauch der polnischen
Sprache bei Strafe untersagt ist, werden alle katholische Amtshandlun¬
gen und Liturgien polnisch oder lateinisch celebrirt. Gegen dieses Gesetz
hat die Moskaner Zeitung neuerdings eine lebhafte Polemik begonnen: mit
vielem Scharfsinn wird entwickelt, wie widersinnig es sei, die katholische
Kirche, die man einmal nicht ausrotten könne, zum Instrument der Polo-
nisirung, gewissermaßen zur polnischen Staatskirche zu machen und dabei die
polnische Staatsidee auf Tod und Leben zu bekämpfen — ein und dieselbe
Sprache für kirchliche Handlungen obligatorisch zu machen und im profanen
Leben zu verfolgen. Gelingt es der Moskaner Zeitung, die Zulassung der ruf-
fischen Sprache für den katholischen Gottesdienst durchzusetzen, so würde da¬
durch in der That ein neuer Abschnitt in der Geschichte nicht nur der polnisch¬
russischen Frage, sondern zugleich des russischen Staatslebens inaugurirt.
Wird es in Zukunft möglich, ein rechter Russe und doch kein „Rechtgläubiger"
zu sein, so muß die Stellung der griechisch-orthodoxen Kirche in Rußland bin¬
nen Jahr und Tag eine andere, der Begriff des Staatskirchenthums wenn nicht
aufgelöst, so doch wesentlich alterirt sein. Gerade aus diesem Grunde stößt
die neue Doctrin der Beherrscherin unserer öffentlichen Meinung allenthalben
auf den lebhaftesten Widerspruch. Nicht nur die Geistlichkeit und die Mehr¬
zahl der Beamten, welche als Genossen der kirchlichen Propaganda glänzende
Geschäfte gemacht haben, auch ein großer Theil der unabhängigen Politiker
will von dieser Meinung nichts wissen, zumal die Partei der Slavophilen,
der russischen Romantiker, die an den „byzantinischen Grundlagen" der rus¬
sischen Cultur festhält und von keinem Verzicht auf die künftige Weltherrschaft,
zu welcher sie die orientalische Kirche berufen glaubt, etwas wissen will.
Schon vor Jahren verkündeten die Repräsentanten dieser Richtung in einem
an die Serben gerichteten Sendschreiben, die Begriffe Slave und griechisch¬
orthodoxen Christ seien gleichbedeutend und ein Andersgläubiger dürfe aus die¬
sem Grunde in einem wahrhaft slavischen Staat niemals Vollbürger werden.
Die, Sache ist für die Zukunft Rußlands von größter Bedeutung,
denn sie wird zugleich für die Zukunft des Protestantismus, den man der
Ostseeprovinzen wegen mit Deutschthum zu identificiren gewohnt ist, endlich
für die seit lange in Aussicht genommene Emancipation der Juden, welche
gleichfalls von den Slavophilen bekämpft wird, maßgebend. Der Ausgang
entzieht sich aller Wahrscheinlichkcitsberechnung, zumal der erste russische Geist¬
liche, der Metropolit Philaret von Moskau, der einen großen Einfluß auf die
Entschließungen des Kaisers übte, vor einigen Wochen verstorben und zur
Zeit noch nicht ersetzt ist. Unter allen Umständen wird es einen harten
Kampf gegen die nationale Intoleranz und eine uralte Tradition kosten, wenn
die Moskauische Zeitung Siegerin bleiben soll. Neuerdings hat die hier er¬
scheinende Monatschrift „Westnik" in derselben Angelegenheit das Wort er¬
griffen und die Vorschläge der Most. Zeitung zur Begründung einer russischen
katholischen Kirche mit einer Reihe politischer und dogmatisch-theologischer
Gründe unterstützt, die entgegengesetzte Ansicht wird hauptsächlich durch Jurry
Samario, eines der einflußreichsten Glieder des weiland polnischen Organi-
sationscomitös, verfochten. Der Verlauf dieser Debatte wird von der czechi-
schen und kroatischen Presse mit dem gleichen Eiser verfolgt, wie von der
gesammten russischen Gesellschaft; ihre Entscheidung wird eine neue wichtige
Epoche in der Geschichte der panslavistischen Idee bezeichnen und ihr gegen¬
wärtiges Stadium legt bereits von dem praktischen Ernst Zeugniß ab, mit
welchem der Gedanke an eine Vereinigung aller slavischen Stämme seit dem
Sommer v. I. betrieben wird. Der Gedanke, Rußland gleichzeitig als slavisch¬
orthodoxe und als katholische Großmacht ins Treffen zu führen, hat auch für
die orientalische Frage eine Bedeutung; nicht der letzte Grund, aus welchem
unsere Nationalpartei sür die Beseitigung der weltlichen Macht.des Papst¬
thums thätig ist, ist die Rücksicht auf die veränderte Stellung, in welche der
Katholicismus durch den Verlust der Souveränetät seines Oberhauptes ge¬
rathen würde. Sinkt der Papst zu einem östreichischen oder französischen Primas
herab, so kann es Rußland nicht mehr schwer werden, eine selbständige russisch¬
katholische Kirche zu begründen und durch diese auf die katholischen Unter¬
thanen Oestreichs und der Pforte, soweit dieselben Slaven sind, zu wirken.
Kein Theil des türkischen Reichs, selbst Candia nicht, hat die Auf¬
merksamkeit unserer Patrioten neuerdings so lebhaft beschäftigt, wie das
Fürstenthum Serbien, das gegenwärtig den Heerd für slavische Umtriebe
gegen die Pforte bildet. Daß Serbien seit Monaten eifrig rüstet, seine
Armee vervollständigt und Waffen aufkauft, wo es derselben habhaft werden
kann, weiß man bei Ihnen natürlich ebenso gut wie hier. Minder bekannt
dürfte es sein, daß die russische Presse bereits ein feststehendes Programm
für die Politik entworfen hat, welche dieser kleine Staat verfolgen soll, um
an die Spitze aller Unzufriedenen an der unteren Donau und auf der Balkan¬
halbinsel zu treten. Ein Herr Pissarewski hat dieses Programm in einem
Artikel, den ein weit verbreiteter Petersburger Kalender veröffentlichte, aus¬
führlich auseinander gesetzt. Serbien — so heißt es a. a. O. — ist von der
Vorsehung dazu bestimmt, das türkische Piemont zu werden; will es seine
Aufgabe würdig lösen, so müssen seine Staatsmänner aufhören, nach Rumä¬
nien hinüberzuschielen, und sich aufrichtig Rußland anschließen. Rußland
würde die Erweiterung dieses jungen Staats ungleich aufrichtiger und selbst¬
loser unterstützen, als Frankreich die Sache Sardiniens unterstützt hat; seine
Grenzen braucht der nordische Großstaat nicht zu erweitern, seine Aufgabe
beschränkt sich darauf, die Unabhängigkeit und Wohlfahrt aller Glaubens und
Stammesgenossen zu unterstützen und an diesen aufrichtige und mächtige Bun¬
desgenossen zu gewinnen. Serbien muß zunächst darauf ausgehen, seine alten
und natürlichen Grenzen wieder zu gewinnen und zu diesem Zweck die alt¬
serbischen Länder und Bosnien annectiren, ein Beginnen, bei welchem es auf
den Schutz Rußlands rechnen kann. Ist das geschehen und auf diese Weise
die Grundlage zu einer südslavischen Vormacht gelegt, so kann es die Fahne
der Freiheit entfalten und siegreich an den Bosporus tragen; an den Sym¬
pathien der übrigen Slaven der Türkei wird es ihm ebenso wenig fehlen,
wie an der russischen Unterstützung, nur — an einem Cavour!
Die Vermuthung, daß diese Doctrin mehr wie der gelegentliche Einfall
eines müßigen Journalisten ist, wird wesentlich dadurch unterstützt, daß die
in Rede stehende Abhandlung einem Staatsmanne gewidmet ist, der vor
nunmehr 23 Jahren in der Geschichte Serbiens eine wichtige Rolle gespielt
hat, jenem Baron Wilhelm Lieven, der als Flügeladjutant und außer¬
ordentlicher Gesandte des Kaisers Nikolaus die nach der Vertreibung des
Fürsten Michael Obrenowitsch von der Pforte bestätigte Wahl Alexanders,
(des Sohnes des serbischen Nationalhelden Kara Georg) rückgängig machte
und im Mai 1843 denselben Prinzen Alexander noch einmal wählen ließ, um
aller Welt zu beweisen, daß nicht der Sultan, sondern der Kaiser von Ru߬
land der wahre Oberherr Serbiens sei. — Wünsche für die serbische Unab¬
hängigkeit und für das möglichst beschleunigte Wachsthum des Fürstenthums
sind von unserer Presse vor wie nach dem Erscheinen dieses Artikels so häufig
und so unverblümt Verlautbart worden, daß ein Zusammenhang zwischen
diesem und der gesammten in der russischen Journalistik getriebenen Agitation
ebenso zweifellos erscheint, wie das Hinüberspielen russischer Einflüsse nach
Galizien. Schon im Herbst ist vom Invaliden, der Most. Zeitung, der
Moskwa u. s. w. direct darauf hingewiesen worden, die Hauptrücksicht, welche
alle Handlungen unserer Diplomatie leiten müsse, sei die Wirkung auf die
außerrussischen Stammesgenossen, denn die Bundesgenossenschaft und moralische
Unterstützung dieser sei wichtiger, als jede Allianz mit Preußen, Frankreich
oder irgend einem andern Staat des westlichen Europa. Hauptsächlich den
zur Zeit des Kongresses angeknüpften Verbindungen ist es zu danken, daß
Man über die Vorgänge an der Donau bei uns besser unterrichtet ist, als
irgendwo im übrigen Europa, Wien und Constantinopel nicht ausgenommen.
Man hat gelernt, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden,
die Aufmerksamkeit der Nation auf die richtigen Punkte zu lenken und der
an und für sich nebulosen panslavistischen Idee unter vorläufigen Verzicht
auf weiter abzielende Pläne wahrhaft praktische, für die politischen Bedürf¬
nisse der nächsten Zukunft verwendbare Seiten abzugewinnen.
Ob und in wie weit die Regierung sich mit kriegerischen oder feindlichen
Eroberungsplänen für das Frühjahr 1863 trägt, darüber werden Sie nach
Kenntnißnahme dieser meiner Beobachtungen freilich ebenso im Dunkeln
bleiben, wie vorher. Sie theilen damit nur das Geschick der Mehrzahl
unserer autochthonen Politiker. So wenig es aber gleichgiltig sein kann,
welches die Gedanken und Pläne der französischen Zeitungsschreiber und
Zeitungsleser während der letzten Monate gewesen sind, so berechtigt erscheint
es, aus den Meinungen und Wünschen, welche von mehr wie einer Seite
her unter dem russischen Publikum verbreitet worden sind, auf die Gedanken
derer zu schließen, welche dieselben in Cours gesetzt haben. Die Beschäfti¬
gung mit der orientalischen Frage ist freilich schon im Jahre 1866 eine außer-
ordentlich lebhafte gewesen; es ist genau 12 Monate her, daß an allen Ecken
und Enden des Reichs für die Candioten gesammelt wurde und daß die
kaiserliche Familie zur Verwunderung der gesammten Diplomatie auf dem
Ballfest erschien, welches ein Petersburger Candiotencomit6 im großen Theater
veranstaltete. Nichtsdestoweniger ist das Frühjahr friedlich verlaufen und
warten die Kämpfer von Cauca noch heute vergeblich auf die Truppen, welche
der weiße Zaar von Moskau über das Meer- senden soll. Immerhin ist es
der Beachtung werth, daß die Theilnahme des russischen Volks für die grie¬
chischen Glaubensbrüder in demselben Maße genährt worden ist, in welchem
die diplomatische Action der Großmächte zu Gunsten derselben abgenommen
hat und daß eine so tumultuarische Vereinigung wie der Slavencongreß
schließlich doch dazu geführt hat, die Gedanken unserer panslavistischen Schwär¬
mer zu ernüchtern und auf praktische Ziele hinzurichten, die den von der
Regierung verfolgten mindestens ziemlich nahe stehen.
Briefe von Friedrich von Gentz an Pilat. Ein Beitrag zur Geschichte
Deutschlands im 19. Jahrh. Herausgegeben von Dr. Mendelssohn-Bartholdv,
Professor zu Heidelberg. 2 Bände. Leipzig bei F. C. W. Vogel 1868. —
Bekanntlich bildeten die Bruchstücke der Gentzischen Briefe an Pilat den bei
weitem wichtigsten und interessantesten Theil der in dem jüngst erschienenen Werk
„Aus dem Nachlasse Friedrichs von Gentz" zum erstenmale veröffentlichten Papiere.
Dem Herausgeber des Nachlasses standen nur wenige der an Pilat gerichteten Briefe
und diese in nur verstümmelter Form zu Gebote; aber schon dies Wenige enthält
soviel des Bedeutenden, daß man der vom Prof. Mendelssohn angekündigten Her¬
ausgabe der sämmtlichen Briefe mit Spannung entgegensehen mußte. In zwei
Bänden liegt gegenwärtig die ganze Sammlung, mehr als 800 Briefe enthaltend,
vor und die gehegten Erwartungen find in der That nicht getäuscht worden. So¬
viel auch, namentlich in den letzten Jahren, über den berühmten Staatsmann ver¬
öffentlicht worden, wir gewinnen durch diese Briefe zum erstenmal einen Einblick
in seine Thätigkeit, in die politische Wirksamkeit, welche Gentz so lange Jahre hin¬
durch in der wiener Staatskanzlei geübt hat. Pilat war damals der Redacteur
des halbofficiellen Journals des Fürsten Metternich, des östreichischen Beobachters,
und Gentz amtlich mit der obersten Ueberwachung und Leitung dieses Blattes be¬
traut. So brachte es schon das amtliche Verhältniß, in dem Gentz zu Pilat stand,
mit sich, daß er mit diesem alle wichtigen Zeitereignisse besprach, ihm die Farben
angab, mit welchen sie in dem Regierungsorgan dargestellt werden sollten u. s. w.
Noch höheres Interesse, als durch diese geschäftliche Beziehung, erhalten die Briefe
durch die persönliche Freundschaft, welche Gentz mit Pilat verband. Gentz betrach-
tete ihn als seinen Schüler und scheint ihm mit fast väterlicher Zuneigung zugethan
gewesen zu sein. Da er der treuen Anhänglichkeit, mit der Pilat diese liebevolle
Gesinnung erwiderte, gewiß war, so scheute er sich nicht, alles, was ihn irgendwie
berührte, Freud und Leid, Hoffnungen und Sorgen diesem anzuvertrauen. Ihm
gegenüber macht er aus seinen innersten Ueberzeugungen, seinen Neigungen, seinen
Schwächen kein Hehl. Umgang und Briefwechsel mit Pilat verschafften seinem tiefen
Bedürfniß nach Mittheilung die nöthige Befriedigung, dem Freunde schüttet er unter
dem Siegel der Verschwiegenheit sein Herz aus. —
Die Briefe reichen vom Jahre 1811 bis zu dem Todesjahr von Gentz, dem
Jahre 1832. Jede Veranlassung, welche Gentz von Wien entfernte, gibt Gelegen¬
heit zu einer lebhaften Korrespondenz. Wir begleiten Gentz im Jahre 1811, wo
er den Geschäften indessen noch ferner stand, auf den ungarischen Landtag nach
Preßburg, im Jahre 1813 nach Prag, wo er den ganzen Verkehr des im Haupt"
quartier weilenden Fürsten Metternich mit Wien vermittelt; wir sehen ihn dann
1815 in Paris an den wichtigsten Verhandlungen theilnehmen und mit den ersten
Staatsmännern Europas verkehren. In den Jahren 1816 und 1817 besucht Gentz
das Bad Gastein und während er sich dort, soviel ihm überhaupt möglich war,
der Beschäftigung mit Politik entschlage, sucht er Erquickung und neue Freuden in
der großartigen Alpennatur. In ausführlichen Schilderungen, die durch classischen
Stil und Frische der Darstellung zu Musterstücken deutscher Prosa werden, sucht er
dem Freunde ein Bild von den Genüssen, die er mit ganzer Seele in sich aus¬
nimmt, zu geben.
Als Geschichtsquelle ersten Ranges aber müssen seine Mittheilungen von dem
Congresse von Aachen (1818), den Earlsbader Konferenzen (1819), den Kongressen
von Troppau (1820), Laibach (1822) und Verona (1822) angesehen werden. Leider
war das Material, das Über diese für ganz Europa wichtigen Zusammenkünfte ver¬
öffentlicht worden, bis heute ein sehr dürftiges. In der vorliegenden Sammlung werden
uns die vertrauten Briefe des Mannes geboten, der nicht nur allen Sitzungen der Congresse
als Protocollführer beigewohnt, sondern der auch wesentlich mitgewirkt, deren Re¬
sultate zu Stande zu bringen, die widerstrebenden Kräfte zu besiegen und den Ideen,
die ihn und seinen Herrn und Meister Metternich beseelten, die Herrschaft zu er¬
ringen. Sein Talent, seine Kenntnisse, seine gesellschaftliche und diplomatische Ge¬
wandtheit verschafften ihm den größten Einfluß. Aber so sehr auch seine Bedeutung
als Staatsmann, seine Größe als Stilist, seine persönliche Liebenswürdigkeit aner¬
kannt werden müssen und so sehr gerade die Briefe an Pilat von diesen Eigen¬
schaften Zeugniß ablegen, es wird nach ihrer Veröffentlichung eine Verherrlichung
Friedrichs von Gentz, wie sie noch in dem Werke „Aus dem Nachlasse Fr. von
Gentz" versucht wurde, nicht mehr möglich sein. Die „Briefe" enthüllen uns
klar und zweifellos die Bestrebungen und Ziele ihres Autors; sie zeigen, daß
Gentz nicht nur, wie er es in dem bekannten Bries an Frau von Helwig darzu¬
stellen sucht, als Gegengewicht gegen die revolutionären Tendenzen seiner Zeit zu
wirken bemüht war, sondern daß er Metternich und dessen Politik als ein reines,
allerdings sehr geschicktes Werkzeug gedient hat. Wie er, der heftigste Gegner Na¬
poleons, sich — unmittelbar nachdem er in die Dienste Metternichs getreten — dazu
hergibt, als Vertheidiger der Verbindung Marien Luisens mit Napoleon auszutreten
(Tagebücher S. 232 u. ff.), so erfüllt er nach 1815 mit dienstfertigen Eifer die
ihm übertragne Aufgabe, jede freie Regung, jeden Fortschritt des öffentlichen Lebens
zu verfolgen und zu hemmen. In der freien Presse steht er die Hauptwurzel aller
den Staat verzehrenden Uebel, ein scheußliches Gespenst (Bd. II. S. 147); bei den
Jesuiten sucht er Hilfe (Bd. II. S. 183. Bd. I. S. 426); von ihnen verlangt er eine
Totalreform des Unterrichtswesens (Bd. II. S. 40). Im Jahre 1823 nach der
Unterdrückung der italienischen und spanischen Bewegungen, nach dem Siege, den die
metternichische Politik in Deutschland errungen, hält er „die feindseligen Produkte
der Presse für eines der größten, positiven Leiden, die einem Freunde der Ordnung
zugefügt werden können. Ehemals, sagt Macbeth, wenn einer todt war, hatte
man Ruhe vor ihm; jetzt aber steigen sie, mit gräßlichen Wunden bedeckt, aus
ihren Gräbern und jagen uns von unsern Stühlen. So wirkt auf mich die unge¬
strafte Schriftstellern der Faction." (Bd. II. S. 148), Die Angelegenheiten der Presse
werden in einer großen Reihe von Briefen besprochen. In dem Beobachter wurde
der literarische Kampf geführt gegen jedes freie Wort, das in Deutschland laut ge¬
worden. Das Weimarer Oppositionsblatt (dessen Unterdrückung 1820 als ein großer
Sieg gemeldet wird Bd. I. S. 457), die Neckarzeitung, die bremer Zeitung u. s. w.,
waren die Feinde, gegen deren „Bestialität" Gentz nicht stark genug zu Felde ziehen
konnte. Nächst den Zeitungen gibt es nichts, was ihm so verhaßt ist wie die
Universitäten. Die Stellen über Preßfreiheit und Universitäten in der berüchtigten
Denunciantenschrift von Stourza (Ueber den jetzigen Zustand Deutschlands 1819)
erhalten sein größtes Lob; in dem Verfasser sieht er einen jungen Mann, „in dem
viel Gutes und selbst Großes steckt." (Bd. I. S. 374), Die Gegend Heidelbergs
wird ihm durch den Anblick der Studenten verleidet, die „Gott wie den Menschen
ein gerechter Greuel, mit Büchern unter dem Arme die falsche Weisheit ihrer ruch¬
losen Professoren einholen gehen", durch 400 oder 500 solcher Studenten könnte
einem freilich das Paradies verleidet werden." (Bd. I. S. 379). In den Jahren
1818 und 1819 ist er völlig überzeugt: „daß unter allen Uebeln, die heute Deutsch¬
land verheeren, selbst die Licenz der Presse nicht ausgenommen, der Burschenunfug
das größte, dringendste und drohendste ist." Nach der Ermordung Kotzebues ist
ihm jede Annäherung eines Studenten „äußerst unheimlich"; naht ihm irgend einer
derselben, so sieht er sofort alle Sands von Norddeutschland vor seinem Gemüthe
stehen und findet er es höchst bedenklich, „die Höllenbrut frei und besonders zu Fuß
die östreichischen Lande durchstreifen zu lassen". (Bd. I, S. 420.)
Der Gegensatz, in dem er sich mit seiner ganzen Anschauungsweise England
gegenüber befindet, ist Gentz wohl bewußt. Gegen die frevelhafte Richtung, welche
nach und nach fast die ganze Nation genommen hat, möchte er auftreten, wenn es
die politischen Verhältnisse erlaubten (1821). „Das böse Prinzip, welches die Re¬
formation und nachher die Rebellion gegen Carl I. erzeugt, (wovon die Revolution
von 1688 nur ein schwaches Nachspiel war) ist eigentlich in England nie wieder
ausgestorben. Seit 1815 ist es mit verjüngten Kräften aufgestanden, und heute ist
es einer der furchtbarsten Alliirten unserer Feinde geworden. Mich schreckt dieser
Alliirte mehr als alle Revolutionen in Italien." (Bd. II, S. 47.)
Neben dem Kampfe gegen Freiheit und Fortschritt spielt in den Briefen der
spätern Zeit, namentlich von 1824 — 1828, die orientalische Frage die Hauptrolle.
Die diplomatischen Verwicklungen, welche in Folge des griechischen Freiheitskriegs
zwischen den Großmächten entstanden waren, nahmen Gentz um diese Zeit ganz
besonders in Anspruch und es enthalten die „Briefe" darum viele interessante und
lehrreiche Einzelheiten, welche manches neue Licht über jene verworrenen Verhand¬
lungen verbreiten. — Die eigentliche Korrespondenz schließt mit dem Jahre 1830;
von dem Schlosse Metternichs, wo Gentz mit demselben die Sommermonate zu¬
brachte, schreibt er an Pilat über die Julirevolution und über den Eindruck, den
dieselbe in dem dortigen Kreise hervorgebracht. Hier tritt der bewundernswerthe
Scharfblick, mit welchem Gentz die Folgen der bekannten Ordonnanzen vorhersagt,
in das glänzendste Licht. Noch bevor er Nachrichten von dem Ausbruch der Juli-
revolution erhalten hat, ahnt er dieselbe. „Gut stehen die Sachen gewiß nicht;
und, was ich gestern früh dem Fürsten vorgelesen hatte, geht, wie ich glaube, schon
in Erfüllung. Es hätte ein Wunder geschehen müssen, wenn ein so unvorbereiteter,
bis auf die elfte Stunde verschobener Schlag nicht auf die Hand, die ihn geführt,
zurückprallen sollte. Mit solchen Waffen darf man nur spielen, wenn man seiner
Kraft und seiner Mittel gewiß ist; Leute wie Polignac und Peyronnet, wenn sie
sich in diese Regionen versteigen, gehen zu Grunde. Dies Schicksal erwartet sie,
nach meiner Meinung, in kurzem; was aber der Monarchie bevorsteht, ist heute
noch vor unsern Augen verborgen. Das Ausbleiben eines directen Couriers von
Paris halte ich für ein sehr böses Omen. Freilich soll — zum größten Unglück —
Apponyi das Projekt gehabt haben, gerade am 26. auf ein paar Tage zu seiner
Frau nach Dieppe zu reisen- ist dies geschehen, so wird unsere Erwartung noch
länger hingehalten. Ich fürchte aber weit mehr, daß der Courierlauf gehemmt sein
möchte, und bin überhaupt voll banger Vorgefühle." — Der Jubel kurzsichtiger
Freunde macht ihn nicht irre. Er schreibt an Pilat- „Ich erhielt heute Nachmittag
Ihr Schreiben vom 1. — Wie war es möglich, mein lieber Pilat, daß Sie sich
so blindlings der Freude über jene Begebenheit Hingaben, deren Werth so unbedingt
vom Aus gange abhing? Und wie konnten Sie, bei der Ihnen eigenen Kenntniß
der Menschen und Dinge, auf die erste Nachricht von einer mehr als gewagten,
verzweifelten, tollkühnen Maßregel — von Siegen träumen? Der Fürst kann
mir bezeugen, daß ich mich diesmal nicht einen Augenblick geirrt, gleich nach der
Lectüre des Moniteurs gesagt habe- Recht schön aus dem Papier, aber ohne Wun¬
der nicht ausführbar. Diese Schritte lagen nicht blos, wie die Feinde sagen, Irors
l'oräro 1üZs,I; das wäre der geringste Tadel gewesen; sie lagen dors Ä6 I»
imturs ach Iiommes ot ass ekos«zö. Wenn man die gefährlichste und verruchteste
Faction einmal zu einer wirklichen furchtbaren Macht anwachsen ließ, dann schneidet
man ihr nicht mehr mit Zwirnsfaden den Hals ab. Wir erhielten diesen Abend
eine Stafette aus Frankfurt, mit dem schrecklichen Journal de Francfort, welches
Sie, zu gleicher Zeit mit diesem Briefe, wo nicht früher, auch wohl genossen haben
werden. Daß alle directe Verbindung mit Paris gesperrt ist, hat keinen Zweifel
Mehr; und daß die Rebellion (um nicht zu sagen Revolution) in hellen Flammen
steht, werden Sie nicht länger verkennen.' Was mich einzig beruhigt, ist, daß der
König in Se. Cloud war; sonst gebe ich für sein Leben, wie für das seiner Mini¬
ster, keinen Heller mehr. — Und Ihr unschuldiger Brief vom 1. August? — Mit
wahrem Mitleid habe ich ihn gelesen. Sie kommen mir wie ein gutes Kind vor,
das den Brand seines Hauses, oder wenigstens des benachbarten, für ein Freuden¬
feuer ansieht. Lesen Sie doch nur die Artikel, die der Constitutionnel, der Courier,
die Temps, der Globe, in den letzten 3 Tagen vor dem poux ä'ütÄt gaben und
dann — lesen Sie mit Bedacht die Ordonnancen! Ist hier irgend ein Verhältniß
zwischen den Kräften sichtbar? Wenn die sieben Minister lauter Chatham und
Pitts wären, anstatt höchst mittelmäßige Menschen zu sein — so wie die Sachen
einmal standen — mußten sie zu Grunde gehen." — Schon während seines pariser
Aufenthalts von 1815 hatte Gentz in den Ultras der royalistischen Rechten die
gefährlichsten Feinde der Ruhe Frankreichs gesehen, den Sturz des Ministeriums
Talleyrand-Fouchs mit prophetischer Voraussicht als Unglück für die Bourbonen
bezeichnet: „Foucks hat seinen Abschied abermals gefordert und so gut als erhalten.
Er wünscht eine Gesandtschaft an einem deutschen Hofe; man scheint Dresden zu
meinen. Dies ist nur ein Vorspiel. Wenn ich mich nicht sehr irre, wird in wenig
Tagen das ganze Ministerium ^selbst Talleyrand nicht ausgenommen) gesprengt sein.
Die Herzogin von Angoulsme — Trojas se zMrig,iz comirmmg Li^imis — scheint
vollständig triumphirt zu haben, so vollständig wenigstens, als man über ein höchst
schwaches Gemüth, wie das des Königs, triumphiren kann. Augenblicklich kann die
Sache für uns Vortheil stiften; denn die Ultraroyalisten werden über die Friedens¬
bedingungen geläufiger als irgend eine andere Partei sein. Aber welche Zukunft
bereitet sich vor!" — „Heute hat das ganze Ministerium dem Könige seine Di-
mission übergeben; und er hat sie angenommen. Der Verlust von Louis ist uner¬
setzlich. Talleyrand ist so schwach geworden, daß fast jeder, der nur keine bösen
Absichten hat, ihn ersetzen kann. Man glaubt, der Duo as Kiclielieu wird sein
Nachfolger werden. Welche grenzenlose Verwirrung aber aus dieser Revolution
unter den jetzigen Umständen entspringen muß, das können Sie sich ungefähr denken.
Die Artikel über Fouchs im Courier und NessaZLr an ^tour sind von der gründ¬
lichsten Wahrheit. Mit Ausschluß der unseligen Partei, die heute mehr Verderben
über Frankreich bringt, als die 800,000 Soldaten, die es auffressen, denken die ver¬
nünftigen Leute aller Classen so und nicht anders, von dem Abgange dieses Mini¬
sters. Der König ist sicher verloren, und in kurzem verloren, wenn er nicht seine
ganze Familie exilirt." — „Ich schicke Ihnen eine Brochüre, die viel zum Sturz
des Ministeriums beigetragen hat. Talleyrand und seine Freunde hielten sie für
das Signal eines nahen Angriffs, dem sie durch ihre Resignation zuvorkommen
wollten. Uebrigens drückt man sich immer noch uneigentlich aus, wenn man sagt,
sie haben ihre Stellen niedergelegt. Sie thaten es nur halb; und der König kam
ihnen auf halbem Wege entgegen. So war die Sache in einer Minute fertig. Jetzt
weiß der König selbst nicht aus noch ein. Das Gesindel, welches ihn leitet, hat
nicht einen einzigen Mann aufzuweisen, der nur werth wäre, eine Commisstelle zu
bekleiden. Man fängt an zu glauben, Er werde die Ouoliessö ä'^ngoulöms zum
Premierminister ernennen." — An die der Zeit nach genau geordnete Sammlung
der Briefe schließt sich eine große Zahl nicht näher datirter Billete aus den frühe¬
ren und den beiden letzten Lebensjahren ihres Verfassers an.
Der Herausgeber hat durch eine große Fülle von Anmerkungen das Verständ¬
niß der Briefe wesentlich erleichtert, manche dunkle Bezüge aufgehellt und durch
einzelne Anführungen aus dem ihm zu Gebote stehenden reichen, diplomatischen
Im Frühjahr 1863 wurde in Rom neun Miglien vor der Port« del
Popolo an einem Ort, der jetzt Porta Prima heißt, eine Marmorstatue
des Augustus gefunden, welche den glänzendsten und nach allen Seiten
lehrreichsten römischen Entdeckungen beizuzählen ist. Der Fundort ist be¬
deutsam und konnte große Erwartungen rege machen. Hier hatte Augustus
Gemahlin Livia eine Villa erbaut, die Villa derCäsaren genannt, von
deren Pracht die Ueberreste wenigstens noch Andeutungen geben. Einst hatte
ein Adler ihr eine weiße Henne, die einen Lorbeerzweig im Schnabel trug,
unversehrt in den Schooß geworfen; auf die Weisung der Auguren wurde in
jener Villa eine Hühnerzucht angelegt und der Zweig eingepflanzt. Beide
gediehen vortrefflich, und mit dem Lorbeer schmückte Augustus sich bei seinen
Triumphen. Seine Nachfolger ahmten sein Beispiel nach, jeder pflanzte den
Triumphallorbeer bei der Villa ein, und so erwuchs dort ein stattliches Wäld¬
chen. Am Ende der Negierung Neros, des letzten Juliers, starben die
Hühner aus und die Lorbeerbäume verdorrten.
Eine Statue des Augustus an diesem Ort gefunden, läßt nichts Ge¬
ringes erwarten, und das Kunstwerk, jetzt von Tenerani restaurirt, im Va-
tican aufgestellt, rechtfertigt diese Voraussetzung. Eine wunderbar gute Er¬
haltung trägt zu dem günstigsten Eindruck bei^ und erhöhet den Werth der
Statue nicht wenig. Zwar wurde die Statue in Stücken gesunden, wobei sich
exgab, daß sie bereits in alten Zeiten zerbrochen und restaurirt worden, auch
der Kopf aufgesetzt gewesen war — was nichts seltenes ist —, allein es fehlten
nur ganz unbedeutende kleine Stücke, selbst die Nase ist vollkommen erhalten.
Die Bildsäule hatte in einer Nische gestanden, man sieht noch, daß sie am
Rücken befestigt war, auch ist die Hintere Seite nicht sorgfältig ausgeführt.
Augustus ist in der Blüthe des kräftigen Mannesalters als Imperator
ruhig stehend aufgefaßt. Fest mit dem rechten Fuß auftretend steht er vor
uns, die Rechte mit einem Gestus erhoben, welcher einer versammelten Menge
Ruhe gebietet, die Linke hält ein Scepter. Der Kopf, ein wenig nach rechts
gewandt, zeigt die schönen, ruhigen, kalten Züge, welche Niebuhr so un-
heimlich waren, daß er erklärte, in einem Zimmer mit einer Büste des Au-
gustus nicht ruhig arbeiten zu können. Ueber der Tunica hat er einen mit
getriebener Arbeit reich verzierten Harnisch angelegt, der Mantel ist von bei¬
den Seiten her über den linken Arm geworfen, so daß er nur den mittleren
Theil des Körpers bedeckt; die Füße sind unbeschuht, das Haupt entblößt.
Zur Rechten steht neben ihm aufgerichtet ein Delphin, auf welchem ein Amor
reitet, als Beiwerk nachlässiger behandelt. In der Statue selbst ist die Hand
eines Meisters unverkennbar, der über alle Mittel der Technik sicher und mit
Geschmack verfügte. Der Faltenwurf ist reich ohne Ueberladung und frei,
der Panzer gibt mit einem raffinirten Realismus in allem Detail die feine
ciselirte Arbeit wieder. Der Kopf ist ein charakteristisch lebendiges Portrait;
die Haare sind einfach aber wirkungsvoll behandelt, die Knochen der Augen¬
brauen scharf markirt, die Augen selbst tiefliegend, die Pupille nicht allein
mit dem Meißel, sondern auch durch Farbe hervorgehoben — Augustus hatte
ein leuchtendes Auge und einen scharfen Blick, aus dessen Wirkung er sich
etwas zu Gute that.
Was die Statue auf den ersten Blick merkwürdig macht, das ist die
durchgängige Anwendung der allenthalben deutlich erhaltenen Farben. Da¬
durch wird sie ein besonders lehrreiches Beispiel der polychromen Sculp-
tur und, wenn es auch, um die Thatsache zu constatiren, keiner Belege mehr
bedarf, ein sehr willkommnes. Denn das einst giltige ästhetische Dogma,
daß die wahre Sculptur, als die Kunst der reinen Form, die Anwendung
der Farbe nicht zulasse, daß alle classische und ideale Plastik farblos sei,
entbehrt wenigstens der geschichtlichen Begründung. Hat man der mittel¬
alterlichen Sculptur gegenüber ihre Vielfarbigkeit zum Argument ihrer Bar¬
barei gemacht, so muß jetzt als ausgemacht gelten, daß auch für die griechische
Kunst die Polychromie zu allen Zeiten die Regel gewesen ist. Die Ein¬
wirkungen der Luft und noch mehr der Erde auf die Oberfläche des Marmors
zeigen sich besonders der Farbe verderblich, sodaß diese meistens ganz oder
bis auf vereinzelte Spuren verschwunden sind. Und selbst wenn dergleichen
beim Aufgraben noch deutlich erkennbar sind, so verlieren sie sich gewöhnlich
bald an der frischen Luft. Wer in eine neu geöffnete etruskische Grab¬
kammer eintritt, wird überrascht durch den bunten Farbenschmuck, in welchem
die Reliefs der Sarkophage prangen; nach einigen Jahren sind in den Museen
meist nur noch vereinzelte Spuren desselben wahrzunehmen. Die Farben der
Sculpturen vom Maussolleion, welche bei der Ausgrabung klar zu sehen
waren, sind jetzt undeutlich und zweifelhaft geworden. Wer sieht denn heute,
daß die mediceische Venus einst goldene Haare hatte und die Pallas von
Velletri bemalt war? Hier, wie bei einigen anderen Sculpturen, wurde diese
Erscheinung schon in früherer Zeit als eine seltsame Curiosität angemerkt; in
den meisten Fällen blieb sie unbeachtet, oder ward doch nicht überliefert, auch
wurden wohl die Farbenspuren als eine unwillkommene Geschmacklosigkeit
getilgt. So war es möglich, daß man auch die zahlreichen Stellen der alten
Schriftsteller aus den verschiedensten Zeiten, welche bald von der Farben¬
wirkung der Sculptur als etwas sich von selbst verstehenden im Vorbeigehen
reden, bald dieselbe als ein eigenthümliches und bedeutendes Moment her¬
vorheben, theils unbeachtet ließ, theils, weil die richtige Anschauung fehlte,
verkehrt deutete. Erst neuerdings hat sorgfältige, mit lebendigem Interesse
für diese Erscheinung vorgenommene Untersuchung an den Monumenten die
Farben, oder die deutlichen Spuren der Farben nachgewiesen. Denn sehr
häufig hinterläßt die auf den Stein aufgetragene Farbe, auch nachdem sie
verschwunden ist, eine eigenthümlich veränderte Oberfläche, welche für Ansicht
und Gefühl den unzweifelhaften Beweis ehemaliger Färbung herstellt. So
ist nach und nach eine zusammenhängende Reihe von Thatsachen gewonnen,
welche die Anwendung der polychromen Sculptur Schritt für Schritt gegen
die ihr das Terrain streitig machende Tradition in immer größerer Ausdehnung
nachwiesen. Daß die Sculptur, soweit sie mit der Architektur in organischem
Zusammenhang stand, Friese, Metopen, Giebelfelder schmückte, sich dem dort
durchgebildeten System der Farbengebung nicht entziehen konnte, ist nicht
allein ein Postulat der künstlerischen Consequenz, sondern durch eine reiche
Induction der Tempelsculpturen von Selinunt, Aegina, Olympia, Athen,
Hcilikarnaß — um nur die Spitzen zu streifen — gerade für die echt griechi¬
sche Kunst vollständig erwiesen. Damit ist aber für die eigentlichen Tempel-
dilder die gleiche Forderung unabweisbar geworden. Darf man schon von
vornherein erwarten, daß ein künstlerisch empfindendes Volk, welches den
Tempel der im Bilde vertretenen Gottheit zur Wohnung gab. dieses Götterbild
auch als einen wesentlichen Theil des durch die Kunst geschmückten Raumes
ansehen und mit dem Charakter dieses Schmucks in Einklang setzen werde,
so fehlt es auch hier nicht an deutlich redenden Thatsachen. Die alte, aber
noch bis in späte Zeiten festgehaltene Sitte, das Cultusbild namentlich an
den Festtagen mit wirklichen Gewändern zu bekleiden und mit mancherlei
Schmuckgegenständen zu putzen, ließ dasselbe auch in bunten Farben erschei¬
nen und führte von selbst die Aufgabe für die Sculptur mit sich, bei der
genauen Nachbildung so bekleideter Idole auch die Farben wiederzugeben.
Dazu kam. daß die Stoffe, deren sich die älteste Kunst bediente, Holz und
Thon, einen Ueberzug von Farbe nothwendig machten, der nun auch auf
die Sculptur in Stein ganz naturgemäß überging. Frühzeitig wandte
man verschiedenartige Stoffe zusammen an, indem gewisse Theile aus
Stein oder Metall, andere aus Holz gebildet wurden; schon diese Zusam¬
mensetzung beruhte auf einem System der Polychromie, sie machte, um Ein-
heit zu verleihen, eine weitere Anwendung von Farben unvermeidlich. Die
Gattung dieser componirter Sculptur, welche als die edelste galt und in der
Zeit der höchsten Kunstblüte durch Künstler wie Phidias und Polyklet
mit Vorliebe für Götterbilder angewendet wurde, die Plastik in Elfenbein
und Gold, hatte in einer, zwar in den Mitteln beschränkten, aber entschiedenen
Farbenwirkung wesentlich ihre eigenthümliche Bedeutung. Diesen Erscheinun¬
gen gegenüber hat man denn auch für Cultusbilder und deren Nachahmungen,
überhaupt für die älteste Sculptur und deren Reproduktion, die Polychromie
zugestanden. Um so eifriger suchte man der selbständig gewordenen Sculptur,
welche ohne Rücksicht auf den Cultus und dessen Traditionen, ganz losgelöst
von der Architectur sich ihre Aufgaben stellte, zur Ausführung das schöne
Material des Marmors wählte und die technische Bearbeitung desselben zur
höchsten Meisterschaft entwickelte, die farblose Reinheit des Steins zu vindi-
ciren. Allein gerade von Meistern, welche als die edelsten Repräsentanten
dieser Marmorsculptur gelten müssen, von Skopas und Praxiteles, sind
Nachrichten erhalten, welche beweisen, daß auch sie die Farbe nicht verschmä-
heten. An einem der gepriesensten Werke des Skopas, der in enthusiasti¬
scher Aufregung mit flatterndem Haar dahin stürmenden Bacchantin,
welche ein in der Raserei zerrissenes Böcklein in den Händen trug, wird
ausdrücklich hervorgehoben, wie die Wirkung durch die Farbe erhöht werde.
Bedeutsamer noch ist eine Aeußerung des Praxiteles. Auf die Frage,
welchem seiner Werke er den Vorzug gebe, erwiderte er, demjenigen, an wel¬
chem Niklas die Malerei ausgeführt habe. Wenn ein Bildhauer wie Praxi¬
teles solches Gewicht auf die Mitwirkung des Malers legte, mußte ihm die
Farbenwirkung als ein wesentliches, von ihm bestimmt berechnetes Moment
der Totalwirkung erscheinen; wenn ein namhafter Maler wie Niklas es nicht
verschmähte, Hand an die Bemalung von Statuen zu legen, so mußte dies
eine Aufgabe sein, bei welcher ein Künstler feinen Geschmack und gebildeten
Sinn für Harmonie der Farbe und ihr Zusammenstimmen mit der Sculptur
bewähren konnte. Auch in der spätern Zeit fehlt es nicht an Thatsachen
und Beweisen, welche dem ästhetischen Grundsatz von der farblosen Sculptur
das historische Fundament entziehen, womit freilich noch nicht die Unrichtig¬
keit desselben erwiesen ist — denken ließe es sich ja, daß die moderne Aesthetik
das Rechte getroffen und die griechische Plastik geirrt hätte. Die Statue
des Augustus nun behält für diese Frage große Wichtigkeit, weil sie, das
Werk eines bedeutenden Künstlers, ein Bild des Kaisers, mit Meisterschaft
zum Schmuck einer kaiserlichen Villa ausgeführt, und als einer bestimmten
Zeit angehörig mit Sicherheit nachweisbar ist. Die Kunst zur Zeit des
Augustus war weder in einer einseitigen Vorliebe für das Alterthümliche
befangen, noch zu auffallenden und ungewöhnlichen Experimenten auf-
gelegt. Im Gefühl, daß ihr die Schöpferkraft fehlte, stellte sie sich keine
neuen und großen Aufgaben, verzichtete auf Originalität der Auffassung und
strebte vor allem nach Correctheit der Formgebung, Eleganz der Darstellung
und Meisterschaft der Technik. Mit Bewußtsein wandte sie sich nach der
vollendeten Kunst früherer Zeiten zurück, und, wiewohl sie mit dem Eclecti-
cismus einer verfeinerten Bildung verschiedenen Richtungen nachzugehen nicht
verschmähte, so entnahm sie doch mit Vorliebe der attischen Kunst die Vor¬
bilder, welche man theils mit mehr oder weniger Freiheit und Geist nach¬
bildete, theils zum Gegenstand des Studiums für Formgebung und Technik
machte. Wenn in dieser Zeit des correcten Atticismus uns ein bedeutendes
Werk der Sculptur in vollem Farbenschmuck entgegentritt, so dürfen wir mit
Sicherheit annehmen, daß wir es nicht mit einer vereinzelten Curiosität, nicht
mit einer Neuerung zu thun haben, sondern daß wir darin die Tradition
der früheren, namentlich auch der attischen Kunst erkennen müssen.
Besonders sind aber auch die reichlich und deutlich erhaltenen Farbenspuren
dieser Statuen von großer Wichtigkeit. Denn so sicher auch das Factum
der polychromen Sculptur im Allgemeinen erwiesen ist, so wenig sind wir
über das System derselben, sowohl was die Ausdehnung als die Art und
Weise der Färbung anlangt, näher unterrichtet.
Die Tunica des Augustus ist carmoisinroth, der Mantel purpurroth,
die Franzen des Harnisches gelb; an den nackten Körpertheilen sind keine
Farbenspuren bemerkbar, mit Ausnahme der schon angeführten Bezeichnung
der Pupille durch gelbliche Farbe; auch das Haar läßt keine Farbe erkennen.
Mit besonderer Sorgfalt sind aber die Reliefverzierungen des Harnisches,
dessen Grundfläche farblos geblieben ist, colorire. Die Schulterblätter sind
jedes mit einer Sphinx verziert, unter welcher an einer Rosette ein Ring
befestigt ist. Die Vorstellung auf dem Brustharnisch, eine mit übersichtlicher
Symmetrie gefällig angeordnete Composition, sondert sich in drei Reihen.
Zu oberst ragt aus blauen Wellen oder Wolken mit nacktem Oberleib
die bärtige Gestalt des Himmelsgottes hervor, der mit beiden ausge¬
streckten Händen ein purpurfarbiges Gewand, das sich im Bogen über seinem
Haupte wölbt, gefaßt hält. Darunter lenkt der Sonnengott im langen
Gewände der griechischen Wagenlenker auf carmoisinrothen Wagen ein
wüthiges Viergespann; vor ihm schwebt eine Frau mit ausgebreiteten blauen
Flügeln, ein Gießgefäß in der Linken; sie trägt auf ihrem Rücken eine Frau
Mit bogenförmig wallendem Schleier und einer großen Fackel in der Linken
^die Göttinnen des Morgen than s und der Mo r gen rothe. Entsprechend
diesen Luftgottheiten ist ganz unten die Erdgöttin gelagert, einen Aehren-
kranz im blonden Haar; neben ihr sproßt Getreide und Mohn auf; mit der
Rechten stützt sie ein gefülltes Fruchthorn auf, links ihr zur Seite sitzen, an
ihren Busen geschmiegt, zwei kleine Kinder. Etwas oberhalb werden zu
beiden Seiten Apollo und Diana sichtbar: Apollo im carmoisinrothen
Mantel, die Leier in der Linken, reitend auf einem Greifen mit blauen Flü¬
geln; die blondgelockte Diana im carmoisinfarbigen Gewand, mit Köcher und
Fackel, wird von einem braunrothen Hirsch getragen. In der Mitte steht ein
römischer Feldherr im blau und roth gefärbten Harnisch, carmoisin-
rother Tunica und purpurnem Mantel, mit blauem Helm, neben sich
einen Wolf. In der Linken hält er das Schwert, die Rechte streckt er gegen
einen bärtigen Krieger aus, mit Bogen und Köcher an der Seite, in
carmoisinrother Tunica und blauen Hosen, der mit beiden Händen ein römi¬
sches Feldzeichen mit blau gemalten Jnsignien in die Höhe hält. Auf jeder
Seite sitzt eine Gestalt mit dem deutlich ausgesprochenen Ausdruck der Nieder¬
geschlagenheit und Trauer. Der Barbar rechts mit langen rothblonden
Locken im purpurnen Mantel hält in der Rechten eine große Kriegstrompete,
welche in einen Drachenkopf ausgeht, in der Linken eine leere Schwertscheide,
neben ihm liegt der Obertheil eines Feldzeichens mit einem Eber. Die Figur
links ist ebenfalls blond gelockt; sie ist mit einem blauen Mantel, mit einer
Aermeltunica, enganschließenden Hosen und Stiefeln bekleidet und hält in der
Rechten das abgenommene Schwert. Dahinter ist in dem Seitenstück des
Harnisches ein Tropäum angebracht, an welchem außer Helm, Harnisch
und Beinschienen eine Trompete mit Drachenkopf aufgehängt ist.
Sind nun auch an unserer Statue die Farben keineswegs vollständig,
oder auch nur allenthalben sichere Spuren derselben erhalten, sodaß auch sie
noch nicht die vollständige Anschauung einer antiken polychromen Sculptur
gewährt, so bietet sie doch manchen Aufschluß. Vor allem bestätigt sie. was
sich aus übereinstimmenden Ueberlieferungen auch sonst entnehmen ließ, daß
es bei der Anwendung der Farbe keineswegs darauf abgesehen war, durch
eine durchgeführte Nachahmung der wirklichen Farben der Gegenstände die
Illusion zu erhöhen, die eigenthümlichen Effecte der eigentlichen Malerei
mit denen der Sculptur in Concurrenz zu setzen, sondern durch die Farbe
die charakteristischen Wirkungen der Plastik zu erhöhen. Die Malerei ist
daher nicht schattirt, da die Sculptur durch ihre Formen diese Wirkung her¬
vorbringt; reine Farben in beschränkter Auswahl — hier ist roth in ver¬
schiedenen Nuancen, blau und gelb angewandt — sind nebeneinander ge¬
setzt, und offenbar war eine dem Auge wohlthuende, harmonische Wirkung
solcher mit einer gewissen symmetrischen Abwechslung vertheilten Farben ein
Hauptaugenmerk dieser Technik. Außerdem sollte aber der Reiz, welchen die
durch Farbe ausgezeichneten Theile übten, auch zu einer leichteren und präci¬
seren Auffassung führen; bedeutende Einzelnheiten wurden kräftig hervorge¬
hoben Merkmale der künstlerischen Anordnung bezeichnet, das Auge gewisser-
maßen zur Gliederung und Uebersicht geleitet. Beide Aufgaben, den harmo¬
nischen Eindruck des Ganzen und die scharfe Bezeichnung des Einzelnen zu¬
gleich zu lösen, verlangte allerdings einen gebildeten Künstler. Wie weit die
Grenzen für die Anwendung der Farbe in diesem Sinne gesteckt waren,
welche Normen dabei im einzelnen befolgt worden, hat noch nicht festgestellt
werden können. Man sieht wohl, daß das besonders mit Farbe bedacht
worden ist, was als mehr äußerliches Beiwerk gilt; Gewänder und Beschu¬
hung, an den Kleidern wieder" Einfassungen und Säume, Waffen und Stäbe,
Kränze und Binden, Schmuck und Geschmeide werden bemalt. Auch am
menschlichen Körper sind es gewisse Theile, Haupt- und Barthaar, Augen
und Lippen, die regelmäßig durch Farbe hervorgehoben werden. Bei dieser
BeHandlungsweise mag wohl die altüberkommene Tradition mit eingewirkt
haben, die nach der Weise griechischer Kunstentwicklung nicht beseitigt, son¬
dern umgebildet und verfeinert wurde; daß sie durchgreifend war, geht aus
verwandten zusammenstimmenden Erscheinungen hervor. Auch in der Plastik
im Metall tritt die Polychromie hervor. Schon in den Beschreibungen,
welche das homerische und hesiodische Epos von künstlichen Metallarbeiten
macht, wird die Zusammensetzung aus verschiedenen Metallen in einer Weise
hervorgehoben, daß der Reiz der Farben als ein wesentlicher erscheint. Auch
die vollendete Kunst wendet neben der Bronze Gold, Silber, rothes Kupfer
zur Verzierung an, und zwar sind es dieselben Theile, welche dadurch hervor¬
gehoben werden, Säume der Gewänder, Binden, Kränze, Schmuck u. s. w.,
und am menschlichen Körper Haare, Augen, Lippen, Nägel und Brustwarzen.
Ja dasselbe System läßt sich noch in der Art, wie auf den bemalten Thon¬
gefäßen bunte Farben zur Ausschmückung verwandt sind, nachweisen. Die¬
selben Accessorien, dieselben Theile des Körpers bis auf die Brustwarzen wer¬
den auch hier durch besondere Farbe ausgezeichnet.
Nicht allein durch die Farben ist die Augustusstatue für unsere Kenntnisse
der antiken Technik wichtig. Der mit Reliefs geschmückte Harnisch gibt einen
interessanten Beleg für die Kunst in getriebener Metallarbeit (Cälatur),
und das Raffinement in der realistischen Wiedergabe des geringsten Details
leistet Bürgschaft dafür, daß wir hier die richtige Vorstellung wirklicher Har¬
nische gewinnen. Sieht man auch ab von den phantastischen Beschreibungen
kunstreich geschmückter Waffen bei Dichtern, so fehlt es keineswegs an Ma¬
terial, um uns von dem Reichthum und Geschmack kunstvoll gearbeiteter
Waffen eine hohe Vorstellung zu machen. In Pompeji sind Waffen zum
Vorschein gekommen, wie es scheint, nicht zum wirklichen Gebrauch, sondern
zur Schaustellung bestimmt, reich mit getriebener Arbeit verziert, unter denen
besonders ein Helm hervorsticht, dessen Reliefs eine Reihe von Scenen aus
der Eroberung Trojas darstellen. Am Rhein ist das sogenannte Schwert
des Tiberius gefunden, dessen Scheide mit zierlich gearbeiteten Beschlägen
und eingelegten Reliefs von getriebenem Silber mit theilweiser Vergoldung
geschmückt ist. Am Rhein ist auch — was ebenfalls in diese Kategorie
gehört — die vollständige Garnitur eines Militärverdienstordens ausgegraben,
große silberne Buckeln, jede mit einem schön gearbeiteten Kopf geschmückt, an
einem Riemengehänge über der ganzen Brust getragen (Phalerae): eine
Decoration. welche durch stattliche Pracht und künstlerische Ausführung selbst
moderne Großcordons hinter sich läßt. Ein Prachtstück aber sind die Schul¬
terblätter eines Brustharnisches aus vergoldeter Bronze im britischen Museum,
Aias im Kampfe mit einer Amazone, durch Schönheit der Composition
wie der Ausführung Meisterwerke der vollendeten Kunst. Bröndsted,
welcher dieselben in Neapel kaufte und dem man angab, sie seien am Fluß
Siris in der Gegend gefunden, wo Pyrrhus den 'Römern die erste
Schlacht lieferte, wagte die Vermuthung, daß sie einst zu der glänzenden
Rüstung gehört haben, welche Pyrrhus in jener Schlacht in Gefahr brachte.
Leider hat sich später ergeben, daß die Angabe des Fundorts erlogen war,
wodurch jener Vermuthung das Fundament entzogen wurde. Neben den noch
erhaltenen antiken Waffen gibt auch die lange Reihe römischer Portraitstatuen
im Harnisch lehrreiche Beispiele der Cälatur, durch welche sie geschmückt wur¬
den. Zum Theil sind es geschmackvolle Ornamente, bei denen namentlich
die in der späteren Ornamentik sehr beliebten Greife vielfach benutzt werden.
Sehr häufig sind zwei geflügelte Siegesgöttinnen einander gegenüber¬
gestellt, entweder beschäftigt, ein Tropäum zu errichten, oder einen Cande-
laber zu schmücken, oder auch das Bild der gerüsteten Göttin Minerva
verehrend — passende und leicht verständliche symbolische Verzierungen
an einem Harnisch. Mitunter ist auch der Sonnengott auf seinem Vier-»,
gespann von vorn gesehen dargestellt, ein angemessenes Symbol für einen
römischen Triumphator; darunter sind die Göttinen der Erde und des
Wassers, über welchen er stolz emporsteigt. Alles aber, was bisher der
Art bekannt war. übertrifft der Panzer des Augustus, sowohl durch Reich¬
thum und Geschmack der künstlerischen Anordnung, als auch durch die sinn¬
reiche Beziehung aus Augustus Thaten, welche richtig verstanden, wie Her-
zen nachgewiesen hat, auch einen deutlichen Fingerzeig auf die Entstehungszeit
des Kunstwerks gibt.
Der Sinn der Darstellung ist im allgemeinen ohne Schwierigkeit zu
erkennen. Die Mittelgruppe zeigt einen römischen Krieger, der von einem
Barbaren, welchen die Tracht und der an der Seite hängende Köcher und
Bogen als einen Parther zu erkennen geben, einen römischen Kriegsadler
entgegenzunehmen im Begriffe ist. Es ist also die denkwürdige Begebenheit dar¬
gestellt, wo die seit den Niederlagen des Crassus und Antonius in den
Händen der Parther gebliebenen Feldzeichen von diesen zum Zeichen ihrer
Unterwürfigkeit freiwillig an Augustus ausgeliefert wurden. Zeugen dieser
Scene sind die Repräsentanten anderer durch Waffengewalt unterjochter Völ¬
ker, wie nicht nur ihre trauernde, gedemüthigte Haltung, sondern auch das
neben ihnen errichtete Tropäum beweist. Die rothblonden Locken, die
Tracht, besonders das Feldzeichen des Ebers und die in einen Thierkopf
ausgehende Schlachttrompete lassen in ihnen mit Sicherheit Kelten erken¬
nen, zu denen vom Künstler auch wohl die Germanen gerechnet wurden.
Der römische Feldherr, siegreich und vom Osten bis zum Westen über die unter¬
würfigen Barbaren herrschend, ist es, den wir vor uns sehen. Ueber ihm
geht das leuchtende Tagesgestirn auf, das Horaz in der Säeularode anruft
Sonnengott, Allernährer, deß Heller Wagen
Tageslicht schafft und birgt, der du gleich und anders
Stets erscheinst, könntest du größeres niemals
Schauen als Roma!
Unten ist die Erdgöttin° gelagert, die fruchtbringende, und nicht allein
den Fluren und Heerden sondern auch dem Menschengeschlecht Nahrung ge¬
bende, wie sie ebenfalls Horaz anruft
Erde, reich an Früchten und an Heerden,
Schmücke Ceres Stirne mit Aehrenkränzen,
nährend auch komm' Jupiters Luft und Regen
Ueber die Fluren.
Nicht nur der durch Kriegsmacht gebändigte, auch der durch den Segen der
Natur reich beglückte Erdkreis ist dem römischen Herrscher Unterthan. Solches
gelingt ihm durch den Beistand der Gottheiten, die über den Segen der
Elemente und über die Gewalt der Waffen, durch geistige Kraft, durch
Sühne und Recht, durch musische Kunst eine höhere sittliche Weltordnung
begründen: Apollo und Diana sind die Beschützer des siegreichen Herr¬
schers, in ihrem Dienst regiert er die Welt.
Erwägt man zunächst die künstlerischen Mittel genauer, durch welche
diese einfache, aber reiche und beziehungsvolle Vorstellung hier ausgesprochen
und versinnlicht ist, so überzeugt man sich, daß die einzelnen Gestalten nicht
etwa sür diese Composition, für diesen Gedanken neu erschaffen sind, daß sie
auch nicht dieser Zeit angehören, nicht auf römischem Boden gewachsen, son¬
dern als fertige Erzeugnisse griechischer Kunst herübergenommen sind. Das
Verdienst des Künstlers besteht in der feinen und geschmackvollen Anwendung
überlieferter Kunstmittel, um eine neue, oder wenigstens unter neuen Ver¬
hältnissen ausgeprägte Vorstellung auszudrücken. Wie die römische Poesie,
von der griechischen die Götter- und Heroengestalten, die Motive der dichte¬
risch ausgebildeten Sage, die Technik des sprachlichen Ausdrucks und der
metrischen Form übernahm, und mit diesen Mitteln Werke von nationalem
Gepräge zu schaffen strebte, so suchte auch die nach Rom gewanderte bildende
Kunst unter dem mächtigen Einfluß der Weltherrscherin römische Gedanken
in griechische Formen zu kleiden. Aber es waren griechische Künstler, welche
dies ausführten; sie brauchten keine fremde Sprache zu lernen, Ausdrucks¬
mittel und Technik ihrer Kunst blieben dieselben. Auf dem Panzerrelies sind
der auf dem Greif reitende Apollo, die vom Hirsch getragene Diana
wohlbekannte, durch die grichische Kunst längst ausgeprägte Typen. Die
Barbaren erscheinen in der Tracht, welche mit Benutzung charakteristischer
Züge der asiatischen Volkstracht als eine allgemein giltige Bezeichnung bar¬
barischer Völker festgestellt worden war; nur durch einzelne Züge ist eine
schärfere Individualisirung erreicht. Stellung und Haltung der. besiegten
Nationen ist bestimmten Vorbildern entnommen, selbst das Tropäum ist aus
griechischer Ausfassung und Darstellung hervorgegangen. Nicht minder sind
die Personifikationen der elementaren Erscheinungen aus griechischer An-
schauung-hervorgegangen, den Römern war die Poesie der Naturerscheinun¬
gen, welche sie zu Thaten und Begebenheiten lebender Persönlichkeiten um¬
schasst, nicht aufgegangen. So geneigt die Römer sind, auf religiösem Ge¬
biet Zustände und Vorstellungen aller Art zu göttlichen Wesen zu machen,
so sind das doch in der Regel nur Abstractionen, die kein sinnlich anschau¬
liches Bild hervorrufen, während es das Wesen der griechischen Sage und
Poesie ist, zu personificiren, lebendige Individualitäten zu schaffen, welchen
die bildende Kunst nur Gestalt zu geben brauchte. Daher kommt es, daß
man so häufig für die feinsten, ausdrucksvollsten Gebilde der griechischen
Kunst auf römischen Monumenten keinen entsprechenden lateinischen Namen
findet, wie z. B. hier für die anmuthige Figur der Thaugöttin. Der
Römer verstand sie, wenn er sie sah, so gut wie wir; aber er hatte keinen
Namen für sie, so wenig wie wir. Der Sonnengott, der mit seinem
Viergespann über den Himmel fährt, mochte auch dem Römer eine geläufige
Vorstellung sein, aber dieser Sonnengott verräth seinen griechischen Ursprung
schon durch sein langes Gewand, welches die Kunst an einer uralten Sitte
festhaltend den Wagenlenkern noch gab, als es in Wirklichkeit nicht mehr
Brauch war. Interessant ist es nun, weiter zu verfolgen, wie alle Gestalten,
welche wir hier beisammen sehen, in den Apparat der späteren, auch noch
der christlichen Kunst übergehen, wie Farben auf der Pallette oder Phrasen
in einem poetischen Wörterbuch, die unverändert oder leicht modificirt. wo
sie nur passend erscheinen, angewendet werden. So ist die reizende Gruppe
der von der Thaugöttin getragenen Morgenröthe außerordentlich be-
liebt geworden. Sie wurde typisch für die Darstellung der Apotheose, dann
bemächtigte sich die Decorationsmalerei bei der entschiedenen Vorliebe für
schwebende Gestalten als Verzierung von Wänden und Decken dieses Motivs,
das uns auf römischen und campanischen Wandgemälden in mannichfachen
Variationen immer wieder begegnet.
Wie nun aus diesen äußerlich zusammengebrachten Elementen eine Com-
Position zu Stande gekommen ist, welche den Bedingungen des gegebenen
Raums aufs glücklichste entspricht, symmetrisch, wie es der ornamentalen
Kunst gebührt, aber ohne Zwang geordnet, reich und wohlgefällig, so drückt
die Vorstellung auch den politischen Gedanken der Zeit mit solcher Klarheit
und Energie aus, als wäre sie ganz selbständig aus demselben hervorgegan¬
gen. Die Schmach, daß römische Feldzeichen, römische Gefangene in der
Gewalt der Parther geblieben waren, empfanden die Römer lebhaft als
einen Makel ihrer Ehre, der um jeden Preis abgewaschen werden müsse; der
Name der Parther wirkte bei ihnen, wie bei den Franzosen Waterloo,
bei uns Jena.
Wie? wurden nicht die Krieger von Crassus Heer
Der Feindestöchter schmähliche Gatten, und —
O Roms Senat! o Fall der Sitten! —
Marser und Apuler nicht auf FeldernDer Schwätzer unter parthischen Herrschern grau;
Geweihte Schild' und Namen und Römerkleid
Und Vestas Fen'r vergessend, da doch
Rom und sein Jupiter unversehrt stand?
sagt Horaz in einer der Oden, in welcher er seinem Volk ernst ins Gewissen
redet. Ihm, wie Virgil und Properz, ist der Parther der Landesfeind,
den zu besiegen die erschlaffte Jugend wieder mannhaft und waffengeübt wer¬
den soll. Seitdem der Greuel der Bürgerkriege gesühnt ist, werden sie nicht
müde, an die verpfändete Ehre zu mahnen, die dort noch einzulösen war und
Krieg mit den Parthern zu predigen. Im Bündniß mit Antonius und
Cleopatra hatte der Orient Rom die Herrschaft zu entreißen getrachtet,
Augustus sollte an den Parthern Rache nehmen, die siegreichen Waffen
zu den Indern und Serern tragen und Rom in Wahrheit zur Welt¬
herrscherin machen. Solche Worte, von Dichtern aus dem intimsten Freun¬
deskreise des Mäcenas gesprochen, waren Fühler an die öffentliche Meinung,
und „Krieg mit den Parthern!" wirkte damals in Rom, wie heutzutage in
Paris, wenn von der Rhein grenze, an der Newa, wenn von Constanti-
nopel geredet wird. Allein Augustus war vorsichtig und scheute das ge¬
fährliche Spiel, er rüstete und machte ein paarmal drohende Anstalten, welche die
Dichter mit Beifall begrüßten, aber er schlug nicht los und war hoch er¬
freut, M im Jahr 20 v. Chr. die Parther sich endlich entschlossen die er¬
beuteten Feldzeichen freiwillig auszuliefern, als Gesandte von Indien und
China kamen, um Verträge zu schließen. Die Ehre war gerettet, die Macht
des römischen Staats anerkannt, der Glanz seines Namens leuchtete hell aus
und zum Zeichen, daß seine Herrschaft der Friede sei, konnte Augustus den
Janustempel schließen. Auch Horaz sang
Dein Leben, Cäsar,
Gab unsrer Feldflur wieder die Segensfrucht
Und seine Adler unserem Jupiter,
Entrafft der Parther stolzen Pfosten.
Schloß den von Fehden geräumten Janus-Quirinustempel, legte die Zügel an
Aus Recht und Ordnung schweifender Ueppigkeit,
Die Lasterthaten tilgte er aus, und
Brachte zurück die Zucht der Väter.
Im Jahr vorher hatte Agrippa die Celtiberier entwaffnet, in den
nächsten Jahren wurden unruhige gallische Stämme und Alpenvölker
unterjocht. Nicht treffender konnte daher die Situation bezeichnet werden,
in welcher Augustus durch die Erfolge seiner Waffen und das Ansehen seines
Namens seine Herrschaft im Osten und Westen gesichert sah und nun die
Segnungen des Friedens seinem Reiche versprechen durfte, als wir es im
Bilde vor uns sehen. Horaz Worte im Säculargesang
Venus und Anchises erlauchter Sprößling
Herrsche, weit vorragend im Kampf dem Feinde,
Mild dem Besiegten! ,
Seinen Arm, allmächtig in Meer und Landen
Fürchtet schon der Parther und Romas Beile,
Seines Ausspruchs warten, noch stolz vor kurzem,
Scythen und Inder.
Treue schon und Frieden und Ehr und alte
Scheu und längst vergessne Tugend kehren
Uns zurück; glückspcndender Ueberfluß auch
Ströme aus dem Füllhorn!
sind wie eine Unterschrift unter dieser Vorstellung.
Nicht minder scharf bezeichnend ist auch die Anwesenheit der Götter
Apollo und Diana. Der griechische Gott Apollo hatte zwar lange schon
seinen Platz im Cultus des römischen Staats gefunden, allein seitdem Au¬
gustus den Sieg bei Aelina dem Apollo zu verdanken behauptete, machte
er denselben zu seinem Schutzgott. Er ließ es gelten, wenn man ihn für
einen Sohn des Apollo ausgab und zeigte sich in dessen Costüm, und durch
Gründung des palatinischen Heiligthums und glänzende Stiftungen hob er
seinen Cultus vor allen übrigen. Diana, eine altitalische Göttin, war
bereits dem Apollo, die griechische Artemis vertretend, zugesellt worden,
sie nahm jetzt auch an seiner bevorzugten Ehre Antheil. Das Siegel drückte
Augustus diesen Cultuseinrichtungen auf, als er im Jahr 17 v. Chr. das
Jubiläum der Gründung Roms feierte und seine Götter Apollo und
Diana neben und über den Gottheiten, welchen nach alter Ueberlieferung
dies Fest gefeiert wurde, zum Gegenstand der Verehrung machte. Horaz,
der, von Augustus beauftragt ein Chorlied zu dichten, dadurch gewissermaßen
als Staatslyriker anerkannt wurde, richtet daher sein officielles Säculargedicht
an diese Gottheiten
Gnadenreich und gütig verbirg den Bogen
Und erhör' uns flehende Knaben, Phöbus!
Sternenglanz, zweihörnige Göttin, höre,
Luna, die Mädchen!Daß uns Jupiter zuwinkt und alle Götter,.
Kehren wir nach Hause der frohen Hoffnung,
Kundig nun Dianas und Phöbus Ehre
singend ein Loblied.
Hält man diese historischen Momente und die einzelnen Züge des Reliefs
zusammen, so wird man nicht bezweifeln können, daß es unter dem unmittel¬
baren Einfluß dieser Ereignisse und Stimmungen concipirt ist und sie wieder¬
zugeben bestimmt war, wodurch sich dann die Entstehungszeit um das Jahr
17 v. Chr. mit Sicherheit ergibt.
Noch ist ein eigenthümlicher Zug zu beachten, der die Auffassung des
Künstlers charakterisirt. Wer ist der römische Krieger, der den Legionsadler
aus der Hand des Parthers empfängt? Daß an einer Statue des Augu¬
stus nicht Tiberius oder dessen Legat, welchem die Feldzeichen im Orient
eingehändigt sein sollen, dargestellt werden konnte, liegt auf der Hand. Also
Augustus selbst, unter dessen Auspicien jene befehligten. Aber zu einem
römischen Feldherrn paßt der Wolf nicht, dies Thier kann nur symbolisch
verstanden werden. Nun ist der Wolf das Thier des Mars, des römischen
Kriegsgottes, und Augustus erbaute nach der Rückgabe der Feldzeichen einen
Tempel des Rächers Mars, in welchem dieselben aufgestellt wurden. Also
könnte man an den Kriegsgott selbst denken, dem die Feldzeichen überreicht
würden. Allein die Gestalt gleicht keinem Gott, sondern einem römischen
Feldherrn und die ganze Darstellung ist, wie wir sahen, darauf berechnet,
daß Augustus den Mittelpunkt bilde. Augustus ist auch gemeint und
der Wolf ist ihm beigegeben, um ihn dem Gott zu nähern, dem er ange¬
hört. Mars wurde nicht allein als Kriegsgott verehrt, als Vater des
Romulus war er der Ahnherr des römischen Volkes, und der neue Herr¬
scher führte sein Geschlecht zurück auf den Stamm, aus welchem Rhea Sil-
via, die Mutter des Romulus, entsprossen war. Dieselbe Vorstellung
drückt Amor auf dem Delphin neben der Statue aus. Er gehört der
Venus an, der Mutter des Aeneas und dadurch der Ahnfrau des Ju-
lischen Geschlechts, welchem Cäsar und Augustus entstammen.
Mars und Venus waren im römischen Cultus nahe verbunden als Ahnen
des römischen Volks; indem ihre Attribute hier auf Augustus übertragen
werden, tritt er nicht nur als der von ihnen begünstigte, als der aus ihrem
Geschlecht entsprossene hervor, ein Theil ihrer göttlichen Macht, ihres gött¬
lichen Wesens ist bereits auf ihn übertragen. Darauf weist auch eine un¬
bedeutende Modification des Costüms hin: die Barfüßigkeit. Sie paßt nicht
zu der realistischen Nachbildung der Jmperatorentracht, sie gehört zur Heroen¬
bildung und deutet an, daß kein gewöhnlicher Imperator dargestellt sei. '
Den Kunstgriff, den Herrscher in die unmittelbare Nähe der Götter zu
bringen und ihm göttliche Attribute beizulegen, finden wir durchgehends auf
den Kunstwerken angewendet, welche die kaiserliche Familie darstellen.
Auf einem Relief in Ravenna, welches Julius Cäsar, mit dem Venus¬
stern über der Stirn, und Augustus mit andern Gliedern des jütischen
Geschlechts vorstellt, erscheint unter ihnen Venus in der Gestalt, in welcher
sie als Stammmutter der Julier verehrt wurde. Auf einem Altar wird
Augustus von geflügelten Pferden in die Höhe getragen, welche der
Himmelsgott und der Sonnengott wie auf unserm Relief bezeichnen.
Die glänzendsten Repräsentanten der höfischen Kunst sind die pracht¬
vollen Onyxcameen von staunenswerther Größe, die ein Stolz der Museen
sind. Die Steine gehören, wie die Kunst sie zu schneiden, ursprünglich dem
Orient an; sie bildeten ein wesentliches Element des Luxus, mit welchem
die Herrscher sich schmückten. Von den Diadochen gingen sie auf Rom
über; Augustus und seine nächsten Nachfolger Müssen besondern Werth
auf diesen Kunstzweig gelegt haben; wir besitzen noch eine ganze Reihe sol¬
cher Prachtstücke, welche sämmtlich Mitglieder der kaiserlichen Familie ver¬
herrlichen. Sieht man von der Schwierigkeit ab, die einzelnen Portraits
mit Sicherheit zu bestimmen, so sind die Darstellungen im wesentlichen
deutlich.
Auf dem wiener Cameo thront Augustus mit Scepter und Lituus,
den Adler des Jupiter zur Seite, neben der Göttin Roma, die Göttin
der bewohnten Erde setzt ihm einen Kranz aufs Haupt, wie auf der Apo-
theose Homers dem unsterblichen Dichter, die elementaren Gottheiten des
Meeres und der Erde — auch hier mit einem Füllhorn und zwei Kindern
— sind neben ihr. Vor dem Beherrscher des Erdkreises steht der junge Ger-
manicus, Tiberius steigt von dem von der Siegesgöttin geleiteten
Triumphwagen ab. Beide kehren als Sieger über die Pannonier zurück;
unten errichten die Soldaten ein Tropäum neben den gefangenen Barbaren,
Auf dem pariser Cameo, dem größten von allen, thront zuoberst der
vergötterte Cäsar mit der Strahlenkrone. Vom Pegasus, welchen Amor
mit den Zügen des C. Cäsar, Sohnes des Germanicus, am Zügel
führt, wird Augustus zu ihm emporgetragen; Aeneas in phrygischer Tracht
empfängt ihn als Stammvater des Geschlechts mit der Weltkugel, hinter
diesem Drusus, lorbeerbekränzt. In der Mitte thront Tiberius mit
Lituus und Scepter und der Aegis, der Waffe des Jupiter, neben ihm
seine Mutter Livia in der Tracht und mit den Attributen der Ceres; die
ganze kaiserliche Familie umgibt ihn. Unten ist eine Gruppe gefangener
Barbaren.
Auf dem niederländischen Cameo fährt auf einem von trophäen¬
tragenden Kentauren gezogenen Wagen, wie er dem Bacchus zukam, über
besiegte Feinde Kaiser Clauius den Blitz schwingend hinweg; neben ihm
Messalina mit Octavia und Britanniens.
Auf einem kleineren pariser Cameo tragen Germanicus und Agrip-
Pina auf einem von Schlangen gezogenen Wagen als Triptolemus und
Ceres das Getreide über den Erdkreis. Auch auf dem schönen mit getrie¬
bener Arbeit verzierten vergoldeten Silberschild von Aquileja in Wien
ist Germanicus als Triptolemus vorgestellt, wie er, umgeben von
huldreichen Göttern, opfert, bevor er den Schlangenwagen besteigt.
Ueberall tritt uns dieselbe Auffassung entgegen: die Mitglieder des Herr¬
scherhauses werden den Göttern beigesellt, mit Attributen göttlicher Macht
ausgestattet und dadurch den Kreisen der Sterblichen entrückt. Dieselben
Vorstellungen und die ihnen entsprechende poetische Ausdrucksweise finden
wir bei den Dichtern. Als nach der Schlacht bei Antium der Sieger län¬
gere Zeit von Rom entfernt blieb und man dort in ängstlicher Spannung
abwarten mußte, wie er den Sieg und die neu befestigte Macht gebrau¬
chen, ob er mit weiser Mäßigung den Fluch der Bürgerkriege sühnen, Ver¬
söhnung, Vertrauen, Ordnung wiederherstellen würde, fragt Horaz:
Wem ertheilt Vollmacht zu des Frevels Sühnung
Jupiter? Komm endlich herab, wir flehen,
Mit Gewölk die leuchtenden Schultern deckend,
Seher Apollo!
Oder willst du, Erycina, lächelnd,
Die der Scherz umflattert, mit ihm Cupido?
Oder siehst du, Ahnherr, auf dein verlassen
Volk und die Enkel?Oder stellst, beflügelter Sohn der hehren
Maja, du in andrer Gestalt auf Erden
Einen Jüngling dar, die Benennung duldend
Rächer des Cäsar?Spät erst kehre zum Himmel zurück und lange
Weile huldvoll unter Quirinus Volke.
Nicht zu schnell erdrücke der Aether dich ob
Unsrer VerschuldungZürnend! Hier erfreue vielmehr dich großer
Siegesruhm und Väter und Fürst zu heißen!
Laß nicht straflos, wo du befehligst, Cäsar,
Schwärmen die Parther!
Und so bezeichnet er wiederholt, wie andere Dichter der Zeit, Augustus
als den von guten Göttern entsprossenen, den vom Himmel gesandten Stell¬
vertreter der Götter, der einst zu den Göttern, denen er angehörte, zurück¬
kehren werde
Im Himmel donnernd glauben wir Jupiter
Herrsche, sichtbar gilt uns ein Gott fortan
Augustus.Ha, wen kümmert Wohl noch Parther und Scythe, nun
Cäsar lebt? Wen schreckt, wildes Germanien,
Deine rasende Brut? der Jberier
Unersättliche Kriegeslust?Seine Tage verlebt jeder im eigenen
Berge, paaret den Wein mit dem verlassenen Baum,
Kehrt heim, feiert sein Mahl fröhlich und bringt el»
Abendopfer dem neuen Gott.Zu dir betet er, dir gießt er den ersten Most
Aus den Schalen und stellt neben die Götter des
Vaterheerdes auch dich dankbar, wie Griechenland
Castor weiht' und Herakles.
Diese für unsere Auffassung fremdartige und verletzende Vergötterung
hat man dem Dichter als eine verächtliche Schmeichelei zum Vorwurf ge¬
macht. Daß H oraz, der in seiner Jugend ein eifriger Anhänger der Republik
und des Brutus gewesen war, nachdem er eine Zeitlang unzufrieden sich
zurückgezogen, dann mit kühlem Mißtrauen der neuen Ordnung der Dinge
zugesehen hatte, allmählich unter dem Einfluß des Mäcenas Zutrauen ge¬
wann und mit steigender Wärme Augustus Verdienste um das neu be-
festigte Staatswesen pries, das kann man als Inconsequenz der politischen Ein¬
sicht und des Charakters tadeln; es liegt aber nichts vor, welches zu zweifeln
nöthigte, daß er diese Wandlung in ehrlicher Ueberzeugung durchgemacht
habe. Nie verleugnete Horaz später seine Vergangenheit und die, mit welchen
er sie getheilt; mit Anerkennung spricht er von der Schlacht bei Philippi,
wo Manneskraft gebrochen wurde, und bezeichnete in einer Ode zum Preise
des Augustus das Ende der Republik mit dem edlen Tode des Cato,
was die Gelehrten nachträglich in großen Schrecken gesetzt hat. Eine ein¬
flußreiche Stellung bei Augustus lehnte er ab und hielt sich von dessen Person
so entfernt, daß dieser seine Empfindlichkeit nicht zurückhielt. Das freund¬
schaftliche Verhältniß zum Mäcenas dagegen spricht er mit einer Wärme
und einem Freimuthe aus, wie sie einen feinfühlenden und wahrhaft unab¬
hängigen Mann erkennen lassen, dem grobe Schmeichelei unleidlich sein mußte.
Horaz versäumt nicht auf die großen Beispiele des Bacchus, Hercules,
Castor und Pollur hinzuweisen, welche durch übermenschliche Thaten und
Verdienste einen Platz unter den Göttern errungen hatten; er macht auch kein
Hehl daraus, daß es eigentlich der dichterische Nachruhm sei, welcher die Un¬
sterblichkeit verleihe und erhalte. Allein, wie immer Horaz mit seiner persön¬
lichen Ueberzeugung zu solcher Apotheose sich stellen mochte: wenn er wie
andere Dichter und Künstler Augustus mit göttlichen Attributen ausstattete,
wenn von Staats wegen angeordnet wurde, daß Augustus Namen in den
Gebeten der salischen Priester denen der Götter angereiht, bei gewissen
Festen sein Bild neben denen der Götter aufgestellt, beim Mahle ihm ge¬
spendet werden sollte, so lagen alle dem Anschauungen und Vorstellungen zu
Grunde, welche volksthümliche und nationale Geltung hatten. Für den
Glauben des Alterthums waren alle Götter geboren und erwachsen, der
Götterstaat war ein gewordener und hatte seine Geschichte, wie die einzelnen
Götter, ohne daß die Zuversicht zu den ewigen und unwandelbaren Gesetzen,
welche durch die Götter vertreten waren, dadurch beeinträchtigt wäre. Die
Heroen, deren Geschichte sür die antike Anschauung dieselbe unmittelbare Wahr¬
heit hatte, wie die der Götter, gab unzweifelhafte Beweise, wie das Band, welches
Menschen und Götter unlösbar vereinigte, hier wie dort fest verwachsen in
stetiger lebendiger Erneuerung begriffen sei. Ihre lebhafte Phantasie, für
welche jede ungewöhnliche Erscheinung und Leistung körperlicher und geistiger
Schönheit und Kraft eine unmittelbare Manifestation des Göttlichen war,
ließ sie wie von selbst auch ein Attribut des göttlichen Wesens darin erblicken.
Zwar war die Zeit des Augustus keine Zeit der einfachen, unbefangenen
Gläubigkeit, allein die Wurzeln Jahrhunderte lang im Gemüth und in der
Phantasie eines Volkes gepflegter Vorstellungen sitzen tief und fest und schla¬
gen immer wieder aus; und wenn der Staat für seine Anordnungen die-
selben voraussetzen konnte, so durften mit noch größerer Zuversicht Poesie
und Kunst darauf zurückgehen, um für ihre Gebilde eine höhere Bedeutung
als die einer poetischen Figur und eines anmuthenden Bildes in Anspruch
zu nehmen.
Während in Italien die Wage noch unentschieden schwankt und Frank¬
reich sich unter Friedensversicherungen bis an die Zähne Waffnet, ziehen sich
im Orient die Wolken dichter zusammen. Um ein richtiges Verständniß für
die Situation zu gewinnen, müssen wir etwas zurückgehen. Die Resultate
des preußischen Feldzuges in Böhmen hatten die Berechnungen des Kaisers
Napoleon so über den Haufen geworfen, daß er wie betäubt war; außerdem
durch körperliches Leiden gedrückt, ließ er eine Weile alles planlos gehen und
sich selbst von einer Concession zur andern drängen. Erst im Herbste sam¬
melte er sich allmählich wieder und faßte nun als Ziel ins Auge. Preußen
zu isoliren und demgemäß Nußland von ihm zu trennen; die Petersburger
Allianz aber war nur im Orient zu gewinnen. Marquis de Moustier, der
soeben als auswärtiger Minister eingetreten war, hatte Frankreich fünf Jahre
lang mit Geschick in Constantinopel vertreten, er kannte die dortigen Ver¬
hältnisse und speciell die russische Politik so genau, daß, als man ihn vor
drei Jahren nach Petersburg hatte versetzen wollen, der Kaiser Alexander
sich zu einem Besuch der Kaiserin Eugenie in Schwalbach herabließ, um an¬
zudeuten, daß Baron Talleyrand, der jetzige Botschafter, eine ihm angenehmere
Persönlichkeit sein werde. Moustier durchschaute denn auch vollkommen die
Ursachen des Candiotischen Aufstandes, er wußte, daß derselbe lediglich von
Griechenland veranlaßt war, und hatte Gelegenheit genommen, auf seiner
Reise von Constantinopel nach Paris in Athen vorzusprechen, um dort scharf
seine Meinung über die hellenische Agitationspolitik zu sagen. Das hinderte
indeß natürlich seinen Gebieter nicht, eine Schwenkung in entgegengesetzter
Richtung zu machen und Moustiers türkensreundlicher Ton ward demgemäß
griechenfreundlich, Frankreich fand plötzlich, daß die Pforte alles verkehrt
mache und nichts besseres zu thun habe, als Candia abzutreten. Nach dieser
Vorbereitung schrieb Napoleon im November 1866 an den Kaiser Alexander
und schlug ihm eine geheime Separatverständigung über die orientalischen Dinge
vor. Die Antwort war höflich, aber ablehnend, Rußland ziehe vor, auch
mit den andern Mächten im Benehmen zu bleiben. Napoleon ließ sich nicht
so leicht entmuthigen und blieb bei seiner philhellenischen Richtung, ja ging
soweit, daß er im Anfang 1867 zur Cession nicht blos von Candia, sondern
sogar von Thessalien und Epirus rieth. Er verfehlte aber seinen Zweck, Ru߬
land damit zu gewinnen, vollständig, diesem waren vielmehr derartige Vor¬
schläge nur compromittirend, denn sie gaben den türkischen Staatsmännern
Recht, welche nichts von der Abtretung Candias hatten hören wollen, weil
ein solcher Schritt zu weitern Forderungen führen müßte, außerdem geht
Rußlands Vorliebe für Griechenland keineswegs soweit, es bis zur Macht
eines wirklich unabhängigen Staates zu vergrößern. Alles dies konnte nun
bei den fortwährend genauen Beziehungen zwischen Rußland und Preußen dem
Grafen Bismarck keineswegs ein Geheimniß bleiben und dieser operirte unge¬
mein geschickt, indem er in Constantinopel unbedingt mit Frankreich ging, kein
Vorschlag von Paris, war ihm zu weitgehend, noch kurz vor der Eröffnung
des Lorps I6sislg.til wurde Graf Goltz ausdrücklich beauftragt, zu erklären,
daß Preußen ganz bereit sei, die Abtretung auch von Thessalien und Epirus
zu befürworten. Diese Haltung war Napoleon begreiflich sehr unbequem und
er suchte sie möglichst zu ignoriren, um so mehr ließ Bismarck sie natürlich
öffentlich betonen. Es trat nun die Luxemburger Episode ein, welche Creta
für einige Wochen vergessen machte, nach derselben begannen die Fürsten
gen Paris zu pilgern. Der Kaiser Alexander hatte sich nur schwer entschlossen,
die französische Einladung anzunehmen, denn die national-russische Partei
sah in einer solchen Reise nach den Drouin de Lhuys'schen Noten über Polen
eine Demüthigung; nachdem Fürst Gortschakow, dessen Eitelkeit hoffte, daß
eine diplomatische Ueberlegenheit in Paris nicht ohne Erfolge bleiben könne,
eine Zustimmung erreicht, hatte der Kaiser sich mit seinem Onkel, dem
Könige von Preußen verabredet, den Besuch an der Seine gemeinsam zu
machen; aber dies paßte Napoleon nicht, welcher den Czaaren allein zu haben
wünschte. Er ließ also Graf Goltz kommen und sagte, er würde bedauern,
wenn der König mit dem Kaiser zusammenkomme, da er ihn mit allen Ehren
zu empfangen wünsche und es doch nicht vermeiden könne, seinem Neffen den
Vortritt zu geben. Die Antwort aus diese Mittheilung war sehr über¬
raschend für die Tuilerien, denn sie kam nicht, wie man erwartet, von Berlin,
sondern von Petersburg, wohin König Wilhelm die Botschaft befördert, der
Czaar instruirte Baron Budberg telegraphisch, zu sagen, daß er den Kaiser
nicht in Etiketteverlegenheit setzen wolle und es unter diesen Umständen für
besser halte, die Reise ganz auszugeben. Napoleon beeilte sich nun, Erklärun¬
gen zu geben, sein einziger Wunsch sei gewesen, seine Gäste gebührend zu
ehren, er werde nur zu glücklich sein, sie ganz so zu empfangen, wie es ihnen
genehm sei. So ward es denn arrangirt, daß der Kaiser von Rußland zuerst
und allein in Paris eintreffen, der König von Preußen ihm einige Tage
später folgen, aber ihn dort noch finden sollte. Die ersten Tage des Aufent¬
haltes des Czaaren benutzte nun sein Wirth, um seine Überredungskünste
zu üben und ihn von Preußen zu trennen, aber der Kaiser lehnte nicht nur
alles ab, sondern war überhaupt kühl und verschlossen; die Rufe, mit denen
ihn die Vorstadt Se. Antoine begrüßte, mochten ihn schon unangenehm be¬
rührt haben, nun kam noch der Empfang im Justizpalast und schließlich das
Attentat BerezowsM. Der Besuch ungern unternommen, endete peinlich,
Fürst Gortschakow, der sich vorher vermessen, Candia von Paris mitzubrin¬
gen , sah sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt und die Beziehungen zwischen
Frankreich und Nußland wurden sehr kühl. So.konnte es Baron Beust
nicht schwer werden, Napoleon in Salzburg für seine orientalische Politik zu
gewinnen und diese war die Metternichische, türkenfreundliche und antirussi¬
sche. Allerdings hatte Beust bald nach seinem Eintritte in den östreichischen
Dienst, ehe er sich noch hinreichend orientirt, den Versuch gemacht, Nußland
zu gewinnen, indem er eine Revision des Vertrages von 1856 in Aussicht
stellte, allein er fand damit keinen Anklang, denn Fürst Gortschakow geht
davon aus, daß der pariser Vertrag überhaupt hinfällig geworden, seit die
Pforte gegen dessen Wortlaut der Vereinigung der Donaufürstenthümer unter
einem fremden Fürsten zugestimmt. Der russische Kanzler hat dies zwar noch
niemals mit dürren Worten öffentlich gesagt, aber es ist, wenn man es
nicht schon anderweitig wüßte, zwischen den Zeilen bereits deutlich in seiner
kürzlich veröffentlichten Depesche an Baron Budberg vom Anfang 1866 zu
lesen. In derselben erklärte er in Betreff der Donaufürstenthümer nach der
herkömmlichen Betheuerung, Rußland wünsche nur, die Verträge zu er¬
halten, daß, wenn die andern Mächte Abweichungen von denselben, welche
den wirklichen Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerungen entsprächen,
zulassen wollten, Rußland sich dem nicht widersetzen werde, im Gegentheil
sei dann seine Aufgabe, dies Präeedenz auf alle christlichen Nationali¬
täten des Orients auszudehnen, d. h. also die Türkei in faktisch sou¬
veräne Staaten wie die Donaufürstenthümer aufzulösen. Nach diesem erfolg¬
losen Versuch ging Beust auf die traditionelle östreichische Politik zurück,
welche darin besteht, den Le^tus ano in der Türkei möglichst zu erhalten und
dem russischen Einfluß beharrlich entgegenzuarbeiten, wofür er in seinem
Botschafter in Constantinopel, Baron Prokesch, welcher das unbedingte Ver¬
trauen der Pforte genießt, ein besonders geeignetes Organ hat. Derselbe,
der den größten Theil seines Lebens im Orient zugebracht hat, hatte bereits
1846 eine actenmäßige Geschichte des griechischen Freiheitskampfes vollendet,
aber Fürst Metternich widersetzte sich der Veröffentlichung derselben, weil sie
die russische Regierung zu sehr compromittiren würde, und seitdem lag das
Manuscript in der Staatskanzlei; jetzt ertheilte Beust das Imprimatur und
so trat das merkwürdige Werk ans Licht, welches klar zeigt, was es mit den
russischen Betheuerungen für Humanität und Christenthum auf sich hat.
Aber schon vorher hatte Prokesch Gelegenheit, auf dem diplomatischen Felde
dem russischen Cabinete erfolgreich entgegenzuwirken. Ende Februar hatte
Marquis de Moustier eine Denkschrift über die in der Türkei ausgeführten
Reformen verfaßt, in welcher er davon ausging, daß der Hatti-Hamayoum
von 1856 die für das Wohl der Bevölkerungen nothwendigen Grundlagen
festgestellt habe und daß es sich nur darum handle, die Pforte zur Ausfüh¬
rung derselben anzuhalten. Dies ist eine unzweifelhaft richtige Auffassung,
die z. B. auch von dem größten englischen Kenner der türkischen Zustande,
Lord Stratford de Ratcliffe, getheilt wird, aber die Verwirklichung eines
solchen Planes paßte dem Fürsten Gortschakow nicht, denn sie hätte dazu
geführt, die Verwaltung der Pforte, welche in entfernten Gebieten bisher
ohnmächtig war, zu stärken. Er beeilte sich also, sobald Baron Talleyrand
ihm das Memoire seines Chefs mitgetheilt, an die Großmächte eine lange
Depesche zu richten, um zu zeigen, daß alle vom Sultan bisher proklamirten
und versprochenen Reformen ein todter Buchstabe geblieben. Rußland sei
noch immer geneigt, dem Sultan die Initiative in der Ausübung seiner
souveränen Rechte zu lassen, aber die christlichen Bevölkerungen hätten nicht
vergessen, daß auch der Hatti-Hamayoum freiwillig vom Sultan gegeben sei,
ihnen aber keinerlei Erleichterung gebracht, obwohl der pariser Friedensvertrag
auf ihn verwiesen habe; aber wenn man zu einer friedlichen Lösung der
gegenwärtigen Verwicklung kommen wolle, so sei die Hauptsache, den christ¬
lichen Bevölkerungen Zutrauen einzuflößen, was nicht durch einen bloßen
Appell an ein discreditirtes Dokument geschehen könne, sondern nur, wenn
neue Bestimmungen über ihre künftige Lage von der Pforte unter Mitwir¬
kung der christlichen Mächte, wodurch die Ehre derselben engagirt werde,
ausgearbeitet würden. — Dieser Mittheilung des Kanzlers folgte am 6. April
eine ausführliche Denkschrift, welche ein vollkommenes Nesormprojekt ent¬
wickelt, von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß nicht eine größere Centra¬
lisation, sondern im Gegentheil die vollkommenste Decentralisation der Ver¬
waltung in der Türkei durchgeführt werden müsse, um das Loos der Chri¬
sten gründlich zu verbessern. Das Memoire beginnt mit den herkömmlichen
Versicherungen des ZeLmt^iessemLnt absolu der kaiserlichen Politik, deren
Augenmerk nur der aufrichtige Wunsch sei, das Wohlergehen der griechischen
Neligionsgenossen mit der Erhaltung der Autorität des Sultans zu verbin¬
den, dies sei durch Thatsachen (welche wird nicht gesagt) so erhärtet, daß es
Unnöthig, entgegenstehende übelwollende Behauptungen zu widerlegen; ebenso
Wird als erwiesen angenommen, daß alle bisherigen Reformversuche unfrucht¬
bar geblieben, oder ins Gegentheil umgeschlagen seien; dies könne auch gar
nicht überraschen, die religiösen und socialen Lehren der Muselmänner seien
im geraden Widerspruch mit denen der Christen, daraus ergebe sich die voll¬
ständige Unmöglichkeit, beide unter dasselbe Regime zu stellen, es handle sich
also darum, ihr Nebeneinanderbestehen zu sichern (organiser Isur eoexistönev
parallele), ohne die eine der andern opfern zu lassen. Die Lösung dieses
Problems sei auch gar nicht so schwierig, weil sie in den muselmännischen
Traditionen ganz begründet sei.
Erst seit höchstens 40 Jahren hätten die Türken versucht, sich die ihnen
unterworfenen Nationalitäten zu assimiliren, sie hätten geglaubt, der euro¬
päischen Civilisation zu huldigen, indem sie die Theorien der Absorption und
Centralisation angenommen und so die christlichen Bevölkerungen ihrer pro¬
vinziellen und communalen Autonomie beraubt, deren sie bis Anfang dieses
Jahrhunderts mit befriedigenden Resultate genossen, und gerade seitdem seien
die innern Zerwürfnisse chronisch geworden, am meisten da, wo wie in
Candia, Epirus, Bulgarien und Bosnien dies System am weitesten getrieben
sei, während die Inseln Chios und Samos, wo die Trennung beider Racen
bestehen geblieben, sich verhältnißmäßigen Wohlstandes erfreuen. Dies Prinzip
der Racenautonomie müsse als Grundlage der ganzen administrativen Orga¬
nisation aller Provinzen der europäischen Türkei eingeführt worden. Was
die Christen betreffe, so müsse jede Provinz, jeder Canton, jede Gemeinde
durch einheimische Chefs verwaltet werden, welche ebenso, wie ihnen zur Seite
stehende Provinzial- und Gemeinderäthe, frei von den Bevölkerungen zu
wählen sein würden; ebenso sollte die Gerichtsorganisation ausschließlich für
die Christen nur auf das Wahlprinzip begründet sein, Streitigkeiten zwischen
Christen und Muselmännern würden durch gemischte Gerichtshöfe zu ent¬
scheiden sein, wobei aber jeder Christ berechtigt sein sollte, die Anwesenheit
eines fremden Consuls zu verlangen, welcher die Unparteilichkeit der Ent¬
scheidung zu überwachen haben würde. Die Christen würden von allem
Militärdienst gegen eine Abgabe frei sein, die nur auf die Personen von
18—35 Jahren fiele, gleichwohl das Recht haben, wie die Muselmänner in
die Armee einzutreten, und nur zum Dienst in der lokalen Miliz verpflichtet
sein. Der Gesammtbetrag der Abgaben' würde alle drei Jahre durch die
Pforte unter Mitwirkung einer berathenden Commission der Provinzialräthe
festgestellt werden. Was den Zutritt zu den öffentlichen Aemtern betrifft, so
sollen dieselben allen Unterthanen des Sultans ohne Unterschied zugänglich
sein. Die in der Türkei wohnenden Fremden sollen noch eine gewisse Zeit
ihr Recht der Exterritorialität genießen, wenn jene Reformen aber Wurzel
gefaßt, fo sollen die aus den Capitulationen herrührenden Vortheile weg¬
fallen. Anscheinend haben diese Vorschläge viel sür sich, aber die Erfahrung
eines Kenners der türkischen Zustände, wie Prokesch, durchschaute leicht, daß
der ganze Plan nur von der Absicht eingegeben war, die Auflösung der Türkei
zu befördern, indem man den Dualismus bis in die kleinsten Beziehungen
durchführen würde, und er setzte dies in einem Memoire, welches die russischen
Vorschläge beleuchtet, treffend auseinander. Hiemit fand Baron Beust be¬
greiflicherweise besondern Anklang in London, wo die Palmerstonsche orien¬
talische Politik wenigstens nach ihrer Hauptrichtung befolgt wird.
Freilich wird Lord Stanley in seinem Vaterlande sehr überschätzt, ihm
fehlt fast alle Initiative, er verfolgt nur das Prinzip der Nichtintervention,
aber er ist ein klarer, nüchterner Kopf, der sich durch die ewigen Betheue-
rungen des Baron Brünnow über die vollständige Uninteressirtheit seines
erhabenen Gebieters nicht fangen läßt; er konnte sich nicht entschließen, in
Athen Ernst gegen die völkerrechtswidrige Unterstützung des candiotischen
Aufstandes zu zeigen, aber ließ sich auch nicht dazu bereden, die Pforte mit
drohenden Noten zu bestürmen und befürwortete nur, wie Oestreich, vollstän¬
dige Ausführung der durch den Hat Hamayoum versprochenen Reformen.
In Salzburg gelang es nun Beust, auch Frankreich für diese antirussische
Politik zu gewinnen. Napoleon kam dorthin entschieden mit der Absicht,
Oestreichs Allianz gegen Preußen zu gewinnen, er rechnete dabei auf die
Nankune des Kaisers, auf Beusts Mangel an deutschem Patriotismus, der
ja vor einem Jahre ihn um Entsendung einer französischen Armee an den
Rhein gebeten, aber rechnete dennoch falsch. Franz Joseph, wie sein Reichs¬
kanzler lehnten jede aggressive Allianz gegen Deutschland ab, weil Oestreich
aufs tiefste des Friedens bedürftig sei und die deutschen Provinzen ebenso
laut gegen einen solchen Krieg protestiren würden als die Ungarn, nur
einen defensiven Krieg könne Oestreich fortan führen, wenn es in seinen
Lebensbedingungen bedroht würde und eine solche Bedrohung liege in dem,
Was die panslavistische Politik „die Misston der Befreiung des europäischen
Orients" nenne; wolle man also den Weltfrieden bewahren, so komme es
darauf an, daß England, Frankreich und Oestreich, welche 1836 den Spezial-
garantievertrag für die Integrität der Türkei unterzeichnet, dieser agitatori¬
schen Politik entgegentraten. — Napoleon ging hierauf ein, er mußte sich
hinlänglich überzeugt haben, daß in Petersburg doch nichts für ihn zu errei¬
chen sei, so acceptirte er die Verständigung mit Wien und London über
gleiche Politik im Orient, vielleicht mit dem Hintergedanken, daß dies bei
dem engen Einvernehmen zwischen Rußland und Preußen doch weiter führen
Müsse. Man war deshalb auch in London ebenso befriedigt über das Re¬
sultat der Salzburger Begegnung, als in Petersburg gereizt. Die letzte
veröffentlichte russische Depesche vom 27. August 1867 läßt dies deutlich er¬
kennen; Fürst Gortschakoff. erklärt darin offen, der moralische Zwang sei das
einzige Mittel, von der Pforte etwas zu erreichen, solange die Mächte nicht
zum materiellen Zwange greifen wollten. Dann müßten sie aber auch vereint
bleiben, aber die neuesten Ereignisse, namentlich die salzburger Begegnung
hätten leider auf die Türken den Eindruck machen müssen, als ob das Ein-
verständniß zwischen Frankreich und Rußland erschüttert sei. Frankreich zog
sich dann auch immer mehr auf die englisch-östreichische Seite zurück und
brach seiner Theilnahme an der Überreichung der Note Ä, qugtrs in Con-
stantinopel durch die Erklärung, daß es damit nur frühere Verpflichtungen
erfülle, die Spitze ab. So standen die Dinge im Herbste, und wir wollen
nun in einem zweiten Artikel sehen, wie die Verhältnisse in der Türkei selbst
liegen und wie die Mächte nach den neuesten Ereignissen zur orientalischen
Frage stehen.
Seitdem unser Ministerium seinem Reformdrang die Schleusen geöffnet
hat, hört der Segen gar nicht mehr auf. Unerschöpflich ergießt sich das
Füllhorn liberalisirender Projekte über alle Zweige des öffentlichen Dienstes.
Und da unser Land zuvor schon laut Moriz Mohl das wahre Eldorado war
und laut „Beobachter" seit Jahrhunderten der Hort der wahren Freiheit
gewesen, so steht bei diesem unablässigen Mannaregen der Freiheit, der aus
den obern Regionen herabträufelt, zu befürchten, daß das kleine Königreich
nächstens nicht Raum genug fasse, um so viele Freiheit unterzubringen und
aufzubewahren; nicht zu gedenken des fatalen Umstandes. daß durch solchen
Segen die Kluft, die uns von unsern norddeutschen in Barbarei und Knecht¬
schaft verlorenen Brüdern trennt, immer bedenklicher erweitert werden muß.
Vollends seitdem die Aufhebung der Prügelstrafe beschlossen ist, die sich als
eine anmuthige schwäbische Eigenthümlichkeit bis in die erste Woche des
Jahres des Heils 1868 hinein erhalten hatte.
Freilich ist schon die bloße Möglichkeit, so vieles an den bisherigen Ein«
richtungen zu verbessern, einigermaßen geeignet, Zweifel an der Musterhaftig¬
keit derselben einzuflößen. Die Reformvorschläge sind in der That schon des¬
wegen erwünscht, weil sie die Erinnerung an Halbvergessenes wieder auf¬
frischen, weil sie die bisherigen Zustände aufdecken, über die ivtra, se extra
muros soviel gefabelt worden. Unsere Zeit zerstört unbarmherzig alle My¬
then, auch den von der würtembergischen Freiheit. Würtemberg — das ist
die erste Wahrnehmung — ist bisher der gerühmte Musterstaat der Freiheit
nicht gewesen. Die zweite Wahrnehmung ist leider die: nach den durchge¬
führten Reformen wird es ebensowenig diesen Namen verdienen.
Nicht zu läugnen ist, daß wenigstens die Anzahl derselben einen impo»
nirenden Eindruck machen muß. Um sie nur einigermaßen logisch zu classi-
ficiren, thäte es noth, jenen ausgedehnten Apparat von I und 1, ^ und »>,
« und x zu Hilfe zu rufen, mit welchem einst unser Professor der Dogmatik
das unter seiner Gelehrsamkeit bedrohlich anschwellende Gebiet christlicher
Lehre nothdürftig zusammenzuhalten bestrebt war. Zunächst drängt sich die
Unterscheidung auf, daß die Reformen in solche zerfallen, welche durch die
„Ereignisse des Jahres 1866", wie man sich euphemistisch ausdrückt, nöthig,
und in solche, welche durch eben diese Ereignisse unnöthig geworden sind.
Zu jenen gehört in erster Linie das neue Armeegesetz, und es ist bezeichnend,
daß gerade diesem nicht ganz derselbe freundliche Eifer gewidmet wird, der
den andern mehr aus der schöpferischen Initiative unserer eignen Staats¬
männer hervorgegangenen Entwürfen zu Theil wird. Wesentlich dem preußi¬
schen System sich anschließend, wie auch in Bewaffnung und Dienstreglement
längst das selbständige Experimentiren aufgegeben ist, hat es nur die Eigen¬
schaft, sparsamer zugeschnitten zu sein, was insbesondere durch die Reduction
der Cadres, durch einen etwas niederern Prozentsatz und durch eine faktisch
kürzere Präsenz erreicht werden soll. Die Berathung des Gesetzes wird sehr
verzögert, doch wird an seiner Annahme in der Kammer nicht gezweifelt,
zumal seitdem auch die leitenden Minister, die eine Zeit lang eine zweifel¬
hafte Stellung einnahmen und nicht übel Lust zeigten, ihren Collegen Kriegs¬
minister im Stich zu lassen, neuerdings auf einen Wink, der, wie es heißt,
mit dem Nordwind kam, bestimmt erklärt haben, für das neue Gesetz ein¬
treten zu wollen. Auch der König selbst hat, mie bei den Allianzverträgen in
letzter Noth seine Dazwischenkunft angerufen wurde, beim Neujahrsempfang
gegen die parlamentarische Abordnung sich für das Zustandekommen des Ge¬
setzes verwandt.
Am meisten hat sich die Regierung dagegen mit derjenigen Reform be¬
eilt, welche durch die Gründung des norddeutschen Bundes überflüssig ge¬
worden war, mit der Justizreform. Ueberflüssig insofern, als bei der nahen
Aussicht zunächst auf eine deutsche Civilprozeßordnung eine Betheiligung
Würtembergs an diesem Gesetzgebungsact zu wünschen war oder wenigstens
die Resultate desselben hätten abgewartet werden können. Es war doch
eigenthümlich, daß« in denselben Tagen eilig ein würtembergischer Civilprozeß
angenommen wurde, in welchem die norddeutsche Commission zu ihren Ar¬
beiten zusammentrat. Und zwar ist es bezeichnend, daß man gerade mit aus¬
gesprochener Absicht innerhalb d^s Particularstaats ein selbständiges Werk
schaffen, der künftigen norddeutschen Gesetzgebung mit einer vollendeten That¬
sache zuvorkommen, ja geradezu durch ungesäumte Befriedigung der Neform-
vedürfnisse verhindern wollte, daß die Blicke hilfesuchend nach Norden, d. h.
nach einer deutschen Gesetzgebung sich richten. Diese Gründe sind von Seite
des Ministertisches wie der Abgeordnetenbänke ehrlich und unbefangen ein¬
gestanden worden. Man wollte der Welt zeigen, daß auch ein Staat wie
Würtemberg noch das Zeug zu selbständigen Reformen und Gesetzesarbeiten
besitze.
Noch mehr, man will gerade durch die Reformen dem souveränen Staat,
der durch die Verträge befestigt zu einer Dauer bis ans Ende der Tage sich
anschickt, neue Lebenskräfte zuführen. Dies ist der Gedanke, der bei den
übrigen Regierungsentwürsen, welche die Verfassung und die Verwaltung
betreffen und zu welchen auch noch ein Entwurf zu einer Synodalverfassung
der evangelischen Landeskirche getreten ist, der maßgebende war. Auch die
Reform der Verfassung, namentlich was die Zusammensetzung der beiden
Kammern betrifft, ist längst ein anerkanntes Bedürfniß. Ohne daß man
großen Werth auf die berühmten 43,000 Unterschriften legen könnte, welche
für die Petition der Volkspartei von denen eingesammelt worden sind, „die
nicht preußisch werden wollen", hat der einfache Vergleich mit andern Ver¬
fassungen längst nur beschämend für uns sein können. Ungestört in unserem
Bewußtsein, einen Hort gesicherter Freiheit zu besitzen, ertrugen wir in un¬
serer Verfassung Merkwürdigkeiten, die fast nur mit Mecklenburg wetteifern
konnten. Unläugbar sollen nun Verbesserungen eingeführt werden, aber es
ist auch sofort klar, daß sie nur zögernd und zaghaft bewilligt sind, und daß
die Regierung mit tiefem Mißtrauen sich auf die schiefe Ebene des modernen
Liberalismus begeben hat. Wo ein Stück Freiheit bewilligt ist, sind auch
die Dämme verdoppelt, durch welche ihre Entfaltung eingeengt ist. Dem
Gift ist sofort wohlwollend das passende Gegengift beigesellt. Was die eine
Hand gibt, die andere nimmt es zur Hälfte zurück. Man will liberal sein
und variirt in allen Tonarten die „Forderungen der Zeit" und die „Selbst-
regierung des Volkes", aber man kann nicht lassen von den Gewohnheiten
der Bureaukratie. Man will neues einführen, aber man will nicht auf das
Alte, auf das „Liebgewordene und Eingelebte" verzichten und gelangt so zu
einer seltsamen Mischung verschiedener Systeme, durch die anstatt einer Ver¬
einfachung der Geschäfte das Gegentheil erreicht wird.
Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen, ohne daß wir uns zu einer
eingehenden Kritik von Projekten versucht fühlen, die größtentheils Projekte
bleiben werden. Für die Wahlen der 64 Bezirksabgeordneten zur zweiten
Kammer soll statt des bisherigen Wahlgesetzes, das künstlicher und engher¬
ziger nicht sein könnte und einseitig die Hochstbesteuerten begünstigte, das
allgemeine direkte Wahlrecht eingeführt werden. Dies war nach der nord¬
deutschen Reichsverfassung kaum zu umgehen; immerhin ist es ein kühner
Schritt, wenn man bedenkt, wie bescheiden die Kammer selbst bisher in den
Forderungen einer Reform ihres Wahlgesetzes gewesen ist. Allein man hat
auf sinnreiche Weise das allgemeine Stimmrecht unschädlich zu machen ge¬
sucht. Zwar dagegen läßt sich wenig einwenden, daß jeder Wahlkreis in
eine große Anzahl von kleinen Abstimmungsbezirken zersplittert werden soll,
obwohl die Absicht auf der Hand liegt, die Wahlagitation zu erschweren,
und möglichst viele ländliche Wähler zur Urne zu treiben, ohne daß sie in
Berührung mit den gefährlichen Städten kommen. Unverkennbar verlieren
dadurch die Aussichten des Liberalismus. Es kam bisher nicht selten vor,
daß die ländlichen Wähler, in der Bezirksstadt angekommen, wo sie sich durch
einen Frühschoppen zur Verrichtung ihrer Bürgerpflicht auf dem Rathhaus
stärkten, bei dieser Gelegenheit besserer Belehrung sich zugänglich erwiesen
und den Wahlzettel, den ihnen zu Hause der Schultheiß in die Hand ge¬
drückt, mit einem andern vertauschten. Derlei Möglichkeit besserer Belehrung
ist durch die Vorlage der Regierung weise beseitigt. Dagegen hat sie des
Guten zu viel gethan, wenn sie die Wahlhandlung selbst, angeblich um die
Unabhängigkeit der Wähler zu sichern, mit einer Menge komischer Förmlich¬
keiten ausgestattet wissen will, die gleichfalls, wenn sie überhaupt einen Sinn
haben sollen, die Vermuthung tendenziöser Hintergedanken herausfordern.
Dazu kommt aber nun, daß durch das allgemeine Wahlrecht das System
der Censuswahlen keineswegs beseitigt ist. Vielmehr sollen zu jenen 64 Ab¬
geordneten noch 24 Vertreter der Höchstbesteuerten, gewählt von den Bezirks-
, rathen, treten, ein Privilegium des Reichthums und zugleich eine Hinterthür,
durchweiche die ritterschaftlichen Abgeordneten, die stillschweigend aus der
zweiten Kammer beseitigt sind, wieder ihren Einzug in dieselbe halten wür¬
den. Die Vertreter der Kirche sind theils in der zweiten, theils in der ersten
Kammer untergebracht, wie überhaupt die Zusammensetzung beider Kammern
aufs künstlichste ausgeklügelt ist. Die erste Kammer, deren Opportunist in
einem Land wie Würtemberg überhaupt fraglich ist, bleibt einmal der Sitz
der Geburtsprivilegien, obwohl wenigstens das unsinnige Recht der Stellver¬
tretung beseitigt ist, das bisher die abwesenden Prinzen und Standesherrn
ausübten. Daneben aber wird sie wesentlich verstärkt durch Abgeordnete der
Kreisversammlungen, durch Vertreter der größeren Städte, der Universität:c.;
auch durch die erhöhte Bedeutung der ersten Kammer soll ein Damm gegen
die Gefahren des allgemeinen Stimmrechts aufgeführt werden.
Und damit nicht genug; von wahrhaft raffinirter Künstlichkeit zeugt
jene Bestimmung, wonach, wenn bei einer Wahl nach allgemeinem Stimm¬
recht nicht einer der Candidaten die absolute Mehrheit der abgegebenen
Stimmen erhält, — ein Fall, der oft genug vorkommt — das Stimmrecht
übergeht auf die Gemeinde- und Bezirksausschüsse. Schwer begreiflich ist,
daß auch diejenige Bestimmung, welche die Redefreiheit der Abgeordneten
beschränkt, sofern sie für Beleidigungen der Staatsregierung wie von Privat¬
personen vor die Gerichte gezogen werden können, im neuen Entwurf beibe¬
halten ist. Was läßt sich nicht alles unter den Begriff Beleidigung der
Staatsregierung bringen! Und wie hat der Particularismus unsers Landes
die bekannten Vorgänge in -Preußen ausgebeutet, ohne des Balkens im eig¬
nen Auge zu gedenken! Die bloße Klugheit hätte die Regierung bestimmen
sollen, hier keine Parallelen herauszufordern, die sich ohnedies überall von
selbst aufdrängen. Bekanntlich hat bisher der würtembergischen Kammer
nicht einmal die Initiative der Gesetzgebung zugestanden; sie soll ihr nun
gewährt werden, aber unter Einschränkungen, welche dieses Recht fast illuso¬
risch machen, mindestens an einen lästigen Apparat von Vorbedingungen
knüpfen. Beibehalten ist ferner die kleinliche Bestimmung, wonach die Kam¬
mer den Präsidenten und Vicepräsidenten nicht selbständig wählt, sondern
nur das Präsentationsrecht besitzt. Endlich soll, wie bisher, die Wahlperiode
6 Jahre dauern und der ordentliche Budgetlandtag nur alle 3 Jahre berufen
werden. Lauter Beispiele, welche zeigen, wie der würtenbergische Constitu-
tionalismus nach den Ideen des Herrn von Geßler künftig sich ausnehmen
wird. —
Ein unläugbar freisinniger Zug geht dagegen durch die neuen Bestim¬
mungen über die Organisation der Verwaltung. Es soll dem Volk durch
die Wahlen in Bezirksräthe, aus welchen wieder die Wahlen in die Kreis¬
räthe erfolgen, ein größerer Antheil an der Verwaltung gewährt werden. Es
soll z. B. die Controle, welche bisher den Staatsbehörden über das Rech¬
nungswesen der Gemeinden zustand, völlig aufgehoben werden. Allein die
neue Organisation der Behörden kann gleichwohl schwerlich eine Vereinfachung
genannt werden. Man hatte die Aufhebung der vier Kreisregierungen er¬
wartet, statt dessen sind sie verdoppelt, entsprechend den acht Kreisen der Ge¬
richtsverfassung. Dem Oberamtmann stehen die von den Gemeindevertretun¬
gen gewählten Bezirksräthe, dem Kreishauptmann die Kreisräthe zur Seite,
alles unbesoldete aber obligatorische Aemter, mit welchen es doch dem Bürger
zu viel werden muß, der statt der Verminderung der Vielregierei nur die
Anzahl der Regierenden, auf Kosten seiner Zeit, ins riesenhafte anschwellen
sieht. Es ist schon in der Kammer bemerkt worden, daß es in Zukunft
wohl keinen Würtenberger geben möchte, der nicht im Besitz irgend eines
solchen Ehrenamtes wäre, sei es als Bürgerausschußmitglied oder als Ge¬
meinderath, als Schöffe oder als Handelsrichter, als Bezirksrath oder als
Kreisrath, als Pfarrgemeinderath oder als Synodalmitglied.
Durch die Abgeordneten, welche die Kirche mittelst der Synode in die
zweite Kammer senden soll, hängt auch die Synodalverfassung mit der Reform
der Landesverfassung zusammen. Im Ganzen trägt sie denselben Charakter
wie die übrigen Reformen. Als im Jahre 1838 die leitenden Grundsätze
einer neuen Kirchenverfassung veröffentlicht wurden, schien es, als beabsichtige
man ein wirkliches Synodalsystem einzuführen, sofern ein organisches Ver¬
hältniß der Synode zur Kirchenleitung angestrebt wurde. Jetzt, nach dem
10 Jahre später fertig gewordenen Entwurf sollen sich Synode und Kirchen¬
regiment unvermittelt gegenüber stehen, jene ist mit einer dürftigen Competenz
ausgestattet, und ein officiöser Artikel beeilte sich mit der Warnung, daß die
künftige Synode nicht in einer systematischen Opposition, nicht in einem Kampf
um Ausdehnung ihrer Befugnisse ihre Aufgabe suchen möge. So ist das
Repräsentativsystem, eigener Lebenskraft beraubt, angeklebt an das Consistorial-
regiment, ähnlich wie in der Gerichtsverfassung die Kreisgerichte mit den be¬
stehenden Amtsgerichten combinirt, in der Verwaltung das Kreissystem mit
dem bestehenden Aemtersystem unglücklich verschmolzen ist.
Dies sind die Reformen, mit welchen die Regierung das Land über¬
schüttet hat, mit welchen sie die Lebensfähigkeit des Staats zu beweisen und
zu erhöhen gedenkt. Es dünkt uns, vorsichtiger wäre es gewesen, wenn man
die Lebensfähigkeit des würtembergischen Staats nicht so in den Vordergrund
gerückt und auf eine so bedenkliche Probe gestellt hätte. Zum mindesten hat
sich die Fähigkeit der Reformatoren nicht eben das glänzendste Zeugniß aus¬
gestellt. Schon dies ist bedenklich genug, daß die Regierung erst in den letzten
Wochen einer 6jährigen Wahlperiode, gerade vor Thorschluß, mit ihren Ent¬
würfen fertig geworden ist. An eine Durchberathung ist in dieser Kammer,
deren Mandat im Februar abläuft und die noch dringende Arbeiten genug
vor sich hat, nicht mehr zu denken. Die Vorlagen bleiben zunächst schätzbares
Material. Schon daraus erklärt sich die Teilnahmlosigkeit, mit welcher sie
allgemein aufgenommen worden sind. Aber sie erklärt sich noch aus einem
andern Grund. Vergebens bemüht sich die Regierung, das Interesse der
Staatsbürger von den nationalen Fragen zurückzubannen auf den engen Kreis
der schwarz-rothen Grenzpfähle. Der Glaube an die Zukunft der staatlichen
Sonderexistenz ist unwiderruflich dahin, auch bei denen, die es nicht Wort
haben wollen. Und wären die Reformen noch viel liberaler ausgefallen, das
Gefühl läßt sich nicht zurückdämmen, daß unsere Zukunft an das gemeinsame
deutsche Staatswesen geknüpft ist. Hiergegen kann die Frage, wie unsere
Kammern künftig zusammengesetzt werden sollen, nur ein untergeordnetes
Interesse erwecken. Im Vordergrund des Interesses steht die Gesammtver-
tretung deutscher Nation, die Vorbereitung der Wahlen zum Zollparlament.
Die Regierung selbst verräth durch außerordentliche Kundgebungen, wie es
die Rede des Herrn v. Varnbüler am 11. December, und wie es der un¬
glückliche Zeitungsartikel des Herrn v. Geßler am 8. Januar war, wie sehr
sie von diesem obersten Interesse beherrscht ist. Sie hat mit diesen Kund-
gedungen ihre Parole, ihr Wahlprogramm ausgegeben. Andrerseits hat die
Volkspartei ihre Abdication ausgesprochen in dem Beschluß, sich der Wahlen
zum Zollparlament zu enthalten. Selbst der Hilferuf der Fraction Bebel
und Schraps um Succurs aus dem Süden hat die unbeugsamen Catone
am Nesenbach nicht zu rühren vermocht. Im nächsten Brief hoffe ich berichten
zu können, daß die dritte Partei, die deutsche, inzwischen nicht müßig g?-
Die preußische Politik des Friedericianismus nach Friedrich II. Von Ouro Klopp.
Schaffhausen, Hurter 1867.
Die genannte Flugschrift, ein besonders abgedrucktes Stück aus der 2.
Auflage des Buches desselben Verfassers über Friedrich den Großen, ist außer¬
halb der partikularistischen Kreise wenig beachtet worden. Ein Hinweis auf
dieselbe dürfte nichtsdestoweniger schon durch die Rücksicht gerechtfertigt er-
scheinen, welche wir dem künftigen Geschichtschreiber unserer Zeit schulden.
Demselben muß Gelegenheit geboten werden, davon Notiz zu nehmen, bis
zu welchem Wahnwitz in der Beurtheilung der Geschichte böswilliger Fana¬
tismus einen gescheiten und wohlunterrichteten Mann im Jahre 1867 hat
treiben können.
Schon die Einleitung ist in dieser Beziehung höchst charakteristisch: Der
norddeutsche Bund wird ein „Hohn auf das wahre föderative Princip" ge¬
nannt, in welchem allein das Heil Deutschlands zu suchen sei. Der Name
Deutschland — heißt es weiter — sei nur noch in dem Sinne giltig, wie der
Name Polen; wie vom Staate der Hohenzollern der Gedanke der Theilung
Polens ausgegangen sei, so habe derselbe Staat auch Deutschland zerschlagen.
In diesem Staate sei der Zweck des menschlichen Daseins nur noch der, als
Material zu dienen für den Molochdienst von Blut und Eisen u. s. w.
Der Aufsatz gibt sodann eine Geschichte des perfiden und gewaltthätigen
Raubstaats, zu welchem Preußen seit Friedrich II. geworden. „Eroberer",
so heißt es in Bezug auf den großen König, „waren nicht selten Bahn¬
brecher einer höheren geistigen Cultur. Aber hier wird die Abneigung gegen
dieses furchtbare System der Jmmoralität nicht gemildert durch den Anblick
einer höheren Entwickelung irgend einer Seite des menschlichen Culturlebens" (!).
In- der Schilderung der Zeit nach Friedrich wird überall die östreichische
Politik verherrlicht, alles Unheil Deutschlands dagegen auf das „unzuverlässige,
treulose, gewinnsüchtige" Preußen geschoben, durch welches das Reich vernichtet
worden sei. Der von den nationalen Historikern neuerdings genügend ins
rechte Licht gestellte Basler Friede muß den bereits etwas trivial geworde¬
nen Stoff für diese Ausführungen hergeben, in denen gedachter Friedens¬
schluß u. A. „schimpflicher als der Rheinbund" genannt wird. Daß gelegent¬
lich die Säcularisation der geistlichen Güter beVlagt wird, dürfte allerdings
nicht ganz im Sinne des echten weißgelben Patriotismus gesprochen sein:
doch darf nicht vergessen werden, daß Herr Ouro Klopp durch seine Bei¬
träge für die gelben Blätter und durch sein Buch über Tilly und Gustav
Adolf bei den ultramentanen Koryphäen einen Credit erworben hat, den
sich zu erhalten er gerade jetzt bemüht fein muß. Wohl auch aus diesem
Grunde wird Karl V. in seiner Stellung zu den protestantischen Fürsten,
Philipp II. im Gegensatz zu Wilhelm von Oranien gelobt. Von der Kata¬
strophe von Jena springt der Verfasser alsbald auf die, wie er sagt, „bei
allen Deutschen Mißtrauen erregende" Politik Preußens nach dem Befrei¬
ungskriege über. Von der großartigen Reorganisation Preußens unter Stein
und dessen Genossen, von der Errettung Deutschlands durch die Erhebung des
preußischen Volks — diesem glorreichsten Stück der neueren deutschen Ge¬
schichte — findet sich kein Wort. „Durch den latenten Friedericianismus sei
planmäßig Oestreich der Boden untergraben worden." Nun, die trotz aller
politischen Reaction in dem Vierteljahrhundert nach dem pariser Frieden in
Preußen entwickelte wissenschaftliche Cultur und die Begründung des Zollver¬
eins in dieser Zeit — das waren keine latenten Machinationen, sondern glän¬
zende Fortschritte zum Siege über das den Deutschen durch eigene Schuld
entfremdete und bis 1848 von keiner lebendigen Idee der Zeit berührte Oest¬
reich. Eine Mission Preußens erkennt O. Klopp nicht oder will sie nicht
erkennen, obgleich sie für jeden Unbefangenen handgreiflich ist, und für den
Historiker in der welthistorischen Mission der Römer, der Franken, der Deut¬
schen in der Reformation, der Franzosen in der Revolutionsperiode u. s. w.
Analogien findet. Ueberall wurde früher berechtigt gewesenen Staaten und
Zuständen „der Boden untergraben", überall altes unerträglich oder unfrucht¬
bar gewordenes Recht durch Politik und Gewalt gebrochen, um gebundenen
Kräften zu neuem wirksamen Leben zu verhelfen.''
Davon wird bei Klopp abgesehen; der Verfasser beschäftigt sich lieber mit
der „Corruption", welche die deutsche Bildung in Beurtheilung der Habs¬
burger gezeigt habe. „Keine Großmacht der Erde kann mit solcher moralischen
Zuversicht auf ihre Geschichte blicken, als die der Habsburger." Herr Klopp
spricht ein großes Wort aus. Es ist wahr, das Glück hat in den ältern Zeiten
seit Rudolf I. den Habsburgern manche Arbeit erspart, mit der sich andere Für¬
sten in der Geschichte emporarbeiten mußten. Wenn man aber z. B- an die
Habsburger Albrecht I., Karl V., Matthias und an Alles das denkt, was unter
anderen weniger activen, beschränkten oder indolenten Kaisern dieses Hauses
wie z. B. unter Ferdinand II, und Leopold I. verordnet oder zugelassen
worden ist, so dürfte die moralische Zuversicht des Verfassers ernstlich ge-
trübt werden. Thaten rücksichtsloser und gewaltthätiger Politik finden sich bei
den Sprossen des Hauses Habsburg ebenso zahlreich, wie bei andern großen
Geschlechtern, nur daß dieselben selten den bewegenden Ideen der Zeit und
dem Fortschritt der Menschheit dienstbar waren. Wäre dies der Fall ge¬
wesen, so würden die Geschichte und die von ihrem Urtheil abhängige öffent¬
liche Meinung jenen Habsburger« ihre „unsittliche" Politik ebenso verziehen
haben, wie Joseph II., dessen gewaltthätige Mittel im Dienst höherer sitt¬
licher Zwecke standen. Nicht die von Klopp gerühmte Schweigsamkeit der
im Bewußtsein ihrer Verdienste die öffentliche Meinung verachtenden Habs¬
burger, nicht das von Klopp erfundene Mährchen einer durch die Presse
künstlich erzeugten Verherrlichung Friedrichs und der preußischen Mission,
nicht die von Klopp beklagte thörichte Pflege des Friedericianismus in den
Schulen, nicht die Auszeichnung demoralisirender Historiker (Rankes Wirk¬
samkeit bei der historischen Commission und Giesebrechts Anstellung in Mün¬
chen durch den verewigten König Max II. werden u. A. in diese Kategorie
gebracht) — haben Friedrich den Großen und Preußen in der deutschen Ge¬
schichte und in der öffentlichen Meinung populär gemacht, diese Popularität
beruht darauf, daß sich aller Fortschritt in der politischen Entwickelung des
deutschen Volkes an Friedrich und an das durch ihn erweckte preußische Volk
knüpft. Ouro Klopp ist bekanntlich ein Meister in der freilich nur fana¬
tische Parteigenossen oder harmlose Idioten täuschenden Sophistik, ein populär
gewordenes Urtheil der gewissenhaftesten Geschichtsbetrachtung als von einer
Partei künstlich verbreitete, der Wahrheit widersprechende Ansicht darzustellen.
Unter seinen Händen wird Gustav Adolf zum nichtswürdigen Schurken, der
seine Popularität in Deutschland einigen.von ihm bezahlten Schriftstellern
verdankt. Klopp weiß nachzuweisen, daß das religiöse Interesse des protestanti¬
schen Volkes während des 30jährigen Kriegs eine Erfindung der protestan¬
tischen Zeloten sei, und in den gelben Blättern*) hat er bereits Andeutungen
darüber gegeben, daß schon zu Luthers Zeiten dem deutschen Volke an der
lutherischen Kirche eigentlich nicht viel gelegen gewesen sei. Er wird uns
dereinst sicher noch auseinandersetzen, daß Luthers welterschütternder Ruhm
als künstliches Product der schlechten Presse des 16. Jahrhunderts anzu¬
sehen sei.
Der Verfasser erhebt am Schluß seines Buchs einen Weheruf über das
furchtbare Unglück, das über Deutschland hereingebrochen sei. „Die deutsche
Sprache wird die preußische werden" ruft er aus, „und nur noch Gedanken
und Gefühlen dienen, welche mit dem deutschen Wesen in Widerspruch stehn.
Der Hochmeister Albrecht, der Hohenzoller, nahm das Ordensland Preußen
wider Eid und Gelübde als erbliches Herzogthum an sich und trug es der
Krone Polen zu Lehn auf" (freilich wurde dadurch Preußen lutherisch und
kam dadurch später an Brandenburg, was beides Herrn Klopp nicht gefällt)
„und behielt trotz dieser Felonie gegen Kaiser und Reich den schwarzen Adler
im silbernen Felde bei. Dieses durch Felonie und Kirchenraub (!) entwendete
Wappen brachte Friedrich, der das Königthum nicht mehr auf das ehemalige
Preußen beschränkte, durch abermalige Untreue und den Bruch der Verpflich¬
tungen, die sein Großvater für die Königskrone in Preußen eingegangen war,
nach Deutschland wieder heim. Wie dieser preußische Reichsadler für die ge-
sammte Monarchie erlangt ist durch doppelten Verrath an Deutschland, ähn¬
lich steht der Gebrauch der Sprache für das Preußenthum in
Widerspruch mit dem deutschen Wesen."
Das Alles fürchtet Herr Klopp, wenn sich die jetzigen Verhältnisse con-
solidiren sollten und er bemitleidet im Voraus alle Staatsangehörigen des
norddeutschen Bundes. Doch hofft er auf Vergeltung, auf Umsturz. Wir
dagegen hoffen und wünschen, daß Herr Ouro Klopp, wenn auch nicht in
Hitzing, wo ihm bei der Wiederaufnahme seiner pädagogischen Wirksamkeit
doch allmählich die Zeit etwas lang werden dürfte, so doch sonst irgendwo im
Kreise ultramontaner Gesinnungsgenossen von der weiteren kräftigen Ent¬
wickelung des neuen deutschen Bundesstaates noch recht lange Zeit Zeuge
sein möge.
Der Jahreswechsel war auch dieses Mal von einer Reihe nicht unwich¬
tiger Vorgänge begleitet. Zwar hat der Kaiser der Franzosen keines jener
geflügelten Worte gesprochen, welche die Naivetät der Börsen seit dem Jahre
1859 für unvermeidlich hielt, und ist der Neujahrstag allenthalben gleich be¬
deutungslos vorübergegangen: die Wochen, welche ihm vorhergingen, sind
aber ebenso wichtig gewesen, wie die, welche ihm folgten. Noch in den letzten
Tagen des alten Jahres entschied sichs, daß jene Conferenz über die römisch-
italienische Frage, welche durch die Herbstmonate die diplomatische Welt be¬
schäftigt hatte, das Geschick all' der verwandten Unternehmungen ihres Ur¬
hebers theilen und begraben werden sollte, ehe sie geboren worden, und diese
Entscheidung fiel mit der zusammen, welche das vorxs IsMlatik über die
römische Angelegenheit fällte und welche wiederum einen Ministerwechsel in
Italien nach sich zog. Noch bevor der gesetzgebende Körper seine Verhand¬
lungen über die auswärtigen Fragen beschlossen hatte und zu den De¬
batten über die Neugestaltung der französischen Armee übergegangen war,
unterbrach die laute und entschiedene Sprache des „Russischen Invali¬
den" das Schweigen, mit welchem die Diplomatie bis dahin die orienta¬
lischen Dinge bedeckt hatte; und die politischen Gegensätze, welche die
vier continentalen Großmächte- das vergangene Jahr über in zwei ein¬
ander gegenüber stehende Lager getrennt haben, wurden am Schluß des¬
selben noch einmal mit ihren wirklichen Namen genannt. In den ersten
Tagen des neuen Jahres traten die preußischen Gesandten ihre Functionen
als Vertreter des norddeutschen Bundes bei den Höfen der Großmächte an
und beendete der k. k. Reichskanzler v. Beust das Werk der Reconstruction
Oestreichs durch Jnstallirung eines liberal-cisleithanischen Ministeriums. Be¬
gleitet wurden diese Vorgänge, namentlich soweit sie sich auf Frankreich be¬
zogen, von dem ängstlichen Mißtrauen der Börse und eines großen Theils
der Presse.
Dieses Mißtrauen ist, wie wir glauben möchten, nicht ganz grundlos
gewesen. Auch wenn man von dem eigenthümlichen Geist absieht, in welchem
die Verhandlungen über das neue französische Wehrgesetz geführt worden sind,
und wenn man den Pessimismus derer nicht theilt, welche in dem Theater-
scandal der ?ordo Le. nardi» und dem Pöbelexceß vor dem VIMeau ä'Kau
bereits Vorläufer eines pariser Volksaufstandes sehen, wird man Gedanken
darüber, daß sich in Frankreich etwas Unerwartetes vorbereitet, kaum aus
dem Wege gehen. Dem äußern Anscheine nach hat die Nordd. Allg. Ztg.
allerdings Grund gehabt, die Signatur des neuen Jahres eine friedliche zu
nennen. Daß der Eintritt der deutschen Südstaaten in den Nordbund die
französische Regierung zu einem plötzlichen Entschluß drängen werde, ist, wie
die Dinge zur Zeit liegen, kaum anzunehmen; daß man in Paris Neigung
verspüre, der orientalischen Frage zu Leibe zu gehen, scheint nach der fried¬
lichen Haltung der officiösen Presse gleichfalls wenig wahrscheinlich. Auch
in Italien gewinnt eine ruhigere Auffassung der Verhältnisse die Oberhand,
und wenn sich aus mangelnder Veranlassung zu einem Conflict auf eine fried¬
liche Zukunft schließen ließe, so könnte mit einiger Sicherheit auf eine solche
gerechnet werden. Nichtsdestoweniger erhellt 'schon aus den steten Friedens-
betheuerungen großer und kleiner Politiker, daß man sich Friedenshoffnungen
einreden muß, um überhaupt welche zu haben. Die Nothwendigkeit, sein Volk
zu beschäftigen, ist für den dritten Napoleon dringender denn je, und daß es
zur Zeit an dem Gegenstande für eine solche Beschäftigung gebricht, ist grade
ein Hauptgrund für die allgemeine Unruhe. In früheren friedlichen Zeiten
waren es die äußeren Verhältnisse, welche die Ruhe der Völker störten, heut¬
zutage ist grade die Abwesenheit äußerer Störungen ein Gegenstand der
Sorge. Trotzdem, daß das abgelaufene Jahr mit dem kaiserlichen Versprechen
freisinniger Modificationen des herrschenden Systems inaugurirt wurde, ist
von solchen in dem modernen Frankreich nie weniger die Rede gewesen, wie
zur Zeit; die Unzufriedenheit der Bevölkerung ist dagegen durch eine Reihe
diplomatischer Mißerfolge, getäuschter Hoffnungen und gewaltsamer Polizei-
und Präfectureingriffe beträchtlich gesteigert worden. War es schon vor
Jahresfrist nothwendig, die Franzosen von der kritischen Beschäftigung mit
der Lage ihres Staats abzulenken, so ist diese Nothwendigkeit seit den letzten
zwölf Monaten noch gewachsen, und vergeblich sieht man sich in Paris nach
dem erforderlichen Material zu neuen Blitzableitern um. Während die prik-
kelnde Unruhe der Pariser die geringfügigsten Vorkommnisse des täglichen
Lebens aufgreift und zu Ereignissen zu erweitern sucht, Fabrikanten und Pro¬
letarier gegen die Wirthschaftspolitik des Baron Haußmann Sturm laufen,
Männer von der Loyalität Michel Chevalier's über die Zerrüttung der Fi¬
nanzen der Hauptstadt laute Klage führen, die festlich geschmückten Ballsäle des
Tuilerienpalastes zufolge der Verstimmung der Börsen und Fabrikantenkreise leer
bleiben und der Lärm über siebzehn neue Preßprocesse die journalistische Welt
erfüllt, weiß der Moniteur seine Leser nicht besser als mit der Beschreibung per¬
sischer Hochzeitsfeierlichkeiten zu unterhalten. Unter so abnormen Verhältnissen
wie denen der Hauptstadt des zweiten französischen Kaiserreichs ist ein sol¬
ches Verhältniß auf die Dauer unhaltbar und die Ungezwungenheit, mit welcher
die gouvernementalen Redner des gesetzgebenden Körpers die Nothwendigkeit
der Kriegsbereitschaft aus der innern Lage ableiten, bekundet deutlich, daß
jene seit anderthalb Jahren stets neu wiederholte cynische Lehre, nach welcher
das innere Unbehagen des Volks an und für sich ein berechtigter easus delli
ist, heute ebensoviel Jünger zählt, als im Herbst 1866. Daß es an einer
wirklichen Veranlassung zu einem Conflict Frankreichs mit dem neuen deut¬
schen Staat fehlt, macht die Sache eher schlimmer als besser, denn die Con-
jecturalpolitik, zu welcher die Börsen einmal verurtheilt sind, entbehrt aller
Anhaltepunkte; sie sucht dieselben darum in tausend Dingen, die ihr sonst
für gleichgiltig gegolten hätten; hat man doch selbst von der Möglichkeit
eines französischen Kreuzzugs nach Japan gefabelt, um nur mit seinen Be-
fürchtungen nicht länger in der blauen Luft bleiben zu müssen. Das Napo¬
leonische Regiment in Frankreich beschließt — wenn man die Zeit.der
Präsidentschaft mit in Rechnung bringt — nächstens das zweite Jahrzehnt
seiner Existenz und bereits fragt alle Welt, wo es die Mittel zur weiteren
Fristung seines Bestandes hernehmen wird. Wenn in andern Staaten das
hohe Alter einer Regierungsform als Grund für ihren ferneren Bestand
angesehen werden kann, so steht es in Frankreich gerade umgekehrt; seit
nahezu einem Jahrhundert hat sich keine Herrschaft in diesem Staat gleicher
Dauer rühmen können, wie die gegenwärtige, so jung dieselbe auch ist. Lud¬
wig XVI. saß 19 Jahre lang auf dem Throne, die Republik hat sich keine
12 Jahre erhalten, Napoleon hat durch 17 Jahre als Consul und Kaiser
regiert, der Restauration war eine fünfzehnjährige, dem Bürgerkönigthum
eine achtzehnjährige Lebensdauer beschieden. Das zweite Napoleonische Zeit«-
alter lebt seit Jahren von der Hand in den Mund, es hat den Cursus der
Abwechslungen, mit denen ein Volk unterhalten und beschäftigt werden kann,
so vollständig „durchschmaruzt", daß allgemach die verwegensten Pläne die
wahrscheinlichsten geworden sind. Und zu diesen wäre ein Krieg ohne Allianzen
zurechnen, obgleich Napoleon III. bisjetzt einem solchen hartnäckig aus dem
Wege gegangen ist. Während des Jahres 1867 war es die Möglichkeit
eines Bündnisses mit Oestreich, an welcher die Spekulanten der Baisse fest¬
hielten. Daß diese Aussicht seit den letzten Wochen entschieden in den Hinter¬
grund getreten ist, bildet das eigentliche Ereigniß, das den Jahreswechsel be¬
gleitet und hat den Conjecturalpolitikern die letzte Spanne Boden unter den
Füßen hinweggezogen.
Das öffentliche Austreten des neuen östreich. Ministeriums ist von
einer Reihe friedlicher Versicherungen begleitet, die das Gepräge innerer
Wahrheit tragen. Nicht daß das. Haus Habsburg-Lothringen plötzlich aus
seine alten Traditionen verzichtet und die Rechnung auf seine deutschen
Stützen für immer gestrichen hätte, — das neue Ministerium, an dem das
Selbstvertrauen der östreichischen Monarchie erstarkt, braucht den Frie¬
den, wenn es Lebenskraft gewinnen soll und die regierende Dynastie braucht
dieses Ministerium. Die gegenwärtige Zusammensetzung des k. k. Cabinets
steht aber in so entschiedenem Gegensatz zu den Traditionen des östreichi¬
schen Staats, daß seine Stellung schon aus diesem Grunde eine beispiellos
schwierige genannt werden muß. An der Spitze der Geschäfte steht ein nord¬
deutscher Protestant, der nach östreichischen Begriffen ein halber Rotürier ist,
seine Collegen sind freisinnige Ungarn, die bereits einmal auf der Proscrip-
tionsliste gestanden haben und bürgerliche Juristen und Gelehrte ohne Familien¬
verbindungen und Vermögen, Fremdlinge in der Hofburg, die bei den Habitues
derselben nur auf Feindschaft und Mißgunst zu rechnen haben und der Auge-
dung, in welcher Franz Joseph jung gewesen und alt geworden, für Ein¬
dringlinge gelten. Selbst aus die schwachen bureaukratischen Stützen, über
die Schmerling zu verfügen hatte, können die Männer kaum rechnen, von
denen das Volk erwartet, sie würden den alten Sauerteig der verrotteten
Beamtenwirthschaft ausfegen. Hof, Adel, Bureaukratie und Armee stehen
ihnen gleich fremd gegenüber und doch sind diese die Factoren, mit denen
im östreichischen Staatsleben an erster Stelle zu rechnen ist. Die Partei,
welche hinter den Giskra und Herbst steht, ist noch jung und undisciplinirt;
weder in Bezug auf die socialen Elemente, aus denen sie zusammengesetzt
ist, noch bezüglich ihres moralischen Einflusses kann sie auch nur mit der
Partei der preußischen Liberalen verglichen werden, aus deren Mitte die Mi»
nister unsrer Aera von 18S9 hervorgingen. Die Basis, auf welcher das
cisleithanische Cabinet steht, ist ausschließlich das Vertrauen des Volks.
Demokratischen Schwärmern muß es überlassen bleiben, diese für einen rv-
euer av bronss zu halten: wo mit realen Faktoren gerechnet wird, sagt man
sich, daß die Macht, über welche die neuen östreichischen Staatslenker zu ver¬
fügen haben, gerade darum eine äußerst geringe ist und erst erworben wer¬
den muß. Das Experiment, das Herr v. Beust mit dem Januarministerium
gemacht hat, ist ein so kühnes, daß Krone und Volk demselben mit gleich
hohen Erwartungen entgegentreten; das Volk verlangt den Ausbau einer demo¬
kratischen Verfassung und die Beseitigung von Schäden, welche so alt wie die
Monarchie sind und an denen Adepten der verschiedensten Art zu Schanden ge¬
worden sind, die Krone Wiederherstellung einer straffen innern Organisation
und der frühern Machtsphäre des Staats, Besserung der Finanzen und Er¬
höhung der Staatseinnahmen. Und diese hohen und kühnen Ziele sollen
erreicht werden, ohne daß die in das Ministerium gerufenen Männer auf
jene gute Meinung der Krone rechnen dürfen, welche die tausend Blößen,
die sich das Ministerium Belcredi gab, liebreich zudeckte, ohne jene Sicherheit
und Uebung in der Behandlung großer Geschäfte, die sich nur durch Erfah¬
rung gewinnen läßt und deren äußere Formen der herrschenden Classe überall
geläufiger sind, als dem Mittelstande, endlich ohne das Recht, außerordent¬
liche Opfer und Anstrengungen fordern zu dürfen. Mit dem Entschluß, die
deutsche Bourgeoisie an das Staatsruder zu stellen, glaubt die Krone sicher
das Uebermenschliche gethan, durch das Opfer ihrer Neigungen das Recht zu den
gespanntesten Anforderungen erkauft zu haben: wenn die bürgerlichen Minister
nicht sofort die Schwierigkeiten überwinden, zu deren Bekämpfung man sie an¬
geschafft hat, so hätte es ja bei den Grafen und Fürsten bleiben können, welche
die Natur selbst zu Staatsmännern bestimmt hat! Mißgriffe der Repräsentan¬
ten des alten Systems hatten nur die Kritik dilettantischer Parlamentsredner
und doktrinärer Journalisten zu fürchten; der erste Fehltritt der „neuen
Männer" ruft ergraute Praktiker der Metternichschen Staatskanzlei, hochan¬
gesehene Aristokraten und grollende Czechen unter die Waffen und muß sich
die Splitterrichterei von Politikern gefallen lassen, welche mit allen Einzel¬
heiten des Staatsmechanismus bekannt sind. Dazu kommt, daß die. Natio¬
nalität, auf welche die liberalen Minister beinahe ausschließlich angewiesen
sind, seit Menschengedenken das Aschenbrödel der östreichischen Politik gewe¬
sen ist und sich das Ansehen erst erobern muß, mit welchem sie ihre Reprä¬
sentanten decken soll. Bisher überall im Rückgang begriffen und mit der
mühsamen Behauptung seiner Machtsphäre beschäftigt, hat das deutsch-östrei¬
chische Element die schwierige Aufgabe, plötzlich alle Verantwortlichkeit für
das Wohl und Wehe des Staats und derselben Völker zu übernehmen, mit
denen es im Hader liegt. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist, wenn überhaupt,
nur unter der Bedingung einer dauernden Aufrechterhaltung des Friedens,
dieser nur im Fall aufrichtige.» Verzichtes auf die Einmischung in die deut¬
schen Dinge möglich. Es liegt darum kein Grund vor, an der Wahrheit
und dem guten Willen der officiösen wiener Friedensprediger zu zweifeln,
fraglich aber bleibt, ob und wie weit dieses friedliche Programm wirklich
aufrecht erhalten werden kann.
Der Anspruch auf die östreichische Suprematie in Deutschland ist von
all' den wiener Cabinetten, welche wir seit der Auflösung des alten Reichs
erlebt haben, gleich energisch aufrecht erhalten und ein integrirender Theil
der dynastischen und politischen Traditionen der .Habsburgischen Monarchie
geworden. Den Bruch mit dieser Tradition durchzuführen bedarf es allein
eines Ministeriums, das allseitiges Vertrauen und einen unerschütterlich festen
Willen mitbringt. Es genügt nicht, daß keine neuen Versuche zur Durch¬
führung des großdeutschen Programms gemacht werden, die vorhandenen
Pfeiler desselben müssen aus der Welt geschafft, die alten Wurzeln an der
Entfaltung ihrer natürlichen Triebkraft verhindert werden; sonst ist es un¬
vermeidlich, daß neue Schößlinge über Nacht wieder da sind. Dieser Noth¬
wendigkeit zu entsprechen muß den Ministern des neuen Cabinets sauer an¬
kommen; der großdeutsche Gedanke war der Haupthebel, den sie ansetzten,
um den Muth ihres Volks wach zu erhalten, mit seiner Geschichte ist ihre
eigene aufs engste verwachsen gewesen und ihr Führer, der Reichskanzler, war
der eifrigste Prophet desselben „im Reich." Die Giskra, Herbst u. s. W-
müssen nicht nur mit den Aspirationen des Kaisers und des Hoff, sondern
mit sich selbst fertig werden, um die Möglichkeit des Friedens, der die Be-
dingung ihrer politischen Existenz ist, aufrechtzuerhalten, sie müssen taub und
blind sein gegen -die Sirenenstimmen, die aus Süd- und Norddeutschland,
von der Jsar und vom Neckar, von der Elbe und vom Rhein zu ihnen dringen
und zur Wiederaufnahme des alten Intrigenspiels einladen. Schon ihre
ersten friedlichen Kundgebungen, die us^all im Volke ein freundliches Echo fan¬
den, sind von den Organen des groM^tscheu Particularismus mit einer Art
von Mißtrauensvotum beantwortet worden, und daß fernere Versuchungen an
Herrn von Beust und dessen Genossen herantreten, kann um so weniger
ausbleiben, als die außer-östreichischen Oestreicher seit Jahren kein wiener
Ministerium erlebt haben, dessen Fahne sie so muthig und unbedenklich schwen-
ken könnten, als die des gegenwärtigen „liberalen" Cabinets, das.schon
wegen der populären Namen seiner Glieder allen denen unschätzbar sein sollte,
die den Werth jedes Ereignisses nach dem Quantum Gift abschätzen, das
aus demselben gegen Preußen gewonnen werden kann. Daß das neue cis-
leithanische Cabinet unberührt von den Lockungen seiner großdeutschen Freunde
der Erfüllung seiner inneren Ausgabe nachgehe, ist darum eine harte For¬
derung. Und doch müssen die östreichischen Staatsmänner sich sagen, daß
nur um diesen Preis der Frieden zu erhalten ist, dessen sie vor allem be¬
dürfen, um den an sie gestellten Ansprüchen einigermaßen gerecht werden zu
können. Sie müssen, was vor ihnen noch kein östreichisches Ministerium ge¬
than hat, den Schwerpunkt ihrer Thätigkeit in das innere Staatsleben ver¬
legen und auch in diesem Sinn einen vollständigen Bruch mit den wiener
Traditionen versuchen. Geschieht das nicht, bricht eine kriegerische oder dip¬
lomatische Verwickelung herein, so ist es um die Möglichkeit einer Abhilfe
der Nothstände? welche auf der Bevölkerung lasten, um den guten Glauben
derselben, kurz um alle Grundlagen der Existenz der bürgerlichen Minister
geschehen.
Möglich, daß die Aussicht auf die Wiedererlangung der früheren
deutschen Machtstellung des Kaiserstaats die Deutsch-Oestreicher noch einmal
in den Taumel gedankenloser Kriegsbegeisterung fortreißt, von Dauer kann
derselbe nicht sein, und haben die bürgerlichen Minister nur für einen Augen¬
blick die Popularität verloren, von welcher sie getragen werden, so ist es um
sie geschehen und Herr von Beust geräth in die Nothwendigkeit, über sie
weg eine Brücke in das feudale Lager zu schlagen, das die Schule der alten
diplomatischen und militärischen Künste Oestreichs, die wahre Heimat der
kaiserlichen Sympathien ist. Gegen Preußen und Deutschland kann Oestreich
nur an der Seite Frankreichs unter die Waffen treten, ein Bündniß dieser
Art würde dem östreichischen Einfluß aber unfehlbar einen Todesstoß ver¬
setzen. Die Interessen Oestreichs sind mit denen der großdeutschen Partei
niemals identisch gewesen; im Fall eines mit französischer Hilfe geführten
Krieges würden sie vollständig auseinanderfallen und den neuen Staats¬
männern die schwache Stütze, welche sie an den süddeutschen Sympathien
haben, gleichzeitig mit allen übrigen entziehen. Fraglich ist nur, ob man
das in Wien ebenso genau weiß wie bei uns.
Ziehen wir die Summe. Die Aufrechterhaltung des Friedens mit
Preußen, welche das neue Ministerium auf sein Schild geschrieben hat, fällt
mit dem Interesse desselben aufs engste zusammen: soll mit der „neuen Aera"
wirklich Ernst gemacht werden, so ist es nothwendig, daß alle Kraft auf die
Lösung der inneren Schwierigkeiten, auf den Ausbau einer freisinnigen Ver¬
fassung, die Kräftigung des deutschen Elements und des von diesem getragenen
Volkswohlstandes verwendet werde. Weil eine solche Politik aber in schroffem
Gegensatz zu allem steht, was man in der Hofburg als östreichische Erbweis¬
heit verehrt, wird die Befolgung derselben die Stellung der neuen Minister
zur Krone und zu der Kaste, welche bisher das Scepter geführt hat. er¬
schweren. Oestreichs deutsche Freunde werden ihre Drohung wahr machen
und im Bunde mit Aristokraten, Klerikalen und Czechen gegen das neue
Ministerium Sturm laufen, wenn dieses wirklich seinem Programm treu
bleibt. Grade die Unfähigkeit dieser Parteien zu positivem Schaffen, zu ge¬
deihlicher Förderung der Volkswohlfahrt macht dieselben zu verzweifelten Spie¬
lern, welche am liebsten auf eine Karte setzen, deren Gewinn sich nicht im
voraus berechnen läßt.
In diesem Sinne ist die Sache des liberalen Oestreichs die unsere und
die Sache des Friedens. Ganz abgesehen von den gewichtigen Gründen, aus
denen der Kaiserstaat seine Blicke nach Osten und nicht nach Westen zu richten
hat, müssen seine Staatsmänner sich sagen, daß die Aufrechterhaltung guter
Beziehungen zu dem neuen Deutschland die vonäitio sino eins. non jedes Ver¬
suchs zum Neubau dieser zerrütteten Monarchie ist und daß die Vortheile,
welche eine französische Allianz im besten Falle haben würde, reichlich auf¬
gewogen werden durch die Nachtheile, welche auf die Sache der Volksfreiheit
im Falle der Friedensstörung unfehlbar hereinbrechen. Nachdem die Loth«
ringer es mit allen möglichen Bundesgenossenschaften versucht haben, sind
sie auf die ihrer deutschen Unterthanen verfallen; verzichten sie anderen Plänen
zu Liebe auf diese, so ist es um die Männer des Volksvertrauens von selbst
geschehen. So ^lange diese die Augen offen haben, werden sie sich an das
Friedensprogramm, das zugleich das Freiheitsprogramm ist, fest anklammern.
Aber die einfache Forderung, dem Gesetz der Vernunft und des wahren,
eigenen Vortheils zu folgen, ist leichter ausgesprochen als erfüllt. Innerhalb
wie außerhalb Oestreichs erweisen sich die unvernünftigsten, aus den dunkelsten
Quellen steigenden Motive zuweilen als die stärksten Triebfedern menschlichen
Wollens und Handelns.
Das folgende Schriftstück geht uns in deutschem Text mit der Ermäch¬
tigung zu, dasselbe unter dem Namen des Autors zu veröffentlichen.
Im Hinblick auf die vielen Umwälzungen, welche Frankreich seit achtzig
Jahren erfahren, ist es nicht bedeutungslos, zu wissen, welche Anschauungen
der älteste Enkel Louis Philipps vertritt, der möglicherweise auf die Geschicke
Europas noch einmal von Einfluß sein kann.
Das Exposö, hier und da durch Gegner Preußens beeinflußt, und in
einem Punkte durch spätere Ereignisse widerlegt, stellt den Prinzen als Mann
von Geist und Urtheil, als warmen Anhänger der liberalen Ideen, als
einen aufrichtigen Freund des Friedens und, für einen Fremden, als merk¬
würdig guten Beobachter deutscher Detailverhältnisse dar.
Der Artikel war mit einigen weiteren Ausführungen, ohne den Namen
des Autors zu nennen, im August 1867 in der Rsvus des cieux Nondes
Mitgetheilt. Trotzdem glauben wir, den Abdruck des deutschen Textes den
Lesern nicht vorenthalten zu dürfen, da der Name des Verfassers dem fran¬
zösischen Urtheil auch da. wo es von den Anschauungen dieses Bl. abweicht,
eine Bedeutung gibt.
Vor meiner Abreise nach Deutschland versprach ich Ihnen die Eindrücke
Mitzutheilen, die ich von dort zurückbringen würde. Lediglich, um mein
Wort zu halten, ergreife ich jetzt die Feder; denn einestheils war meine
Neise eine so schnelle, daß die Eindrücke ziemlich unvollständig sein dürften,
andrerseits aber sind diese selbst wieder so verschiedener, ja man könnte sagen,
sich widersprechender Natur, daß ich fürchten muß, über die Grenzen eines
Briefes hinausgeführt zu werden. In Wahrheit haben sich die Gemüther in
Deutschland noch nicht von der tiefen Verwirrung erholt, in welche sie durch
die Ereignisse des vorigen Jahres versetzt wurden. Situation. Ideen, sogar
Prinzipien: Alles wurde über den Haufen geworfen, und Niemand weiß
heute noch genau, was er bei dem neuen Stande der Dinge hoffen oder
fürchten soll.
Eine Thatsache allein wird als unwiderruflich vollendet angenommen,
die Einheit Deutschlands unter preußischer Suprematie. Jeder unterwirft
sich ihr, gutwillig oder nicht. Dualismus und Trias sind als historische
Denksteine zu dem heiligen römischen Reich und seiner alten Verfassung ver¬
sammelt worden. Ohne Zweifel ist die Einheit Deutschlands noch nicht
vollständig, ja sie ist sogar noch nirgends definitiv etablirt. Aber nichts
hindert, anzunehmen, daß die Südstaaten ihrerseits wieder in den Schooß
der germanischen Nation zurückkehren werden, und der Tag ist vielleicht nicht
fern, wo selbst die deutschen Provinzen des Hauses Oestreich in derselben
ihren gebührenden Einfluß wiederfinden. Für jetzt freilich sind Wille und
Initiative ausschließlich auf Seiten Preußens. Preußen hat bei Sadowa
jene hundertköpfige Hydra erschlagen, über die man schon zu Zeiten La
Fontaine's spottete; siegreich und ohne alle Hilfe hat es den deutschen Ge-
sammtkörper nach sich gezogen. Ein solcher Erfolg hat alle Deutschen in eine
Art Bezauberung versetzt, und zwar hat dies weniger der Triumph selbst
gethan, als die Mischung von Voraussicht und Kühnheit, welche die Politik
der preußischen Staatsmänner und die Strategie der preußischen Generale
charakterisirte. Man verglich diese seltenen Eigenschaften mit der Langsam¬
keit, den groben Fehlern, den unheilvollen Selbsttäuschungen des wiener
Hofes, mit der lächerlichen Ohnmacht des Bundestags, und das deutsche
Nationalgefühl, das in den letzten Zeiten so tief gedemüthigt war, es rief'.
„Dort ist unser Führer!"
Man vergegenwärtigt sich in Frankreich nicht genug alle die peinlichen
Schläge, welche die Eigenliebe Deutschlands seit Jahren hat verschmerzen
müssen. Bis 1849 war die liberale Bewegung in einer anfangs legalen, dann
revolutionären Form der Ausdruck des Einheitsgedankens gewesen. Seit sie
zurückgedrängt wurde, hat Deutschland immer vergeblich auf jene äußere
Machtstellung geharrt, welche despotische Regierungen stets den unterdrückten
Völkern in Aussicht zu stellen pflegen, und so oft eine große europäische
Frage ohne Zuthun Deutschlands entschieden wurde, erblickte dieses darin eine
persönliche Insulte. Während des Krimkrieges, in welchem seine Sympa¬
thien mit uns waren, sah es seinen Einfluß durch den Antagonismus zwischen
Preußen und Oestreich neutralisirt. Später, 1839, wollte es gegen uns
interveniren, aber Monate waren nöthig, um das Räderwerk des Bundes
in Bewegung zu setzen, und als derselbe endlich schlagfertig war, beeilte sich
Oestreich, stets eifersüchtig auf Preußen, diesem durch den Frieden von Villa-
franca den Anlaß zu entzieh'en. Seit Herr von Bismarck am Nuder ist,
haben die Deutschen die Empfindung, daß es eine deutsche Politik gibt-
Daher seine Popularität. Die holsteinische Frage, die bis dahin in ein juri¬
disches Gewölk gehüllt gewesen war, wurde ohne weiteres als Gegenstand
des nationalen Ehrgeizes hingestellt und gegen die Protestationen von fast
ganz Europa durch Gewalt entschieden. Gleichgiltig gegen eine so seltsame
Art, zu verfahren, begrüßten die Deutschen diese gewaltsame Lösung der
Frage als eine eklatante Revanche für die Verträge von 1856 und 18S9.
Von da an gab es also eine deutsche Politik, aber wer sollte ihr Repräsen¬
tantsein? Oestreich, ebenso ehrgeizig, aber weniger geschickt, als Preußen,
beanspruchte diese Rolle. Um sie seinem Rivalen nicht zu überlassen, hatte
es auf Fortsetzung des Kampfes nach Solferino verzichtet, hatte es später
in Frankfurt einen großen Anlauf genommen, sich selbst an die Spitze der Ein¬
heitsbewegung zu stellen. Im Jahr 1864 hatte es sich mit Preußen dahin ver¬
ständigt, den deutschen Bundestag abzuwerfen, wie einen Mantel, der zu ab¬
genutzt ist, um fortan die beiden Athleten zu bedecken, die sich unter seinen '
Falten bekämpften. Der Moment war gekommen, wo das unvermeidli^
Duell langsam zum Austrag kommen mußte. Von diesem Tage an, dem
Tage, wo die beiden Gegner sich Mann gegen Mann stellten, sank das Ge¬
bäude des deutschen Bundes, unter ihren Schlägen erschüttert, zu Boden,
der Tag von Sadowa brach definitiv das Gleichgewicht, auf welchem alle
deutschen Angelegenheiten bis dahin begründet gewesen waren. Seitdem
hat Herr von Bismarck den Deutschen geben können, was ihr Ehrgeiz über
alles ersehnte: die Genugthuung, sich in Europa mitgezählt zu sehen. Der
Preußische Hochmuth im Benehmen, der den Deutschen selbst unerträglich ist,
wenn sie ihn zu ertragen haben, schmeichelt ihrem Stolze, wenn sie ihn gegen
das Ausland gerichtet sehen. Ehemals fühlte sich der Bewohner Thüringens
oder der reußischen Fürstenthümer in Gegenwart eines Franzosen oder eines
Russen gedemüthigt; es schien ihm, als ob diese sich um die ganze Größe
ihres Landes über ihn erhöben. Heutzutage, wenn er auch eine unbestimmte
und poetische Vorliebe für sein „engeres Vaterland" bewahrt, ist er doch
stolz darauf, die Last einer Bundesregierung tragen zu helfen, die einflu߬
reich im Rathe Europas ist. Er hält sich persönlich um soviel würdiger,
Achtung, Respect und Furcht einzuflößen. Selbst diejenigen, welche bei der
Bildung des neuen Bundes am meisten verloren haben, theilen dieses Ge¬
fühl, und es versüßt ihnen die bittersten Opfer.
Die Einheit Deutschlands kann daher als durchgesetzt angesehen werden.
Aber wird Preußen in Deutschland, oder Deutschland in Preußen aufgehen?
Das ist einfach die wichtige Frage, auf die es jetzt ankommt. Unter Preußen
ist hier das preußische Gouvernement zu verstehen, jenes Gouvernement mit
seinen bureaukratischen Ueberlieferungen und seinem alten Erbtheil an Abso¬
lutismus, mit seiner Armee, die, obgleich in demokratischer Weise rekrutirt,
doch in den Händen eines wesentlich aristokratischen Offiziercorps ist — ein
Gouvernement, thätig und intelligent, aber voll Vorliebe für Förmlichkeit
und Despotismus, und sehr geneigt, dem Banner der Cäsarischen Schule zu
folgen; denn das preußische Volk, durch Volksbildung das erste Europas,
dabei thätig und betriebsam und in hohem Grade von Associationsgeist er¬
füllt, denkt nicht daran, sich einmüthig mit einer Regierung zu fühlen, die
so wenig mit feinem eigentlichen Wesen und seinen Instincten übereinstimmt.
Unsere künftigen Beziehungen zu dem mächtigsten Nachbarvolke Frank¬
reichs hängen von der Art der Lösung dieser Frage zwischen Preußen und
Deutschland ab. Ein Deutschland, in welchem Preußen aufgegangen, würde
eine Nation im Centrum Europa's sein, welche von ihren Interessen, ihren
Gewohnheiten und Ideen, zur Ausübung liberaler Institutionen geleitet
wird, ja welche uns vielleicht das Beispiel dazu geben und uns sicher mit
Mer folgen wird, wenn wir so glücklich sind, ihm darin voranzugehen; es
7"-de in socialer Hinsicht ein Staatskörper sein, der alle nothwendigen Ele-
m -e besitzt, um ein Volk frei zu machen, und der doch zu verschiedenartige
Interessen in sich schließt, um jemals angreifend zu werden; eine Nation, die
vielleicht militärischer und doch weniger kriegerisch ist, als wir. Die innere
Entwicklung ihres Gedeihens, die äußere Anerkennung ihres berechtigten
Einflusses, kann mit der Zeit eine Bürgschaft des Friedens werden. Ich
glaube, daß wir dies mit Freuden acceptiren müssen, selbst wenn wir ein
wenig die alte Zerstücklung Deutschlands vermissen sollten. Auf alle Fälle
müssen wir dieser Combination den Vorzug vor einer einfachen Theilung
Deutschlands zwischen Preußen und Oestreich einräumen; eine solche Theilung
würde uns zu Nachbarstaaten zwei Mächte gegeben haben, die immer bereit
gewesen wären, uns in ihre Streitigkeiten zu verflechten, um uns, aus gegen¬
seitiger Furcht, weniger deutsch als die andere zu erscheinen, alsbald wieder
zu verlassen und schließlich gegen uns sich zu vereinigen.
Ein Preußen, in welchem Deutschland aufgegangen, würde dagegen den
in Central-Europa etablirten Cäsarismus bedeuten. Schon die Schwerkraft
eines solchen Regiments, sein Gegensatz zu dem eigentlichen deutschen Wesen,
seine Verletzung zahlreicher Interessen, die Nothwendigkeit, die wirklich libe¬
ralen Bestrebungen durch übertriebene Concessionen an das Nationalgefühl
einzuschläfern, Alles wird es nöthigen, nach außen eine beunruhigende, drohende,
angreifende Politik zu verfolgen. Es wird zu gleicher Zeit eine permanente
Gefahr für den Frieden Europa's und ein harter Schlag für die liberale
Sache sein.
In welchem Sinne wird diese Frage beantwortet werden? Ohne der künf¬
tigen Lösung dieser Frage vorgreifen zu wollen, kann man sie doch in ihre
verschiedenen Elemente zerlegen. Das preußische System hat für sich: das
Prestigium des Erfolgs, das Recht des Sieges, das Vertrauen in die Zu¬
kunft und die äußerste Zersplitterung aller ihm entgegenstehenden Elemente.
Der Triumph des Grafen v. Bismarck hat die Parteien nicht nur in Preu¬
ßen, sondern in ganz Deutschland desorganisirt. Dieser Minister hat damit
angefangen, den Boden seiner eigenen Partei zu untergraben. Er, der das
allgemeine Stimmrecht wiederherstellt, der zuweilen von den Rechten der
Nationen spricht, und der Italien die Hand zu reichen gewagt hat, war
der erklärte Chef der Feudalpartei und der Junker. Man begreift das Ent¬
setzen der preußischen Legitimisten über die Politik ihrers Führers; aber da
der Gehorsam gegen den König ihr oberster Grundsatz ist, so blieb ihnen,
nachdem einmal der König den Grafen hielt, nichts übrig, als ihm zu folgen.
Feindlich allem, was sie mit dem Geschlechtsnamen „Revolutionär" bezeichnen,
feindlich dem Königreich Italien, feindlich den Vergrößerungen Preußens,
die ihren Partikulareinfluß schwächen müssen, sahen sie sich durch denselben
Mann zur Ohnmacht verurtheilt, den sie zur Macht gehoben hatten. . err
v. Bismarck warte« sich darauf gegen die liberale Partei und entriß ihr die
Waffe, mit der sie ihn bis dahin bekämpft hatte. Drei Jahre lang hatte er
der Kammer der Deputirten mit ihrer Majorität von Liberalen die Stirn
geboten. Diese hatte dem Minister, der ihre konstitutionellen Privilegien
mit Füßen trat, nur mit leeren Redensarten geantwortet. Nachdem er so
der Welt gezeigt hatte, wie schwach die liberale Partei im Handeln sei, ersah
er eines schönen Tages seinen Vortheil. Er hatte die liberalen Ideen als
eine Manie erkannt, deren Opfer das 19. Jahrhundert ist, aber er sah auch
die Nothwendigkeit ein, dieser Manie zu schmeicheln, und er wählte dazu die
Stunde, des Triumphes. Kurz nach dem Tage von Sadowa, als das Land,
noch in der Aufregung über die kriegerischen Eindrücke, denselben Männern,
welche bis dahin am standhaftesten sür seine Rechte eingetreten waren, seine
Stimmen entzogen hatte, brachte er eine Jndemnitätsbill vor das Parla¬
ment. Durch nachträgliche Erweisung einer schuldigen Rücksicht erkaufte sich
der preußische Minister die Dienstbarkeit seiner alten Gegner. Die Bill
wurde votirt und noch eine reiche Dotation für den Minister dazu. Auf
diesem Wege weiter gehend, appellirte Herr v. Bismarck kühn an das all¬
gemeine Stimmrecht bezüglich der Wahl einer Constituante. Mit dem Schlag
waren die Liberalen entwaffnet. Durch ihre unfruchtbaren und abstracten
Discussionen daran gewöhnt, nicht mehr die Form der Prinzipien von ihrem
Wesen zu unterscheiden, hatten sie Worte, wie „allgemeines Stimmrecht"
und „deutsche Einheit" soviel gemißbraucht, daß sie all das Verfängliche im
Vorgehen des. ersten preußischen Ministers für sie nicht mehr bemerkten. Die
Partei, welche sich den Namen der liberalen und nationalen gab, fand sich
fast ganz in fein Fahrwasser gezogen. Die weit verbreitete Association des
Nationalvereins ward in seinen Händen zu einem gut benutzten blinden
Werkzeuge. Zu gleicher Zeit suchte er den Regierungen, denen er, gegen
ihren Eintritt in seinen neuen Bund, Lebenscertifikate ausstellte, die Wurzeln
abzuschneiden. Er erschütterte ihre Popularität, indem er ihnen die nämlichen
Militärlasten wie den preußischen Provinzen auferlegte. Die Ausgaben der
kleinen deutschen Staaten wurden fast verdreifacht. So hatte zum Beispiel
das Herzogthum Sachsen-Coburg einige Jahre vorher eine Militärconvention
mit Preußen abgeschlossen, infolge deren es jährlich an Preußen 80 Thlr.
oder 300 Fras. per Mann zahlte; aber diese Ziffer war ein Nachlaß, den
man dem Herzogthum, wie eine Art Lockspeise für die andern, zu einer Zeit
bewilligt hatte, wo Preußen noch ein Ueberbieten Oestreichs fürchten konnte.
Jetzt fordert es von demselben Herzogthum 170 Thlr. oder 637 Fras. SO Ces.
pro Mann. Das Bundescontingent des Großherzogthums Sachsen-Weimar
kostete demselben jährlich gegen 240,000 Thlr. oder 900,000 Fras.-, nach dem
neuen Militäretat den man ihm auferlegt, würde es fortan nahe an 800,000
Thlr. oder 3,000,000 Fras. zahlen. Die kleinen deutschen Regierungen hatten
sich ihre Bevölkerungen zu verpflichten verstanden, indem sie ihnen die er¬
drückenden Lasten ersparten, welche auf ihren mächtigern Nachbarn ruhten.
Es ist die erste Sorge Preußens gewesen, ihnen diesen Vortheil und dieses
Existenzmittel zu entziehen.
Inmitten so ungeregelter Zustände bietet sich das preußische System,
das die Stärke seiner Organisation erprobt hat. als eine Nothwendigkeit für
Deutschland dar. Doch wird es gegen zwei Bewegungen zu kämpfen haben,
die, wenn auch ganz von einander verschieden, doch gleichmäßig seiner Herr¬
schaft zuwiderlaufen — die eine im Norden, welche der Centralisation wider¬
strebt, — die andre, welche den Süden zu dem neuen Bunde hinzieht.
Die erstere erklärt sich leicht. Die Stellung, welche Deutschland erwor¬
ben hat, befriedigt die nationale Eitelkeit. Nachdem man sich nun einmal
in dieser Position befindet, sieht man die Nothwendigkeit nicht ein, alle Tra¬
ditionen, Lokalinstitutionen, Particularinteressen der Gleichförmigkeit mit dem
preußischen System zu opfern. So kommt es, das selbst diejenigen, welche
am eifrigsten die preußische Hegemonie ersehnten, nunmehr finden, daß es an
der Zeit sei, auf diesem Wege innezuhalten; und die reine Annexion an
Preußen zählt weniger Anhänger in den kleinen Staaten, seit dieselben, gut¬
willig oder gezwungen, in den Nordbund eingetreten sind. Ihre Hauptstädte
wissen, was sie verlieren, wenn sie preußische Unterpräfecturen würden. Selbst
die Universitäten, die immer den Hauptheerd für die Einheitsidee bildeten,
wollen nicht vor Berlin die Flagge streichen. In den kleinen Truppentheilen
wird man Gefühlen geheimen Grolls oder eifersüchtigen Neides gegen die
preußische Armee begegnen. Das zahlreiche Verwaltungspersonal endlich
weiß zu gut, daß die Annexion für sie zur Folge haben würde, sie fern von
ihrer Heimath in untergeordnete Stellen zu versetzen und überall in die hö¬
heren geborne Preußen einrücken zu lassen. Die große Menge schwankt.
Preußen scheint ihr zu sagen: „Da ihr alle Lasten der preußischen Unterthanen
tragt, thätet ihr am besten, ihr würdet ganz und gar preußisch und hättet
auch alle Vortheile davon"; aber man fürchtet die despotische Art und Weise
seiner Verwaltungsbeamten; und die Schwierigkeiten aller Art, denen es in
den neu erworbenen Provinzen begegnet, ermuthigen die Anhänger der An¬
nexion in den Nachbarstaaten keineswegs. In der That wissen die kleinen
Staaten des Nordhundes nichts von einer so großen Verwaltungsmaschine,
wie sie für die Einführung eines centralisirenden Despotismus nothwendig
ist, und eine solche würde sich dort weder leicht noch schnell einbürgern.
In entgegengesetzter Richtung läuft die Bewegung der Gemüther in
den deutschen Südstaaten, auf welchen die Jsolirung, die ihnen durch den
prager Frieden auferlegt worden, schwer lastet. Die Mainlinie, die von
Herrn v, Bismarck in gutem Glauben aufgestellt wurde, ist von den Deut¬
schen niemals ernsthaft gemeint gewesen. Sie würde nur mit preußischen
Wachen auf dem einen, und östreichischen auf dem andern Ufer möglich ge¬
worden sein; aber nachdem die östreichische Macht einmal bei Seite geschoben
wurde, waren die prager Stipulationen für die Südstaaten nur eine Art
Buße, nur ein „Nachsitzenlassen", wie es die Schüler nennen, von wo sie früher
oder später wieder erlöst werden müssen. Würden die Süddeutschen die preu¬
ßische Militärherrschaft vielleicht haben bekämpfen können, wenn sie sich zu Vor¬
kämpfern der liberalen Sache in Deutschland gemacht und das Beispiel der Schweiz
und Belgiens nachgeahmt hätten, die, neben mächtigen Nachbarn gelegen,
ihre geringere materielle Macht durch Ueberlegenheit ihrer Institutionen aus¬
gleichen? Man darf daran zweifeln. Um eine Fahne, selbst die der Freiheit,
wehen zu lassen, bedarf es doch immer eines Windes; aber kein Hauch würde
geweht haben, um sie zu entfalten, wenn die Südstaaten sie gegen Preußen
hätten erheben wollen. Jedenfalls haben ihre Regierungen nicht einen Augen¬
blick daran gedacht, ein so gewagtes Experiment zu versuchen. Nord- und
Süd-Deutschland sind nur eine Nation. Nicht einmal die Religionsfrage
theilt sie.
Man nehme zum Beispiel das Rheinthal und die anliegenden Provinzen;
im^Süden sind Baden, Darmstadt und Würtemberg großenteils protestantisch,
während im Norden die Rheinprovinzen und Westphalen fast ganz katholisch
sind. Süddeutschland lebt durch seine enge Verbindung mit dem Norden.
Seine künstlichen Hauptstädte: Karlsruhe, Stuttgart, München, seine alten
Reichsstädte: Regensburg, Augsburg, selbst das industriöse Nürnberg, seine
vornehmste Universität Heidelberg, genügen nicht, um ihm ein eigenes Leben
zu verleihen. Vom commercialen Gesichtspunkte kann sich der Süden gar
nicht mehr vom Norden trennen, in welchem die großen und prosperirenden
Handelsstädte, die industriellen Mittelpunkte, endlich die Mündungen der See¬
straßen liegen. Noch weniger kann er es vom intellektuellen Gesichtspunkt,
denn er empfängt von jenem fast alle Inspirationen, Alles führt daher den
Süden dahin, sich mit dem Norden zu vereinigen; er will es um jeden Preis
und möchte schon jetzt die preußische Suprematie lieber annehmen, als in seiner
gegen-wärtigen Situation verbleiben. Die unüberlegte Forderung einer Grenz-
berichtigung, die von Frankreich im August des vorigen Jahres an Preußen
gestellt wurde, hat hingereicht, um die Regierungen der Südstaaten empfinden
zu lassen, wie sehr sie des Schutzes dieser letzteren Macht bedürftig waren,
und sie haben sich beeilt, mit ihr jenes Bündniß zu schließen, das ihre ganze
Militärmacht zu ihrer Verfügung stellt. Als es sich darum handelte, ob sie
den Zollverein lieber reconstituiren, oder ihn ganz aufgeben wollten, haben
die Südstaaten alle Bedingungen Preußens angenommen — unter Anderem
auch das Veto, das es sich sür den künftigen Zollcongreß vorbehalten hatte.
Diese Zoll-Union ist nur ein kurzer Uebergang, der die wirkliche Union vor¬
bereitet. — Berlin wird das einzig dastehende Privilegium haben, drei Par¬
lamente auf einmal zu besitzen, die für den preußischen Staatsbürger sein
dreifaches Vaterland repräsentiren: sein engeres Vaterland, Preußen, sein po¬
litisches Vaterland, den Nordbund, und sein großes Vaterland Deutschland,
als Zollverein verkleidet. Ein so künstlicher Bau kann keine Dauer haben,
und das Bundesparlament wird in nicht zu langer Zeit aus seinen Bänken
die Repräsentanten von ganz Deutschland sitzen sehen. Aber für jetzt ist es
Preußen, das diesen Moment hinausschieben möchte. Es hat sich beeilt, die
Constitution des neuen Bundes poliren zu lassen, um sie nur mit dem Theile
Deutschlands discutiren zu brauchen, den es zugelassen hatte, und um sie
später den Staaten, welche hinzukommen werden, en bloc auferlegen zu können.
Aber diese Garantie genügt ihm nicht. Das berliner Cabinet wagt nicht,
offen der Bewegung entgegenzutreten, die den Süden zu ihm führt, aber es
möchte sie bis zu dem Moment verzögern, wo es seine jetzigen Bundesgenossen
preußifizirt haben wird. Es will die Artischocke Blatt für Blatt essen. Es
fühlt sehr wohl, daß die Zulassung der Südstaaten dem Widerstande, dem es
im Bundesrathe schon jetzt begegnet, eine solche Verstärkung zuführen würde,
daß es, anstatt das Gesetz zu machen, genöthigt wäre, es sich machen zu
lassen. Vom französischen Gesichtspunkte müssen wir daher aus demselben
Grunde wünschen, daß sich diese vollständige Union so bald als möglich voll¬
ziehe. In den europäischen Angelegenheiten ist sie ja schon durch die Ver¬
träge und mehr noch durch die Gewalt der Thatsachen vollzogen. Die Süd-
staaten sind fortan die unvermeidlichen Hilfstruppen Preußens in allen Kriegen,
die es zu unternehmen für gut finden wird. Durch die politische Union mit
dem Süden wird es keinen Soldaten gewinnen; es wird nur einen Zügel
und ein Gegengewicht gegen seinen eigenen Einfluß in den deutschen Ange¬
legenheiten darin finden.
Damit aber diese Widerstandskräfte sich organisiren und den Anstreng¬
ungen Preußens zur Absorbirung Deutschlands entgegentreten können, darf
kein auswärtiger Krieg eintreten. Kann man auf die Erhaltung des Friedens
hoffen? Der luxemburger Fall hat diese Frage vor wenigen Monaten scharf
hingestellt und alle diejenigen, die sich damals am Vorabend eines schrecklichen
Krieges glaubten, ernstlich nachdenken machen. Ein Straucheln am Rande
des Abgrunds lehrt den Verwegensten Vorsicht. Dasselbe ist mit England
und den Vereinigten Staaten der Fall gewesen, die nahe daran waren, wegen
der Trent-Affaire in Streit zu gerathen. Zuweilen empfindet freilich ein Volk,
das sich zu Hause nicht wohl fühlt, das peinliche Bedürfniß, sein Uebel auf
die Schultern seiner Nachbarn abzuladen. Aber so ist die heutige Stimmung
in Deutschland keineswegs. Der letzte Krieg ist allerdings zum Erstaunen
schnell beendigt gewesen, aber die Leiden, die er verursacht hat, konnten doch
nicht mit einem Federstrich ausgelöscht werden. Die Kugeln Und die Cholera
haben in allen Klassen der Gesellschaft zahlreiche Opfer gefordert; die Trauer
folgte überall. Die Einberufung aller wehrkräftigen Männer hat in Ackerbau,
Gewerbe und Handel eine Stockung gebracht, deren Folgen sich noch heute
fühlbar machen. Die Aussicht auf einen neuen Krieg widerstrebt den Deut¬
schen weit mehr, seit sie in dem jüngsten gelernt haben, welche Schrecken er
nach sich ziehen würde. Selbst nicht einmal der Schlachtendurst, von dem
wan sonst voraussetzt , daß er jeden Soldaten beseele, ist in den deutschen
Heeren allgemein. Die Erinnerung an den letzten Feldzug ist noch zu frisch
bei denen, welche damals gegen die Preußen standen, als daß sie wünschen
wöchten, nun unter ihrem Befehl zu dienen. Was die preußische Armee be¬
trifft, so thut sie weniger groß mit dem Siege von Sadowa 1866, als sie
es mit dem bei Düppel 1863 that; das kommt daher, weil bis dahin ihr
voller Werth, dessen sie sich bewußt war, in Europa nicht allgemein anerkannt
N)urbe. Sie hatte nöthig, ihn durch die That zu bewähren, und hatte für
steh allein in einem großen europäischen Kriege noch nicht die Gelegenheit
dazu gefunden. Je magerer die Lorbeeren waren, die sie in Dänemark hatte
pflücken können, desto mehr fühlte sie das Bedürfniß, dieselben geltend zu ma¬
chen. Heute dagegen, wo sie die seit Waterloo entscheidendste Schlacht gewonnen
hat, wo sie der Gegenstand der Bewunderung in den militärischen Kreisen
der ganzen Welt ist, und wo sie zugleich aus Erfahrung weiß, wie sehr es
auf Schlachtenglück ankommt, hat sich ihre Sprache etwas geändert. Mit
einem Worte, in der ganzen deutschen Nation sind diejenigen, welche auf
Vortheil von einem neuen Kriege hoffen, sehr wenig zahlreich; wer bei den
letzten Ereignissen gewonnen hat, wünscht in Muße die Früchte zu genießen;
wer verloren hat, erwartet von der Erhaltung des Friedens die Gelegenheit,
seinen Verlust wieder gut zu machen.
Aber wenn die Deutschen das Werk ihrer Einigung ruhig zu vollenden
wünschen, so sind sie eben darum sehr eifersüchtig auf jede fremde Einmischung
in ihre inneren Angelegenheiten. Die Idee, den Elsaß und die Lorraine
wieder zu gewinnen, oder Holland zu annectiren, hat in den Augen der
Deutschen niemals für etwas Anderes, als für eine aus dem Hirne irgend
eines Professors der Geschichte entsprungene Chimäre gegolten; aber auch sie
haben ihre Morros-Doctrin: „Deutschland für die Deutschen", und wer immer
einen Eingriff darein versuchen wollte, nicht allein durch Abreißung eines
Stückes von dem Lande, dessen Garnes ihr „großes Vaterland" bildet, son¬
dern auch nur durch eine einfache Intervention in ihre inneren Angelegen¬
heiten, könnte versichert sein, daß er sie Alle gegen sich vereinigen würde.
Das ist eine Thatsache, die sich verheimlichen zu wollen unnütz und absurd sein
würde. Daher auch die Empfindlichkeit, die jeden Augenblick von dem preu¬
ßischen Gouvernement ausgebeutet werden kann, wenn dasselbe Gelegenheit
zu einem Bruch sucht. Als Hr. v, Bismarck, der, wie man sagt, den Verkauf
Luxemburgs gebilligt hatte, sein Wort mit Hinweis auf die öffentliche Mei¬
nung, die sich in Deutschland gegen diesen Handel erhoben hätte, zurücknahm
hat man ihn der Unredlichkeit angeklagt und behauptet, die Aufregung der
öffentlichen Meinung sei eine künstliche und von ihm improvisirte. Dieses
Mal aber hat man ihn verleumdet; die Aufregung war eine wirkliche. Dagegen
könnte es wohl sein, daß Herr von Bismarck an dem Tage, an dem er seine
Connivenz versprochen hatte, nicht aufrichtig gewesen war, denn er wußte
vorher, daß die Stimmung in Deutschland sich energisch über diesen
Punkt aussprechen und ihm, je nach Umständen, die Hände binden würde.
Die luxemburger Frage ist erledigt, und es gibt nur noch wenige Deutsche,
welche die Räumung der Festung als eine nationale Demüthigung ansehen,
aber die Erinnerung an die ganze Sache hat in Deutschland eine schon alte
Idee, welche von Tag zu Tag unheilvoll für die Erhaltung des Friedens
werden kann, befestigt: das ist die Ueberzeugung, daß der Kaiser Napoleon
zum Kriege entschlossen sei, und daß er nur auf eine günstige Gelegenheit
dazu warte. Diese Idee hat sich seit 1839 aller Gemüther bemächtigt, bis
dahin hatte der Urheber des Krimkrieges als Vorkämpfer für die Unterdrück¬
ten, als Beschützer Deutschlands gegen Rußland gegolten. Die Vorsicht
des französischen Gouvernements im Jahre 1866 hat diese Besorgniß nicht
erschüttert; man wußte, daß es nicht fertig zum Kriege war, und das Mi߬
trauen Deutschlands wurde bald durch die vergeblichen Versuche bestätigt,
welche die Tuillerien nach einander machten, Mainz, oder Landau, oder Luxem¬
burg zu erwerben. Die Deutschen kennen seit einigen Jahren, wo sie mehr
mit sich selbst beschäftigt sind, Frankreich weniger. Die bewundernswürdige
Beredsamkeit des Herrn Thiers hat natürlich einen großen Wiederhall jen¬
seit des Rheins gefunden; aber die Deutschen haben von seinen Reden nur
die Ausdrücke behalten, die am absolutesten gegen die Einheitsbewegung
sprachen, ohne daran zu denken, daß die Worte ohne Zweifel ganz anders
gelautet hätten, wenn diese Bewegung nicht die Macht und die Gewalt zu
Helfershelfern gehabt; und ohne weder dem besonderen Standpunkte des großen
Redners, noch der übrigen Discussion Rechnung zu tragen, die derselbe durch
seine Worte illustrirte. Die Deutschen suchten die Ansichten des Gouver¬
nements in den Artikeln des Constitutionell und glaubten in den Spalten-
einiger neuerdings in Paris gegründeten Blätter die einstimmige Meinung
aller Schattirungen der französischen liberalen Partei zu finden; man glaubte
und man glaubt noch, daß wenn der Kaiser persönlich den Krieg mit Deutsch¬
land wünscht, er dazu durch die kriegerischen Gelüste des französischen Volkes
getrieben werde, und man sagte sich dann, daß, wenn der Krieg unvermeid¬
lich, es besser sei, ihn gleich; besser, ihn kurz und gut zu haben, um aus der
Ungewißheit herauszukommen, als eine kurze Frist der Ruhe mit Concessionen
an einen unredlichen Nachbar zu erkaufen. Daher stammt nicht etwa der
Wunsch, den Krieg zu provociren, aber doch kein versöhnlicher Geist, um ihn
Zu vermeiden. Wenn man ihn auch beklagt, so ist man doch gefaßt darauf
wie auf ein nothwendiges Uebel, und wenn er einmal angefangen ist, wird
Man ihn, um ihn um so eher zu beenden, mit Passion führen. Deutschland
treibt Herrn von Bismarck nicht zum Kriege, es wird ihm sogar dankbar
sein, wenn er damit verschont; aber es gibt ihm die Mittel dazu.
Der Friede Europas hängt demnach jetzt von den Interessen der preußi¬
schen Politik ab. Welches ist diese Politik? Herr von Bismarck will, dnß
Man glauben soll, er habe seinen Einfluß bis aufs äußerste angewendet, um
den Ausbruch des Kriegs wegen Luxemburgs zu verhindern. Wie dem auch
sei, die Motive, die ihn im Frühjahr einen Krieg wünschen ließen, und die
Gründe, die er auf der anderen Seite haben mußte, ihn zu fürchten, find
leicht zu erkennen. Die Vorzüglichkeit der preußischen Streitkräfte, die besser
borbereitet und bewaffnet, dabei zahlreicher als die unsrigen und voll Sie¬
gesbewußtsein waren, schien ihm ebenso, wie der Wunsch, die Einheit
Deutschlands am Feuer eines auswärtigen Krieges zu Härten, die Be¬
schleunigung der Krisis anzurathen. Und doch hat nach langem Schwanken
das preußische Gouvernement aufrichtig den Frieden gewollt.
Es hatte die Empfindung, daß es Deutschland überanstrengen würde,
Wenn es ihm schon wieder einen neuen und schweren Krieg auferlegte. Eine
kurze Zeitlang exaltirt, hatte sich die öffentliche Meinung nicht eher wieder
schnell beruhigt, als in dem Augenblick, wo der Conflict am drohendsten
schien. Die Südstaaten, die solche Eile hatten, die Allianzverträge zu unter¬
zeichnen, waren viel weniger eifrig in der Ausführung der Stipulationen.
Sie hatten ihr Militär nur erst desorganisirt, aber noch nicht umgeformt-
Man konnte eine wirksame Mithülfe von ihnen nicht erwarten. Hannover
war durch eine weitverzweigte Verschwörung bearbeitet, die zum Ausbruch,
wie es scheint, nur das Erscheinen der französischen Fahne an der Elbmün-
dung erwartete. Ohne Zweifel würde sie mißglückt oder vor dem, jedem
fremden Eindringling feindlichen Nationalgefühl erlegen sein, aber man konnte
im umgekehrten Fall darin unmöglich ein schweres Symptom und ein Vor¬
spiel zu großen Schwierigkeiten verkennen. Die erklärten Feinde Preußens
in Deutschland trieben am meisten zum Kriege, als wenn sie von einer
Niederlage am Rhein den Umsturz seiner Herrschaft erwartet hätten. Das
gab Stoff zum Nachdenken- Der Krieg wurde vermieden. Die Situation
wird die nämliche im nächsten Jahre sein. Preußen wird dieselben Schwierig¬
keiten zu ^bekämpfen, dieselben Probleme zu lösen haben. Die Südstaaten
werden ohne Zweifel besser organisirt sein, aber ihre Fortschritte werden
denen der französischen Armee in derselben Zeit nicht gleichkommen. Preußen
wird also nicht mehr Interesse am Kriege, als vor einem Vierteljahr, haben;
im Gegentheil, die Gründe, ihn zu vermeiden, werden stärker sein. Mit einem
Worte, die Völker sind darauf gesaßt, aber keineswegs dazu geneigt; das
Gouvernement wird vielleicht durch eine zufällige Verkettung von Umständen
dazu geführt werden, aber es ist weit entfernt, dazu entschlossen zu sein. Der
Krieg ist also möglich, aber durchaus nicht unvermeidlich, und ich möchte nicht
einmal sagen, wahrscheinlich.
Wenn der Krieg zum Ausbruch käme, würde er vielleicht schließlich das
ganze Gebäude der preußischen Herrschaft unterminiren; aber seine erste
Wirkung würde sein, jeden Widerstand gegen diese Herrschaft aufzuheben und
die Vereinigung des Südens mit dem Norden, nicht zum Vortheil Deutsch'
lands, sondern einzig zu dem Preußens, als dem einzigen Repräsentanten
der nationalen Militärmacht, zu vollenden. Wenn dagegen, Dank der Er¬
haltung des Friedens, Dank der schleunigen Zulassung der Südstaaten zum
Nordbunde, Deutschland Kraft genug findet, dem preußischen System die
Stange zu halten und Preußen in sich aufgehen zu lassen, anstatt in ihm
selbst aufzugehen, so kann es im Namen und vermittelst der liberalen Ideen
dasselbe glückliche Resultat erreichen.--
Was im vorigen Jahr möglich war, was Frankreich hätte wünsche»
können, was damals unsern Nachbarn genehm gewesen wäre, ist heute
unwiderbringlich verloren. Die deutsche Einheit, die sich lange vorbereitete,
ist nicht nur überhaupt hergestellt, sondern durch Gewalt der Waffen herge¬
stellt. Aeußere Verwicklungen oder innere Ereignisse können den natürlichen
Lauf der Dinge beschleunigen oder aufhalten. Ein äußerer Krieg kann aus¬
brechen und jeden die Herrschaft des preußischen Systems setzt noch einiger¬
maßen hemmenden Widerstand schweigen machen. Es kann ein Revolutions¬
wind über Deutschland wehen, es kann der König von Preußen, wenn er
nach einander alle Parteien benutzt hat, ohne einer einzigen Vertrauen einzu¬
flößen, eines Tags die Erfahrung machen, daß er sich am höchsten erhebt,
wenn er mit eigenen Händen die natürlichen Stützen seines Thrones wieder
hervorsucht. Wenn dagegen auf den Sturm von Sadowa eine längere Ruhe
folgt, so darf man jetzt schon voraussehen, wie inmitten der Umbildung
Deutschlands die liberalen Ideen erwachen, ihre alten Vertheidiger wieder¬
finden, neue sammeln und gegen das Ueberströmen des Cäsarismus über
Centraleuropa ankämpfen. Ja wer weiß, ob sie, bei günstigem Volkswinde,
nicht eines Tages Herrn v. Bismarck selbst unter ihre eifrigsten Diener zäh¬
len werden.
Wie dem auch sei, eine völlig ungewisse Zukunft läßt sich heutzutage
nicht durchschauen; aber unsere Rolle ist niemals die jener blinden Bewun¬
derer des Erfolgs gewesen, die ihn nur vorauszusehen streben, um ihn von
weitem anzubeten. Müssen wir uns, angesichts einer so tiefen Umwälzung,
wie diejenige, über welche Deutschland in diesem Augenblicke hinwegschreitet,
nicht, ohne mit der Lichtung des Dunkels künftiger Möglichkeiten oder mit
dem Bedauern einer unwiederbringlichen Vergangenheit Zeit und Mühe zu
verschwenden, lieber an billige Beurtheilung der Gegenwart halten? Vielleicht
vermögen wir sogar von jetzt an zu erkennen, wohin sich unsere Sympathien
zu wenden haben, sowohl als Franzosen, wie als Liberale, und ich möchte
wohl auch sagen, als aufrichtige Freunde Deutschlands-
Während die Panzerfregatten „Kronprinz" und „Friedrich Karl" auf
Bestellung der preußischen Regierung in Angriff genommen wurden, ist das
stärkste preußische Panzerschiff, nächst dem englischen auch noch im Bau be¬
griffenen „Herkules" geradezu das stärkste der ganzen Welt, durch einen glück¬
lichen Zufall uns in die Hände gekommen — das Panzerschiff „König
Wilhelm", 23 Kanonen, 11S0 Pferdekraft, 6938 Tons englisch.
Der Sultan ist ein eifriger Freund der Marine; er hegt den Wunsch,
seine Panzerflotte auf einen achtunggebietenden Stand zu bringen, wie er
denn auch fünf schöne Panzerfregatten auf englischen Werften hat bauen
lassen: „Abdul Aziz", „Orkhan", „Osman Ghazy", „Fatikh", „Sultan
Mahmud" — nicht aber „Mahmudieh", denn das ist der Name eines
türkischen Holzlinienschiffs. Es war deshalb, beiläufig bemerkt, kein Zufall,
daß im Juli 1867 hie Engländer, als sie den Sultan empfingen, die Flotten¬
revue auf der Rhede von Portsmouth (Spithead) zu einem glänzenden Schau¬
spiel zu gestalten suchten und dazu sämmtliche ausgerüstete Kriegsschiffe aus
allen Häfen des vereinigten Königreichs zusammenriefen, ja selbst die Schiffe
auswärtiger Stationen, die gerade zur Heimkehr bestimmt waren, zu schleu¬
niger Rückkehr und Theilnahme an der Revue beorderten. — Das Linien¬
schiff „Princeß Royal" hatte auf der Rückkehr von China aus ums Cav
Ordre erhalten, und die Fregatte „Sutlej" kam aus China zu dieser Revue
heimgesegelt. So war denn auch ein Geschwader zusammen, wie es die
Welt noch nicht gesehen, die Hälfte der englischen Panzerflotte mit den Re¬
präsentanten fast aller Constructionssysteme, sodann nicht weniger als 11
Linienschiffe (3 im Hafen von Portsmouth) und eine große Anzahl der schön¬
sten Fregatten, Corvetten und kleineren Schiffe! Mag nun aber auch durch
dieses Schauspiel die Lust - des Sultans zur Erwerbung neuer Panzerschiffe
mächtig angeregt worden sein, vorläufig reichten seine disponiblen Gelder
nicht einmal aus, ein bereits bestelltes Panzerschiff, allerdings ein Schiff vor¬
züglichster Qualität und demgemäß von sehr hohem Preise, vollständig zu
bezahlen. Es war der „Fered", ein Schiff, das einen achtzölliger Panzer,
den stärksten der Welt, und dem entsprechende Dimensionen des Schiffstör-
pers hatte bekommen sollen, und bei der Trames iron vorks loci stip duil-
ämZ eompÄli^ zu Blackwall (London) in Bestellung gegeben war. Als die
türkische Regierung ihren Verpflichtungen nicht in der stipulirten Weise nach¬
kommen konnte, wollte die Gesellschaft natürlich nicht weiteres Geld auf den
kostspieligen Bau verwenden, ließ denselben unvollendet stehn und war froh,
als die preußische Regierung sich zur Uebernahme des Schiffs erbot, dem
man den Namen des gegenwärtigen Königs von Preußen zu geben beschloß.
Der „König Wilhelm", von welchem die Gesellschaft auf der pariser
Ausstellung ein sehr schönes, etwa fünf Fuß langes, völlig aufgetakeltes
Modell ausgestellt hatte, verspricht nach jeder Beziehung ein vorzügliches
Schiff zu werden. Er ist ganz von Eisen gebaut, mit doppeltem Boden,
wie derselbe bei der Fregatte „Kronprinz" in früherer Ur. d. Bl. be¬
schrieben wurde, mit longitudinalen Zellen zwischen beiden Eisenwänden, aber
ohne Querschotten, damit die Ventilation nicht gehindert wird. Seine Di¬
mensionen sind wahrhaft colossal: die Länge in der Wasserlinie beträgt
345'/« Fuß (355V. Fuß engl. über Deck), seine Breite dagegen nur 58'/- Fuß
(genau 60 Fuß engl. über Deck), sodaß die letztere, obwohl sehr bedeutend,
dennoch beinahe nur '/° der Länge ausmacht und, demgemäß bei der colossa¬
len Stärke der Maschine eine sehr große Schnelligkeit erwarten läßt. Trotz
der ungewöhnlichen absoluten Breite des Schiffs wird dasselbe ohne Schwie¬
rigkeit durch die Schleußenthore des Kriegshafens an der Jahde passiren
können und auch der Tiefgang wird dabei nicht hinderlich sein. Denn der¬
selbe ist nicht viel größer, als bei allen andern großen Panzersregatten, im
Durchschnitt 26 Fuß (hinten bei voller Belastung 26'/- Fuß), während die
Tiefe im Raum (zwischen Deckbalken und Kiel) 41'/« Fuß beträgt. Was die
absolute Größe angeht, so gibt es überhaupt nur sechs Kriegsschiffe der Welt,
die den „Königj Wilhelm" (5938 Tons Lästigkeit, 9900 Tons Deplacement)
übertreffen, sämmtlich englische Panzerschiffe: die beiden ersten englischen Pan¬
zerfregatten „Warrior" und „Black Prince", beide von 6109 Tons Gehalt,
sodann der wenig abweichend gebaute „Achilles", 6121 Tons, und die
noch colossaleren fünfmastigen Schwesterschiffe „Minotaur", „Agincourt" und
„Northumberland", deren erster auf derselben Werft wie der „König Wil¬
helm" gebaut wurde, von 6621 Tons. Alle andern Kriegsschiffe sind kleiner,
selbst der mächtige englische „Hercules" mit neunzölligen Panzer hat nur
5226 Tons, und die größten Panzerschisse der andern Nationen noch weni¬
ger, denn die meist angegebenen Tonnenzahlen geben das Deplacement, nicht
aber den natürlich weit kleineren eigentlichen Tonnengehalt, die Lästigkeit, an.
Die Form des Schiffskörpers ist durch den Chefconstructeur der eng¬
lischen Marine entworfen worden. Da nämlich das Schiff ursprünglich
für die Türkei bestimmt war, hatte die englische Regierung, die jeder Star-
kung der türkischen Macht sehr hold ist, ihrem berühmten und erfindungs¬
reichen blick-eollstruetor, Mr. Need. im Jahre 186S gestattet, die Pläne für
das projectirte türkische Panzerschiff zu liefern; jetzt zieht Deutschland den
Vortheil von ihrer Vorzüglichkeit. Die Linien des „König Wilhelm" sind,
mit Rücksicht auf das ungeheure Panzergewicht, unter Wasser ziemlich voll und
rund gehalten. Da indessen volle Schiffe stets mehr Schlingern — seitlich
schwanken — weil sie bei ihrem runden Bau leichter im Wasser um ihre
Längenaxe rollen, als scharsgebaute Schiffe, deren „Kielkante" in das Wasser
einschneidet, so hat man diesem Schiffe, wie schon mehreren englischen Panzer¬
schiffen, unten zwei Seitenkiele gegeben, d. h. man hat ungefähr an den
Stellen, wo der Boden des Schiffs sich seitlich am stärksten aufwärts zu
krümmen beginnt, aus jeder Flanke einen Kiel untergebolzt, dessen Stärke
(Höhe) nach vorn und nach hinten zu allmählich abnimmt, bis er zuletzt ganz
verschwindet.
Auch die Bugform ist eigenthümlich: der Vorsteven (die vordere Kante
des Schiffs) geht nicht senkrecht zum Wasser nieder, sondern beginnt gleich
vom Deck aus mit starker Schrägung nach vorwärts hin zum Wasser abzu¬
fallen, einige Fuß unter Wasser aber, wo sie eine Spitze bildet; in einer
ziemlich vollen Curve zurückzuweichen, bis sie in den Kiel übergeht. Die
Spitze, welche auf diese Weise entstanden ist, zeigt im Profil ziemlich die¬
selbe Form, wie bei den allerneuesten französischen Panzerschifftypen „Ma-
rengo", „Alma", und ist zum Anrennen feindlicher Schiffe bestimmt. Von
vorn betrachtet, ist sie indessen bei weitem voller gehalten, und man erkennt
in ihr unschwer den Reed'schen „Pflugschaarbug" (plouFN-evuItör bon), der
aus einer Modifikation des Dupuis-de-L6me'schen Bug hervorgegangen ist.
Dieser französische Chefconstructeur nämlich ist von der bei Holzschiffen ge¬
wöhnlichen oben aufschießenden Bugform und ebenso von der senkrechten Ste¬
venform der „Moire" abgegangen, und hat bei seinen Panzerzweideckern „Ma-
genta" und „Solferino" eine Bugform gewählt, die unter Wasser weitaus¬
schießt, und über Wasser etwas zurückgelehnt liegt, in dem Bedürfniß, beim Pan¬
zerschiff möglichst viel vom Rumpf unter Wasser zu legen, wo keine Eisen¬
panzerung nöthig ist, und andererseits einen zum Anrennen feindlicher Schiffe
brauchbaren Theil zu haben. Bei der verhältnißmäßig geringen Länge und
großen Breite seiner Schiffe bekam dadurch der Bug über Wasser annähernd
die Form einer Schwanenbrust (s^oans breast) während unter Wasser der
Querschnitt scharf wie früher blieb, in Gestalt eines V. (V-slmxsä too).
Need, der englische Chiefconstructor adoptirte die Veränderung, aber mit
wichtigen Modifikationen. Um dem Vorschiff unter Wasser mehr Schwimm¬
kraft und Tragfähigkeit für eine schwere Bugbatterie oder einen Sporn zu
geben, wandte er die flache, unten breite, im Querschnitt einem I) ähnliche
Form der mittleren Panzerschiffspanten (Rippenpaare) auch im Bug an (II-
KNg.xeä Ka>v*), ließ aber dafür über Wasser die Bugsorm schmaler und schärfer
werden, wie es durch die längere, schmalere Form der englischen Schiffe sich
von selbst ergab, und führte so den „Pflugschaarbug" ein, den wir auch an
unserem Panzerschiff „König Wilhelm" finden.
Auch die Form des Hinterschiffs weicht von der bei Holzschiffen gewöhn¬
lichen Gestalt ab, und ist dem neueren französischen Typus sehr ähnlich, indem
sein Grundriß in dem Theile über Wasser einem Spitzbogen gleicht. Im
Profil dagegen fällt das Hinterschiff, das oben weit über das Kielende über¬
gebaut ist, vom Deck aus mit ziemlich senkrechter Linie in das Wasser ab.
und geht leicht gekrümmt noch ein Stück in dasselbe hinein, sodaß es mit
seinen Ueberhängen die riesige vierflüglige Bronzeschraube völlig schützt. Die
Flügel der Schraube sind übrigens ziemlich rechteckig, nur an der Are ein
wenig schmaler als an der entgegengesetzten Seite, und nach französischem Vor¬
bild in das kugelförmige Ende des Schraubenschafts so eingesetzt, daß sie
nach Bedürfniß unter einem anderen Winkel gestellt werden können. Hin¬
sichtlich der Form der Flügel müssen wir hier bemerken, daß dieselben bei
den neuen französischen Schiffen fast ganz ein Rechteck bilden, damit die
verhältnißmäßig breiten Enden einen ruhigeren Gang geben und das Schiff
weniger durch Vibration angreifen. Dagegen sind die Schraubenflügel der
meisten englischen Schiffe in der Mitte viel breiter als an den Enden, in
Form eines Buchenblattes, dessen Spitze abgeschnitten ist, was offenbar wegen
der Nähe ihres Mittelpunkts an der Achse, also wegen des kleineren Hebel¬
arms einen größeren Nutzeffect erzielen muß. In gleicher Weise wie die
Schraube wird durch das Hinterschiff auch das Steuerruder geschützt, ein
dalaneeä ruäcler, wie beim „Kronprinz" und beim englischen „Bellerophon".
Bei dem letzteren hatte die Einführung des bulanecxl ruciäczr für seine
Steuerfähigkeit und Wendbarkeit wahrhaft glänzende Erfolge gehabt: erfuhr
den Kreis und den Halbkreis, der behufs der Wendung beschrieben werden
muß, in weniger als der halben Zeit wie der „Warrior" mit dem gewöhn¬
lichen Ruder, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß der letztere ziemlich
30 Fuß länger ist; denn er beschrieb' mit Volldampf den Halbkreis in 1
Minute 50 Secunden bis 2 Minuten, den ganzen Kreis in 4 Minuten
22—28 Secunden, und unter Halbkraft den Halbkreis in 2 Minuten 28—32
Secunden, den ganzen Kreis in S Minuten 11—14 Secunden. Bei unserem
„König Wilhelm" werden trotz etwas größerer Länge die Resultate wahr¬
scheinlich kaum weniger gut ausfallen. Dennoch müssen wir uns dem Vor-
schlage anschließen, daß man dem Schiff außer seiner Schraubenmaschine noch
eine vor der letzteren im Raume leicht anzubringende hydraulische Neactions-
maschine wie bei der englischen „Waterwitch" gibt, um das Wenden noch
mehr zu erleichtern*).
Da das Hinterschiff in seinem Horizontalschnitt über Wasser, mit einem
Spitzbogen abschließt, so bildet es jene Kante zum Zertheilen der Wellen,
welche Dupuis-de-Löme zuerst aufgebracht hat, und die wir auch an unserem
„Arminius" zu rühmen hatten. Gerade in der Mitte dieser Kante aber be¬
findet sich in der Höhe der Batterie eine Pforte sür ein schweres Geschütz,
das während eines Rückzugs im Stande ist, von der Mittellinie des Schiffs
aus fast den halben Horizont zu beherrschen, da hie rasch zunehmende Breite
des Hinterschiffs erlaubt, die Lafette auf einer Kreisschiene nach Bedürfniß
seitwärts zu drehen. Die Pforte selbst ist geschmackvoll in die Ornamenti-
rung des Hinterschiffs hineingezogen, um sie als Mittelpunkt gruppiren sich
Bündel von Fahnen in vergoldetem Relief, der goldne Adler mit zurück¬
geschlagenen Flügeln am oberen Theile des Vorstevens, also vorn am Bug,
vertritt würdig das Galjonbild.
Die vorzüglichste von allen Eigenschaften des „König Wilhelm" ist seine
gewaltige Schlachtstärke, d. h. sein unübertroffener Panzer neben einer Geschütz-
armirung, wie sie sich zur Zeit auf keinem Schiff wieder findet. Während
der englische „Bellerophon", das stärkste der bisjetzt fertigen Panzerschiffe,
nach der neuesten Ausrüstung 8 300Psünder in der Batterie, 2 solche hinten
auf Deck und 2 400Pfünder im Bug, also im Ganzen nur 12 schwere
Geschütze führt, wird der „Wilhelm" nicht weniger als 23 Gußstahl- 300Pfün-
der tragen, da man die Ausrüstung durch 33 schwächere Geschütze mit Recht
aufgegeben hat. Ursprünglich sollte die Armirung ebenso wie beim englischen
„Hercules" und beim amerikanischen „Dunderberg" derart vertheilt werden,
daß das Schiff die Vorzüge des Breitseiten- und des Thurmprinzips vereinigte,
— es sollte eine Batterie mit 16 Geschützen, in 7 Fuß Höhe über Wasser,
auf dem Oberdeck vorn und hinten je einen Drehthurm mit 2 ganz schweren
Geschützen, 20 Fuß Höhe über dem Wasserspiegel bekommen. Gegenwärtig
aber scheint man anstatt der Thürme convexe Schilde (siüelds) oder vielmehr
Geschutzdeckungen von eigenthümlicher Form anbringen zu wollen.
Die Panzerdeckung ist derart vertheilt, daß in der Wasserlinie rings um
das ganze Schiff vom vorderen bis zum Hinteren Ende ein hoher, bis 7 Fuß
unter Wasser reichender Pauzergürtel von 8 Zoll starken massiven Eisen¬
platten läuft, der auf einer Fütterung von 22 Zoll Holz festgebolzt ist; die
letztere aber ruht wiederum auf der 2 Zoll starken Eisensand des Schiffs
(also im Ganzen 10 Zoll Eisen), welche das ungewöhnlich starke Eisengerippe
der Spanten bekleidet. Es ist dies eine enorme Stärke: die größte Stärke
der Eisensand bei englischen Panzerschiffen beträgt einen Zoll, die größte
Holzdicke, z. B- beim „Warrior", nur 18 Zoll. Noch erstaunlicher aber ist
die Stärke der Panzerplatten selber. Wie die Erfahrung bei den Schießver¬
suchen gelehrt hat, wächst die Widerstandsfähigkeit massiver Platten im
Quadrat der Dicke: der Panzer des „Wilhelm" hat also die Stärke von nicht
weniger als 64 aufeinander gemieteten zollstarken Schmiedeeisenplatten; Kein
Fahrzeug, das bisjetzt auf dem Wasser schwimmt, hat auch nur eine an¬
nähernd gleiche Stärke. Der englische „Bellerophon", das stärkste bisher
vollendete Panzerschiff, hat bei 6 Zoll massiver Panzerdicke nur die 36fache
Widerstandsfähigkeit der einzölligen Platte; die englischen Panzerriesen
„Minotour", „Agincourt,, und „Northumberland" mit SV2 zölligen Platten
haben nur die 30V«fache Stärke, nicht halb so viel als das preußische Schiff,
dem sie außerdem wegen ihrer größeren Länge an Beweglichkeit und „Ma-
növrirfähigkeit sehr nachstehn.. Und die sämmtlichen anderen englischen Pan¬
zerschiffe, vom „Warrior" bis zum „Lord Clyde" herab, sämmtliche dänische*)
italienische, spanische, östreichische, türkische Panzerschiffe haben bei 4'/-zölligen
Panzer nur die 20'/»fache Stärke. Dasselbe gilt von fast allen französischen
Panzerschiffen, während die stärksten französischen kaum etwas mehr als halb
so widerstandsfähig wie der „König Wilhelm" sind: und die amerikanischen
Monitors mit lOeinzölligen Platten, also nur 10facher starkem den Thürmen,
sind mehr als sechsmal schwächer. Nur unter den im Bau begriffenen
Schiffen ist eine englische Panzerfregatte, welche stärker ist, der „Hercules"
(in Chatham im Bau) mit 9 zölligen Platten in der Wasserlinie, also von 81
facher Stärke der einfachen Platte: sie wird aber diesen Vorzug mit einer
Inferiorität hinsichtlich der Schnelligkeit bezahlen müssen, da sie um 20 Fuß
kürzer und noch dazu einen halben Fuß breiter ist, als der „König Wilhelm",
ein Nachtheil, den die um 30 Pferdekraft stärkere Maschine nicht ausgleichen
kann. Die nächststarken im Bau befindlichen Schiffe, wiederum englische,
der „Monarch" und der „Captain" sind bedeutend schwächer, wenn auch
letzterer 7 zottige Platten, also von 49facher Stärke der einfachen Platte hat.
Selbst auf nahe Distanzen verspricht der „König Wilhelm" unverwundbar
zu werden, er mag sich mit Sicherheit den Kanonen der ganzen französischen
Panzerflotte aussetzen! Diesen Vorzügen entspricht aber allerdings auch der
Preis: ein Schiff mit 8 zölligen Panzer kostet sast eine Million Thaler mehr
als eins mit 5zölligen Panzer, da es weit größere Dimensionen erhalten
muß, um die nöthige Tragfähigkeit zu erzielen, und somit war für den „Fered"
eine halbe Million Pfd. Sterling ausbedungen worden.
Wie erwähnt, bildet die Panzerung des „König Wilhelm" in der Ge¬
gend der Wasserlinie bis. zum ersten Deck hinauf einen vollständigen Gürtel.
Ueber dieses Deck hinaus erhebt sie sich aber nur im mittleren Drittel des
Schiffs, während die Endstücke ungepanzert bleiben und nur aus gewöhn¬
lichen dünnen Eisenplatten bestehn: das mittlere gepanzerte Drittel des Schiffs
aber — das natürlich nicht weiß gestrichen, sondern wie der Rumpf aller
Panzerschiffe völlig schwarz ist, bildet die Batterie, aus welcher jederseits 9
ZOOPfünder ihre Mündungen durch die schmalen hohen Pforten strecken.
Auch diese Batterie hat einen Vorzug, die außergewöhnlich hohe Lage der
Stückpforten. Selbst wenn die See so bewegt ist, daß andere Panzerschiffe
ihre Stückpforten schließen müssen, damit nicht das Wasser hereinströmt, wird
das Schiff durch Schüsse den Gegner zu schädigen im Stande sein. Am
schlimmsten in dieser Beziehung sind die ersten französischen Panzerschiffe wie
die „Gloire" daran, deren Pforten 4—ü Fuß über Wasser liegen sollen,
aber auch das noch nicht einmal erreichen. Die meisten Panzerschiffe andrer
Flotten haben 6—7 Fuß Batteriehöhe; noch etwas höher liegen die oberen,
aber eben darum nur leicht armirten Batterien der französischen Panzerlinien¬
schiffe „Magenta" und „Solferinv": als einer der größten Vorzüge des eng¬
lischen „Warrior" wird seine Batteriehöhe von 9'/- Fuß betrachtet. Bei
„König Wilhelm" liegen die Stückpforten der Batterie nicht weniger als
11V- Fuß, die panzergedeckten Oberdecksgeschütze sogar 17—18 Fuß über
Wasser, und zwar geschützt, nicht offen, wie die Pivotgeschütze der offenen
festen Deckthürme bei den französischen Typen „Alma" und „Marengo". An
beiden Enden ist die Batterie gegen die ungepanzerten Enden des Schiffs
durch hohe gepanzerte Querwände abgeschlossen, die wie die Flanken der Bat¬
terie vom Batteriedeck (main clizelc) bis zum Oberdeck reichen und die Geschütze
gegen das gefährliche Ensilirfeuer schützen. Die vordere Panzer-Querwand
ragt sogar noch über das Oberdeck empor, und hilft dort die Back bilden,
wobei sie der „schweren Bugbatterie", wie die Engländer sagen, als Deckung
dient. In dem Batteriedeck aber finden wir, da nur der mittlere Theil des
Schiffs für die Aufnahme von Geschützen bestimmt ist, auch nur in der Mitte
Geschützpforten eingeschnitten, hoch und schmal wie bei allen englischen Pan¬
zerschiffen, und zwar 14 an der Zahl, entsprechend der früher beabsichtigten
Armirung. In den beiden ungepanzerten Theilen des Batteriedecks dagegen,
die als Aufenthaltsort für die Besatzung dienen sollen, zeigen sich kleinere
Pforten mit Glasfenstern.'
Das Oberdeck, welches die Batterie nachoben hin abschließt und rings
von einer niedrigen Brüstung umschlossen wird, bietet außer den darauf ver¬
streuten 10 Booten des Schiffs nichts auffallendes. Das Deck ist völlig
glatt, ohne Erhöhung, hinten ohne Schanze, indem es hier spitzbogig
endigt; auf dem Deck befindet sich hinten das Steuerrad, dicht unter dem un¬
geheuer langen Giekbaum des Besahnsegels, welcher sogar noch über die
äußerste Spitze des Heath hinwegragt. Aus der Mittellinie des Decks
streben die 3 außerordentlich hoch und stolz getakelten Masten empor.
Quer vor dem hintersten, dem Kreuznaht, läuft auf mannshohen Eisen¬
säulen eine Commandobrücke über das ganze Deck hinweg, die in ihrer
Mitte ein offenbar ungepanzertes achteckiges Commandanten- oder Compaß-
häuschen trägt, und mit ihren Enden sogar noch über den Bord heraus¬
ragt und halbkreisförmig abschließt, damit der Commandirende jede Flanke
des Schiffs bequem übersehen kann. Unter diesen Enden der Commando¬
brücke scheint man zwei gepanzerte halbrunde Thürme anbringen zu wollen,
die Consolen ähnlich aus der Wand herausstehn, wie bei den neuen fran¬
zösischen Typen „Marengo" und „Alma". In jeden dieser Thürme soll ein
Pivotgeschütz hineinkommen und dann wie von einer Festungs - Caponniere
aus die ganze Schiffsseite durch seitliche Bestreichung nach hinten und nach
der Flanke beschützen. Vor der Commandobrücke, aber bedeutend weiter nach
vorn, erhebt sich der Großmast und dann die beiden hohen, weißen, vor
einander stehenden Schornsteine der Maschine zwischen denen sich eine zweite
gleiche Commandobrücke von Bord zu Bord zieht. In nächster Nähe kommt
sodann der Fockmast mit seiner ganzen ungeheuren Masse stehenden Tau¬
werks, und schließlich folgt die Vorrichtung sür Aufstellung der Bugbatterie.
Den vorderen Theil des Oberdecks nimmt nämlich eine eigenthümlich gestal¬
tete Back ein. Bekanntlich ist die Back bei gewöhnlichen Schiffen ein Ver¬
schlag, welcher dadurch gebildet wird, daß die vordere Spitze des Oberdecks,
welche schon durch eine mannshohe Brüstung auf beiden Flanken und vorn
umfaßt wird, nach hinten durch eine Querwand abgeschnitten und nach oben
durch ein leichtes Deck geschlossen wird. Auf dem „König Wilhelm", ist aber
die abschneidende Querwand nicht gerade, sondern hat in der Mitte eine
Ausbiegung nach vorn, um nicht an den hier stehenden Fockmast zu treffen;
sie reicht auch vorn nicht bis zur Spitze des Fahrzeugs, sondern ist hier
durch eine flach gewölbte Panzerwand abgeschlossen, sodaß der vorderste spitze
Theil des Oberdecks ganz ohne Brüstung (blos mit einem niedrigen Eisen¬
stabgeländer) dahin läuft und den Kanonen der gepanzerten Querwand
freies Schußfeld läßt. In der Back befindet sich nämlich eine starke Bug-
batterie, wie die Engländer es nennen, indem durch zwei Pforten in der
vorderen Querwand zwei Geschütze gerade über das leere Oberdeck hinweg
nach vorn hinauszielen, (vollständig so , wie bei der russischen Panzerfregatte
„Sebastopol"); zugleich aber sind dieselben durch Kreisschienen in den Stand
gesetzt, auch nach der betreffenden Flanke der Back hinaus durch eine
dort angebrachte Stückpforte seitwärts zu feuern, genau wie beim Case-
mattensystem. — Die Anker sind auf dem Oberdeck nach neuer französischer
Art verstaut, so, daß der Schaft längs des Deckrandes, und der Stock senk¬
recht längs der Schiffsseite liegt; und daß der eine Arm durch eine Oeffnung
in den Reilings horizontal auf Deck gezogen, platt auf dem letzteren ruht,
während nur der andere Arm Honzontal nach außen steht.
Die Takelage des „König Wilhelm" ist eine Vollschifftakelage mit 4
Raasegeln und einem Gaffelsegel (Schoonersegel, er^-rail) an jedem Mast,
das Bugspriet mit dem langen Klüverbaum gibt dem keiner Fregatte etwas
nach, und die Masten mit Stengen und besonderen Bramstengen sind be¬
deutend höher und stolzer als bei der, von derselben Compagnie gebauten,
schönen spanischen Panzerfregatte „Victoria".
Während Schiffe mit besonders dicker Panzerung nicht schnell zu sein
pflegen, verspricht der „König Wilhelm" eine bisher unübertroffene Geschwin¬
digkeit zu erreichen, die sogar auf 13 Knoten geschätzt wird. Für eine
Schnelligkeit über 14 Knoten bürgt seine im Verhältniß zur Breite sehr be¬
deutende Länge, und die schon des Panzergewichts wegen nöthigen colossalen
Dimensionen, sodann die vortrefflichen Linien des Schiffs, bei deren Zeich¬
nung alle Vortheile der neuern englischen Construction zur Anwendung ge¬
kommen sind, endlich die 1130 Pferdekraft (nommat) starke Maschine aus der
bekannten Fabrik von Maudslay Son and Mett, welche fast bis auf das
Sechsfache, bis zu mehr als 6000 indicirten Pferdekräften auszuarbeiten ver¬
mag. Der englische „Warrior" hat mit etwas geringerem Deplacement und
geringerer Breite, aber größerem Tonnengehalt und einer weniger leistungs¬
fähigen Maschine (3469 indieirte Pferdekraft) eine Schnelligkeit von 14,3
Knoten erreicht; der englische „Bellerophon", das allerstärkste Panzerschiff,
das sich jetzt auf den Fluthen wiegt, hat bei seiner Probefahrt am 17. Aug.
1866 in Stokes Bay mit einer größeren Maschinenleistung (6400 indicirten
Pferdekräften) aber dafür auch viel geringerer Länge") 14,2 Knoten erreicht.
Die Fertigstellung des „König Wilden" durch die Thaues Iron Works
in Blackwall, wo auch eins der drei größten englischen Panzerschiffe, der
„Minotaur" gebaut ist, wird sich erst im Sommer dieses Jahres bewirken
lassen. Trotzdem aber und trotz des enormen Preises von 3,710,000 Thlr.,
welche das Schiff mit Ausrüstung kostet, betrachten wir die Erwerbung
desselben als ein glückliches Factum- Bereits haben fachmännische Autoritäten
in der Times den „König Wilhelm" als das stärkste Schiff der Welt ge¬
rühmt. Und auch das etwas überschwengliche, jedenfalls durch Courtoisie
gefärbte Urtheil des amerikanischen Admirals Farragut, der neulich die euro¬
päischen Häfen besuchte, ist insofern richtig, als die Qualität unsrer Panzer¬
flotte im Ganzen keiner anderen nachsteht, sondern im Gegentheil die meisten
übertrifft. Auch unsere kleine Flotte wird, wie früher unsere Armee, im all¬
gemeinen unterschätzt und ist viel leistungsfähiger, als man gewöhnlich
annimmt, und gleichgroßen Abtheilungen jeder anderen Flotte sicher ge¬
wachsen.
Wenn die Schnelligkeit des „König Wilhelm" ihn befähigen soll, sich
feindlichen Widderschiffen zu entziehen, so wird dafür kaum weniger wünschens¬
wert!) eine bedeutende Lenkbarkeit und Manövrirfähigkeit, welche diesem Schiffe
bei seiner großen Länge jetzt abgeht. Wir möchten aus diesem Grunde einen
Vorschlag wiederholen, der bereits von anderer Seite in der Seezeitung
»Hansa" gemacht ist, den wir aber nicht unbedeutend modificiren müssen; es
ist der Vorschlag, beim „König Wilhelm" — und bei allen andern Panzer¬
fregatten — eine hydraulische Reactionsmaschine als Hilfsmaschine einzuführen.
Zu den vier Systemen von Dampfschiffen oder Dampfschiffmotoren, als
gewöhnliche Raddampfer, Patentschaufel-Naddampfer, Schraubendampfer und
Zwillingsschraubendampfer, ist neuerdings noch ein fünftes System gekom¬
men, das System der hydraulischen Neactionsmaschinen, welches von
dem schottischen Ingenieur Ruthven und dem Stettiner Schiffsbaumeister Sey¬
dell erfunden und ausgebildet und dann bei einigen kleinen Privatdampfern,
sowie bei dem neuen englischen Panzerkanonenboot „Waterwitch" (Wasser¬
nixe) zuerst zur Anwendung gebracht worden ist. Durch eine große Anzahl
Oeffnungen im vordern Theile des stachen Schiffsbodens tritt das Seewasser
in einen Längencanal und dann in eine niedrige aber sehr breite eiserne
Trommel, in welcher ein horizontalliegendes großes Schaufelwurfrad von
17 Fuß Durchmesser durch drei Cylinder schnell um seine senkrechte Are
gedreht wird. Durch die Fächerstrahlen dieses Rades erhält das Wasser in
der Trommel einen gewaltigen Schwung, und wird durch eine Röhre in
^r Schiffswand jederseits in heftigem Strome nach dem Hinterschiff wie ein
Spritzenstrahl herausgeschleudert, sodaß es sich auf das äußere Seewasser
stützt und damit das Schiff vorwärts treibt. Durch Stellung der Ausfluß-
rochren oder der Ventile läßt sich der Wasserstrahl auch nach vorn richten
Und das Schiff wird dann mit gleicher Schnelligkeit rückwärts getrieben. Die
Vortheile dieser Construction liegen hauptsächlich darin, daß während der
Bewegungen des Schiffs nach vorn, nach rückwärts oder während des Still¬
stehens die Maschine stets in gleichmäßigem Gange bleibt und bloß die Aus¬
flußröhren anders gestellt werden, was sich vom Commandantenthurm aus
bewirken läßt und das Schiff für das Manövriren ganz in die Hand des
Capitäns gibt, ein Vortheil, der namentlich für Widderschiffe überaus wich¬
tig ist. Die Nachtheile des Prinzips sind dagegen folgende. Der Motor,
welcher aus das Wasser außerhalb des Schiffs wirkt, also hier der Spritzen-
strahl, ist kein fester, sondern ein flüssiger Körper, kann also nie so stark
wirken und das Schiff so schnell machen, wie z. B. die festen Platten des
Patentschaufelrades. Ferner liegen die Ausflußröhren bei der „Waterwitch"
ganz über Wasser (die Unterkante gerade in der Wasserlinie), sind also trotz
der Panzerung dem Verbiegen durch Schüsse des Feindes ausgesetzt, und
wirken außerdem nur auf die obere leichte Wasserschicht, nicht auf die
schwereren unteren Wasserschichten. Auch die Erwartung, daß der Spritzen¬
strahl, wenn er in ganz kleinem Winkel auf die Wasserfläche auftrifft, den¬
selben Widerstand finden soll, wie eine auf dem Wasser ricochettirende Ka¬
nonenkugel, dürfte sich nur bei ganz glatter See realisiren, während schon
die kleinsten Wellen bedeutend hindern müssen und außerdem die Verände¬
rung des Tiefgangs infolge des Kohlenverbrauchs störend wirkt. Aber auch
bei den günstigsten Verhältnissen, wie bei der Admiralitätsprobefahrt in
Stokes Bay am 9. Aug. 1867, erreicht die „Waterwitch" infolge der gerin¬
gen Consistenz ihres Propellers nur 9,233 Knoten Schnelligkeit und macht
den ganzen Kreis in 4 Min. 10 See., die Drehung um die Achse in 6 Min.
46 See.', während das Zwillingsschrauben-Panzerkanonenboot „Viper" trotz
seines größeren Tiefganges und trotz seiner um 2 Fuß geringeren Länge
9,333 Knoten Schnelligkeit erreichte, und ebenso den vollen Kreis in 3 Min.
20 See., die Drehung in 3 Min. 7 See. beschrieb. Der Vortheil für das
Wenden des Schiffs, welchen zwei von einander unabhängige Motoren auf bei¬
den Seiten des Schiffs haben, wird auch dadurch geschwächt, daß die drehende
Kraft in der Mitte, nicht an den Enden des Schiffs wirkt. Beim Schlingern
Zeitlichen Schwanken) des Fahrzeugs muß außerdem der Querschnitt der
Ausflußröhren, sobald diese unter Wasser kommen, in letzterem nach vorn
großen Widerstand finden. Ebenso halten wir es für unzweckmäßig, daß
das Wasser durch den Boden des Schiffs eintritt. Denn durch den Zug,
welcher im Canal entsteht, wird das Schiff mit Nothwendigkeit vorn nieder¬
gedrückt, und während ein Theil der Maschinenkraft zum Einsaugen des
Wassers dient, also sür das Ausspritzen nicht zur Wirkung kommt, muß die
Maschine die ganze Bugfläche ohne jede Verminderung durch das Wasser
pressen.
Diese letzteren Uebelstände können aber nach unserer Meinung vermieden
werden, und unser Vorschlag für den „König Wilhelm" geht deshalb dahin,
die hydraulische Reaction nicht so wie bei der „Waterwitch" anzuwenden,
sondern nur als Hilfsmaschine *).
Auch in der Batterieeinrichtung sei eine Verbesserung für den „Kö¬
nig Wilhelm" vorgeschlagen. Das gewöhnliche Breitseitensystem ist keineswegs
so vollkommen, daß man sich mit demselben begnügen könnte, wenn es auch
bis jetzt seiner Deckhöhe und folglich seiner Seetüchtigkeit**) wegen bei den
für die hohe See bestimmten Panzerflotten das geeignetste ist, sodaß die letz¬
teren jetzt ausschließlich aus Breitseiten-Panzerfregatten gebildet werden.
Radical läßt sich nun den Fehlern der jetzigen Hochseeschiffe nur durch ein
neues System abhelfen, das allein bei ganz neu zu erbauenden Schiffen an¬
wendbar ist, und das wir später erwähnen werden. Aber bei den vorhan¬
denen Panzerfregatten kann man einem Theil der Uebelstände durch Annahme
einer Einrichtung begegnen, welche Reed vor einigen Jahren erfunden und
z. B. bei der „Pallas" zur Anwendung gebracht hat; dies sind die „Jn-
dents", eine äußerst sinnreiche Erfindung.
Man denke sich eine Breitseiten-Panzerfregatte mit Geschützpforten, die
außerordentlich weit von einander stehen, wie es ja bei den Schiffen der Fall
ist, welche nach dem neuesten System sehr schwere, aber darum wenige und
weit abstehende Geschütze führen. AM der Wandlänge aber, die zwischen
je zwei Pforten steht, denke man sich das mittlere Drittel herausgenom¬
men, sodaß ein breites viereckiges Loch von der Höhe der Pforten in
der Schiffswand entsteht. Von den beiden senkrechten Kanten dieses Loches
gehen dann zwei gleich hohe Panzerwände convergirend nach dem Innern
des Schiffs hinein, und treffen einige Fuß von der Schiffswand nach innen
mit einem mehr oder minder spitzen Winkel zusammen. In der Mitte jeder
dieser Panzerwände ist nun eine neue Geschützpforte eingeschnitten; jedes Ge¬
schütz hat infolge dessen auf jeder Flanke, d. h. in dem Ausschnitt rechts
und links von seinem Platze, eine solche „Irdene"-Pforte, und kann durch
diese, wenn es auf seiner Kreisschiene entsprechend gedreht wird, schräg nach
vorn oder nach hinten feuern, außerdem natürlich auch rechtwinklig nach der
Seite durch seine gewöhnliche Pforte. Das System bietet mannichfache Aehn-
lichkeit mit der bastionirten Front einer Festung. Denkt man sich eine ganz
gerade Enceinte mit Bastionen darin, bei welchen die Spitze nicht durch eine
Fläche gebildet wird, sondern durch eine einfache, der Enceinte parallele Face
ersetzt ist, während die Courtine auf Null reducirt ist, die Bastionsflanken
also in Winkeln zusammenstoßen, so hat man vollständig den Grundriß einer
Panzerfregattenbatterie mit Reedschen „Jndents". Bisher haben die Eng¬
länder die „Jndents" nur bei den beiden äußersten Pforten der Batterie auf
jeder Seite angewandt, sodaß bloß die beiden vordersten und die beiden hin¬
tersten Geschütze jeder Batterie nach vorn bez. nach hinten feuern können.
Wir möchten vorschlagen, diese Einrichtung für alle Pforten, der Batterie
anzunehmen und zu Gunsten dieser größeren Verwendbarkeit der Geschütze
deren Zahl noch mehr zu vermindern. Die Pforten werden dann, dem neueren
schweren Kaliber entsprechend, sehr bequem und weit von einander zu liegen
kommen, wobei die „Irdene" - Wände außerdem noch den Geschützen gegen
Enfilirfeuer oder Granatsplitter in der Art Schutz gewähren, wie die Tra¬
versen der Fortification. Ferner möchten wir, behufs Ersparniß an Panzer¬
gewicht und an gedeckten Raum die innere Spitze jedes „Irdene" durch eine
längsschiffs laufende Panzerwand abgeschnitten haben, welche die inneren
Schartenbacken der „Jndents"-Pforten verbindet, die Stellung der Courtine
einer Festung einnimmt, und somit die innere Spitze der jetzigen Panzerwände
wegzulassen erlaubt. Endlich bringe man noch leichte Schiebethüren von
Pfortenhöhe aus V° zölligen Stahlblech über oder unter den Jndents an,
die im Gefecht weggeschoben sind und die Irdene-Pforten demaskiren, auf
Seereisen aber vorgeschoben sind, sodaß die Wellen sich in dem Ausschnitt
nicht fangen können. Dann wird das Bveitseitensystem soweit als möglich
verbessert sein; sämmtliche Geschütze könnten in einem Winkel von etwa 30
Grad mit dem Kiel nach vorn und nach hinten feuern; das Schiff braucht
sich bei Beschießung eines Gegners blos schräg mit dem Bug gegen denselben
hinzulegen und wird so einmal die Zielfläche um mehr als die Hälfte ver¬
mindern und dann die Panzerung durch ihre schräge Stellung ganz außer¬
ordentlich verstärken. Der Umstand, daß dabei wegen der vielen Ausschnitte
die Panzerwand etwas weniger deckt, kommt nach dem Grundsatz, daß die
Möglichkeit, etwas zu leisten, wichtiger ist als die gute Deckung, nicht in
Betracht, und ebensowenig gilt dies von der Anforderung, daß die oberen
Theile der Spanten theilweise etwas anders geformt werden müssen. Will
man überhaupt neue Breitseiten-Panzerfregatten bauen, so möchten wir sie
ausschließlich nach den eben beschriebenen Borschlägen ausgeführt sehen, und
ebenso sollte man vor allem untersuchen, ob nicht auch bei den beiden fertigen
Panzerfregatten und denjenigen Fregatten, die sonst auf irgend eine Weise
in unsern Besitz kommen könnten, sich eine Modification dieser Art herbei¬
führen ließe, welche die Verwendbarkeit der Geschütze geradezu um das Drei¬
fache steigert. Namentlich aber beim „Wilhelm", der ja noch im Bau be¬
griffen ist, sollte man diese Aenderung vornehmen und ihm außerdem auf
dem Oberdeck am Bug und am Heat je eine Colessche Kuppel mit zwei ganz
schweren Geschützen geben. Die Einrichtung fester, eonsolenartig etwas aus¬
springender Thürme nach Art der auf den französischen navires g, tourellcz
(z- B. „Marengo"), befindlichen Thürme mit je einem Geschütz g. Ja bardstw,
wie sie Reed auch beim „Wilhelm" projectirt hat, gestattet erstens nur vier
große Kanonen (über den vier Ecken der Mittschiffsbatterie) anzubringen und
läßt diese nebst den Geschützeommandeuren ungedeckt*). Außerdem würde
der „Wilhelm" bei seiner jetzigen Steuerfähigkeit doch feindliche Widderschiffe
zu fürchten haben, wenn auch die meisten französischen Seeoffiziere (so auch
Keronstret in der letzten Revue Ass äeux Noncles) die Leistungsfähigkeit der
letzteren allzusehr überschätzen, und namentlich den Umstand nicht genügend
würdigen, daß Widderschiffe eine sehr überlegene Schnelligkeit haben müssen,
und meist vor ihrer Annäherung von einem Gegner mit sehr schwerem Ka¬
liber werden in den Grund gebohrt werden. Gerade für den letzteren Zweck
aber werden unsere Vorschläge von höchstem Nutzen sein. Mit „Jndents"
und mit hydraulischer Neactionsdrehung wird dem „König Wilhelm" eine volle
Ausnutzung seiner colossalen, allen andern Schiffen weit überlegenen Geschütz¬
ausrüstung möglich und seine Schlachtstärke um das Doppelte vermehrt werden.
Der Chiefconstructor Need hat für England als Prinzip aufgestellt,
England müßte jederzeit ein Schiff mit bessern Eigenschaften besitzen, als
alle andern Flotten, das die letztern zittern macht, wie einst der „Meri-
mae" die Holzschiffe und ganze Geschwader schwächerer Fahrzeuge aufwog.
Gegenwärtig nun ist der „Wilhelm" allen andern Kriegsschiffen der Erde
überlegen, durch seine stärkere Geschützausrüstung auch dem „Hercules", und
nach diesem Grundsatz würde die norddeutsche Flotte schon jetzt einen ge¬
wissen relativen Porsprung vor den übrigen haben.
A. F. C. Vilmar, Handbüchlein für Freunde des deutschen Volksliedes. Zu Mar¬
burg in Hessen gedruckt und verlegt von Joh. Aug. Koch 1867.
Dieses Büchlein, welches uns Veranlassung gibt, auf das Verhältniß
seines Verfassers und der von ihm geleiteten sog. christlich-conservativen Partei
in Hessen zu Preußen etwas näher einzugehen, ist aus Vorlesungen ent¬
standen, die der damalige Gymnasialdirektor Dr. Vilmar im Winter 1844/45
vor einem gemischten Publikum in Marburg gehalten hat. Während die
Vorträge, die derselbe ein Jahr früher über die Geschichte der deutschen Lite¬
ratur vor denselben Zuhörern gehalten hatte, schon längst dem großen Publi¬
kum übergeben waren (1844) und in einem Dutzend starker Auflagen ver¬
breitet sind, hat das Manuscript dieses „Handbüchleins für Freunde des
deutschen Volksliedes" ruhig im Schrein seines Verfassers gelegen. Obwohl
vielfach dazu aufgefordert, konnte derselbe nicht dazu gelangen, es dem Druck
zu übergeben. Da kam das Jahr 1866 und zu der äußern Anregung „kam
eine stärkere innere". „Arnim", so heißt es im Vorwort, „gab in der Zeit
des tiefsten Elends und der tiefsten Erniedrigung Deutschlands seine Zeit¬
schrift heraus „Trösteinsamkeit, eine Zeitung für Einsiedler" — für diejenigen
bestimmt, welche dem Gram und Schmerz über das Vaterland auf Augen¬
blicke, sich mit der Poesie in die stilleste Einsamkeit zurückziehend, entgehen
wollten. Das entsetzliche Unglück meiner angestammten Fürsten und meines
Vaterlandes ließ mich nach einer Beschäftigung greifen, in welcher ich den
Zorn über den ungeheuern Abfall von dem Worte Gottes und den Abscheu
vor den Abgefallenen, wenn auch nicht überwinden, doch zeitweise vergessen
konnte. Denn wenn diese Empfindungen durch die Beschäftigung mit dem
Worte Gottes, worin meine Berufsarbeit besteht, genährt und gesteigert
werden, und dies so und nicht anders sein kann und darf, so sehnt man sich
doch in menschlicher Weise nach Augenblicken der irdischen Erholung und
Abspannung. Das alte treue Volkslied, die unvergängliche Harmonie des
Volksgesanges alter Zeit, hat wenigstens soviel vermocht, mich auf Stunden,
auf Tage, der quälenden Gedanken an das Entsetzen der Zeit zu überheben
und das finstere Grauen der Gegenwart auf Augenblicke in der sonnenhellen
Heiterkeit der Dichtung untertauchen zu lassen." Betrachtet man nun aber
das Büchlein näher, so wird man bald erkennen, worin die Beschäftigung
des Verfassers mit seinem Manuscripte hauptsächlich bestanden hat. Denn
abgesehen von vereinzelten Literaturnachträgen, die gar nicht zu umgehen
waren, ist dasselbe — vielleicht nur hier und da gekürzt —unverändert abge¬
druckt und mit einigen Kraftstellen über das Jahr 1866 und die gegen¬
wärtige politische Situation gewürzt worden. So heißt es z. B. S. 93 zu
dem Liede Fr. Försters „Zum Gedächtniß des Ausrufs der Freiwilligen":
Mit diesem Liede, welches schon damals (1820) ein Trauerlied war, stehen
wir an dem schon längst mit Rasen bewachsenen Grabe einer früh verstor¬
benen Jugendgeliebten. Im Jahre 1863 am 18. October haben wir eine
große und schöne Zeit begraben, und 1866 das Grab der Erde gleichgemacht-
Gegenwärtig dient es als Exerzierplatz." In offenbarer Anspielung auf die
von Hand zu Hand unter den Getreuen Hessens herumgehenden Reime¬
reien auf das Unglück des angestammten Fürsten bemerkt er zu einem Lied
auf den Herzog Ulrich von Würtemberg: Gedruckt ist das Lied wohl niemals
worden; es mochte in jener Zeit vielleicht nicht einmal möglich sein, es zu
veröffentlichen und wird nur unter den einverstandener Treuen handschriftlich
umgegangen, auswendig gelernt und unter Vertrauten gesungen worden
sein, wie dergleichen Lieder auch in späteren Zeiten und bis auf diesen Tag
nur unter den ihren verjagten Fürsten treu gebliebenen Unterthanen zu ihrem
Troste und ihrer Erhebung handschriftlich verbreitet worden sind und noch
verbreitet werden."
Waren es also für Herrn Vilmar wesentlich nur politische Gründe, die
ihn bewogen, jetzt mit seinem Handbüchlein hervorzutreten und seinem Schmerze
„über den ungeheuern Abfall vom Worte Gottes" Ausdruck zu geben, so
wird er es uns auch nicht verübeln dürfen, wenn wir daran eine Besprechung
seines politischen Verhaltens im Licht seiner Vergangenheit anknüpfen, ohne
über das Jahr hinauszugehen, welches für alle politischen Männer unseres
Volkes ein entscheidendes war, das Jahr 1848/) Wir werden dieses um so
eher dürfen, als das Handbüchlein, abgesehen von seiner ansprechenden Dar¬
stellung, die ihm gewiß einen großen Lesekreis bei den Geistesverwandten
seines Verfassers sichert, wenig neues darbietet.
Es ist ein stehendes Thema der reactionären Presse in Preußen, auf den
Zwiespalt hinzuweisen, der in dem Lager der Liberalen herrsche und zum
Untergange des ganzen Liberalismus führen müsse. Und doch hätte sie vor
allem Noth, sich des Wortes vom Splitter in des Bruders Auge und dem
Balken in dem eigenen zu entsinnen. Denn wenn auch in der großen
liberalen Partei über die wichtigsten Fragen tiefgehende Meinungsdiffe¬
renzen herrschen mögen, so ist doch der Zwiespalt, der im entgegengesetzten
Lager ausgebrochen ist, noch viel größer und der Haß, der hier entbrannt
ist, der Natur der Partei nach noch viel ingrimmiger. Was es für eine
Bewandtnis) mit dem christlichen Conservativismus habe, liegt jetzt dem blö¬
desten Auge klar. Denn hat nicht die christlich-conservative Partei immer
von sich gerühmt, sie sei die einzig solide und fest geschlossene? Und wie
sieht es jetzt mit dieser Geschlossenheit aus, nachdem die erste größere poli¬
tische Wandlung in Deutschland vorgegangen ist? notorisch ist, daß die
conservative preußische Negierung sich in den neuen Landestheilen auf die
ausgesprochen liberalen Elemente der Bevölkerung stützen muß, daß der eine
Bruchtheil der christlich-conservative« Partei den andern des Abfalls vom
Worte Gottes beschuldigt, der unterlegene Theil nichts dagegen hat, wenn die
früher so verhaßten Nothhosen dem anderen das rechte Verständniß der heil.
Schrift erschlossen, der siegende dagegen bald von Vaterlandsverräthern spricht,
für die kein Galgen zu hoch sei, bald unter der Hand wieder die Bande der
alten Freundschaft durch Anerbietungen und reelle Erweise von Wohlwollen zu
erneuern sich bemüht. Kennt man die engen Beziehungen, welche die Führer
jener Partei früher unter einander verbanden, und die ihr in der Meinung
der großen Menge den Charakter eines protestantischen Jesuitenordens ver¬
liehen, und betrachtet nun die Gründe des jetzigen Zerwürfnisses, so kann
es niemandem zweifelhaft sein, was sie zusammengeführt hat, und was sie
jetzt, nachdem die ursprünglichen politischen Verhältnisse sich verschoben haben,
mit derselben Leidenschaftlichkeit entzweit — die Herrschsucht. Ein Ueberblick
über das gegenseitige Verhalten der kurhessischen und preußischen Conserva-
tiven dürfte dieses jedem Unparteiischen klar machen. Kurhessen war durch
alle äußeren und inneren Verhältnisse zu einer der preußischen möglichst
conformen Politik angewiesen. Die geschichtlichen Traditionen wiesen Volk
wie Regentenhaus auch auf dieselbe hin. Mit ganz geringen Schwankungen
folgte auch Kurhessen dem viel mächtigeren Preußen bis in die Revolutions¬
zeit von 1848- Bekanntlich gehörte das Märzministerium in Cassel zu den
der frankfurter Centralgewalt am willfährigsten gehorchenden Behörden; die
weitaus größte Anzahl aller' Gebildeten in Kurhessen gehörte der erbkaiser¬
lichen Partei des Parlaments an. Selbst Vilmar ereiferte sich damals für
die preußische Spitze in seinem „Volksfreund" und tadelte es aufs strengste,
als Friedrich Wilhelm IV- die ihm angetragene Kaiserkrone ausschlug. Er
schrieb am 9. Mai 1849: „Gab es für den König von Preußen gar keinen
andern Weg als den eingeschlagenen? Wir dächten: ja!... Der Widerstand
gegen seine Kaiserwürde von Seiten der vier Könige in Deutschland beruht
doch einzig und allein darauf, daß diese ihre „Souveränetät" nicht hergeben
wollen, und darin liegt — man sage, was man wolle — etre Verkennung
ihrer Stellung und des politischen Standpunktes von Deutschland. Der
frankfurter Versammlung gegenüber mochten die Könige auch diese ihre Sou¬
veränetät nicht aufgeben; trat aber der König von Preußen mit Muth und
Entschiedenheit an die Spitze von Deutschland und nahm er die Angelegen¬
heit kräftig aus der Hand der Reichsversammlung in die seinige, so wäre
dieses Aufgeben jedenfalls in nicht allzulanger Frist auf befriedigende Weise
erzielt worden. Daß man in Preußen für die schlimmen Dinge, mit welchen
in Würtemberg der Anfang gemacht worden ist, gar kein Auge und Gefühl
hat, das müssen wir der preußischen Politik zum bestimmten Vorwurf msichen.
Das heißt das kleine und halb eingebildete Recht zärtlich gepflegt und das
große wirkliche Recht gleichgiltig fahren gelassen; das heißt die Empfindlich-
keit der Könige schonen und ihr Dasein preisgeben." — Wenige Jahre später
schrieb derselbe Mann: „Im Glauben begonnen, ist dieser Kampf gegen
die in ihre höhere Phase der Union des erfurter Reichstags getretene Re¬
volution, ein Kampf so schwer und groß wie noch keiner zuvor, auch im
Glauben geführt worden."
Was war nun geschehen, daß Vilmar, der 1849 noch Preußen den Vor¬
wurf machte, es habe die Empfindlichkeit der Kleinfürsten geschont und ihr
Dasein preisgegeben, jetzt die die particularistischen und dynastischen Inte¬
ressen vielmehr schonende Verfassung des Dreikönigbündnisses eine in die
höhere Phase getretene Revolution nennt?
Liest man die Urtheile die Vilmar Anfangs 1830 über die ans Ruder
gekommene Kreuzzeitungspartei abgab, so könnte man glauben, er sei aus
Haß gegen das reactionär gewordene Preußen zu einem Umschlag in seiner
Zuneigung gegen die preußische Krone bewogen worden. Denn er verwahrt
sich auf das bestimmteste gegen den Vorwurf absolutistischer Velleitäten und
gegen die Verwechslung seiner Ansichten mit denen der Kreuzzeitungspartei,
deren Christenthum „in der oberen Etage" er nahe daran ist, für bloße
Theorie oder gar für bloße Redensart zu erklären, „zumal da ihm dieses
Schwatzen mit bubenfertiger Zunge, abwechselnd mit diesem näseln aus
einer Geheimrathsnase ganz besonders zuwider ist."
Aber man würde irre gehn, wenn man diese Auslegung aufrecht er¬
halten wollte. Der Kurfürst von Hessen hatte zur Vernichtung der hessischen
Verfassung den Hans Daniel Hassenpflug aus Greifswald berufen. Aber
nicht nur unabhängig von seinen Ständen wollte seine Königliche Hoheit
sein, auch von einer Suprematie Preußens wollte sie nichts wissen. Da
Hassenpflug im Lande gar keine Unterstützung seiner Pläne fand, als bei
Vilmar und einigen Dorfpastoren, mußte er sich Oestreich auf Gnade oder
Ungnade ergeben. War er ja durch eine östreichische Intrigue überhaupt in die
Höhe gekommen. In die langersehnte Machtfülle eingesetzt, siel nun Vilmar
den preußischen Staat mit der ganzen Bosheit eines für seine Existenz strei¬
tenden Parteimanns und mit der ganzen Wucht seiner nicht gewöhnlichen
Beredtsamkeit an. Jetzt ist ihm Preußen „der Revolution verfallen bis in
seine Spitzen und Enden", es wird von einer „königlich preußischen Re¬
volution" gesprochen, die Anklage erhoben, „die deutschen Einzelstaaten hätten
in preußische Präfekturen verwandelt werden sollen", und gehöhnt „erst seit
den Olmützer Punktationen habe Preußen eine Stellung eingenommen, die
seiner Macht angemessen sei." Von Oestreich, das nach 1848 „den deutschen
Angelegenheiten niemals das volle Herz schenken konnte", heißt es 1857:
.,So steht Oestreich als eine Macht da, die von der modernen Cultur noch
nicht vernichtet ist, — darum kann es in der Gegenwart mächtiger auf-
treten, als alle deutschen Staaten; darum aber hat es auch noch eine be¬
deutende Zukunft, eine Zukunft namentlich in Bezug auf seine Herrschaft in
Deutschland, und wenn einst die Hohlheit der preußischen Macht sich noch
deutlicher zeigen wird, dann wird Oestreich unser Halt sein müssen und es
wird für Deutschland wenigstens richtig sein: ^ustria erit lo oz-be ultima."
Nach solchen Auslassungen hätte jeder Preuße, wie man glauben sollte,
sich voll Ingrimm über den wandelbaren Gesellen abwenden müssen. Aber
wie Jedermann weiß, gab es in Berlin Gesinnungsgenossen Mlmars, bei
denen der Haß gegen das, was sie Revolution nannten, größer war als die
Liebe zum eigenen Vaterlande. Die Organe dieser Partei waren und blieben
Vilmar offen. ' In der evangelischen Kirchenzeitung vertheidigte er selbst die
Maßregeln, die er ergriffen hatte, um die reformirte Kirche Hessens in eine
lutherische umzugestalten, „die Kreuzzeitung" und das „Volksblatt für Stadt
und Land" waren die Partisane der politischen Mißregierung Hessens. Ver¬
sah Vilmar das Wagner'sche Staatswörterbuch mit zahlreichen Artikeln über
die wichtigsten Gegenstände, so wird er auch für die Kreuzzeitung gelegent¬
lich haben schreiben dürfen. Hatte er doch auch in Hessen selbst kein Blatt
mehr, indem er seine Galle nun fließen lassen konnte. Denn der „Volks¬
freund" war 1832 selig entschlafen. In einer neuen Gestalt erwachte er
aber wieder als „Hefsenzeitung", da die politischen Dinge in Deutschland
eine Wendung zu nehmen drohten, welche der Herrschaft der vilmarschen
Partei früher oder später in Hessen ein Ende machen mußte. Denn war
1850 das Ansehen Preußens in Deutschland durch sein Zurückweichen in
der hessischen Frage geknickt worden, so suchte es jetzt dasselbe wieder an der¬
selben Stelle dadurch zu repariren, daß es sich auf Seite der Stände gegen
den Kurfürsten stellte und die vernichtete Verfassung des Landes wieder auf¬
richten half. Vilmar sah sein und seiner Partei Werk gefährdet und darob
entbrannte sein ganzer Zorn. Seine Wuthausbrüche gegen Preußen kannten
keine Grenzen des Anstands und der Schicklichkeit mehr und wuchsen in dem
Maße, als er die Macht Preußens und den festen Willen, eine andere Ge¬
stalt der Dinge in Deutschland herbeizuführen, erstarken sah. Interessant ist
es nun zu beobachten, wie die conservativen Brüder in Berlin anfänglich
den Zorn Mlmars durch milde Worte zu stillen suchten. Die Kreuzzeitung
und die norddeutsche Allgemeine leisteten das Mögliche in dieser Richtung.
So wird in einem Artikel des letzteren Blattes vom 12. März 1865 be¬
hauptet, daß der konservative Preuße auch hessische Zustände nicht anders
beurtheile als der konservative Hesse, und daß „beide manches Geschehene der
Vergangenheit gemeinsam bedauern und betrauern mögen". Der „Hessen¬
zeitung" wird eingeräumt, daß sie auf christlich-conservativen Boden stehe
und wesentlich nur die Form mißbilligt, in der sie ihrer „sittlichen Ent-
rüstung" Ausdruck leihe. Auf diesen Versuch der Regierungspresse, mit Vilmar
zu trcmsigiren, antwortete die „Hessenzeitung" in drei Artikeln, deren Ge-
sammtinhalt sich in den Sätzen zusammenfaßt: Das sind die Thaten der
preußischen Politik gegen Hessen. Nur mit dem tiefsten Schmerz und dem
Gefühl der bittersten Empörung denkt jedes kurhessische Herz an sie zurück
und wer auch nur ein weniges noch von Rechtsgefühl sich erhalten hat, der
kann sich nicht darüber wundern, daß die Hessenzeitung solche Thaten nicht
zu vergessen vermag, daß sie in gerechter Entrüstung immer wieder darauf
zurückkommt. Wolle doch der Schreiber der Nordd. Allg. Zeitung und
wollen doch auch unsere milden, durch ein hartes Wort so leicht verletzten
Freunde das nicht übersehen, daß eben solche Zugeständnisse, wie sie jener
Artikel des genannten Blattes immerhin als einen Anfang zum Besseren
enthält, doch nur die Frucht eben davon find, daß wir es nicht lassen kön¬
nen, immer und immer wieder hinzuweisen auf die schwere, un gesühnte
Schuld Preußens gegen Kurhessen." Hatte Vilmar so hiermit seinem
Princip Nichts vergeben und die Hand zur Versöhnung nur unter der
Bedingung angeboten, daß Preußen in Kurhessen wieder umstoße, was
es eben wieder ins Leben gerufen hatte, so brach er wenige Monate später
alle Verhandlungen mit der konservativen Presse Preußens ab. Zur Feier
des 18. Octobers ließ er sich folgendermaßen aus: „Jetzt sind diese Zeitungs¬
blätter — (die früher die italienische Revolution getadelt hatten) insgesammt,
auch die Kreuzzeitung, — von welcher übrigens schon im Jahre 1830 Je¬
mand zu dem Schreiber dieser Zeilen sagte: sie führe ja das Landwehrkreuz,
Zwischen dem Landwehrkreuz und dem Kreuze Christi sei aber noch ein großer
Unterschied — in das Lager der Revolution, meist in der schamlosesten
Weise, übergegangen. Mit hündischer Frechheit verkündigen sie: „die Macht
geht über das Recht". Mit der Stirn der Straßenräuber erklären sie: „wenn
sich irgend ein deutscher Staat es einfallen lassen sollte, Preußen in seinen
Plänen zu hindern, nämlich die Mittelstaaten und kleinen Staaten Deutsch¬
lands, zunächst Norddeutschlands, aus dem deutschen Bunde auszulösen und
^r Botmäßigkeit Preußens zu unterwerfen, so werde es Preußen auf einen
Kampf mit den Waffen ankommen lassen." Genau so sprachen auch Zitz,
Blum und deren Gesellen auf der Frankfurter Pfingstweide am 17. Sept.
1848, und diejenigen Preußen, welche so sprechen — sind nicht im geringsten
besser, als Zitz, Simon von Trier, Messenhauser und Fenner von Fenne-
berg, schließlich auch nicht besser, als der Schuhmacher Georg von Ginnheim,
der Mörder Lichnowskys, welcher noch heute auf dem Schlosse zu Marburg
Ketten sitzt." Darauf antwortete die Kreuzzeitung in ebenso heftigem
Tone, stellte es aber in Abrede, daß sie jemals etwas von Annexion und
Vergewaltigung der kleineren B-undesstaaten gesagt habe. Vilmar schleuderte
ihr ein: „Frech gelogen" an den Kopf und schließt seine Replik: „Immerhin
könnten wir noch manches sagen, was nicht blos die Kreuzzeitung angehen
würde, denn sie ist ja nur eine unterthänige Dienerin ihres Herrn, des
dummen Dünkels, wir erinnern uns aber der bekannten Worte von Duclos:
NvLsiöUl's, parlons ac 1'ö16Mg,ut, se vo xarlons «ML als 1'LlöpKg.ut,, o'est
1a seuls grosse töte elend it soit xossidlö aujoui-ä'Kul as s'vntretkvir s^us
älmg-er und richten uns darnach." Der Gedanke, daß man Preußen alles
bieten könne, da es schon einmal „muthig zurückgewichen" sei, war Vilmar
von früher her geläufig. Hatte er doch schon einmal, auf eine ihrer Zeit
vielbesprochene in Berlin am entscheidenden Tage vorgefallene Scene anspie¬
lend, gehöhnt: „O ja, es ist möglich, daß Herr Hassenpflug der Union zu¬
gleich mit einer Flasche Champagner den Hals brach." Jetzt rief er: „Preußen
nach Olmütz!" und schloß eine Philippina: „Aber wieviel auch Oestreich, wie
viel auch die Mittel- und Kleinstaaten gefehlt haben — der eigentliche schul¬
dige Theil, der Unruhstifter im Reich ist und bleibt doch allein, ohne jede
Entschuldigung — Preußen. In ihm und in seinem Auftreten ist eben alles
faul — seine Negierung, seine liberale und selbst seine conservative Partei.
Alle drei sind darin eins — trotz aller sonstigen Verschiedenheit — um es
mit einem Wort zu sagen, daß sie bundesbrüchig, daß sie revolutionär sind . . -
Darum eben ist ein zweites Olmütz das mindeste, was als die unausbleib¬
liche Folge der damaligen preußischen Politik fast im Auge behalten werden
muß." (28. April 1866.) — Als die Dinge nun aber dieses Mal einen anderen
Verlauf zu nehmen drohten, da wurde die Sprache vorsichtiger. Nur gegen
den gegraften Bismarck glaubte man das gewohnte Geschütz verwenden zu
dürfen. Als Nothelfer wurde auch Herr von Gerlach herbeigerufen. Kurz
nach der Occupation Hessens durch 'die preußische Armee machte ein Verbot
der königlichen Administration dem Leben des Blättchens ein Ende. Die
Strategen desselben hatten von einer Schlacht zwischen Hannoveranern und
Preußen auf hessischem Grund und Boden zu erzählen gewußt, in der die
letzteren von jenen in einen Hinterhalt gelockt mit Hilfe bewaffneter hanno¬
verscher Bauernschaaren gar jämmerlich zusammen gehauen sein sollten. Viele
bedauerten es damals, daß Vilmar so noch zu einem Märtyrer gemacht
werde, während, wenn man der Zeitung ihren Lauf gelassen habe, sie bald
eines natürlichen Todes verschieden sein würde.
Seit jener Zeit hat nun der Führer der christlich-conservativen Partei
in Hessen selten die Gelegenheit vorübergehen lassen, seinem giftigen Haß gegen
Preußen einen Ausdruck zu geben. Ein theologisches Blatt, das er redigirte,
ließ er eingehen, weil er in ihm keine Mitarbeiter mehr haben wollte, die
die Zuwiderhandlungen gegen die 10 Gebote, welche in der neuesten Ze^
öffentlich begangen seien, nicht so ansähen wie er. Vor allem war er aber
auf dem kirchlichen Gebiete thätig. Hatte er früher hier wahrhaft revolutio¬
när gewirthschaftet und die Kirche Niederhessens zu einer lutherischen erklärt,
die nur reformirt genannt werde, so war jetzt seine Sorge darauf gerichtet,
allen Veränderungen, die etwa die neue Regierung intendiren könnte, mit
Hilfe seiner unbedingten Anhänger von vornherein Schwierigkeiten zu berei¬
ten. In einer unlängst erschienenen Broschüre über die Vergangenheit und
Gegenwart der niederhessischen Kirche hat er, eingedenk des von ihm selbst
iHessenzeitung, 24- Juni 1865) einmal hervorgehobenen Satzes: „Wer die
Gegenwart irre leiten will, muß die Vergangenheit verfälschen", wieder be¬
hauptet, die reformirte Kirche Niederhessens sei in der Abendmahlslehre ze.
lutherisch und der Geistlichkeit der Widerstand gegen alle Tendenzen der
neuen Negierung auf Einführung einer synodalen Verfassung zur Pflicht
gemacht. Jetzt erstrebt er offenbar wieder die Trennung der Kirche vom
Staat, wie im Jahre 1848, nachdem er so lange, als seine Partei in Cassel
am Ruder war, hiervon geschwiegen hatte; jetzt ist das Territorialsystem, das
sür Hessen den Segen gehabt hat, daß die Kirche niemals vollständig die Beute
streitsüchtiger Theologen geworden ist, vom Uebel. — Und was geschieht nun
von Berlin aus, um diesen Bestrebungen entgegenzutreten? Seine Majestät der
König hat bei seiner Anwesenheit im Lande wiederholt erklärt, man denke
nicht daran, Hessen die Union mit Gewalt oder Ueberredung aufnöthigen zu
wollen, er selber halte an ihr fest als an einem theuern Vermächtniß seines
Vaters, das gewiß auch immer mehr Anerkennung finden werde. Damit
hätte man sich befriedigt erklären können. Aber in einem Lande, wo nach
solchen königlichen Worten das Blatt, welches sich sonst stets seiner königs¬
treuen Gesinnung rühmt, schreiben kann': Man pflegt außerhalb die evan¬
gelische Landeskirche Preußens wohl kurzweg als die „unirte Kirche" zu be¬
zeichnen, was jeder, der die Dinge genauer kennt und unbefangen beurtheilt,
für grundfalsch erklären muß (Kreuzzeitung, 11. Sept. 1867), müssen wohl
die Dinge so liegen, daß Leute, deren Bestrebungen in einer gewissen Richtung
sich bewegen, hoffen dürfen, da Bundesgenossen zu finden, wo sie dieselben
unter andern Umständen nicht erwarten dürften. Und sie haben sich nicht
geirrt. Während in Kurhessen fast alle inneren Einrichtungen verändert
worden sind, hat man die frühere Ordnung aller oxterna der Kirche bis in
das Kleinste fortbestehen lassen. Statt des einen Consistoriums in Cassel. das
anfänglich intendirt war, beläßt man dieselben in Cassel, Marburg und
Hanau, obwohl dieselben schon längst aus Lutheranern und Reformirten
zusammengesetzt waren und die Zusammenlegung derselben auch nicht den
geringsten Vorwand zu Klagen über Einführung der Union hätte geben
können. Die Antworten, welche auf Anfrage des Cultusministeriums die
Consistorien über Einführung der rheinisch-westfälischen Synodalverfassung
gegeben haben, sind als schätzbares Material zu den Akten gewandert ze.
Kurz die Richtung, die Vilmar vertritt, wird mit einer Rücksicht und Für¬
sorge behandelt, daß, wenn man ihre Tendenzen und Pläne nicht kennte, man
glauben sollte, ihre Glieder seien die Freunde und nicht die erbittertsten
Feinde Preußens, Sind die Erfahrungen, die man mit den Ultramontanen
der Rheinprovinz gemacht hat, sämmtlich verloren, oder hofft man noch im¬
mer, daß sich die unnatürliche Feindschaft Mlmars legen werde? Das eine
wäre unverzeihlich, und das andere zeigte von geringer Kenntniß der Per¬
sonen und Sachen, auf die es ankommt!
Betrachten wir nun näher, wie die Dinge im Orient liegen. Daß
der gegenwärtige Zustand in der Türkei nicht auf die Länge haltbar ist, kann
kaum bestritten werden, es fragt sich nur, was an die Stelle treten soll.
Rußland verfolgt unablässig seinen Plan der Auflösung det Türkei, nur die
Mittel haben gewechselt. Kaiser Nikolaus wollte nach seinen politischen
Grundsätzen nicht an die Revolution appelliren, sein System war: fortwährend
Streit mit der Pforte zu suchen und die Nichtintervention der andern Mächte
durch Einschüchterung und Versprechungen zu erreichen, die Unterhaltungen
mit Sir Hamilton Seymour haben dies aller Welt gezeigt. Der Krimkrieg
war die Antwort Europas auf diese Politik. Fürst Gortschakow weiß, daß
ein neuer Angriff auf die Türkei, die Westmächte und Oestreich gegen Ru߬
land zusammenführen würde, aber er hat darum die moskowitische Politik
nicht aufgegeben und verfolgt sie nur mit andern Mitteln. Seine Absicht
geht dahin, das europäische Gebiet der Pforte, durch fortwährende innere
Aufstände in eine Reihe von dem Namen nach unabhängigen Staaten auf¬
zulösen, welche dann naturgemäß unter russisches Protektorat fallen müßten.
Einen ähnlichen Plan verfolgen die Griechen, sie wollen zwar keine russische
Oberherrschaft, aber sie möchten die einzelnen Provinzen der Balkanhalbinsel
in eine Conföderation bringen, deren Oberhaupt der König von Griechenland
in Constantinopel sein soll. Dieser philhellenische Traum aber hält bei näherer
Betrachtung nicht Stich, die erste Vorbedingung wäre die vollkommene Ver¬
treibung der drei Millionen Muselmänner, welche noch die europäische Türkei
bewohnen, und wären, was nicht der Fall, die verschiedenen christlichen Stämme
hierzu selbst im Stande, so würde dies einen allgemeinen Kampf verursachen,
dessen erste Folge die vollständige Zerstörung des christlichen Elements in
Kleinasten sein müßte. Die Muselmänner sind dort auch der Zahl nach den
verschiedenen christlichen Confessionen unendlich überlegen und es würde ein
Gemetzel geben, welches die Zukunft des Landes auf lange Jahre hin ruiniren
würde. Die zweite Unmöglichkeit liegt darin, daß die meisten der verschie¬
denen Stämme der Rayas nichts unter sich gemein haben, als vielleicht den
Haß gegen die Türken, sich aber untereinander bitter feindlich sind-, Serben,
Griechen, Bulgaren und Albanesen stehen sich ganz fremd gegenüber, eine
Conföderation derselben ist unthunlich, sie würde nur zu einem Kampfe der
Glieder unter sich führen und Nußland die Wege bahnen. Außerdem sind
gerade die Griechen, in deren Hand die oberste Leitung liegen sollte, auch
sehr in Minderzahl; man findet sie zwar überall in den Häfen und meist als
wohlhabende Kaufleute, aber sie sind ohne Einfluß im Lande und bitter ge¬
haßt wegen ihres Wuchers. Endlich haben die Griechen sich in keiner Be¬
ziehung als ein politisch zukunstreiches Volk gezeigt; das kleine Königreich ist
seit seiner Gründung von den auswärtigen Mächten förmlich verhätschelt;
Rußland, England und Frankreich garantirten für dasselbe ein Anlehen, dessen
Zinsen sie seit Jahren bezahlen, da Griechenland seine Verbindlichkeiten nicht
erfüllt; man hat ihm Verletzungen der Neutralität nachgesehen, welche kein
anderer Staat ungestraft begehen dürfte; England hat ihm ohne Aequivalent
die jonischen Inseln überlassen. Das Resultat hiervon aber ist finanzieller
Bankrott, indem die Regierung einfach ihre Schulden nicht bezahlt und voll¬
ständige Anarchie, so daß selbst die Straße vom Piräus nach Athen nicht
ohne Eskorte gegen Räuber passirt werden kann. Seit 1844 besteht zwar
eine Verfassung, nach constitutioneller Schablone, aber eben nur auf dem Pa¬
pier, die Gerichte sind käuflich, die Verwaltung ist ohnmächtig, Ackerbau,
Gewerbe und Handel liegen danieder; wenige Jahre griechischer Herrschaft
habenIgenügt, um die in blühendem Zustand übergebenen jonischen Inseln
zu zerrütten. Das einzige, was Lob verdient, ist der öffentliche Unterricht,
aber die modernen Hellenen benutzen ihre Kenntnisse meist nicht zu bürgerlicher
nützlicher Thätigkeit, die fähigeren gehen entweder außer Landes und'sind in
allen europäischen Handelsplätzen als intelligente Kaufleute zu finden, oder
werfen sich als Stellenjciger und Agitatoren in die Politik. AIs solche ist
namentlich ihr unablässiges Bestreben, Unruhe in der Türkei zu stiften, wofür
der Candiotische Aufstand das beste Beispiel ist. Es soll nicht geleugnet
werden, daß die Bewohner der Insel Grund zu Beschwerden hatten, aber
nur durch Aufreizung der Griechen wurde ein Theil von ihnen zur Jnsurrection
getrieben. Mit Unterstützung des russischen und italienischen Consuls machten
diese ein Register von Beschwerden, deren meiste den Candioten ganz un¬
bekannt waren; sie hinderten jede Verständigung zwischen diesen und den
türkischen Behörden und sandten Freiwillige, Waffen und Nahrungsmittel
für Unterstützung des Aufstandes, der dann ebenso wie seine Bekämpfung
türkischerseits mit allen gewaltsamen Mitteln geführt ward. Die Bevölkerung
der Insel zerfällt in Muselmänner, christliche Bewohner des Flachlandes und
christliche Hochländer. Die ersten haben sich in die befestigten Städte geflüchtet
und suchen sich für die Vertreibung aus ihren ländlichen Besitzungen zu rächen,
die letzteren sind durch die Griechen zum Aufstand getrieben und halten den¬
selben mit ihrer Hilfe in den Gebirgen aufrecht, sie wollen Vertreibung der
Türken, aber nicht Anschluß an das hellenische Königreich; zwischen diesen
beiden befanden sich die Flachländer wie zwischen Hammer und Amboß, nur
wenige schlossen sich den Insurgenten an; die meisten haben die Insel ver¬
lassen und sind nach Griechenland geflüchtet, wo sie der Mildthätigkeit zur
Last fallen. Die Nachrichten von den Unthaten, welche von den Türken gegen
sie verübt sein sollen, durch griechische Telegramme ausposaunt, sind durch
ihre eigenen Aussagen widerlegt, wie der Bericht des Admiral Simon
gezeigt hat. Die aufständischen Hochländer werden sich in ihren Schlupf¬
winkeln, unterstützt durch die griechischen Blockadebrecher, noch lange halten
können, einen offenen Kampf gegen die Türken haben sie nie gewagt und
alle jene heroischen Schlachtberichte sind einfach ätherische Lügen. Mag
die Pforte die Insel behaupten oder sie abtreten, sie ist jedenfalls'durch den
von Griechenland angezettelten Kampf auf ein Menschenalter ruinirt. Den
ganzen vorigen Winter hindurch haben die griechischen Diplomaten und Zei¬
tungen eine allgemeine Erhebung von Thessalien und Epirus angekündigt,
aber die Jnsurrectionscomit6s haben dort nichts ausgerichtet, weil die Be¬
wohner jener Provinzen nur zu gut wissen, welches Heil sie von einer grie¬
chischen Invasion zu erwarten haben; die Thessalioten sind ein Hirtenvolk,
das sich nicht nach Plünderungen sehnt; sie haben daher, statt den Auffor¬
derungen, sich gegen die Türken zu erheben, Petitionen nach Constantinopel
gesandt, um Schutz zu erbitten; die epirotischen Alvanesen haben sich zu den
Türken gehalten. Man suchte dann von Athen aus Verhandlungen mit Ru¬
mänien und Serbien anzuknüpfen, aber ersteres hat genug zu Hause zu thun
und, thatsächlich ganz unabhängig, nichts bei einem Kriege zu gewinnen,
welcher ihm nur türkische und russische Besatzung bringen könnte. Serbien
hatte seinen Wunsch, die türkische Garnison in Belgrad loszuwerden, soeben
durchgesetzt und keinen Grund zum Krieg mit der Pforte, außerdem wäre
seine tapfere Bevölkerung wohl zu einem großen Vertheidigungskampfe fähig,
aber doch nicht im Stande, die anderen türkischen Provinzen gegen eine ke-
guläre Armee zu erobern. — Die Griechen sind jetzt mit ihrer Agitation
ziemlich zu Ende und sie können ihre Hoffnungen nur noch auf einen großen
europäischen Brand setzen; das Vorstehende aber wird genügen, um zu zeigen,
daß von ihnen zunächst keine Verjüngung der Türkei zu hoffen ist.
Ebensowenig ist dieselbe aber von dem gegenwärtigen Regierungssystem
der Pforte zu erwarten, das weder materiellen noch geistigen Fortschritt aus¬
kommen läßt. Die Art der Thronfolge, welche jedesmal das älteste Mitglied
der ganzen Familie zur Nachfolge beruft, macht es bei der Eifersucht, mit
welcher der Thronfolger vom regierenden Fürsten in den Hintergrund gedrängt
wird, fast unmöglich, daß jemals ein fähiger Sultan zur Regierung kommt.
Die Minister kommen weit weniger durch ihre Talente, als durch Palast¬
intriguen und diplomatischen Einfluß an's Ruder, in der Verwaltung gibt
es keine geordnetes System, keine Verantwortlichkeit, in den Provinzen hängt
alles vom Charakter des Gouverneurs ab, der wieder seinen Posten durch
persönlichen Credit in Constantinopel erreicht. Die barbarische Strafe der
seidenen Schnur ist außer Uebung gekommen, aber die Paschas sind dadurch
nicht ehrlicher geworden; die Regierung hat weder die Kraft der früheren
barbarischen Methode, noch die Aufklärung einer civilisirten Verwaltung. Im
Militär, wie in Civil, sind die oberen Stellen hoch bezahlt, während die Sub¬
alternen hungern und ihre Zuflucht zum Unterschleif nehmen; die Steuern
werden in einer Weise erhoben, welche höchst belästigend und doch wenig er¬
giebig ist: so darf zum Beispiel kein Korn geschnitten werden, ehe nicht die
Ernte vom Zehntenmeister abgeschätzt ist und es kommt vor, daß. weil der¬
selbe noch nicht seine Runde gemacht hat. die reifen Feldfrüchte auf dem
Halme verderben. Die meisten'indirecten Abgaben sind verpachtet, weil die
Regierung ihren eigenen Beamten nicht trauen kann und sie erhält so nur
einen kleinen Theil von dem, was von ihren Unterthanen erhoben wird,
welche doch von den Pächtern ausgesogen und bedrückt werden; bei gehöriger
geordneter Verwaltung würde z. B, mit Leichtigkeit aus der Tabakssteuer,
die nicht hoch ist, der drei- und vierfache Betrag zu erzielen sein. Europäische
Finanzleute haben in dieser Beziehung vortreffliche Rathschläge gegeben, aber
die Regierung ist mißtrauisch und verhandelt lieber mit griechischen und jü¬
dischen Blutsaugern, als daß sie einem bedeutenden Organisator freie Hand
gäbe, welcher die großen Hilfsquellen des von Natur reichen Landes zu ent¬
wickeln verstände. Es ist klar, daß unter einem solchen System nicht blos
die Christen leiden, wie die Russen fortwährend sagen, sondern ganz gleich¬
zeitig auch die Türken. Der Ausgangspunkt einer Verbesserung dürfte nicht,
wie Fürst Gortschakow vorschlägt, eine Trennung der Nationalitäten sein,
sondern eine gemeinsame bessere Regierung für Muselmänner und Christen.
Die gegenwärtige Stellung beider zu einander ist eine durchaus anomale.
Die erstern sind eine homogene Race und haben einen Glauben, die Christen
bestehen aus verschiedenen Racen und Sekten, die sich meist untereinander
bitter hassen und offen bekriegen würden, wenn die neutralen Muhamedaner
sie nicht niederhielten; so vertragen sich z. B. die Armenier weit besser mit
letzteren, als mit den Griechen; dasselbe gilt von den Katholiken. Die Tür¬
ken sind den Christen an Ehrlichkeit und'Wahrheitsliebe leider überlegen; sie
sind ausdauernd und deshalb tüchtige Arbeiter und Soldaten, stehen dagegen
hinter den Griechen an Rührigkeit, Gewandtheit und Intelligenz zurück, des¬
halb machen letztere, zumal bis jetzt die ganze Last des Kriegsdienstes auf
die Türken sällt, Fortschritte auf ihre Kosten, und selbst in Asien geht im¬
mer mehr Land und noch mehr bewegliches Vermögen aus türkischen in
christliche Hände über; dagegen sind die Christen, von der Militärlast be¬
freit, nicht im Stande, sich gegen die Türken zu vertheidigen und können
sich also nur auf fremde Hilfe verlassen, um ihre Rechte zu wahren; die
Griechen sehen auf Rußland, die Lateiner auf Frankreich. Fast jeder Nicht-
türke von Intelligenz und Vermögen weiß sich durch irgend eine Fiktion
unter den Schutz einer europäischen Macht zu stellen, ist daher von den
Steuern und der Gerichtsbarkeit der Regierung frei, sobald er bedroht ist,
-ruft er seinen Consul an, der kraft der Kapitulationen jede Einmischung der
einheimischen Behörden in die Angelegenheiten seiner Schutzbefohlenen ver¬
hindern kann. Auf diese Weise hat gerade der intelligenteste Theil der Be¬
völkerung kein Interesse daran, die Zustände zu verbessern, im Gegentheil,
diese Leute lassen den Pascha, wenn er sie in Ruhe läßt, gern gegen andere
gewähren; es fehlt also der mächtigste Trieb zur Reform, der sich in andern
Ländern geltend macht. Die Abschaffung der Kapitulationen würde daher
der erste nothwendige Schritt zu einer eingehenden Reform sein, es brauchten
darum noch nicht alle Fremde absolut unter türkische Gerichtsbarkeit gestellt
zu werden, man könnte vielmehr den Consuln vorläufig noch das Recht zu
remonstriren lassen, aber man würde auf diese Weise dem intelligentesten und
vermöglichsten Theil der Bevölkerung ein handgreifliches Interesse an einer
geordneten Rechtspflege und Verwaltung geben; die Türken könnten sich
dann auch nicht mehr weigern, dem Fremden die Erwerbung von Grund¬
besitz zu gestatten, was sie bisher unter Hinweis auf die Capitulationen ge¬
than. Nur in den Reformen, welche der ganzen Bevölkerung ein Interesse
an der Erhaltung und Verbesserung der Regierung geben, liegt Sicherheit
gegen die griechisch-russischen Wühlereien; zu solchen Reformen haben Eng¬
land und Oestreich in der letzten Zeit dringend gerathen. Beider Rathschläge
haben Gewicht bei der Pforte, Englands Einfluß im Ausland ist allerdings
gesunken, aber am wenigsten im Orient, weil es dort nicht wie anderwärts
unbedingt am Nichtinterventionsprinzip festhalten würde; es kann Constan-
tinopel nie in die Hand Rußlands oder eines russischen Vasallen fallen lassen,
selbst nicht, wenn es Egypten erhielte, denn eine Großmacht, die in Constan-
tinopel herrscht, gebietet auch über Egypten. England hat kein Interesse,
letzteres zu besitzen, sondern nur seines Weges nach Indien sicher zu sein,
außerdem nimmt sein levantischer Handel jährlich an Bedeutung zu. Seine
Rathschläge gelten also mit Recht als uninteressirt und ebenso die des wiener
Cabinets. Oestreichs Staatsorganismus und Nationalitätencharte ist bereits
complicirt genug, als daß es noch nach Erwerbungen im Osten lüstern sein
sollte, aber es ist, namentlich seit seiner Ausschließung von Deutschland, auf
das tiefste dabei interessirt, daß Rußland nicht die untere Donau beherrscht,
es geht also Hand in Hand mit England. Frankreich hat in den letzten
Jahren durch sein Schwanken sehr an Gewicht in der Levante verloren,
scheint sich aber, nachdem es ihm nicht gelungen, Rußland zu gewinnen, jetzt
definitiv auf die Seite Englands und Oestreichs gestellt zu haben, mit denen
es zusammen den Garantievertrag von 18S6 unterzeichnete. Italien und
Preußen sind bisher in Constantinopel mit Rußland gegangen, die Aktion
des florentiner Cabinets aber hat bei den innern Wirren alle Bedeutung
verloren; Preußen ist im Orient nicht direkt interessirt und wird seine Hal¬
tung gegen die Pforte nach den Faktoren bemessen, welche für seine nationale
Stellung entscheidend sind. Solange eine Verständigung zwischen Frankreich
und Rußland zu befürchten stand, schien deshalb ein Anschluß an letzteres als
geboten; nachdem diese Gefahr aber als beseitigt gelten darf, ist kein Grund
mehr, Rußlands Pläne gegen die Türkei zu befördern. Denn daß Deutsch¬
land an sich kein Interesse haben kann, dem Panslavismus Vorschub zu
leisten, liegt auf der Hand, und wenn man behauptet hat, Rußlands Macht¬
erweiterung im Süden werde es vom Norden ablenken und dort Preußen
freien Spielraum geben, so gestehen wir, daß diese Auffassung uns ziemlich
naiv erscheint; die Geschichte zeigt vielmehr, daß die antitürkische Politik des
Petersburger Cabinets stets Hand in Hand mit seinen Bestrebungen, Deutsch¬
lands Einigung zu hindern, gegangen ist. Auch die andere Combination,
welche eine russisch-preußische Allianz als geboten erscheinen lassen könnte,
eine offensive französisch-östreichische Allianz droht nicht mehr, das wiener
Cabinet hat sich vielmehr für eine unbedingte Friedenspolitik erklärt, solange
nicht der Bestand des Reiches durch die -slavische Propaganda gefährdet
werde und was auch die letzten Gedanken Napoleons sein mögen, es ist
nicht in Abrede zu stellen, daß er einen Krieg mit Deutschland zu vermei¬
den wünscht, bei dem er jedenfalls seine Krone aufs Spiel setzen würde.
Dagegen hat sich, wie erwähnt, ein immer festeres Einverständniß zwischen
England, Frankreich und Oestreich gegen die russischen Pläne im Orient
gebildet und es kann dem gegenüber nicht Preußens Aufgabe sein, für Ru߬
land die Kastanien aus dem Feuer zu holen und einen Krieg am Rhein
heraufzubeschwören. Demzufolge stellt denn auch Graf Bismarck sich mehr
und mehr auf Seiten der Westmächte, sucht die Beziehungen zum wiener
Cabinet zu verbessern, vereinigt sich mit den Dreien, um der serbischen Regie¬
rung ernste Vorstellungen gegen ihre agitatorische Politik zu machen, und
dringt in Petersburg auf Zurückhaltung. Es mag das dort sehr unangenehm
berühren, aber diese Haltung Preußens ist entschieden in Deutschlands Inter¬
esse und isolirt ist Rußland nicht im Stande, etwas gegen die Pforte zu
unternehmen.
Als in Preußen und danach in vielen andern deutschen Staaten die
„deutsche Fortschrittspartei" sich bildete, als sie sich in Preußen wieder in
verschiedene Elemente auflöste, da gab es eine Menge naiver Geister und
darunter hervorragende Kammerredner, welche diese Vorgänge für rein par¬
lamentarische hielten. Viele derjenigen, welche am lautesten an die Stimme
des Landes, die Meinung des Volkes appelliren, glauben im Innern ihres
Herzens am wenigsten an die Spontanität derselben. Sie sehen die treibende
Kraft nicht, der sie gehorchen; sie bilden sich ein, vieles gemacht zu haben
oder machen zu können, wobei sie nur sehr blinde Werkzeuge waren oder
sind. Einzelne unwesentliche Nuancen und künstliche Combinationen abgerech¬
net, welche meistens nur die Uebergänge zu vermitteln oder die Gegensätze
Momentan abzustumpfen bestimmt sind, stellen die bestehenden Parteien sehr
markirte Richtungen im Volke dar, und die Evolutionen der Kammerparteien,
welche scheinbar auf gewisse persönliche Einflüsse zurückzuführen sind, spie¬
geln in der Regel eine tiefere Entwickelung des politischen Gedankens im
Volke selbst ab. Nur mit dem Vorbehalte, daß das technische Wesen der
Partei an sich auf gewissen Bedingungen und Voraussetzungen beruht, welche
das darzustellende Bild zeitweise trüben, oft sogar für kurze Zwischenräume
fälschen.
Zu diesen Voraussetzungen gehört vor allen Dingen, daß jede Partei
aus einer Vermittelung mannigfacher individueller Ansichten hervorgeht.
Nur die ganz schwachen Köpfe, welche ein Programm, ein System auswendig
lernen, um das mühselige Selbstdenken auf ewig zu sparen und alle neu
auftauchenden Fragen nach vorgefundenen Formeln flugs zu beantworten,
befriedigen sich rückhaltlos mit einer fertigen Parteibildung; die selbständig
Denkenden sind genöthigt, mit einiger Ueberwindung sich derjenigen Partei
anzuschließen, deren Gesammtrichtung ihren persönlichen Anschauungen an¬
nähernd am besten entspricht. Die Fortschritte ihrer individuellen Bildung
Müssen alsdann zur Mehrung des geistigen Capitals der Partei beitragen.
Gerade diese Art von Einwirkung bringt sie folgerichtig in Widerstreit mit
jenen Zeloten, welche auf Dogmen schwören, obgleich sie die Geistesfreiheit
stets im Munde führen, welche abstract denken aus Unwissenheit, niemals
beirrt durch wachsende Erkenntniß, niemals den eigentlichen Lebensfragen
näher tretend. Je beschränkter, desto intoleranter. Diese sogenannten „stäh¬
lernen Charaktere", welche in den Volksversammlungen die imposantesten
Resolutionen durchsetzen, gefährden gerade am meisten die freiheitliche Ent¬
wicklung der Parteien durch ihr zähes Festhalten an unbrauchbar gewor-
genen Phrasen, durch ihre bornirte Buchstabenconsequenz.
Glücklich ein Land, wie England, das elastische Parteiformen historisch
überkommen hat, welche weit genug sind, dem Individuum die freie Bewe¬
gung zu gönnen und fest genug, einer Niederlage zu widerstehen, in welchen
alles, was regierungsfähig ist, sich sammeln kann, welche die neuen Elemente
friedlich in sich verarbeiten, wie z, B. die Whigs allmählich die aus den
Tones hervorgegangenen Peeliten in sich aufgenommen haben. Bei uns
dagegen scheint es, als ob immer wieder ganz von vorn angefangen werden
müßte. Die meisten Parteien in Deutschland vertreten abstracte Prinzipien
ohne unmittelbare Anknüpfung an schon bestehende Gestaltungen oder an
lebhaft im Volk empfundene Bedürfnisse. Daher die häufig wiederkehrende
und doch nicht ganz gerechtfertigte Klage über die Schlaffheit und politische
Gleichgiltigkeit des Volkes. Wenn nun einmal eine Partei sich praktische
Ziele setzt, wird sie von rechts und links verdächtigt. Die Klassen selbst,
deren Interessen sie vertritt, erkennen sich nicht wieder in dem Spiegelbild
der politischen Parteiung; in der allgemeinen Sprachverwirrung einer hohlen
und überlebten politischen Phraseologie versäumen sie es oft, ihre eigentlichen
Vorkämpfer zu unterstützen.
Die Mehrzahl der Individuen in Deutschland betrachtet ihre persönliche
Betheiligung an der Politik immer noch als ein bloßes theoretisches Spiel,
bei welchem es mehr darauf ankomme, eine Ansicht zur Geltung zu bringen,
als ein Interesse zu fördern. Bei allen gewohnheitsmäßigen Beschwerden
über büreaukratische Bevormundung liegt im Hintergrunde doch noch ein
gewaltiges Vertrauen in die höhere Weisheit, die bessere Einsicht und Sach¬
kenntniß der Behörden, ein Vertrauen, welches zur Folge hat, daß der Ein¬
zelne zwar über jeden Schnitzer und jede Unwissenheit der Beamten immer
wieder von neuem tief entrüstet und hoch verwundert thut, aber selten die
Entschlossenheit besitzt, durch eigenes Studium und emsige Selbsthilfe den
Irrungen der Bureaukratie vorzubeugen, — eben weil in seinen stillen Vor¬
aussetzungen die Allwissenheit der Bureaukratie die Regel und die Irrung
nur ein Ausnahmsfall ist. Mit einem Worte: unsere besten Bürger thun
noch immer nur den geringsten Theil dessen, was in ihren Kräften stünde,
um sich der bureaukratischen Bevormundung zu entreißen und ein wirkliches
kZkIk-govermnont herbeizuführen. Besser wäre es, wenn die Wortführer in
den Bezirksvereinen und anderen Clubs darauf hinwiesen und den Wider¬
stand gesetzlicher Selbsthilfe und Selbstverwaltung gegen die unbemessenen
Competenzen der Administration in den einzelnen Rechtsgebieten organisirten,
statt den allgemeinen Formelkram überlebter Programme immer wieder von
vorn abzuleiern, — was schließlich eine Maschine nach Art der thibetanischen
Betmühlen auch könnte, — wobei denn gelegentlich nur die kleine Modifika¬
tion eintritt, daß manchmal etwas mehr, manchmal etwas weniger mit der
„socialen Frage" schöngethan wird.
Auf diesem Felde und bei derartiger BeHandlungsweise entschwindet die
eigentliche Aufgabe einer ernsthaften oppositionellen Thätigkeit dem Gesichtskreise,
der wesentliche Inhalt des Parteilebens geht verloren, die geistige Leitung ge¬
räth in die Hände derer, welche sich häufig zeigen, viel und oft sprechen, gleichviel
was sie zu sagen haben, und die wirklich bedeutenden Führer sogar verlieren
das Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit für das, was im Namen der Partei
geschieht und ausgesprochen wird. Es kann dann soweit kommen, daß die
gelesensten Zeitungen im Namen der Partei Ansichten verbreiten, für welche
deren parlamentarische Häupter nicht einzustehen vermögen, wogegen diese wie¬
derum sich binden lassen durch theoretische Beschlüsse, welche im Strudel der
Bezirksversammlungen einer zufälligen, zweifelhaften und schwach unterrich¬
teten Majorität abgerungen wurden. —
Es galt lange für undemokratisch, dieses Mißverhältniß, das den
Gegnern wohl bekannt war und oft zur Zielscheibe ihres Spottes gedient
hatte, sich selbst einzugestehen. Je mehr sich aber, bei der Häufung unserer
Politischen Aufgaben, das Bedürfniß herausstellt, die wirkliche Volksmeinung
zu erkennen und zu klären, um so nothwendiger wird es auch, die selbst¬
gefälligen Täuschungen zu zerstören, welche mehr als alles Andere, zur
Spaltung in der liberalen Partei beigetragen haben. —
Neulich frug mich ein unpolitischer Freund, welchen Ursachen der rasche
Verfall der Fortschrittspartei zuzuschreiben sei? Er meinte nicht die nume¬
rische Abnahme, er meinte den idealen Gehalt. Mein Freund ist, wie die
meisten halbgebildeter Dilettanten, in der Politik Jdeologe: er sucht die
Partei, welche dem demokratischen Gedanken den reinsten Ausdruck verleihe.
Nun sind ihm die Männer, die er früher bewundert hat, immer unverständ¬
licher geworden. Nachdem er den Abfall der einen betrauert hat, beklagter
den Verfall der Anderen. Er hatte sich darüber getröstet, daß die Capacitäten
und Specialitäten, wie er sagte, sich in einer gemäßigteren Fraction zusam¬
menfanden; er erklärte das für den Fluch des Fachwissens und der Detail-
gelehrsamkeit. Aber der moralische Gehalt sollte auch beim Abgang des
intellectuellen, in der Fortschrittspartei intact bleiben. — Ich entgeg-
nete ihm, daß er sich in Abstractionen bewege und daß gerade diese Unter¬
scheidung von intellectuellen und moralischem Gehalt auf eine der verderb¬
lichsten Abstractionen zurückzuführen sei. Wie der Mensch mit seinen höheren
Zwecken wächst, so schrumpft er zusammen, wenn er das Bewußtsein der
Zwecklosigkeit in sich herumträgt. Ein Politiker, der den Werth seiner Leistun¬
gen nicht an erreichbaren Zielen zu messen gedenkt, wird leicht zum hohlen
Schönredner; je weniger Positives er zu leisten vermag, desto eher geräth er,
zur Bemäntelung dieser Dürftigkeit, in ein forcirtes Pathos, zu dessen Gun¬
sten die gemeinplätzliche Gegenüberstellung von Talent und Charakter ver¬
wendet zu werden pflegt. Als ob die Zuverlässigkeit nur bei der Talent-
losigkeit wohnte! Sollten gewisse Parteiprogramme in der That nur von
denen treu eingehalten werden, welche nicht im Stande sind, sich darüber
Rechenschaft zu geben? — Umgekehrt wäre es richtiger, zu sagen, daß die
Abstimmungen derjenigen Abgeordneten sehr unzuverlässig sind, welche nichts
können als abstimmen, die also nothwendig von irgend einer älteren Nota¬
bilität abhängig werden. Ich gebe zu, daß man nicht lauter selbständige
Denker in die Landesvertretungen schicken kann; so reich ist das Land noch
nicht an dieser Waare! Ich will nur sagen, daß die Parteien, welche mehr
an das Selbstdenken appelliren, auch mehr moralische Würde aufzuweisen
haben. Eine Partei aber, welche in einem Schablonenhaften Programm ver¬
knöchert ist und jede neue Frage gleichsam in eine dogmatische Rechenmaschine
setzt, aus welcher nur etwa diese oder jene bestimmte Antwort heraussprin¬
gen kann, hat schon deshalb keine neuen Capacitäten, weil sie dieselben nicht
gebrauchen kann, nicht gebrauchen will. Da stellt denn das Dogma von
der biedermännischen Gesinnungstüchtigkeit zur rechten Zeit sich ein. Man
könnte bekannte Führer nennen, welche sogar in den Reihen ihrer eigenen
Anhänger dem unbedeutenderen, und namentlich dem schweigsamen Kandi¬
daten den Vorzug gaben vor anderen „minder sicheren", weil begabteren und
beredteren Individuen.
Allerdings ist die Beredtsamkeit, welche so oft perhorrescirt und noch
öfter mißbraucht wird, nicht immer von wirklich parlamentarischer Brauch¬
barkeit; häufig ist es nur eine gewisse Routine, in den Volks- und Bezirks¬
versammlungen erlernt und von da übertragen, oft mehr auf den Anhänger
da draußen berechnet und an sie gerichtet, als zur Belehrung im Saale der
Volksvertreter geeignet. Eine gewisse Art von „glänzender", nicht sachlicher
Beredtsamkeit trägt den Stempel politischer Unreife: sicherlich hat z. B. Jeder¬
mann Jules Favres letzte Rede über die römische Frage mit Bewunderung
gelesen, aber wir preisen die Länder glücklich, wo solche Rhetorik keinen
Platz mehr findet, wo die Grundlagen des Staatslebens nicht mehr in un¬
aufhörlichen Generaldiscussionen erörtert zu werden brauchen.
In neuester Zeit dürfte man sich mit der Hoffnung schmeicheln, die
Politik der Zweckessen mit hochbegeisterten Toasten, der Guts- und Bluts-
Adressen ohne thatkräftigen Rückhalt, sei nun ein für allemal durch die Er¬
eignisse beseitigt; schon seit dem kläglichen Ausgang des kopflos unternom¬
menen Classen-Kappelmann'schen Abgeordnetenfestes am Rhein hätte man
es glauben sollen; wie man glauben sollte, daß die kosmopolitisch-demokra¬
tischen Congresse mit dem unfriedlichen Genfer Friedenscongreß zu Grabe
geläutet worden wären. Aber es gibt bekanntlich Nevenants, und auch
überlebte geschichtliche Formationen sterben nur langsam aus.
Allgemeine Prinzipien gehören in die Schul- und Lehrbücher, bilden
aber nur dann einen festen Kitt für bestimmte Parteibildungen, wenn sie in
zeitgemäßen, auf zunächst Erreichbares gerichteten Forderungen formulirt sind.
Die Zeit, in welcher das Rotteck-Welcker'sche Staatslexikon für den Inbe¬
griff aller politischen Weisheit gelten konnte, ist nun einmal vorüber, und
jene hohen Idealisten, welche an der Spitze der Jetztzeit zu marschiren wäh¬
nen, sind in der That nur Epigonen, engherzige, kleinstädtische oder klein-
staatliche, kannegießernde Epigonen jener unfruchtbaren Epoche, wo die Bu¬
reaukratie sämmtliche öffentliche Angelegenheiten der Unterthanen uncontrolirt
besorgte und der Unterthan von vornherein an eine praktische Betheiligung
dabei gar nicht denken durfte. In jener trostlosen Zeit hat sich die weite
Kluft zwischen Theorie und Praxis ausgebildet, welche ein Moment in der
inneren Geschichte des deutschen Geistes bildet, für das bei keiner anderen
Nation etwas ähnliches zu finden ist. Hier liegt eine große, noch immer
nicht beseitigte Gefahr; hier liegt die Quelle der berüchtigten deutschen That«
losigkeit und Träumerei, der individualistischen Rechthaberei und jenes gro߬
thuenden Pessimismus, der meistenteils nur die Maske der schnödesten
Trägheit ist.
Dieses und dem Entsprechendes hatte man sich vor sechs bis sieben
Jahren gesagt, als die Fortschrittspartei ins Leben trat und ein ansehnlicher
Theil der alten Demokratie in ihr aufging. Damals schrieen und jammerten
die unverbesserlichen Radicalen vom reinsten Wasser über Abfall und Ver¬
rath, ungefähr wie jetzt die Fortschrittspartei gegen die Abtrünnigkeit der
Nationalliberalen eifert, seitdem sie wieder in die Phraseologie des alten
Radicalismus zurückgefallen ist. Diese rückläufige Bewegung ist nicht ganz
die Schuld einzelner Individuen: sie hängt enge mit der constitutionellen
Krisis in Preußen zusammen, — und zwar in so auffälliger Weise, daß in
den anderen deutschen Staaten, wo sich damals deutsche Fortschrittsparteien
nach dem Vorgang der in Preußen gegründeten bildeten (und selbst noch
sporadisch in altpreußischen Provinzen), dieselben noch heute sich Eins wissen
mit unserer national-liberalen Partei, wogegen die Verbindungen, welche
früher unter dem Namen der „Volkspartei" der deutschen Fortschrittspartei
opponire hatten, jetzt mit den preußischen Trümmern derselben offen sym-
pathisiren.
In den ersten Tagen ihres Bestehens hatte die Fortschrittspartei in
Preußen keine andere Sorge, als die, den Rechtsboden der soctroyirten)
Verfassung, den die demokratischen Genossen der Partei nicht lange vorher
erst mit einiger Ueberwindung betreten, von nun an so rein und unverrückt
wie möglich zu erhalten, die constitutionelle Rüstung, welche sie zum ersten
Male trugen, nun auch im gesetzlichen Kampfe zu erproben. Daß daraus der
Conflict mit dem Militärstaat hervorging, war nicht ihre Schuld. Aber die
lange Zeit der Verfassungssistirung, der daraus resultirenden traurigen Pflicht
einer an sich unfruchtbaren Negation drückte ihr wieder das Gepräge des
alten hoffnungslosen Radicalismus auf.
Dem Verfassungsbruch gegenüber ist die allgemeine staatsbürgerliche Ver¬
pflichtung eine sehr einfache, sie heißt: Abwehr um jeden Preis. Die poli¬
tische Aufgabe des Volksvertreters aber ist daneben noch eine andere, ver-
wickeltere und schwierigere. Er darf sich nicht damit getrösten, daß er seine
bürgerliche Pflicht erfüllt habe und der Erfolg bei Gott stehe, oder daß er
Saamenkörner ausstreue, in denen die Keime einer künstigen Revolution
revborgen liegen. Es existirt noch hier und da in vielen unklaren Köpfen
die dunkle Tradition, welche von einer großen Revolution, 'wie von einem
Messias, das Reich des Heils erwartet. Daß das deutsche Volk seiner Grund¬
anlage nach nicht revolutionär ist, daß es schon durch die mangelnde Cen¬
tralisation auf andere Entwickelungsformen angewiesen ist, als die in der¬
artigen Erschütterungen sich äußernden, daß man überhaupt mit Revolutio¬
nen nicht rechnet, das alles kann man täglich hundertmal versichern hören
und zwar von denselben Leuten, welche dennoch die Consequenzen dieser
Wahrheiten nicht zu ziehen vermögen, welche dennoch eine knabenhaft plan¬
lose Agitation ins Blaue hinein für den einzigen Weg zur Erringung oder
Vermehrung der öffentlichen Freiheiten halten. Das Schlimmste dabei ist. daß
das Ohr des Volkes für die großen Worte abgestumpft wird, daß das ewige
Anlaufnehmen ohne bestimmte Zielpunkte nicht einmal die Kräfte übt, son¬
dern nur ermüdend und abspannend wirkt. Ein berühmtes Oppositionsmit¬
glied, vielleicht der consequenteste Kopf der ganzen radicalen Partei, sagte es
einmal gerade heraus, die Zeit des Conflictes sei der Zeit constitutioneller
Compromisse weitaus vorzuziehen, sie sei die wahre politische Schule für das
Volk. Und der Mann, der so denkt, ist weder Republikaner, noch Revolu¬
tionär sondern ein Mann, der seine Stimme für Erhöhung der königlichen
Civilliste abgab. — Dieselbe Anschauungsweise, welche die Thätigkeit des
Volksvertreters nicht nach praktischen Resultaten bemißt, sondern auf unbe¬
rechenbare moralische Wirkungen sich verläßt, fand sich folgerichtig auch noch
befriedigt in jenen nutzlosen Budgetsberathungen der Conflictjahre, als die
Regierung längst kundgethan hatte, daß sie sich an die Beschlüsse des Hauses
nicht im mindesten kehre. Welche politische Demoralisation in solchem Treiben
liegt, wo den Berathungen nothwendig aller Ernst fehlt und der Versamm¬
lung in ihrer schattenhaften Existenz allmählich die Würde und Selbstachtung
abhanden kommen, das war gerade denen am wenigsten klar, welche stets
nach dem Preis der „Entschiedenheit" ringen. Gerade diese schauten
ganz vergnüglich drein.
Ich bin weit entfernt, einige Abgeordnete für das verantwortlich zu
machen, was dem ganzen Volke zur Last fällt, ja mehr noch der ganzen ge¬
schichtlichen Entwickelung zuzuschreiben ist; ich glaube im allgemeinen weder,
daß die Erwählten der Nation — nach welchem Wahlgesetze immer — hoch
über der Mehrheit ihrer Wähler, noch daß das Volk jemals hoch über seinen
Auserwählten stehe. Darum nehme ich auch an, daß die Halbheiten, In-
consequenzen und innern Widersprüche der Opposition in der Zeit des Ver¬
fassungsbruches der Gesammtstimmung und namentlich der politischen Energie
des preußischen Volkes durchaus entsprachen; wohl aber möchte ich dagegen
Verwahrung einlegen, als ob in solchen Lagen, wo Recht und Ehre auf dem
Spiele stehen, der Abgeordnete unter allen Umständen zu fragen habe: Wird
die Wählerschaft hinter mir stehen, werde ich wieder gewählt werden?
Nur wenige empfanden die ganze Schwere jener' rechtlosen Zeit und
suchten ernsthaft nach Mitteln, mit Ehren herauszukommen. Manche sogar
mögen eine Haltung sehr bequem gefunden haben, zu deren „cousequen-
ter" Behauptung weder Arbeit noch Wissen gehörte. Dem eigentlichen
Bezirksvereinspolitiker mag die Gelegenheit, in altgewohnter Art Proteste
und Resolutionen zu verfassen, verzweifelte Anschauungen in selbstgefälliger
Weise vorzutragen, nicht gerade unwillkommen gewesen sein, wie tief er auch
sonst wohl den Schmerz um das verrathene Vaterland empfunden habe.
Leichtlich'bildet sich in solchen Vereinen, die sonst sehr nützlich sein könnten,
eine handwerksmäßige Agitationsmethode mit abgedroschenen Redensarten
aus, deren Tragweite weder Redner noch Hörer mehr ermessen. Daß die
Tonart durch Königgrätz keine wesentliche Aenderung erlitt, mag insofern
zur Ehre gereichen, als auf der andern Seite die Gefahr vor Betäubung
durch Kriegsruhm gar nahe zu liegen schien. Aber daß viele sich überhaupt
in die Situation nicht finden konnten, weil sie auf dem hohen Pferde der
Abstraction saßen, ist so erhaben nicht, als es aussieht. Es ist kein Zeichen
gesunden politischen Lebens, wenn kleine, nach Zufälligkeiten zusammenge-
würfelte Versammlungen über die großen volksvertretenden Körperschaften
rücksichtslos zu Gericht sitzen, und noch weniger, wenn Mitglieder dieser
Körperschaften dazu selbst die Hand bieten. Auch in England kommt es
manchmal vor, daß ein Parlamentsglied in einer populären Versammlung
etwas mehr spricht, als er im Hause unmittelbar durchzusetzen bereit wäre;
aber nach der Hand unterscheidet er das sehr wohl, er hütet sich doch vor
bindenden Versprechungen und hält sich nicht für gefangen in den Netzen
und Fesseln seiner eigenen Eloquenz. Der heftigste Radicale würde sich wohl
besinnen, ehe er seine parlamentarische Stellung von seinem Verhältniß zu
einem beliebigen Discussionsclub regeln ließe; und mehr als solch ein eng¬
lischer Redeübungsverein sind unsre zahlreichsten Bezirksversammlungen auch
nicht. — Es gehört freilich nicht viel dazu, in einer beliebigen Urwählerver-
sammlung des Jahres 1867 einen Antrag auf schleunigste Einführung der
Reichsverfassung von 1849 zu stellen, oder mit Pathos zu erklären, daß man
lieber einen Reactionär wähle, als einen Nationalliberalen durchlasse.
Die Taktik, welche in solchen Willensmeinungen ausgesprochen liegt,
wurde nur zu oft zur Richtschnur der Fortschrittspartei und aus den Club¬
sälen in würdigere Räume übertragen. Eben weil sie nicht mit Consequenz
eine wirklich radicale Partei zu sein und ein prinzipiell festes Programm
aufzustellen und zu befolgen vermag, darum mag sie eine praktisch liberale
Partei nicht neben sich dulden. Wäre sie eine wirklich radicale Partei in
der historischen Bedeutung des Wortes, und nicht blos gelegentlich von ein¬
zelnen radicalisirenden Schriftstellern beeinflußt, so möchte ihr das Bestehen
einer liberalen Partei, welche für bescheidene praktische Fortschritte auf dem
Gebiete Majoritäten zu gewinnen weiß und ihr das Terrain für weiter¬
gehende Anträge ebnet, sehr willkommen sein. Denn daß sie nicht mehr
ohne weiteres, auch wenn die national-liberale Partei sich auflöste, eine Ma¬
jorität unter ihrer eigenen Fahne sammeln könnte, muß dem naivsten ihrer
Anhänger endlich klar geworden sein.
Keineswegs hat sich die ganze Fortschrittspartei stets von allen Compro-
missen fern gehalten; ein großer Theil ihrer Mitglieder ging auf die In¬
demnität ein, weil sie einsahen, daß das Volk sie sonst im Stiche lassen würde,
aber sie scheinen den Inhalt und die Consequenzen ihrer eignen Beschlüsse
nicht vollauf begriffen zu haben und fielen in die frühere BeHandlungsweise
der Geschäfte fortwährend zurück. Wohlbemerkt, unter allen denen, welche
nach Königgrätz die Indemnität bewilligten oder die Bewilligung guthießen,
hat wohl kein Mensch, der sich gesunder Sinne rühmen darf, an eine Be¬
kehrung des Ministeriums Bismarck-Lippe zu wirklich liberalen Regierungs»
grundsätzen geglaubt, wie die Organe der Fortschrittspartei damals von den
Nationalliberalen zu vermuthen vorgaben. Niemals dürfte das Votum so
Mißverstanden sein, als ob die Meinung gewesen wäre, Preußen stehe von
diesem Augenblicke an unter einem so wahrhaft constitutionellen, ja parlamen¬
tarischen Regierungssystem, daß die Opposition entwaffnen könnte. Auch die sich
der neuen Ordnung der Dinge aufrichtig freuten, haben wohl gewußt, daß
nicht im Handumdrehen ein Rechtsstaat begründet und befestigt wird, daß
selbst der gute Wille der leitenden Minister, wenn das Vorhandensein des¬
selben angenommen werden dürfte, dazu noch lange nicht ausreichen würde.
Aber selbst der Ministerpräsident hatte frühzeitig dafür gesorgt, daß männig-
lich vor Illusionen bewahrt bleibe. Dennoch hieß es bei jeder neuen reac-
tionären oder unconstitutionellen Maßregel immer wieder in den Versamm¬
lungen, wie in den Blättern der Fortschrittspartei: „Seht ihrs nun. ihr
Nationalliberalen, wo bleibt da eure Zwei-Seelentheorie?" — Immerhin war
an der sogenannten Zwei-Seelentheorie wenigstens das unbestreitbar wahr und
richtig, daß Bismarck die deutsche Politik nach andern Zielpunkten und mit
andern Mitteln betrieb, als die der alten Kreuzzeitungspartei gewesen, und
daß er darum auch in einer Reihe damit zusammenhängender innerer Fragen
sich nach neuen Bundesgenossen umzusehen genöthigt war., Jedenfalls hat
vermittelst dieser Wendung das Herrenhaus beträchtlich an Macht und Auto¬
rität verloren und hat sich unterdessen eine sog. „freiconservative" Partei
gebildet, die sich durch das Bestreben, auf dem Boden der Verfassung zu
stehen und zu rvirken, nicht unwesentlich von allen bisherigen conservativen
Fractionen Preußens unterscheidet.
Da ich die Zeitungen der Fortschrittspartei hier mehrmals anzuführen
genöthigt war, so muß ich hinzufügen, daß die parlamentarischen Führer
derselben früher mit einiger Sorgfalt jede Verantwortung dafür abzulehnen
pflegten. Wenn es in letzter Zeit so genau nicht mehr damit genommen
ward, so ist daraus weder zu schließen, daß der Ton dieser Zeitungen sich
gehoben hätte, noch daß die Partei an innerer Einheit das gewonnen hätte,
was sie an äußerer Ausdehnung verloren, sondern nur, daß die Bewegung
gegen die vermeintlichen Feinde oder Rivalen acuter und heftiger geworden.
Ein besonders beliebter Schachzug in den polemischen Feldzügen gegen die
Nationalliberalen war es, wie schon angedeutet, dieselben immer wieder als
hirnlose Optimisten darzustellen. Zum Beispiel: ein Handwerksbursche wurde
aus Rostock ausgewiesen, ein Handlungsreisender in Kyritz vom Magistrate
chicanirt. Sofort hieß es in der Volkszeitung oder der Zukunft: „Herr
Braun, Herr Laster. wo bleibt eure Freizügigkeit?" — Als ob alle Gesetze
und Beschlüsse, welche die Fortschrittspartei votirt hat, unverbrüchlich ge¬
halten worden wären! Soll man etwa kein gutes Gesetz machen, weil oder
so lange die Uebertretung desselben nicht zu den absoluten Unmöglichkeiten
gehört? — Beklage ihr den Mangel an constitutionellen Garantien, wir em-
pfinden ihn so lebhaft als ihr; aber wir wissen, daß constitutionelle Garan¬
tien nicht so ohne weiteres von einem Tag zum andern durch die Mehrheit
einiger Stimmen einer siegreichen Negierung abzuringen sind, daß mit bloßen
papiernen Grundrechten, einem Verfassungseid und einer I^<zx imM-kvetg. über
Ministerverantwortlichkeit wenig geschehen ist. Handelt es sich dagegen um
Budgetrecht, soll-Mvernmont, Unabhängigkeit der Gerichte, Förderung der
materiellen Interessen, so hat die nationalliberale Partei die Frage, von
welcher Seite am meisten dafür geschehen sei, wahrlich nicht zu scheuen. Es
liegt kein besonderer Ruhm darin, gegen eine Militärorganisation zu stimmen,
die nach einem ersten glorreichen Kriege in einer Zeit neuer kriegerischer Gefähr¬
dung und allgemeiner Rüstungen, wo ganz Europa sie uachzucchmen trachtet,
doch unantastbar ist; noch ist es besonders verdienstlich, sein Nein gegen eine
Bundesverfassung auszusprechen, ohne sich auch nur ein Bild davon zu entwer¬
fen, was daraus werden sollte, wenn — was man allerdings selber nicht hoffte,
auch wohl nicht wünschte — dieses Nein die Majorität für sich gewonnen hätte.
Freilich hatte es in dem Antrage von Waldeck, Virchow und Hoverbeck (im
preußischen Abgeordnetenhause, Sitzung vom 8. Mai 1867) wörtlich geheißen:
„daß alle diese Opfer an Volksrechten die Einigung Deutschlands eher hindern
als fördern, daß die einheitliche militärische Macht Deutschlands nach außen
hin durch die geschlossenen Militärconventionen und Bündnisse für die nächste
Zukunft gesichert ist; daß kein Hinderniß entgegensteht, um den
jetzt mißlungenen Versuch der Gründung eines Bundesstaats
von neuem aufzunehmen." Indessen erklärte die Fortschrittspartei, als
einmal die Bundesverfassung angenommen war, sich auf den Boden derselben
zu stellen. Das war ganz verständig, denn es verstand sich ganz von selbst.
Allein zu gleicher Zeit veröffentlichte sie in ihrem neuen Programm, neben
dem ausgesprochenen Vorsatz, die Bundesverfassung im Sinne freiheitlicher
Entwicklung ausbilden zu wollen, den ganzen eben citirten Antrag von
Waldeck. Virchow und Hoverbeck, in welchem doch ausdrücklich gesagt wird,
daß die „Bundesverfassung für eine weitere Ausbildung im Sinne freiheit¬
licher Entwicklung keine Aussicht gewährt/' — Wie weit die Gedanken¬
losigkeit solcher auf die Masse berechneter Veröffentlichungen gehen kann,
bewies in jener Zeit ein von einem berühmten Gelehrten im Namen der
Fortschrittspartei verfaßtes Wahlrundschreiben, welches dem preußischen Volke
erklärt, daß ihm durch die Bundesverfassung mehr Rechte genommen seien,
als es jemals besessen, noch aber seien ihm Rechte genug geblieben, um da¬
mit die Verlornen zurückzuerobern! — Wenigstens wurde Virchows merk¬
würdige Kritik des Militärbudgets, wonach die 225 Thaler per Soldat noch
außer allen indirekten Bundeseinnahmen durch Steuern aufge¬
bracht werden müßten (vergl. die stenographischen Berichte des preußischen
Abgeordnetenhauses, fünfte Sitzung am 7. Mai 1867, Seite 34, erste Spalte
und Seite SS, erste Spalte), nicht in das renovirte alte Programm der Fort¬
schrittspartei mit aufgenommen. Selbst die äußerste Rechte verzichtet auf den
Versuch, diese überkünstelte Auslegung ernsthaft zu nehmen.
Dagegen wurde auf Anlaß des Gerüchtes, daß sich der Bundesrath mit
Mer Ausgleichung der Tabakssteuer über das ganze Zollvereinsgebiet be¬
schäftige, die Parole: „keine neuen Steuern" für die zweiten Reichstags¬
wahlen in Scene gesetzt, und mit der Verdächtigung verbreitet, als ob die
nationalliberale Partei thatsächlich schon bereit wäre, das Volk höher zu
belasten. Also erschien plötzlich das bisherige Steuersystem so vortrefflich,
daß an eine Verbesserung nicht gedacht werden durfte. Also ward ohne
weitere Ueberlegung und ohne alle Debatte angenommen, daß die Central-
gewalt des Bundes auf Matrikularbeiträge angewiesen sein müsse, statt auf
direkte Reichssteuern, worin doch ein entschiedener Protest gegen die Conso-
lidirung des Bundes liegt.
Der Zufall wollte, daß in denselben Tagen der Kämmerer der Stadt
Berlin, den die Fortschrittspartei daselbst als Candidaten aufgestellt hatte,
als städtischer Finanzkünstler eine enorme Erhöhung der ohnedies schon
drückenden Miethssteuer beantragte.
Während also im großen Ganzen das Mißtrauen der Fortschrittspartei
gegen die neue Ordnung der Dinge so weit ging, die Entwicklungsfähigkeit der
Bundesverfassung nicht nur zu bestreiten, sondern auch die Entwicklung der
Bundesorgane thatsächlich zu hemmen, weil man plötzlich in der preußischen
Landesverfassung alle möglichen Vortrefflichkeiten entdeckt zu haben wähnte,
schlugen die Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten der lebhaft betriebenen Wahl¬
agitation gelegentlich auch in das gerade Gegentheil der solchergestalt beob¬
achteten Haltung um. So sprach z, B. der Abgeordnete Duncker in einer
berliner Wählerversammlung davon, daß der preußische Landtag zukünftig
ganz wegfallen dürfte und dem Reichstag bald nur noch Provinziallandtage
gegenüber stehen sollten. Kaum war das kühne Wort gefallen, so nahm ein
Rundschreiben des Centraleomit6s der Fortschrittspartei Bezug darauf, freilich
um mit dem Ausdruck der Verlegenheit anzudeuten, daß diesem Zukunftspro¬
gramm nothwendig erst eine Reform der Provinzialstände vorausgehen müsst.
So war denn zur selben Zeit in der Partei, welche sich vorzugsweise
die Deutsche genannt und aus früherer Zeit einige bedenkliche Reden gegen
Preußische Großmachtspolitik und Großmachtsdünkel zu vertreten hatte, bald
ein specifisch preußischer Standpunkt zu erkennen, bald wiederum ein ge¬
legentliches Umschlagen in ein schroffes und unvermitteltes Einheitsprogramm.
Wäre es nicht längst ein in der Seelenkunde feststehender Erfahrungs¬
satz, daß die Unduldsamkeit gegen fremde Anschauungen in dem Maße steigt,
je unreifer und unbegründbarer die eigenen Anschauungen find, so hätte man
sich über die Intoleranz der Fortschrittspartei bei so vielen Widersprüchen in
ihrem eigenen Schooße und einem so wenig festen Programm billig verwun¬
dern können. Dieselben Widersprüche, welche bei den Wahlbewegungen zu
Tage traten, machten sich auch im parlamentarischen Wirken geltend. Der
Gesinnungsterrorismus, der gegen die Bundesverfassung aufgeboten worden,
hatte nicht den gewünschten und erwarteten Erfolg gehabt. Die Provinzen
glaubten es dem oben erwähnten Dreimännerantrage nicht, daß der Vor¬
legung und allseitigen Annahme eines freisinnigeren Bundesverfassungs¬
entwurfes wirklich kein Hinderniß im Wege stünde, sie glaubten auch nicht,
baß bloße Militärverträge, besonders in kritischen Zeitläuften, das staats¬
rechtliche Band ersetzen könnten, und waren nicht wenig erstaunt, diese Be¬
hauptung gerade von den „entschiedensten" Liberalen aussprechen zu hören.
In provinzialen Wahlkreisen wurde denn auch vielfach 'der Versuch gemacht,
die Bedeutung des verneinenden Votums der Fortschrittspartei möglichst zu
mindern. In der That konnte die Abstimmung gegen eine Verfassung, welche daS
legale Erzeugniß des allgemeinen Stimmrechts war, kaum vom Standpunkte
des konsequentesten Radikalismus aus gerechtfertigt werden, und auch diesen
haben ja die einflußreichsten Mitglieder der Fortschrittspartei niemals einge¬
nommen. Aber noch weniger durfte eine consequent liberale Partei, besonders
nachdem sie sich einmal auf den Boden der Bundesverfassung gestellt und die
Wahlen zum konstitutionellen Reichstage angenommen, das Organ des allge¬
meinen Stimmrechts in seiner Autorität zu schwächen suchen. Welchen andern
Sinn und Zweck konnte aber das Votum der Fortschrittspartei gegen eine
Adresse nach Eröffnung des zweiten Reichstages haben, da doch in diesem Mo¬
ment kein anderes Mittel gegeben war, das Parlament aus den rein technischen
Beschäftigungen in die Sphäre der höheren Politik zu erheben und dadurch dem
Drang nach nationaler Einheit einen gewaltigen Ausdruck zu verleihen? Ich
übergehe die kostbaren Argumente, womit ein Antrag gefährdet wurde, dessen
Beseitigung ein Triumph der Partieularisten gewesen wäre. Herr Ziegler,
der Unberechenbare, der vor dem Kriege von 1866 Geist und Muth genug
gehabt hatte, in seiner breslauer Wahlrede zu sagen, das Herz der Demo¬
kratie schlage da, wo Preußens Fahnen wehen, wurde in das Vordertreffen
geschickt und warnte vor der Beunruhigung der Börse, indem er hinzufügte,
man brauche dem Grafen Bismarck nicht erst Muth und Entschlossenheit ein¬
zuflößen. — Aehnliches wiederholte sich am Schluß des zweiten Reichstages
beim Braun'schen Antrage, nur unter noch erschwerenderen Umständen. Dieser
Antrag bezweckte bekanntlich, die Erneuerung der Zoll- und Handelsverträge
mit den süddeutschen Staaten an die Bedingung der Schutz- und Trutzbünd¬
nisse zu knüpfen, die Gemeinschaft der materiellen Interessen von der Ge-
meinschaft der Vaterlandsvertheidigung abhängig zu machen und somit den
folgenreichsten Schritt zur Verwirklichung der deutschen Einheit zu thun.
Eine andere kaum minder wichtige Seite des Antrages bestand darin, daß
die Befugnisse der Volksvertretung sich hier zum erstenmale in praktischer
Anwendung über ein Gebiet erstreckten, das bisher zur sogenannten aus¬
wärtigen Politik gerechnet ward und das jedenfalls noch auf Staatsver¬
trägen beruhte. Da hörte man denn von der äußersten Linken, sie wolle
der Regierung die Verantwortlichkeit nicht abnehmen oder erleichtern, — nach¬
dem doch in monatelanger Polemik die ganze Verantwortlichkeit der Bundes¬
regierung als eine rein illusorische, ja völlig nichtige dargestellt worden war;
und dergleichen Gründe mehr. Was waren die eigentlichen Motive? Fürchtete
man die Sympathien der süddeutschen Radicalen zu verscherzen, wollte man
um keinen Preis die Action der national-liberalen Partei unterstützen, oder wit¬
terte man etwa, daß der Antrag dem Bundeskanzler und Ministerpräsidenten
gelegen kommen könnte? — Das letztere Argument wurde vielfach ange¬
deutet, niemals abgeleugnet. Eine solche negative Haltung, die nicht ihre
Gründe aus der Sache selbst schöpft, würde kaum den Namen einer syste¬
matischen Opposition, noch weniger den eines konsequenten Radicalis-
mus verdienen!
Beim Landtag, wie beim Reichstage hielt die äußerste Linke überall an
dem bureaukratischen alten Schlendrian der Commissionsberathungen fest, als
ob die Commissionsberichte, einige technische Specialitäten abgerechnet, im
besten Falle etwas anderes liefern könnten/ als ein Bild der Stimmungen
und Ueberzeugungen des Hauses, wie es aus den Berathungen im Plenum
viel unmittelbarer hervortritt. Als sich einmal auch der Finanzminister un¬
vorsichtigerweise für die neue Berathungsform des Budgets erklärt hatte, da
machte gleich ein Abgeordneter frohlockend und warnend darauf aufmerksam.
Also ein Antrag, der von einem Minister unterstützt wird, oder einem
Minister angenehm sein könnte, ist an sich schon verwerflich. Aber der Laskersche
Antrag auf eine authentische Interpretation des Artikels 84 (zum Schutze
der Redefreiheit) sollte, nach dem Erachten der Hauptredner der Fortschritts¬
partei, nur dann annehmbar sein, wenn die Regierung sich zum Voraus
dafür erklärte, mit anderen Worten: wenn er ein abgekartetes Spiel wäre.
Das vollständigste Verkennen des Wesens, Zwecks und der Bedeutung einer
authentischen Interpretation lag darin, wenn man eine solche den Rechts¬
sprüchen des höchsten und anderer Gerichtshöfe gegenüber — zumal, nachdem
Herr Frentzel von der Fortschrittspartei sogar das über ihn ergangen« Ur¬
theil durch Unterlassung der Appellation hatte rechtskräftig werden lassen —
für überflüssig oder für compromittirend halten wollte. Die Rücksicht, ein
unbedingt giltiges Fundamentalgesetz der Verfassung nicht in Frage zu stellen,
sprach wohl gegen den Guerard'schen Antrag auf Verfassungsänderung, nicht
aber gegen den Laster'schen, welcher Bestätigung, nicht Aenderung verlangte.
Weil die von Laster vorgeschlagene Deklaration, wenn abgeworfen, das alte
Recht angeblich noch tiefer erschüttern würde, darum — thaten sie ihr
Möglichstes, die Deklaration zu Falle zu bringen!! — Es war ihnen er¬
laubt, die Einbringung des Antrages, wenn er ihnen schädlich schien, mit
allen Kräften zu verhindern, sobald aber der Antrag einmal dem Hause an¬
gehörte, mußten sie jedenfalls dafür stimmen, zumal sie kein anderes Schutz¬
mittel für das bedrohte Recht der Redefreiheit in petto hatten. — außer
Herr Virchow, der eine Adresse an die Krone (!) für angemessener hielt,
das aber nur beiläufig erwähnte, ohne einen bestimmten Antrag zu stellen.
Doch genug der Exemplificationen! Unsere alten Parteigenossen müssen
bei all' ihrer mimosenhaften Empfindlichkeit, mit welcher sie jede sachliche
Erwiderung ihrer persönlichen Angriffe voll sittlicher Entrüstung zurückzu¬
weisen Pflegen, doch zugeben, daß ich blos einen Theil der hierher gehörigen
Thatsachen angeführt, daß ich die Beispiele weder falsch ausgebeutet, noch
parteilich verwerthet habe. Meine Kritik ist selbstredend keine persönliche
je höher ich einzelne Persönlichkeiten der Fortschrittspartei achte und selbst
verehre, um so gebotener erschien mir die Aufgabe, die prinzipiellen Fehler
in der Zusammensetzung und letzten Entwickelungsphase dieser Partei nach¬
zuweisen. Ich wollte darthun, daß sie weder eine radicale Partei ist, welche
über ihrer Zeit steht und sich von den Heischnissen und Bedürfnissen der augen¬
blicklichen Lage für befreit erklären darf, noch eine praktisch liberale Partei,
welche den Forderungen und Nothwendigkeiten der Gegenwart in verständig
vermittelnder Weise gerecht wird, daß sie zwar die Elemente des einen wie
des andern Standpunktes in sich trägt, aber nicht mehr die Kraft besitzt,
diese Gegensätze in sich zu überwinden und sich zu einer einheitlichen Partei
zu gestalten. Eine straffe Einheit der Ueberzeugungen ist allerdings heut¬
zutage fast bei keiner zu ermöglichen; Wind und Wetter sind bei der raschen
Entwickelung maßgebender Thatsachen der Parteibildung auf theoretischen
Grundlagen nicht günstig und der Einzelne ist nicht immer ohne weiteres
nach seiner Parteistellung abzuschätzen. Selbst die conservative Partei konnte
der starken Strömung der Begebenheiten nicht widerstehen; weil nun die so¬
genannten Freiconservativen den parlamentarischen Einfluß vielfach mit den
Nationalliberalen theilen, darum geschieht es manchmal, daß Wagner von den
Altconservativen die „Consequenz" der äußersten Linken preist, und so, wie
auch bei einigen Abstimmungen, die beiden Extreme sich die Hand zu reichen
scheinen. Abgesehen davon, daß Consequenz an sich, abstracte Consequenz
noch keine Tugend ist, so wird das Lob der Consequenz, das in diesem
gegebenen Falle schon durch die Person des Lobenden besonders verdächtig
wird, doch nimmermehr einer Partei beizulegen sein, deren geistige Arbeit
zum großen Theile darin aufgeht, die widerstreitenden Elemente in ihrer
Mitte zu beschwichtigen. Dieser Umstand nöthigte sie, zumal in der deut¬
schen Frage, zu der negativen Haltung, welche den Schein des Radikalis¬
mus an sich trägt und welche stets an die Zeit des Verfassungsconflictes
erinnert. Damals konnte es ziemlich gleichgiltig sein, ob ein Abgeordneter
anncxionistisch oder augustenburgisch dachte; wenn aber die deutsche Frage,
wenn die brennendsten Interessen der nationalen Existenz auf das Tapet
kommen, da gehört es zu den Merkmalen einer wirklichen Partei, daß alle
ihre Genossen an einem Strange ziehen. Daß dies bei der Fortschrittspartei
nicht der Fall ist, erklärt zum Theil auch den Widerspruch zwischen ihren
Populären Prätentionen einerseits und der Art ihrer parlamentarischen Thätig¬
keit andrerseits. In ihren Rundschreiben und ähnlichen derartigen Manife¬
stationen klagt sie über die Schlaffheit des Volkes bei den Wahlen; aber
wenn sie damit Recht hat, darf man dann einem Volke, welches angeblich
durch dreimaliges Wählen in einem Jahre schon ermüdet ist, auf die Dauer ein
negirendes und radicalisirendes politisches Verhalten zumuthen? — Die Fort¬
schrittspartei hat die größere Anzahl ihrer Wahlkreise verloren, und zwar in
den alten Provinzen meistens an Konservative. Wie ungerecht ist es daher von
ihr, sich über die gemäßigt liberalen Wahlen der neuen Provinzen (welche
an unserem Verfassungsconflict nicht betheiligt waren und unmöglich geneigt
sein können, diese häßliche Erbschaft anzutreten), zu beschweren, durch welche
gerettet wird, was zu retten ist und was die Fortschrittspartei, wenn auf
sich allein angewiesen, jedenfalls verlieren würde. Viele ihrer Wahlsitze
wären vielleicht dem gemäßigten Liberalismus zu erhalten gewesen, hätte sie
es nicht meistentheils absichtlich und grundsätzlich auf die Entscheidung zwischen
den beiden Extremen ankommen lassen, — gerade als ob sie vorzöge, ihre
Ansichten in der Minorität zu verkündigen, statt durch bescheidene Ver¬
mittelung praktische Resultate zu erzielen.
So lange sie selbst die Gesinnungsunterschiede mit päpstlicher Unfehlbar¬
keit ihren frühern Gefährten „ins Gewissen zuschieben" bemüht ist,
darf sie sich über solchen, vielleicht ungerechten, Verdacht kaum beschweren.
Aber mit Gefühlsausbrüchen, Verdächtigungen und Gemüthsbewegungen ist
die Spaltung in der liberalen Partei nicht zu heilen, — wenn sie überhaupt
geheilt werden soll. Jedenfalls ist es der liberalen Sache förderlicher, die
Prinzipiellen Unterschiede mit demokratischer Offenheit bloszulegen, als sie um
des lieben Friedens willen zu vertuschen und den trügerischen Schein der
Einigkeit, der in der That niemanden mehr täuschen kann, aufrechtzuhalten,
daß er die Thätigkeit auf beiden Seiten lähmt und alle die Actionen ver¬
hindert, über welche sich nicht die gesammte liberale Partei in der Kürze
verständigen kann. Weil von jener Seite gar zu häufig versucht wurde, das
Monopol der Gesinnungstüchtigkeit, Charakterfestigkeit und Ueberzeugungs¬
treue sür sich in Anspruch zu nehmen, darum mußte von unserer Seite der
Beweis geführt werden, daß es sich bei dem Zwist der Fractionen nicht um
ein Mehr oder Weniger von Liberalismus oder Patriotismus handelt, son¬
dern um die Frage, wer die gegenwärtige Situation besser versteht und die
wahren Interessen des Volkes darin sicherer wahrt? Das sind Fragen der
Logik und nicht der Moral.
Die beiden Erben der alten Fortschrittspartei, von denen jeder den
ächten Ring zu besitzen glaubt, werden sich nicht mehr in derselben Fraction
zusammenfinden, aber sie werden, wenn jede von ihnen wirklich ihren eigenen
Beruf hat und zu erfüllen versteht, eine Partei ist und keine Coterie, sich
gegenseitig achten lernen und in ihrer Wirksamkeit einander ergänzen. Die
aber in bloßes Coteriewesen verfällt, mit persönlichen Prätentionen und per¬
sönlichem Hader, die wird über kurz oder lang, trotz rühmlichster Vergangen¬
heit und vieler großen Namen, den Platz räumen müssen, und zwar im
Interesse des Liberalismus. Auf welche Weise das geschehen werde, steht
dahin, daß es geschehen wird, ist klar.
Einige Wochen nach dem Schlüsse der Rechtssession versammelte sich der
mecklenburgische Landtag, um über die gewöhnlichen, die Contribution be¬
treffenden Propositionen und daneben über die von den beiden Landesherrn
verlangte außerordentliche Beihilfe zu den Bundeskosten zu berathen. Ob¬
gleich die constitutionelle Partei keine Ursache hatte, von der Initiative des
Landtags irgend einen Schritt in der Richtung auf eine Verfassungsreform
zu erwarten, so fanden doch, vielleicht nur in der Absicht, die Abneigung des
Landtags gegen jede Verfassungsänderung noch-einmal zu constatiren, die
Bürgervertretungen einzelner Städte (Rostock, Güstrow :c.) sich veranlaßt,
ihren Bürgermeistern den Wunsch auszudrücken, daß sie in der Landtags¬
versammlung den Antrag auf Herbeiführung einer constitutionellen Landes¬
verfassung stellen möchten. Ja selbst der Magistrat einer Stadt, der Residenz¬
stadt Schwerin, ertheilte dem Landtagsdeputirten einen Auftrag gleichen In¬
halts. Aber die Bürgermeister gingen schweigend über diesen Punkt hinweg;
nur der Deputirte der Stadt Schwerin entledigte sich seines Auftrages, jedoch
SS
nur beiläufig und mit der kühlen Bemerkung, daß er eine Geneigtheit auf
die Einführung des Budgetsystems und der Consequenz desselben, einer kon¬
stitutionellen Verfassung, einzugehen, bei Ritter- und Landschaft nicht vor¬
aussetze.
Während die Landschaft (die Bürgermeister der Städte) die Erörterung
der Frage zu vermeiden suchte, wurde dieselbe dennoch von einer andern
Seite direct vor die Versammlung gebracht. Herr Dr. Bade auf Griebow,
ein schon früher als Anhänger des Constitutionalismus hervorgetretenes
Mitglied der Ritterschaft, hatte bereits unter dem 11. October einen Antrag
auf Herbeiführung einer constitutionellen Landesverfassung bei dem ständischen
engeren Ausschusse mit dem Gesuche eingereicht, denselben auf dem Landtage
zur Verhandlung zu bringen, hierauf aber ein Schreiben erhalten, welches
seinen Antrag als ungeeignet zurückwies. Herr Bade war indessen
der Ansicht, daß es weder dem engern Ausschusse, noch dem Antecomitial-
convente zustehe, einen Antrag wegen seines mißliebigen Inhalts zurückzu¬
weisen und bewies dies aus früheren Landtagsacten. Auch fand er sich am
1V. December persönlich in der Landtagsversammlung ein und stellte an
diese die Forderung, daß sie die geschehene Verweigerung der Inklination für
null und nichtig erkläre und den Antrag als giltig intimirt zur Verhandlung
bringe. Nun begann eine jener lebhaften Scenen, welche in den der mildern¬
den Einwirkung einer Geschäftsordnung entbehrenden Versammlungen der
mecklenburgischen Feudalstäude sich jedesmal zu ereignen pflegen, wenn sie
daran erinnert werden, daß die alte mecklenburgische Verfassung nicht auf
eine ewige Dauer Anspruch hat. Der Protokolldirigent, Kammerherr von
Oertzen auf Kotelow — derselbe, welcher durch eine falsche Addition der
strelitzischen Staatsministerialcanzlei sieben Wochen lang die Ehre genossen
hatte, Mitglied des Reichstags zu sein — trat dem Badeschen Antrage mit
dem Vorschlage entgegen, daß man denselben „aus sich beruhen lassen" möge,
was der feudale Ausdruck für den Uebergang zur Tagesordnung ist. Herr
Bade bekämpfte diesen Vorschlag nach Kräften und warf in der Hitze des
sich jetzt entspinnenden allgemeinen Gefechts dem engeren Ausschusse bei seinem
Verfahren den Mangel der borg, Scio8 vor. Während des sich bei diesen
Worten erhebenden Tumults wußte Herr Bade sich noch eine Zeit lang beim
Worte zu behaupten und benutzte dies, um noch folgende Ansprache an die
Versammlung zu halten: „Warum sträuben Sie sich denn so sehr gegen eine
konstitutionelle Verfassung? Es kann doch höchstens nur noch ein paar Jahre
dauern, bis wir eine solche haben. (Stürmische Unterbrechung.) Wenn Sie
nicht einmal dulden wollen, daß über diesen Gegenstand hier gesprochen wird,
so constatiren Sie damit nur eine frappante Ähnlichkeit mit dem Papstthum.
(Neuer Lärm und Gelächter.) Beide liegen in den letzten Zügen und wehren
sich trotzdem mit verzweifelter Hartnäckigkeit und einem Starrsinn, der einer
bessern Sache werth wäre (große anhaltende Aufregung) gegen jegliches Zu-
geständniß an die geschichtlichen Thatsachen. Der einzige Unterschied ist, daß
das Papstthum auf alle solche Anforderungen mit einem non possumug, der
Feudalismus aber mit einem non volumus antwortet. (Heftige Unterbrechung
und lautes Gelächter.) Lachen Sie nur, meine Herren, so lange Sie es noch
können. Sie kennen aber wohl das Sprichwort: wer zuletzt lacht, lacht am
besten." Nach dem Schlüsse dieses Vortrages riefen viele Stimmen, die
gebrauchten Ausdrücke seien ungehörig, sie müßten zurückgenommen werden.
Der Vorsitzende Landrath, Herr von Rieden: „solche politische Vorträge,
wie den eben vernommenen, wünscht man hier nicht zu hören. Herr Dr. Bade
hat die Geduld der Versammlung jetzt genügend auf die Probe gestellt."
Herr von Oertzen-Brunn: „die Kritik des Herrn Dr. Bade über den enge¬
ren Ausschuß ist unter aller Kritik, und bedarf daher einer weiteren Kritik
nicht." Herr Landrath v. Rieden: „wodurch will der Herr Dr. Bade seine
Behauptung in Betreff der malg. Lach rechtfertigen?" Herr Landrath Graf
v. Bassewitz (Mitglied des Reichstags und Vorsitzender des engeren Aus¬
schusses der mecklenburgischen Ritter- und Landschaft): „ich halte es für un¬
nöthig, den engeren Ausschuß gegen den Vorwurf der mal», tiäes zu verthei¬
digen. Herr v. Oertzen-Kotelow: „der Mangel der bona tiäes bedeutet
soviel wie Betrug, und das ist eine Beleidigung, die von der Versammlung
zurückgewiesen werden muß." Herr Landrath Graf v. Bernstorff (in höch¬
ster Aufregung): „mit mala. nach handeln bedeutet soviel wie wider besseres
Wissen und guten Glauben handeln, und (gegen Herrn Dr. Bade ge¬
wandt) Sie sind nicht berechtigt, einen solchen Vorwurf gegen den engeren
Ausschuß zu erheben. Das ist eine Ungehörigkeit! Ich trage darauf an,
daß Herrn Dr. Bade das Wort entzogen werde." Herr Dr. Bade: „Ich
glaube den Beweis für meine Behauptung geführt zu haben, können Sie
mich widerlegen, so bin ich gern bereit, meinen Vorwurf zurückzunehmen."
Viele Stimmen: „wir wollen nichts mehr hören; wir wollen nichts zurück¬
genommen haben!" Von neuem wird jetzt beantragt, die ganze Sache auf
sich beruhen zu lassen. Endlich wird die wirre und stürmische Scene dadurch
beendigt, daß ohne Abstimmung beschlossen wird, der Antrag des Herrn
1)r. Bade solle auf sich beruhen bleiben.
Ein Antrag des Gutsbesitzers Manecke-Duggenkoppel, auf provisorische
Einführung der preußischen Paß- und Vereinsgesetzgebung gerichtet, verfolgte
indirect mit dem Badeschen dasselbe Ziel und stieß daher in der Versamm¬
lung auf die gleiche Abneigung. Durch die mecklenburgische Gesetzgebung
seit der Restauration des Feudalismus im Jahre 18S0 ist die Presse und
das Versammlungs- und Vereinsrecht dem willkürlichsten Schalten der Polizei-
organe preisgegeben worden. Außerhalb Mecklenburgs erschienene Druck¬
schriften können von dem Minister des Innern bei Strafe verboten werden;
inländische periodische Druckschriften kann, nach vorausgegangener wieder¬
holter Verwarnung, das Staatsministerium verbieten. Das Buchdrucker¬
gewerbe ist concessionspflichtig. Die Entziehung der Concession kann durch
den Minister des Innern verfügt werden, wenn nach wiederholter schriftlicher
Verwarnung oder nach erfolgter gerichtlicher Bestrafung der Buchdrucker
seine Beschäftigung beharrlich zur Verbreitung von Druckschriften benutzt,
welche nach Ansicht des Ministers des Innern strafbar sind. Die Abhaltung
von öffentlichen Versammlungen zu politischen Zwecken und die Bildung von
Politischen Vereinen ist von der Genehmigung des Ministers des Innern
abhängig, und in der Praxis wird diese Vorschrift, was die politischen Ver¬
eine betrifft, nicht blos auf die „Bildung" solcher Vereine angewandt, son¬
dern auch auf den Beitritt zu politischen Vereinen, welche in andern deutschen
Staaten in Uebereinstimmung mit den dortigen Gesetzen bestehen. Diese
Bestimmungen, der norddeutschen Bundesverfassung gegenübergestellt, welche
die Gesammtheit der Staatsbürger zur thätigen Theilnahme an den öffent¬
lichen Angelegenheiten beruft, enthalten eine so schreiende Zurücksetzung und
Demüthigung der mecklenburgischen Bevölkerung, daß die alten Stände, wenn
sie wirklich noch den Anspruch machten, eine Vertretung dieser Bevölkerung
zu sein, einmüthig die Gelegenheit hätten ergreifen müssen, um über dieselben
ihr Verwerfungsurtheil auszusprechen. Aber keine Stimme in der ganzen
Versammlung erhob sich in diesem Sinne. Ein oder zwei Bürgermeister
versteckten sich hinter ihre Unbekanntschaft mit der preußischen Gesetzgebung
und setzten es durch, daß unter diesem Vorwande der Antrag abgelehnt
wurde. Der wahre Grund aber, weshalb die Stände die Unterdrückung der
Presse und des Vereinslebens nicht entbehren wollen, ist, daß sie eine Exi¬
stenzfrage darin erblicken. Sie sind sich bewußt, daß die alte Landesverfassung
den Tag der Freigebung der Presse und des Versammlungs- und Vereins¬
rechts nicht um drei Monate überleben würde, und daß nur noch unter dem
herrschenden Zwange dieselbe sich aufrecht erhalten läßt. Diese Verfassung
aber wollen sie nicht aufgeben, so lange noch eine Möglichkeit für deren
Erhaltung sich darzubieten scheint, — theilweise gewiß, weil sie mit ihrer
Politischen Ueberzeugung auf dem Boden des Feudalismus stehen, theilweise
aber auch nur aus persönlichen Interessen, da mit der Aufhebung der stän¬
dischen Verfassung der Einfluß der Ritter und der Bürgermeister, im Staate
wie in der Gemeinde, erlöschen oder wenigstens sich sehr vermindern und
Manche ergiebige Einnahmequelle für beide versiegen würde. Daher wissen
sie es der Regierung Dank, daß sie weder selbst die Initiative ergreift, um
dem Dasein der ständischen Verfassung ein Ende zu machen, noch der Bevöl-
kerung die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung gewährt, welche deren
Untergang bedeuten würde, und sie bezeugen ihre Dankbarkeit für die ihney
in der Regierung allein noch übrig gebliebene Stütze ihrer politischen Exi¬
stenz durch unbedingte Unterwerfung unter deren Willen.
Die Negierung mag sich vielleicht der Einsicht nicht ganz verschließen,
daß die Uhr der feudalen Herren auch in Mecklenburg bald abgelaufen sei^
wird. Aber sie läßt diesen Zeitpunkt resignirt an sich herankommen, ohn!e
seinen Eintritt zu wünschen und zu beschleunigen, gerade so, wie sie im Jahre
1866 den großherzoglichen Gesandten am Bundestage nicht eher zurückberief,
als bis seine dortige Stellung völlig unhaltbar und ein längeres Zaudern
für die staatliche Selbständigkeit Mecklenburgs gefährlich geworden war. Sie
erfüllt äußerlich ihre neuen Bundespflichten, aber sie gehört dem norddeutschen
Bunde nicht mit ihrem Herzen an- Diese Stellung erklärt sich daraus, daß
die höheren Negierungsämter ausschließlich im Besitz entschiedener Anhänger
des alten Patrimonialstaats sind. Einige dieser Regierungsmänner sind
noch dazu selbst Mitglieder der Ritterschaft und dadurch mit den ritterschaft¬
lichen Interessen auf das engste verflochten. Der Ministerpräsident, v. Oertzen,
war in den vierziger Jahren einer der Führer des sogenannten eingeborenen
Adels in der Ritterschaft und bekämpfte als solcher die Ansprüche der nicht¬
eingeborenen Ritter auf gleiche politische Berechtigung. Der Ftnanzminister
v. Müller, gleichfalls ein Mitglied der Ritterschaft, war sehr tief in die
Umtriebe verwickelt, welche von den Gegnern der constitutionellen Staats¬
form gegen das Staatsgrundgesetz vom 10. October 1849 in Bewegung ge¬
setzt wurden und dessen Umsturz bewirkten- Er war es, welcher einige Tage
vor Publication dieses Staatsgrundgesetzes auf einer Versammlung von Rit¬
tern der feudalen Partei nach einer den Normen auch der alten Verfassung
widerstreitenden Weise in den ständischen engeren Ausschuß erwählt wurde
und in demselben auch dann noch verblieb, als dieses Kollegium, gleichzeitig
mit der Publication des Staatsgrundgesetzes, gesetzlich aufgehoben worden
war. Herr v. Müller gehörte zu dem aus 4 oder 5 Personen bestehenden
rennenden Rumpf des gesetzlich aufgelösten engeren Ausschusses, welcher am
20. December 1849 auf Befehl des Großherzogs Friedrich Franz zur Räu¬
mung seines Sitzungslocals gezwungen werden mußte, was durch die als
Symbol militärischer Gewalt anrückende, in der mecklenburgischen Geschichte
wohlbekannte Person des Musketier Schlie ausgeführt wurde.
Es fehlt zwar einzelnen Mitgliedern der jetzigen Regierung auch nicht
ganz an constitutionellen Reminiscenzen aus ihrer früheren Wirksamkeit.
Der Justizminister, or. Buchka, war sogar Commissarius der strelitzischen
Negierung zur Vereinbarung einer constitutionellen Landesverfassung mit der
Abgeordnetenkammer von 1848 und 1849 und hatte als solcher die Aufgabe,
eine sehr freisinnige Vorlage der Regierung der letzteren zur Annahme zu
empfehlen. Selbst der Ministerpräsident vonOertzenhat seinen Feudalismus
von constitutionellen Anwandlungen keineswegs frei zu erhalten gewußt.
Eine solche momentane Schwäche zeigte er in einer vom 17. September 1848
datirten, mit seinem vollen Namen „I. von Oertzen auf Leppin" unter¬
zeichneten Erklärung, welche er zur Widerlegung aller Zweifel an der ernst¬
lichen Absicht seiner Partei, den Constitutionalismus zu fördern, in der Bei¬
lage zur „Rostocker Zeitung" vom 21. September 1848 veröffentlichte und es
u. A. für „selbstverständlich" erklärte, daß die besonderen politischen Rechte
des Adels aufhörten.
Dieser constitutionelle Abschnitt in dem Leben des Herrn von Oertzen
wich aber sehr bald wieder den Anschauungen aus der vor constitutionellen
Zeit und als Herr von Oertzen am 1. Juli 1852 vom Großherzog zum
Minister ernannt war. gehörte es zu seinen ersten Amtshandlungen, daß er
ein großherzogliches Rescript an den Landtag contrasignirte, welches den
festen Entschluß verkündigte, „die bestehende Landesverfassung kräftig aufrecht
zu erhalten und zu schützen", und davon seltsamere Resultate erwartete als
von „allem Erperimentiren mit neuen willkürlichen Verfassungsformen."
Daß eine mit den Interessen des Feudalismus so eng verbundene Re¬
gierung nicht ihre Macht gebrauchen würde, um mit dem alten Staat ab¬
zurechnen und durch Herbeiführung moderner Staatseinrichtungen Mecklen¬
burg zu einem lebendigen Gliede des norddeutschen Bundes zu machen, mußte
man erwarten. Die dem Landtage zugegangenen Finanzvorlagen bestätigten
auch gar bald, daß es wirklich die Absicht war, mit dem alten Finanzsystem
des Feudalstaats den neuen Anforderungen die Spitze zu bieten.
Nach der altständischen Verfassung hat der Großherzog aus den Ein¬
künften des Domanium und der Regalien die Kosten der gesammten Lan¬
desverwaltung, einschließlich der sogenannten Garnisons- und Fortisications-,
d. h. der Militärkosten, zu bestreiten und nur als Beihilfe dazu empfängt
er in der Form einer mit den Ständen vereinbarten Aversionalzahlung die
Auskunft aus den Steuern und Zöllen. Ueber die Verwendung dieser Gelder
steht den Ständen keinerlei Controle zu. Einen Staatshaushalt und eine
Staatskasse gibt es ebensowenig als einen einheitlichen Staat. Diesem Zu¬
stande war vor allen Dingen abzuhelfen, wenn Mecklenburg in den Organis¬
mus des Bundesstaats als ein gleichartiges Glied eingefügt werden sollte.
Es mußte ein einheitliches Finanzsystem und eine Feststellung des Staats¬
haushalts durch eine einheitliche Landesvertretung eingeführt werden. Vor¬
bedingung dafür war die Scheidung zwischen Kron- und Staatsgut, Kron-
und Staatseinkünften, Großherzoglicher und Staatskasse.
Die Regierung enthielt sich jedoch jedes Schrittes in dieser Richtung.
Es kam ihr nur darauf an, für ein Jahr einen Beitrag der Stände zu den
Bundeskosten zu erlangen. Ohne irgend eine Berechnung über die Leistungs¬
fähigkeit der landesherrlichen Kasse vorzulegen, veranschlagte sie die aus den
Bundespflichten sich ergebende Mehrbelastung derselben für das erste Jahr
auf 600,000 Thlr. und verlangte dazu vom Lande eine Beihilfe von 220.000
Thlr. Zugleich sprach sie die Erwartung aus, daß nach dem einstweilen noch
durch den Handelsvertrag mit Frankreich gehinderten Eintritt Mecklenburgs
in das deutsche Zollgebiet die alsdann für Mecklenburg in Rechnung kom¬
menden Auskünfte aus dem Zoll und den Consumtionssteuern sie der Noth¬
wendigkeit überheben würden, die Beihilfe des Landes zu den Bundeskosten
in Anspruch zu nehmen. Die Mittel zur Aufbringung der geforderten
220,000 Thlr. sollten etwa zur Hälfte durch Erhöhung einzelner Tarifsätze
des bestehenden mecklenburgischen Grenzzolls und Einführung einer Abgabe
von der Salzproduction, zur anderen Hälfte durch ein Simplum der außer¬
ordentlichen Contribution aufgebracht werden. Der Landtag fand am Vor¬
abend seines Zusammentritts die Gesetze über die Erhöhung der Zölle und
die Salzabgabe schon in voller Wirksamkeit vor. Denn vorsorglich hatte die
Negierung für diese Gesetzgebung dis Zustimmung des engeren Ausschusses
nachgesucht und dieser hatte, da er die geheime Vorbereitung der Maßregel
für die Bedingung ihrer Ausführbarkeit ansah und die Rechte der Stände
durch den Vorbehalt der nachträglichen Zustimmung des Landtags und der
eventuellen Rückzahlung des Betrages der Zollerhöhung an die Verzoller für
hinlänglich gewahrt erachtete, die kleine Competenzüberschreitung nicht ge¬
scheut, welche in der Ertheilung der verlangten Zustimmung lag.- Daß eine
Zurückversetzung in den ursprünglichen Zustand nicht möglich sei, daß man
wohl dem Kaufmann, der den Zoll verlegt, aber nicht dessen Kunden, die
ihn in dem Kaufpreise der Waare vergütet hatten, den Zoll zurückerstatten
könne, und daß daher diese Zurückerstattung für den ersteren nur den Cha¬
rakter eines reinen Geschenkes haben würde, war dabei übersehen worden.
Die Ritterschaft war mit der vollendeten Thatsache sehr einverstanden,
da sie die Erhaltung der alten, ständischen Verfassung verhieß, und sie zögerte
daher nicht, ihre Bereitwilligkeit zur Bewilligung zu erklären. Die Land¬
schaft glaubte anfangs die Gelegenheit wahrnehmen zu müssen, um eine auf
das gesammte Abgabenwesen sich erstreckende Reform herbeizuführen, und
knüpfte daher die Bewilligung der geforderten Beihilfe an die Bedingung,
daß der Großherzog die Zusicherung ertheile, sofort Verhandlungen wegen
einer solchen Reform mit ständischen Deputirten einleiten zu wollen. Die
Regierung kannte jedoch aus Erfahrung den geringen Grad von Festigkeit,
welchen die städtischen Magistratspersonen ihr gegenüber besitzen, und wei¬
gerte sich daher, auf das Verlangen der Landschaft einzugehen. Es bedürfte
auch nur eines großherzoglichen Rescripts, um die Landschaft ins Schwanken
zu bringen, und eines zweiten, um sie vollständig herüberzuziehen. Auch die
Landschaft erklärte jetzt die reine, bedingungslose Zustimmung zu der gro߬
herzoglichen Proposition, und so waren denn Regierung und Stände in dem
Entschlüsse geeinigt, an dem alten Staat durch die neue Bundesverfassung
nichts ändern zu lassen. Hätte aber auch die Landschaft wirklich ihre Be¬
dingung durchgesetzt, so war damit auch noch nichts Wesentliches erreicht.
Denn Verhandlungen über eine Steuerreform, welche nicht auf der Grund¬
lage der Staatseinheit und eines einheitlichen Staatshaushalts, sondern auf
der bisherigen Vermischung der Großherzoglichen und der Staatskasse be¬
ruhen und von der Voraussetzung einer Beibehaltung der in Domanium
Ritterschaft und Städten sich darstellenden Svnderinteressen ausgehen, können
nicht zu einem gedeihlichen Ausgange führen.' Ueberdies war durch Ein¬
leitung von Verhandlungen über eine Reform der Steuern die schließliche
Einigung über letztere keineswegs verbürgt. Die Sonderinteressen würden
bei den Verhandlungen ihren vollen Spielraum behalten, und die dringlich¬
sten und heilsamsten Reformen zum Scheitern bringen.
Bei dieser Auffassung und Behandlung der Angelegenheit mußte be¬
greiflich die wichtige Frage, ob nicht das Beispiel der von fast allen Bun¬
desstaaten mit Preußen abgeschlossenen Militärconventionen auch von Meck¬
lenburg nachgeahmt werden könne und aus welchem Grunde die Regierung
es unterlassen habe, ihre Bemühungen auf eine solche Vereinbarung zu rich¬
ten, gänzlich unerörtert bleiben. Der Regierung wird es nicht entgangen
sein, daß auf diesem Wege große Ersparungen sich hätten erzielen lassen.
Legt man auch nur den am wenigsten günstigen Maßstab der durch eine
solche Militärconvention dem Großherzogthum Oldenburg zu Theil geworde¬
nen Erleichterung zu Grunde, so kommt man auf eine Ersparung, die im ersten
Jahre für jeden Mann des Contingents 60 Thlr. und für jedes der folgenden
vier Jahre 12 Thlr. weniger, im Ganzen also für Mecklenburg-Schwerin, bei
einer Contingentsstärke von 6600 Mann, im ersten Jahre 336000 Thlr.
und in dem fünfjährigen Uebergangszeitraum die Summe von 1,008,000 Thlr.
betragen haben würde. Aber der kleine Schein von Selbständigkeit, welcher
für diesen hohen Preis erkauft wurde, war für die herrschenden Kreise zu-
verlockend, als daß sie sich nicht gern zu dem Verzicht auf eine solche Er¬
sparung verstanden hätten und von den Ständen wurde, wie ihr Schweigen
und ihre bedingungslose Bewilligung der geforderten Beihilfe beweist, diese
Anschauung getheilt und gutgeheißen.
Ueber die Finanzsorge des ersten Jahres nach der Begründung der nord¬
deutschen Bundesverfassung haben Regierung und Stände sich zwar glück¬
lich geholfen; aber auf einer schweren Täuschung beruhet es doch, wenn
erstere sich mit der Aussicht trägt, daß nach dem Eintritt Mecklenburgs in
den Zollverein die landesherrliche Kasse allein im Stande sein werde, die
Bundeskosten zu decken. Die Regierung geht dabei von der Auffassung aus,
daß die Mecklenburg zu Gute kommende Quote der Zollvereins- und Ver¬
brauchssteuer-Einnahmen so hoch sein wird, daß das fehlende und demnach
durch Matricularumlage aufzubringende von der landesherrlichen Kasse ohne
größere Anspannung ihrer Kraft als der bisherigen werde getragen werden
können. Allerdings: wenn die jetzige Verpflichtung dieser Kasse, wonach die¬
selbe in erster Linie die Militärkosten zu decken hat und das Land dazu nur
eine Beihilfe leistet, sich dahin umkehren sollte, daß die Bevölkerung, indem
sie den Grenzzoll nach dem Tarif des Zollvereins und die Verbrauchssteuern
aufbringt, die Hauptlast übernimmt und die landesherrliche Kasse nur aus¬
hilflich herangezogen wird, so wäre der Verzicht des Großherzogs auf eine
Beihilfe des Landes gewiß nicht nur ausführbar, sondern sogar noch ein
lucratives Geschäft, vorausgesetzt, daß die Bedürfnisse der Bundeskasse nicht
erheblich über die jetzige Höhe hinauswachsen und daneben in Mecklenburg
sämmtliche bisherigen Steuern fortdauern würden. Eine solche Voraussetzung
aber ist in ihren beiden Theilen unhaltbar. Die Bedürfnisse der Bundes¬
kasse werden voraussichtlich schon in nächster Zukunft über das jetzige Maß
hinausgehen, und eine Beibehaltung der sämmtlichen bestehenden mecklen¬
burgischen Landessteuern neben den neu hinzutretender, in die Bundescasse
fließenden Zöllen und Steuern ist unmöglich, theils weil dadurch eine Ueber-
lastung für einzelne Theile der Bevölkerung entstehen würde, welche nicht
getragen werden könnte, theils weil die Veränderung anderweitiger Verhält¬
nisse zu ihrer Aufhebung zwingen wird. Letzteres gilt namentlich von der
Handelsklassensteuer und der an die Stelle der indirecten Mahl- und Schlacht¬
steuer getretenen directen Steuer. Beide haben die Beschränkung der betref¬
fenden Gewerbbetriebe zur Voraussetzung, welche voraussichtlich bald beseitigt
werden wird, und die Handelselassensteuer ward zu dem gleichzeitig mit ihr
im Jahre 18K3 eingeführten mecklenburgischen Grenzzoll dadurch in Beziehung
gesetzt, daß sie ein Drittheil, der Grenzzoll aber zwei Drittheile des Ertrages
der damals aufgehobenen indirecten Handelssteuer decken sollte. Wird nun,
durch die Einführung des Zollvereinstarifs, der Ertrag des Grenzzolls um
weit mehr als das Doppelte erhöht, so wird dadurch der Handelselassensteuer
als Supplement des Grenzzolls die Basis der Existenz entzogen. Die Noth¬
wendigkeit einer Reform des mecklenburgischen Steuer- und Finanzwesens ist
also durch die getroffene Vereinbarung nicht beseitigt, sondern nur für ein
Jahr in den Hintergrund gedrängt, und diese Reform wird selbst dann ihre
Erledigung fordern, wenn, wider alle Wahrscheinlichkeit, die Bedürfnisse der
Bundescasse über das Maß des ersten Jahres in Zukunft nicht wesentlich
hinausgehen sollten. — Hieran wird auch durch die großartige Finanzopera¬
tion nichts geändert, welche, einer beiläufigen Mittheilung an den Landtag
zufolge, der Großherzog mit einem wesentlichen Theile seines Domanium
projectirt und welche bestimmt ist, theils den Zufluß beträchtlicher Capitalien,
theils große Ersparungen an Verwaltungskosten zu bewirken. Es handelt
sich dabei um eine allgemeine und sofort in Angriff zu nehmende Vererb -
Pachtung der bisher im Zeitpachtverhältniß bewirthschafteten Bauerstellen,
deren Zahl noch ungefähr 4000 beträgt. Diese Operation kann nur gelin¬
gen, wenn der Großherzog auf sein, von jeder ständischen Mitwirkung unab¬
hängiges, völlig unumschränktes Gesetzgebungs- und Besteuerungsrecht im
Domanium verzichtet und der Domanialbevölkerung staatsbürgerliche Rechte
einräumt. Sie verstärkt also nur die Forderung einer gründlichen Umge¬
staltung der Staatseinrichtungen und der Herbeiführung eines einheitlichen
Staatswesens.
Die neuen Bundesgesetze treiben das alte Staatswesen unaufhaltsam über
sich selbst hinaus; aber anstatt nun freudig in die neue Strömung einzu¬
treten, bequemt sich die Regierung den vom Bunde ausgehenden Impulsen
nur so weit an, als sie gerade muß, um dem hellen Conflict mit den Bun¬
desgesetzen auszuweichen.
Dies zeigte sich besonders in der Juden frage. Die Regierung legte
dem Landtage einen Gesetzentwurf wegen der rechtlichen Verhältnisse der
Juden vor, durch welchen sie „die Verhältnisse der jüdischen Unterthanen mit
dem Artikel 3 der Verfassung des norddeutschen Bundes in Einklang bringen"
wollte. Es war ihr dabei entgangen, daß inzwischen schon der Artikel 3
des Bundesgesetzes über Freizügigkeit den Juden das Recht der Nieder¬
lassung und des Erwerbes von Grundstücken ertheilt hatte und daß es daher
ein ganz ungehöriger Pleonasmus war, wenn § 1 ihres Gesetzentwurfes
die Bestimmung aufstellte: „Es ist den Juden fortan gestattet, liegende
Gründe aller Art gleich den Christen eigenthümlich zu erwerben." Nachdem
die Regierung das falsche Verhältniß gewahr geworden war, in welchem
dieser Entwurf zu dem Bundesgesetze stand, zog sie denselben zurück und legte
einen neuen Entwurf vor, welcher nur als Ausführungsgesetz sich darstellte,
aber aus dem ersten Entwurf alle Bestimmungen beibehalten hatte, welche
eine Beschränkung der staatsbürgerlichen Rechte der Juden bezwecken. Juden,
welche Grundeigenthum erwerben, bleiben nach dieser Vorlage von der Aus¬
übung der Landstandschaft, der Jurisdiction!e., auch von der Ausübung der
Polizei, so weit es sich um die Untersuchung und Bestrafung von Vergehen
handelt, ausgeschlossen. Die Landstandschaft ruhet während der Dauer des
Besitzes, die übrigen mit dem Grundbesitz verbundenen Rechte werden durch
einen von der Regierung zu bestellenden Vertreter ausgeübt. Die Kosten
der Vertretung, über deren ungefähren Betrag die Vorlage sich nicht weiter
ausläßt, trägt der Jude. Zum Erwerb des Bürgerrechts in den Städten
sollen..die Juden nur mit der Beschränkung zugelassen werden, daß sie von
solchen amtlichen Functionen, zu welchen sie als Besitzer von ländlichen Grund¬
stücken nicht fähig sind, auch im städtischen Dienste ausgeschlossen bleiben. Hin¬
sichtlich dieser Beschränkungen war sogar die strelitzische Regierung, die sonst
nicht in dem Ruse steht, daß sie an Freisinnigkeit der schwerinschen Regie¬
rung überlegen ist, mit letzterer nicht einverstanden. Auf dem Landtage fand
sich jedoch nur eine kleine Minderheit, welche für den freisinnigeren strelitzi-
schen Entwurf auftrat. Ein Bürgermeister warnte vor der Gefahr, welche
in der Patrimonialgerichtsherrlichkeit eines jüdischen Gutsbesitzers und in der
Zulassung eines Juden zu obrigkeitlichen und richterlichen Aemtern liege.
Der Vorsitzende, Landrath von Rieden, meinte, man könne doch abwarten,
ob die in dem schweriner Entwürfe enthaltenen Beschränkungen der staats¬
bürgerlichen Rechte der Juden für unvereinbar mit den Bestimmungen des
Freizügigkeitsgesetzes angesehen würden; käme dann eine Erinnerung vom
Bunde, so sei es noch immer Zeit, die erforderlichen Aenderungen zu treffen.
Kammerherr von Oertzen prophezeite das Schreckliche, daß binnen vier
Wochen in der bisher den Juden verschlossenen Stadt Rostock zehn Juden
sich niederlassen und binnen wenigen Jahren auch im Magistrat vertreten
fein würden, wenn man sich dagegen nicht sichere. Als nun die Versamm¬
lung sich durch Acclamation den schwerinschen Entwurf aneignen wollte, for¬
derte Herr Pogge-Blankenhof die Abstimmung, damit es sich zeige, wie
wenig die Stände geneigt seien, sich den neuen Verhältnissen zu fügen. Herr
von Rieden fragt: „demnach wünscht Herr Pogge, daß die Stände sich
prostituiren?" Nach einer kurzen Entgegnung des Herrn Pogge wird so¬
dann der schwerinsche Gesetzentwurf mit der großen Mehrheit von 87 gegen
23 Stimmen angenommen.
In einer andern Richtung glaubte die Regierung den Forderungen des
Freizügigkeitsgesetzes eine größere Berücksichtigung schenken zu müssen, ohne
jedoch die Stände dafür gewinnen zu können. Außer dem "Entwurf einer
Ausführungsverordnung zum Freizügigkeitsgesetz, welche die der Landesgesetz¬
gebung vorbehaltene Anmeldungspflicht regelte, legte sie zwei Gesetzentwürfe
vor, von denen der eine Bestimmungen über die Erwerbung der Ortsange¬
hörigkeit durch fortgesetzten Aufenthalt aufstellte, der andere auf eine Erleich¬
terung der Eheschließung durch Einführung von Trauscheinen berechnet war.
Nach ersterem sollte die Erwerbung der Ortsangehörigkeit für selbständige
Personen an einen zehnjährigen ununterbrochenen Aufenthalt (statt des bis¬
herigen zweijährigen), für unselbständige Personen an einen Aufenthalt von
fünfzehnjähriger ununterbrochener Dauer geknüpft sein. Diese Verlängerung
der Frist glaubte man den Städten als Ersatz für die Ausweisungsbefugniß,
durch deren rechtzeitige Anwendung sie bisher die Erwerbung der Ortsange¬
hörigkeit in jedem einzelnen Falle hindern konnten, darbieten und sie dadurch
gegen eine übermäßige Armenversorgungslast sichern zu müssen. Der andere
Gesetzentwurf machte, unter Aufhebung des bisherigen Erfordernisses des
Wohnungsnachweises, die Verheirathung von einer dem Bräutigam auszu¬
stellenden obrigkeitlichen Bescheinigung abhängig, daß derselben kein Hinderniß
entgegenstehe, und verpflichtete die Obrigkeiten, eine solche Bescheinigung, ab¬
gesehen von einzelnen näher angegebenen Ausnahmefällen, keinem Volljäh¬
rigen, welcher seiner Wehrpflicht genügt habe, zu versagen. Die Eheschließung
sollte auf diese Weise von allen, nicht durch öffentliche Interessen und das
Gedeihen der Ehe selbst geforderten Beschränkungen befreiet werden. Das
Freizügigkeitsgesetz, so begründete die Regierung ihren Entwurf, mache die
Erleichterung der Eheschließung zur dringenden Pflicht, weil sonst die Landes¬
angehörigen würden verhindert werden, von den Vortheilen der Freizügigkeit
in gleichem Maße Gebrauch zu machen, wie die Angehörigen der anderen
Bundesstaaten; während diese in Mecklenburg heirathen könnten, würden
jene im Auslande von der Gründung eines häuslichen Heerdes ausgeschlossen
sein. „Von noch durchschlagenderer Bedeutung" — so führten die Motive
weiter aus — „ist ein anderer, nicht erst von heute datirender Mißstand;
es ist der verderbliche Einfluß, den die Erschwerung der Heirathen auf die
öffentliche Moral übt. Nicht blos darf als allgemein anerkannt betrachtet
werden, daß zwischen ihr und der im Lande vorkommenden großen Zahl von
wilden Ehen und unehelichen Geburten ein naher Zusammenhang stattfindet,
sondern es kommt weiter in Betracht, wie höchst ungünstig die Verhältnisse
einwirken, in denen die unehelichen Kinder zu leben und heranzuwachsen
Pflegen .... Es wird unbedenklich behauptet werden dürfen, daß sie zur
Zahl der in Arbeitsscheu, Stumpfheit und Unsittlichkeit verkommenen Sub¬
jecte das verhältnißmäßig bedeutendste Contingent liefern ... Ob freilich
einem so tief eingewurzelten Uebel irgend ein Mittel vollkommen gewachsen
sei, steht dahin. Darüber aber kann kein Zweifel sein, daß jedenfalls der
erkannte Grund des Uebels beseitigt, d. h. daß die Eheschließung von allen
nicht durch öffentliche Interessen, und das Gedeihen des ehelichen Lebens selbst
geforderten Beschränkungen befreiet werden muß."-
Indessen vermögen alle diese Gründe bei den Ständen nichts. Die
Ritterschaft fürchtete von der Einführung einer zehnjährigen Frist für die
Erwerbung der Ortsangehörigkeit durch Aufenthalt eine Rückströmung Ver¬
armter auf die heimathlichen Güter, welche sie mit unerschwinglichen Armen¬
versorgungslasten bedrohete, zumal wenn die Verarmten nicht nur für ihre
Person, sondern in Folge der Erleichterung der Eheschließung mit Weib und
Kind auf den Gütern einrücken würden und nun aus der Tasche des Guts¬
herrn erhalten werden sollten; und wenn sie auch einräumten, daß das Frei¬
zügigkeitsgesetz eine Aenderung der Gesetzgebung in der vorgeschlagenen
Richtung erfordere, so meinten sie doch, daß es dazu noch immer Zeit sein
würde, wenn die weitere Entwickelung der Bundesgesetzgebung dazu zwinge.
In letzterer Beziehung schlössen sich den Rittern auch die Bürgermeister
an. Der Ausführung, wonach zwischen der Erschwerung der Eheschließung
und der großen Zahl der wilden Ehen und der unehelichen Geburten ein
anerkannter Zusammenhang bestehe, wurde vom Landtage die Behauptung
entgegengestellt, „daß nach zweifellosen Ergebnissen der Bevölkerungsstatistik
in anderen deutschen Staaten.' z, B. Königreich Sachsen, welche die
beabsichtigten Erleichterungen der Eheschließung bereits eingeführt haben,
die beregten Mißstände in demselben oder doch in annähernd gleichem Maße
vorhanden sind", wodurch wenigstens so viel bewiesen werde, „daß die letz¬
teren in Mecklenburg keinenfalls vorwiegend auf den bestehenden Rechtszustand
wegen der Eheschließungen zurückgeführt werden können." Auf Grund dieser
Einwendungen wurde der Gesetzentwurf wegen Einführung von Trauscheinen
von beiden Ständen und der andere wegen Erwerbung der Ortsangehörig¬
keit durch fortgesetzten Aufenthalt von der Ritterschaft abgelehnt.
Die Regierung wurde durch diese Ablehnung sehr unsanft berührt und
sprach das in ihrem Rescript vom 21. December direct aus. Der Großherzog
verzichtet zwar bei der Kürze der Zeit darauf, durch eine erneuerte Darlegung
noch auf dem gegenwärtigen Landtage einer „den Bedürfnissen des Landes
entsprechenden" Auffassung Eingang zu verschaffen, hält aber die Nothwendig¬
keit der proponirten Gesetzgebung in vollem Maße aufrecht und behält sich
vor, auf diese wichtige Maßregel zurückzukommen.
Das in dieser Verhandlung hervortretende Zugeständnis? der Regierung,
daß in Mecklenburg „alte, schwer auf der Bevölkerung des Landes lastende,
allgemein anerkannte Uebel" zu beseitigen sind (dieser Ausdrücke bediente
sich das erwähnte Rescript), ist ein vollkommen neues. Bisher war die Re¬
gierung bemüht, die mecklenburgischen Staatseinrichrungen als unanfechtbar
und tadellos erscheinen zu lassen, und ihre Presse war gewohnt, alle, welche
an den glücklichen Zuständen des Landes zu zweifeln wagten, als „entartete
Söhne" oder als ein kleines Häuflein Unzufriedener darzustellen. Jetzt tritt
die Regierung selbst in die Reihen dieser „entarteten Söhne" und erhebt eine
harte Anklage gegen die Institutionen des Landes. Man begreift dabei nur
nicht, wie es hat geschehen können, daß sie diese Entdeckung nicht früher
gemacht hat und erst in dem Freizügigkeitsgesetz des norddeutschen Bundes
den Antrieb findet, an jene verderbensäenden Institutionen die bessernde Hand
zu legM. Noch weniger begreift man, wie sie die Besserung mit Ständen
glaubt ausführen zu können, denen sie in dem gedachten Rescript den Vor¬
wurf macht, daß ihre Auffassung den Bedürfnissen des Landes nicht entspreche.
Gleichfalls der Beachtung werth ist die in dem großherzoglichen Rescript aus¬
gesprochene Absicht, die mecklenburgischen Staatsangehörigen vor einer Zu¬
rückstellung gegen die übrige Bundesbevölkerung zu bewahren; aber man
begreift auch hier wieder nicht, warum diese Fürsorge sich auf ein einzelnes
Gebiet beschränkt, während nach dem Willen der Regierung die Mecklenburger
auf so vielen anderen Gebieten an staatsbürgerlichen Rechten und Freiheiten
weit hinter allen übrigen Bundesangehörigen zurückstehen. Es wäre frucht¬
bar für die Negierung selbst, noch mehr aber für die mecklenburgische Bevöl¬
kerung selbst, wenn mit dem hier proclamirten Prinzip der staatsbürgerlichen
Gleichstellung mit den übrigen Bundesangehörigen einmal wirklicher Ernst ge¬
macht würde.
So lange die Regierung in ihrer jetzigen Haltung beharrt und es als
ihre Aufgabe ansieht, den Feudalismus gegen die Einwirkungen des moder¬
nen Staatswesens bestmöglichst zu schützen, wird sie auch in denjenigen Ver-'
Hältnissen, welche von der Bundesgesetzgebung zur Zeit noch weniger nahe
berührt worden, mit ihren Verbesserungsversuchen keinen Erfolg haben.
Dies zeigt sich unter Anderem bei den Bemühungen, welche sie seit
mehreren Jahren einer Reform des Schulwesens auf den ritterschaftlichen
Gütern zuwendet. Die ritterschaftlichen Schullehrer haben bis jetzt auf vielen
Gütern noch nicht das Einkommen eines Tagelöhners, ihr Bildungsstand ist,
wie hiernach zu erwarten, ein sehr niedriger, ihre Stellung wegen des guts¬
herrlichen Kündigungsrechts eine sehr abhängige und ihre Leistungen machen
sich dadurch 'bemerkbar, daß von den Recruten aus dem Ritterschaftlichen
nach einem zehnjährigen Durchschnitt 17 Proc. nicht lesen, 34 Proc. nicht
schreiben und 47 Proc. nicht rechnen können und daß resp. 68, 40 und
43 Proc. diese drei Fertigkeiten nur mangelhaft sich angeeignet haben,
sodaß, wenn gut lesen, gut schreiben und gut rechnen als das Minimum
elementarer Schulbildung gelten darf, im Ritterschaftlichen durchschnittlich
nur 6 Proc. eine solche aufzuweisen haben, während 65 Proc. eine mangel¬
hafte und 39 Proc. gar keine Schulbildung besitzen. Die Vorschläge der
Regierung gingen nun hauptsächlich dahin, die Ritterschaft zur Feststellung
eines höheren Minimum des Einkommens der Lehrer als des im Jahre 1821
vereinbarten, ferner für die Errichtung eines ritterschaftlichen Schullehrer¬
seminars und für die Aufhebung der gutsherrlichen Kündigungsbefugniß zu
gewinnen. Nur der erste Punkt wurde mit Mühe erreicht, indem das Mi¬
nimum des Einkommens auf 26 Scheffel Roggen, 16 Scheffel Gerste, 4
Scheffel Hafer und 4 Scheffel Erbsen (kleinen Maßes, wovon ein Scheffel
gleich °/i preußischer Scheffel), auf 30 Thlr. jährlichen Gehalts und 1 Thlr.
Schulgeld für jedes Kind erhöhet wurde. Dagegen wurde die Errichtung
der Bildungsanstalt und das Aufgeben der Kündigungsbefugniß ehrerbietigst
abgelehnt, auch das erhöhet« Minimum nicht auf die bereits angestellten
Lehrer erstreckt. Die Verhandlung gewährte einen lehrreichen Einblick in die
Anschauungsweise der feudalen Gesetzgeber. Da es sich hier um eine An¬
gelegenheit handelte, welche das pecuniäre Interesse der Einzelnen sehr nahe
anging, so waren die Ritter sehr zahlreich erschienen und die Gemüther auf¬
geregter als gewöhnlich. Das ministerielle Blatt selbst berichtet, daß nicht
selten mindestens zehn Redner auf einmal sich hören ließen. Bei der Be¬
Berathung über das Schulgeld wurde die vom Comite vorgeschlagene Be¬
stimmung, daß alle Ortseinwohner, ausgenommen der Gutsbesitzer und der
Prediger, für ihre Kinder das Schulgeld an ihrem Orte zu entrichten hätten,
auch wenn dieselben, mit Genehmigung des Gutsherrn, eine andere Schule
besuchten, von dem Landrath v. Rieden warm befürwortet. Denn es gebe
jetzt eine Menge von Leuten, welche lediglich aus Hochmuth und Eitelkeit,
aus bloßer Sucht zu glänzen, ihre Kinder auf eine andere Schule schickten.
Ein Bürgermeister erlaubte sich den bescheidenen Einwan'd, daß es doch wohl
Unrecht wäre, Eltern dafür zu strafen, wenn sie ihren Kindern besseren
Unterricht ertheilen ließen, als. er an ihrem Wohnorte zu haben wäre. Er
rief aber dadurch große Aufregung und lebhaften Widerspruch hervor und
die Versammlung entschied sich durch Acclamation für den Vorschlag des
Comite. Herr von Oertzen auf Roggow äußerte den Wunsch, daß die bis¬
herige Sitte der Verbindung eines Handwerksbetriebes mit dem Schulmeister¬
amt beibehalten werden möchte. Denn Arbeit thue einem Menschen gut und
sonst wüßten die Lehrer namentlich während der Ferien nicht, sich zu be¬
schäftigen. Man müsse sie vor dem Nichtsthun bewahren und jeder Obrig¬
keit überlassen, mit ihren Gehaltsansprüchen fertig zu werden.
Daß es nach den gemachten Erfahrungen der Regierung noch immer
möglich ist, für die Reform eines besonderen ritterschaftlichen Schulwesens zu
wirken, und daß sie nicht auch an diesem Punkte gewahr wird, wie noth¬
wendig es ist, dem Staatswesen eine einheitliche Gestalt zu geben, ist schwer
begreiflich.
Kaum glücklicher wird der Versuch auslaufen, die Errichtung von Erb-
zinsstellen auf ritterschaftlichen Gütern zu erleichtern und dadurch zu be¬
fördern. Die Negierung machte die Entdeckung, daß seit dem Jahre 1827,
wo ein Gesetz zu gleichem Zwecke erlassen worden war, eine Vermehrung des
kleinen Grundbesitzes auf ritterschaftlichen Gütern nicht eingetreten ist, und
sie fand dies darin begründet^ daß durch eine Reihe von Bestimmungen jenes
Gesetzes die Errichtung von Erbzinsstellen theils geradezu ausgeschlossen, theils
erheblich erschwert werde. Sie suchte nun diesen Uebelständen durch einen
Z
neuen Gesetzentwurf abzuhelfen, welcher dem letzten Landtage wiederholt zur
Berathung vorlag. Die Stände hatten gegen denselben auch jetzt wieder
manche Bedenken. Einer von der Ritterschaft, Herr von Ferber auf Metz,
derselbe, welcher ein Jahr früher vor der Gefahr einer damals projectirten
Eisenbahn, welche die Nachbarschaft seines Gutes durchschneiden sollte, sehr
eindringlich gewarnt hatte, ließ jetzt einen schriftlichen Warnungsruf ertönen.
„Nur der große Grundbesitzer", so schrieb er, „ist prinzipiell konservativ, der
kleinere in der Regel destructiv und der Wühlerei zugänglich, wie in unserem
Lande sich fast überall herausgestellt hat." Darum keine Vermehrung der
Erbzinsleute! Der Gesetzentwurf wurde indessen mit einigen Aenderungen
angenommen; doch hörte man schon in der Versammlung die. Erwartung
aussprechen, daß das Gesetz gänzlich unwirksam bleiben werde, und in dieser
Erwartung werben die Stände sich nicht getäuscht haben.
Wie weit man auf dem Landtage von dem Verständnisse der Zeitfoxde-
rungen noch entfernt ist, das lehrte auch die Verhandlung über eine Be¬
schwerde des Rostocker Vorschußvereins wegen einer ihm abgepreßten
Zinsensteuer. Der Vorschußverein glaubte von dieser Steuer schon an sich
nicht betroffen werden zu können, da die Natur der von ihm an seine Mit¬
glieder gezählten Dividenden eine andere ist als die der Dividenden von
^ctiengejellschaften. Jedenfalls aber waren gerade diejenigen Dividenden,
Um deren Besteuerung es bei 'der Heranziehung des Vorschußvereins sich
handelte, nämlich die dem Guthaben der Mitglieder zugeschriebenen, der
Steuer nicht unterworfen, da jede einzelne Zuschreibung den von der Zinsen¬
steuer gesetzlich ausgenommenen Betrag von 10 Thlr. bei weitem nicht er¬
reichte. Die Stände aber verwarfen die Beschwerde, weil die Mitglieder des
Vereins durch die Vereinigung ihrer Capitalien zu einem gemeinsamen Ge¬
schäftsbetriebe, selbst Schuld daran seien, daß die für sich freilich der Steuer
nicht unterliegenden einzelnen Dividenden zu einer großen Summe anwuchsen,
die so nur als eine einheitliche behandelt werden könne. Mag man aber
auch über diese Auffassung verschieden urtheilen: befremdender sind jedenfalls
die bei der Verhandlung laut gewordenen Kritiken über die Vorschußvereine.
Der Landrath von Rieden, welcher sich durch die Pflichten seines Präsiden-
tenamts niemals behindern läßt, sich über die zur Berathung stehenden Ge-
öenstcinde lehrreich zu äußern, warf die Frage in die Versammlung: ob es
denn so sicher sei, daß die Vorschußvereine wohlthätig wirkten? Nach seiner
Ansicht würde durch die Vorschußvereine, welche alle kleinen Capitalien an sich
ö^gen und sich große Procente daraus machten, den Handwerkern und kleinen
beuten die Capitalien entzogen und das leichtsinnige Schuldenmachen befördert.
Als ein Bürgermeister einige Worte zu Gunsten der Vorschußvereine sprach,
^ef der Name Schulze-Delitzsch, so oft er genannt wurde, jedesmal ein
höhnisches Lächeln der feudalen Herren hervor. Es ist übrigens nicht ledig¬
lich die Abneigung gegen das Prinzip der Selbsthilfe, was diese Classe von
Gesetzgebern zu Gegnern des Genossenschaftswesens macht, sondern es wirken
auch wohl Motive materieller Art mit ein. Die Vorschußvereine haben in
der That einen großen Theil der kleinen Capitalien an sich gezogen, welche
bis dahin den in den meisten mecklenburgischen Städten bestehenden Spar-
cassen älteren Systems und aus diesen wieder den Gutsbesitzern auf ihre
Hypotheken zuflössen. Dadurch werden die Sparcassen''genöthigt, ihr Geld
successive aus den ritterschaftlichen Hypotheken herauszuziehen und dies wird
in um so größerem Maße geschehen, als die Sparkassen unter der Einwirkung
der Vorschußvereine einen Rückgang in ihrem Geschäfte erfahren. Es gefällt
nun natürlich den Rittergutsbesitzern nicht, daß die angenehme Quelle für
billige Capitalien, deren sie sich bisher zu erfreuen hatten, mehr und mehr
versiegt und sie zürnen daher den Instituten, welche sie mit Recht für die
eigentlichen Urheber dieser Abminderung des ihnen bisher zur Verfügung ge¬
standenen Capitals ansehen. — Der Landtag verstand sich schließlich zu der von
der Regierung proponirten Auskunft, denjenigen Vorschußvereinen, welche die
landesherrliche Bestätigung nachsuchen und erlangen würden, die Befreiung
von der Zinsensteuer zu bewilligen. Da aber die landesherrliche Bestätigung,
nach bisherigen analogen Erfahrungen, nur unter, dem Vorbehalt der Zu¬
stimmung zu jeder Veränderung im Statut ertheilt zu werden pflegt und
auch außerdem mancherlei büreaukratische Plackereien, vielleicht auch Kosten im
Gefolge haben würde, so werden wahrscheinlich nur wenige Vereine sich dazu
verstehen, um den Preis einer Ersparung der Zinsensteuer ihre Freiheit zu
verkaufen.
Wenig beneidenswerth ist die Lage der süddeutschen Staaten. Nicht ohne
unsere Schuld hat die deutsche Staatsbildung vorläufig.am Main Halt ge¬
macht. Es ist demüthigend zu wissen, daß wir nur durch Verträge, nicht durch
eine Verfassung mit dem deutschen Staat zusammenhängen. Wir sind nicht
für voll gerechnet; nicht Bürger sind wir, sondern Schutzverwandte des Reichs.
Auf dieser Seile gebunden, auf jener frei, besitzen unsere Höfe immer noch
die Möglichkeit politischer Experimente, immer noch sind sie mögliche Stätten
fremder Intriguen, von welchen aus das Werk der Einigung nicht auf die
Dauer verhindert, doch verzögert und zeitweise durchkreuzt werden kann.
Und doch hat auch diese Stellung der Südstaaten wieder ihre ehrenvolle
Seite. Es ist wahr, wir sollen eintreten in ein Haus, an dem wir nicht
angebaut, wir sollen nachkommen, wohin uns die Anderen vorausgegangen
sind. Allein das Kommen ist in die Freiheit unseres Entschlusses gelegt.
Von uns erwartet man, daß wir dem Ganzen uns anschließen mit gereifter
Erkenntniß, mit eigener Ueberwindung des Sonderwillens; Tugenden, die den
anderen doch wesentlich erleichtert worden sind durch den mehr oder weniger
sanften Zwang der Ereignisse. Auch in anderen Provinzen, wenn man das
Reifen der nationalen Gesinnung hätte abwarten wollen, hätten sich ähnliche
Kämpfe entwickeln müssen, wie sie jetzt uns vorbehalten sind. Die anderen
hatten keine Wahl, uns bleibt die Wahl und die Qual. Aett wenn in diesen
Wochen der Blick der Deutschen mit Spannung auf dieser südwestlichen Ecke
des Vaterlandes ruht, so geschieht dies weniger wegen der unmittelbar poli¬
tischen Wichtigkeit dessen, was hier vorgeht, als vielmehr deswegen, weil der
Süden jetzt das anziehende Schauspiel bietet, wie, ohne durch äußeren Zwang
gefördert und beschleunigt zu werden, je nach der Kraft des inneren Triebes
enges und altgewöhntes Provinzialleben sich ausschließt zum Nationalleben.
Dieser Prozeß ist überall im Gang, er ist nördlich vom Main nahezu ent¬
schieden: seine naturgemäße sreie Entwickelung wird allein von uns verlangt.
Wie wir die Probe bestehen, das haben wir zunächst an den Zollparlaments¬
wahlen zu zeigen.
Diese Wahlen sind im Grund die erste Gelegenheit für unsere Provinz,
sich mit dem nationalen Leben in Berührung zu setzen, die erste offizielle An¬
frage an ihre deutsche Gesinnung. 1848 war eine Episode, ein Rausch, und
hat die üblichen Folgen eines Rausches gehabt. Seither hatte sich Schwaben
um so hartnäckiger auf sich selbst zurückgezogen, mißtrauisch und zurückhaltend
war es den nationalen Bestrebungen gefolgt, am liebsten hatte es den kriti¬
schen Zuschauer gespielt und inzwischen Thüren und Fenster sorgfältig ver¬
stopft. Jetzt hat der brausende Frühlingssturm Thüren und Fenster aufge¬
rissen, in den Wänden beginnt es ungemüthlich zu werden, und während die
einen mit begreiflichen Behagen die neue frische Luft einathmen, stehen die
anderen zögernd an der Schwelle und werfen wehmüthige Blicke auf das
bisher so heimliche Plätzchen am Ofen, indeß die dritten trotzig im Winkel
kauern, entschlossen, die Löcher nochmals gegen den Frühlingswind zu ver¬
stopfen.
Was die Parlamentswahlen für unser Land bedeuten, hat die Volks¬
partei mit richtigem Instinkt begriffen. Daher ihr verzweifelter Entschluß,
sie zu ignoriren. Sie hat allen Grund, für sich wenigstens jede Berührung
mit dem neuen Geist zu scheuen. Es kommen noch andere Gründe hinzu:
sie ist sich ihrer numerischen Schwäche, der Schwierigkeit, eigene Candidaten
aufzustellen, bewußt. Aber die Hauptsache ist doch die, daß sie es vermeiden
muß, Leute ihrer Partei auf einen Boden zu stellen, auf dem sie nur als
Deutsche, nicht als Schwaben in der schwarzrothen Livr6e erscheinen können,
auf welchem die Grenzen der Provinzen verwischt sind und Alle nur das
Mandat als Vertreter der Nation besitzen. Nicht ohne Grund mögen sie
besorgen, daß ihre eigenen Getreuen sich dem Eindruck des großen Neubaues
im Norden nicht würden entziehen können. Anders nimmt sich die Welt¬
geschichte aus am Nesenbach, anders in der Hauptstadt des norddeutschen
Bundes, und mancher, der dort als ein gewaltiger Held gilt, würde sich hier
auf seine natürliche Größe reducirt sehen. Manchem kaum vielleicht sogar
störende Erinnerungen an einstige Ideale. Nichts wäre für die Partei zu
gewinnen, alles zu verlieren: kurz, das bequemste und sicherste ist, auf alle
Fälle sich in Krähwinkel zu halten und inzwischen die Mühle mit den großen
Phrasen vom Cäsarismus, Corporalismus und Militarismus munter weiter
klappern zu lassen.
In welcher Weise die nächsten Schritte zur Einheit erfolgen werden, das
mag man der Zukunft überlassen. Das aber fühlt jeder, die Feinde fühlen
es so gut wie die Ungeduldigen, daß eine neue Epoche beginnt in dem Mo¬
ment, in welchem zum erstenmal auf Grund einer Verfassung Abgeordnete
aus ganz Deutschland zusammentreten. Das moralische Gewicht dieser Ver¬
sammlung wird ungleich bedeutender sein, als ihr aus der vertragsmäßigen
Competenz erwächst. Die preußische Negierung selbst scheint auf dieses mo¬
ralische Gewicht größeren Werth zu legen, als auf die Aufnahme weiterer
Glieder in den norddeutschen Bund. Nur mit Lächeln kann man sehen, wie
die würtenbergische und baierische Regierung ängstlich bemüht sind, jedem
Uebergreifen des Parlaments über die Zölle, "über Salz und Tabak, im vor¬
aus ein Veto zuzurufen. Sie strengen sich an, gegen Windmühlen zu käm¬
pfen. Ihre Angst selbst verräth sie. Niemand denkt an illegale Erschleichung
der Einheit, oder an gewaltsame, unüberlegte Beschlüsse, gegen die sich jene
Regierungen verwahren. Derlei fürchten sie auch in Wirklichkeit gar nicht;
was sie fürchten, ist die unwiderstehliche Kraft, welche die Einheitsbewegung
aus der bloßen Thatsache des Parlaments schöpfen muß, und diese fürchten
sie mit Recht.
In immer weiteren Kreisen beginnt die Bedeutung der bevorstehenden
Wahlen verstanden zu werden. Bezeichnend ist die Haltung, welche die con-
servative Partei dabei eingenommen hat. Es besteht hier in Stuttgart neben
der Volkspartei und der deutschen Partei eine sogenannte liberale Partei,
welche in Wahrheit die konservative, nämlich die Partei der Negierung ist,
übrigens nur in der Hauptstadt selbst eine Organisation besitzt und insbeson¬
dere bei den städtischen Wahlen eine Rolle zu spielen pflegt. Sie hat ge¬
treulich die Wandlungen des Ministeriums Varnbüler mitgemacht, hat im
vorigen Jahr mit ihm zum Krieg getrieben, mit ihm pas piceis gerufen.
Nach dem Friedensschluß begann sie alsbald einzulenken und mit den voll¬
endeten Thatsachen sich zu befreunden, und als es sich um die Allianzverträge
handelte, fuhr ein nationaler Eifer in sie, der sie kaum zu unterscheiden schien
von der deutschen Partei. Seitdem hat sie nun — immer in den Spuren
der Regierung wandelnd — abermals einlenken müssen, und sie sucht sich
jetzt haarscharf in der Mitte zu halten zwischen den nationalen und zwischen
den Particularisten, gegen beide polemisirend, ein echtes ^usto union. Den
Particularisten hält sie entgegen, daß man die Thatsache der Einigung
Deutschlands unter Preußen aufrichtig hinnehmen und sich demgemäß auch an
den Wahlen betheiligen müsse; den nationalen gegenüber betont sie die Noth-
wendigkeit, jetzt innezuhalten, sie will die Selbständigkeit Württembergs nicht
verlieren, sie rechnet — wie Varnbüler— aus, welche Mehrkosten dem Land
aus dem Eintritt in den norddeutschen Bund erwachsen würden, und weist
auf die abgesteckten Grenzen der Verträge. Und doch will sie sich auch wei¬
teren Fortschritten auf dem Wege der Einigung nicht gerade entgegenstemmen,
sie ist in ihrem Wahlaufruf in dieser Beziehung maßvoller und entgegenkom¬
mender, als die brüsten Erklärungen der Regierung. Nur werden diese
Fortschritte von ihr selbst wieder auf eine Anzahl bestimmter Gegenstände
eingeschränkt, nur sollen sie nicht durch Erweiterung der Zuständigkeit der
Vundesorgane, sondern durch freie Verträge erzielt werden. Kurz, das Acten¬
stück ist ziemlich blaß und verworren ausgefallen, der zweite Satz schränkt
immer weise wieder ein, was der erste zugestanden, und deutlich ist nur der
Ausdruck des Vertrauens auf die Regierung, nämlich auf die würtenbergische
Regierung. Die Devise der Partei ist: nur immer langsam voran, oder, wie
Varnbüler es ausgedrückt hat: wir gehen nicht mit, aber wir lassen uns
schieben. Es ist von ihren Anhängern nie eine Initiative zu erwarten, aber
auch kein ernsthafter Widerstand zu befürchten: sie sind jederzeit bereit, die
vollendeten Thatsachen zu acclamiren. Wer sich schieben läßt, kommt schlie߬
lich auch zur Stelle. Ob es gerade die rühmlichste Fahrgelegenheit wird, ist
eine andere Frage.
, Daß nun eine solche Partei ihre Berechtigung in Schwaben hat, im
jetzigen Uebergangsstadium der Stimmung, ist gar nicht zu leugnen. Eben
diese abwartende, zweifelhafte Haltung, dieses halbwillige Zögern derer, die
schließlich doch mitthun, ist weit verbreitet, und es wäre garnicht zu wün¬
schen, daß Abgeordnete aus ihren Reihen fehlen würden. Gerade diesen Ele¬
menten wird es überaus heilsam sein, in wirkliche Berührung mit dem Staats¬
leben der Nation zu kommen. Für sie insbesondere werden die Eindrücke
maßgebend sein, die sie in der Bundeshauptstadt empfangen. Für sie ist das
Pädagogische Moment des Parlaments gar nicht zu unterschätzen. Dieses
wird sich als eine Besserungsanstalt erweisen, in die man nur immer viele
von diesen Halben und Zweifelhaften schicken mag.
Diese Partei der Mitte und der Mittelmäßigkeit ist aber, wie gesagt,
nur in der Hauptstadt organisirt, wo sich ihr der ganze konservative und
Philisterhafte Troß einer hauptstädtischen Bevölkerung anschließt. In der
Wahl des Abgeordneten der Stadt Stuttgart wird sich vor Allem ihr Pro¬
gramm zu messen haben mit dem der deutschen Partei. Aus dem Land da¬
gegen hat sie keinen Einfluß; hier wird ihr die Agitation abgenommen von
den Beamten der Regierung, die, ohne ein „liberales" Programm zu be¬
dürfen, ihren längst erprobten Einfluß auf die Wahlen auch diesmal be¬
währen werden. Der Bauer wählt im Allgemeinen so, wie sein Schultheiß
ihn anweist, und der Schultheiß weist ihn an, wie er selbst vom Oberamt-
Mann angewiesen wird. Das ist nun einmal so in unserem wohlregierten
Eldorado. Wenn wir von Baiern lesen, daß dort z. B. in einem Bezirk
sämmtliche Ortsvorsteher sich einstimmig für die Candidatur Völcks aus¬
gesprochen, so sind dies sür uns rein ideale Zustände. Derlei Extravaganzen
find bei uns gar nicht denkbar, dafür sind unsere Schultheißen viel zu wohl¬
erzogen. Dieser Einfluß der Verwaltungshierarchie gibt der Regierung eine
bedeutende Macht in die Hand, zumal Alles, was durch Natur und Er-
Ziehung particularistisch und preußenfresserisch. alles was großdeutsch, öst¬
reichisch und ultramontan ist, dieser Seite zufallen muß.
Aber auch der nationalen Sache fehlt es nicht an kräftigen Bundes¬
genossen: es sind vor allem die großen Interessen des Verkehrs und des
Handels. Der Wahlmodus beruft Volksclassen zur Ausübung politischer
Rechte, denen sie bisher entzogen waren. Daß diese der neuen Ordnung der
Dinge darum nicht gram sind, begreift sich. Die Worte: deutsches Bürger¬
recht, Freizügigkeit, Niederlassungsrecht sind für die Arbeiterbevölkerung nicht
verloren. Steckt auch ein Theil unserer Arbeitervereine, wie sich denken läßt,
noch in der unverstandenen Phraseologie der Volkspartei, so ist die nationale
Richtung doch gerade in die bedeutenderen unwiderstehlich eingedrungen,
und der größte und einflußreichste, der Stuttgarter Arbeiterbildungsverein,
um den sich Volkswirthe wie Eduard Pfeifer und K. Steiner große Ver¬
dienste erworben haben, gehört ganz der nationalen Richtung an. Kaum
hatte die Volkspartei ihr Verdict gegen die Wahlen erlassen, so faßte der
genannte Verein den einstimmigen Beschluß, sich allerdings an den Wahlen
zu betheiligen und zwar nur solchen Kandidaten die Stimme zu geben, welche
national gesinnt, für Ausdehnung der Kompetenz der Bundesorgane und für
die freiheitlichen Grundzüge in Sachen der Volkswirthschaft und des Verkehrs
wirken würden.
Auch von Seite des würtembergischen Handelsvereins ist eine erfreuliche
Kundgebung erfolgt. Obwohl eine eigentliche politische Parteinahme ver¬
meidend, unterließ er es doch nicht, in seiner Erklärung als „selbstverständlich"
einfließen zu lassen, „daß nur solchen Männern ein Mandat übergeben werde,
die sich der Neugestaltung der Dinge in Deutschland nicht widerstrebend
gegenüberstellen, dieselbe vielmehr als eine willkommene Grundlage betrach¬
ten zu einer segensreichen Fortentwickelung unserer Beziehungen zum Norden
unsers Vaterlands." Und die Kandidatenliste, die der Verein aufstellt, um¬
faßt, wenige ausgenommen, nur solche Namen, die gleichzeitig der deutschen
Partei angehören oder ihr nahe stehen. Woher hätte er sie sonst auch neh¬
men können?
Die deutsche Partei endlich, die im Lauf des letzten Jahrs ihre Orga¬
nisation über das ganze Land ausgedehnt, jedoch Mühe hat in die unteren
Volksclassen zu dringen, hat zunächst ein Flugblatt im Lande verbreiten lassen,
das die Bedeutung des Zollparlaments in wirthschaftlicher und nationaler
Beziehung auseinanderlegt und zu eifriger Betheiligung an den Wahlen auf¬
fordert. Ihr Wahlprogramm wird in diesen Tagen erscheinen und außer
von Mitgliedern der Parteiorganisation auch von andern ihr nahestehenden
einflußreichen Namen, zumal aus der Handelswelt, unterzeichnet sein. Ist
dann die Eintheilung der Wahlbezirke bekannt gemacht, mit welcher die Re¬
gierung auffallend lange zögert, so mag der Wahlkampf beginnen, über
dessen Ausfall noch gar nichts bestimmtes sich voraussagen läßt, und in
welchen die deutsche Partei mit nichts weniger als übermüthigen Hoffnungen
eintritt, von dem sie sich aber aus alle Fälle eine günstige Rückwirkung auf
das Land versprechen darf, dem nichts nöthiger ist, als daß es allmählich
aus der dumpfen Enge eines abgesperrten Provinzialdaseins herausgehoben
und mit den großen nationalen Interessen in Berührung gebracht' werde.
Unsere Hoffnung beruht weniger auf den Abgeordneten, die wir nach Berlin
senden, als auf denen, die von Berlin zurückkehren werden.
Wenn man die Zeitungsblätter vom Januar 1868 mit denen vom Ja¬
nuar 1867 vergleicht, so könnte man glauben, die Welt habe zwölf Monate
lang still gestanden, das abgelaufene Jahr zu keinerlei positiven Resultaten
der großen Politik geführt. 'Gerade wie damals tauschen die Kabinette von
Berlin und Paris Friedensversicherungen aus. ereifern die russischen officiösen
und unabhängigen Blätter sich über die Nothwendigkeit entscheidender Schritte
zur Lösung der'orientalischen Frage, rüstet man in England gegen die Fenier-
umtriebe und verzehren die Italiener sich in Klagen über die Schwierigkeiten
ihrer Lage, die mit innerer Nothwendigkeit zu einer Auseinandersetzung
mit Rom drängt, die aus äußeren Gründen unmöglich ist. Der Entscheidung
über die Gestaltung der Zukunft scheinen wir nicht näher gerückt, die Franzosen.
Engländer und Türken auch nicht: die Aufrechterhaltung'der militärischen und
wirthschaftlichen Einheit Deutschlands kann kaum unter die Fortschritte registrirt
werden und dem Hauptresultat, der gesteigerten Waffenstärke des Vaterlandes
steht eine beträchtliche Erhöhung der französischen Wehrkraft gegenüber. Zwar
wird uns von allen Seiten versichert, die Reorganisation der napoleonischen
Armee bedeute keinerlei Gefährdung des europäischen Friedens, sie biete viel¬
mehr eine neue Bürgschaft für Erhaltung desselben — aber wir stehen immer
noch am Main still und es gibt Leute, welche behaupten, wir würden nicht
einmal dulden, daß die Badenser diesen deutschen Rubikon überschreiten, ehe
wir sie dazu eingeladen. Daß es die Rücksicht auf Frankreich ist, die diese
Politik der Entsagung diktirt. braucht nicht erst gesagt zu werden; gerade
wie im Januar 1867 wird uns auch heute wiederholt, der rechte Zeitpunkt
sei noch nicht gekommen, wir sollten warten, bis uns derselbe indicirt werde.
Aber können wir warten und was haben wir bei fortgesetzter Uebung
in der Geduld zu gewinnen? Die Idee des unter Preußens Führung ge¬
einigten Deutschlands hat schon seit geraumer Zeit im Süden keine neuen
moralischen Eroberungen gemacht und wenn wir ehrlich sind, so müssen wir
gestehen, daß solche vor der Hand nicht zu erwarten sind, ja, daß wir kaum
in der Lage wären, von diesem Fortschritte Nutzen zu ziehen. Das Haupt¬
gegengewicht gegen den Einfluß der verbündeten Particularisten und Radi¬
kalen des Süden bestand in der Furcht vor der Aufkündigung der Zollver¬
träge, welche man für den Fall der fortgesetzten Feindschaft gegen Preu¬
ßen zu gewärtigen hatte; seit dieses Gespenst gebannt und der Zusammen¬
tritt des Zollparlaments gesichert ist, läßt die große Masse derer, welche durch
ihre materiellen Interessen an der Beschränkung auf eine nur bayrische
oder schwäbische Politik behindert waren, die Dinge gehen, wie sie eben
gehen. Selbst diesseits des Main sieht es wenig anders aus, wenn auch
aus andern Gründen. Die volkstümliche Agitation verwendet ihre Kräfte
entweder zur Treibjagd nach radicalen Hirngespinnsten oder sie legt die Hände
in den Schooß; von der Regierung, die das große Werk begonnen, erwartet
man, sie werde es auch zu Ende führen; das'Vertrauen darauf, aus eigenen
Kräften vorwärts zu kommen, ist — und zwar aus sehr nahe liegenden
Gründen — verringert. Dazu kommen die.peinlichen Wirkungen eines
fast beispiellos ungünstigen Ernteausfalls, der in Ostpreußen zu einem Noth¬
stande geführt hat, von dem es mindestens zweifelhaft ist, ob er seinem gan¬
zen Umfange nach unvermeidlich war; was von freier Zeit und disponiblen
Mitteln übrig ist, wird zur Erfüllung der dringendsten Forderungen der Humanität
verwendet, die Theilnahme an den politischen Dingen von der an den socia-
im überwuchert. Spielen selbst die Kammerverhandlungen eine ungleich
bescheidnere Rolle, als zu anderen Zeiten, so liegt auf der Hand, daß von
weiter liegenden Dingen kaum die Rede ist.
Und doch dürfte der Zeitpunkt nicht mehr fern sein, in welchem eine
energische Aeußerung des Volkswillens über das Verhältniß zum Süden
nothwendig sein wird. Ganz abgesehen davon, daß jede «stunde, welche der
Particularismus an Zeit gewinnt, gegen uns ausgebeutet wird, macht die
Rücksicht auf Baden die Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes unmöglich.
Dem badischen Volke wird auf die Länge kaum zugemuthet werden können,
die Lasten eines Verhältnisses, von dessen Vortheilen es ausgeschlossen ist,
gleichzeitig mit dem Druck einer Jsolirung von den nächsten Nachbarn zu
tragen, deren Ende nicht abzusehen ist. Soll eine Complication abgewartet
werden, welche jede französische Einmischung in die deutschen Dinge'unmög¬
lich macht und der Überschreitung der Mainlinie den Charakter eines Wag¬
nisses nimmt, so dürfte uns das Warten doch allzulang werden, so rasch es
auch mit dem Prestige des Kaisertums über die innern Parteien abwärts
zu gehen scheint. Dazu kommt, daß die innern Zustände des norddeutschen
Bundes gleichfalls unter der Ungewißheit über die Grenzen desselben leiden
und seine ohnehin beschränkte Anziehungskraft mindern. Es liegt auf der
Hand, daß die Präsidialmacht mit den verbündeten Regierungen um jeden
Preis ein gutes Vernehmen aufrecht erhalten muß, solange die Entscheidung
über den Süden noch nicht getroffen ist — der Preis aber, der für dieses
Verhältniß gezahlt wird, kann unter Umständen ein ziemlich hoher werden.
Die bloße Fortdauer von Zuständen, wie diejenigen in Mecklenburg-Schwe¬
rin, muß das Ansehen des Bundes schwächen, zumal bei denen, die unter
diesen Zuständen zu leiden haben. Der alte Bund stützte sich auf das Inter¬
esse der Regierungen, der neue ausschließlich auf das der Völker. Ein gün¬
stiges kann dieses Verhältniß nur genannt werden, wenn die Völker, nicht
nur die Regierungen bei gutem Muthe erhalten werden. Der gute Wille
der Völker kann um so weniger entbehrt werden, als wir alle wissen, wie es
mit dem der meisten Regierungen steht. Auch in dieser Beziehung ist es der
Süden, oder vielmehr Frankreichs Auffassung unseres Verhältnisses zum Sü¬
den, welcher störend eingreift. Mögen wir Hinblicken, wohin wir wollen,
immer wieder ist es diese Rücksicht, welche uns hindernd in den Weg tritt.
Warum können keine energischen Schritte gegen die russische Grenzsperre
geschehen, welche die Ostpreußen zum Hungertode verurtheilt? Die Rücksicht
auf Frankreich zwingt uns zu Rücksichten gegen Nußland. Warum kann der
Bund nicht energisch zu Gunsten der Regierten vorgehen, welche durch ihre Re¬
gierungen an dem Genuß der durch die Bundesverfassung gewährten Rechte ver¬
hindert werden ? Aus Rücksicht aus den Süden, der noch nicht eingetreten ist-
Warum bieten wir dem Süden nicht zum Eintritt die Hand? Aus Rücksicht
auf Frankreich. Warum lassen wir Baden in der peinlichen Alternative,
entweder uns entfremdet zu werden, oder von den Nachbarn, die einmal
seine Nachbarn sind, isolirt zu werden? Aus Rücksicht auf Frankreich, das
die durch Überschreitung des Main bewirkte Verstärkung unserer Wehrkraft
als Herausforderung ansehen könnte. Und dieses selbe Frankreich erhöht die
Schlagfertigkeit, ohne auf uns Rücksicht zu nehmen, die wir der Welt für
den mächtigeren Theil gelten! — Die Geschichte der beiden letzten Monate
hat bewiesen, daß die politische Windrose sich drehen kann, wie sie will, ohne
daß uns dadurch geholfen wird. Ende November erschien ein Bruch zwischen
Italien und Frankreich unvermeidlich und daran, daß er vermieden wurde,
hatte Preußen sicher einen Antheil. Nichtsdestoweniger blieb es mit der
Mainlinie beim Alten. Dann zogen sich die Wetterwolken am östlichen
Himmel zusammen; Rußland erklärte ziemlich vernehmlich, daß es müde sei.
seine türkischen Pläne durch Oestreich und Frankreich kreuzen zu lassen, daß
es ihm rathsam erscheine, gemeinsam mit Preußen zugleich die deutsche und
die orientalische Frage endgiltig zu beantworten. Aus der Bestürzung, welche
diese Kundgebung hervorrief, hat man in Wien ebensowenig ein Hehl ge¬
macht, wie" in Paris — unsere Haltung aber blieb unverändert dieselbe.
Der letzte Monat, das ist kaum mehr zweifelhaft, hat die Lage wiederum
verändert. Oestreichs versöhnliche Sprache hat in Berlin Anklang gefunden,
die Franzosen geben zu verstehen, daß die Gefahr einer russisch-preußischen
Allianz in den Hintergrund getreten sei. in Petersburg glaubt man eine
Schwenkung Preußens zu Oestreich und Frankreich bemerken zu können und
wenn es im Orient bei dem Provisorium bleibt, von dem seit nahezu zwei
Jahren gesagt wird, es sei unhaltbar, so hat Preußen sicher wieder Antheil daran.
Nichtsdestoweniger stehen wir immer noch am Main und sind dieselben Rück¬
sichten maßgebend, welche vor. während und nach der italienischen Krisis, vor.
während und nach der Spannung über Serbien und Candia den Ausschlag gaben.
Wir haben dafür nur eine Erklärung! die preußische Regierung will,
ehe sie den entscheidenden Schritt thut, zu demselben gedrängt sein, sie will
die moralische Verantwortung für die etwaigen Folgen mit dem Volke thei¬
len. Gerade der Umstand. daß diese Regierung im Sommer 1866 allein
vorgegangen ist, kann als Argument für die Nichtigkeit, mindestens die Zu-
lässigkeit dieser Annahme angeführt werden. Eine Nöthigung. wie sie in
den damaligen Verhältnissen lag, waltet gegenwärtig nicht ob. man weiß
aus frischer Erfahrung, was es mit einem großen Kriege auf sich hat. und
daß die Wechselfälle eines solchen unberechenbar sind, 'endlich hat man im
eigenen Hause alle Hände voll zu thun und Mühe genug, mit den zahllosen
kleineren Schwierigkeiten, welche jeder neue Tag bringt, fertig zu werden.
Aber all die Mittel, welche angewendet werden'können, um diese Noth zu
vermindern, die von den Unterthanen geforderten Opfer zu ermäßigen, die
finanziellen Kräfte produktiven Zwecken fruchtbar zu machen, — sie werden
alle insgesammt erst flüssig, wenn die Überschreitung der Mainlinie gelehrt
hat, wessen wir uns von den Franzosen zu gewärtigen haben. Auf diesen
Punkt wird die nationale Partei, wird die Demokratie,— wenn es ihr anders
mit den Wünschen für Verminderung der Militärlast Ernst ist, — ihre Aufmerk¬
samkeit zurichten und dem Zusammentritt desZollparlamcnts mit einem fertigen
Politischen Programm entgegenzutreten haben. Daß das Vertrauen des
Volkes zur eigenen Initiative geschwunden, die Neigung zu Agitationen und
Demonstrationen, wie sie in den Jahren 1864 und 1865 in Blüte standen,
abgenommen hat, wissen wir wohl: aber um solche handelt es sich ja gegen¬
wärtig nicht, sondern um ein greifbares, klar abgestecktes Ziel, das nicht
durch Resolutionen und toastreiche Feste, sondern durch energischen Anschluß
an die unausgesprochenen Wünsche der preußischen Regierung und durch einen
Moralischen Druck auf diese erreicht werden soll. Hüten wir uns davor, von
einem Extrem in das andere zu fallen: vor 1866 sollte alles durch die Völker,
nichts durch die preußische Regierung, vor allem nichts durch den Mann ge¬
schehen, von dern man doch wußte, daß er unverrückt auf das eine Ziel der
Preußischen Hegemonie hinsteuerte — seit 1866 erwartet man alles von
diesem Manne, auch daß er selbst in die Schwierigkeiten eintrete, deren Ueber¬
windung wir sonst nur von der Energie volksthümlicher Agitation erwarteten.
Bis zum Zusammentritt des Zollparlaments sind noch nahezu zwei
Monate. Was in den letzten Wochen geschehen, läßt wahrscheinlich erhebet-
nen, daß wir für die nächste Zukunft freie Hand behalten werden, denn
unsere Nachbarn sind sammt und sonders mit sich selbst beschäftigt. Die
französische Regierung hat alle Hände voll zu thun, um die beschlossene
Militärorganisation in Ausführung zu bringen und inzwischen Alles zu ver¬
meiden, was die Volksaufregung schüren, der Freiheit ihrer Selbstbestimmung
vorgreifen könnte. Der Eindruck, den das neue Gesetz auf die Bevölkerung
gemacht hat, ist nach den Berichten der Präfecten, trotz der beträchtlichen
parlamentarischen Mehrheit, welche demselben zustimmte, ein ungünstiger ge¬
wesen und die Anzeichen wachsenden Abfalls von der Regierung mehren sich;
die bekannten Theaterspectakel, der Cravall vom LIMsau, ä'can, der Versuch
der pariser Journalisten, den Fortbestand des Gesetzes über die Mittheilung
der Kammerdebatten durch offenen Ungehorsam zu brechen, das Auftauchen
geheimnißvoller revolutionärer Brandschriften sind einander binnen drei und
einer halben Woche gefolgt. — In Oestreich sind die neuen Minister an die
Arbeit gegangen, die ihrer schon so lange harrt: die Zusammenstellung des
Budgets, die Ausarbeitung neuer organischer Gesetze, der Zusammentritt
der Deputationen haben den Festesjubel abgelöst, dem die Deutsch-Oest¬
reicher sich hingegeben hatten. Rußland scheint zu einem definitiven Ent¬
schluß über die nächsten im Orient zu thuenden Schritte noch nicht gelangt
zu sein; die officiösen Journale haben ihren kriegerischen Ton in einen
friedlichen umgesetzt, aber die Stimmung ist nach wie vor eine kriegs¬
lustige geblieben und die reservirte Haltung Preußens hat nur dazu gedient,
den Eifer jener großen Partei, welcher jedes Bündniß mit einem westeuro¬
päischen Staat ein Gräuel ist, zu schüren. In Frankreich scheint man mit
Sicherheit anzunehmen, Rußland werde in keinem Fall ohne preußischen Bei¬
stand einen entscheidenden Schritt unternehmen, schon weil die finanziellen
Kräfte dieses Staats einen Krieg unmöglich machen. Die Richtigkeit dieser
optimistischen Rechnung scheint uns mehr als zweifelhaft; wir wissen aller¬
dings, daß Staaten durch Erschöpfung ihrer Finanzen an der Fortführung be¬
gonnener Kriege verhindert wor-den sind,— aber die Erfahrung lehrt auch, daß
Kriege sehr häufig mit leerer Kasse unternommen worden sind und daß Staaten
wie Individuen immer Geld übrig haben, wenn es sich um Befriedigung ihrer
Neigungen handelt. Mindestens die Möglichkeit einer ernsthaften Verwickelung
im Orient ist für das nächste Frühjahr offen geblieben und schon dieser Um¬
stand kommt Preußen zu gut. Wie wir die Dinge ansehen, wird die Nation
nicht umhin können, die Bewegung für Ueberschreitung der Mainlinie
und zwar die Ueberschreitung vom Süden her — in Fluß zu bringen. Was
wir seit den letzten drei Monaten erlebt haben, beweist, daß eine Conjunctur,
die diesen Schritt völlig gefahrlos machte, undenkbar ist, und daß es an dem
Volk ist, der preußischen Negierung einen Theil der Verantwortlichkeit für
denselben abzunehmen. Daß der Zusammentritt des Zollparlaments nicht
nur wirthschaftliche, sondern auch politische Wirkungen haben werde und
haben müsse, ist von allen Seiten her anerkannt worden. Fassen wir diese
rechtzeitig ins Auge, thun wir, was an uns ist, um dieselben durch freien
Entschluß zu bestimmen, nicht blos abzuwarten. Die Ereignisse von 1866
sind in mehr wie einem Sinne für die Lösung der deutschen Frage präju-
dicirlich gewesen; sie haben dieselbe nicht nur im preußischen Sinne entschieden,
sondern zugleich gezeigt, daß die Resultate eines hundertjährigen Zersetzungs'
Processes nicht langsam und allmählich, sondern durch rasche, entscheidende
Schläge zu hemmen, zu berichtigen und umzugestalten sind.
I. Marquardt, römische Privatalterthümer, zweite Abtheilung (des Handbuchs
der römischen Alterthümer von W. A. Becker und I. Marquardt fünfter Theil,
zweite Abtheilung.) Verlag von S. Hirzel. 1867.
Mit dem soeben erschienenen zweiten Bande der Privatalterthümer er¬
hält das 1843 von W. A. Becker begonnene, nach seinem Tode seit 1849
von Marquardt fortgesetzte Handbuch der römischen Alterthümer seinen vor¬
läufigen Abschluß. Der Verfasser hat die Darstellung des römischen Privat¬
lebens in einem weiteren Umfange unternommen und ausgeführt, als seine
Vorgänger. Nachdem er im ersten Theile den Organismus des römischen
Familienlebens dargestellt hatte, behandelt er hier dessen äußere Bedingungen,
d. h. seine Bedürfnisse und deren Beschaffung durch die verschiedenen Berufs¬
thätigkeiten, also Production, Fabrikation und Bertrich der wichtigsten Lebens¬
bedürfnisse und der am meisten charakteristischen Luxusgegenstände. Gewerbe,
Handwerk und Handel (namentlich Kleinhandel) der Römer sind hier zum
erstenmale zum Gegenstande einer umfassenden Untersuchung und Erörterung
gemacht; bisher war diese ganze so höchst wichtige Seite des römischen Lebens
theils nur beiläufig in Betracht gezogen, theils nur Einzelnheiten aus dem
weiten Gebiet mit Genauigkeit untersucht worden.
Der Verfasser hat den weitläufigen Stoff, der den Gegenstand seiner
Betrachtung bildet, so geordnet, daß er zuerst die Thätigkeiten darstellt, die
sich auf Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse beziehen, auf Herstellung und
Beschaffung der Nahrung, Kleidung, Wohnung und häuslichen Einrichtung.
In jeder dieser drei Hauptabtheilungen sind sowohl die Production der Roh¬
stoffe als deren Verarbeitung, endlich die Geschäfte und Gewerbe behuf des
Vertriebs der Rohstoffe und Fabrikate in Betracht gezogen. Nur kurz sind
die Berufsthätigkeiten geistiger Art und die damit in Verbindung stehenden
Gewerbe besprochen; denn theils konnte der Verfasser dabei auf die Arbeiten
anderer verweisen, theils hängt die Möglichkeit der Behandlung auch hier
wie überall von dem ganz zufälligen Umstände ab, ob das vorhandene Ma¬
terial dazu ausreicht und ob durch monographische Bearbeitung einer zu-
sammenfassenden Darstellung bereits genügend vorgearbeitet ist. So konnte
das Bücherwesen des römischen Alterthums, über das wir eine Menge von
Nachrichten und Anschauungen in zahlreichen erhaltenen Büchern und Schreib-
geräthen besitzen, die bereits wiederholt in guten Monographien verwerthet
sind, sehr ausführlich behandelt werden.
Das vorliegende Buch ist wie wenige andere geeignet, uns mit Genug¬
thuung über die Fortschritte unserer Alterthumswissenschaft zu erfüllen. Man
hört auch über die classische Philologie und Alterthumskunde, wie über alle
in lebhafter Entwicklung begriffenen Wissenschaften, häufig die Klage, daß
sie sich mehr und mehr in Specialitäten auflöse, deren Zusammenhang all¬
mählich immer lockerer werde. Zahlreiche Disciplinen, die vor einem halben
Jahrhundert theils noch gar nicht als integrirende Bestandtheile einer um¬
fassenden philologischen Bildung anerkannt wurden, theils keine selbständige
Existenz gewonnen hatten, sind zu Wissenschaften erwachsen, deren völlige
Beherrschung und Durchdringung mehr Kraft absorbirt, als ehemals die
freilich oberflächlichere Orientirung auf sehr viel weiteren Gebieten. Dies
zeigt sich auch im akademischen Unterricht: dasselbe Fach, zu dessen Ver¬
tretung vor fünfzig Jahren ein einziger Docent vollkommen ausreichte,
erfordert bereits drei, vier oder mehr Lehrer, und diese vermögen den
immer wachsenden Unterrichtsstoff kaum zu bewältigen. Wer wollte leugnen,
daß mit der zunehmenden Vertiefung in Einzelnheiten oft die Erhebung zu
allgemeineren Anschauungen schwieriger wird, mit der Virtuosität und Mei¬
sterschaft innerhalb eines beschränkten Gebietes die Einseitigkeit zunimmt,
daß zuweilen die Masse des Stoffs das Streben hemmt, in den Geist der
Erscheinungen des antiken Lebens einzudringen, ja wohl hier und da selbst
das Verlangen danach erstickt.
Außer einer ungewöhnlichen Vielseitigkeit der Studien besitzt der Ver¬
fasser auch in außerordentlichem Grade den nie ermüdenden, liebevollen Fleiß
des Sammlers, der auf dem Gebiete der Alterthumskunde ganz besonders
erfordert wird. Denn hier gilt es, nichts gering zu achten, große Mühe um
kleinen Gewinn nicht zu scheuen, auch die winzigsten und entstelltesten Ueber¬
reste, die sich finden lassen, nicht zu verschmähen. Wer ein unzähligemal
als werthlos bei Seite geworfenes, unscheinbares Fragment immer wieder
zu betrachten und mit andern zusammenzuhalten nicht müde wird, entdeckt
doch oft die Stelle, an der es eingepaßt werden kann, um nun vielleicht eine
lang vermißte, überraschende Ergänzung eines bisher unvollständigen und
darum unverständlichen Ganzen zu bilden. Der Verfasser hat manches bis
zum abschreckenden öde und unerfreuliche Gebiet durchsucht, das bisher die
wenigsten Forscher des römischen Alterthums auch nur betreten haben, da
die meisten es vorzogen, die schon von den Schriftstellern der Thesauren
gebrochenen Bahnen immer von neuem breit zu treten. Er ist z. B., soviel
Referent weiß, der erste, der die höchst unerfreuliche und wenig dankbare
aber unerläßliche Arbeit über sich genommen hat, die sämmtlichen Schriften
des Arztes Galenus nur zu dem Zwecke durchzuarbeiten, um die hie und da
eingestreuten Notizen, die sich auf das antike Privatleben beziehen, zu sammeln
und zu verwerthen. Die Lecture dieses unendlich redseligen Schriftstellers,
dessen Werke in der neuesten Ausgabe zwanzig dicke Bände füllen, können
selbst Mediziner zur Verzweiflung bringen; um so größere Resignation ist
für den Philologen und Alterthumsforscher erforderlich, dem der Inhalt meist
gleichgültig oder unverständlich ist. Für die Aufspürung interessanter Thatsachen
auf den entlegensten Gebieten der Literatur ist dem Verfasser übrigens die
reiche Bibliothek in Gotha sehr zu statten gekommen, die ihm auch die Be¬
nutzung mancher werthvollen im Auslande erschienenen Werke möglich ge¬
macht hat, deren Kenntniß in Deutschland noch wenig verbreitet ist; denn
trotz der riesenhaften Zunahme des internationalen Verkehrs, ist der von
Göthe gehegte Gedanke „der Weltliteratur" wenigstens auf dem Gebiet der
Alterthumsforschung feiner Verwirklichung noch viel ferner, als man erwarten
sollte. Noch immer dauert es oft übermäßig lange, ehe ein in England oder
Frankreich erschienenes gutes Buch in Deutschland die gebührende Verbrei¬
tung findet. Nicht minder begünstigt ist der Verfasser durch die monumentalen
Schätze der gothaischen Sammlungen und mit nicht geringerem Erfolg hat
er auch sie für seine Zwecke verwerthet. Dies führt uns auf einen andern
Vorzug seines Buchs.
Ein Hauptfortschritt der Alterthumswissenschaft beruht auf ihrem Stre¬
ben, soviel als möglich Anschauungen des antiken Lebens zu gewinnen, ein
Streben, das mit dem gewaltigen Aufschwung der Monumentalforschung im
engsten Zusammenhange steht, überdies durch die so sehr viel leichter ge¬
wordene Autopsie des classischen Bodens wesentlich unterstützt wird. Gegen¬
wärtig lernen schon die Schüler der Gymnasien das Forum und die Akro-
Polis aus Karten und Plänen, antike Bauten, Waffen, Trachten, Geräthe
aus Abbildungen kennen: die Zeit liegt noch nicht weit hinter uns, wo
selbst große Philologen von diesen Dingen zum Theil nur sehr unklare
Vorstellungen hatten. Viele der jetzigen Generation haben noch jene Schul¬
männer gekannt. die, in ihr Museum gebannt, die Welt kaum einen Feier¬
tag sahn, die mit Recht den Respect ihrer Schüler besaßen, obgleich sie
zuweilen deren stille Heiterkeit erregten, wenn sie bei ihren Vorträgen
sich über den Bereich ihrer Studierstube hinauswagten. Selten werden wohl
jetzt noch solche Bemerkungen bei der Interpretation alter Schriftsteller ver¬
nommen, wie z. B. die eines Lehrers, der zur Erklärung des Ausdrucks
im Sophokles „geschwungene Zügel" seinen Schülern mittheilte, er habe
selbst oft gesehn, daß die Fuhrleute die Zügel ihrer Gespanne schüttelten,
ohne sich dieses erklären zu können, bis ihn ein kundiger Freund belehrt
habe, daß es zur Ermunterung der Pferde geschehe. Das Geschlecht der
Gelehrten, die so ganz in Bücherstudien lebten und webten, ist allmäh¬
lich ausgestorben, und wie ihre Vorzüge seltner zu finden sind als ehedem,
so ist die Fähigkeit, sich in die Zustände, Sitten und Gebräuche der alten
Welt zu versetzen, allgemeiner geworden. Auch in Nebendingen ist man
überall eifrig und mit Erfolg bemüht, die möglichste Genauigkeit und Rich¬
tigkeit der Anschauung zu erreichen. Marquardt hat sich z. B. nicht begnügt,
das Obergewand der Römerinnen, die Palla, nach weiblichen Gewandstatuen
zu beschreiben, sondern er hat sie mit Hilfe eines Malers in oatura drapirt;
er hat die Angabe, daß die Wurfknöchel gewöhnlicher auf eine der breiten
Längenseiten zu stehn kamen, als auf die volle schmale, am seltensten auf die
eingedrückte schmale Seite, durch eigene Versuche geprüft und dergleichen.
Dabei besitzt er in einem bei Gelehrten gewiß seltenen Grade und Umfange
Kenntniß der Handwerke, Fabrikationen und Industrien und der dabei in
Anwendung kommenden technischen Thätigkeiten und Methoden.
Man würde aber sehr irren, wenn man in diesem Buche nichts weiter
erwartete, als eine Beschreibung der Äußerlichkeiten der römischen In¬
dustrie. Der Verfasser faßt überall die Fülle der Einzelheiten zu Gesammtan-
schauungen zusammen, die sich leicht einprägen, er hebt die Beziehungen des
antiken Handwerks und Gewerbes zu der gesammten antiken Cultur hervor,
weist auf die Verschiedenheit zwischen Alterthum und Neuzeit in diesen Ge¬
bieten hin, und eröffnet durch eine im besten Sinne des Worts geistvolle
Auffassung d'em Lehrer oft überraschende Perspektiven. Endlich ist die Form
ebenso geschmackvoll als der Inhalt gediegen. Die anspruchslose Darstellung
die durch die Natur eines Handbuchs bedingt ist, wird niemals trocken, die
schwierig einzuhaltende Grenze zwischen Ueberfluß und Magerkeit des Mate¬
rials nirgend überschritten, der gebildete Laie findet nicht weniger, der sach¬
kundige Leser nicht mehr als erj bedarf und wünscht. Die für ein Handbuch
gewiß allein richtige Methode, die Belege der Darstellung vollständig zu geben,
aber unter den Text zu verweisen, setzt jeden Leser, dem es um wirkliche Be¬
lehrung zu thun ist, in den Stand, sich über die Gegenstände rasch zu orien-
tiren und die Resultate mühevoller und complicirter Untersuchungen leicht
anzueignen. Auch ist es gewiß ein Vorzug des Buchs, daß der Verfasser
sich aller Polemik enthalten hat.
Um nun auch einige Proben zu geben, wählen wir zuerst aus dem Ab¬
schnitt über die Nahrung, die Besprechung der Weincultur. Die eigentliche
Weincultur war in Italien weit jünger als der freilich auch schon unter den
Königen dort vorhandene Oelbau, und erst seit der Zeit in Aufnahme ge-
kommen, als der Getreidebau aufhörte. Denn obgleich in Unteritalien der
Weinbau schon vor der Colonisation der Griechen bestand, und in Rom seit
den ältesten Zeiten Wein zuerst als Luxusartikel in beschränktem Gebrauch
war, sodann aber auch producirt wurde, so entbehrte doch der italienische
Wein selbst zu der Zeit, in welcher Campanien in römischen Besitz kam, noch
des Ruhmes, den er später erlangt hat. Weder Plautus noch Cato kannten
den Falerner, die Aerzte bedienten sich in dieser Zeit zu ihren Euren
nur griechischer Weine, und die merkwürdigen Funde rhodischer Amphoren
(thönerne Weingefäße), deren Henkelinschriften und deren Schrift noch in die
Zeit von ISO bis 60 v. Chr. zu setzen sind, beweisen, daß in dieser Zeit
der rhodische Wein nicht nur in die Städte des schwarzen Meeres, nament¬
lich die Krim, nach Alexandria, Athen, Sicilien und Sardinien, sondern auch
in Latium, namentlich in Präneste (Palestrina), das später selbst guten Wein
baute, und vielleicht viel früher in Toscana eingeführt wurde. In dem be¬
rühmten Weinjahre des Consuls Opimius (121 v. Chr.) waren die über¬
seeischen Weine noch fast allein in Geltung, und erst spätere Zeiten würdig¬
ten die einheimischen Sorten dieses Jahrgangs. Der Falerner kommt zuerst
bei Lucull und Nero vor, und verdankt seinen Ruhm der sorgfältigen Be¬
handlung, welche die Römer ihm zu Theil werden ließen und auf welche
die uns erhaltenen Schriften über den römischen Landbau ein großes Gewicht
legen, weil der Weinbau in Italien bei rationeller Wirthschaft sehr einträg¬
lich war. Nach Columella (der unter Claudius schrieb) verzinste sich das
Capital bei dieser Anlage und bei guter Cultur mit etwa 18 Procent, wäh¬
rend außerdem der Verkauf der Setzlinge noch eine erhebliche Rente gewährte.
Hierbei sind freilich Mißernten, Unterhaltungskosten, und außerordentliche
Ausgaben nicht berücksichtigt; doch selbst wenn man diese abrechnet, muß die
Capitalanlage in den Weinbergen eine sehr vortheilhafte gewesen sein. Eine
solche Einträglichkeit des Geschäfts veranlaßte zu großer Aufmerksamkeit und
Sorgfalt, durch welche es gelang eine Anzahl italischer, namentlich campa¬
nischer Sorten zu den ersten Weinen der Welt zu machen und ihnen nicht
nur im ganzen römischen Reich, selbst Griechenland nicht ausgenommen, son¬
dern auch außerhalb der römischen Grenzen bis nach Indien hin einen Markt
zu eröffnen: nach Plinius lieferte von den etwa 80 berühmten Sorten, die
außer den ordinären Weinen in den Handel kamen, Italien allein nicht we¬
niger als zwei Drittel. Die Masse des italischen Weines reichte nicht aus,
die Nachfrage zu befriedigen; Galen sagt, der Falerner werde in die ganze
Welt ausgeführt, obwohl er nur auf einem kleinen Raum wachse, indem
nämlich anderen Weinen von den Fabrikanten durch Bearbeitung der gleiche
Geschmack gegeben würde*). Dies führte ferner zu dem Bestreben, den
italischen Weinbau möglichst zu monopolisiren, d. h. die Weincultur in den
Provinzen zu beschränken. Schon im I. 129 v. Chr. bestand eine Verord¬
nung, wonach in den transalpinischen Provinzen, besonders in Gallien, wohin
eine bedeutende Ausfuhr italischen Weines stattfand, niemand neue Wein-
und Oelpflanzungen anlegen durfte: eine Maßregel, die bei Cicero (der als
Zweck die Steigerung des Werths der italischen Weinberge ausdrücklich an¬
gibt), zwar als klug, aber nicht als gerecht bezeichnet wird.
Nur wenn man dies berücksichtigt kann man die Nachricht verstehn, daß
Kaiser Probus (282 v. Chr.) in ganz Gallien, Spanien, Britanien und Pan-
nonien (Steiermark, Kärnthen, Krain, Ungarn, Slavonien, einen Theil von
Croatien und Bosnien) den Weinbau und die Weinbereitung frei gab. Er
hob also jene Beschränkung auf, die übrigens nie ein absolutes Verbot gewesen
war; spanische und französische Weine werden schon in der letzten Zeit der
Republik und in der ersten Kaiserzeit zahlreich erwähnt. Im Jahre 311 waren
die Weinberge von Autun bereits durch Alter in Verfall gerathen, die Wurzeln
der Rebenstöcke hatten sich dermaßen im Boden ausgebreitet, daß das Wachs¬
thum durch Mangel an Raum unmöglich geworden war; über den Bordeaux¬
wein haben wir erst aus dem Ende des vierten Jahrhunderts eine Nach¬
richt, die zugleich die dortigen Austern rühmt. Ich füge einige Bemerkungen
über andere gegenwärtig geschätzte Sorten hinzu. Das Alter des Weinbaus
aus beiden Rheinufern ist unbekannt. Auf dem linken, wo er älter war,
kennen wir die Weinberge längs den Ufern der Mosel erst aus dem Gedicht
des Ausonius über diesen Fluß; Venantius Fortunatus (in der zweiten
Hälfte des 6. Jahrhunderts) besingt außer den Weinbergen von Metz und
Trier auch die von Andernach. Keinesfalls kann man aus jener Nachricht
von Probus schließen, daß von ihm der dortige Weinbau herrühre*). Auf
dem rechten Rheinufer gab es in Tacitus Zeit im freien Germanien noch gar
keinen Wein. Dagegen war der Rhätische (Tiroler und Veltelliner?) schon
früh in Italien bekannt und gehörte zu den Lieblingsweinen des Kaiser
August. Als den Gründer des Ungarweins darf man Probus betrachten,
da er an den Südabhang der Karpathen auf den Berg Alma bei Sirmium
(jetzt Mitroviez) Reben pflanzte. Leider sind unsere Nachrichten über die
Verbreitung der Culturgewächse im Alterthum überhaupt sehr dürftig. Mit
Ausnahme des Oel- und Weinbaues aber, bei denen es sich um Erhaltung
eines Monopols handelte, hat die römische Weltherrschaft selbst auf die Ve¬
getation der Provinzen einen ähnlichen Einfluß geübt wie auf ihre gesammte
Cultur. Wie sie überhaupt die landschaftlichen Eigenthümlichkeiten verwischte
und eine gewisse Einförmigkeit beförderte, so hat sie auch durch Acclimati-
Sallon und Austausch der Culturgewächse die verschiedenen Vegetationen bis
auf einen gewissen Grad ausgeglichen, namentlich denen der nördlicheren
Länder einen mehr südlichen Charakter aufgeprägt.
Der Abschnitt über die Kleidung ist sehr geeignet, die übertriebenen
Borstellungen von dem römischen Luxus zu beschränken. Der hauptsäch¬
lichste, lange Zeit der einzige Kleiderstoff war die Wolle. Leinwand, deren
Produktion seit uralter Zeit in Aegypten blühte, lieferte Italien nur wenig
und niemals besonders fein; diese brachte erst der Verkehr mit dem Orient
in Aufnahme. Bei den Männern scheinen leinene Tuniken und Hem¬
den nicht vor dem dritten und vierten Jahrhundert allgemein geworden zu
sein. Von seidnen Fabrikaten waren bis zum Anfang des dritten Jahr¬
hunderts nur halbseidene verbreitet, die wie alle kostbarern Stoffe vorzugs¬
weise von Frauen getragen wurden, mit Ausnahme Roms offenbar nicht
häusig, denn Galenus sagt, daß, falls ein Arzt Seide bedürfe, er sie sich
leicht von reichen Frauen verschaffen könnte, die sie an vielen Orten des
römischen Reiches besäßen, „besonders in großen Städten". Erst im dritten
Jahrhundert wurden schwere, ganzseidne Stoffe in Rom bekannt, die man
noch mit Golde aufwog; hundert Jahre später freilich wurde in Folge der
Zunahme des Handelsverkehrs mit dem Osten, Seide schon von geringen
Leuten getragen. Die Verwendung von Mousselinen und andern baum¬
wollenen Stoffen zu Kleidern scheint immer beschränkt geblieben zu sein.
Ein sehr beschränkter Luxus war im Alterthum der Gebrauch ganz silberner
und ganz goldener Stoffe; der erster» wird nur einigemal im Orient, der
letztern in der Kaiserzeit nur dreimal erwähnt, Caligula, Heliogabal und die
jüngere Agrippina haben deren getragen. Der Mantel der Mutter Neros
.aus gewebten Golde ohne anderen Stoff" war ein beispielloses Prachtstück,
dessen sogar Tacitus in der Geschichte jener Zeit gedenkt. Im Anfange des
sechszehnten Jahrhunderts waren solche Stoffe sehr verbreitet; Karl der
Kühne hatte z. B. zur Schlacht von Granson 400 Kisten mit Silber- und
Goldstoffen, darunter allein hundert gestickte goldene Röcke für sich mitge¬
nommen. seidene und wollene Stoffe mit Gold durchwirkt, waren aller¬
dings in der Kaiserzeit häusig, theils wurden sie zu Teppichen und Decken
verwendet, theils zu Kleidern, die aber in den ersten Jahrhunderten nur
ganz ausnahmsweise von Männern getragen wurden. Die Verzierung der
Kleider mit Metallstickerei, mit der im Mittelalter und in neueren Zeiten
so viel Luxus getrieben wurde, war im römischen Alterthum auf die Tracht
der triumphirenden Feldherrn und ähnliche Staatskleider beschränkt; übri¬
gens fand die Stickerei bei Teppichen, Vorhängen und Decken Anwendung,
mit denen man Stühle, Kissen, Divans und Betten belegte. Ganz unbekannt
war dem Alterthum endlich derjenige Kleiderluxus, der in neuerer Zeit wohl
am weitesten getrieben worden ist, der des Pelzwerks. Pelzkleider sind zwar
immer in Italien bekannt gewesen, doch hat die eigentliche Verbreitung der
Pelzröcke erst im fünften Jahrhundert mit der germanischen Einwanderung
begonnen. Die Felle, die im Tarif des Diocletian aufgezählt werden, sind
fast ausschließlich entweder sehr wohlfeile, oder solche, die nur zu Decken verwen¬
det wurden: nämlich von Rindern, Ziegen, Schafen, Lämmern, Rehen, wil¬
den Schafen, Hirschen, Mardern, Bibern, Bären, Wölfen, Füchsen, Leoparden,
Hyänen, Löwen und Robben. Unbekannt war dem Alterthum auch die in
neueren Zeiten so vielfach im Uebermaß beliebte Verschwendung der Stoffe
zu übermäßiger Länge und Weite der Kleider, und alle jene geflissentlicher
Entstellungen der menschlichen Gestalt, als Schnabelschuhe. Hüstpolster, Schlepp-
kleider u. tgi. Perücken sind freilich eine sehr alte Erfindung; sie waren in
Aegypten ganz gewöhnlich und gehörten zur modischen Königstracht, in Rom
kommen sie mindestens seit Beginn der Kaiserzeit bet Männern und Frauen
vor, besonders waren im ersten Jahrhundert blonde beliebt, deren Haare aus
Deutschland bezogen wurden. Niemals wurde aber die Mode so allgemein, als
im 17. und 18. Jahrhundert, und war auch schwerlich jemals so kostspielig;
denn Allongeperücken konnten bis 1000 Thaler kosten. Wie an Büsten von
Kaiserinnen die Frisuren zum Abnehmen eingerichtet sind, offenbar um mit
der wechselnden Mode Schritt zu halten, so ist auch im Revolutionszeitalter
von Frauen nach der Beschaffenheit der Toiletten mehrmals mit der Perücke
gewechselt worden. Uebrigens war allem Anschein nach der Luxus der Tracht,
der durch den häufigen Wechsel der Mode bedingt ist, im Alterthum sehr
viel geringer, als im Mittelalter und der neueren Zeit. Ferner war die
antike Tracht insofern viel einfacher als die moderne, als sie aus einer gerin¬
geren Zahl von Stücken bestand, auch waren die durch den Wechsel der
Jahreszeiten bedingten Veränderungen nicht so vielfach und durchgreifend,
wie in nordischen Ländern. Ob der Luxus, die Kleider mehrmals am Tage
zu wechseln, verbreitet war, muß aus Mangel an Nachrichten dahingestellt
bleiben. Erwähnt wird dies, soviel ich weiß, nur ein einziges Mal von
einem reichen Parvenü, der überhaupt einen übertriebenen und geschmacklosen
Luxus zur Schau trägt: er wechselt elf Mal während einer Mahlzeit die
Kleider. Nach Marquardts sehr annehmbarer Vermuthung war der öftere
Kleiderwechsel bei der Mahlzeit gewöhnlich und man hatte eine ganze Gar¬
nitur von Kleidern für diesen Zweck vorräthig. Mag dies aber auch sonst
vorgekommen sein, so hat doch allem Anschein nach hierin das Alterthum im
Ganzen hinter der neuen Zeit zurückgestanden. Gegen das Ende des sechs¬
zehnten Jahrhunderts z. B. klagten die Geistlichen, „daß man nicht bloß
alle Tage ein anderes Kleid tragen wolle, sondern täglich mehrere Male
wechsele." Im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts hinterließ eine Ehefrau
32 vollständige Anzüge :c. Um endlich auch die von römischen Schriftstellern
so oft gerügte Schamlosigkeit der weiblichen Tracht zu berühren (jene coischen
durchsichtigen Florkleider, die die römischen Matronen im ersten Jahrhundert
von der damaligen äemi-movcle annahmen), so hat mindestens auch hierin
die neuere Zeit und schon das Mittelalter mit dem Alterthum gewetteifert.
Schon im zehnten Jahrhundert ist hierüber geklagt worden*), und diese
Klagen haben sich bis zur Zeit der Trachten a 1a, sauvaM und Z. Ig. FreeczuL
zu verschiedenen Zeiten wiederholt.
Am meisten charakteristisch für das römische Alterthum ist der dem Sü¬
den so natürliche Luxus mit kostbaren und prächtigen Farben, besonders
Scharlach und den verschiedenen Purpursorten, über welche man bei Mar-
quardt die umfassendste Belehrung findet. Doch theils wurden die so gefärb¬
ten Stoffe nur zu Einsalzen, Besätzen und Säumen verwendet, theils war
der Gebrauch der ganz purpurnen Kleider durch verschiedene Verordnungen
beschränkt. Der Preis eines lyrischen Purpurmantels von bester Farbe wird
zu Ende des ersten Jahrhunderts auf 723 Thlr. angegeben. Gegenwärtig
kosten z. B. die theuersten Cashmirshawls an 2000, Zobelpelze zuweilen
mehrere tausend Thaler, und es ist bekannt, daß der heutige Kleiderluxus
durch den vom sechszehnten bis achtzehnten Jahrhundert noch sehr überboten
wurde; ein Kleid des Marschall Bassanpierre, an dem der Arbeitslohn für
Stickerei allein auf 600 Thlr. zu stehen kam, kostete 14.000 Thlr. Diese
Angaben werden hinreichen, um das Verhältniß des antiken Kleiderluxus
zum modernen wenigstens im allgemeinen anzudeuten.
Den dritten Abschnitt über Wohnung und häusliche Einrichtung leitet
Marquardt mit einer Darstellung des Verhältnisses von Kunst und Hand¬
werk ein, die ich hier ihrem wesentlichen Inhalt nach mitzutheilen mir nicht
versagen kann. „Im Alterthum selbst wird die Kunst im engern Sinne vom
Handwerk niemals streng unterschieden, was einerseits die günstige Folge
hat, daß bei allen, selbst den untergeordnetsten Gegenständen der häuslichen
Einrichtung geschmackvolle Formen zur Anwendung kommen, andrerseits aber
die ungünstige, daß zwischen der idealen Kunstleistung und der handwerks¬
mäßigen Production höchstens ein relativer Unterschied statuirt wird. Doch
geschah diese Identification von Kunst und Handwerk bei Griechen und Rö¬
mern in wesentlich verschiedener Weise. Bei den Griechen ist jedes Hand-
Werk eine Kunst; bei den Römern jede Kunst ein Handwerk; daher erklärt
Seneca die Malerei und die Bildhauerei für ebenso illiberale Gewerbe als
das Handwerk der Steinmetzen; in der Gesetzsammlung des Theodosius werden
die Bildhauer mit den gewöhnlichen Bauhandwerkern in eine Kategorie ge-
stellt, und Vitruv, selbst ein Künstler, (freilich ein sehr dummer) findet zwischen
der Schusterkunst, Walkerkunst und Baukunst keinen andern Unterschied, als
den der größern oder geringern Schwierigkeit." Der Grund der sehr ver¬
schiedenen Stellung, welche Kunst und Künstler bei Griechen und Römern
einnehmen, liegt zunächst in dem Umstände, daß in Griechenland die Kunst,
sich in dem Cultus entwickelte, in Rom aber nicht. Wie der Dichter (den
die alten Römer wie einen Bänkelsänger ansahen) den Griechen als gottbegei¬
sterter Seher gilt, so mußten die idealen Conceptionen der Maler und Bild¬
hauer, deren höchste Aufgabe die Vergegenwärtigung der Götter selbst war,
als religiöse Offenbarungen und die Künstler als Vermittler derselben be¬
trachtet werden. Malerei und Sculptur waren daher in hoher Achtung, ein
ehrenwerther Beruf freier Leute, nicht eine Beschäftigung für Sclaven. Die
römische Religion hatte dagegen ursprünglich gar keinen Zusammenhang mit
künstlerischer Darstellung (die Römer hatten lange Zeit keine Götterbilder),
und als im Laufe der Zeit griechische Göttergestalten auch in Rom Eingang
fanden, so waren dies eben fertige Kunstformen, an denen die römische Pro-
duction keinen Theil hatte.
Der Verfasser handelt in diesem Abschnitt von den Arbeiten und Arbei¬
tern in Stein, Thon, Metall (Silber, Gold, Kupfer, Eisen, Blei) Holz, Leder
Elfenbein und Knochen, endlich Glas: also von allen Thätigkeiten, die zur
Herstellung von Wohnungen und häuslichen Einrichtungen im weitesten Um¬
fange gehören: von der Ausbeutung der Steinbrüche, dem Betrieb der
Ziegeleien auf großen Gütern (namentlich auch der Kaiser und Mitglieder
des kaiserlichen Hauses) bis zu Verfertigung der Schmuckgegenstände aller
Art, mit denen der Luxus der Kaiserzeit die Paläste decorirte.
Obwohl die Römer für die Kunst nie ein wahres Verständniß gewonnen
haben, Kunst und Kunsthandwerk immer gering achteten und beides (mit
alleiniger Ausnahme der Architectur) im Ganzen den Fremden, Sclaven und
Freigelassenen überlassen blieb, so haben sie doch in großartiger Weise die
Kunst zur Erhöhung und Verfeinerung des Lebensgenusses, zur Verschönerung
der Existenz zu verwenden verstanden, und die griechische Kunst hat den un¬
geheuern Anforderungen, die an sie namentlich für decorative Zwecke gestellt
wurden, in der römischen Kaiserzeit eine Nachblüte verdankt, die bis ins
zweite Jahrhundert hinein dauerte. Die Entdeckung von Pompeji und Her-
culanum hat gelehrt, wie allgemein das Bedürfniß war, i>as Dasein durch
den Schmuck der Kunst zu veredeln, und wie dies selbst in kleineren Orten,
mit bescheidenen Mitteln erreicht wird. Ein so allgemeiner Kunstluxus war
freilich nur durch die Sclaverei möglich, welche auch in der Kunst und dem
Kunsthandwerk eine Wohlfeilheit der Arbeit bewirkte, die in der modernen
Welt undenkbar ist. Wir haben z. B. zahlreiche Angaben von Preisen für
Statuen (besonders auf Postamenten derselben in den römischen Colonien
des nördlichen Afrika): sie steigen von 3000 bis 8000 Sesterzen (217—ö80Thlr.).
Gegenwärtig kann mit solchen Summen außer dem Material und Transport
höchstens die gröbste Arbeit bezahlt werden. In Carrara selbst kostet z. B.
ein Marmorblock für eine lebensgroße Statue (mit wenig Ausladung) von
.der besten Sorte etwa 200, von der zweiten Sorte etwa 100 Thaler, ein
Block für eine colossale Statue, mit Einschluß der Bezahlung des Brechens,
600 Thaler, dessen Transport bis Berlin ebensoviel. Dürfen wir annehmen,
daß die antiken Preise des Materials und Transports von den modernen
nicht sehr differirten, so ist offenbar, daß die Bildhauer in der Regel nur wie
Handwerker bezahlt wurden, besonders da die Mehrzahl der Ehrenstatuen
allem Anschein nach nicht viel mehr kosteten, als die niedrigste angegebene
Summe. Aber nicht nur in der Bildhauerei, sondern in allen zur Verschö¬
nerung der Wohnungen so massenhaft verwendeten Künsten mußte die Massen-
Production ebensosehr den Preis der Arbeit Herabdrücken, als die ohnehin
nicht scharf gezogene Grenze zwischen Handwerk und Kunst immer mehr ver¬
wischen.
Die Pracht der baulichen Ausstattung, die Anwendung des Marmors
und anderer edler Steinarten und Materials, der Vergoldung und des Elfen¬
beins, die Höhe und Weite der Räume, die Verwendung der Säulen an der
Front und im Innern — alles dies ist^in Rom verhältnißmäßig spät aus¬
gekommen. Im Todesjahr Sullas 78 v. Chr. gab es nur einzelne palast¬
artige Privathäuser in Rom, 35 Jahre später, im Todesjahr Cäsars (44
v. Chr.) bereits über 100. Plinius berichtet diese rapide Zunahme des Bau¬
luxus als eins der größten Wunder in der Geschichte der Stadt Rom, nicht
ohne nach seiner Art eine Sentenz über die Eitelkeit alles Irdischen hinzu¬
zufügen. Das Wunderbare ist vielmehr, daß Rom, seiner Bedeutung nach
schon längst die erste Stadt der alten Welt, bis dahin in baulicher Hinsicht
so ungemein zurückgeblieben war, so daß Veränderungen, wie sie sonst in
aufblühenden Städten mehr allmählich aufzutreten pflegen, Veränderungen,
wie sie Macaulay in den englischen Städten seit dem Ende des 17. Jahr¬
hunderts mehrfach nachgewiesen hat, nun in dem kurzen Zeitraum eines
Menschenalters erfolgte. Jene fünfunddreißig Jahre waren eine Zeit der
größten Eroberungen und Erwerbungen im Orient und Occident. In diesen
Kriegen raubten und erbeuteten Feldherren, Officiere, Civilbeamte und Ge¬
schäftsmänner ungeheure Reichthümer (Demetrius, der Freigelassene des Pom-
Pejus, z. B. hinterließ 6 Millionen Thaler), die zum Theil zu den glänzend-
sten öffentlichen Bauten verwendet wurden, deren Pracht sich dann aber schnell
den Privatbauten mittheilte. Einen neuen großartigen Aufschwung nahm
das Bauwesen nach der Schlacht bei Antium, nicht blos in Folge des durch
den Weltfrieden wiederkehrenden Gefühls der Sicherheit und des Zuströmens
von Capitalien nach Rom. sondern auch in Folge des von August ausgehen¬
den Strebens, die Stadt nun mit dem Glanz und der Pracht auszustatten,
die der Hauptstadt einer Weltmonarchie ziemte, Rom aus einer Backstein- in
eine Marmorstadt zu verwandeln. Erfolgte diese Verschönerung zunächst auch
durch öffentliche Anlagen und Denkmäler, so kann doch kein Zweifel sein, daß
der so entschieden ausgesprochene Wunsch und Wille des Monarchen für die
Großen, die Kapitalisten, die Unternehmer von Privatbauten überhaupt ma߬
gebend war. Man darf sich nur erinnern, wie August der Starke Dresden
aus einer hölzernen Stadt in eine steinerne verwandelte, indem er 1708 vor¬
schrieb, nur steinerne Häuser zu bauen, er und seine Günstlinge mit dem
Beispiel der Prachtbauten vorangingen. Lady Montague nennt 1716 Dresden
bereits die zierlichste (nsatöst) Stadt von Deutschland und sagt, daß die meisten
Häuser neu gebaut waren. Friedrich der Große ließ in Berlin nach dem
siebenjährigen Kriege in der Leipziger und Königsstraße und unter den Linden
die ein- bis zweistöckigen Häuser abbrechen und auf seine Kosten höher und
schöner wieder aufbauen. Was der Wille dieser Monarchen in kleinen Resi¬
denzen mit relativ geringen Mitteln im Kleinen vermochte, das wird um so
eher der Wunsch und Wille Augusts sowie sein und seiner Freunde Bei¬
spiel in Rom im Großen bewirkt haben. Die Gedichte des Horatius sind
voll von den Eindrücken, die der nun in den weitesten Kreisen sich verbrei¬
tende Bauluxus auf die Freunde der früheren Einfachheit machte. Diese
Pracht hat dann aber in der Kaiserzeit noch sehr zugenommen und bis
Hadrian wohl bereits ihre größte Höhe erreicht. Vermuthlich wurden die
Anlagen noch ausgedehnter als zuvor, obwohl schon Sallust von Palästen
spricht, die nach Art ganzer Städte gebaut waren. Sodann wurden eine
Menge neuer Erfindungen gemacht und angewandt, wozu wahrscheinlich auch
die Construction der beweglichen Felderdecken gehörte, die auseinandergescho¬
ben werden konnten, um Geschenke auf die Gäste herabfallen zu lassen. Na¬
mentlich aber nahm die Verschwendung in bunten und kostbaren Steinarten
zu, die schon von Domitian in seinen Prachtbauten auf dem Palatin aufs
äußerste getrieben wurde. Wir haben die Beschreibung dieser Säle von
Statius, und die von Napoleon III. dort veranstalteten Ausgrabungen, die
zur Entdeckung des domitianischen Palasts geführt haben, zeigen, daß Statius
nicht zu viel gesagt hat: namentlich haben die Ruinen eine ganze Musterkarte
bunter Marmorarten geliefert.
Die Ausstattung der Wohnungen war im Alterthum — und ist zum
Theil noch im Süden'— von der gegenwärtig in Nord- und Mitteleuropa
gewöhnlichen wesentlich verschieden. Sie war nicht auf behaglichen Aufent¬
halt, nicht auf Comfort berechnet (den der Süden ebensowenig kennt als
seine Sprachen ein Wort'dafür besitzen), sondern auf möglichst imposante und
glanzvolle Darstellung der Würde des Besitzers. Waren schon die eigent¬
lichen (am Tage wenig benutzten) Wohnungen nach unsern Begriffen mit
Hausrath und Möbeln nur spärlich ausgestattet, so enthielten vollends die
hohen, weiten, zum Empfang bestimmten Räume, die sich Morgens dem
Schwarm der Besucher, gegen Abend den zur Mahlzeit geladenen Gästen
öffneten, verhältnißmäßig wenige, dafür um so kostbarere und gediegnere,
ausschließlich oder vorzugsweise zur Decoration dienende Prachtstücke: als
Tische mit Citrus- (Thuja-) Platten auf Elfenbeinfüßen, Ruhebetten mit
Schildpatt ausgelegt oder reich mit Gold und Silber verziert und mit ba¬
bylonischen (gestickten) Teppichen behängt, Prachtvasen aus corinthischer Bronze
und Murrha (wahrscheinlich indischem Flußspath), kunstvolle Kandelaber.
Schenktische mit alten Silberarbeiten, Statuen und Gemälden berühmter
Künstler.
Ueber alle diese Dinge, wie über ihre Fabrikation und Preise, findet
man in Marquardts Buch die ausführlichste und genaueste Belehrung. Die
Preise, die wir kennen, sind meist nicht Durchschnittspreise, sondern exorbi¬
tante (deshalb werden sie gerade berichtet), wie schon daraus hervorgeht,
daß bei Martial die ganze glänzende Einrichtung eines reichen Hauses nur eine
Bullion Sesterzen kostet, während diese und noch größere Summen öfter für
einzelne der erwähnten Kostbarkeiten bezahlt worden sind. Sodann sind es
großentheils sogenannte Affectionspreise, d. h. solche, die nur für Gegenstände
einer besondern Liebhaberei gezahlt werden: man kann sie also nur mit denen
vergleichen, die gegenwärtig z. B. für mittelalterliche Holzschnitzereien, No-
eoccomöbel, venezianische Gläser, seltene Varietäten gewisser Blumen und der¬
gleichen gezahlt werden.
Doch ich muß es mir versagen, die Betrachtungen weiter zu verfolgen,
zu denen der reiche Inhalt dieses Werks überall anregt. Den Eindruck wird
gewiß jeder Leser daraus gewinnen, daß die Cultur des -römischen Alterthums
eine sehr reiche und hohe war, daß sie höher stand, als man im allgemeinen
zu glauben geneigt ist. Die fortgesetzten eingehenden Studien dieser Cultur
haben im ganzen nur dazu beigetragen, eine vortheilhaftere Meinung über
sie zu verbreiten. Sie hat manches hervorgebracht, was zum Theil in ver¬
kümmerter Gestalt, in späteren Jahrhunderten segensreich fortgewirkt und
das Dasein in unserem Welttheil menschenwürdiger gemacht hat. Ja die
damalige Menschheit hat manches Gut besessen, dessen späte Wiedererlan¬
gung noch in unserem Jahrhundert hoch angeschlagen oder gar erst ange¬
strebt wird. Marquärdt weist (um nur dies eine Beispiel zu erwähnen)
darauf hin, daß Boissieu sich bei Gelegenheit der alten Röhren der Wasser¬
leitungen von Lyon veranlaßt findet, „die bittere Bemerkung,zu machen, daß
unsere Zeit, so stolz auf den Fortschritt der Mechanik und im Besitz ganz
anderer Mittel, als die Alten hatten, z. B. der Dampfkraft, selbst für große
Städte in dieser Hinsicht bei weitem nicht das leistet, was die Römer selbst
für die kleinsten Orte unter den erheblichsten Schwierigkeiten geleistet haben.
Das alte Lyon, sagt er, lag auf einer Höhe und war reichlich versorgt mit
reinem und gesundem Quellwasser; das neue Lyon liegt in der Ebene, zwi¬
schen zwei Flüssen, die es überschwemmen ohne ihm Trinkwasser zu gewähren,
und muß sich mit stinkendem Wasser, unreinen Gräben und ungesunder
Luft begnügen." Solche Bemerkungen, die zur Ermäßigung unsers Stolzes
auf die Niesenfortschritte der modernen Cultur auffordern, findet der Forscher
des römischen Alterthums nicht selten zu machen Gelegenheit. Möge denn
dies treffliche Werk, das von allen, die für das römische Alterthum Interesse
haben, nicht blos gelesen, sondern studirt zu werden verdient, in weitem
Kreise richtigere, vollere und lebendigere Anschauungen von einer ebenso wich¬
tigen als bisher noch so unvollkommen gekannten und gewürdigten Seite der
römischen Cultur verbreiten.
Wenn es als ein Glück zu betrachten ist, daß der preußischen Flotte die
Erwerbung der Panzerfregatte „König Wilhelm" möglich geworden ist, so
möchten wir es für kein Unglück halten, daß der beabsichtigte Ankauf andrer
Panzerschiffe sich nicht realisirt hat, und daß unser Geld für den Neubau
von Schiffen nach neueren Systemen erhalten worden ist. Schon früher ist ein
Bedenken dagegen ausgesprochen worden, Panzerschiffe von fremden Regie¬
rungen zu kaufen; denn wenn die fraglichen Schiffe etwas taugen, so kann
man fast immer annehmen, daß die betreffende Regierung sie lieber selbst be¬
halten wird. Es war deshalb auch vor einiger Zeit keine frohe Nachricht,
daß die preußische Regierung beabsichtige, das amerikanische Panzerschiff
„Dunderberg" anzukaufen, dessen Ruf einer der glänzendsten Beweise dafür
ist, was amerikanische Reclame zu leisten vermag. Wenn die Plattensabrica-
tion der Amerikaner meistens etwas zu wünschen übrig läßt, so treten bei
dem „Dunderberg" noch schwere Bedenken gegen die Construction hinzu.
Der „Dunderberg" ist ein Schiff des Kasemattensystems, welches weder die
Solidität und die Seefähigkeit der Breitseiten-Panzerfregatte, noch die vielen
Chancen für Geschützwirkung wie das Kuppelsystem bietet. Seine Dimen¬
sionen sind derart, daß die ungeheure Länge die Steuerfähigkeit und Wend-
balrkeit des Fahrzeugs wie beim englischen „Warrior" beeinträchtigt, während
die enorme Breite verursacht, daß die Schnelligkeit selbst hinter den mäßigsten
Ansprüchen zurückgeblieben ist. Es ist nämlich die größte Länge dieses Schiffs
387-/.' (380-/-' nach Webbscher Messung), die größte Breite 707°' (72' 7'/,"
W.), seine Tiefe im Raum 21'/.-' (22' 7-/2" W.) und sein Tiefgang bei voll¬
ständiger Ausrüstung 21'. Die Lästigkeit des „Dunderberg" beträgt 6090
Tons (bei 7000 Tons Deplacement und 2700 Tons Schwere des Schiffs¬
körpers vor dem Ablauf), womit das Schiff außer dem Panzergewicht von
1000 Tons, dem Sporn, der Maschine mit ihren 8 Kesseln und der Geschütz-
armirung noch etwa 1000 Tons Kohlen zu tragen vermag, welche, was
allerdings sehr zweifelhaft ist. auf 12 Tage ausreichen sollen. Der Schiffs¬
körper, welcher unter Wasser einen ziemlich flachen Boden mit 4 Kolschwenns
neben dem eigentlichen Kiel und dann fast senkrechte Seiten hat, ist innen durch
seinen Diagonalverband und durch wasserdichte Querschotten gestärkt; er ent¬
hält außerdem innen gleichsam noch ein zweites, von Längs- und Querschotten
gebildetes kleineres Schiff, welches die Maschine umgibt und sichert, und läuft
vorn in einen 50 Fuß langen Sporn aus, welcher nicht angesetzt ist, sondern
zur Schiffsconstruction gehört, ganz mit Holz ausgefüllt und vorn mit Eisen
beschlagen ist, etwa in ähnlicher Form wie der italienische „Affondatore".
Trotz der ungeheuern Dimensionen ist die Panzerung verhältnißmäßig schwach
(12-/« der einfachen Platte), viel schwächer, als auf den schwächsten preußi¬
schen Schiffen und auch die Verstärkung des Panzers, welche man durch seine
schräge Lage erreicht haben will, dürfte sich beim Schlingern des Schiffes,
durch welches die geneigten Flächen zeitweise in senkrechte Lage kommen,
schließlich als illusorisch erweisen. Der Rumpf des Schiffs, welcher mit dem
Oberdeck nur wenig über Wasser ragt, trägt auf feinen Spanten — Nippen
zunächst eine Holzlage, welche von unten nach oben von 3" Dicke bis 7'
Dicke zunimmt, und an den Seitenkanten (diiMs) 3', in der Wasserlinie 6'
stark ist. Auf dieser Holzlage, nach amerikanischem Ausdruck eusliion, liegt
die Panzerung in einem Winkel von 35° nach innen geneigt, und zwar sind
die gehämmerten, nicht gewalztem, Platten derselben (12—15' lang, 3' breit,
nur 3-3'//' dick) mittelst 1-/-Miger Bolzen mit ihrer Hauptausdehnung
senkrecht befestigt, nicht horizontal, wie bei den europäischen Panzerschiffen.
Auf dem Oberdeck erhebt sich eine Käsematte, die aber im Grundriß nicht
wie gewöhnlich viereckig in Form eines Rechtecks, sondern sechseckig ist, indem
statt der kleinen Seiten des Rechtecks eine wirtelsörmig vorspringende Pan¬
zerwand mit Pforten vorhanden ist. Die Panzerung der Käsematte, welche
im lichten 7—7°/«' Höhe besitzt, besteht aus lauter 4V-" (SV-"?) starken. 8-S'
langen, 28" breiten Platten von gehämmertem Eisen, die unter 33° nach
innen geneigt sind, während sie nach oben durch ein leichtes, bombenfestes
Deck geschützt ist, aus welchem sich im vordern Theil des Schiffs das Steuer¬
haus erhebt, 6'im Durchmesser, 7' hoch und mit 10" Panzerung. Die Armirung
der Käsematte war ursprünglich auf 21 Geschütze festgesetzt, von welchen 2 in
Drehthüren auf den Enden der Käsematte ihren Platz finden sollten: dann
setzten die Amerikaner die Armirung auf 16 — 18 Geschütze herab (12 — 14
11 zottige Dahlgren-Kanonen, außer den 4 15zölligen Rodmankanonen, wie
sie auch die Doppelthüren-Monitors führen), und die Franzosen haben endlich
das Schiff nur mit 6 Geschützen der letzteren Art gekauft. Außer dem ge'
wöhnlichen Steuer führt das Schiff noch ein Reserveruder und ferner 8 Haupt'
anter und 3 große Spille zum Aufwinden der Ankerketten. Als Bemastung
besitzt der ungeheure Schiffskörper, der 600 Mann Besatzung erhält, eine hä߬
liche schmächtige Briggtakelage (früher eine Schoonertakelage), und auch sonst
ist das Schiff im Aeußern so häßlich, daß die Amerikaner sich mit dem Troste
begnügen, bei Panzerschiffen liege die Schönheit in der Stärke.
Aber auch die Stärke des „Dunderberg" ist sehr ungenügend. Die Höhe
der Kasematten ist leider bei dem, allen Kasemattenschiffen eigenthümlichen
Einwärtsfallen der Wände und bei der Niedrigkeit des Decks über Wasser
wenig geeignet, die Seefähigkeit des Fahrzeugs im Ganzen sehr zu heben,
und auch die colossale Geschützausrüstung ist nicht viel werth, da sie aus
Guß else n geschützen besteht, welche an Werth den Bronze-, den Schmiede¬
eisen- und . vollends den Gußstahlkanonen weit nachstehn, und außerdem als
glatte — nicht gezogene —Kanonen eine sehr geringe Trefffähigkeit besitzen-
Die mangelhafte Geschützausrüstung würde sich indessen noch am leichtesten ver¬
bessern lassen; schlimmer aber sind die sonstigen Fehler. Der bedeutende
Tiefgang beeinträchtigt die Verwendung als Küstenvertheidigungsfahrzeug,
geringe Manövrirfähigkeit und unzureichende Takelage machen das Schiff
trotz seiner Größe für Kreuzfahrten und Seeschlachten ungeeignet, und noch
mehr gilt dies von der geringen Schnelligkeit, die mit Vollkraft nur H
Knoten, mit Halbkraft gar nur 8V- Knoten erreicht. Ferner beschwert der
Sporn das Vorschiff zu sehr und seine Holzfüllung vermehrt die Gefahr,
wenn es in Brand geschossen werden sollte. Die Panzerung hat außerdem,
abgesehen von ihrer oben hervorgehobenen Schwäche, den großen Fehler, daß
die Platten mit ihrer Hauptausdehnung senkrecht, nicht horizontal angelegt
sind, sodaß den Aufprall des Schusses höchstens 3 Spanten aufzuhalten haben,
und daß bei einem Nachgeben der Platten durch die größere Anzahl der
Fugen in der Wasserlinie die Schnelligkeit noch mehr verringert werden kann-
Gebaut ist das Schiff unter Aufsicht des Unionsadmirals Gregory von
B5ehb in Newyork. wo es am 22. Juli 1866 von Stapel lief. Wir können
uns indessen nach dieser Probe von den Producten der Webb'schen Werft
nicht gerade viel versprechen. Webbs Ruf gründet sich hauptsächlich aus den
Bau des amerikanischen Zollwachtschiffs „Harriet Leine" und den Bau zweier
Panzerfregatten für die italienische Negierung, deren eine, der „N6 d'Italia"
von ,dem italienischen Schraubenlinienschiff „R6 Galantuomo" abgeholt wurde,
und bald darauf bei Lissa sich so wenig steuerfähig zeigte, daß sie durch
Anrennen in den Grund gebohrt wurde. Auch hier bestätigt sich wieder die
in England herrschende Meinung, daß die Amerikaner vorzügliche Segel¬
schiffe, aber keine besonders guten Eisenschiffe zu bauen verstehn, und wir
halten es deshalb keineswegs für wünschenswert!), daß dem Ansuchen Webbs
an unsere Negierung, ihm die Gründung einer Panzerschiffswerft in Deutsch¬
land — auf Kosten der Entwicklung der heimischen Industrie — zu gestatten,
nachgegeben werde. Wie man erzählt, veranlaßte übrigens die Nachricht, Preußen
Unterhandle über den Ankauf des „Dunderberg", die französische Regierung,
das Schiff ihrerseits schleunigst anzukaufen, um es ja nicht in die Hände
Preußens fallen zu lassen. Der Kauf des Schiffs (mit 6 15 zölligen Ge¬
schützen), zusammen mit dem Doppelthüren-Monitor „Onondaga", den man
ebenfalls nicht an Preußen kommen lassen wollte, wurde denn auch glücklich
für die enorme Summe von 800,000 Pfd. Sterling (nach französischen offi-
ciellen Angaben 14 Millionen Francs) abgeschlossen, während bei Webb
der Preis für den Dunderberg allein contractlich auf nur 1,400,000 Dollars
ausbedungen gewesen war, ebensoviel wie die Kosten des amerikanischen
Monitors „Dictator" mit 2 Kanonen betrugen. Alsbald aber erschollen,
nachdem das französische Linienschiff „Jean Bart" zur Abnahme nach Amerika
geschickt worden war, aus Frankreich laute Klagen darüber, daß die Re¬
gierung für ihr theures Geld ziemlich werthlose Schiffe erhalten habe, und
Wirklich waren alle beide nicht im Stande, bei etwas ungünstigem Wetter
über den atlantischen Ocean zu kommen, der sie mit schwerer Havarie zurück¬
trieb. Obwohl Eigenthum Frankreichs, mußten sie nothgedrungen vorläufig
jenseits des Oceans bleiben, und als der „Dunderberg" mit 10 Geschützen
seinen zweiten Ueberfahrtsversuch zu einem glücklichen Ende führte, ward die
„Onondaga" zum zweitenmale zurückgetrieben: sie befindet sich in diesem
Augenblick noch in Amerika, für Frankreich so ziemlich ein „Gut im Monde".
Die „Onondaga" ist, beiläufig gesagt, ein Doppelthüren-Monitor
von der Art des „Micmtonomoh". ein Schiff von 226' Länge (69,3 Meter).
63' Breite (15,2 M) und 137°' Tiefe im Raum (3,93 M.), mit einer Ar-
wirung von 4 schweren Geschützen in seinen beiden Thürmen, und Maschinen
von 75 Centimetres Cylinderdurchmesser und 45 Centimetres Kolbenhub,
sodaß ihre Schnelligkeit durchaus nicht bedeutend sein kann. Der Schorn-
stein und die Maschine befindet sich selbstverständlich zwischen beiden Geschütz¬
thürmen, der halbkugelförmige Commandantenthurm aber auf dem vorderen,
viel dickeren Gefechtsthurm, und die vordere Spitze des Decks hat außerdem
eine von anderen Monitors etwas abweichende Form. Wir können für
kein Unglück halten, daß Frankreich uns diese beiden „Seeurgethüme vor
der Nase weggekaust" hat, obwohl es sich für dasselbe Geld im Inlande
weit furchtbarere Schiffe hätte bauen können. Und ebensowenig bedauern
wir es, daß Preußen vor einem Jahre den Kauf des „Miantonomoh" selbst
für nur Million Doktors ablehnte, den Kauf jenes amerikanischen Doppel¬
thüren-Monitors, den wir im Anfang vorigen Jahres in diesen Blättern
ausführlich besprochen haben.
Die einzige beabsichtigte Erwerbung für unsere Marine, von der wir
aufrichtig bedauern, daß sie uns durch die Umstände zur Unmöglichkeit ge¬
macht wurde, ist der Ankauf der beiden Kuppelfahrzeuge „El Tousson"
und „El Monassir" von der Werft der Gebrüder Laird in Birkenhead
am Mersey gegenüber Liverpool. Beide Schiffe waren während des ameri¬
kanischen Krieges für die Konföderation gebaut worden und im Juli 1863 ab¬
gelaufen, wurden aber, da die Ueberlieferung derselben aus einem neutralen
Staat in die Hände eines kriegführenden Staats gegen das Völkerrecht ver¬
stieß, genau so, wie es bei unserer „Augusta" und „Victoria" war, auf
Antrag des amerikanischen Gesandten von England mit Beschlag belegt. Da
der Schiffbauer diese Handlung für unberechtigt hielt und klagbar zu werden
drohte, so gerieth die Regierung in große Verlegenheit.
Einen Augenblick schien sich die Schwierigkeit in der glücklichsten Weise von
der Welt lösen zu wollen: infolge der patriotischen Vermittlung der Bremer
Firma H. H. Meier nämlich zeigte Laird sich geneigt, die Schiffe an Preußen zu
verkaufen. Aber leider ward diese Aussicht vernichtet: die englische Regierung
fürchtete in dem damals zwischen Dänemark und Preußen drohenden
Kriege die Marine des letzteren zu verstärken, und entschloß sich endlich,
selbst die beiden Fahrzeuge zu kaufen, die unter den Namen „Scorpion" und
„Wivern" der englischen Kriegsmarine einverleibt wurden und je 180 Mann
Besatzung erhielten. Beide Schiffe sind Schwesterschiffe, ganz von Eisen,
nach dem Kuppelprinzip und mit einem ziemlich stark vorspringenden Bug
zum Anrennen, vollständig gleich, gebaut und von Verhältnissen, die gerade
sür die preußische Küstenvertheidigung äußerst zweckmäßig gewesen wären.
Ihre Größe (1857 — 1833—1827 Tons nach den verschiedenen Messungs¬
methoden) ist etwas bedeutender als beim „Arminius", aber noch sehr härt¬
lich und bequem und gestattet ihnen, eine noch etwas stärkere Maschine (350
Pferdekraft nommat) zu führen, ein Vortheil der allerdings durch die viel
größere Breite wieder paralysirt wird. Das Verhältniß der Länge (224^2^
220') zur Breite (42' 4'/-"—42') ist der Schnelligkeit weniger günstig
als beim „Arminius", sodaß die Schiffe nur 10V- Knoten machen: desto
mehr aber begünstigt die größere Breite die Stabilität, und auch ihr Tief¬
gang, obwohl etwas größer als beim „Arminius" (14' 11" vorn, 16,4"
hinten — bei 19'/-' Tiefe im Raum) , paßt für die deutschen Küsten noch
vorzüglich. Die Panzerung von 4'^" Eisen, die von Steven zu Steven
reicht, ruht auf 9" Holz wie beim „Arminius", ist aber an den Enden der
Seefähigkeit halber auf 3" reducirt, während auf dem Deck wie beim
„Arminius" 2 niedrige Thürme stehn, mit zusammen 4 300 Pfändern, und
die Schanzkleidung sich niederklappen läßt. Indessen ist neuerdings ein Haupt¬
vorzug dieser Thürme verloren gegangen, da die Admiralität im Interesse
der Seefähigkeit sich veranlaßt gesehn hat, vorn und hinten auf dem Ober¬
deck eine kleine Back und Schanze anzubringen, die trotz ihrer abgeschrägten
Seiten natürlich doch noch das Feuern gerade nach vorn oder nach
hinten verhindern. Auf hoher See sind diese Schiffe ihrer Niedrigkeit wegen
nicht zu brauchen: zum Küstenvertheidigungsdienst aber möchten wir ihre
frühere, unserem „Arminius" ähnliche Einrichtung vorziehen Wenn auch ein¬
mal eine Welle über Deck bricht, die volle Schußfreiheit ist hier doch wich¬
tiger als die Sicherung gegen Überschwemmung des Decks in See. Von
beiden Schiffen waren übrigens Modelle auf der diesjährigen pariser Aus¬
stellung, vom „Scorpion" ein Halbmodell seitens der Admiralität und ein
Ganzmodell seitens Lairds, von der „Wivern" dagegen, die auch die Revue
vor dem Sultan mitmachte, ein aufgetakeltes Modell durch Laird aus¬
gestellt. Als Bemastung führt die „Wivern" eine Barktakelage mit Coles-
schen Tripods (die wir oben beschrieben) statt der Unterwanten, und Sten¬
gen, die sich hinter den Masten an Schncmmasten streichen lassen, eine
Takelage, die unstreitig zweckmäßig ist, aber doch noch verbessert werden
könnte, wie wir unten sehn werden. Die einzigen Fehler dieser Schiffe sind
ihre Untüchtigkeit und Langsamkeit bei sehr bewegter See, die sich bei der
Probefahrt der englischen Panzerflotte schlagend heraus gestellt hat, und so¬
dann die Schwächung des Panzers an den Enden. Mit diesen Fehlern
müssen wir uns darüber trösten, daß uns die Erwerbung zweier Widder¬
schiffe für den Küstenvertheidigungsdienst vereitelt worden ist. Wir haben
desto mehr Geld für Neubauten übrig, bei denen die angegebenen Fehler
vermieden werden können.
Wie wir oben bemerkten, halten wir das Breitseitensystem auch für
Hochseepanzerschiffe (svÄgoing stilys) keineswegs für so vollkommen, daß
man sich mit demselben begnügen könnte; und zugleich sind wir in der Lage,
hier ein System angeben zu können, das allen Anforderungen an Hochsee-
Panzerschiffe weit vollkommener als die bisher gebräuchlichen Systeme genügen
wird. Es ist das Ringtunnelsystem, das wir vor einiger Zeit in der
Seezeitung „Hansa" ausführlicher beschrieben haben, und dessen Grundzüge
wir hier kurz angeben wollen. Das Ringtunnelsystem ist im Wesentlichen
ein Pivotsystem mit hohem Bord, das freie Schußwirkung nach allen Seiten
mit Seefähigkeit und außerdem mit viel größerer Solidität der Construction
als bei den Kuppelschiffen vereinigt.
Der Bau des eigentlichen Schiffskörpers weicht im äußeren nur wenig
von den bisherigen Panzerfregatten ab. Vom Kiel bis zu einer Horizontal¬
linie SV./ unter Wasser ragen die beiden Enden des Schiffs etwa 20' weiter
vor, als in dem Theil in und über der Wasserlinie, um gehörige Schwimm-
und Hebekraft (buoz^on^) für Ueberwindung der Wellen zu gewinnen, da dieser
ungepanzerte Theil unter Wasser, welcher durch das Wasser selbst genügend
geschützt ist, keine Panzerung braucht. Aus demselben Grunde ist keine schwere
Bugbatterie angebracht, wie bei den Engländern, und ebenso ist der Bug
auch nicht mit einem massiven Sporn bewehrt, sondern in der Form wie
bei unserem „Kronprinz" hohl und nur so stark, wie bei gewöhnlichen sehr
stark gebauten Eisenschiffen, da diese Bugform zum Anrennen genügt und
außerdem der Nutzen des Anrennens, wie wir bei der Beschreibung der
Fregatte „Kronprinz" zeigten, ein problematischer ist. Während der ganze Theil
des Schiffs unter Wasser das neue englische Zellensystem und , Querschotten
bekommen muß, sind das Ruder und die Zwillingsschrauben zu beiden
Seiten des verbesserten Balance-Steuers wie dieses durch einen unter
Wasser horizontal hervorragenden starken Eisenschirm oder Kragen nach oben
gedeckt, der auch die heftigen Bewegungen des Hinterschiffs sehr mildern
wird. Ebenso schießt die Bug- und die Heckform (letztere scharfkantig wie bei
der „Gloire") oben etwas aus, um zu verhindern, daß Seen über das Deck
brechen oder daß das Schiff zu sehr „einHaut".
In der Wasserlinie, von 3'// unter Wasser bis zu dem etwa 4V/ über
Wasser gelegenen bombenfesten Batteriedeck umgibt das Schiff ein Panzer
gürtet von größtmöglicher Stärke, d. h. noch bedeutenderer Stärke als die
gesammte Schiffspanzerung im Durchschnitt ergeben würde, indem die Batte¬
riedeckung und ebenso die Dicke der Eisensand hinter dem Panzer auf Kosten
des Panzergürtels etwas reducirt ist. Denn die Deckung dieses Theils, also
die Sicherung des Schiffs vor dem Leckwerden und die Sicherung der Ma¬
schine ist das Allerwichtigste, eine Lebensfrage für das ganze Schiff, wäh¬
rend die Sicherung der Geschütze blos partielles Interesse hat. Aus dem¬
selben Grunde ist der Gürtelpanzer an allen Stellen gleich stark, nicht an
den Enden schwächer, wie bei vielen englischen Schiffen. Vom Batterie¬
deck aus steigt nun ringsum eine leichte Eisenwand, wie bei gewöhnlichen
Passagieroamvfern, mit Fenstern für die Lüftung empor bis zum Oberdeck
die innere Verkleidung dieser Wand aber besteht nirgend aus Holz, sondern
nur aus Filz, sodaß die Wand auch von Spreng- und Brandgeschossen ohne
jede Gefahr sür das Schiff durchschossen werden kann. Aus demselben Grunde
sind die immobilem Ausstattungsstücke im Inneren sämmtlich von Eisen, wie
denn der ganze Schiffskörper der größeren Leichtigkeit und namentlich der Un-
verbrennbarkeit wegen von Eisen sein muß. Das Beispiel des verbrannten
Panzerkanonenboots „Palestro" bei Lissa lehrt, daß absolut nichts brennbar
sein darf, selbst nicht die Fütterung hinter dem Panzer, in welche doch ein¬
mal ein Schuß treffen mag- kann man sie nicht aus Holz herstellen, welches
durch chemisches Präpariren unverbrennbar gemacht ist, so müssen andere
nachgiebige Stoffe, Filz, Leder oder dergl. genommen werden. Bloße Löcher
von crepirten Granaten sind dagegen in diesem Theil nicht bedenklich, da
hier kein Wasser eindringen, oder doch des Batteriedecks wegen nichts scha¬
den kann.
Innerhalb des großen Raums zwischen Batteriedeck und Oberdeck, wel¬
chen die dünne eiserne Schiffswand umschließt, steigt nun aus der Mitte
des Batteriedecks der Panzertunnel empor, ein auf allen vier Seiten
von senkrechten starken Panzerwänden umschlossener Raum, welcher etwa
das mittlere Drittel der Schiffslänge einnimmt, und auch nur so breit ist,
wie der Durchmesser der Geschützdrehscheiben, sodaß nicht blos vor und hinter
ihm, sondern auch auf beiden Flanken ein leerer ungeschützter Raum bleibt,
die Gewichtsvertheilung aber sich in günstigster Weise für die Stabilität des
Schiffs gestaltet. Der ungeschützte Raum ist, abgesehen vom Gefecht, für
den Aufenthalt der Besatzung bestimmt, und kann alle Bequemlichkeiten ge¬
wöhnlicher Passagierdampfer erhalten, da nirgend Rücksicht auf Panzerung
genommen zu werden braucht; für Reisen in tropische Gegenden mag seine
Wand zur Abwehr der Hitze weiß gestrichen oder für die Zeiten, wo kein
Gefecht in Aussicht steht, mit weißem Segeltuch umspannt werden. Während
des Gefechts dagegen, wo die äußere Wand schwarz bleibt, um weniger deut¬
liche Ziele zu bieten, ziehn sich die Mannschaften in den Tunnel zurück und
bergen auch alle Utensilien unter dem bombenfesten Oberdeck- Der Tunnel
aber in der Mitte umschließt und sichert in vollständigster Weise die Basis
der Geschützdrehscheiben mit dem hydraulischen Apparat, die Masten und die
Schornsteine, soweit dieselben unter dem Oberdeck liegen. Auch über das
Oberdeck, dessen Neilings sich niederklappen lassen, steigt der Tunnel noch
etwa 4—5' empor und ersetzt hier in einer, wie wir gleich zeigen werden,
sehr zweckmäßigen Weise eine Reihe von 4—6 Geschützthürmen.
Schon früher, bei unseren Vorschlägen für die neuen Glattoeckcor-
vetten. denen wir 6 — 10 Pivotgeschütze hintereinander auf dem Oberdeck
geben wollten, haben wir hervorgehoben, daß die Anzahl der Geschütze nicht
ohne Nachtheil unter das angegebene Maß herabgehen darf. Allerdings ist
es ein Gedanke von achtungswerther Konsequenz, daß bei der Nothwendig¬
keit möglichst schweren Calibers das Schiff eigentlich nur eine schwimmende
Lafette (ÜOiitinA Ap.n-earriagv) für ein einziges möglichst schweres Geschütz
sein müsse, und dieser Gedanke des englischen Unterstaatssecretairs Stansfield
fand denn auch im englischen Unterhause gelegentlich der Flottendebatten vor
einigen Jahren die beifälligste Würdigung. Aber wie jedes Prinzip, aus
die Spitze getrieben, für die Praxis unhaltbar wird, so ist es auch mit
dieser an sich sehr geistreichen und sehr bestechenden Ansicht. Wir, haben
bereits oben gezeigt, daß ein Schiff von der Größe, wie sie durch die
nothwendigen Anforderungen an Schnelligkeit und Stabilität geboten iI,
ebensogut wie ein einziges Geschütz des größten für Schiffe anwendbaren
Calibers deren mehrere führen kann, da hier nicht sowohl die allgemeine
Tragfähigkeit des Schiffs, als vielmehr die locale Widerstandskraft in Be¬
tracht kommt. Ferner würde das Schiff mit nur einem Geschütz sofort ganz
werthlos werden, sobald das letztere beschädigt ist, und außerdem leiden die
größten Caliber an dem bedenklichen Fehler, daß sie nur in sehr großen
Pausen zu feuern vermögen, der Armstrong 600 Pfänder z, B. nur dreimal
in einer Stunde, weshalb das Schiff mit nur einem Geschütz überhaupt viel
zu selten feuern könnte. Wir werden also für unsere Hochseeschiffe am besten
die Zahl von 8—12 Pivotgeschützen anzunehmen haben, indem wir den an
sich richtigen Grundsatz, statt vieler leichter Geschütze wenige schwere Geschütze
anzuwenden, nicht übertreiben.
Zur Deckung dieser Geschütze auf dem Oberdeck wirkliche drehbare Thürme
anzubringen, würde aber nach dem, was wir früher bei Besprechung des „Ar-
minius" über dieselben bemerkten, nicht gerade praktisch sein. Denn es würde
dabei der schwerwiegende Fehler der Thürme zur Geltung kommen, daß die¬
selben zu viel von der drehbaren Maschinerie den Schüssen des Feindes aus¬
setzen und durch den heftigen Rückprall der letzteren, sowie durch den Rück¬
prall ihres eigenen schweren Geschützes, mit der Zeit in ihren Drehungsachsen
verbogen oder in den Führungen festgeklemmt werden. Ein zweiter, nicht
weniger bedeutender Fehler der Thürme ist es, daß sie entweder für Schüsse
mit hoher Elevation eine sehr hoch über dem Fußboden liegende Decke und
sehr hohe Geschützpforten haben, also viel Fläche exponiren müssen, oder
aber, daß sie, wie der „Arminius", gänzlich darauf verzichten müssen, mit
großer Elevation oder Depression zu feuern, daß sie also dann weder weit
entfernte Schiffe, noch auch hochgelegene Küstenbatterien*) beschießen können,
noch auch, falls das eigene Oberdeck hoch genug liegt, um das Schiff see¬
tüchtig zu machen, nahe herankommende feindliche niedrige Fahrzeuge wirk¬
sam abzuhalten vermögen. Die gewöhnlichen Kuppel- oder Thurmschiffe ver¬
mögen eben nur ziemlich horizontal zu feuern, da die Thurmdecke eine be¬
deutende Höherlegung des Stoßes der Kanone nicht erlaubt. Es läßt sich
aber diese Erhöhung des Thurmes und eine Einrichtung, welche das Feuer
Mit größter Elevation ermöglicht, ohne jeden Nachtheil einführen, wenn die
Basis und die Decke des Thurms fest und nicht drehbar sind.
Denken wir uns in dieser Weise einmal jeden Thurm aus drei auf ein¬
ander gesetzten Ringen zusammengesetzt wie einen Bienenkorb, und zwar derart,
daß der obere*) und der untere Ring völlig fest sind-, der mittlere dagegen
drehbar ist. Dieser mittlere Ring hat nur die Breite einer ganz engen Ge¬
schützpforte, durch welche die Geschützmündung gerade hindurch gesteckt werden
kann, greift aber außerdem mit seinen Rändern über die anderen Ringe be¬
deutend über. Wird nun die Mündung des Thurmgeschützes durch eine
Geschützpforte im Mittelring gesteckt, und der Mittelring durch Eisenbügel
fest mit der Geschützdrehscheibe verbunden, welche innerhalb des festen Unter¬
rings auf Rollen rotirt, so kann das Geschütz nach jeder beliebigen Richtung
gestellt werden, und ist dabei doch immer nach allen andern Seiten als an
der Mündung durch den Mittelring genügend geschützt, während der Thurm
außer dem Mittelring fest und nicht drehbar ist. Doch ist hierbei noch ein
-Umstand zu beachten, der uns auch zur Befestigung des Oberrings führt.
Natürlich können die mittleren der sechs Thürme in einem um so spitze¬
ren Winkel mit dem Kiel, um so schärfer nach vorn und nach hinten feuern,
je weiter sie von einander entfernt stehn. Geben wir nun den Thürmen
eine solche Distanz, daß die Thürme auf jeder Flanke ein Schußfeld von 90
Grad ihrer Peripherie haben, fo werden blos die beiden Flankenviertel der
Peripherie zu feuern im Stande sein, das vordere und das Hintere Viertel
aber werden maskirt und nutzlos sein. Diese beiden letzteren, nicht feuer¬
fähigen Viertel der Thurmwand wollen wir deshalb gänzlich entfernen und
statt dessen sollen alle feuerfähigen Viertel einer Seite des Schiffs durch
längsschiffs laufende Panzerwände (von der Höhe der Thürme) verbunden
werden, sodaß die letzteren eine gedeckte Verbindung zwischen allen Geschütz¬
drehscheiben ermöglichen und auch die Basis der Masten und der Schornsteine
völlig decken, daß dagegen die feuerfähigen Viertel selbst wie Caponnieren
einer Festung seitwärts herausragen. Zugleich werden diese Wände den
oberen Ring oder vielmehr seine Ueberbleibsel bei jedem Thurm von vorn
und hinten her genügend stutzen, und in dem ganzen Tunnel über dem Ober¬
deck ist dann weiter nichts beweglich, als der einzige ganz bleibende Mittel¬
ring auf jeder Drehscheibe mit seinen beiden Geschützmündungen. Es ist also
die Feuerfähigkeit der Drehscheibe vollständig wie beim Thurm ausgenutzt,
trotzdem aber die Solidität des Ganzen viel größer als beim Thurm- oder
Kuppelsystem. — Sollten übrigens die nach den Flanken überragenden Theile
des Oberrings, (die man ja beliebig stark machen kann), trotzdem noch der
Stützung bedürfen, so kann man hier außerhalb des Rings eine oder zwei
massive, sehr starke Eisenstützen anbringen, und unter die Rahmlafetten noch
einen zweiten Rahmen mit Querschienen unterlegen, welcher jedem Geschütz
soviel Seitenabweichung zu nehmen gestattet, als die Dicke der Stütze be¬
trägt. Die Drehscheibe liegt so niedrig im Tunnel (und die Lafette ist so
hoch), daß man unter der Mündung des Geschützes hindurch gehn kann.
Uebrigens halten wir es, wenn wir auch bisher immer wie beim Thurm¬
system zwei Geschütze auf jeder Drehscheibe angenommen haben, dennoch für
besser, jeder Drehscheibe nur ein Geschütz zu geben, diese aber so klein zu
machen als irgend möglich, Das Geschütz muß mit seinem Schwerpunkt ge¬
nau über dem Mittelpunkt der Drehscheibe ruhen, wodurch die Solidität
des Ganzen sehr gewinnt: keineswegs aber darf es nach der Geschützpforte
zu excentrisch stehn, wie es mit Rücksicht auf den Rücklauf bei manchen Thurm«
schiffen der Fall ist. Vielmehr muß der Abstand von der Geschützpforte bi.s
zum Schwerpunkt genau ebenso groß sein als der übrige Theil der Kanone
mit dem Hinteren Nahmentheil zusammen, und die Steigung des letzteren
muß so groß sein, daß der Rücklauf in einer gleich großen Distanz wie
zwischen Mündung und Schwerpunkt von selbst aufhört, wodurch außerdem
die Pereussionskrafr des Geschosses erhöht wird, wahrend sür das Einbringen
des Geschosses beim Hinterlader mittelst einer Gier schon ein paar Fuß ge¬
nügen, viel weniger als bei den Vorderladern der amerikanischen Mo¬
nitors. Steht dann nur ein Geschütz auf der Drehscheibe, so genügt
der Raum an den Seiten für die Mannschaft (die Wände müssen dann
mit Blech gegen Abfliegen der Panzerbolzen und dann noch innen mit
Filz bekleide: sein, um das Dröhnen beim Anschlag feindlicher Geschosse
zu mildern); der Durchmesser der Drehscheibe aber reducirt sich auf 16—17',
das Panzergewicht erhält so eine weit bessere Lage, die das Arbeiten des
Schiffs sehr vermindert, und außerdem wird kein Geschütz durch die Bedienung
des andern behelligt. Mittelring und Drehscheibe (Lafette) werden, wie be¬
merkt, im Gefecht durch Eisenbügel fest verbunden, und bilden dann ein ge¬
nügendes Gesammtgewicht, um durch ihr Trägheitsmoment den Anprall feind¬
licher Schüsse ebenso auf ein unschädliches Minimum zu reduciren, wie es die
Thürme des „Royal Sovereign" bei den Versuchen des „Bellerophon" ge¬
zeigt haben. Gedreht werden sie durch hydraulischen Druck und Menschen¬
kraft, nicht durch eine Dampfmaschine, deren Beschädigung alles lahm legen
würde.
Ein anderer, nicht minder wichtiger Vortheil des Ringtunnelsystems be¬
ruht aber darin, daß man bei der Festigkeit des oberen Theils der Construction
die Geschützdrehscheiben mit den Geschützen versenkbar machen kann. Man
kann dann den Geschützen die größte Elevation geben und zwar ohne Ver¬
größerung der Pforten, die immer kreisrund bleiben, und ferner kann man
mittelst eines hydraulischen Hebewerks die Geschütze so weit versenken, daß
sie während der Reisen in den Schwerpunkt des ganzen Schiffskörpers zu lie¬
gen kommen, oder noch etwas tiefer als Gegengewicht für die hohe Takelage.
Die Takelage nämlich, die wir (für gutes Wetter) möglichst hoch haben
wollen und deren besondere Einrichtung näher zu beschreiben uns hier der
Naum nicht gestattet, läßt sich nach diesem System so zusammenschieben, daß
sie gänzlich im Tunnel geborgen wird: jeder Mast hat drei Stengen (Ver¬
engerungen, wie bei der jetzigen Einrichtung), und jeder dieser Theile besteht
wieder aus teleskopisch ineinander zu schiebenden ganz hohlen Eisenröhren.
Die Raaen, welche beim Streichen an die oberen Enden ihrer Stengen zu
sitzen kommen, werden dann längsschiffs gebraßt und auf der Tunneldecke
Mit gevierten Nacken nebeneinander niedergelegt, wo sie durch massive starke
Eisenbarren auf den Flanken gegen Schüsse geschützt sind, also nie über Bord
sollen und die Schraube unklar machen können. Die Schornsteine sind eben¬
falls teleskopisch, zum Einschieben eingerichtet, und der für die Maschine noth¬
wendige Zug wird, wenn sie eingeschoben sind, durch Ventilationen hervor¬
gebracht, sodaß sich nie im Gefecht, wie bei Jasmund auf der Nymphe, der
Zug durch Verletzung des Schornsteins vermindern kann.
Uebrigens wird das Hießen und Streichen der Takelage, sowie das
Senken und Heben der Geschütze vor einer Reise resp, einem Gefecht durch eine
besondere Hilfsdampfmaschine bewirkt, und zwar durch diejenige Maschine, welche
hydraulische Reactionssteuerung nach Art der von uns beim „König Wil¬
helm" vorgeschlagenen Einrichtung bewirkt und auch zum Ankerlichten. Boot¬
schießen u. s. w. verwandt wird. Wenn das Schiff in See ist. führt es die
Takelage (co. mit gestrichenen Bramstengen). hat aber die Kanonen versenkt;
sobald es zum Gefecht klar macht, hat es die Takelage gestrichen und die
Kanonen gehoben. — Der Schwerpunkt liegt in beiden Fällen gleich, und
außerdem ist in letzterem Falle die Takelage vor jeder Beschädigung sicher.
Auch kann man überhaupt viel vom Taugut an der Tunneldecke fest machen,
was bei drehbaren Thürmen unmöglich ist — doch würde das hinsichtlich der
Warten nicht zu empfehlen sein, weil dieselben dann zu wenig Spreiz be-
kämen). Das Hießen und Streichen der ganzen Takelage ist übrigens öfters
auch blos durch die Mannschaft auszuführen, damit die letztere darin Routine
und Schnelligkeit gewinnt.
Als Einzeleinrichtungen, welche sich an Panzerschiffen der beschriebe¬
nen Art anzubringen empfehlen, hätten wir noch folgende vorzuschlagen-
Das Oberdeck ist nicht mit Holzplanken der gewöhnlichen Art zu belegen,
sondern mit einem eisernen Gitterwerk, dessen große Maschen mit Holzplatten
ausgefüllt sind, und das somit eine Weiterverbreitung des Feuers verhindert,
falls durch eine Granate eine Holzplatte in Brand geräth. (Der Unver-
brennbarkeit halber ist ja nicht weniger wie der Leichtigkeit wegen sonst das
ganze Schiff aus Eisen construirt.) Back und Schanze fallen natürlich weg,
um das Feuer sämmtlicher Tunnelgeschütze nach vorn oder hinten nicht zu
behindern — auch ist das Oberdeck schon höher über See als bei andern
Panzerschiffen Back und Schanze sind. (Noch ein Deck über dem Tunnel
nach Art der Decke anzubringen, wie sie Admiral Halsted auf seinen Modellen
in der diesjährigen pariser Ausstellung angebracht hatte, scheint uns unzweck¬
mäßig, da Sturzseen solch ein leichtes Deck zu leicht wegnehmen, und Schüsse
im Gefecht mit den Trümmern dieses Decks zu leicht die Kanonenmündungen
des Tunnels unklar machen würden. Die Boote stehn auf dem Tunnel,
hinter den Barren, und die Davids sind queerschiffs beweglich und so einge-
richtet, daß sie mit einer Bewegung das Boot von der Tunneldecke über das
Wasser bringen.) Dagegen mag rechtwinklig zum Kiel auf jeder Seite jeder
Geschützdrehscheibe eine tiefe Rinne im Oberdeck lausen und durch eine Aus¬
kerbung im obern Theil der Schiffswand hindurchführen, um ein recht tiefes
Zielen des Geschützes auf dieser Seite zu ermöglichen, für den Fall, daß bei
ruhigem Wasser dem hochbordigen Ringschiff sich ein niedriges Fahrzeug
nähert, das man in nächster Nähe mit großer Depression der Geschütze in
den Grund bohren will (auf Reisen werden Rinne und Ausschnitt zugedeckt)-
Wenn wir ferner oben die Forderung aussprachen, daß das Schiff nicht
steuerlastig zu bauen, sondern auf ebenen Kiel zu berechnen sei, so wollen
wir damit von einer geringen Steuerlastigkeit (etwa 1 Fuß) nicht abrcithen,
wenn sie beim Passiren von Untiefen durch Einnehmen von Wasserballast
im Vorschiff schnell rectificirt werden kann; sie wird sonst auf Reisen die
Schnelligkeit fördern und beim Segeln dem Segeldruck auf das Vorschiff ein
Gegengewicht bieten. Ueberhaupt ist das Schiff auf Einnehmen von Waffe^
ballast einzurichten, damit es bei ruhiger See sich etwas senke und die Ziel-
fläche für den Gegner verkleinern kann; doch darf dies nur um ein P«^
Fuß geschehen, weil sonst die obere Grenze des Panzergürtels zu nahe an
die Wasserlinie kommt, selbst im Bug, wo dieselbe etwas höher reichen mag
als sonst, wegen des Auslaufens der Bugwellen. Um endlich für das Se-
gelu größere Steifheit und Ruhe zu erzielen, bringe man wenigstens vorn
und hinten Schiebekiele (südirig- Keels, eentreboaräZ) an, im hintern Theil
(Mischen den beiden Schraubenaxen) durchbrochen nach Art des Grell'schen
Schleußenkiels, was die Beweglichkeit vermehrt, ebenso wie das Tucker'sche
Balanceruder. (Im Grell'schen Schleußenkiel müssen natürlich die Oeffnungen
Mit herabzuschraubenden Platten ausgefüllt werden können.) Im Interesse
der Beweglichkeit des Schiffs wird man überhaupt nicht über die Größe von
etwa 3600—4000 Tons (ungefähr die Größe unsers „Kronprinz") hinaus¬
gehn dürfen, wobei es dann im Tunnel auf 8 Drehscheiben 8 gezogene
400Pfünder (effectiv) mit Keilverschluß führen kann, und außerdem auf dem
Oberdeck nach vorn und hinten je 2 gezogene 12 Pfänder (nommat) als
Pivot für die Reisen erhalten mag.
Es hat nun, um dies noch einmal kurz zusammenzufassen, das Ring-
tunnelprinzip folgende Vortheile. Abgesehen von der verschwindend kleinen
Fläche der exponirten Mittelringsviertel (die außerdem auch nicht einmal
eine verbiegbare Are und ferner nach innen stärkern Widerhalt haben, als
irgend ein Thurmsystem), besitzt das ganze Schiff dieselbe Solidität und
Festigkeit der Construction gegenüber anprallenden feindlichen Schüssen,
wie die Breitseitenpanzerfregatte. und es übertrifft in dieser Beziehung weit
die Kuppel- und Thurmschiffe, die sehr viel drehbare Fläche exponiren und
stets Gefahr laufen, entweder ihre Führung festgeklemmt oder ihre Aren
verbogen zu sehen. (Das französische Marineministerium hält diese Gefahr
sür so bedenklich, daß es gar keine Drehthürme anwendet und in seinen
kr^Alss a toureUö den obern Theil der Pivotgeschütze lieber unter freiem
Himmel erponirt, und auch die englische Admiralität hat bisher aus demselben
Grund immer am Bau von Panzerfregatten festgehalten und den Bau
von Thurmschiffen für die Hochseeflotte zurückgewiesen.) Auch die Gewichts¬
vertheilung ist beim Ningschiff noch günstiger als beim Thurmschiff, da
der größte Theil des Panzers fest liegt und sich nicht losschlingern kann, und
da ferner die Drehscheiben mit einem Geschütz kleiner und näher der Mittel¬
linie sind, als beim Thurmschiff oder gar der Breitseitenfregatte mit ihren von
der Mittellinie möglichst entfernten Panzerwänden, welche zu einem solchen Schlin¬
gern und solchen Unglücksfällen führen, wie bei unserm „Friedrich Carl". Na-
türlich ist dadurch auch eine höhere Takelage zu führen möglich, namentlich wenn
die Geschütze versenkt sind: auf Reisen wird diese, im Gefecht bei gestrichener
Takelage dagegen die hohe Geschützlage das Schiff vor heftigem Arbeiten be¬
wahren. Auch sonst ist das Ringtunnelsystem durch die Höhe seines Decks
über Wasser, also seine Seefähigkeit allen Thurm- und Kuppelschiffen und
ebenso allen Kasemattenschiffen weit überlegen, wie auch durch die Höhe seiner
Geschütze, welche 11—14 Fuß über Wasser liegen, wobei sich dieselben noch
*
dazu viel weniger für den Feind als Zielscheiben markiren, wie bei einzelnen
Thürmen.
Während so das Ringschiff in Solidität, guter Gewichtsvertheilung und
Seefähigkeit jedes Thurmschiff*) übertrifft, ist es hinsichtlich der Verwendbar¬
keit seiner Kanonen jedem Breitseiten-Panzerschiff überlegen, das ihm außer¬
dem zwar in Solidität und Seefähigkeit gleichkommt, aber dennoch eine un¬
günstigere Gewichtsvertheilung**) zeigt und weniger Takelage führen kann.
Namentlich die Fähigkeit, nach allen Himmelsgegenden zu feuern, erhebt das
Ringschiff weit über alle Breitseiten-Panzerfregatten und alle Panzerschiffe
mit Kasematten oder 8yug,rö-dattöriöL. Soweit nicht eben ein Geschüh
vor dem andern steht, beherrscht jedes Geschütz den ganzen Horizont, alle
Geschütze können zugleich nach derselben Flanke hin verwandt werden; ja,
alle Geschütze können (und zwar weit besser, als die Hälfte der Geschütze einer
Fregatte mit inäovts es vermag) nach vorn gerichtet werden, wenn das
Schiff sich schräg mit dem Bug gegen den Feind legt, wobei es noch dazu
die Zielfläche auf ein Drittel der Länge verkleinert und den Panzer dieses
übrig gebliebenen Drittels durch die schräge Lage bedeutend stärkt. — Die
Beschwerung des Bugs mit einer massiven Bugbatterie, wie bei den neueren
englischen Schiffen, ist dabei natürlich völlig unnöthig gemacht und durch den
Tunnel viel wirksamer ersetzt. Ja, das Ringschiff hat noch einen Vorzug,
den kein anderes System hat. Wenn nämlich ein Geschütz beschädigt ist, so
kann es mitten im Gefecht in vollster Sicherheit ausgebessert werden; denn
man braucht dann blos den Ring mit der Pforte in den Tunnel hineinzu-
drehen, um die letzteren allen feindlichen Schüssen zu entziehen Es dürfte
also kein unberechtigtes Verlangen sein, wenn wir alle neuen Panzerschisse
der norddeutschen Marine nach dem Ringtunnelshstem erbaut zu sehen wünschen.
Graf Bismarck hatte unserer'Ansicht nach Recht, wenn er in seiner Rede
vom 27. März v. I. auseinandersetzte, daß die Ministerverantwortlichkeit in
der Verfassung des norddeutschen Bundes keinen Platz finde, weil in diesem
eigenthümlichen Bau der ganze konstitutionelle Apparat fehle, welcher einer
Ministerverantwortlichkeit als Grundlage dienen müsse. Wenn aber hierüber
hinausgehend nicht blos Herr Wagner, sondern einige früher als liberal be¬
kannte Redner behaupteten, die Ministerverantwortlichkeit sei überhaupt etwas
Werthloses und praktisch überwundenes, so müssen wir uns wundern über
diese Fähigkeit des „Sich-Andenkens" und möchten fragen, was Dahlmann
zu seinen alten Freunden sagen würde? Glücklicherweise sind derartige Aeu¬
ßerungen nur Monologe, und wir können uns an das Wort des Minister-
Präsidenten halten, daß die Verantwortlichkeit der preußischen Minister genau
dieselbe bleibe wie vorher, also wie die Verfassung sie festsetzt, und wir er¬
lauben uns auch zu prophezeien, daß dieselbe nicht abgeschafft, sondern aus¬
gebildet werden wird, indem dem staatsrechtlich aufgestellten Princip das
Mittel zur Seite gestellt werden muß, es praktisch zu sichern.
In der That, es scheint uns als eine der ersten Grundwahrheiten im
Verfassungsstaat, daß die UnVerantwortlichkeit des Staatsoberhauptes nur
dann eine Realität ist, wenn sie gedeckt wird durch die Verantwortlichkeit
der höchsten Staatsbeamten, der Minister. Kein Regierungsact des Fürsten
darf sich ohne ihre Unterschrift vollziehen. Allerdings liegt es in der Narur
des Repräsentativsystems, die Initiative der Krone in engere Grenzen einzu¬
schließen, aber innerhalb derselben besitzt der bedeutende, seiner Aufgabe ge¬
wachsene Fürst eine Fülle von Gewicht. Einfluß, Bestimmungsfähigkeit. Als
Moderator über den Parteien stehend, übt er eine Macht, welche den Augen
der Menge nicht immer erkennbar sein mag, aber darum nicht weniger wir¬
kungsreich ist, sodaß man wohl sagen darf, seine Aufgabe sei schwerer, aber,
keineswegs unbedeutender, als die eines verfassungsmäßig nicht beschränkten
Souveräns.
Die englische Verfassung hat Wilhelm III. nicht gehindert, ein Held und
Staatsmann ersten Ranges zu sein, und König Leopold ist trotz der belgischen
Verfassung der roi Komme ä'6es.t unserer Zeit geworden.*)
Das Wort: „der König kann kein Unrecht thun" ist nicht blos eine
konstitutionelle Fiction, sondern hat eine gewichtige Bedeutung auch in deiw
Sinne, daß die Schranken der repräsentativen Verfassung dem Souverän un¬
gesetzliche und nachtheilige Eingriffe, wo nicht unmöglich, doch sehr schwer
machen, während sie ihm vollen Spielraum zu günstigem und wohlthätigem
Einfluß gewähren.
Wenn der versteckte Absolutismus ein sogenanntes „persönliches Regiment"
fördert, so ist dies nicht blos ein hohler Sophismus, sondern eine offenbare
Unehrlichkeit, weil der Hintergedanke dabei stets ist, daß der Fürst nach den
Interessen einer Partei regiere, welche das Licht der Oeffentlichkeit und das
Gewicht der Verantwortlichkeit scheut. Es liegt in der Natur der Dinge,
daß der Kampf der streitenden Interessen um den Mittelpunkt der politischen
Gewalt am heftigsten entbrennt, dieser Kampf läßt sich nicht verbannen oder
ignoriren, sondern im Interesse des Staates nur regeln, und dies thut das
repräsentative System durch Verantwortlichkeit der Minister und Controle
der Volksvertretung. Diese Verantwortlichkeit der höchsten Behörde kann
dann auch allein die Frage lösen, inwiefern allen andern Beamten der Ver¬
waltung blos der verfassungsmäßige Gehorsam obliege. Der Staat müßte
offenbar in Verwirrung gerathen, wenn sich jeder Beamter der Ausführung
von Befehlen seiner Vorgesetzten dadurch entziehen könnte, daß er dieselben
für gesetzwidrig erklärt. Ist die Ausführung wider sein Gewissen, so mag er
den Gehorsam weigern, aber sich auch nicht beklagen, wenn er sofort abgesetzt
wird. Die Verwaltungsbehörden haben nicht wie die Gerichte zu erkennen,
was im einzelnen Falle Rechtens ist, sondern sollen durch ihre Thätigkeit das
an oberster Stelle gewollte Regierungssystem an allen Punkten zur Ausfüh¬
rung bringen. Hierzu ist einheitlicher Befehl und strenger Gehorsam noth¬
wendig, folglich muß sich jeder Beamter mit der Anordnung seiner vor¬
gesetzten Behörde selbst für die Ausführung eines ungesetzlichen Gebotes ent¬
schuldigen können und dieser Regreß geht fort von der untersten Stufe der
Hierarchie bis zur obersten, welche als leitende auch die Verantwortlichkeit
trägt. Ebenso gibt die Verantwortlichkeit allein eine Bürgschaft für die
Regelung des Verhältnisses von Gesetz und Verordnung, welches später ein¬
gehender zu betrachten ist.
Demgemäß muß sich im Ministerium aber auch wirklich die oberste Lei¬
tung der Staatsgeschäfte vollständig concentriren und dürfen dem Souverän
nicht neben den Ministern noch andere unverantwortliche Berather, welche
sich ihrer Controle entziehen, zur Seite stehen*). Das Ministerium muß
ferner eine in sich festgeschlossene Einheit bilden, es beräth, um die Har¬
monie in allen Zweigen der Verwaltung zu erhalten, gemeinsam über alle
Gegenstände von allgemeiner politischer Bedeutung unter Vorsitz seines Pra-
fidenten, in dem sich die politischen Grundsätze, welche es vertritt, gleichsam
verkörpern*). Ludwig XIV. mochte nach Mazarins Tode erklären, er werde
fortan sein eigener Premierminister sein, der repräsentative Staat kann sich
nicht mit Fachministern begnügen, denn der Regent wird in den meisten
Fällen auf den Vortrag eines solchen, welcher der Natur der Sache nach
nur vom Standpunkte seines Ressorts ausgeht, nicht im Stande sein, die
andern vielleicht gleichberechtigten Gegengründe zu übersehen. Wirksame
Leitung eines Ministerpräsidenten verbürgt daher allein den innern Zusam¬
menhang der Regierungsmaßregeln und die Ausgleichung der unvermeidlichen
Meinungsverschiedenheiten der einzelnen Minister. Dabei kann die Frage
offen bleiben, ob der Ministerpräsident sich wie in England auf diese oberste
Leitung beschränkt, oder selbst ein Portefeuille verwaltet. — Die Verant¬
wortlichkeit der Minister ist eine doppelte und zwar in zweifachen Sinne,
sie ist nach oben wie nach unten, gegen den Souverän, wie gegen die Volks¬
vertretung, eine politische und eine strafrechtliche. Der König kann die Mi¬
nister jederzeit entlassen, wenn er mit ihrer Amtsführung nicht einverstanden
ist und er ist ebenso berechtigt, sie vor das competente Gericht zu stellen,
falls sie in seinen Augen die rechtlichen Obliegenheiten ihres Amtes positiv
verletzt haben. Die politische Verantwortlichkeit der Minister gegen die Lan¬
desvertretung läßt sich nicht wohl in eine bestimmte gesetzliche Form bringen,
denn man kann offenbar nicht als Rechtssatz aufstellen, daß das Ministerium
abtreten müsse, sobald es sich in einem der Häuser der Volksvertretung in
Minorität befinde, und am wenigsten ist dies gesetzliche Norm in dem Staate,
wo die politische Ministerverantwortlichkeit am meisten ausgebildet ist, in
England. Indessen besteht diese Verantwortlichkeit in jedem Lande, in wel¬
chem der Constitutionalismus mehr als Schein ist, schon darum nicht minder,
weil es auf die Länge keinem Ministerium möglich sein wird, gegen die aus¬
gesprochene Majorität der Landesvertretung sich zu behaupten, ohne in Con¬
flict mit den positiven Gesetzen zu kommen; man darf deshalb die politische
Verantwortlichkeit da als gesichert ansehen, wo die strafrechtliche besteht, und
es ist völlig unzutreffend, wenn in der Discussion des Reichstags vom
27. März dieser Satz von den Gegnern der Ministerverantwortlichkeit um¬
gekehrt und behauptet wird, alles komme auf die öffentliche Meinung an,
Bluntschli irrt, wenn er sagt. (Staatsrecht II. 1ö6) „der praktische Sinn der Eng-
länder zieht es vor, das Präsidium mehr aus formellen Motiven mit einer Person zu be>
sehen, die sich eher durch ihre sociale Stellung, äußern Rang und Autorität auszeichnet,
während andere Nationen häufig d.n wirklichen Chef der Negierungspolitik mit dieser Stellung
betrauen."
Im Gegentheil ist der irrst tora ok tlriz tre-rsnr^ stets der Chef der Regierungspolitik
und oft keineswegs social hervorragend, wie Wnlpole, Pitt, Peel, Palmerston beweisen, unter
denen Herzoge als Fachminister dienten.
ein starkes Parlament habe auch andre Mittel gegen pflichtvergessne Minister;
wodurch aber wird ein Parlament stark, wenn nicht durch verfassungsmäßige
Rechte? wo hat eine wirklich einflußreiche Volksvertretung existirt, welche
nicht das Recht gehabt hätte, die Minister zur Verantwortung zu ziehen?
Allerdings hat während der letzten 30 Jahre keine Ministeranklage in
England stattgefunden und Sir Robert Peel sagte: „tus ela^s ot' impeaeoe-
intmt g,r<z Zone" — aber niemand denkt deshalb daran, die strafrechtliche
Verantwortlichkeit der Minister abzuschaffen. Die Waffe ruht nur, weil
ihr Gebrauch unnöthig geworden, weil der Regel nach jedes Mini¬
sterium schon nach einer entscheidenden parlamentarischen Niederlage zurück¬
tritt, sie existirt darum aber doch, und würde sich eventuell sehr fühlbar gegen
den Uebertreter geltend machen. Mögen die, welche die strafrechtliche Minister¬
verantwortlichkeit als etwas Ueberwundenes hinstellen, sich einmal fragen,
wie im englischen Unterhause ein Antrag aufgenommen würde, sie abzu¬
schaffen?
Soll die Verantwortlichkeit eine effektive sein, so darf man die Möglich¬
keit der Anklage offenbar nicht von der Uebereinstimmung beider Factoren
der Vertretung abhängig machen, da diese nicht leicht zu erreichen sein wird,
sondern muß ebenmäßig jedem Hause das Recht gewähren, die Anklage zu
erheben.
Wir vermögen uns nicht der Ansicht Rößlers anzuschließen, welcher die
Anklage dem Unterhause allein zugestehen will, weil jede Anklage, die von
dem unberechtigten Factor nicht unterstützt wäre, nicht im Lichte der Wah¬
rung großer Landesinteressen erscheinen würde, sondern im Lichte der Ver¬
theidigung eines mehr oder minder einseitigen Rechtsstandpunktes.
Ober- und Unterhaus haben eben jedes eigenthümliche Rechtssphären,
zu deren Wahrung sie berufen sind und welche sie folglich auch mit einer
Anklage zu schützen im Stande sein müssen, Msre euere is s, ri^ut, lucro
muLt b<Z a rsmecl^. Gegenstand der Klage ist, sofern nicht nachträglich eine
Indemnität gegeben wird, jeder Mißbrauch der ministeriellen Amtsge¬
walt, jede Überschreitung der verfassungs- und gesetzmäßig*) zustehen¬
den Befugnisse, jede Unterlassung amtlicher Pflichten, aber auch unzweifel¬
haft jede Handlungsweise, welche, ohne die Gesetze direct zu verletzen, den
Staat in nachweisbaren Schaden bringt. Man könnte letzteres bestreiten
Wollen, aber sehr richtig führt Rößler (Studien zur Fortbildung der preußi¬
schen Verfassung. II, x. 72) aus. daß es einerseits unmöglich, solche Hand¬
lungen straflos zu lassen, und andrerseits völlig unbedenklich ist. dieselben
dem höchsten Gerichtshof zu unterstellen. Treffend sagt Lord Brougham:
"Die Rathgeber der Krone sind in gleicher Weise verantwortlich für die
Politik und Weisheit, wie für die Gesetzmäßigkeit der Maßregeln der Re¬
gierung, denn sie sind verpflichtet, einerseits ihre Bemühungen im Dienst der
Krone anzuwenden, andererseits strafbar, wenn sie eine so wichtige Pflicht
übernehmen, ohne die nöthige Fähigkeit zu ihrer Erfüllung." Gegenstand
der Anklage sind demnach nur solche Handlungen oder Unterlassungen, welche
specifisch ministeriell, die also nur ein Mitglied des höchsten Rathes der
Krone begehen kann, wogegen jede Anklage auf ein gemeines Vergehen gegen
einen Minister bei den ordentlichen Gerichten zu verfolgen ist. So also,
Wenn es sich um unmittelbare Beschädigung des Staatseigenthums, um
Verwendung der Staatsmittel zu privaten Zwecken :c. handelt.
Die Frage, welchem höchsten Tribunal die Ministeranklagen zu unter¬
stellen sind, ist vielfach bestritten. Rößler sieht in der dem englischen Ober¬
hause zustehenden politischen Juridiction eine typische Einrichtung, aber es ist
ZU bedenken, daß die Lords auch in andern Civil- und Criminalangelegen-
heiten den obersten Appellhof bilden und in ihren durch hohe richterliche
Tunetionen zur Pairie -gelangten Mitgliedern juristisch ausgezeichnete Per¬
sönlichkeiten besitzen, deren Urtheil von entscheidenden Gewicht in allen Rechts¬
lagen ist. Diese höchste Instanz des Oberhauses hat sich historisch gebildet
Und scheint nicht leicht auf continentale Zustände übertragbar, wo ähnliche
Elemente und Traditionen mangeln. Die eigenthümliche, in größeren deut¬
schen Staaten nicht' zu umgehende Zusammensetzung des Oberhauses gibt
allerdings eine mehr als ausreichende Garantie, daß vom Unterhause ange¬
sägte Minister nicht leichtsinnig oder parteilich verurtheilt werden, aber wie
"us scheint, desto weniger Garantie, daß dieselben nicht freigesprochen werden,
Wenn sehr ausreichender Grund zur Klage des Unterhauses vorlag. Dagegen
'se Rößler unbedingt beizustimmen, wenn er die hohen Gerichtshöfe des
Privatrechtes für die Ministeranklage aus dem doppelten Grunde verwirft,
daß denselben die Vertrautheit mit den in Frage kommenden Geschäften fehlt
"ut daß sie andrerseits durch eine derartige Thätigkeit die Unbefangenheit in
Hrer Sphäre verlieren müssen. Es bleibt somit die Ueberweisung der Minister-
Anklage an einen speciellen Staatsgerichtshof, der bestimmt ist, die Summe
Politischen und staatsrechtlichen Intelligenz des Landes in sich zu ver¬
einigen. Die Mitglieder des Staatsgerichtshofes dürfen nicht bloße Rechts¬
gelehrte sein, weil sich die Klagen auf politische Verhältnisse beziehen, deren
richtige Würdigung eine Menge von staatsmännischen Kenntnissen und Er-
wägungen voraussetzt, die bei gewöhnlichen Juristen nicht zu finden sein
werden, und weil ferner der Gegenstand der Anklage sich schwerlich durch
genaue Vorschriften des positiven Rechtes feststellen läßt, daher dem Gerichte
ein freierer Spielraum gelassen werden muß, der staatsmännische Gewiegtheit
der Mitglieder voraussetzt.
Das Verfahren wird unbedingt der öffentliche Anklageprozeß sein. Das
Haus, welches die Verfolgung beschlossen, würde zwei Ankläger vor den
Staatsgerichtshof bestellen. So wird bekanntlich in England überhaupt bei
Staatsprozessen verfahren, so verfolgten Burke und Fox im Auftrage des
Unterhauses Warren Hastings. Das Urtheil wird endgiltig gesprochen, denn
an welche Instanz sollte man noch appelliren können? Auch statuirt, soviel
uns bekannt, keine Verfassung das Recht der Appellation bei Ministeranklagen,
weil der Gerichtshof von vorn herein die höchste Instanz bildet. Was die
Strafnorm betrifft, so hat nach der amerikanischen Verfassung der Senat als
Gerichtshof zwar über die politische und die strafrechtliche Seite der Klage
zugleich zu erkennen, beschränkt sich aber in dem Urtheile darauf, die Strafe
der Entsetzung und der Amtsunfähigkeit auszusprechen und verweist, wenn
eine weitere Criminalstrafe nothwendig erscheint, die Sache an das Geschwornen¬
gericht. Wir vermögen darin nicht mit Bluntschli II. ibi. eine Vervollkomm¬
nung des Systems überhaupt zu sehen, sondern finden darin nur eine bei
den eigenthümlichen amerikanischen Institutionen zweckmäßige Einrichtung,
weil der zum Urtheil berufene Senat nach seiner Zusammensetzung keine aus¬
reichenden Garantien eines völlig unparteiischen und leidenschaftslosen Spruches
bietet, wogegen nicht abzusehen, weshalb einem im oben ausgeführten Sinne
gebildeten höchsten Gerichte eine ähnliche Beschränkung aufzulegen wäre.
Schwerlich aber wird man verlangen, daß in Ministeranklagen überhaupt
nur auf Entsetzung und Unfähigkeit erkannt werde, denn wenn z. B. ein
Hochverrath vorliegt, so wird ein Minister, welcher denselben begangen, doch
gewiß nicht gelinder bestraft werden sollen, als jeder andere.
Rößler nimmt für das Gericht die Befugniß in Anspruch, auch auf IN'
demnität zu erkennen, d. h. zu erklären, daß die Handlung zwar gesetzwidrig,
aber nicht strafbar sei. Er meint, so gut wie die Factoren, denen dies An¬
klagerecht zustehe, die Indemnität geben dürfen, so gut müsse dem Gerichte,
an dessen Urtheil appellirr wird, dies Recht zustehen, sonst müßte es Hand¬
lungen, welche formell den Gesetzen zuwiderlaufen und doch unzweifelhaft
vom Staatwohl dictirt waren, entweder bestrafen, oder es würde auf den
Weg künstlicher Gesetzesauslegung gedrängt, um die Illegalität wegzuinter-
pretiren. Hingegen aber ist zu bemerken, daß es schon an sich dem Gericht
unbenommen bleibt, den Angeklagten freizusprechen, falls es nach der Aus-
legung des fraglichen Gesetzes zweifelhaft ist, ob eine Verletzung desselben statt¬
gefunden hat. Ist dies aber nicht zweifelhaft, so scheint es uns einigermaßen
bedenklich, dem Staatsgerichtshof eine so hohe politische Competenz zuzu¬
gestehen, welche ihn in Conflict mit dem Verdict der Landesvertretung bringen
würde. Diese letztere wird offenbar geneigt sein, Indemnität eintreten zu
lassen, falls der Minister evident im Interesse des Landes nur dem Wortlaut
des Gesetzes zuwidergehandelt hat. Will die Landesvertretung aber die In-
demnität nicht gewähren, so scheint es uns bedenklich, den Staatsgerichtshof
M ermächtigen, eine solche aus politischen Zweckmäßigkeitsgründen auszu¬
sprechen, zumal ihm ja immer noch der Ausweg bleibt, die mildere Strafe der
bloßen Amtsentlassung zu erkennen. Daß ein Minister, der dem Gesetze zu¬
widerhandelt, sich dieser Eventualität aussetze, scheint uns nicht zu viel
verlangt.
Ebenso vermögen wir Rößler nicht ohne weiteres beizustimmen, wenn
er die Civilklage durchaus von der Ministerverantwortlichkeit ausschließen
will. Allerdings werden nicht etwa Verluste zu verfolgen sein. welche durch
Ministerielle Politik und Geschäftsführung dem Staate mittelbar erwachsen,
aber wohl solche Verluste, welche aus geradezu gesetzwidrigen Handlungen,
sür welche keine Indemnität ertheilt ist, hervorgehen. Man nehme an, daß
ein Minister gegen den erklärten Willen der Landesvertretung einen Krieg
Mit den verfügbaren Mitteln beginnt: endet er glücklich, so erhält er wahr¬
scheinlich die Indemnität, wie aber, wenn der Krieg einen unglücklichen Aus-
gang nimmt? soll es einem Minister freistehen, das Land in ungeheure ma¬
terielle Verluste zu bringen und selbst nichts für sein Vermögen zu fürchten
ZU haben? Man mag immerhin anführen, daß jedes Privatvermögen gering-
fügig im Vergleich mit den in Frage kommenden Summen sei, uns scheint
es eine Forderung der Gerechtigkeit, daß die Strafe sich in diesem Falle
nicht auf persönliche Ahndung beschränke, sondern auch auf das Vermögen
ausgedehnt werde. Wir sind überzeugt, daß die Furcht vor einer solchen
Civilverantwortlichkeit oft heilsamer wirken würde, als die Furcht vor
peinlichen Strafen, welche als äußerstes Mittel nicht leicht angewendet
werden. —
Selbstverständlich darf der Souverän sowenig durch mündlichen oder
schriftlichen Befehl einen Minister der Verantwortlichkeit entziehen, als einen
^urtheilten Minister begnadigen, es sei denn auf Verlangen des Hauses,
von dem die Anklage ausgegangen. Rößler will diese Beschränkung der
königlichen Prärogative nur soweit gelten lassen. als sie die Unfähigkeits¬
erklärung betrifft, weil es der Autorität des Souveräns widerspreche, positive
Strafen in irgend einem Falle nicht mildern zu dürfen und meint, die Kö¬
nige von England hätten das so begrenzte Begnadigungsrecht stets besessen.
"
Indeß dies Citat beweist für Rößler selbst zuviel. Soweit uns bekannt, ist
in England das Begnadigungsrecht des Königs für einen verurtheilten Mi'
nister überhaupt nicht beschränkt, also auch die Strafe der Amtsentsetzung
und Amtsunfähigkeit kann erlassen werden, wie aus Bowyers 319 Bemer¬
kungen implicite folgt."
„IKs Statuts 12 g,na 13 VVin. III. äoss not rsstrain et<z ol'our trow
paräollinF Mor ^ud^ahnt on an impeaedmevt ava nutz^ prevents tue xor-
80N lap6g.edöä availing tiimselk ok tds pi>.räon to stop los proesämgs do'
köre ^uclgmsnt." Man hält in England offenbar durch die parlamentarische
Negierung die Volksrechte sür genügend gegen Ministerwillkühr gewahrt
und glaubt deshalb das Begnadigungsrecht nicht einschränken zu sollen,
Unter den neuen Verfassungen könnte man nur aus dem § 152 des frühern,
hannoverischen Landesverfassungsgesetzes von 1848 etwas ähnliches folgern.
Es heißt dort: „Abolition und Begnadigung find ausgeschlossen. Hinsichtlich
der gemeinrechtlichen Folgen behält es bei der ordentlichen Rechts- und Ge¬
richtsverfassung sein Bewenden."
Man könnte danach sagen, sowie neben der Strafe der Amtsentsetzung
und Unfähigkeit die gewöhnlichen Strafen bestehen bleiben, so bleibt es
für letztere bei dem ordentlichen Gange der Justiz, welcher das Begnadigungs¬
recht statuirt. Immerhin ist aber diese Interpretation nicht unzweifelhaft,
weil im Vordersatz einfach Abolition und Begnadigung ausgeschlossen worden.
Alle andern Verfafsungsurkunden geben auch nicht einmal dem Zweifel Raum-
So heißt es in der belgischen Verfassung:
^re- 73. 1,6 roi a 1s Aron als remettrs on 6s röäuiro Iss peiinzs pro*
noueäöK ps,r los ^juZes sank ce <M est stÄtuö rölativöment aux mimstrss.
^re. 91. I>e roi pone Kirs graes an ministrs eonclamvö xar 1^
Ovur as ^ilLs^tioll, qus sur ig. clom^nac ac I'nos ass äeux Ldambrös.
Preußische Verfassung Art. 49. „Der König hat das Recht der Begna¬
digung und Strafmilderung." Zu Gunsten eines wegen seiner Amtshand¬
lungen verurtheilten Ministers kann dieses Recht nur auf Antrag derjenigen
Kammer ausgeübt werden, von welcher die Anklage ausgegangen ist.
Wir halten diesen Modus auch für den allein richtigen. Die Minister'
anklage ist im constitutionellen Staatsrecht etwas so einziges in ihrer Art,
daß hier die königliche Prärogative weichen muß. Wenn ein Minister, der
das Gesetz verletzt, durch ein persönlich intimes Verhältniß zum Souverän
der Begnadigung von gemeinrechtlichen Strafen sicher wäre, also wüßte, daß
ihm schlimmsten Falls nur der Verlust seines Amtes drohte, so würde sich
die verfassungsmäßige Anklage schwerlich als ein wirksamer Zügel beweisen.
Rößler kann seinen Satz auch schließlich nur durch die ziemlich gesuchte Wen¬
dung vertheidigen, daß die Unfähigkeitserklärung weniger eine Strafe als die
Feststellung einer Eigenschaft sei, während uns in der negativen Qualifika¬
tion, daß jemand fortan auch unfähig sei, ein Staatsamt zu bekleiden, eine
sehr positive Strafe zu liegen scheint. Andrerseits versteht es sich von selbst,
daß in dem umgekehrten Falle, wo der König einen Minister vor dem Staats¬
gerichtshof anklagen läßt, keine einseitige Indemnität der Landesvertretung
denselben von einer Verurtheilung befreien kann. Die Frage der parlamen¬
tarisch zu gewährenden Indemnität bedarf übrigens um so mehr in Deutsch¬
land der gesetzlichen Fixirung. als sowohl die meisten Verfassungen hierüber
keine bestimmten Vorschriften enthalten und die bedeutendsten Staatsrechts¬
lehrer geradezu irrige Ansichten darüber vortragen. So sagt z. B. Rönne,
die Genehmigung einer Octrohirung (d. h. einer Verordnung mit provisorischer
Gesetzeskraft) enthalte recht eigentlich das, was im englischen Staatsrecht
als Lili ok iiiöemmt? bezeichnet werde und Nößler (II, 84) behauptet geradezu,
die Jndemnitätsbill sei kein Gesetz, sondern nur eine Resolution des Unter¬
hauses. —
Das Gegentheil ist die Wahrheit, nur durch ein formelles Gesetz, kann
in England Indemnität für Minister wie für andere Personen ertheilt wer¬
ben, nicht blos das Unterhaus hat deshalb' eine Resolution zu fassen, son¬
dern das Ministerium muß, wie bei jedem andern Gesetz, ewe Bill einbrin¬
gen, welche beide Häuser zu passiren hat und dann der Sanction der Krone
unterliegt. Nur dieser Weg kann den Zweck erfüllen, dem Betreffenden aus
einem höheren politischen Interesse Straflosigkeit für die Uebertretung der
Gesetze zu gewähren, denn nur ein neuer gesetzlicher Act hat den bestehenden
gesetzlichen Bestimmungen gegenüber die Kraft einer rss ^uÄiecttg., während
ein bloßer Verzicht des Anklageberechtigten, wie er durch die Resolution des
Unterhauses ausgedrückt wäre, den Uebertreter keineswegs vor einer Civil¬
oder Criminalklage sichert. Man sollte daher unterscheiden zwischen „nach¬
träglichen Genehmigungen", wie sie bei Etatsüberschreitungen vorkommen, und
eigentlicher Indemnität, und eine solche, wie in England, auch bei uns nur in
der strikten Form des Gesetzes gewähren. —
In dieser Weise meinen wir, wäre die Ministerverantwortlichkeit künstig
im preußischen Staate zu ordnen, und wir schließen diese Ausführungen mit
dem Ausdruck unserer Ueberzeugung, daß es auch im Interesse der ersten
Näthe der Krone ist, den Art. 44 der Verfassung zu einer praktischen Wahr¬
heit werden zu lassen. Erst wenn die Minister sich dem Monarchen gegen¬
über auf ihre effective Verantwortlichkeit berufen können, gewinnen sie die
Autorität, welche ihnen im repräsentativen Staatswesen gebührt.
Ludwig Hauffer's Geschichte der französischen Revolution 1789 bis 1799.
Herausgegeben von Prof. W. Oncken. (Berlin, Weidmann'sche Buchhandlung.
1867. — 606 S. in 8°.)
Unter obigem Titel hat Professor W. Oncken, ein Schüler Hauffer's. die Vor¬
träge herausgegeben, welche der verewigte Patriot und Historiker, wie alljährlich, in
dem Sommersemester 1860 über den wichtigsten Abschnitt der neueren Geschichte
gehalten. Nicht nach des Lehrers eigenen Aufzeichnungen, sondern nach des Zuhörers
stenographischer Niederschrift ist der Text dieser Vorträge festgestellt und heraus¬
gegeben worden: damit ist zugleich gesagt, daß es sich nicht um das Resultat rein
wissenschaftlicher Forschung, nicht um ein selbständige Bedeutung beanspruchendes histo¬
risches Werk, sondern um eine geschlossene Reihe interessanter Vortrage handelt,
welche vor einem bestimmten Zuhörerkreis gehalten und zunächst nach den Ansprüchen
desselben bemessen waren. Ist auch aus gelegentlichen Quellenangaben ersichtlich, welches
Material von dem Vortragenden vorzugsweise benutzt worden, so handelt sichs im
Großen und Ganzen doch mehr um eine geistreiche und präcise Darstellung der
Resultate früherer Forschungen, wie um eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen
Quellenschriftstellern und deren divergirenden Auffassungen. Auch die Eintheilung und
die Art und Weise der Behandlung des Stoffs bekunden, daß wir es nicht mit
einem specifisch wissenschaftlichen Buch, sondern mit einer Reihe akademischer Vor¬
lesungen zu thun haben, wie sie von einem Meister der Rede zum Behuf directer
Wirkung auf die Zuhörer gehalten worden: jeder einzelne Abschnitt fügt sich zu
einem selbständigen, von individuellem Leben durchdrungenen Ganzen zusammen und
der aufmerksame Leser kann Anfang und Ende jeder einzelnen Vorlesung erkennen-
Das vorliegende Buch zerfällt in zehn Abschnitte, in welche ein interessantes,
nach berliner Original-Acten ausgearbeitetes Fragment „Preußen und Polen 1791—92"
eingeschoben ist. Vielleicht den glänzendsten Theil des Ganzen bildet die „Frank¬
reich vor der Revolution" überschriebene, 129 Seiten umfassende Einleitung, in
welcher der Meister seine souveräne Herrschaft über den ungeheuern Stoff in wahr¬
haft großartiger Weise bekundet. In gleich beschränktem Rahmen ist vielleicht nie¬
mals ein so lebensvolles, alle Gebiete des staatlichen, gesellschaftlichen und literarischen
Lebens umfassendes Bild von den Zuständen des französischen anoion rö^ime ent¬
worfen worden. Der Staatsorganismus wird auf einigen wenigen Blättern mit
wunderbarer Klarheit blosgelegt und setzt den Leser in den Stand, die im weitern
Verlauf mitgetheilten Staatsveränderungen unter Ludwig XIV. und seinen Nachfolgern
ihrem Wesen nach zu verstehen und mit den Bezeichnungen für die verschiedenen Theile
der Staatsmaschine jedesmal klare Begriffe zu verbinden. Charakter und Einfluß
der revolutionären Literatur sind in genaueren Ausführungen über die drei hervor-
ragendsten Schriftsteller der Zeit, Voltaire, Rousseau und Montesquieu besprochen;
den Encyklopädisten wird leider kein besonderer Abschnitt gewidmet, obgleich diese
auf die Anschauungen der Massen des revolutionären Zeitalters den nachhaltigsten
Einfluß ausgeübt haben. Die gesellschaftlichen Zustände des alten Frankreich werden
in der Jugendgeschichte Mirabeaus so unübertrefflich geschildert, daß der Verf. sich
mit Recht alle weiteren Ausführungen über dieselben ersparte.
Geradezu meisterhaft müssen die kurzen Abschnitte genannt werden, welche von
der Periode der reformatorischen Experimente 1774 — 1789 handeln und die Sy¬
steme Turgots, Neckers. Calonnes :c. mit taciteischer Gedrungenheit charakterisiren;
die wesentlichen Merkmale der Systeme, mit welchen die einzelnen Staatskünstler
die Schäden des kranken Reichs zu heilen versuchten, sind so glücklich zusammen¬
gefaßt, daß sie sich vor dem geistigen Auge des Lesers plastisch zusammenfügen und
jede Verwechslung, Verwirrung oder Vermischung ausschließen. Die ungeheuern
Fortschritte, welche die Wissenschaft seit den letzten Decennien gemacht hat, treten
auf das deutlichste hervor, wenn man die betreffenden Abschnitte des vorliegenden
Buchs mit den Darstellungen Schlossers vergleicht, der als Lehrer Häussers auf
Anschauungen und Arbeitsmethode dieses letztern doch wieder von unleugbaren Ein¬
fluß gewesen ist. Während Schlossers rasche und absprechende Urtheile wesentlich
auf den unerschütterlichen Glauben an gewisse Doctrinen zurückzuführen sind, deren
Verhältniß zu der Masse der überlieferten Thatsachen kaum geprüft wird, stützt
Häussers Beurtheilung sich auf wirkliche Herrschaft über das Material, mindestens
auf die genaue Kenntniß der Cahiers und der Hauptschriftsteller. Diese sind so
sorgfältig durchgearbeitet, daß die Nichtbenutzung einzelner neuerer Forscher, nament¬
lich der nachgelassenen Schriften Tocquevilles, kaum bemerkbar ist.
Was die Geschichte der Revolution im engeren oder überlieferten Sinne des
Worts anlangt, so macht es sich bei der Darstellung derselben allerdings häusig
geltend, daß Hauffer durch die Rücksicht auf den beschränkten Zeitraum, innerhalb
welches er den ungeheuren Stoff zu bewältigen hatte, an dem Eingehen auf inte¬
ressante Einzelheiten verhindert war. Gerade bei der Geschichte der Jahre 1791—
1796 sind diese aber unentbehrlich; schon die unabsehbar lange Reihe der handeln¬
den Personen, von denen jede eine Literatur hinter sich hat, läßt die Zusam¬
mendrängung in einzelne große Gemälde als Calamität erscheinen, zumal den großen
dramatischen Katastrophen, welche an Barante, Sybel und der lüstoirs xarla-
MMwiro bereits classische Darsteller gefunden haben, nur durch das Eingehen auf
Details neue Seiten abgewonnen werden können. Gerade in den Jahren 1792
bis 1795 häufen sich die Ereignisse so rasch, gewinnen die einzelnen Episoden der
revolutionären Entwicklung eine so nachhaltige Bedeutung, daß es dem Darsteller
trotz der sorgfältigsten Oeconomie in Vertheilung und Anordnung des Stoffs kaum
möglich ist. auf einem beschränkten Raum alle Fragen des^ Lesers ausführlich zu
beantworten. Den engen Zusammenhang zwischen der innern und der äußern Po¬
litik der Girondisten, die beständige Einwirkung der polnischen und orientalischen
Frage auf die Haltung der zur Rettung Ludwigs XVI. verbündeten Monarchen,
endlich das Verhältniß der jacobinischen Staatskunst zu den volkswirtschaftlichen
Plänen Se. Justes, — Beziehungen, welche den älteren Bearbeitern der Revolutions-
geschichte kaum bekannt waren und erst durch neuere Forschungen ans Licht gezogen
worden sind, — diese gleichzeitig in den Gang der großen pariser Ereignisse hinein zu
verarbeiten und doch der Einheit des Ganzen ihr Recht zu lassen, ist eine Ausgabe, deren
Lösung innerhalb des engen Rahmens von kaum 300 Seiten nur auf Kosten von
Einzelheiten erzielt werden kann, die doch nur ungern vermißt werden. Nichtsdesto¬
weniger bewährt sich auch hier das reiche Talent Hauffer's, mit wenigen Worten viel
zu sagen, in oft überraschender Weise. Abgesehen von der größeren Ausführlichkeit,
welche auf die Einleitung und die Geschichte der beiden ersten Jahre verwendet ist
und die der Rechtfertigung nicht erst bedarf, weil sie das Verständniß der folgenden
Ereignisse wesentlich bedingt, herrscht in der Behandlung der einzelnen Phasen
des furchtbaren Dramas das vollständigste Ebenmaß und nirgend wird bemerkbar,
daß der auf eine bestimmte Anzahl von Stunden beschränkte Lehrer dazu gezwungen
worden, die Schlußcapitel gedrängter und eiliger zu behandeln, als die früheren
Abschnitte. Es erscheint durchaus gerechtfertigt, daß die Teilnehmer der Action
je nach der Wichtigkeit der Rolle, welche sie gespielt, nicht nach dem Interesse,
welches sie an und für sich haben, behandelt werden. Von manchen hätten wir
allerdings gern ausführlicher gehört. Die einzelnen Charakteristiken, welche Hauffer
von den Hauptpersonen, wie Mirabeau, Robespierre, Danton, Bonaparte (mit der
Beurtheilung Se. Justes ließe sich streiten) u. s. w. entwirft, reizen das Verlangen
des Lesers nach entsprechenden Beurtheilungen der übrigen Acteure, denn gerade in
der lebendigen Auffassung und dem feinen Verständniß für die einzelnen Charaktere
bewährt sich Häussers historisches Talent am glänzendsten.
Freilich tragen die Kürze und Gedrungenheit des vorliegenden Hauffer'schen
Buchs wiederum dazu bei, demselben die eigenthümliche Bedeutung zu geben, welche
es — unseres Erachtens — in der neueren historischen Literatur der Deutschen
haben wird. Es hat die Bestimmung, ein Volksbuch über französische Revolu-
tionsgeschichte im edelsten Sinne des Worts zu sein. An ausführlichen, in wissen¬
schaftlicher Absicht geschriebenen Werken über den in Rede stehenden Zeitabschnitt haben
wir keinen Mangel, zumal die hervorragenderen französischen Arbeiten auch der
Mehrzahl unserer Leser zugänglich sind. Ein Volksbuch, das die Geschichte der
I. 1779—1799 weiteren Kreisen der Gebildeten unserer Nation zugänglich machte
und ein wahres Verständniß auf Grund der neueren Forschungen ermöglichte, hat
es bis jetzt noch nicht gegeben. Bis in unsere Tage hinein waren die abenteuer¬
lichen Vorstellungen, welche das Restaurationszeitalter über die Männer von 1789
in Curs gesetzt hatte, in der Schule und in manchen Classen der deutschen Ge¬
sellschaft die herrschenden. Diese Lücke ausgefüllt und damit dem früh ver¬
storbenen Autor der „deutschen Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zum
wiener Kongreß" einen neuen Anspruch auf die Dankbarkeit des Volksgedächt¬
nisses gesichert zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst des gewissenhaften Her¬
ausgebers. . ,
Preußischen Landtags Veranlassung gegeben, welche an Bedeutung und Inter¬
esse alles hinter sich ließen, was seit Jahren in dem Hause am Dönhofsplatz
verhandelt worden. Dieses Interesse mußte um so bedeutender und nach¬
haltiger sein, als dem Zusammentritt des preußischen Landtags gerade von
Denen mit dem Gefühl einer gewissen Befangenheit entgegen gesehen worden
war, welche von den Resultaten der kurz zuvor beschlossenen Neichstagssesston
mit voller Befriedigung geschieden waren. Vielfach fürchtete man einerseits
die Wiederkehr jener bekannten „Temperatur", welche bis zum Jahre 1866
im Hause der Volksvertretung Preußens geherrscht und schließlich zu einem
Mißbehagen in ganz Deutschland geführt hatte, und andererseits sah man
einer Reihe von Auseinandersetzungen zwischen den alten und neuen Pro¬
vinzen entgegen, die sich bei der Unbekanntschaft mit dem Maß der für das
große Werk der Organisation disponibel« Arbeitskräfte nicht übersehen ließen
War doch das Gefühl, durch die Ereignisse des Sommers 1866 auf einen
„neuen Boden" gelangt zu sein, im außerpreußischen Deutschland von Hause,
aus stärker und entschiedener, als in einem großen Theil des Staats, der
der Träger der ganzen Neugestaltung des Vaterlandes gewesen war; sich auf
das alte, im modernen Sinne „vormärzliche" Preußen besinnen zu können
und besinnen zu müssen, war für die alte Bevölkerung des norddeutschen
Großstaats ein natürliches Erbtheil, für die neuen Bürger dieses Staats
und die Genossen der übrig gebliebenen Bundesstaaten eine von mindestens
gemischten Empfindungen begleitete Nothwendigkeit gewesen. Die Präsidial-
macht des norddeutschen Bundes mit ihrem Kanzler, der zugleich und in
diesem Verhältniß ausschließlich Träger der nationalen Idee war, ihrem neu¬
geschaffenen, durch keine Vergangenheit beengten Beamtenpersonale reprä-
sentirte gleichsam das ideale Preußen, den Staat, nach dessen Gemeinschaft
sich alle diejenigen gesehnt hatten, welche des kleinstaatlichen Jammers und
seiner Kirchthurmsbeschränktheit müde, die moralische Eroberung Deutschlands
durch das Piemont des Nordens erharrt hatten. Daß es neben diesem noch ein
anderes Preußen mit den Reminiscenzen eines selbstmörderischen Conflicts, mit
bureaukratisch-geheimräthlichen Traditionen, mit mangelhaft entwickeltem Pro-
vinzial-, Kreis- und Communalleben und ausgesprochen partikularen Eigen¬
thümlichkeiten gebe, daß dieselben Männer, welche auf dem Reichstage die
Schöpfer einer neuen Ordnung der Dinge gewesen, sich in den gegebenen Rahmen
dieses Staats zu schicken und ihre vielleicht mehr in tüWi als in praxi über¬
wundene Stammeseigenthümlichkeit nicht gegen ein deutsches Bewußtsein, son-
dern gegen eine Existenzform auszutauschen hätten, die ihnen nur sür eine
neue Art von „Partikularismus" galt — das alles mußte jedem, der der Ent¬
wicklung der letzten Jahre gefolgt war, beim Zusammentritt des Landtags
der preußischen Monarchie die Ueberzeugung nahe legen, daß es sich um eine
zweite Probe der Haltbarkeit und Lebensfähigkeit der neugeschaffenen Ver¬
hältnisse handle, welche die erste vielfach an Wichtigkeit überrage. Die mate¬
rielle Differenz zwischen den Existenzbedingungen des preußischen Parlaments
und denen des Reichstags repräsentiere gleichsam die Summe dessen, was die
preußische Entwicklung der letzten Jahrzehnte Deutschland und der nationalen
Sache schuldig geblieben war.
Nirgend mag die Empfindung für die Schwierigkeiten, deren Ueberwin¬
dung es seit dem November vorigen Jahres galt, verschärfter und deutlicher
vorhanden gewesen sein, als im Schooß der nationalliberalen Partei. Der
feste Boden, auf welchem dieselbe im Reichstag gestanden hatte, fehlte ihr in
dem Abgeordnetenhaus? des preußischen Landtags beinahe vollständig. Aus
Compromissen zu Stande gekommen, war ihre raison ä'cers von Hause aus
in Berlin, Königsberg, Breslau, Stettin u. s. w. eine andere gewesen-, wie
in Kassel, Hannover oder Wiesbaden; hier stand man zunächst der süßen
Gewohnheit kleinstaatlichen Daseins kampfgerüstet gegenüber, dort hatte man
es mit der Allgewalt der demokratischen Doctrin zu thun und mit einer Re¬
gierung, die wesentlich an der inneren Politik der Conflictsjahre festhielt.
Und noch mehr: selbst unter den altpreußischen Gliedern der Partei waren vielfach
verschiedene Ansichten darüber herrschend, wie man sich zu den Fragen des innern
und äußern Staatslebens, zu der Regierung und dem leitenden Minister, zu den
Gegnern und ehemaligen Freunden aus der linken Seite des Hauses zu verhalten
habe. Die Einen sahen sich als Glieder der Fortschrittspartei an, welche nur
bezüglich der deutschen Frage von den Waldeck, Schulze, Löwe :c. differirten, die
Anderen standen mehr oder minder auf dem Standpunkt des Altliberalis¬
mus und wollten mit einem großen Theil der Traditionen von 1864 und
1865 förmlich gebrochen wissen; wieder Andere stellten sich einzig darum aus
den Boden der neuen Thatsachen, weil sie kein anderes Mittel kannten, um
dem Liberalismus resp, der Demokratie Antheil an einer Neugestaltung
Deutschlands zu sichern, welche sich nicht mehr ändern ließ. Bereits der zu
den zweiten Reichstagswahlen erlassene Aufruf des berliner Ausschusses der
nationalliberalen Partei hatte zu Betrachtungen über die Verschiedenheit inner¬
halb der Partei Veranlassung gegeben, und nur die Natur der auf dieser Ver¬
sammlung verhandelten Gegenstände hatte es mit sich gebracht, daß die Einheit
der Fraction damals ungestört blieb. Aehnlich verhielt es sich während der
ersten Wochen der Landtagssession. Aber schon im November machte sichs
geltend, daß die Partei der wichtigsten von allen vorliegenden Fragen ohne
festes Programm entgegengegangen war und daß die Feststellung dieses
Programms, wenn die Fraction anders beisammen bleiben sollte, nicht mög¬
lich sei. Diese Frage, die trotz ihrer eminenten Wichtigkeit als eine offene
behandelt worden war, war die nach der Organisation der neuen Landes¬
theile, nach dem Verhältniß, in welchem die neuen Provinzen zu den alten
stehen sollten.
Nur aus dem eigenthümlichen Verhältniß, in welchem unsere Presse von
Alters her zu dem öffentlichen Leben und seinen Parteien gestanden, ist zu
erklären, daß die im Schooß der nationalliberalen Partei herrschenden Ver¬
schiedenheiten nicht schon früher Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit
geworden und daß man die Abwesenheit eines nationalliberalen Programms
über das Verhältniß der neuen zu den alten Provinzen wie eine selbstver¬
ständliche Thatsache hingenommen hat. Die oberflächlichste Lecture der Zeitun¬
gen, welche für Organe unserer Partei gelten, mußte zu der Ueberzeugung
führen, daß es derselben ebenso an einheitlicher Leitung wie an der gehöri¬
gen Klarheit über die Punkte gebrach, auf welche es für die inneren
Preußischen Fragen wesentlich ankam. Es läßt sich darüber streiten, inwie¬
weit von der Parteipresse Unterordnung unter die Ansichten und Beschlüsse der
Parlamentarischen Fractionsmajorität gefordert werden kann: zweifellos aber
möchte sein, daß Uebereinstimmung in Cardinalsragen ebenso unentbehrlich ist,
wie das Zusammenwirken bezüglich der Popularisirung und allseitigen Er¬
örterung der Gegenstände, um welche es sich in erster Reihe handelt. An
diesen beiden Erfordernissen zu erfolgreicher politischer Action hat es fast voll¬
ständig gefehlt: gerade die berliner Blätter, welche den Verhandlungen der
Natur der Sache nach am Nächsten stehen, zum Theil durch die national-
liberale Correspondenz direct aus dem Schooß der Fraction versorgt werden,
sind über die Organisationsfragen und über die Rolle, welche dieselben inner¬
halb der Partei spielen, gleich schweigsam wie über andere Dinge beredt ge¬
wesen und haben die zerstörenden Wirkungen, welche die Entscheidung über
den Provinzialfonds ausübte, zu einer Ueberraschung für ihre Leser werden
lassen. Damit hängt zusammen, daß auch dem andern Erfordernis) erträg¬
lichen Parteizusammenhangs, der Uebereinstimmung in den Hauptpunkten,
seitens der Presse nur sehr mäßige, um nicht zu sagen mangelhafte Rech-
mung getragen worden ist. Wir reden nicht von den letzten Wochen, in denen
die Presse nur die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei wieder- »
spiegelte, sondern von dem Vorläufer der brennenden Frage von heute, der
Entscheidung über das hessische Provinzialvermögen, welche im August v. I.
zur Sprache kam und von den berliner Organen unserer Partei in beinahe
schneidendem Gegensatz zu den Anschauungen des größten Theils der national¬
liberalen Provinzialpresse beurtheilt wurde. Es lag nah genug, aus diesem
einen Umstände Schlüsse ernstester Art für die Zukunft der Partei zu ziehen,
welche für die Hauptträgerin der neuesten Aera preußisch-deutschen Staatslebens
gilt. Aber diese Schlüsse wurden nicht gezogen, die Meinungsverschiedenheit über
das hessische Provinzialvermögen wurde wie eine vereinzelte, an und für sich
bedeutungslose Angelegenheit bei Seite gesetzt und yuasi ro dens Zestg. zur
Tagesordnung übergegangen, der § 84 der preußischen Verfassung, die Frage
nach dem Modus der Behandlung des Budgets discutirt u. f. w. Freilich
ließ sichs nicht ganz vermeiden, daß die Berathung einzelner Budgetposten
die Reorganisationsfrage berührte und daß der Mangel einer prinzipiellen
Stellung zu derselben empfindlich zu Tage trat, sobald die leidigen Provi¬
sorien durch Definitiv« ersetzt werden sollten, die eigentliche Katastrophe
wurde aber doch hinausgeschoben und ist erst in den letzten Tagen, wenn
nicht zum Austrag, so doch zum Platzen gekommen.
Einer ziemlich weit verbreiteten Anschauung nach besteht die Aufgabe
der nationalliberalen Partei wesentlich darin, die deutsche Politik des Grafen
Bismarck zu unterstützen, das begonnene Einigungswerk seinem Abschluß ent¬
gegenzuführen. Für den Reichstag hat sich die Richtigkeit dieser Formulirung
bewährt; wie ist dieselbe auf den preußischen Landtag anzuwenden? Die con-
ventionelle Antwort lautet: durch möglichsten Ausbau der durch die Ver¬
fassung gebotenen freiheitlichen Institutionen ist Preußens Attractionskraft zu
erhöhen und die innere Politik dieses Staats mit der äußeren in Einklang
zu bringen. Wir wollen die Nichtigkeit dieser Sätze nicht in Frage stellen,
möchten aber bestreiten, daß dieselben die aufgeworfene Frage vollständig beant¬
worten. Ganz abgesehen davon, daß der Einfluß der liberalen Partei auf
ein siegreiches, bis dahin von einer zahlreichen conservativen Fraction unter¬
stütztes Ministerium so entschiedene Grenzen hat, daß z. B. die Entlassung
des Grafen zur Lippe eine Ueberraschung für alle Theile gewesen ist, es muß
bestritten werden, daß das Schlagwort „Entwickelung freiheitlicher Institutio¬
nen" bereits identisch sei mit der Erhöhung der preußischen Attractionskraft;
eine wesentliche Bedingung derselben wird es vielmehr sein, die Einverleibung
der neuerworbenen Provinzen in den Einheitsstaat ohne Störung des orga¬
nischen Lebens der ersteren und ohne Schwächung der Einheitlichkeit des letz¬
teren zu vollziehen, mit andern Worten, eine wirklich lebendige Assimilations-
fcihigkeit des preußischen Staats zu bewähren. Träger dieser Aufgabe mußte
— wie wir die Dinge ansehen — die nationalliberale Partei sein und nur
wenn sie dieser Aufgabe gerecht wurde, durfte sie sich rühmen, die äußere Po¬
litik Preußens wirksam unterstützt, ihre Fähigkeit zu künftiger Uebernahme der
Regierung ausgewiesen zu haben. Ob und inwieweit das geschehen ist und
geschehen wird, entscheidet über ihren Werth.
Wenn wir den Gang der Verhandlungen über den hannoverschen Pro-
vinzialfonds, der bedeutendsten aller Fragen über die künftige Organisation
der neuen Provinzen, richtig verstanden haben, so haben die übrigen Land-
tagsparteien den Nationalliberalen Verständniß und Lösung dieser Auf¬
gabe nicht eben schwer gemacht. Die Demokratie, welche sich noch jüngst
»deutsche" Fortschrittspartei nannte, hat ihre Unfähigkeit, mit andern als
den Hilfsmitteln der alten Schablone zu arbeiten, kaum je deutlicher bewiesen,
als in den Debatten vom 4., 3. und 6. Februar dieses Jahres; die Conser-
vativen haben den Standpunkt schroffen Altpreußenthums so unzweideutig
wie möglich behauptet, die Parteien des linken und rechten Centrums sind
außer Stande gewesen, zu der brennenden Frage eine feste Position zu gewin¬
nen. Von mehr wie einer Seite her wurde sogar das wunderliche Auskunfts¬
mittel ergriffen, die hannoversche Provinzialfonds-Angelegenheit für keine po¬
litische zu erklären und diese Auffassung mit dem Umstände zu stützen,
daß in der Mehrzahl der vorhandenen Parteien keine feste Stellung zu der¬
selben genommen worden. Es handele sich — so wurde vielfach behauptet
um eine bloße Abrechnung zwischen den alten und den neuen Provinzen, bei
welcher die Entscheidung über die juristische Klagbarkeit der hannoverschen An¬
sprüche den Ausschlag gebe, und die Verschiedenheit der Anschauungen über diese
sei nicht politischer, sondern wesentlich juristischer Natur. Eine Angelegenheit,
welche für das Verhältniß des Ministeriums zu den Conservativen entscheidend
geworden, auf diese Weise ihrer politischen Bedeutung entkleiden zu wollen,
scheint uns ein mehr wie waghalsiges Unternehmen zu sein. Nichtsdesto¬
weniger wurde an demselben consequent festgehalten; die bedeutendsten der in
jenen Tagen gehaltenen Reden drehten sich darum, ob der Anspruch Han¬
novers nicht eine rechtliche Zurücksetzung der alten Provinzen bedeute; die
Ministeriellen Wünsche für Anbahnung provinzieller Selbstverwaltung wurden
mit Hinweisen darauf beantwortet, daß das Recht zur Verwendung einer
bestimmten Summe noch nicht mit Verwaltung derselben identisch sei und
der Diest'sche Antrag verlangte in angeblich folgerechter Weiterentwickelung
des ministeriellen Gedankens vor allem eine Vorlage behufs Erweiterung
des den alten Provinzen zustehenden Selbstverwaltungsrechtes. Und doch lag
die Bedeutung dieser Frage ganz wo anders: es handelte sich weder um die
Entscheidung einer stricten Rechts- und Rechnungssache, noch um die Bevor-
zugung einer Provinz vor der andern, weder um das Prinzip provinzieller
Selbstverwaltung für die neue Provinz, noch um eine Anwendung desselben
auf die übrigen Theile des Staates, sondern darum, inwieweit die Ord¬
nungen des alten preußischen Staats für den neuen deutschen
Staat maßgebend sein sollen. Wäre die abgestandene Phraseologie
vergangener Tage auf die veränderten Verhältnisse der Gegenwart anwendbar,
wir würden sagen, es handelte sich darum, ob Deutschland in Preußen aufgehen
oder Preußen mit Deutschland zu einem neuen Staatsorganismus verbunden
werden sollte. Nur aus der vollen Bedeutung dieser Alternative, deren sich
ein großer Theil der Landtagsglieder wenigstens instinctw bewußt gewesen
ist, läßt sich die ungeheure Rolle erklären, welche die Debatten der vorigen
Februarwoche im preußischen Parlament und in unserm öffentlichen Leben ge¬
spielt haben. Es hilft nichts, dieselbe zu maskiren und durch den Hinweis auf
die untergeordnete Bedeutung des Verwendungsmodus einer halben Million
Thaler zu verkleinern, oder sich über die verhängnißvollen Wirkungen der¬
selben durch die Thatsache der Zersetzung der conservativen Partei zu trösten,
— unter der einen oder der andern Form wird dieselbe Frage noch häufig
wiederkehren und ohne ihre prinzipielle Entscheidung ist jeder Versuch zu einer
heilsamen Reorganisation der Verwaltung in den neuen Provinzen vergeblich,
von ihrer glücklichen Lösung ist die Zukunft der gesammten deutschen Frage
wesentlich mitbedingt. Hätte sichs wirklich nur darum gehandelt, den Anfang für
die Selbstverwaltung der Provinzen in Hannover zu machen, ein Conflict, wie
der gegenwärtig zwischen der Regierung und den Conservativen ausgebrochene
wäre unmöglich, die Bewilligung jener Summe für hannoverische Provinzial-
zwecke eine bloße «zuestiou Ac Aal<z gewesen, das Ministerium hätte den Kar-
dorffschen Antrag nicht als das kleinere von zwei vorhandenen Uebeln, sondern
mit voller Seele angenommen. Nur weil die rechte Seite des Abgeordneten¬
hauses durchsehen ließ, daß sie dem Grafen Bismarck auf der Bahn der Con¬
cessionen an außerpreußische Eigenthümlichkeiten überhaupt nicht folgen wolle,
hat der Ministerpräsident mit ihr gebrochen; eine einmalige Versagung des
Gehorsams wäre nimmermehr ausreichend gewesen, Verbindungen von so lang¬
jähriger Dauer zu lösen, wie es die zwischen dem Grafen Bismarck und den
Conservativen sind.
Wichtiger als das Verhältniß der Conservativen ist uns das, welches
die Mittelparteien, welches vor allem die nationalliberale Fraction zu
dem in Rede stehenden Gegenstande eingenommen haben, denn die Aus¬
sicht auf ihre Unterstützung liegt dem Ministerium am nächsten, wenn dieses
die Verbindung mit den 118 Mitgliedern der Rechten wirklich aufgibt; wird
uns doch seit Monaten versichert, im Schooße dieser Mittelparteien ruhe die
Zukunft Deutschlands und Preußens. Von den vier Fractionen, welche zu
den Mittelparteien gerechnet werden, hat nur eine geschlossen gestimmt, die
freiconservative. Diese Abstimmung ist aus doppelten Gründen leicht zu er¬
klären: der Kardorffsche Antrag brach dem Prinzip, um welches es sich bei dem
Kampfe der Meinungen handelte, in bequemer Weise die Spitze ab und
die Partei, welcher der Antragsteller angehörte, war aufs höchste dabei inter-
essirt, zum erstenmal in einer wichtigen Angelegenheit den Ausschlag geben
zu können. So ist es geschehen, daß sie sich über eine einheitliche Haltung
verständigte, ohne eine Entscheidung über die für das Organisationswerk
maßgebenden Prinzipien zu fällen. Von den 16 Mitgliedern des rechten
Centrums haben (unsrer Rechnung nach) 9 gegen den Kardorffschen Antrag
gestimmt und die bedeutendsten Reden, welche gegen denselben gehalten, über¬
haupt in der Provinzialfondsfrage gesprochen worden, gingen von dem Frei¬
herrn Georg von Mücke aus, der dieser Fraction sicher am nächsten steht.
Die Majorität des linken Centrums (19 Stimmen) warf ihr Gewicht gleich¬
falls gegen das Ministerium in die Wagschale.
Wir kommen zu der nationalliberalen Partei. Nach den Eigenthümlich¬
keiten ihrer Zusammensetzung wie nach der Zahl der Stimmen, über welche sie
zu gebieten hat, war vorauszusehen, daß die Entscheidung wesentlich von ihr
abhängen werde. Eine Versöhnung der Gegensätze zwischen dem Altpreußen-
thum und den Interessen der neu erworbenen Staatsgebiete lag ihr am
nächsten. Ihre Glieder hatten sich in dem Bekenntniß zu der deutschen Po¬
litik Preußens zusammengefunden, die Rücksicht auf das glückliche Zustande¬
kommen des Einigungswerks war von ihnen jederzeit als die Hauptricht¬
schnur für die Behandlung aller übrigen Fragen bezeichnet und behandelt
worden; von ihnen ließ sich erwarten, sie würden sofort den allein richtigen
Gesichtspunkt für die Beurtheilung der Provinzialfondsangelegenheit finden
und festhalten. Ganz abgesehen von dem Inhalt der Entscheidung, welche
Kir für die allein richtige halten, lag auf der Hand, daß die nationalliberale
Partei sich derselben unter allen Umständen bemächtigen mußte, schon um
den lange schuldigen Beweis zu sühren, daß sie der Situation gewachsen,
daß sie im Stande sei, die Arbeit zu bewältigen, von welcher thatsächlich die
glückliche Lösung der deutschen Frage, soweit der preußische Landtag für die¬
selbe thätig sein kann, abhängt.
Das Zustandekommen der Bundesverfassung und die Annexion der
eroberten Provinzen war auch von den Conservativen und deren näch¬
sten Nachbarn gewollt worden, — die Fähigkeit zur Verwirklichung dieser
Ziele und zur Beseitigung der aus denselben für Preußen erwachsenden
Schwierigkeiten nahm die nationalliberale Partei, welche die besten Kräfte
der neuen Provinzen an sich gezogen und mit den einsichtigsten Männern
der alten Länder in Verbindung gebracht hatte, für sich in Anspruch.
5.-.. Es ist Pflicht der Selbstzucht, offen einzugestehen: diesem ^Ansprüche
hat die nationalliberale Partei im vorligenden Falle nicht genügt. Weder
ist es ihr gelungen, aus der Entscheidung über den Provinzialfonds für
sich selbst Capital zu schlagen, noch hat sie auch nur vermocht, den in
ihrem Inneren herrschenden Gegensätzen die Rücksicht auf die dskors ab¬
zuzwingen und bei ihren eigenen Mitgliedern das Gefühl des Unbehagens
zu überwinden, welches sich nachgerade aller Landtags-Vertreter der neuen
Provinzen bemächtigt zu haben scheint, auch derer, die von ihrer preußischen
Gesinnung im Reichstage die unwiderleglichsten Beweise geliefert haben. Wir
haben vielmehr zwei Mal binnen einer Woche erleben müssen, daß eine be-^
trächtliche Anzahl von Parteigenossen in Fragen von maßgebender Bedeutung
gegen die Mehrheit der Fraction stimmten: das Gesetz über die Abfindung
der Depossedirten zählte einige 30, das über den Provinzialfonds 21 national¬
liberale Gegner. Man halte uns nicht entgegen, die Bill über die Deposse¬
dirten sei in der That heikler Natur gewesen, und das Interesse der nationalen
Sache habe eine möglichst starke Minorität gegen dieselbe wünschenswert!)
gemacht; wenn es sich um die Feststellung des Maßes von Vertrauen han¬
delt, welches die Partei zu der äußeren Politik der Regierung hat, so hat
die Partei nur das eine Interesse: geschlossen aufzutreten und durch ihr
Gewicht zu wirken — für oder wider die Regierungsvorlage, darauf kommt
es nicht an. Eine Partei, welche mangelhafte Autorität auf die eigenen Glieder
übt, kann eine solche bei der Regierung nicht beanspruchen, sie verringert ihren
eigenen Werth und den Preis, den sie für ihre Zustimmung fordern kann-
Bezüglich des Provinzialfonds ist dieses Verhältniß noch peinlicher gewesen;
in dieser Frage, welche wie keine andere ein Kriterium für die Gesundheit
der von den verschiedenen Parteien befolgten inneren Politik bot, haben die
Nationalliberalen ihre innere oder äußere Ueberlegenheit über die übrigen
Fractionen leider nicht bewiesen, sondern den Vortheil vollständig unbenutzt
gelassen, den ihnen der Zwiespalt zwischen den Conservativen und dem
Ministerium bot. Weder haben sie von der Frage, welche für die gesammte
Organisation der neuen Provinzen und des neuen Staats präjudicirlich ist,
Besitz genommen, noch ist es ihnen gelungen, durch festes Zusammenstehen
den Beweis zu liefern, daß sie als Träger einer nationalen Politik die
Schwierigkeiten nicht zu fürchten hätten, angesichts welcher die andern Par¬
teien entweder Schiffbruch litten oder den Kopf in den Sand steckten. Im
Gegentheil, ihre Abstimmung war ebenso zerfahren wie die der beiden be¬
nachbarten Parteien des Centrums und der Confer.vativen; ja diese Abstimmung
lieferte nicht nur den Beweis, daß im Schooß der nationalliberalen Partei der
Gegensatz zwischen Alt- und Neupreußen ebenso unüberwunden sei, wie bei
den andern Fractionen — sie ließ erkennen, daß es neben dieser noch andere
unausgeglichene Differenzen gebe. Wie es innerhalb der Fraction ausgesehen,
und wie groß die Minorität gewesen, welche aus Gehorsam gegen die Partei¬
disziplin für und nicht wider die Bill gestimmt hat, wissen wir nicht: die Ta¬
gespresse hat es nicht einmal für nothwendig gehalten, danach zu fragen.
Bei der ziemlich weitverbreiteten Meinung, „freiheitliche Errungenschaften"
seien nur von Werth, wenn sie zu Verfassungsparagraphen oder Parlaments¬
prärogativen geworden, hatte es überhaupt nicht ausbleiben können, daß die
berliner Presse die Frage nach dem Verhältniß einer hannoverischen Rechts¬
gewohnheit zu den altpreußischen Institutionen mit kaum verhehlter Mi߬
gunst und Geringschätzung behandelte.
Auf die Folgerungen, welche aus den Landtagsgeschicken des hanno-
verschen Provinzialfonds zu ziehen sind, weiter einzugehen, müssen wir uns
für heute versagen. Ein Schluß aus denselben liegt aber zu nahe, als daß
wir an ihm vorübergehen könnten: der, daß es in der bisherigen Weise nicht
weiter gehen kann, wenn die Bezeichnung „nationalliberal" eine andere als die
blos negative Bedeutung „weder reactionär noch fortschrittlich demokratisch"
haben soll. Wir müssen wissen, wo die nationalliberale Partei künftig zu finden
sein wird, ob im Lager des Altpreußenthums, welches durch einfache Ausdeh¬
nung ihrer Provinzialeinrichtung auf die neuen Provinzen das Organisations¬
werk zu vollbringen und die preußische Attraetionskraft zu bethätigen gedenkt,
ob wo anders, wir müssen wissen, ob der Schwerpunkt der Partei auf ihrem
linken oder auf ihrem-rechten Flügel liegt, oder endlich auf keinem von beiden
gesucht werden muß. Herrscht keine Uebereinstimmung bezüglich der Cardinal¬
sragen, so gebe man die Bezeichnung „Partei" auf und zwar ebenso für den Land¬
tag wie für den Reichstag. Trägerin der Entscheidungen des Parlaments,
welches die Beziehungen Preußens zu den verbündeten Staaten regelt, kann
nur die Partei sein, welche im Standeist, die Verbindung der annectirten
Provinzen mit dem preußischen Staat nach einem festen und klaren Prinzip
zu beiderseitiger Befriedigung durchzuführen. So lange es einen Landtag der
Preußischen Monarchie neben dem Reichstag gibt und die süddeutsche Frage
noch der Lösung harrt, ist der Trost, der eine müsse gut machen, was
der andere verdorben, ein leerer, denn er beruht auf der irrthümlichen
Voraussetzung, der neue deutsche Staat habe den preußischen bereits über¬
wachsen. Die nationale Reichtagspartei muß mit einer preußischen Organi¬
sationspartei identisch sein oder die Frage, inwieweit der preußische Staat,
inclusive Landtag, in seiner bisherigen Gestalt überhaupt möglich geblieben ist,
klopft an das Thor, noch bevor die Süddeutschen in dasselbe Einlaß gefunden.
Ms mit dem Ende des 4. Jahrhunderts germanische und asiatische Horden
über das westliche Römerreich immer unaufhaltsamer hereinbrachen, da mußte
bald unter dem wüsten Lärm barbarischer Zungen die feinere Stimme römi¬
scher Poesie und Beredtsamkeit verstummen. Jahrhunderte lang währte es,
bis aus dem Schütte der zertrümmerten antiken Cultur die junge Blüte
mittelalterlichen Denkens und Dichtens zu eignen selbständigen Gestaltungen
erstarken konnte. War doch selbst die Sprache, welche schon lange vor dem
losbrechenden Völkersturm im römischen Reiche viel von der strengen Rein¬
heit des classischen Alters verloren hatte, durch die mannigfaltigsten Ein¬
flüsse neuer Idiome zu einer Verwirrung des gesammten Formen- und Satz¬
baues zerfallen, daß zu der Ausübung einer Poesie im höheren Sinne,-zu
einer Kunstpoesie die nöthigste Unterlage mangelte. Von allen Zweigen des
romanischen Sprachstammes gelang es durch.eigenthümlich günstige Umstände
zuerst dem provenzalischen. sich zu einer deutlich abgegrenzten künsterisch
zu verwerthenden Redeform auszubilden. Sein Gebiet umfaßte, weit über
die Grenzen der heutigen Provence hinaus, das ganze südliche Frankreich
und die nächstgelegenen Theile Spaniens; der zusammenfassende Name Pro¬
vence und provenzalische Sprache erinnerte noch an die alte xioviueia romima,
der Cäsaren. Eine reiche, gern gewährende Natur, der äußere Wohlstand
und der aufgeweckte Sinn der Bewohner waren der Pflege der Poesie in
diesem gesegneten Himmelsstriche überaus günstig, und so mögen schon früh
die Klänge der Viola vereint mit frohem Gesang die Erntefeste fröhlicher
Landleute belebt haben. Aus dieser älteren Epoche eines von Jongleurs
und Bänkelsängern geübten, wahrscheinlich meist epischen Volksgesanges ist
nichts erhalten, und die poetische Literatur in provenzalischer Mundart oder
(wie man sie nach der Bejahungspartikel im Gegensatz zur nordfranzösischen
Ig,nAus Ä'oil nannte) in der lemZue ä've beginnt für uns erst mit dem Ende
des 11. Jahrhunderts. Um das Jahr 1090 tritt uns als erster Kunst¬
dichter, als erster „Trobador" ein edler auch der Geschichte bekannter Fürst,
Wilhelm IX. von Poitiers entgegen. Dieses plötzliche Auftauchen eines künst¬
lerisch ausgebildeten, alle Regeln minutiösester Vers- und Neimkunst mit
Leichtigkeit handhabenden Poeten möchte in der Geschichte aller Literaturen
vielleicht einzig dastehen, und auch hier nur durch das spurlose Verschwinden
vorangegangener Stufenglieder zu erklären sein. Ungefähr zu gleicher Zeit
fiel die erschütternde Kunde von der Schändung des heiligen Grabes, von
der Bedrängniß frommer Pilger durch die Ungläubigen wie eine Brandfackel
in die Gemüther der abendländischen Christenheit. In dem leichtentzünd¬
lichen Herzen der Südfranzosen schlug zuerst der Enthusiasmus für die Be¬
freiung von der Schmach zu lichten Flammen empor und rasch sam¬
melten sich kreuzgeschmückte Heere unter den Bannern der vornehmsten Adels¬
geschlechter. In dieser Anspannung aller Kräfte zur Erreichung eines idealen
Zieles, in dem eigenen Bewußtsein von der Größe der Aufgabe gewann die
Idee des Ritterthums selbst eine edlere geistige Bedeutung. Wenn früher
die Bethätigung blos körperlicher Kraft und Gewandtheit als einzig zu er¬
strebendes Ziel dem Ehrgeiz vorschwebte, so kamen jetzt auch die Würde der
Gesinnung, die feinere Bildung des Geistes und der Sitten zur berechtigten
Geltung. Dieser Aufschwung im Leben und Denken übte den unmittelbarsten
Einfluß auf Inhalt und Form der provenzalischen Poesie, welche ja, wie
Fauriel in seiner Ilistoire ne 1a ?o6sie ?rovenyg.Is sagt, recht eigentlich
„der Ausdruck ritterlicher Ideen, Gefühle und Handlungen" ist. Und in
der That, die hervorragenden Momente ritterlichen Wesens, kühner Muth
in der Schlacht, zarte Verehrung der Frauen und endlich begeisterte Fröm¬
migkeit bringt die Poesie der Trobadors in vollkommenster Weise zum dich¬
terischen Ausdruck. Aber in diesen gemeinsamen Zügen aller mittelalterlichen
Kunstdichtung hat die provenzalische Poesie doch so bestimmte, nur ihr eigen¬
thümliche Nuaneirungen aufzuweisen, daß die Beschäftigung mit ihr, auch
abgesehen von dem sprachlichen und historischen Werthe der hinterlassenen
Denkmäler, noch ein lebhaftes menschliches Interesse erregen muß.
Was zunächst die Verehrung der Frauen angeht, so ließ schon die von
Natur kecke und sinnlich erregte Weise der Südfranzosen eine Ausartung in
überirdisch himmelnde Anbetung nicht leicht aufkommen. Gleich der erste
Dichter Graf Wilhelm von Poitiers, auf dessen Person sich allerdings manche
sagenhafte Züge gesammelt haben mögen, wird als gefährlicher Held auf dem
Felde galanter Abenteuer geschildert. „Der Graf von Poitiers — so führt ihn
die alte Lebensnachricht mit origineller Einfachheit ein — war einer der
"höflichsten" Männer der Welt und ein großer Betrüger der Damen; und
er war ein tapferer Ritter und hatte viel mit Liebeshändeln zu thun. Und
er wußte wohl zu singen und zu dichten und zog lange Zeit durch die Welt,
um die Damen zu betrügen." Die Gedichte des Grafen liefern zu diesen An¬
gaben einen ausreichenden, wenn nicht immer sehr decenten, so doch stets
seinen und witzigen Commentar. —
Als Beispiel heldenhafter Ritterlichkeit und ungebändigter Kampflust
ragt unter allen Genossen Bertram von Born hervor. Sein Leben fällt in
die wildbewegte Zeit bittersten Streites unter den Söhnen Heinrich II.
von England, die bald untereinander in blutiger Fehde lagen, bald sich zur
gemeinsamen Empörung gegen den Vater verbanden. Unermüdlich, durch
Unglück und Verluste nicht gehemmt, schiert Bertram den Haß, immer aufs
neue hetzt er die Brüder gegeneinander, ruft er die mächtigen Barone zum
Kampfe gegen des Lehnsherrn drückende Gewalt.
Als Freund und Rathgeber des „jungen Königs", wie der älteste Sohn
Heinrichs II. genannt wird, war er die Haupttriebfeder aller Empörungen
und Kriege, welche dieser tapfere und von allen Zeitgenossen hochgepriesene
Fürst gegen den Vater und den Bruder Richard Löwenherz erregte. Bertram
gesteht selbst, daß er den Kampf blos des Kampfes wegen liebe, ja daß ihm
derselbe nöthiges Bedürfniß des Lebens sei. Eines seiner mächtigen Sirven-
tese schließt, mit den Worten:
Nicht solche Wonne flößt mir ein
Schlaf, Speis' und Trank, als wenn es schallt
Von beiden Seiten: drauf! hinein!
Und leerer Pferde Wiehern hallt
Laut aus des Waldes Schatten,
Und Hilferuf die Freunde weckt,
Und Groß und Klein schon dicht bedeckt
Des Grases grüne Matten,
Und mancher liegt dcchingestreckt,
Dem noch der Schaft im Busen steckt.
Dante, welcher den Dichternamen Bertrams hoch erhebt, läßt ihn im
Inferno mit seinem vom Rumpf getrennten Haupte in der Hand seufzend
einherwandeln, weil er im Leben den Sohn vom Vater, seinem natürlichen
Haupte getrennt. Dem gegenüber ist es billig, hier noch einen Zug aus
Bertrams Leben mitzutheilen, der ihn auch von einer milderen Seite zeigt
und zugleich auf das Uebergewicht, welches sein großartiger Charakter ihm
auch über siegende Feinde verlieh, ein Helles Licht wirft. Ich folge der
einfachen Erzählung der Handschriften möglichst getreu. — Der junge König
Heinrich war gestorben und Bertram durch den Verlust des treuen Freundes
in die äußerste Betrübniß versetzt, welcher Stimmung wir sein herrliches
Klagelied auf den Tod des jungen Helden verdanken. Zu dieser Trauer
kam noch die härteste äußere Bedrängniß. Heinrich II. hielt ihn in seiner
Feste Autafort eng umschlossen und nach tapferer Gegenwehr wurde dieselbe
mit Sturm genommen. „Bertram — so fährt die Lebensnachricht fort
wurde mit allen den Seinigen zum Zelte des König Heinrich geführt. Der
König empfing ihn sehr übel und sprach zu ihm: „Bertram, Bertram, Ihr
habt oft gesagt, daß nicht die Hälfte Eures Verstandes Euch Noth thäte zu
keiner Zeit, aber wisset, daß Ihr ihn jetzt wohl ganz nöthig hättet." „Herr/
erwiderte Bertram — „es ist richtig, daß ich dieses gesagt habe, und ich
habe die Wahrheit gesprochen." „So habt Ihr ihn nun verloren," sprach der
König. „Wohl habe ich ihn verloren." erwiderte Bertram, „denn an dem
Tage, da der tapfere junge König, Euer Sohn starb, da verlor ich Sinn
und Verstand und Bewußtsein." Und der König, als er hörte, was Herr
Bertram sagte, weinte über den Sohn und großer Jammer ergriff ihn, und
er konnte sich nicht halten und wurde ohnmächtig vor Schmerz. Und als er von
seiner Ohnmacht wieder zu sich gekommen war. da sprach er noch immer weinend:
„Bertram, Bertram, wohl habt Ihr Recht, wenn Ihr Sinn und Denken ver¬
löre über meinen Sohn, der Euch mehr liebte, als irgend einen andern Mann
auf der Welt. Und wegen der Liebe zu ihm gebe ich Euch Leib und Habe
und Euer Schloß zurück, und schenke euch meine Gnade wieder und fünfhun¬
dert Mark Silbers für den Schaden, den Ihr durch mich gehabt." Bertram
fiel ihm zu Füßen und dankte für seine Güte.
Wenn ich oben religiöse Begeisterung als dritten Hauptimpuls proven-
zalischer Dichtung nannte, so ist hierunter jedoch keineswegs unbedingte Unter¬
werfung unter Roms drückende Geistesknechtung zu verstehen. — Als im
13. Jahrhundert die bekreuzten Mordbrennerbanden zur Ausrottung der Albi-
genser - Ketzerei in die wonnigen Provenzethäler einbrachen, da standen die
Trobadors mit Leier und Schwert muthig zur guten Sache der Freiheit und
schleuderten die kecksten Sirventese gegen die Uebergriffe priesterlicher Gewalt.
Erklärte doch Papst Innocenz IV. in einer Bulle aus dem Jahre 1243 die
Provenzalische Mundart für eine Ketzersprache und verbot ihren Gebrauch den
Studirenden. (Siehe Faurill I. 24). Auch gegen die übertriebene Wander¬
sucht nach Palästina, welche das eigene Land der besten Kräfte beraubte,
scheint sich bald der gesunde Sinn der Trobadors gerichtet zu haben. Mar-
kabrun, der noch in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts blühte, und also
mit zu den frühesten Dichtern gehört, schildert mit ergreifender Innig¬
keit die Klagen eines verlassenen Mädchens, dessen Liebster dem allgemeinen
Kreuzruf gefolgt ist. „O Jesus," spricht sie, „König der Welt, durch Euch
erwächst mir großer Jammer, denn Eure Schmach zu rächen ziehen die Besten
der Erde davon; und auch mein Freund hat mich um Euch verlassen." Als
der Dichter (die Form des Gedichtes ist die eines Zwiegespräches) sie an die
Belohnungen im andern Leben erinnert, antwortet das Mädchen mit der
rührenden Naivetät des Schmerzes:
Herr — sprach sie drauf — das mag Wohl sein.
Daß Gott von aller Noth und Pein
In jener Welt mich will befrei'n
Er der den Sündern gern vergibt. —
Doch hier büß' ich den Liebsten ein!
So entrollt sich das Bild der Trobadordichtung vor unsern Blicken als
ein äußerst reiches und farbenvolles. Alle Interessen des Staates, der Kirche
und des Herzens kommen in den wohllautenden Strophen ihrer Canzonen
und Sirventese zur Geltung. In dem wildesten Schlachtenlärm klingt die
leise Klage sehnsuchtsvoller Liebe und wieder tönt das melodische Lachen des
pfiffigen Schalks und Mädchenbetrügers. Die Poesie wurzelte eben in der
lebhaftesten Theilnahme aller Gebildeten, und der geschickte Sänger konnte
stets aufmerksamer Zuhörer und des ehrendsten Beifalls gewiß sein. Das
belohnende Lächeln schöner Frauen ließ auch die Vornehmsten nach der
Blume der Dichtung ringen. Mächtige Fürsten, wie König Alfons II. von
Aragon und vor allem Richard Löwenherz, verschmähten nicht, als Trobadors
sich mit dem geringsten Ritter in die Reihe zu stellen, während auf der an¬
dern Seite niedere Geburt dem Genius die Bahn zum höchsten Ruhme nicht
verschloß. War doch Markabrun ein heimatloser Findling und Bernard
von Ventadour, vielleicht der berühmteste aller Trobadors, der Sohn eines
Ofenhcizers.
Auf die Gründe des allmählichen Verstummens dieser reichen Sangeswelt
näher einzugehen, würde die Grenzen meines Aufsatzes weit überschreiten. Mit
dem Ende des 13. Jahrhunderts verschwindet ihre Spur aus der Geschichte;
die Sprache sank zum Dialect herab. Der letzte Trobador, welcher noch ein¬
mal die erloschene Flamme der Begeisterung wieder anzufachen versuchte, ein
begabter und kunstsinniger Dichter, war Guiraut Riquier. Sein Todesjahr
und zugleich das der provenzalischen Minnedichtung war das Jahr 1294.
Seine Bestrebungen scheiterten an der allgemeinen Erschöpfung der Geister
nach den gewaltigen Stürmen der Albigenserkriege, sowie an dem immer
mächtiger werdenden Vordringen des nordfranzösischen Elementes. Erst nach
Jahrhunderten brachten forschende Gelehrte von den vergessenen Denkmälern
einer dichterisch und menschlich reichbewegter Zeit erneute Kunde.
In die volle Blütezeit der geschilderten Dichtungsepoche, in das Ende
des 12. Jahrhunderts Me das Leben und Dichten des Trobadors Guillen
de Cabstaing, bei dessen Charakteristik wir etwas länger verweilen möch¬
ten. Wenn wir früher den Grasen Wilhelm als leichtfertigen Lebemann
und höchst unzuverlässigen Liebhaber kennen lernten, so erscheint dagegen dieser
andere Wilhelm als ein leuchtendes Beispiel unwandelbarer Treue im
Leben, Dichten und — Sterben. — Ich erzähle von seinen Schicksalen in
möglichst getreuem Anschluß an die alte Lebensnachricht, wie sie uns in der
Laurenzianischen Handschrift erhalten ist.
„Raimon von Noussillon war ein tapferer Baron, wie bekannt, und
hatte zur Gattin die Dame Margarita, die schönste Frau jener Zeit und am
meisten gepriesen wegen aller vortrefflichen Eigenschaften und wegen ihrer guten
und feinen Sitten. Und es kam, daß Guillen de Cabstaing, der Sohn
eines armen Ritters von dem Schlosse Cabstaing, an den Hof Raimons von
Roussillon kam und sich ihm vorstellte, ob es ihm gefalle, daß er als Junker
an seinem Hofe bleiben sollte. Herr Rcnrnon, welcher sah, daß er schön und
höflich war, und dem er von guter Art zu sein schien, sagte ihm, daß er
willkommen sei. So blieb er bei ihm und benahm sich so wohl, daß groß
und klein ihn lieb gewann. Und er wußte sich so hervorzuthun, daß Rai-
mon ihn zum Pagen der Dame Margarita. seiner Gattin machte. Alsdann
suchte Guillen sich in Wort und That immer mehr zu vervollkommnen.
Aber wie es bei der Liebe zu geschehen pflegt, so kam es, daß die Liebe das
Herz der Dame Margarita mit Sturm nehmen wollte und sie entflammte
ihre Gedanken; so sehr gefiel ihr Guillems Wesen und seine Worte und
seine Erscheinung, daß sie sich nicht halten konnte und ihm eines Tages
sagte: „Sage mir Guillen, wenn eine Dame Dir Liebe zeigte, würdest Du
wagen, sie wieder zu lieben?" Guillen, der wohl merkte, wie sie es meinte,
antwortete ganz unbefangen: „Gewiß, Herrin, wenn ich wüßte, daß ihr Be¬
nehmen aufrichtig sei." — „Bei Sanct Johann" — sagte die Dame — „Du
hast gut und nach Weise eines wackern Mannes geantwortet, aber jetzt will
ich Dich prüfen, ob Du zu erkennen vermagst, welches Benehmen treu gemeint
sei und welches nicht." Und Guillen sprach: „O Herrin, es geschehe, wie
es Euch gefällt!" Und er fing an nachzudenken und alsbald erregte die
Liebe in ihm widerstreitende Gefühle und es drangen in die Tiefe seines
Herzens die Gedanken, welche Liebe ihm sandte, und von nun an war er
ein treuer Diener der Liebe und begann artige und galante Strophen zu
dichten und gewinnende Lieder zu singen zur größten Freude seiner Dame.
Und die Liebe, welche ihren Dienern gnädig ist, wollte ihn belohnen. Sie
bezwang die Dame so ganz mit sehnsüchtigen Gedanken, daß sie Tag und
Nacht nicht aufhören konnte, über die Trefflichkeit, welche Guillen so oft
bewährt hatte, nachzusinnen. Eines Tags rief sie ihn zu sich und sprach zu
ihm: „Guillen, hast Du nun an meinem Benehmen gemerkt, ob es treu ge¬
meint sei oder trügerisch?" Und er erwiderte: „Herrin, so wahr mir Gott
helfe, seit der Stunde, wo ich Euer Diener wurde, ist kein Gedanke in mein
Herz gekommen, als daß Ihr die beste seid, die jemals geboren wurde und
die wahrhaftigste in Wort und Benehmen. So glaube ich und werde es
all mein Leben glauben." Die Dame aber antwortete: „Guillen, ich sage
Dir. so mir Gott gnädig sei, durch mich sollst Du nie getäuscht werden, noch
sollen Deine Gedanken unbelohnt bleiben." Sie öffnete ihre Arme und um¬
fing ihn sanft in der Kammer, wo beide beieinander saßen; und so begannen
sie ihre Liebschaft. Aber es dauerte nicht lange, daß die Angeber, die Gott
haßt, von ihrer Liebe zu reden ansingen, und aus den Canzonen, welche
Guillen machte, erriethen, daß er sich mit der Dame Margarita verstände.
Sie sprachen so lange hin und her, bis es zu den Ohren des Herrn Raimon
kam. Der wurde sehr betrübt und erzürnte gewaltig, sowohl weil er seinen
besten Freund verlieren sollte, als auch noch mehr über die Schmach seiner
Gattin. Und als Guillen in Begleitung blos eines Dieners auf die Jagd
mit dem Sperber gegangen war, ließ Herr Raimon nach ihm fragen, wo er
wäre. Ein Diener sagte ihm, er sei zur Jagd mit dem Sperber ausgezogen
und bezeichnete ihm die Richtung. Gleich wappnete sich Herr Raimon mit
einer verdeckten Rüstung, ließ seinen Renner vorführen und nahm seinen
Weg nach der Seite, wohin Guillen gegangen war; und er ritt so lange,
bis er ihn fand. Als Guillen ihn kommen sah, nahm es ihn Wunder und
sogleich schöpfte er schlimmen Verdacht. Doch er ging ihm entgegen und
sagte: „Seid willkommen, Herr; doch wie so ganz allein?" Herr Raimon
antwortete: „Ich suchte Euch, um mit Euch der Rede zu pflegen; habt Ihr
etwas erlegt?" — „Wenig, Herr, denn ich habe wenig gefunden, und wie
Ihr wißt, sagt das Sprichwort: wer wenig findet, kann nicht viel erlegen." —
„Lassen wir jetzt dies Gespräch," erwiderte Herr Raimon, „und antwortet
mir mit der Treue, welche Ihr mir schuldig seid, auf alles was ich Euch
fragen werde." „Bei Gott, Herr, wenn es gesagt werden kann, so will ich
es Euch sagen." — „Nein," sprach Raimon, „ich will nicht, daß Ihr Vorbe¬
halte macht, sondern Ihr sollt mir alles beantworten." — „So fragt denn,
Herr, wie Ihr beliebt," sprach Guillen, „ich will Euch die Wahrheit sagen."
Und Herr Raimon fragte: „Guillen, bei Gott und eurer Treue, habt Ihr
eine Dame, für die ihr singt und die Euch in Liebe gefesselt hält?" Guillen
antwortete: „Herr, wie sollte ich singen, wenn Liebe mich nicht bezwungen
hätte; wisset, daß ich ganz in ihrer Macht bin." Und Raimon sprach weiter:
„Wohl glaube ich Euch, denn wie könntet Ihr sonst so reizend singen, aber
jetzt möchte ich wissen, wenn es Euch gefällt, wer Eure Dame ist?" — „El,
Herr," rief Guillen aus, „bedenket, was Ihr mich fragt, und ob es recht ist,
seine Liebe zu verrathen." — Raimon erwiderte: „Ich verspreche, Euch zu
helfen nach allen Kräften." Und er redete so viel auf ihn ein, daß Guillen
endlich sagte: „So wisset denn, Herr, ich liebe die Schwester der Dame Mar-
garita, Eurer Gattin, und ich bitte Euch, daß Ihr mir helfet oder mir wenig'
fleus nicht entgegen seid." „Nehmt Handschlag und Treue," sagte Raimon,
„daß ich Euch nach all meinen Kräften beistehen werde." Er verpflichtete sich
ihm und fuhr dann fort: „Lasset uns jetzt gleich zu ihrer Wohnung gehen,
denn sie liegt in der Nähe." „Auch ich bitte darum," sprach Guillen, „bei
Gott." So nahmen sie ihren Weg nach dem Schlosse Lied. Und als sie
angekommen waren, wurden sie wohl aufgenommen von Herrn Robert i>on
Taraskon und seiner Gattin, der Dame Agnes, Schwester der Dame Mar-
garita. Und Raimon nahm die Dame Agnes bei der Hand und führte sie
in ein Ruhegemach und sie setzten sich auf ein Ruhebett. Und Herr Raimon
sprach: „Saget mir, Schwägerin, bei der Treue, die Ihr mir schuldig seid,
steht Ihr mit jemandem in einem Liebesverhältniß?" Und sie antwortete:
„Ja wohl, Herr!" Und er bat sie so lange, daß sie ihm zuletzt sagte, sie
liebe Guillen de Cabstaing. Dieses that sie, weil sie Guillen bekümmert
und nachdenklich gesehen hatte und wußte, daß er ihre Schwester liebe. Des¬
halb fürchtete sie, daß Raimon übel von Guillen denken möchte. Dieser war
über ihre Antwort sehr erfreut. Die Dame erzählte die ganze Sache ihrem
Gemahl und dieser fand, daß sie recht gehandelt habe und erlaubte ihr, alles
für Guillems Rettung zu thun und zu sagen. Die Dame rief darauf den
Guillen ganz allein in ihre Kammer und blieb mit ihm so lange, daß Rei-
mon dachte, sie gewähre ihm den Lohn der Liebe. Das gefiel ihm sehr wohl
und er begann zu denken, daß alles, was ihm hinterbracht war, Lüge sei
und arges Geschwätz. Nachdem nun die beiden wieder hervorgetreten waren,
wurde das Abendessen aufgetragen und sie aßen mit großer Fröhlich-
keit. Darauf ließ die Dame die Betten ihrer Gäste bereiten und zwar, um
Raimon zu täuschen, nahe bei ihrer Kammerthür. Am andern Morgen früh¬
stückten sie in Freuden auf dem Schlosse, nahmen freundlichen Abschied und
kehrten nach Roussillon zurück. Und sobald Raimon konnte, trennte er sich von
Guillen, ging zu seiner Gattin und erzählte ihr, was er von jenem und
ihrer Schwester gesehen. Darüber gerieth die Dame in große Betrübniß
und weinte die ganze Nacht hindurch. Am andern Morgen ließ sie Guillen
zu sich rufen, empfing ihn übel und nannte ihn einen Betrüger und Ver¬
räther. Aber Guillen bat sie um Gnade, da er ganz unschuldig sei an dem,
dessen sie ihn anklagte, und er entdeckte ihr alles, wie es stand, Wort für
Wort. Die Dame sandte nach ihrer Schwester und erfuhr auch durch sie,
daß Guillen ohne Schuld sei, und sie befahl ihm, daß er ein Gedicht machen
solle, worin er zeige, daß er keine andere Dame liebe, als sie allein. Darauf
dichtete er die Canzone, welche beginnt:
„Das süße Sinnen, das oft mir Liebe gibt."
Als aber Raimon das Lied hörte, welches Guillen auf seine Gattin
gemacht hatte, ließ er ihn zu einer Unterredung fern von dem Schlosse
entbieten, schlug-ihm das Haupt ab und legte es in eine Waidtasche.
Darauf riß er ihm das Herz aus dem Leibe und legte es zu dem Haupte.
Als er zum Schlosse zurückgekehrt war, ließ er das Herz rösten und auf die
Tafel seiner Gattin tragen. Und als sie es gegessen hatte, erhob er sich und
offenbarte ihr, daß das, was sie gegessen, das Herz des Guillen de Cabstaing
sei, und zeigte ihr sein Haupt und fragte sie, ob das Herz gut zu essen ge¬
wesen sei. Sie hörte, was er gesagt hatte, und erkannte das Haupt des
Herrn Guillen. Und sie antwortete ihm, es sei so gut gewesen und so
wohlschmeckend, daß ihr nie eine andere Speise und Trank den süßen Ge-
Schmack aus dem Munde nehmen solle, welchen das Herz Guillems darin
zurückgelassen hätte. Naimon lies auf sie ein mit dem Schwerte, aber sie
stürzte sich fliehend von einem Balkon und brach den Hals. Diese Unthat
wurde bekannt in ganz Catalonien und in allen Ländern des Königs von
Aragon. Und bei dem König Alfons und bei allen Baronen dieser Gegenden
war großer Jammer und Trauer über das Ende Guillems und der Dame
und daß Naimon sie so schmählich getödtet hatte. Und es verbanden sich
die Verwandten des Herrn Guillen und die Verwandten der Dame und alle
Liebenden, und bekriegten Naimon mit Feuer und Blut. Und König Alfons
von Aragon kam in jene Gegend als er ihren Tod erfuhr und nahm Nai¬
mon gefangen und verheerte ihm seine Burgen und Länder. Und er ließ
Guillen und die Dame in ein Grab legen vor der Thüre der Kirche zu
Perpignan. einem Dorf, das in der Ebene von Noussillon und Cerdagne
liegt und dem König von Aragon gehört. Und eine Zeit lang begingen
alle Ritter von Noussillon und Cerdagne und von Rinples und Peiralaide
und von Narbonnes ihr Jahresgedächtniß und alle treuen Liebenden baten
Gott für ihre Seelen. Und der König von Aragon nahm Naimon gefangen
und entsetzte ihn und ließ ihn in der Gefangenschaft sterben und gab alle
seine Besitzungen den Verwandten des Herrn Guillen und den Verwandten
der Dame, die durch ihn gestorben war. Und das Dorf, in dem die beiden
Liebenden begraben waren, hat den Namen Perpignan.
Wir besitzen über des Dichters Leben noch eine andere kürzere und ein¬
fachere Version, welche in manchen nicht unwesentlichen Punkten von der obi¬
gen abweicht. Sie weiß zunächst nichts von einem dienstlichen Verhältniß
Guillems zum Grafen von Noussillon, nennt ihn einen gerens eastellas,
einen vornehmen Burgherrn, den die Gattin Raimons, Sermonda, wie sie
hier heißt, zu ihrem Ritter erwählt. Nach einer langen glücklichen Liebeszeit
faßt endlich der getäuschte Gemahl Mißtrauen und sperrt nun die Dame
ohne weiteres in einen Thurm, wie er denn ein stolzer und böser Herr ge¬
nannt wird. Aus Kummer hierüber dichtet Guillen die Canzone „1,0 äous
eossire", „das süße Sinnen", und aus einer Stelle, die ebenfalls ausdrücklich
genannt wird und welche lautet: „Alles, was ich aus Furcht thue, müßt Ihr
aus gutem Glauben aufnehmen, auch wenn Ihr nicht gegenwärtig seid,"
erkennt Raimon, daß'die Canzone an seine Gattin gerichtet ist. Die Rache
des Beleidigten sowie seine Bestrafung und die ehrenvolle Bestattung der
Liebenden folgt in fast wörtlicher Uebereinstimmung; die Episode von dem
Schlosse Lied fehlt ganz. — Es war mir auf den ersten Blick ersichtlich, daß
die in beiden Lebensnachrichten angeführte Canzone, welche.uns übrigens
erhalten ist, und auf die ich im weitern Verlaufe zurückkommen werde,
zu der ausführlicheren Version besser oder eigentlich zu ihr allein paßt. Zu-
nächst ist. von einer Gefangenschaft der Dame darin gar" nicht die Rede, die
Canzone ist sogar dem Raimon selbst in den Schlußzeilen zugeeignet, was
ein äußerlich noch nicht getrübtes Verhältniß voraussetzt. Endlich mahnt der
Dichter in einer Strophe die Dame, dȧ nicht hohe Abkunft und Reichthum
sie verhindern solle, ihm ihre Gunst zu schenken, womit die Bezeichnung des
Guillen als eines vornehmen Burgherrn nicht wohl in Einklang zu bringen ist.
Vollends unerklärlich bleibt aber in der kürzern Erzählung, wie Raimon
aus der angeführten Stelle Verdacht geschöpft haben soll, seine Gemahlin sei
die Angebetete, was er ja übrigens nach derselben Version schon längst wußte
und wofür die Dame bereits im Thurme gefangen saß. — Wenn hier sich
Widersprüche jeder Art erheben, so stimmen dagegen alle Umstände mit
schlagender Genauigkeit zu der ausführlicheren Bearbeitung. Hier ist das
Verhältniß der drei Betheiligten scheinbar das beste, Guillems Stellung als
dienender Ritter rechtfertigt die Aeußerung in Bezug auf den hohen Rang
der Dame, und daß eine so deutliche Beziehung auf die ihm gespickte Co-
mödie, wie sie in jenen verfänglichen Zeilen des Gedichtes enthalten ist, das
kaum beschwichtigte Mißtrauen Naimons zur schrecklichen Gewißheit steigert,
kann unter den geschilderten Umständen durchaus nicht Wunder nehmen.
Dennoch halte ich die kürzere Lebensnachricht für die ältere und treuere.
Einmal schon wegen der größeren Kürze und Einfachheit; offenbar ist es
viel wahrscheinlicher anzunehmen, daß ein späterer Schriftsteller vielleicht
gerade an der Hand der Canzone die Erzählung des berühmten Guillen mit
eigener Phantasie ausschmückte, als daß man umgekehrt eine so amüsante,
so ganz im Geiste der Zeit gehaltene Episode, wie den Besuch auf dem
Schlosse Lied ohne Veranlassung sollte weggelassen haben. Die Wiedersprüche,
in welche die kürzere Version mit der chronologischen Bestimmung der Can¬
zone geräth, dürfen dabei nicht allzuhoch in Anschlag gebracht werden. Die
alten Lebensnachrichten lieben es, direkte Anlässe sür die Entstehung der Ge¬
dichte anzugeben, ohne es dabei mit der Uebereinstimmung aller Umstände
sehr genau zu nehmen. Unerklärt bliebe immerhin die Anspielung aus den
hohern Rang der Geliebten, aber auch diese ist nicht so beschaffen, daß ein
bescheidener Liebender, wie Guillen vorzugsweise erscheint, der ja übri¬
gens auch als selbständiger Burgherr dem großen Grafen Raimon an Glanz
und Reichthum nachstehen konnte, sie nicht hätte machen sollen. Der kürzere
Bericht hat offenbar auch dem Boceacio vorgelegen, welcher in der 39. No¬
velle des Decamerone den Vorfall mit blos veränderten Namen erzählt.
Auch bei ihm sind die beiden Ritter, Messer Guiglielmo Rossiglione und
Messer Guiglielmo Guartastagno, wie er sie nennt, zwei gleichgestellte Edle,
auch bei ihm ist die Episode auf dem Schlosse Lied. welche er sich, wäre sie
ihm bekannt gewesen, gewiß nicht hätte entgehen lassen, nicht zu finden.
An der wirklichen Existenz Guillems sowie an der historischen Treue
der alten Lebensnachricht in den wesentlichen Punkten ist übrigens ein Zweifel
durchaus nicht begründet. Ein Geschlecht der Cabstaing ist urkundlich nach¬
weisbar, und der erwähnte König von Aragon niemand anders, als der
vielgerühmte Dichter und Dichterfreund Alfons II., welcher von 1181 an die
Grafschaft Roussillon besaß. Dadurch wird zugleich der Zeitpunkt der Be¬
gebenheit als zwischen die Jahre 1181—1196 fallend, in welchem letzteren
Alfons starb, festgestellt. Schwierigkeiten, die aus geographischen Rücksichten
von älteren französischen Schriftstellern erhoben wurden, hat Diez glänzend
widerlegt.
Gegen die Annahme des Guillen als einer blos mythologischen Figur
würde schon die ausgedehnte Verbreitung seines Ruhmes unter den Zeitgenossen
sprechen. Außer den beiden mitgetheilten gibt es, wie Crescibeni erzählt,
noch eine dritte Biographie des Guillen in einer vaticanischen Handschrift.
Spätere Schriftsteller wissen viele schmückende Details anzugeben; die Lonlos
amourenx der ^carre ?Iore theilen sogar eine allerdings ziemlich geschmack-
und farblose Inschrift auf dem Grabstein der beiden Liebenden mit. Petrarca
erwähnt des Guillen de Cabstaing im Iriovto ä'amors unter den besten
provenzalischen Dichtern. Er stellt ihn mit dem Jaufre Rudel zusammen
dessen Tod im Dienste der Liebe ja auch deutsche Dichter verherrlicht haben,
und widmet beiden die Terzine: (Ziilnklö liuäel et'usu la vel^ e 'I i-czmo ete.
Historisch bedenklich ist in der Geschichte des Guillen nur der eigen¬
thümliche Umstand von einem gegessenen Herzen. Dieser selbe Zug findet
sich in mittelalterlichen Erzählungen mit verschiedenen Variationen häufig
wieder. Ich erinnere nur an die berühmte Geschichte Neynalds des Castellans
von Couch, worin ebenfalls das Herz des Liebhabers der Dame von Fajel
von ihrem beleidigten Gatten vorgesetzt wird. Auch er ist eine historisch
nachweisbare Persönlichkeit, und sein Tod bei der Belagerung von Aera um
1191 fällt der Zeit nach ungefähr mit dem Guillems zusammen. Der Prä¬
sident Fauchet, welcher in feinem 1S81 erschienenen R6euoil ac I'oijginv alö
la, lanKue et poeÄe ü-lmeaise die Erzählung vom Castellan von Coucy mit¬
theilt, bemerkt ausdrücklich, er wisse wohl, daß auch über einen provenzali¬
schen Trobador ein gleicher Bericht existire; „toute lois," fährt er fort,
vous puis ÄLSurer, que echte iustoire c>Le äans une Komas eliroMue, <mi
in'Äppgi'tiLnt öLcritv g.vaut 200 ans." — Auch der deutsche Dichter Conrad
von Würzburg kannte diese Begebenheit und hat sie in seiner Erzählung
„Von der Minne" bearbeitet. In dem „la^s ä'lMimres" essen zwölf Damen
unwissender Weise das Herz des Helden und die 62te der „vento uovello
anticus" enthält denselben eigenthümlich grauenhaften Umstand. Die Ver¬
muthung liegt nahe, daß hier eine sagenhafte, vielleicht mythologisch-symbo-
lische Erinnerung zu Grunde liegt, welche von den verschiedenen Nationen zur
Ausschmückung der Schicksale besonders volksthümlicher Helden verwandt wurde.
Eine solche Beziehung sagenhafter Begebenheiten auf historische Personen ist
durch unzählige Analogien auch aus dem deutschen Epos nachzuweisen. Man
denke nur an Dietrich von Bern, den König Etzel, Carl den Großen und
viele andere Helden, welche die zeitlich und räumlich entferntesten Thatsachen,
oft vermischt mit altheidnischen Ueberlieferungen wie in einen Brennpunkt
um ihren Namen versammelt haben.
Was aber auch immer von den Schicksalen unseres Dichters einer älteren
Sage oder einer späteren Ausschmückung angehören mag, seine Lebensge¬
schichte besonders in der weiteren mehr romanhaften Fassung läßt ein über-
laschendes Licht auf die ganze Denk- und Handlungsweise der galanten Pro-
venzalen in jener Zeit fallen. Die Idee von der unbeschränkten Macht freier
Liebe ist bis in die letzten Consequenzen durchgeführt, die Gräfin Margarita,
eine hochgestellte und, wie ausdrücklich gesagt wird, mit allen Tugenden ge¬
schmückte Frau, hält es nicht unter ihrer Würde, zu einer Liebschaft mit
ihrem Dienstmann in ziemlich unzweideutiger Weise selbst den ersten Anlaß
zu geben. Aber der Erzähler, und offenbar seine Zeit mit ihm, glaubt sie
durch einen Hinweis auf die alles bezwingende Macht der Liebe genügend
entschuldigt zu haben. Im Dienste dieser Liebe gelten denn auch alle Waffen.
Guillen zaudert keinen Augenblick, die Ehre einer ganz unbeteiligten Dame
durch eine Lüge in der gefährlichsten Weise bloszustellen, um so den Ver¬
dacht Raimons von der richtigen Spur abzulenken. Raimon selbst nimmt
keinen Anstand, ihm zu einem solchen Liebeshandel mit Rath und That bei-
«ustehen, welche Treulosigkeit ihm aber mit Zinsen heimbezahlt wird, denn
die Gräfin Agnes greift in voller Uebereinstimmung mit ihrem Gemahl zu den
geschilderten, nicht eben sehr würdigen, aber dafür um so erfolgreicheren
Mitteln, den Schwager hinters Licht zu führen. Das augenblickliche Durch¬
schauen der ganzen Sache läßt außerdem bei der Dame von Lied auf einen
durch häufige Erfahrungen geübten Blick in solchen Liebeshändeln schließen.
Nachdem endlich der langgetäuschte Gemahl die Intrigue durchschaut und
blutige Rache nimmt, da fällt es Niemandem ein, daß sein Zorn durch die
grausamsten Kränkungen an Liebe, Freundschaft und Ehre wenigstens einiger¬
maßen entschuldigt wird; jeder wackere Ritter und getreue Liebhaber hält es
für seine Pflicht, den rohen Mörder zu strafen und selbst der König von
Aragon eilt herbei, die beleidigte Minne zu sühnen. Zu dem Denkmal der
Liebenden wallfahrtet man wie zu Gräbern von Heiligen. /Wenn diese
wenig edle Auffassung der zartesten Verhältnisse unser moralisches wie ästhe¬
tisches Gefühl unangenehm berührt, so muß dagegen die reine Liebe, wie sie
in den Canzonen des Trobadors athmet, mit um so größerer Sympathie er«
füllen. Uns sind von seinen Gedichten nur sieben erhalten, aber selbst in
diesen geringen Resten spiegelt sich mit deutlichster Klarheit das Bild jener
bedingungslosen Hingabe, jener „Treue, die kein Wanken, der Freundschaft,
die nicht Zweifelsorge kennt", wie sie nur der wahren, tiefgefühlten Leiden¬
schaft eigen sind. Alles will er dulden von ihr und um sie, Alles mit stummer
Ergebung tragen, was ihn endlich zum ersehnten Ziele führen könnte; ja er
findet selbst, und dies ist ein in seinen Gedichten immer wiederholter Gedanke,
in Trübsal und Kränkung neue Freude, da er sie im Dienste der Liebe, in
ihrem Dienste empfangen durfte. Schon beim ersten Anblick hat sie ihn ganz
bezaubert, durch ein Lächeln, durch ein freundliches Wort ihm Sinn und
Denken genommen, ja er liebte sie schon bevor er sie gesehen und fühlt sich
glücklich in dem Bewußtsein, daß Gott ihn eigens zu ihrem Dienste er¬
schaffen habe. Ihr will er denn auch sein ganzes Leben weihen, nur von
ihr sollen seine Lieder singen und den Preis der Angebeteten aller Welt ver¬
künden. Den Namen der Geliebten verschweigt er dabei sorgsam nach Sitte
der Trobadors und ergeht sich darüber nur zuweilen in mystischen Andeutun¬
gen. So sagt er einmal: „Und wenn Ihr wollt, daß ich Euch ihren Namen
sage, keinen Taubenflügel werdet Ihr finden, auf dem er nicht ohne Fehler
geschrieben stände."
Inwiefern der Name Margarita oder Sermonda auf den Flügeln der
zarten Liebesboten sich finde, ist mir nicht bekannt und möchte die Beant¬
wortung dieser Frage dem Ornithologen eher als dem Philologen möglich sein.
Vielleicht verstanden die bösen Lauscher und Kläffer, über welche der Dichter
sich so bitter beklagt, besser, das Räthsel zu seinem Verderben zu lösen. Auf
ein Leben, das so ganz der Liebe geweiht war, folgte der Tod in ihrem
Dienste wie ein befriedigender, man möchte sagen naturgemäßer Abschluß,
und selbst die grauenvolle Mahlzeit wird gewissermaßen zum Symbol sür die
Wiedervereinigung zweier Herzen nach dem Tode, welche im Leben so fest an¬
einander gehangen.
Des Dichters Werke und des Liebenden Schicksale fanden beredten Nach¬
hall unter seinen Zeitgenossen, vielleicht daß noch jetzt, nach fast siebenhun¬
dert Jahren, ein theilnehmendes Auge auf diese Zeilen fällt, welche dem An¬
denken des edlen Trobadors geweiht sind.
Ich gebe zum Schluß zwei der Canzonen Guillems, welche eines weite¬
ren Commentars nicht bedürfen, nach meiner eigenen Übertragung*). Friedrich
Diez, der große Gelehrte, welchem Deutschland die grundlegenden Werke
über romanische Sprachwissenschaft verdankte, hat leider keines der Gedichte
Guillems vollständig in deutscher Sprache wiedergegeben.
Junius' Briefe. Deutsch von Arnold Rüge. 3. Aufl. Leipzig und Heidelberg,
C. F. Winter'sche Verlagshandlung.
Fast genau 100 Jahre liegt die Epoche der englischen Geschichte hinter
uns, in welcher der Name eines Unbekannten die Losung des merkwürdigsten
und fruchtbarsten journalistischen Kampfes wurde.
Georg III. regierte, eine kleinliche Natur mit despotischen Neigungen,
eifrig bestrebt, die Macht des königlichen Willens zu heben und die Ver¬
fassung, wo sie diesem Zwecke hinderlich war, zu untergraben. Ein verachtetes
Ministerium, an dessen Spitze der Herzog von Grafton stand, unterstützte
ihn, blinde Parteirücksicht besetzte die einflußreichen Stellen mit unfähigen
und schlechten Creaturen, und das Unterhaus erwies sich als gefügiges Werk¬
zeug. Im Lande gährte es; wüste Demagogen machten sich die Stimmung
zu nutze, und widergesetzliche Verfolgung sorgte dafür, daß ihre Sache als
Sache des Volks erschien. Nach außen kein Ansehen, im innern Reactions¬
versuche aller Art und schamlose Korruption, — der vielbewunderte englische
Verfassungsbau geriet!) in ungeahntes Schwanken.
Da brachte die damalige londoner Zeitung „et,6 xublio aävertiser" am
21. Januar 1769 einen Artikel, „Junius" unterzeichnet, der wie ein Blitz¬
strahl einschlug: die Kühnheit des Angriffs wurde nur vom Talent des An¬
greifenden übertroffen. Der Verfasser unterzog die einzelnen Mitglieder des
Ministeriums einer schneidenden Kritik, lauter scharf umrissene Silhouetten
nicht eben schmeichelhafter Art- Zu ihrem Unglück finden die Mächtigen
immer dienstfertige Vertheidiger; der Kriegsminister war nicht übler mitge¬
nommen worden, als seine Collegen, aber Sir William Draper glaubte für
seinen Vorgesetzten eine besondere Lanze brechen zu müssen; mit offenem Visir
ritt er in die Schranken des Public Advertiser: „Junius und ähnliche
Schriftsteller wie er, verursachen alles das Unheil, welches sie beklagen, indem
sie die besten Charaktere des Königreichs fälschlich und höflich verunglimpfen."
Zum Vertheidiger sollte sich nur aufwerfen, wer selber makellos dasteht;
Junius, herausgefordert, blieb den Gegenhieb nicht schuldig: „Ich bewundere
den Muth, womit Sie Ihren Namen dem Publikum anvertraut haben."
Noch ein paar Streiche herüber und hinüber, und mit ruhmlosen Wunden
bedeckt mußte Sir William vom Kampfplatz schleichen; Sr. Lordschaft selber
ward bange vor ihrem Vertheidiger. Junius aber, dessen Kraft in diesem
Vorpostenscharmützel gestählt war, schrieb den ersten einer langen Reihe von
- Briefen an Se. Gnaden den Herzog von Grafton.
Sir William Drapers durchlöcherter Schild hatte die Gegner stutzig ge¬
macht. Mr. Edward Weston wagt sich zwar noch mit einer Flugschrift für
den Premier ins Feuer, aber eine kurze Abfertigung genügt, ihn zum Schweigen
zu bringen. Und nun bergen sich die erbosten Freunde des Ministeriums
hinter vorsichtige Anonymität oder suchen gegen unliebsame Enthüllungen in
erborgten Namen Schutz. In allen Journalen tobt der Kampf; die Abend¬
post von Se. James bringt Artikel, die Montagszeitung, selbst die Spalten
des Public Advertiser öffnen sich großmüthig gegnerischen Auslassungen; hier
nennt sich einer „Old Roll", dort ein Anderer „Motesens", schüchtern erhebt
eine Lady ihre Stimme; keck tritt ein Vierter als „Amel-Junius" auf, und
ein paar Andere hüllen sich als „Scävola" und „Zeno" in antike Gewänder;
dann betitelt sich einer als „Rechtsgelehrter" und ein Folgender, pathetischer,
als „Anwalt in der Sache des Volks". Auch ein Geistlicher eilt in die Arena:
Se. Ehrwürden Mr. Horne hat den Muth, sich zu nennen, und — Sir
William Draper findet einen Genossen seiner Unsterblichkeit: „Auch die ab¬
scheulichsten Privatlaster haben nicht Bedeutung genug, die Censur der Presse
auf sich zu ziehen, wenn sie nicht mit der Macht, dem Gemeinwesen ein be¬
deutendes Unheil zuzufügen, vereinigt sind. Mr. Horne's Lage steht mit
seinen Absichten in keinem Verhältniß." Und während Junius so nach rechts
und links die Streiche parirt und verdoppelt zurückgiebt, richtet er gegen den
Herzog von Grafton Schlag aus Schlag und hat noch Muse, die in Gift
getauchten Pfeile zwischendrein auf andere Opfer zu schleudern. Die Tones
schäumen vor Wuth, gegen den Drucker des Public Advertiser strengt die
Regierung Prozesse an, und die gefügigen Mitglieder des Unterhauses don¬
nern gegen den furchtbaren Unbekannten. Das Volk von England aber jubelt,
jeder neue Brief wird mit atemloser Spannung erwartet, zahlreiche Nach¬
drucke sorgen, daß die alten Briefe nicht in Vergessenheit gerathen, und die
City von London sendet Deputationen an den König, deren Sprache bezeugt,
daß sie Junius nicht erfolglos gelesen haben. Die erregte Stimmung dieses
unerhörten Zeitungskampfes findet weit über die Grenzen Englands hinaus
Widerhall.
Die erste Veranlassung zu Junius' Auftreten in der Presse war ein
Eingriff des Ministeriums in die Wahlfreiheit des englischen Volkes gewesen.
Ein ziemlich berüchtigter Pamphletist, John Wilkes, war in Middleser gewählt
worden, aber das Unterhaus hatte, der Regierung zu Liebe, widerrechtlich die
Wahl cassirt, dann sogar an Stelle des zweimal Wiedergewählten den Kan¬
didaten der Minorität als Abgeordneten proclamirt. .Sie haben das ganze
Land wider Sich vereinigt in Einer großen constitutionellen Angelegenheit,
von deren Entscheidung es unbedingt abhängt, ob wir als ein freies Volk
fortbestehen follen", ruft Junius dem Herzog von Grafton zu. Ohne Spin'
pathien für Wilkes faßt er die Schädigung der Landesrechte ins Auge und
bekämpft den gefährlichen Präcedenzfall. Das ist etwa im Anfange des
Kampfes; und nun heftet sich der Verfolger an die Sohlen seines Opfers,
unerbittlich, grausam, ihm Tag und Nacht nicht Ruhe gönnend; keine Waffe
verschmäht er, die Sarcasmus oder Zorn ihm reicht; den Schmutz des Privat¬
lebens deckt er so schonungslos auf wie die schmählichen Uebergriffe der amt¬
lichen Autorität; nie ist Haß und Verachtung schärfer und vernichtender ge¬
predigt worden. „Daß Sie absichtlich Unrecht thun, das ist es nicht, sondern
daß Sie nie aus Versehen recht thun." Und ferner: „Der Charakter der be¬
kannten Vorfahren mancher Leute macht es ihrem Nachkommen möglich, aufs
äußerste lasterhaft zu sein, ohne zu entarten. Die Vorfahren Ew. Gnaden
zum Beispiel hinterließen keine niederschlagenden Proben von Tugend selbst
nicht für ihre rechtmäßige Nachkommenschaft; und Sie können mit Vergnügen
auf einen berühmten Stammbaum zurückblicken, in welchem die Heraldik keine
einzige gute Eigenschaft aufgezeichnet hat, um Ihnen Schimpf oder Schande
zu machen." Und ein ander Mal: „Mein ganzes Leben lang werd' ich ihn
verfolgen und die lebte Kraft meines Talentes anstrengen, um die sterbliche
Infamie seines Lebens zu retten und unsterblich zu machen." Was Wunder,
daß, wie glaubhaft überliefert worden, der Herzog vor jedem neuen Briefe
zitterte und durch die Lecture tagelang unfähig zu Geschäften wurde. Mag
doch auch der Herzog von Bedford gezittert haben, daß ein zweiter Brief an
ihn erscheinen und gleich dem ersten beginnen könnte: „Mylord, Sie sind es
so wenig gewohnt, von dem Publikum Zeichen der Achtung und Anerkennung
zu empfangen, daß, wenn mir in den folgenden Zeilen eine Artigkeit oder ein
Ausdruck des Beifalls entfallen sollte, ich fürchte, Sie möchten dies als einen
Spott über Ihren bekannten Charakter und vielleicht als eine Beschimpfung
Ihres Verstandes ansehn." Ist es denkbar, daß die geübteste Rothhaut ele¬
ganter zu scalpiren vermöchte?
In der Widmung an das englische Volk, die er später den in Buchform
gesammelten Briefen vorsetzte, schreibt Junius: „Ich darf nicht zweifeln, daß
Ihr einmüthig die Wahlfreiheit behaupten und Euer ausschließliches Recht,
Eure Repräsentanten zu wählen, geltend machen werdet. Aber es sind andre
Fragen erhoben worden, über die Eure Entscheidung ebenso deutlich und ein¬
müthig sein sollte. Laßt es in Eure Seele geschrieben sein, laßt es Eure
Kinder sich einprägen, daß die Freiheit der Presse das Palladium aller bür¬
gerlichen, politischen und religiösen Rechte des Engländers ist, und das Recht
der Jurys, in allen denkbaren Fällen einen allgemeinen Ausspruch über
Schuld oder Unschuld zu thun, ein wesentlicher Theil Eurer Verfassung ist,
der durch die Richter nicht controllirt oder beschränkt, noch durch die Gesetz¬
geber in irgend einer Art in Frage gestellt werden darf." Der Vertheidigung
der Wahlfreiheit gelten all die Briefe, die sich mit der Middlesexwcchl und
John Wilkes Ausschließung beschäftigen; für die Preßfreiheit und das Recht
der Jury treten speciell die gegen Lord Mansfield gerichteten in die Schran¬
ken. Der Drucker des Public Advertiser war, wie schon erwähnt, einer tyran¬
nischen Verfolgung ausgesetzt worden; und um leichter die erwünschte Be¬
urtheilung zu erzielen, hatte der Lord Oberrichter den absurden Versuch ge¬
macht, zwei Grundrechte mit einem Schlag zu gefährden, den Spruch der Jury
nur auf das Factum des Drucks und der Publication zu beschränken, die
Frage nach dem verbrecherischen Inhalt aber ihr völlig zu entziehen. „Mich
dauert die menschliche Natur, wenn ich einen so begabten Mann, wie Sie,
zu einer so gemeinen Thätigkeit heruntersinken sehe," ruft Junius Lord
Mansfield zu. Aber das sind doch nur Arabesken des Stils; ausgerüstet
mit der umfassendsten Verfassungs- und Gesetzeskenntniß und jede einzelne
Bestimmung in concretester Form verwerthend legt er die Sophismen des
Lord Oberrichters mit schneidender Beweiskraft blos, daß vor dem schweren
Geschütz juridischer Gründe die dialectischer Spitzfindigkeiten verstummen.
So sehen wir ihn allzeit auf der Wacht, wo ein Recht gebeugt oder gebro¬
chen werden soll- Mit gleichem Antheil -begleitet er die städtischen Wahlen
der City wie die Debatten des Parlaments oder die Beziehungen der Re¬
gierung zum Auslande. Und nichts entgeht seinem spähenden Blick: jeden
Stellenschacher bringt er zur Kunde des englischen Volks, jedem zügel¬
losen Exceß streift er die scheinbare Zufälligkeit ab, keine Ungesetzlichkeit
kann hoffen, vor ihm unbemerkt und ungeahndet durchzuschlüpfen. Die
lebendig gewordene englische Verfassung, — das sind die Juniusbriefe. Und
wenn er in dem Meisterstück seiner Feder, in der von einem erhabenen Pa¬
thos der Freiheitsliebe getragenen „Adresse an den König" gleichsam aus
dem Rahmen dieser Verfassung heraustritt und der Fiction zuwider, daß
der König kein Unrecht thun könne, mit den drohenden Worten schließt:
„Der Fürst, welcher das Betragen der Stuarts nachahmt, sollte durch ihr
Beispiel gewarnt werden, und während er sich mit der Sicherheit seines An¬
spruchs aus die Krone brüstet, sollte er sich erinnern: wie sie durch eine
Revolution gewonnen wurde, so kann sie durch eine andere verloren gehn,"
— spricht er da nicht auch im Geiste derselben englischen Geschichte, die ihn
ein andermal auf Karl I. hinweisen und fortfahren läßt: „Ich bin kein
Freund der Lehre von den Präcedenzien ohne Recht; dennoch sagen uns die
Rechtsgelehrten oft: was irgend einmal gethan sei, das könne gesetzlich auch
noch einmal geschehen?"
Allerlei Anklagen sind gegen Junius erhoben worden, und manche ge¬
wiß nicht ohne Grund. Man hat ihn beschuldigt, daß er unaufhörlich die
Leidenschaften des Volks entflammt habe; aber da das Parlament bestechlich
und dienstbereit, war die Presse der letzte Zufluchtsort der Freiheit. Man
hat ihm die boshafte Schadenfreunde zum Vorwurf gemacht, mit der er das
schmutzige Privatleben seiner Gegner blosstellte; aber gegen unbegründete
Verläumdungen hätten die Gerichte Schutz geboten; ist also für das ab¬
schreckende Gemälde der Maler verantwortlich oder die ihm gesessen haben?
Man hat ferner darauf hingewiesen, daß er über Besteuerung der amerika¬
nischen Colonien und Parlamentsreform, über Standesvorrechte und Matro¬
senpresse mannigfach in den beschränkten Vorurtheilen seiner Zeit und seiner
Landsleute wurzelt; aber daß er wie ein Engländer dachte, daraus gerade
schöpfte er ja seine Kraft, — er sprach nur aus, was die meisten empfanden.
Wie es aber auch mit diesen Anschuldigungen stehe, seine Agitationslust, seine
Neigung zur Bosheit, die Schranken seiner Freisinnigkeit zugegeben, — über
die unvergleichliche Kraft und Schärfe, die mustergiltige Vornehmheit des
Stils dieser Briefe ist kein Unterschied der Meinung. Und unangetastet ist
ebenso die Uneigennützigkeit der Gesinnung: grausam und ungerecht mochte
diese Feder-zuweilen sein, käuflich war sie nie. „Fürs Geld zu schreiben,
ohne für den Druck etwas zu nehmen; für den Ruf zu schreiben und un¬
bekannt zu sein; die Intriguen einer Faction zu unterstützen und als ein
gefährlicher Beistand von jeder Partei im Königreich zurückgewiesen zu wer¬
den, sind Widersprüche, welche der Minister vereinigen muß, bevor ich meinen
Credit beim Publikum verscherze. Ich kann aus dem Dienste ausscheiden,
aber es wäre absurd, mich in Verdacht zu haben, daß ich davon laufe." Das
sind Thatsachen, gegen die kein Einspruch erhoben worden: für sich selber hat
Junius nichts gesucht, nicht Gewinn, nicht Amt und Ansehen, nicht einmal
Ruhm und Nachruhm, — ein namenloser Kämpfer im Dienst des gemeinen
Wohls, mit seinem Schild das Erbgut des englischen Volkes, seine freie Ver¬
fassung deckend. —- „Wäre ich Ihr persönlicher Feind," schreibt er einmal an
Sir William Blackstone, „ich würde mit boshafter Freude bei jenen großen
und nützlichen Eigenschaften verweilen, die Sie ohne Zweifel besitzen, und
wodurch Sie einst erwarben, was Sie nicht erhalten konnten, die Achtung
und die Anerkennung, die Sie verloren haben, und die Tugenden, um deret-
willen das Volk Sie achtete; ich würde alle Ihre Ehrenverluste herzählen:
nun ich aber keine Privatrache zu befriedigen habe, halte ich es für hinrei¬
chend, daß ich meine Meinung über Ihr öffentliches Betragen abgegeben
habe, und überlasse die Strafe, die es verdient, Ihren vier Wänden und
Ihrem Gewissen." Und selbst dem Herzog von Grafton ruft er zu: „Wenn
ich Ihr persönlicher Feind wäre, könnte ich Sie bemitleiden und Ihnen ver¬
zeihen.... Aber in Ihrem Verhältniß zu unserm Vaterlande haben Sie keinen
Anspruch auf Nachsicht; und wäre ich den Eingebungen meiner Gesinnung
gefolgt, ich hätte Ihnen niemals auch nur einen Augenblick Ruhe gegönnt."
Und dieselbe Feder, die in diesen dreijährigen Kämpfen fast nur in
Hohn und Haß und Zorn getaucht erscheint, die auf den „gnädigen Fürsten"
und den allmächtigen Minister alle Bitterkeiten eines empörten Gemüthes
häuft, wie weiß sie im Dienst derselben Sache anzuerkennen und zu loben!
So, wenn Junius an Lord Cambden schreibt, so, wenn er die Größe Lord
Chatams feiert und dann mit seinem Geschick abbrechend hinzufügt: „Ich bin
nicht geübt in der Sprache des Lobes. Dieser Lobspruch ist mir entrissen
worden, aber er wird ihm gut stehen, denn er wurde theuer erkauft."
Wer war Junius? Am 21. Januar 1769 wurde sein erster Brief ge¬
schrieben, vom 21. Januar 1772 datirt sein letzter. Wie ein Meteor war er
aufgetaucht, und ebenso verschwand er. Niemand hat ihn gekannt, Niemandem
hat er sich offenbart: „Ich bin der einzige Vertraute meines Geheimnisses,
und es soll mit mir begraben werden." „Gerade seine UnPersönlichkeit
ist es, die ich so sehr beklage", jammert Sir William Draper. Der Ausdruck
mag acceptirt werden: ein Unpersönliches ist uns Junius geworden. Bände
sind geschrieben worden über die räthselhafte Autorschaft. Aber gleichgültig
doch, wer der Verfasser ist, mag er Sir Philipp Francis oder-sonstwie heißen,
— es ist die freie Presse selber, die aus den Junius-Briefen spricht. Und
der große Unbekannte hatte ein Recht zu schreiben: „Wenn einst Könige und
Minister vergessen sind, wenn die Kraft und Richtung persönlicher Satire
nicht mehr verstanden wird und die Maßregeln nur noch in ihren entferntesten
Folgen fühlbar sind, wird man, hoffe ich, in diesem Buche noch immer Prin¬
zipien finden, die werth sind auf die Nachwelt überzugehen."
Die Wahrheit dieser Worte hat sich längst erfüllt. Die Juniusbriefe
zählen zum klassischen Hausschatz der englischen Literatur, und mehr und mehr
hat die meisterhafte Uebertragung, die nun schon in dritter Auflage uns vor¬
liegt, dazu mitgewirkt, sie immer weiteren Kreisen in unserem Vaterlande zu¬
zuführen. Niemand, der am politischen Leben des Volkes regen Theil nimmt,
wird sie ohne Genuß, Niemand ohne Nutzen lesen. Sie enthalten goldene
Lehren für Negierende und Negierte. Sie warnen davor, die freie Stimme
der Volksvertretung zu verkümmern, da die Gewalt des Angriffs nur um so
bedrohlicher wird, je enger das Gebiet ist, worauf man ihn beschränkt. Sie
lehren, daß ein gesund gefügter Staat durch Opposition nicht zu Grunde geht,
sondern reiner und kräftiger aus den Kämpfen hervorwächst. Sie lehren aber
auch, daß selbst das Schärfste und Bielersee, wenn es von gründlicher Kenntniß
der Dinge getragen ist und seine Kraft aus der Sache selbst schöpft, sich
formvoll sagen läßt. Und sie bieten in trüber Zeit einen unerschöpflichen Trost:
wie Viele haben, als der Verfassungsconflict in Preußen die öffentlichen Ver¬
hältnisse vergiftete, zaghaft gemeint, daß kaum noch Rettung daraus zu finden;
und wir standen doch im Beginn unseres parlamentarischen Lebens! Das
englische Verfassungsrecht hat, noch nach halbtausendjährigem Bestand, ganz
andere Stürme zu bestehen gehabt, und hat sie überwunden. In allen Tagen
großer parlamentarischer Kämpfe wird Junius wieder lebendig werden, jeden¬
falls aber die Lehre, die den Sinn seines Namens bildet: daß niemals Zeit
ist. am Vaterlande zu verzweifeln.
„ääisu ^1tra>vLtäät, ton sejour ne me xls.1t pg.8." Diese Worte hat
Carl XII. mit einem Diamantring in eines der Fenster von Schloß Altran-
stcidt geritzt und dadurch bekundet, daß ihm jede Ruhe, auch die auf dem Gipfel¬
punkte seines Glücks und Ruhms unerträglich sei, daß sein unstäter Geist
ihn rastlos dem Verhängniß entgegentrieb,, dem er verfallen sollte. Von
einer der spärlichen Ruhestunden, welche sich dieser merkwürdige Fürst — der zu
Schwedens Unglück „nur Krieger, nicht Staatsmann, nur Soldat, nicht Feld¬
herr" war — gönnte, liefert die nachstehende Schilderung Bericht, welche aus
dem Tagebuche eines angesehenen bremer Handelsherrn stammt, der die leip¬
ziger Messe im I. 1707 besuchte und „die königliche Majestät zu.Schweden"
als größte Merkwürdigkeit derselben zu Gesicht zu bekommen suchte. Ganz im
Geist jener verkommenen Zeit ist von der Feindseligkeit, mit welcher Carl
das besiegte Sachsen behandelte, mit keinem Wort die Rede, es wird des
Krieges, der den Schwedenkönig nach Deutschland führte, nicht einmal ge¬
dacht, sondern die Majestät als solche angestaunt und bewundert. Ziemlich
prägnant ist der Gegensatz zwischen Carl und August dem Starken, der aus
dieser harmlosen Beschreibung hervortritt: hier die finstere Heldengestalt,
die, in ihre großen Pläne versenkt, der Außenwelt kaum Beachtung schenkt,
dort der leichtfertige Genußmensch, der inmitten schwerer politischer Schläge
die Laune nicht verliert. Von beiden Monarchen berichtet unser ehrsamer
Kaufherr mit gleicher Ehrfurcht und ohne jede Spur einer Kritik ihrer Hand¬
lungsweise, die trotz ihrer Verschiedenheit jedem der beiden Volker, über
welche diese Fürsten walteten, verhängnißvoll werden sollte.
„Wir kamen am 16. Mai 1707 Mittags in Leipzig gesund und wohl
an und nahmen, unser Quartier in der Frau Doctor B. Hause. — Es
war eben Messe und kamen immer mehr Kaufleute an. Die schwedischen
Truppen, welche erst in der Vorstadt gelegen, waren wegen der Masse Men¬
schen wo anders hin marschirt, man sah aber täglich eine große Menge Offi¬
ziers und Soldaten aus und eingehen. In der Pleißenburg lag nur eine
Compagnie von denen Gustav (?), welche sehr travailliret aussahen. Den
Sonntag waren wir nebst Monsieur von Resten und anderen Landsleuten
hinaus nach dem zwei Stunden von Leipzig gelegenen Ort Nanstedt ge¬
fahren, allwo Jhro Königl. Majestät von Schweden ihr Hauptquartier
hatten und gingen da des Vormittags in die Predigt, welche der Herr Super¬
intendent Dr. Meyer aus Bremen damals hielt. Wir hatten da Gelegen¬
heit, den König nebst allen seinen bei sich habenden Generalen und-Räthen
uns recht zu betrachten. So lange als vor der Predigt gesungen und der
Text abgelesen wird, stehet der König, nachdem aber setzet er sich und leget
den Kopf vorn nieder. Wie nach der Predigt gebetet wird, lieget er wie
jeder andere auf den Knieen, so daß er sich in allen Stücken sehr devot er¬
zeiget. Der Herzog von Mecklenburg und Prinz von Württemberg, wie auch
der Graf Piper, Reinschild, Stromberg und andere begleiteten den König
hernach nach seinem Cabinet. Eine Stunde hernach wurde zur Tafel geblasen,
und wie nun ein jeder begierig wurde, den König auch speisen zu sehen, so
war es ein schrecklich Gedränge von Menschen, sodaß die schwedische Wache,
so vor dem Taselgemach stund, genöthigt war vor sich zu schlagen, denn das
Gemach war schon so voll Zuschauer, daß fast keiner mehr hinein konnte
und niemand hatte die Geduld, so lange zu warten, bis die Einen hinein und
die Andern wieder heraus gelassen wurden. Ich kam nebst noch einigen
Landsleuten, durch Hilfe eines Freundes aus Leipzig umgeschlagen hinein,
inzwischen Andere, die solches auch Probiren wollten, mit Schlägen abgewiesen
wurden. Das Logement war gar nicht hübsch aufgezieret und nichts anderes
darin zu sehen, als eine Partie Carabiners, Pauken und Trompeten. Des
Königs Cabinet war gleich nebenan und stunden zwei von der Garde davor.
Nachdem wir ein wenig im Gemach gewesen, kam der König mit großen
Geschwindschritten herein, begleitet vom Herzog von Mecklenburg, dem Prin¬
zen von Württemberg, General Neinschild, Stromberg und noch einigen ande¬
ren Offiziers mehr. Nachdem durch einen schwedischen Pagen das Gebet ge¬
sprochen war, setzte sich ein jeder an seinem Platz nieder. Hinter dem König
stund ein Kammerherr, und dem Könige gegenüber der Tranchirer- Ihre
Königl. Majestät sahen die meiste Zeit vor sich nieder und waren voller Ge¬
danken, thaten aber eine gute Mahlzeit, doch nahmen sie nicht mehr als
einen Becher voll Bier und das zu fünf bis sechs Malen. Die anderen
Herren redeten zwar zuweilen miteinander, der König aber nicht. Unter den
Pagen und Laquaien, die hinter dem Tisch aufwarteten, war auch ein kleiner
polnischer Knabe mit einem geschorenen Kopf und ein Finger breitem Haar
über dem Kopf. Selber war sehr brutal und schlug mit seinem Prügel alle
Leute, so ihm nahe kamen, ohne Unterschied und wollte oder durfte ihm
keiner was thun. Hernach observirte ich, daß wenn man ihm die Hand gab,
so war er stille. Zu diesem Knaben soll der König von Schweden große
Liebe hegen und ungerne sehen, daß man selbem etwas zu Leid thue. Wie
der König noch in Polen war und mit einer kleinen Suite durch einen Wald
Me, wird er von einigen hundert Polen umringet und nur durch Hilfe eines
hurtiger Pferdes, welches ihm, nachdem das seine gefallen, einer seiner Tra¬
banten überläßt, entfliehet er der Gefahr. Seine bei sich gehabte Begleitung
wird bis auf nur einige massacrirt. Unterdeß nun der König im Fliehen
begriffen, kömmt oberwähnter kleiner Knabe zu ihm und läuft, den Steig¬
bügel haltend, den ganzen Tag mit, bis der König wieder bei einer schwe¬
dischen Partei anlangte und Ordre ertheilte, den Knaben hinter einem Reiter
aufsitzen zu lassen, der aber kaum auf dem Pferde, sich auf dieses stellet und
so in vollem Gallop mit forteilet. Dem Könige gefiel solches über die
Maßen wohl und verspürte in dem wilden Knaben etwas Absonderliches,
sodaß er ihn bald sehr lieb gewann; ich aber befürchte, daß der Junge ein¬
mal übel anlaufen wird. Selbst die Generals respectirt er' nicht und diese
dürsen ihm öffentlich nichts thun; allein des Abends, wenn es dunkel ist,
machen sich zuweilen mehrere zusammen und schmieren ihn brav aus. Er hat
einmal dem jungen Prinzen von Würtemberg das Bein entzwei geschlagen,
und wie er darauf von einem Trabanten tüchtig ausgeprügelt wird, so läuft
er heulend und schreiend zum König und klaget diesem, daß man ihn so
tractiret, worüber der König sehr ergrimmt und aus dem Cabinet stürzend
fraget: wer solches gethan? Es ist aber noch ein Glück, daß der König vor-
die Thür in das Zimmer kommt, wo eben der Prinz von Würtemberg ver¬
bunden wird und fraget: was da vorgehe? Nachdem er vernommen, daß
solches der Junge gethan, hat er Ordre gegeben, daß man ihn einige Stun¬
den bastoniren sollte.
Nachdem der König gespeiset und wieder in seinem Cabinet war, fielen
die Trabanten und andere Offiziers auf die Tafel wie die Mücken nieder
und speiseten alles rasch auf. Zwo Stunden nach der Mahlzeit wurde wieder
zur Kirche geblasen und ging der König nebst allen seinen Räthen, Generals,
Offiziers und Trabanten wieder zur Kirche. Wie diese aus war, dachten
wir, der König würde nach seiner täglichen Manier ausreiten, allein warum
es diesmal nicht geschehen, weiß ich nicht. Wir fuhren darauf, nachdem wir
ein wenig gegessen, wieder nach Leipzig zurück.
Ich besuchte mit meinen Freunden auch bisweilen den Appel'schen Gar¬
ten, welcher in Wahrheit recht lustig und zierlich angelegt ist, mit vielen
Alleen, schönen Statuen, schönen Fontänen und raren Gewässern. Der Her-
zog von Marlborough, als er vor einigen Wochen in Leipzig gewesen, hat
sein Quartier in diesem genommen. Man findet auch immer viel vornehme
Leute darin spatzieren, unter Anderen habe ich etliche Male den kaiserlichen
Ambassadeur Grafen v, Zinzendorf und den hannoverschen v. Oberg da
gesehen. Der Bose'sche Garten ist auch besehenswerth, namentlich die Oran¬
gerie, welche was Rares und Kostbares ist.
Der König August von Polen war auch die Messe über nebst seinen
besten Garden und Trabanten, welche alle prächtig montirt waren, präsent
und logirte wie gewöhnlich bei Herrn Appel am Markt. Er speiste dann
und wann öffentlich, sodaß man in die Zimmer hineingehen und zusehen
konnte, wie ich auch das Glück hatte, ihn tafeln zu sehen. Er war über alle
Maßen freundlich und sah einen jedweden sehr gnädig an, führte sich sehr
propre in Kleidern und war mit seinen Hofleuten sehr familiär und freund¬
lich. Er ist einigemale vom König von Schweden in Leipzig auf ein halbes
Stündchen besucht worden und hat auch dem König in seinem Quartier
wieder die Visite gegeben.
Man erzählt sich vom Könige von Polen allerlei schnurrige Dinge.
So fiel es ihm vor zwei Jahren ein, mit einem nur geringen Gefolge die
leipziger Messe zu besuchen und möglichst unerkannt auf der Reise zu bleiben.
Als er vor Leipzig kommt, bricht sein Wagen und er muß aussteigen. Da
kommt aber ein Bauer auf einem kleinen Pferd angeritten, wobei sich der
König kurz resolviret, den Bauer anhält, ihm ein gutes Stück Geld anbietet
und sich nach abgeschlossenen Handel auf die Mähre setzt. Ganz allein
sprengt er nun in vollem Galopp nach Leipzig hinein und niemand er-
kannte in dem Reiter den König und so kam er unerkannt vor das Appel-
sche Haus.
Des Herrn Bürgermeisters Roman Haus ist das schönste und köstlichste
in ganz Leipzig; darnach das des Herrn Grafen von Bose. Dann die
Börse, das Rathhaus, Tuchhaus, Auerbachs Hof, wo die besten Galanterien
zu sehen, Joachimsthal, wo die Lerchen mit einem guten Trunk Wein
bei Musique der Bergleute gut schmecken, dann das Accise- und Posthaus.
Die Universität ist die stärkste in ganz Deutschland, besonders von den Ju¬
risten ' besucht.
Den 8. May fuhren die meisten Handelsleute wieder nach Bremen
zurück. Dann folgte auch der Herr Oheim v. Post, ich aber blieb, nachdem
die Cöthen'schen Freunde gebeten, mit ihnen zu gehen. Der Herr Vetter
Weigel hatte auch zu dem Ende seinen polnischen Klepper in Leipzig ge¬
lassen, um den 9. nebst noch etlichen anderen Herren nach Bernburg zu
reisen, welches wir auch thaten und um 3 Uhr Nachmittags aus Leipzig
ritten und um 7 Uhr in Landsberg ankamen. Unterwegs hatten, wir ein
starkes Gewitter und Platzregen gehabt. Es marschirte auch unterwegs eine
Compagnie schwedischer Reiter vorbei, worunter zwei zu Fuß waren und
zurückblieben und, halb voll seiend, uns eine kleine Angst einjagten, indessen
sie hinterher kamen und brav schalten, auch die Flinten schon anlegten, um
loszudrücken. Indem wir aber die Pferde ein bischen anlaufen ließen, mu߬
ten sie zurückbleiben.
Der Wirth in Landsberg war ein sehr possirlicher Mann und hatte viele
lustige Einfälle. Um 8 Uhr Morgens ritten wir wieder von dannen und
kamen gegen 7 Uhr in Zörbig,. einer fürstl. Sachs. merseburgischen Residenz
an, darinnen auch schwedische Soldaten lagen; von da auf Radegast, ein
fürstl. anhält-dessauisches Leibgeding der verwittweten Fürstin. Zwischen Zör¬
big und letzterem Orte steht eine Jnseription:
Du wirst, mein Reitender, es noch am besten wissen,
Wie dir bisher so sehr vor diesem Damm gegraut,
In dem sich manches Pferd zu todt arbeiten müssen,
Als dieser Ort noch war grundlos und umgebaut.
Jetzt wird er dir nicht mehr der Reise Last vergrößern,
Weil in zweijährger Zeit mit Steinen diese Bahn
Durch unermüd'ten Fleiß und Kosten lassen bessern
Der Mehrer seines Lands, der theure Christian."
— Mit so nachahmungswürdiger Hingebung an das monarchische Prinzip
beobachtete vor anderthalbhundert Jahren ein braver deutscher Republikaner
die außerordentlichen Erscheinungen, welche ihm auf seiner Reise begegneten.
Die große Politik ist Heuer gegen ihre Gewohnheit mit dem Beginne des
Februar in die Ferien gegangen. Die Völker und Regierungen haben ihre
Aufmerksamkeit von den auswärtigen auf die inneren Fragen gerichtet und
ruhen für einen Augenblick von der fieberischer Aufregung, mit welcher sie
einander wechselseitig beobachtend herausgefordert hatten. Im Westen sind
es politische, im Osten wirthschaftliche und sociale Sorgen, welche die Ge¬
müther beschäftigen. Ueber den gesammten Nordosten Europas hat sich ein
Nothstand verbreitet, wie er seit zwanzig Jahren nicht schlimmer dagewesen
ist; während im Nordd. Bunde tausende und abertausende von Thalern sür
Ostpreußen gesammelt werden und doch noch nichts von der Linderung des
bittersten Elends verlautet, nimmt die Hungersnoth in den verschiedensten
Theilen Rußlands immer größere Proportionen an und die Spalten derselben
Journale, welche noch vor wenigen Wochen von nichts als kriegerischen
Herausforderungen gegen den Westen erfüllt waren, beginnen der schwierigen
wirthschaftlichen Lage der großen östlichen Monarchie aufmerksamere Theil¬
nahme zu widmen. Indeß die offizielle und offiziöse Presse Petersburgs
bemüht ist, die aus der feindlichen Haltung Rußlands in der orientalischen
Frage gezogenen Schlüsse auf eine Erkaltung der russisch-preußischen Be¬
ziehungen Lügen zu strafen und die Leichtfertigkeit zu beklagen, mit welcher
die Moskaner Nationalpartei dem Gerede von einer Jsolirung Rußlands Vor¬
schub geleistet hatte, häufen sich die Nachrichten über die furchtbaren Folgen
des Mißwachses im Herbst 1867. Nicht nur in Finnland und in den Preußen
benachbarten Theilen Litthauens, auch in den centralen Provinzen Twer,
Tambow, Njäsan, Tula und Orel und an den eisigen Ufern der Dwina¬
mündung sind die vorhandenen Getreidevorräthe beinahe vollständig auf¬
gezehrt und fragen Hunderttausende von Menschen, womit sie sich selbst, ihre
Kinder und ihr Vieh satt machen, wo die Mittel zur Bestreitung der Aus¬
saat des kommenden Frühjahrs herkommen sollen. Zum erstenmal seit Aus¬
hebung der Leibeigenschaft tauchen Stimmen auf, welche offen eingestehen,
daß die wirthschaftlichen Folgen des berühmten Gesetzes vom 19. Febr. 1861
keineswegs verwunden sind und daß die Abnahme der Production mit der
der ländlichen Bevölkerung ertheilten Freiheit in verhängnißvollen Zusam¬
menhange steht. Der des herrschaftlichen Drucks ledig gewordene Bauer
begnügt sich mit einem Minimum von Arbeit, macht von seiner Freiheit den
vornehmlichsten Gebrauch in den Schenken und läßt in vielen Fällen einen
beträchtlichen Bruchtheil seiner Aecker unbestellt. Der Gutsbesitzer ist überall,
wo seine ehemaligen Leibeigenen ihre Frohncontracte in Geldpachtverträge
verwandelten, aus die Anmiethung von Tagelöhnern angewiesen, die, wenn
überhaupt, nur zu unerschwinglichen hohen Preisen zu haben sind und
bei dem Mangel wirksamer Zucht und Controlle den Haupttheil der über¬
nommenen Verpflichtungen unerfüllt lassen. Die Selbstverwaltung der
von allen gutsherrlichen Einflüssen emancipirten Gemeinden führt viel¬
fach Anarchie und Gesetzlosigkeit im Gefolge, zumal der Eifer des jungen
liberalen Adels für Uebernahme der Friedensrichterposten abgekühlt,->und ein
Theil derselben bereits in die Hände gewissenloser Bureaukraten der alten Schule
gefallen ist. Von mehr wie eitler Seite her war seit Jahr und Tag über
Zerrüttung der ländlichen Polizei, Verfall der Wege und Communications-
mittel, Zuchtlosigkeit, Liederlichkeit und Trägheit des Landvolks geklagt wor-
den; selbst die Moskaner Zeitung hatte diesen Beschwerden ihr Ohr nicht
ganz verschließen können. Aber erst seit die Ungunst der Natur das durch
den Unverstand der Menschen verschuldete Uebel über sein gewöhnliches Maß
hinaus vergrößert hat, zeigt die russische Nationalpartei Neigung und Fähig¬
keit, auf die Wurzel des Unheils zurückzugehen und die Unfehlbarkeit jenes
Systems, nach Welchem die Verlegung des politischen Gerichts in die unteren
Classen eine Panacee gegen alle überkommenen Uebel sein sollte, ernsthafterer
Prüfung zu unterziehen. Sehr bedeutsam ist in dieser Beziehung ein neuer¬
dings von dem landständischen Ausschuß des Gouvernement Twer veröffent¬
lichter Bericht über die Ursachen der Abnahme der Produktion, die Vermin¬
derung der bebauten Territorien und des Viehstandes in der gedachten Pro¬
vinz und deren Umgebung, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß
(wie ein uns aus Petersburg zugegangener Bericht wissen will) in den Peters¬
burger Regierungskreisen von dem Erlaß einer Vorschrift die Rede sei, welche
die Bauern zur Bestellung eines Theils ihrer Grundstücke förmlich verpflich¬
ten soll. Ob das neuerdings in Se. Petersburg niedergesetzte Comite zur
Abhilfe des furchtbaren Elends in Litthauen, den Nord- und Centralprovinzen
im Stande sein wird, der diesjährigen Hungersnoth wirksam zu begegnen,
kann bei den ungeheuern Entfernungen und dem immer noch primären Zu¬
stande der Eommunicationsmittel Rußlands zweifelhaft erscheinen; tritt aber
wirklich eine dauernde Reaction gegen den leichtfertigen Optimismus ein,
mit welchem die moskauer Demokratie die wirthschaftliche Lage .beurtheilt
und einer Ochlokratie in die Hände gearbeitet hatte, welcher die Aufgabe
zugedacht worden war, den Einfluß der aufgeklärten Classen und der europäi¬
schen Bildung mit Hilfe des Gemeindebesitzes zu brechen, — so ist der Vor¬
theil, den der Nothstand des laufenden Winters gebracht, ohne Zweifel grö¬
ßer als der Schaden, welchen derselbe angerichtet hat. Wie tiefgewurzelt der
Glaube an die Unfehlbarkeit der demokratischen Modephrasen noch gegenwär¬
tig in gewissen Kreisen der russischen Gesellschaft ist und wie dringend es
einer Reaction gegen denselben bedarf, hat sich noch in den letzten Tagen in
eclatantester Weise gezeigt. — Bekanntlich ist die Justiz in dem größten Theile
Rußlands bereits reorganisirt worden und trägt die Regierung sich mit der
Absicht, auch die Rechtspflege im Königreich Polen umzugestalten. Das Co¬
mite, welches mit der Ausarbeitung der bezüglichen Vorlagen betraut ist,
wird von der demokratischen Presse mit Warnungen bestürmt, jede Theil¬
nahme der höhern Classen an der Ausübung der Justiz nach Kräften aus¬
zuschließen und die ländliche Rechtspflege nicht Friedensrichtern, sondern von
den Bauerngemeinden gewählten Gemeindegerichten zu übertragen und da¬
durch das demokratische Prinzip zu stärken. Und dieselbe Presse, welche mit
Irrlehren so ausschweifender Art der Lösung aller staatlichen und sittlichen
Bande entgegengesteuerte, systematisch eine politische und wirthschaftliche Be¬
griffsverwirrung über die Ausgabe der ländlichen Bevölkerung herbeigeführt
hat, die ohne Beispiel in der neuesten Geschichte ist, diese selbe Presse nimmt
keinen Anstand, die Verantwortlichkeit für die Ungunst der Natur und den
Unverstand der ländlichen Arbeiter auf die Regierung zu wälzen!
Freilich haben wir ein nur sehr beschränktes Recht, überwiese Thorheiten
des russischen Parteifancitismus vornehm abzuurtheilen: gibt es doch auch in
Deutschland eine zahlreiche, in der Presse mehrfach vertretene Partei, welche
den Lenkern des preußischen Staats ohne weiteres alle Schuld an dem
Nothstand in Ostpreußen zumißt und die eigentliche Ursache desselben in dem
Kriege von 1866 und der Erhöhung der preußischen Wehrkraft sucht. Die
Neigung, in jeder Kalamität, mag sie politischer, socialer oder wirthschaft-
licher Natur sein, alles Heil von der Regierung zu erwarten und diese für
alles, was geschieht und nicht geschieht, verantwortlich zu machen, ist eines der
charakteristischsten Symptome dafür, daß man auch bei uns die Periode des
staatlichen Bevormundungsbedürfnisses noch lange nicht überwunden hat und
daß der Besitz constitutioneller Institutionen schlechterdings keinen Ersatz bietet
für den Mangel communaler und provinzialer Selbstverwaltung. Im vor¬
liegenden Fall hat sich übrigens gezeigt, daß der Glaube an die Allgewalt'und
Allverantwortlichkeit des Staats ebenso bei gewissen Regierungsorganen, wie
bei den radicalen Politikern der „Zukunft" zu Hause ist; die officiöse berliner
Presse hat geflissentlich die Thatsache des Nothstands zu leugnen oder doch
zu verkleinern versucht und sich gerade so geberdet, als ob das Vorhanden¬
sein eines solchen in der That zu Vorwürfen gegen die Regierung berechtigen
würde. Und um die Begriffsverwirrung vollends zu steigern, ist von der¬
selben Seite her behauptet worden, der vielfach und mit Recht erhobene An¬
spruch auf staatliche Beihilfe zur Linderung des ostpreußischen Elends sei,
insoweit er von den Liberalen erhoben worden, eine Inconsequenz, da der Li¬
beralismus jede Betheiligung des Staats an socialen und wirthschaftlichen
Fragen prinzipiell verwerfe und nur das Prinzip der Selbsthilfe und der
natürlichen Ausgleichung zulasse. Glücklicherweise haben diese Ausgeburten
doktrinärer Rechthaberei den gesunden Sinn des Volks nicht zu trüben ver¬
mocht; die verschiedenen Staaten und Bevölkerungsgruppen des gesammten
Deutschland wetteifern in opferfreudigem Sinn für die Unterstützung der
schwergeprüften Provinz an der preußischen Ostgrenze. Niemand kommt es
in den Sinn, die Hungersnoth an der Ostsee zur Basis wirthschaftlicher oder
politischer Experimente zu machen und an den Grundpfeilern staatlichen Le¬
bens rütteln zu wollen. Allen, die den Verhältnissen näher stehen, ist frei-
lich bekannt, daß der Regierung mangelhafte Aufmerksamkeit für die Ernte¬
verhältnisse in Ostpreußen um so weniger zum Vorwurf gemacht werden
kann, als selbst die Mehrzahl der mit Land und Leuten genau bekannten Grund¬
besitzer noch im vorigen October des Glaubens war, der magere Ausfall der
Ernte werde zur Deckung der dringendsten Bedürfnisse ausreichen; und konnte
doch auch erst nach Beendigung der Drescharbeiten eine Uebersicht über den ganzen
Umfang der Differenz zwischen den vorhandenen Vorräthen und dem obwal»
deuten Bedürfniß gewonnen werden. Es hat des ganzen Ungeschicks der
offiziösen Journalisten und gewisser reaktionärer Beamtenkreise bedurft, um
eine Verkennung der gegebenen Verhältnisse, wie sie wenigstens vorübergehend
in Cours gesetzt worden war, herbeizuführen und den Feinden Preußens zu
den unsinnigen Parallelen Veranlassung zu geben, welche den Mangel im
deutschen Norden und den Ueberfluß in Oestreich auf die Verschiedenheit der
Regierungssysteme hüben und drüben zurückführten!
Die Sorge um die Nothleidenden in Ostpreußen und die Verhandlungen
über die Abfindung der Depossedirten und den hannoverischen Provinzialfonds
haben so sehr im Vordergrunde des preußischen öffentlichen Lebens gestanden,
daß sich Presse und Publikum nur vorübergehend mit den Beziehungen zum
deutschen Süden und zu Frankreich beschäftigt und den offiziellen Versiche¬
rungen, daß die letzteren nichts zu wünschen übrig ließen, bereitwillig Glauben
geschenkt haben. Selbst das Ableben des verdienstvollsten Vorkämpfers der
deutschen Sache jenseit des Main, des badischen Staats- und Finanzministers
Mathy, der den hervorragendsten Antheil an dem Zustandekommen der
Zoll- und Allicmceverträge gehabt hat und dessen Ausbleiben der Bundesrath
beim Zollparlament schmerzlich genug empfinden wird, ist nicht im Stande
gewesen, die Versenkung in die Sorgen des Augenblicks zu unterbrechen und
die Beschäftigung mit der süddeutschen Frage in Fluß zu bringen. In gewissen
Kreisen ist man gar so weit gegangen, aus den Schwierigkeiten, welche sich der
Organisation im Norden entgegengestellt haben, auf die momentane Unlös-
barkeit der im Süden harrenden Aufgabe und den Mangel genügender Ar¬
beitskräfte für dieselbe Schlüsse zu ziehen. So wenig wir im Stande sind,
den Glauben an die Möglichkeit längerer Fortdauer der süddeutschen Pro¬
visorien zu theilen, so klar uns zu Tage liegt, daß es die Rücksicht auf den
Süden ist, welche die Bethätigung der vollen Bundesautorität auf die
Regierungen der kleinen Bundesstaaten hemmt, und so unwahrscheinlich es
aussieht, daß die ausgegebene Losung: „Erst Bayern, dann Baden" aufrecht
erhalten werden wird — wir können uns nur des Ernsts und der Gewissen¬
haftigkeit freuen, mit welchem von Berlin aus auf den Revers der Medaille
hingewiesen und mit jenem Optimismus gebrochen wird, der bis in den
vorigen Sommer hinein dem Wahn huldigte, die Überschreitung der Main¬
linie werde sich von selbst machen. Die richtige Einsicht in die wahre Sach¬
lage und ihre inneren Hemmnisse scheint in demselben Maße zuzunehmen, in
welchem die Befürchtungen vor einer französischen Einmischung in die deutschen
Dinge in den Hintergrund tritt; war es doch bequem genug gewesen, immer
wieder diese vorzuschieben, statt einzugestehen, daß in Wahrheit der Mangel
guten Willens im Süden und eines gehörigen Ueberschusses an Organisations¬
kräften im Norden die Herstellung der Brücke über den Main verzögerten!
Wie in Rußland und Deutschland, so ist es auch in Frankreich während
der letzten Wochen auf diplomatischem Gebiet still geblieben und nur von
inneren Fragen die Rede gewesen. Weder der Übertritt der hannoverischen
Flüchtlinge auf französisches Gebiet, noch die Depesche, welche Menabrea der
kaiserlichen Regierung wegen ihrer Duldung der reactionären Umtriebe, die
von Rom aus gegen das italienische Königreich inscenirt werden, wenigstens
indirect Vorwürfe macht, haben es vermocht, das Volk von Paris in dem
Eifer zu stören, mit welchem dieses den Verhandlungen über das neue Pre߬
gesetz folgte. Diese Verhandlungen haben freilich das Bild meiner parlamen¬
tarischen Misere enthüllt, welche durch den Glanz der oppositionellen Reden
nur in ein helleres Licht gestellt worden ist. Es hat der vollen Energie der
Regierung bedurft, damit die servile Majorität des gesetzgebenden Körpers
sich ein Gesetz abzwingen ließ, welches die Presse von dem unerträglichen
Druck administrativer und polizeilicher Willkür befreien sollte, und mehr wie
zweifelhaft erscheint es, daß der „gute Eindruck", den die „liberale" Haltung
des kaiserlichen Cabinets nach den Zeitungsberichten gemacht haben soll, hin¬
reichen werde, den Ekel zu bewältigen, welchen die Erbärmlichkeit der Volks¬
vertretung der französischen Nation eingeflößt haben muß. Deputirte, welche
sich durch die Regierung dazu zwingen lassen, ein Volksrecht wiederherzustellen,
das Frankreich bereits vor 80 Jahren erobert hatte, Senatoren, in deren
Reihen sich nur vier wirkliche Anhänger der Preßfreiheit finden und die von
ihren Collegen mit dem Namen „les yuatre und6eitles" belegt werden, kann
eine Nation, die auf ihre eigene Würde hält, nimmermehr für ihre Vertreter
ansehen. Zustände, die eine Nationalrepräsentation so vollständig in ihr
Gegentheil zu verwandeln im Stande waren, müssen die französische Selbst¬
achtung untergraben und können sich auf die Dauer nicht behaupten.
Eine schlechte Regierung ist leichter zu ertragen, als eine Verfassung,
welche das Volk vor seinem eigenen Spiegelbilde zurückschrecken läßt. Aus
'diesem Grunde können wir an ein verbessertes Verhältniß zwischen Frankreich
und dem zweiten Kaiserthum nicht glauben und scheint uns die Alternative
„Krieg oder innere Freiheit" in ihrer ganzen Gefährlichkeit für Deutschland
fortzubestehen, mag immerhin im Augenblick nicht an Krieg gedacht und die
Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Preußen von dem Tuilerieneabinet
ernstlich gewünscht werden. Die Ehre desselben ist durch das ZeugniH, wel¬
ches die Freunde und Hauptstützen des Empire sich durch ihr Verhalten zum
Preßgesetz ausgestellt haben, in den Äugender französischen Unzufriedenen
empfindlicher compromittirt worden, als es je durch kaiserliche oder ministerielle
Mißgriffe geschehen konnte.
„Um Petersburg herum liegt ein weiter Raum, den man gewöhnlich
Rußland nennt". — Dieses boshafte Wort eines „vormärzlichen" russischen
Schriftstellers enthält die Quintessenz der Vorstellungen, welche sich ein gro¬
ßer Theil der Bewohner Westeuropas noch heute von dem großen Reich des
Ostens macht, das hinter den ominösen Schlagbäumen von Wirballen oder
Tauroggen seinen Anfang nimmt. Was jenseit dieser von Kosaken gehüteten
schwarz-gelb-weißen Pfähle liegt, bildet selbst für einen großen Theil der
Deutschen, welche sich rühmen, am besten unter allen Völkern unseres Welt¬
theils Bescheid zu wissen, eine ununterscheidbare Masse von Ländern und
Nationen, nach denen zu fragen der Mühe kaum verlohnt: Moskau — Pe¬
tersburg — das ehemalige Polen — allenfalls noch Kurland — diese Na¬
men hat man in der Schule gelernt, sie bilden die Oasen innerhalb der
Wüste, welche man sich unter dem Namen „Rußland" denkt und mit ihnen
verbinden sich unklare Vorstellungen von weiten, sclavenbewohnten Ebenen,
aus deren undurchdringlichem Nebel Bajonette und Kuppeln griechischer
Kirchen blitzen. In früherer Zeit war es anders. Als noch nicht rasende
Eilzüge, sondern schwerfällige Post- und Diligencewagen den Reisenden in
fünftägiger Fahrt von Tauroggen über schauten, Mitau, Riga, Dorpat und
Narwa nach Petersburg führten, hatte der aufmerksame Beobachter Zeit und
Gelegenheit, wahrzunehmen, daß es eine ganze Anzahl kleiner, von einander
scharf unterschiedener Welten sei, die er zu durchwandern habe, ehe er an das
Newaufer kam, und daß die Bezeichnung „Rußland", welche er aus der
Heimath mitgenommen, auf keine derselben recht paßte. Hatte der Reisende
irgend Augen und Ohren für ethnographische Unterschiede, so konnte er
inne werden, daß es drei verschiedene Völkergebiete waren, die an seinem
Auge vorüberzogen und daß sich, bevor er die Vorstädte Petersburgs berührt,
in keinem derselben Anzeichen echtrussischen Lebens entdecken ließen. Hier
waren es Polen und Litthauer, dort Deutsche und Letten, weiter nach Nor¬
den schwarzröckige Esthen, welche ihm begegneten; die erste Tagereise führte
ihn an katholischen Kirchen und Kalvarienbergen vorüber, dann reiste er
Tage lang durch Länder, von deren Kirchthürmen der lutherische Hahn treu¬
herzig hinabschaute, und erst wenn er zwischen Narwa und der alten Tataren¬
feste Jwangorod die reißende Narowa überschritten hatte, wurden die Kuppeln
byzantinischer Tempel und die zweimal durchbrochenen griechischen Kreuze
vorherrschend und fand er endlich jene rothhemdigen, vollbärtigen russischen
Gestalten vor, mit denen seine freigebige Phantasie alles Land der unerme߬
lichen sarmatischen Ebenen bevölkert hatte.
Von einem dieser auf der Grenzscheide occidentalen und slavisch-orienta¬
lischen Lebens liegenden Culturgebiete, dem die drei Ostseeprovinzen Liv-,
Esth- und Kurland umfassenden baltisch-deutschen, haben die „Grenzboten"
jüngst (1867, IV) ausführlich berichtet, um die Erinnerung an die einstige
Gemeinschaft Deutschlands mit der versprengten nordischen Colonie wachzu¬
rufen und an derselben die unbesiegbare Zähigkeit deutscher Art nachzuweisen.
Zwischen der Südgrenze Kurlands und der äußersten Nordostmark des preu¬
ßischen Staats liegt ein breiter Landstrich, von den Enkeln der Samogitier
(Samaiten, Schanden) und der über diese herrschenden Polen bewohnt, der
das weite deutsche Colonisationsgebiet, welches sich von den sumpfigen Nie¬
derungen der Weichselmündung bis zum felsigen Ufer des finnischen Meer¬
busens erstreckt, gewaltsam durchschneidet und wesentlich dazu beigetragen
hat, daß die noch am Ende des Is. Jahrhunderts ihrer Vollendung nahe
gebrachte Herrschaft unseres Volkes über das baltische Meer ein Traum ge¬
blieben ist. Von dem östlichsten Ausläufer dieses Landes, dem sog. polnischen
Livland, welches heute Russen und Polen, die einen im Namen des Nationalitäts¬
prinzips, die andern in dem stolzen Bewußtsein, Träger seiner Cultur gewesen
zu sein, in Anspruch nehmen, soll w den nachstehenden Blättern ein flüchtiges
Bild entworfen werden. Auch an seinen Boden knüpft sich ein Stück deutscher Ge¬
schichte, auch hier ist der römisch-deutsche Kaiser einst Herr gewesen, aber nur müh¬
sam lassen sich diese Trümmer deutscher Vergangenheit aus dem Schutt, der sie
bedeckt, herausgraben. Orientiren wir uns zuvörderst über seine Grenzen und
die Bevölkerungsverhältnisse, welche für seine Zukunft bestimmend sein werden.
Das ehemalige Großfürstenthum Litthauen, welches die heutigen Gouver¬
nements Grodno, Kowno, Wilna, Minsk, Witepsk umfaßt, zerfiel zu polni¬
scher Zeit in die drei Landschaften Litthauen (Woyewodschaften Wilna und
Troll), litthauisch Reußen (Woyewodschaften Schwarzrußland, Weißrußland,
Mcisclaw, Witepsk, Smolensk, Polozk und polnisch Livland) und Samo-
gitien. Zwei dieser Provinzen, das ehemalige Samogitien und polnisch
Livland waren dem Besitz des deutschen Ordens entrissen worden, die erstere
beim Beginn des fünfzehnten, die letztere im siebzehnten Jahrhundert.
Während die Dura sonst die äußerste Nordgrenze der polnischen Herr¬
schaft bildete, und es den Polen ebenso wenig wie den alten Litthauern ge-
klugen wollte, auch nur die schmalen, langgestreckten Bisthümer Kurland
und Semgallen zu überfluthen und sich dadurch einen Weg an die Ostsee
oder den rigaschen Meerbusen zu bahnen, waren die vier östlichen Voigteien
des alten Livland Dünaburg, Rohleder, Lützen und Marienhausen, nach Be¬
endigung des polnisch-schwedischen Erbfolgekrieges durch den Frieden von
Oliva (1660) an Polen abgetreten und in den folgenden hundert Jahren pol¬
nischer Herrschaft beinahe vollständig polonisirt und katholisirt worden. Am
13> Januar 1773 „im Namen der einen und untheilbaren heiligen Dreieinig¬
keit" mit Nußland verbunden, bildet diese etwa 280 >ü Meilen große, von ,
zweimalhunderttausend Menschen bewohnte, von den Russen „Jnflandija" ge¬
nannte Landschaft heute einen Theil des Gouvernements Witepsk und hat in
dieser Eigenschaft an allen Geschicken des ehemaligen Polen treulichen An¬
theil genommen. Dieser vergessene Winkel, der seit Jahrhunderten von der
Heerstraße der Cultur abliegt, in dem es keine Städte von irgend welcher
Bedeutung gibt, in welchem keine der um seine Herrschaft ringenden Nationen,
weder die deutsche, noch die polnische oder russische jemals dazu gelangt ist,
dauernden und wahrhaft civilisatorischen Einfluß zu erlangen, und dem das
traurige Loos zu Theil geworden, plötzlich von der höheren in eine niedere
Entwickelungsstufe herabgezerrt zu werden, bildet ein ethnographisches und
culturgeschichtliches Curiosum, wie es — nicht eben zum Schaden der Mensch¬
heit — einzig in seiner Art ist. Im Westen an den ärmsten und zurück¬
gebliebensten Theil Livlands grenzend, im Süden dem halb polonisirten curi-
schen Oberlande benachbart, nördlich von dem russischen Gouvernement Pleskau
(Pskow), östlich von Witepsk umschlossen, bietet dieses Land eine Musterkarte
verschiedener Völkerschaften, welche sämmtlich durch ihre traurigsten Exemplare
vertreten sind. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ein Theil des livlän-
dischen Ordensstaats, nahm „Instand" durch Jahrhunderte an der Entwicke¬
lung baltisch-deutschen Lebens den vollständigsten Antheil. Seine lettischen
Bewohner mußten seit dem 12. Jahrhundert den Druck der auf ihren
weiter westlich wohnenden Landsleuten ruhenden Leibeigenschaft theilen;
eine Reihe stolzer Burgen, deren ursprünglich deutsche Namen sich noch heute
aus der polnischen Verstümmelung erkennen lassen, bildeten die Sitze der
Ordensvögte, Aebte und Vasallen, welche über dem Lande walteten, und
unter denen die im I. 1277 angelegte Dünaburg die vornehmste war. Auf den
weiten, mit dunkeln Tannenwäldern bedeckten Ebenen dieses Landes wurde man¬
cher blutige Strauß gegen die von Osten andrängenden Russen und Litthauer
ausgefochten, die diese nur schwach bevölkerten, größerer Städte entbehren¬
den östlichen Voigteien mit Vorliebe zum Angriffspunkt wählten. Von den
Hauptstädten der deutschen Gesittung weitabliegend zählten die Flecken Ma¬
rienhausen, Lützen und Dünaburg nur spärliche deutsche Bürger und ihre
lettischen Anwohner wurden von den Einflüssen germanischer Bildung un¬
gleich weniger berührt, als die Stammesgenossen an der Dünamündung oder
der Aa. Früh an unbedingten Gehorsam gegen den Willen ihrer stolzen
Beherrscher gewöhnt, waren sie im 13. Jahrhundert wenigstens dem Namen
nach 'katholische Christen, im Zeitalter der Reformation Lutheraner geworden.
Dann kamen die blutigen Zeiten des russischen Einfalls und des polnisch¬
schwedischen Erbfolgekrieges, der den zu allen Zeiten höchst bescheidenen
Wohlstand des Landes vernichtete und alle Bande der Zucht und Gesittung,
welche die wenigen, in diese Einöden versprengten lutherischen Geistlichen
»um ihre Pfarrkinder geschlungen hatten, plötzlich auflösten.
Als der Krieg beendet war, wurde das Land den Polen übergeben:
während Gustav Adolph dem westlichen Livland die Segnungen protestantischer
Entwicklung erschloß, die Leibeigenschaft durch strenge Gesetze gegen die adlige
Willkür eingeschränkt, der livländische Grund und Boden katastrire und ein
geordnetes Kirchen und Schulwesen geschaffen wurde, das sich bis heute er¬
halten hat und dem das Lettenvolk seine gesammte sittliche und intellec-
tuelle Cultur schuldet, verfolgten die polnischen Beherrscher „Jnslands" nur
das eine Ziel vollständiger Ausrottung des protestantisch-deutschen Wesens,
welches hier ohnehin kaum Wurzel geschlagen hatte. Harte Staroste und hoch-
müthige Woyewoden zogen die in den Wirren des Krieges schlaff gewordenen
Zügel der Leibeigenschaft aufs Neue an und zwängten die unglücklichen Letten
in jene Stufe der Thierheit herab, welche in Litthauen und Polen für den
Normalzustand des Bauern galt, während jesuitische Arglist die protestan¬
tischen Kirchen zerstörte und das apathische Landvolk in den Schoß der allein¬
seligmachenden zurückführte. — Auf ihren Edelsitzen zerstreut, durch den
Jammer des Kriegselends verwildert, von keinem Bürgerthum unterstützt
und getragen, waren die deutschen Barone außer Stande, dem Andrang des
polnisch-katholischen Wesens wirksamen Widerstand zu leisten: nach einem
halben Jahrhundert waren sie zu polnischen Pans geworden, die sich für die
zügellose Junkerfreiheit der königlichen Republik begeisterten, — von den
Landboten und Castellanen Lithauens und Samogitiens nur noch durch
den deutschen Klang ihrer Namen zu unterscheiden. Die Geschlechter der
Borg, Syberg, Plater, Paulin-Rosenschild u. f. w. sind seit zwei Jahrhun¬
derten in den polnischen Adel übergegangen, sie halten bis heute treu zur
polnischen Sache, und die bald hundertjährige russische Herrschaft über pol¬
nisch Livland hat nicht vermocht, den Einfluß des polnischen Elements
zu brechen und diesen durch russischen zu ersetzen. Nur mühsam läßt sich
aus den Namen der Ortschaften dieses Landes auf den Ursprung derselben
schließen; aus Rohleder ist Rscziza, aus Lützen Lutzin, aus Warkland Wark-
lä.my, aus Drissen Dryzä.my geworden und selbst die unverändert gebliebe-
nen deutschen Namen Dünaburg und Marienhausen werden mit polnischer
Betonung Dur^burch und Marjengause ausgesprochen. An den Aufständen
von 1831 und 1863 haben die „Ausländer" nach Kräften Theil genommen
und es dadurch selbst verschuldet, daß sie das harte Schicksal, welches die
Murawjew und Kaufmann Litthauen bereiteten, mittragen mußten. Polnisch
Livland gehört zum Gouv. Witepsk und hat demgemäß den Belagerungs¬
zustand, die militärische Dictatur der Kreiscommandeure, das harte Ab¬
lösungsgesetz und die unerschwinglichen Contributionen von 1863, 64 und
65 dulden müssen. Gleich den Weißrussen und Litthauern wurden auch
die Letten von polnisch Livland gegen ihre Herren unter die Waffen gerufen
und in die Drushina (Miliz) eingeordnet, welche den russischen Truppen im
Kampf gegen die polnischen Banden Beistand leisten sollte.
Der Gegensatz zwischen deutsch-protestantischen und polnisch-katholischen
Einflüssen läßt sich kaum irgendwo deutlicher verfolgen, als bei dem Ueber¬
gang von livländischen auf inländischen (polnisch'livländischen) Boden. Das
Volk, welches hüben und drüben den Boden bearbeitet, ist dasselbe — und
doch glaubt man sich in eine andere Welt versetzt, wenn man bei Kreuzburg
(einer Station der Riga-Dünaburger Eisenbahn) das deutsche Livland ver¬
lassen hat. Ein Theil der Bewohner dieser reichen Grenzstarostei ist zwar
infolge des zufälligen Umstandes, daß seine Besitzer dem kurlcindischen
Geschlecht der Freiherrn von Korff angehörten, lutherisch geblieben, aber auf
den ersten Blick läßt sich erkennen, daß dem Lutherthum der Kreuzburger die
nothwendige Supplemente protestantischer Entwickelung, politische Freiheit
und ein geordnetes Schulwesen, Jahrhunderte lang gefehlt haben. Die Bauer¬
häuser werden niedriger und schmutziger, nach Rauchfang und Glasfenster
sieht man sich vergeblich um, die Straßen, welche die Wohnungen der
Menschen verbinden, sind schlecht erhalten, entbehren der Brücken und der
Grabeneinfasfung; das reinliche blaugraue Kleid, an welchem der Leite allent¬
halben zu erkennen ist, verwandelt sich in ein schmutziges Grau, die Füße
des Wandrers sind nicht mit Lederstiefeln, sondern mit Bastsandalen bedeckt
und der scheue, mißtrauische Blick, mit welchem der Bauer den „Herrn"
betrachtet, der sich in sein Land verirrt hat, verräth die Gewöhnung der
Abhängigkeit. Je weiter man nach Osten vordringt, desto unheimlicher wird
der Eindruck, den die Landschaft ausübt: Wald auf allen Seiten, Wasser in
den zahllosen Tümpeln, Teichen und Seen, welche das Land zerreißen, häufig
auch auf den mangelhaft bearbeiteten, schlechtangebauten Feldern. Die
Bauern leben, wie in Liv- und Kurland, auf versprengten Gehöften, aber
es fehlen die sichern, festen Abgrenzungen und Arrondirungen. welche Liv¬
land der schwedischen Epoche zu danken hat, es sehlt das sittigende Beispiel
des Gutsherrn und des Predigers, vollends seit die Niederschlagung deß
Aufstandes von 1863 jede Spur aristokratischer Autorität vernichtet und
den Bauer, der noch vor zechn Jahren Sclave war, in eine Herrschaft eingesetzt
hat, die er einzig mit Juden und niederen russischen Beamten theilen muß.
Allenthalben, an Schlagbäumen, Schenken, Gerichtsstuben und Quartier¬
häusern sind die alten polnischen Aufschriften frisch übertüncht und durch
russische ersetzt, aus denen sich die polnischen und deutschen Namen der
Güter und Flecken nur mühsam Herausbuchstabiren lassen. Dünaburg und
allenfalls Kreuzburg ausgenommen, giebt es in dem gesammten, 280 ^Meilen
umfassenden Lande keine Ortschaften, welche den Namen von Städten ver¬
dienen — elende, in Koth und Armuth versumpfte Flecken und Sloboden,
fast ausschließlich von Juden bewohnt, in deren Händen sich Verkehr, Handel
und Geschäft concentriren, nehmen hier die Stelle von Culturemporien ein.
Der deutsche Handwerker, dem man bis an die sibirische Grenze hin überall
in Rußland begegnet, hier ist er trotz der nahen Nachbarschaft der Städte
des livländischen Ostens nur sehr ausnahmsweise zu finden, denn die rohen, ge¬
setzlosen Zustände des unter einem ewigen Belagerungszustand begrabenen Landes
machen friedlichen Verkehr, Ruhe, Sicherheit und ehrlichen Erwerb vollständig
unmöglich und verscheuchen den friedlichen und friedensbedürftigen Gewerbsmann.
Es bedarf der Zähigkeit, Gewissenlosigkeit und Geschmeidigkeit des Juden,
um unter Verhältnissen dieser Art den Muth nicht zu verlieren und ein Ge¬
schäft zu wagen; darum sind die Begriffe Jude und Geschäftsmann zwischen
Kreuzburg und Dünaburg von jeher identisch gewesen. Das Geschäft aller
Geschäfte ist hier freilich Branntweinbrennen und Branntweinschenken. Die
Mehrzahl der menschlichen Wohnungen, welche die einsame längs der elenden
Landstraße nach Luczin oder Reczija sich hinziehende Wildniß unterbrechen,
gehört jüdischen Herbergsvätern an, welche zugleich Hehler, Aufkäufer,
Gütermäkler und, wo es größere Truppenabtheilungen gibt, Lieferanten und
Kuppler sind und von früh bis in die Nacht den grünen Fuselbranntwein
in schmutzige Gläser füllen, die rasch geleert werden. In der einen großen
Schenkstube, welche an den „Stadoll" (Stall und Wagenraum) des Kruges
stößt, sitzen an großen Tischen Männer verschiedener Nationen. Den Haupt¬
lisch haben polnische Edelleute besetzt, die vom Jagdzug' oder vom Besuch in
dem benachbarten Flecken heimkehren und hier bei einem Glase Punsch rasten,
— hohe, blasse, schnurrbärtige Gestalten von melancholisch-stolzem Aussehen,
die ihre Gedanken in'französischer Sprache austauschen, weil ihnen der Ge¬
brauch des Polnischen bei Strafe verboten ist und an dem Nachbartisch eine
Gruppe von Gensdarmerie- und Linienoffizieren um den Samowar (Theema¬
schine) sitzt und über die unerträgliche Langeweile des ländlichen Garnisonsorts
klagt, der ihrer Überwachung anvertraut ist. Inmitten der Polen findet sich
wohl auch ein oberländischer Baron, der trotz der Paßschwierigkeiten, die jede
Bewegung auf früher polnischem Gebiet einengen, hinübergekommen ist, um
mit den schwergeprüften Pans hinter flüchtigen Hasen und unermüdlichen
Füchsen zu jagen. Der derbere Knochenbau, die ungebrochen stolze Haltung,
die gebräunte frische Gesichtsfarbe und das gesunde Lachen, welches dem
leise geflüsterten Bonmot des blassen gräflichen Nachbarn von Warklany oder
Kreslaw erschreckend laute Antwort gibt, bekunden den deutschen Aristokraten,
der es gewohnt ist, wo er erscheint, Herr zu sein, und der sich niemandem
beugt, als dem Genossen, den er sich selbst zum Kreismarschall oder Ober¬
hauptmann erwählt hat. Er weiß, daß ein zweistündiger Ritt ihn in die
Sicherheit der heimischen Erde zurückführen kann, und darum hält er sich
das Gefühl der Beklemmung vom Leibe, das auf seine Umgebung drückt,
die sich allenthalben unter dem Damoklesschwert des Belagerungszustandes
fühlt. Weiter zur Wand hin steht ein großer, mit Branntweinflaschen reich
bedeckter Tisch, an welchem sich eine Schaar Bauern gesammelt hat, um mit
dem jüdischen Händler, der seine Waaren austrank, zu schachern, kleine
kräftige Gestalten in aschgrauen Röcken, die sich alle Mühe geben, durch
lautes Lachen und ungezwungene Reden bemerklich zu machen, daß sie ihre
nur wenig Schritte weiter sitzenden ehemaligen Herren nicht mehr zu fürch¬
ten brauchen. Die Sprache, welche diese Männer reden, ist eine Munda.re
des Lettischen, wie es im livländischen Osten gesprochen wird, aber doch von
diesem unterschieden, weil mit zahlreichen Polonismen versetzt und durch eine
Anzahl Wendungen bereichert, welche dem Litthauischen entnommen sind;
dazu macht sich geltend, daß diese Sprache des ordnenden Einflusses der
Schule entbehrt, und daß sie keinen Schatz an Kirchenliedern und religiösen
Schriften besitzt, der die Gedanken der Sprechenden veredelt, ihre Sprechweise
gereinigt hätte. Der katholische Pater, der hier statt des lutherischen Pastors
waltet, hat nur selten Zeit und Neigung verspürt, auf die Bildung seiner
Pfarrkinder einzuwirken, in der Neuzeit darf er kaum wagen, mit denselben
außerhalb der Messe und Beichte überhaupt zu verkehren. Als Pole ist er
ohnehin politisch verdächtig und läuft bei dem geringsten Conflict mit
den kommandirenden Offizieren des Bezirks ernstliche Gefahr, seines Amtes
entsetzt und durch einen Geistlichen der griechischen Kirche ersetzt zu werden.
Selbst der mit lateinischen Lettern gedruckte infländisch-lettische Kalender, den
er sonst an seine Diöcesane zu vertheilen pflegte, und der neben dem Brevier
die einzige Lecture des Bauern bildete, ist neuerdings wegen seiner polnischen
Orthographie verpönt worden. An seine Stelle soll ein mit russischen (cyril¬
lischen) Lettern gedrucktes Buch treten, um symbolisch die Wiederherstellung
des russischen Einflusses „im Gouvernement Witepsk" abzubilden; aber das
Volk kann die neuen Schriftzeichen nicht verstehen und hat nur zwischen den
aus Tilsit eingeschmuggelten preußisch-litthauischen Kalendern oder gänzlichem
Verzicht auf die Lesekunst zu wählen. Kein Wunder, daß die Schenken im¬
mer größere Anziehungskraft gewinnen und daß ihre Anzahl zum Heil der
in die Staatskasse fließenden Branntweinaccise beständig zunimmt. — Zwischen
den Polen, Letten, Juden und Russen, wie sie uns in den Schenken an der
Reschizaer Straße begegnen, findet sich noch der litthauische Bettler, der, in
schmutzige Lumpen gehüllt, rings das Land durchstreift, unaufhörlich die Me¬
lodie jenes schwermüthigen Liedes wiederholend, dessen ominöser Refrain
„Schade, daß die schöne Sonne
Auch zu uns von Osten kommt"
dem Reisenden in allen litthauisch-polnischen Ländern unfehlbar anklingt —
und endlich der Zigeuner, der den jüdischen Pferdehändlern als unvergleichlicher
Pferdedieb gefährliche Concurrenz macht, übrigens nur im Winter das
schützende Dach des Kruges aufzusuchen pflegt, den Sommer über mit Weib
und Kind in Busch und Brach seine Zelte und Wagenburgen aufschlägt.
Die Gesetzlosigkeit der infländischen Zustände läßt namentlich den an Kur-
und Livland grenzenden westlichen Winkel dieses Landes allen Vagabunden
und Gaunern des Dünathals als Paradies erscheinen, und selbst in der Um¬
gegend der von Kanonen starrenden Festung Dünaburg ist die Unsicherheit
so groß, daß der oberländische Gutsbesitzer, wenn er nachts durch den Wald
reitet, einen Revolver in den Sattel steckt und während der dunklen Herbst¬
nächte ein paar beurlaubte Kosacken willig macht, sein Haus und seine Wirth¬
schaftsgebäude vor den Wegelagerern, die aus Instand hinüberkommen, zu be¬
wachen. Sogar für das dreißig Meilen weiter nach Westen, in Riga und
dessen Umgebung gestohlene Gut haben seit Eröffnung der Riga-Dünaburger
Eisenbahn die Diebshöhlen Dünaburgs und seiner Nachbarflecken eine magische
Anziehungskraft, und die livländischen Polizeibehörden wissen aus uralter Er¬
fahrung, daß die Diebsspuren, die nach polnisch Livland führen, am Eingang
der Thore von Dünaburg, Kresslav oder Drissa mit einem undurchdringlichen
Schleier bedeckt werden, den höchstens der Machtspruch eines mächtigen General¬
gouverneurs, niemals aber die Requisition der ordinären Behörde zu lüften
vermag.
Schwach bevölkert und schlecht angebaut bieten die Ebenen, welche sich vom
Dünaufer nördlich nach Pleskau, östlich nach Witepsk dehnen, selbst in der
schönen Jahreszeit einen trostlosen Eindruck. Wo sich das Dunkel der Wälder
lichtet, welche zum Lubahnschen See hin wahrhaft unzugänglich werden
und in denen noch das Elenn, der zottige Bär und der grimme Wolf Hausen,
wechseln schmutzige Bauerhäuser mit großangelegten Edelhöfen, deren »schä¬
bige Gentilität" von dem abnehmenden Wohlstand des durch die plötzliche
Aufhebung der bäuerlichen Lasten schwer getroffenen Adels Zeugniß ablegt.
Im Innern dieser Edelhofe findet sich das Bild jener polnischen Wirthschaft
wieder, welches weltbekannt ist, hie und da durch die ordnende Hand eines
deutschen Jnspectors oder Gutspächters gemildert, der aus dem „Schwedischen"
(so nennt der gemeine Mann das eigentliche Livland häufig noch) herüber¬
gekommen ist, in der Regel um nach einigen Jahren mit seinen Ersparnissen
in die Heimat zurückzukehren. Die altpolnischen Zustände sind in der Auf¬
lösung begriffen, neue haben sich noch nicht gebildet; der Adel ist verarmt
und um alle Autorität gebracht, die Geistlichkeit hat Mühe, sich gegen den
zunehmenden Einfluß der griechischen Propaganda zu wehren und muß schwei¬
gend dulden, daß ihre Klöster geschlossen, ihre Kirchen in Wohnstätten des
orthodoxen Ritus verwandelt werden. Die russischen'Offiziere und die ihnen
zugegebenen Civilbeamten fehen sich als Fremdlinge an, die mit Sehnsucht
den Augenblick abwarten, in welchem sie abgelöst werden —, die wahren
Beherrscher des Landes sind die Juden geworden, in deren Händen sich aller
Handel und alle bewegliche Habe befindet und die nur durch ein Zwangs¬
gesetz verhindert werden, die Güter der ihnen sonst mit Leib und Seele ver¬
pfändeten Gutsbesitzer und Bauern an sich zu nehmen. Nirgend bietet sich
dem Blick des Wandrers ein Bild wirklichen Behagens, nirgend läßt sich
eine bestimmt ausgeprägte Nationalität, die Grundlage einer aufstrebenden
Cultur entdecken; — polnische, russische, litthauische, lettische und jüdische
Einflüsse verbinden sich zu einem farblosen Chaos, über welches ein System
neu ausgesonnener gouvernementäler Reglementirungen vergeblich die ver¬
hüllende Decke zu werfen, bestrebt ist. Jeder, den Geschäfte oder amtliche
Pflichten in diesen verkommenen Winkel geführt haben, ist froh, wenn er
den Staub, oder richtiger gesagt, den Koth der infländischen Erde von seinen
Füßen schüttelt und den Dünaburger Bahnhof erreicht, von dem aus der
Weg in die Culturwelt zurückführt, freilich nur, wenn der Reisende sich
den zahlreichen Gensdarmen und Kosaken, die säbelklirrend auf dem Pc
auf- und niederschreiten, als politisch ungefährlich und gehörig „verpaßt"
legitimiren kann. — Dünaburg selbst, der von angeblich 27,000 Menschen
bewohnte Hauptort des Landes, verdient den Namen einer Stadt nur be¬
dingungsweise. Vergeblich sieht sich der Reisende, der von Riga mit der
Eisenbahn angelangt und durch den Ruf „Din^burch" aus dem Schlummer
geweckt worden ist, in den ihn die melancholische Landschaft eingewiegt hatte,
— nach gepflasterten Straßen, bürgerlich wohnlichen Gebäuden und den übrigen
Merkmalen städtischer Gesittung um; vor ihm liegt in tiefem Flugsand ver¬
graben eine regellos aneinander gekettete Masse elender strohbedeckter Holz¬
hütten, aus denen triefäugige Juden und schnapsgeröthete Soldaten neugie¬
rig heraussehen, nur mühsam entdeckt das Auge in mehliger Ferne die Thürme
und Kuppeln der Citadelle, welche verächtlich auf das unter ihr liegende
Häusermeer der Stadt und der Griwa (Dünavorstadt) herabsieht. Wehe
dem kühnen Pilger, der hier zu übernachten die Absicht hat. Die Bahnhöfe
enthalten keine Fremdenzimmer und die Citadelle ist jedem Privatmann wie
mit sieben Siegeln verschlossen; hat ihn die federlose Droschke des jüdischen
Factors, der er seine Glieder anvertraut, eine halbe Stunde lang durch den
Koth endloser Gäßchen und Straßen geführt, in denen schmutzige Hütten mit
gelbgetünchten Negierungsgebäuden wechseln, so hält er endlich vor einem söge-
nannten Hotel. Ein schmutziges Hofthor öffnet sich langsam knarrend und
ein schielendes altes Weib führt den Gast durch eine Welt widerwärtiger
Abfälle und Misthaufen, die den Hof erfüllen, eine dunkle Hühnersteige hin¬
auf in einen unheimlichen Corridor, dessen widrig süßer Geruch die Nähe
der Küche verräth. Im Gastzimmer, einem rauchgeschwärzten viereckigen
Raum, vor dessen mit grünlichem Glas ausgestatteten Fenstern die Sonne
ihr leuchtendes Antlitz zu verhüllen gewohnt ist, spielt ein Jnfanterieoffizier mit
dem von Fett glänzenden Marqueur Billard; an den Wänden, deren unterer
Theil mit Wanzen dicht bedeckt ist, hängen grell illuminirte schlechte Litho¬
graphien, welche den Einzug der Russen in Paris, oder die Einnahme Schumlas
verherrlichen, neben ihnen prangt das in russischer, polnischer, französischer und
deutscher Sprache verkündete Reglement für Billardspieler. Aus dem Sous-
terrain, das für die xatres minorum Molina bestimmt ist, schallen rohe in
all den landesüblichen Sprachen ausgestoßene Flüche hinauf, untermischt mit
Liebkosungen, welche dem lettischen Schenkmädchen gelten. Sie bekunden,
daß das gastliche Haus des Pan Berkovicz Raum hat und Wohnungen für
stärkungsbedürftige Vertreter der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten.
Von den Nahrungsmitteln, welche dem Hungrigen dargeboten werden, sind
nur Thee und Eier genießbar, weil der Verfälschung und Unredlichkeit des
Kochs und Kellners unzugänglich — Brod und Fleisch kehren, wenn der Gast,
noch nicht gehörig acclimatisirt ist, unberührt an die Stätte ihrer Entstehung
zurück. Dafür sind alle erdenklichen Schnaps- und Liqueurgattungen in bester
Qualität zu haben und selbst eine Flasche Champagner weiß der dienende
Geist zu beschaffen, wenn, er errathen hat, daß dem Consumenten vor allem
an Lebensmitteln gelegen ist, die die Luft des Landes noch nicht berührt hat.
In das Schlafzimmer geführt, geht der Gast, wenn er nur einige Divina-
tionsgabe besitzt, an dem Bett rasch vorüber, ohne dasselbe auch nur eines
Blicks zu würdigen. Er wirft sein Plaid über das Ledersopha, löscht die
qualmende Talgkerze, die ihren trüben Schimmer über das unheimliche Gemach
verbreitet hat, mühsam aus und versucht zu schlafen, was ihm selbstverständlich
nur nach Anwendung eines geheimnißvollen, die übrigen Bewohner des
Zimmers beschwörenden Pulvers gelingt. Das verdächtige Geräusch, das aus
dem Corridor und aus dem Sousterrain an sein Ohr schlägt, legt ihm, wenn
er keinen Revolver besitzt, Gedanken an die Endlichkeit alles menschlichen Da¬
seins und die Begehrlichkeit irdischer Güter ziemlich nahe, — aber er ist er¬
müdet und dämmert allmälig ein. Beim Anbruch der Nacht wird er durch
Kanonendonner und Trommelschlag plötzlich geweckt: die Citadelle donnert
ihren Abendgruß in die öde Finsterniß hinaus und der Zapfenstreich verkündet,
daß abends nach 9 Uhr Ruhe die erste Bürgerpflicht ist. Frühmorgens sind
es-die Glocken der fünfkuppeligen griechischen Festungskathedrale, die den
trägen Schläfer wecken und das furchtsame Geläute der katholischen und der
evangelischen Kirche klingend übertönen. — So sieht es in den besseren
Gasthäusern der großen Stadt Dünaburg aus — die einzige menschenwürdige
Wohnung soll das boarämg-KouZiz sein, welches die englischen Beamten der
riga-dünaburgschen Eisenbahn für sich und ihre deutschen Collegen erbaut
und mit brittischen Comfort ausgestattet haben.
Auf dem Platze, der heute von der Citadelle eingenommen wird, war
im Jahre 1277 die Dünaburg des Ordens der deutschen Herren angelegt
worden, nach welcher der Ort seinen Namen hat. Ihre Spuren sind längst
ebenso vom Erdboden verschwunden, wie die deutschen Bürgersitze, die unter
dem Schutz der Feste gebaut worden waren, ihrer Bestimmung, den östlichsten
Vorposten baltisch-deutscher Cultur abzugeben, aber freilich nur drei Jahr¬
hunderte lang entsprechen konnten. 1376 von dem Zaren Iwan Wassiljewitsch
mit Sturm genommen und vollständig zerstört, wurde Dünaburg von den
Polen neu aufgeführt, um dann im Laufe eines Jahrhunderts zweimal von
den Schweden (1625 und 1653), einmal von den Russen nach hartnäckiger
Vertheidigung erstürmt zu werden. Als die Generale Katharinens 1772 von
dem alten Sitze der Ordensvögte dauernden Besitz nahmen, hielten sie einen
vollständigen Neubau nothwendig, um an diesem Platz einen Stützpunkt für
die russische Regierung zu gewinnen. Damals wurde jener, aus einem ein¬
zigen 360 Faden langen Gebäude bestehende Brückenkopf mit seinen überaus
starken Mauern angelegt, den Oudinot im Juli 1812 zwei Tage lang vergeblich
beschoß; vierzehn Tage später fiel die Festung in die Hände Macdonalds,
der bekanntlich das Armeecorps commandirte, dem auch die von Uork geführten
Preußen eingereiht waren. — Gegenwärtig dient die Citadelle zur Auf¬
bewahrung zahlreicher, meist mit politischen Verbrechen behafteter Gefangener,
die von einer starken Besatzung bewacht werden. Tausende todesmuthiger
Polen haben hier den Wahnsinn gebüßt, mit welchem sie sich im Februar
1863 gegen die russische Macht erhoben, da diese eben im Begriff war, mit
dem Königreich Polen Frieden zu schließen; von Dünaburg aus wurden sie
in das Innere des Reichs oder in die schweigsamen Ebenen jenseit des Ural
abgeführt, das alte polnische Livland aber blieb das russische Gouvernement,
zu welchem es schon im Jahre 1772 gemacht worden war.
Bon den buntscheckigen Bevölkerungsverhältnissen dieses der deutschen
- >'tur für immer verloren gegangenen Landes entwirft Erkerts
mu)!U'!^>Iiiq>!« provineczs daditsss en totÄit^ on <?n ZM-tlo ach?o1o-
nsis" Le. kötersdourg' 1863) ein ziemlich anschauliches Bild, Man zählte
nach statistischen Erhebungen von 1858 etwa 20,000 Polen, 140.000 Letten,
15 -20,000 Juden, ebenso viel Russen, wenig mehr als 2—3000 Deutsche,
und diese Angaben möchten trotz der Veränderungen, die sich inzwischen
vollzogen haben, im Großen und Ganzen noch gegenwärtig zutreffen: möglich,
daß die Anzahl der Polen sich zu Gunsten der Russen und Deutschen um
einige tausend Köpfe vermindert hat. Das Gouvernement Minsk allein aus¬
genommen, wo noch nicht 700 Menschen auf die H> Meile kommen, sind die
Bevölkerungsverhältnisse in keiner der angrenzenden ehemals polnischen oder
baltisch-deutschen Provinzen so ungünstig wie in polnisch Livland. Während
in Kurland, dessen östlicher Theil, Dank der polnisch-litthauischen Nachbar¬
schaft, ziemlich verkommen ist, immer noch 1200 Bewohner auf der üiMeile
wohnen, zählt dieselbe in „Instand" blos 900 Menschen. Die verhältni߬
mäßig bedeutende Anzahl der Russen erklärt sich aus der Anlegung einzelner
aus altgläubigen Sektirern bestehenden Kolonien, welche z. B. den zwischen
Dünaburg und Kreslaw liegenden Flecken Uszwalda ausschließlich bewohnen.
In den übrigen Theilen des Landes begegnet man Russen, wenn diese nicht
Militärs, Civilbeamte oder Popen sind, nur höchst selten. Die Letten
wohnen, wie erwähnt, nicht in Dörfern, sondern auf einzelnen Höfen, die
Juden haben ihre Sitze in den Flecken, von denen aus sie das Flachland
durchstreifen, in der Regel um zum Vorabend des Sabbath in die Heimath
zurückzukehren. An einzelnen Orten, z. B. in dem eine halbe Meile von
Kreuzburg gelegenen Städtchen Trentelberg, findet sich schlechterdings kein
christlicher Bewohner. Am Vorabend des dem Dienste Jehovahs geweihten
Tages gewährt dieses Städtchen einen Anblick, dessen eigenthümlichem Zauber
sich Niemand entziehen kann, wer Sinn und Verständniß sür die unvergleich¬
liche Treue hat, mit welcher dieses merkwürdige Volk an den heiligen Bräuchen
hgngt, die seine Väter aus dem fernen Strande Palästinas in den Norden
mitgebracht haben. Fährt man Abends durch das Städtchen, so glänzt aus
jedem Fenster, auch dem der ärmsten Hütte, das Licht des dreiarmigen
silbernen Leuchters, um welchen die Familie sich versammelt hat. um das
Weizenbrod und das Huhn zu verzehren, das die Hausfrau nach uraltem
Brauch in Butter gesotten dem Hausvater vorsetzt. Reinlich gekleidet um¬
stehen Frau und Kinder den mit schwarzem seidenglänzenden Rockelor geschmück¬
ten Hausherrn in ehrfurchtsvollem Schweigen. Der arme Krämer, der sechs
Tage lang beladen von der schweren Last seines Bündels durch das Land
gekeucht ist, von den Spöttereien des Bauern, den Flüchen und Mißhand-
lungen des Soldaten begleitet, am Tage seines Gottes fühlt er sich als den
Träger uraltheiliger Verheißung, als den Repräsentanten des auserwählten
Volks. Hier, wie allenthalben auf polnischer Erde, gelten noch die orthodoxen
Satzungen der Mischna und Gemara in ihrer ursprünglichen Strenge; ist
das festliche Mahl beendet, so schnallt der Hausherr sich die Tafeln mit den
zehn Geboten an Stirn und Hände, wendet sein Antlitz nach Osten und
spricht die Gebete. Die Synagoge, hier das einzige Gotteshaus des Orts,
besucht der verheirathete Jude nie anders als im flatternden, orientalisch
zugeschnittenen Sterbemantel, und dem Reisenden, der Abends durch die
Gassen des Städtchens eilt, schallt aus dem stillen Heiligthum des gedrück¬
testen Volks der Erde noch immer der stolze Siegesruf der alten Makkabäer-
fürsten in's Ohr: ni KamoKs. wollen ^ekovs-n — Wer unter den Göttern
ist wie du Jehovah!
So finden sich in dem polnischen Livland all' die Merkmale ächt pol¬
nischer Entwickelung: Jsolirung des Adels, Verwilderung des Bauernstandes,
Herrschaft des jüdischen Elements auf dem wirthschaftlich-industriellen Ge¬
biet, so weit ein solches überhaupt vorhanden ist, in ungeschminktester Weise
wieder. Und doch liegt diese kleine polnische Welt von den Centren pol¬
nischen Lebens weit ab, ist sie zwischen deutschen und russischen Einflüssen
eingekeilt, und selbst von Litthauen durch den breiten Strom der Dura
und einem Zipfel kurländischen Oberlandes, der erst südlich von Dünaburg
aufhört, geschieden. Aber als sei die innere Wahlverwandschaft zwischen
den Bewohnern Jnflands und dem litthauisch-polnischen Wesen unbesiegbar,
sie hat allen geographischen und politischen Schwierigkeiten bis in die Neuzeit
getrotzt; ja es ist den infländischen Polen vielfach gelungen, ihre Nachbaren,
die kurischen Oberländer des illurtschen Kreises, die sich auf ihr Kur-
länderthum sonst nicht wenig zu Gute thun, mit in das polnische Wesen
zu ziehen und dadurch eine Brücke nach Litthauen zu gewinnen. Die Guts¬
besitzer dieses östlichsten Theils der kurischen Erde sind die einzigen baltischen
Deutschen, welche eine gewisse Sympathie für das polnische Wesen zeigen,
die Sitten ihrer Nachbarn anzunehmen nicht ganz verschmäht haben, ja
die Interessen und Anschauungen derselben in gewissem Sinne theilen. Die
Zeiten, in denen dieser oberländische Adel für den eifrigsten Gegner der Ver¬
einigung Kurlands mit der russischen Monarchie galt und einen Anschluß
an die polnische Nationalpartei für im Interesse Kurlands geboten hielt,
die Tage, in denen der Deputirte von Jllurt dem russichen Gesandten auf
offener Straße ein „Haful" (der Jagdruf, mit welchem die Annäherung
eines Wolfs bezeichnet wird) entgegenrief und mit seinen Nachbarn das
Mitauer Ritterhaus verließ, als die Majorität der Landtagsmitglieder die
Unterwerfung unter das Scepter der zweiten Katharina votirte — sie sind
zwar längst vorüber und zur Sage geworden — aber die Oberländer gelten
ihren speciellen Landsleuten immer noch für halbe Polen und sind ihrer
rauhen Sitten und ihrer derben Ungefügigkeit wegen in ganz Kurland berühmt.
Während in den übrigen Theilen des Landes nirgend andere wie lutherisch¬
lettische Bauern zu finden sind, besteht die Bevölkerung der Dünaburg benach¬
barten kurischen Güter aus einem bunten Gemisch von verkommenen polni¬
schen Schlächtizen (kleinen Edelleute) und Odnodworzen (Einhöfern),litthauischen
Flüchtlingen, altgläubigen Russen und versprengten Samogitiern, die ein
Kauderwelsch reden, das außer ihnen selbst nur der unentbehrliche jüdische
Factor verstehen kann und die durch ihre Rohheit und Unehrlichkeit weit und
breit berüchtigt sind: die Übeln Eigenschaften, welche wir an den Bewohnern
Jnflands gewahr geworden, finden sich hier wenn auch in moderirten Propor¬
tionen wieder Die Edelleute, welche über diesem zusammengelaufenen Gesindel
als Gutsbesitzer das Scepter zu führen haben, sind als stolze, ungebändigte
Männer von herculischer Gestalt und starrer Treue gegen gewisse Traditio¬
nen des Faustrechts bekannt. Ihrer Rede ist häufig ein kräftiger polnischer
Fluch beigemischt, ihren sarmatischen Nachbarn zu Liebe haben sie die Sitte,
frohe Abende mit einem Glase polnischen Punsches und einer Partie Pharao
oder Landsknecht zu beschließen, beibehalten und der Zweikampf („zehn Schritt,
gezogene Läufe mit Fettlappen und mindestens zwei Kugeln" bilden das
Ordinarium) steht bei ihnen noch in religiösem Ansehen. Der Sage nach
sollen sie von den Landboten der alten Republik auch die Gewohnheit ange¬
nommen haben, in politischen Dingen keinen Widerspruch zu dulden: viel¬
leicht lebt jener wackere Freiherr v. E. noch heute, der auf die Kirchspiels¬
versammlungen stets ein paar Pistolen mitzunehmen und diese nach Verlaut¬
barung seiner Stellung zu den brennenden Fragen mit den Worten: „Das,
meine Herren ist meine Meinung, und wer anderer Ansicht ist, ist ein H—t'
ruhig auf den Conferenztisch zu legen pflegte. Nicht ganz erweisbar, aber
unter allen Umständen höchst charakteristisch, ist die landläufige Erzählung
von der Art und Weise der Publication der Regierungsvorschristen im Jlluxt-
schen Theil des Oberlandes: die von Hof zu Hof getragenen Circulairschreiben
werden nicht, wie sonst üblich, mit dem „Vidi" des Gutsherrn unterschrieben,
sondern mit einer Pistolenkugel durchschossen! So sieht es im Oberlande aus.
Daß dieser mehr oder minder von polnisch-litthauisch-infländischen Ein¬
flüssen berührte Fetzen kurischer Erde der Verbindung des polnischen Liv-
lands mit den benachbarten Gouvernements Wilna und Kowno keine erheb¬
lichen Schwierigkeiten entgegensetzen kann, ergibt sich —-ganz abgesehen von
der Eigenthümlichkeit seiner Bewohner, — schon aus der geographischen Con-
figuration desselben: wenige Stunden reichen hin, um von dem infländischen
Ufer der Dura an die litthauische Grenze zu gelangen. Im äußersten Osten
kann das Stückchen Kurland, welches diese beiden ehemals polnischen Länder
von einander trennt, sogar in einer halben Stunde durchritten werden, und
was in der ungelichteten Wildniß der Wälder dieses Grenzstrichs vor
sich geht, entzieht sich dem Auge der Sonne beinahe ebenso, wie dem
der Polizei.
Bis in die Gegenwart herein haben sich die polnischen Traditionen und
die Beziehungen zu Warschau und Wilna in Instand ungeschwächt erhalten
und allen Strafgesetzen des Belagerungszustandes und seiner unerbittlichen
Executoren gespottet. Wie lange dieses Land dem russischen Einfluß wider¬
stehen und jenem polnischen Wesen, das ihm niemals wahren Segen gebracht
hat, anhangen wird, wissen wir nicht. Der deutschen Gesittung ist es für
immer verloren gegangen und die Liv- und Kurländer haben sogar die ihnen
wiederholt gebotene Gelegenheit, den früheren Zusammenhang mit dieser Land¬
schaft wiederherzustellen, in richtiger Würdigung der gegebenen Verhältnisse
consequent zurückgewiesen. Dazu kommt, daß die Bodenverhältnisse Jnflands
so wenig verlockend sind, daß sich weder deutsche noch lettische Livländer
leicht entschließen, die seit dem letzten Aufstande zu Spottpreisen aufgebotenen
Güter politisch compromittirter Polen anzukaufen und ihrem angeborenen
Colonisationstriebe nachzugeben — mögen die Russen selbst sehen, wie sie es
fertig bringen, diesen verwilderten Landstrich einer Art von Cultur zuzuführen.
Anders steht es in Samogitien, dem südlichen Grenzlande Kurlands, das
zwar noch zwei Jahrhunderte früher der deutschen Ordensherrschaft entrissen
und polonisirt worden ist, dafür aber den Vorzug größerer Fruchtbarkeit und
günstigerer Bodenverhältnisse hat und zudem der preußischen Grenze und damit
der germanischen Cultur näher liegt. Von diesem Lande und seiner Bedeutung
für die baltisch-deutsche Kolonisation soll ein andermal die Rede sein — pol¬
nisch-Livland ist und bleibt dem Einfluß seiner westlichen Nachbarn verloren.
Die deutschen Münzzustände können offenbar nicht bleiben wie sie sind.
Es widerstreitet dem Begriff der nationalen Einheit, dem Bewußtsein Aller,
und den wichtigsten Interessen des Verkehrs, daß Süddeutschland fortfahre,
andere Münzen zu gebrauchen als Norddeutschland, ja daß innerhalb des
norddeutschen Bundes sogar noch Verschiedenheiten bestehen. Die jüngste
Zeit hat zwar einen Theil dieser Unterschiede verwischt, indem Schleswig-
Holstein seine Mark und Schillinge, Frankfurt a. M. und Nassau sammt
dem südlichen Kurhessen ihre Gulden und Kreuzer, Hannover die Zehn¬
theilung des Groschens dem preußischen Thaler mit seiner Theilung in
dreißig Groschen zu zwölf Pfennigen zu opfern hatten. Aber räumlich ebenso
ausgedehnte, sachlich ebenso einschneidende Unterschiede sind übriggeblieben.
In Sachsen und Braunschweig hat der Groschen nach wie vor nur zehn
Pfennige. In Mecklenburg theilt sich der Thaler in achtundvierzig Schillinge.
In Hamburg und Lübeck gilt der Thaler nur gewissermaßen als Aushilfs¬
münze, das herrschende Geld sind Mark und Schillinge. In Bremen endlich
besteht nicht einmal, wie sonst überall noch in Deutschland, Silberwährung,
sondern Goldwährung, diese aber mehr fictiv und ideell als wirklich, denn
bremer Goldmünzen gibt es nicht. Man behalf sich früher mit Louisdors
aller Art und jetzt mit Kronen, die Rechnungseinheit ist ein silberner, so¬
genannter Thaler Gold, der fünfte Theil eines ehemaligen hannoverschen
oder dänischen Louisdor, auch dieser aber wird nur ausnahmsweise gemünzt,
und die umlaufende Münze sind Groden, deren zweiundsiebzig auf den Thaler
Gold gehen, und deren Multipla. Vermöge dieser chaotischen Münzvielheit
kann es vorkommen, daß man auf einer Reise von wenigen Tagen innerhalb
der politischen und sprachlichen Grenzen Deutschlands bleibt und sich doch
viermal an eine neue Rechnungsweise zu gewöhnen hat. Der Deutschöstreicher,
der etwa über München, Leipzig, Berlin, Hamburg und Bremen nach Nor-
derney ins Seebad reist, muß es gar fünfmal, —> ebenso wie der Bremer,
der den umgekehrten Weg ins östreichische Gebirge zurücklegt.
Nordamerika und die Schweiz, Bundesstaaten wie Deutschland, reser-
viren verfassungsmäßig das Münzrecht den Bundesgewalten. In Deutsch¬
land, dessen frühere gemeinschaftliche Verfassung diesen wichtigen Punkt ganz
außer Augen ließ, hat man sich seit den dreißiger Jahren aus der gröbsten
Noth und Verwirrung dadurch zu helfen gesucht, daß die einzelnen Staaten
sich durch Verträge gegenseitig eines Theils ihrer gemeinschädlichem Rechte be¬
gaben. Neben dem deutschen Zollverein entstand ein deutsch-östreichischer
Münzverein. Allein zur Einheit gelangte man auf diesem Wege nicht. Man
mußte zufrieden sein, den größten Theil des in Frage kommenden Gebiets
in einer Art von Dreieinigkeit zusammenzufassen, d. h. in drei Systemen,
die unter sich eine nicht allzu unbequeme, nicht praktisch geradezu unbrauch¬
bare Ausgleichung zuließen. Das war das Ergebniß der wiener Münz-
conferenz von 1857, — der preußisch-norddeutsche Thaler zu dreißig Silber¬
groschen, der östreichische Gulden zu hundert Neukreuzer und der süddeutsche
Gulden zu sechzig Kreuzer, die ihre Ausgleichung fanden iO" der Formel
4 Thaler — 6 östreichischen Gulden ^ 7 süddeutschen Gulden.
In einer anderer Richtung als derjenigen nationaler Einheit versuchte
damals noch Oestreich das deutsche Münzwesen vorwärts zu bringen. Es
drang darauf, statt der Silberwährung die Goldwährung einzuführen. Allein
Preußen, zu Reformen irgend welcher Art weniger als jemals aufgelegt,
mehr als jemals festgehalten in unfruchtbarer Nichtigkeit durch den Kampf
sich neutralisirender Parteien und Tendenzen, widerstand, und hatte dabei
wie natürlich die Masse der Kleinstaaten auf seiner Seite. Es hat großer
materieller und moralischer Erschütterungen bedurft, bevor der altväterische
Glaube an die Haltbarkeit der Silberwährung inmitten einer zum Golde
übergehenden oder schon übergegangenen Welt in den preußischen Negierungs¬
und Bankkreisen erst dem Zweifel, dann der Ueberzeugung von der Noth¬
wendigkeit eines Wechsels Platz machte. Den östreichischen Staats- und
Finanzmännern mußte es freilich leichter fallen, die neue Wahrheit in sich
aufzunehmen. Die Silberwährung bestand bei ihnen zu Lande längst nur
noch dem Namen nach; in Wirklichkeit herrschte ein mit Disagio behaftetes
Papiergeld, dessen Cours von Tag zu Tag schwankte. Wenn es einmal ge¬
lingen sollte, sich aus diesem Sumpf aus festes Land zu retten, so konnte
das letztere offenbar ebensogut die Währung der Zukunft, wie die Währung
der Vergangenheit sein, das Gold wie das Silber, — die Anstrengung wurde
dadurch nicht größer. Ehe dagegen ein großer Staat mit völlig geordnetem
Münzwesen sich entschließt, von der einen Währung zur anderen überzugehen,
die ungeheuere Masse umlaufender Münzen einzuziehen und umzuprägen oder
in ihrem gesetzlichen Werthe herabzusetzen, alle öffentlichen und individuellen
Rechnungen in den Geldspalten zu ändern, müssen die Schattenseiten des
Alten, die Vorzüge des Neuen sich schon sehr lebhaft und eindringlich geltend
machen.
Das Werk von 1857 konnte nur in einer so schlaffen und muthlosen
Zeit wie die war, der es seine Entstehung verdankte, als halbwegs befrie¬
digend angesehen werden. Es scheiterte gänzlich mit dem unbedachten Ver¬
such, welchen es zur Abfindung der auf Uebergang zur Goldwährung drin¬
genden Interessen mit der Schaffung einer sogenannten Handelsgoldmünze
machte. Die Kronen sind ein bloßes Schaustück geblieben. Ungeachtet ihrer
ehrfurchtgebietenden Benennung hat der Verkehr sie aufs entschiedenste zurück¬
gewiesen. Das Bedürfniß nach einer in Menge umlaufenden Goldmünze,
das der Großhandel, ja selbst der nicht handeltreibende Einzelne jeden Tag
stärker empfindet, ist durch sie also nicht befriedigt worden. Man behilft
sich mit Papiergeld, das demzufolge in Massen von unangemessen kleinen
Apoints und in soviel verschiedenen Sorten, als es Souveräne und Banken gibt,
vermehrt durch einige bevorzugte Communen, umläuft. Aber dies ist eben
nur ein Notbehelf, und für Zahlungen im Auslande nicht einmal ein solcher,
denn dort werden die gedruckten Zahlungsversprechungen deutscher Fürsten,
Magistrate und Bankverwaltungen nicht mehr respectirt. Noch viel unan¬
genehmer, weil durch Gewöhnung nicht so leicht abzustumpfen, ist die Wider¬
wärtigkeit des verschiedenartigen Silber- und Kupfergeldes. Diese vor allem
drängt mit Gewalt auf Umwandlung hin.
Einer solchen bietet nun die Verfassung des norddeutschen Bundes die
werthvollste Handhabe. Allerdings steht in ihr nicht wie in der nordameri¬
kanischen Unionsacte geschrieben: „Kein Einzelstaat darf Münzen schlagen."
Allein sie zieht das Münzwesen in die Competenz der Bundesgewalt herein,
und so hängt es nur von dieser ab, wieviel Spielraum sie der verhängniß-
v vilen Zersplitterung der Souveränetät in Münzsachen, die Deutschland so
unübersehbare Nachtheile bereitet hat, noch lassen will. Man darf wohl
zuversichtlich annehmen: gar keinen. Sobald Bundesrath und Reichstag ein¬
mal darüber kommen, wird es ebenso geschwind und für immer aus sein
mit dem Münzregal der Einzelstaaten, das ohnehin seit Jahren schon durch
Münzverträge in Fesseln geschlagen war, wenn auch noch nicht in unlös¬
bare, — wie mit seiner bitteren Frucht, dem Chaos der herrschenden
Münzsysteme.
Einheit jedoch innerhalb des norddeutschen Bundes ist uns nicht genug.
Wir begehren eine ganz Deutschland umfassende Münzeinheit. Es ist daher
wünschenswerth, daß das Münzwesen bald in die Competenzsphäre des Zoll¬
parlaments und des dazu gehörigen erweiterten Bundesraths aufgenommen
werde, — eine Vervollständigung der neuen Zollverträge, die den widerstre¬
benden Mächten im Süden leichter abzuringen sein wird als manche andere,
weil der Süden ein noch viel ausgeprägteres Interesse als der Norden
daran hat, daß das Münzwesen von den gesetzgebenden Körperschaften Ge-
sammtdeutschlands, nicht nur von denjenigen Norddeutschlands geordnet
werdi'.
Eine Regelung für den Norden allein, müssen die Süddeutschen sich
sagen, könnte leicht in eine bloße Befestigung des jetzigen preußischen Systems
und Auslöschung der noch vorhandenen Verschiedenheiten in der Einheit dieses
vornehmsten und mächtigsten unter den bestehenden Systemen ausschlagen.
Wenn auch neuere Ereignisse und Erfahrungen, namentlich die dem Kriege
von 1866 voraufgehende Finanzkrisis in Berlin der Idee des Uebergangs
zur Goldwährung einflußreiche Vertreter gewonnen haben, an denen es früher
so gut wie gänzlich fehlte, so ist andrerseits doch in den breiteren Schichten
der Bevölkerung, die eigentlich politischen Kreise eingeschlossen, das Gefühl
für die Nothwendigkeit einer Aenderung im Ganzen noch so wenig geweckt,
daß es gegen die unleugbaren Beschwerlichkeiten jeder solcher Aenderung
kaum wird aufkommen können. Im täglichen Leben merkt man von der
Unzulänglichkeit des bestehenden Münzwesens ja eben nicht viel. An das
eine hat man sich gewöhnt, das andere macht sich nur aus größeren Reisen
oder bei Rimessen ins Ausland bemerklich, die verhältnißmäßig wenigen
Leuten überhaupt, und auch diesen meistens nicht gerade alle Tage vorkom¬
men. Warum sich also der Unbequemlichkeit einer radicalen Reform in Din¬
gen aussetzen, deren nie bewegte Festigkeit und Stetigkeit sür Jedermann zu
den Bedingungen des Wohlseins zu gehören scheint? Analog dem Spruche,
daß die kleinen Leiden des Lebens schwerer auszuhalten sind.als die großen,
könnte man sagen, der Mensch entschlösse sich eher zu einer Revolution, die
die Regierung umstürzt und vielleicht die Staatsform abändert, als zur An¬
nahme ganz neuer Münzen. Wenn man sich dies in Süddeutschland ver¬
gegenwärtigt, so kann man es nicht für unwahrscheinlich ansehen, daß eine
Berathung im Schoße des norddeutschen Reichstages in den Beschluß aus¬
tiefe, der Thaler zu dreißig Silbergroschen oder dreihundertundsechzig Pfen¬
nigen sei fortan die deutsche Münzeinheit. In diesem Falle hätte Süddeutsch¬
land die Wahl, entweder bei seinem Gulden zu bleiben, oder den norddeut¬
schen Thaler ebenfalls anzunehmen, oder endlich zum Frankensystem überzu¬
gehen. Die eine Alternative wäre so fatal, ja unannehmbar, wie die andere.
Das Praktischrichtigste wäre ohne Frage auch dann der Uebergang zum
Frankensystem, das in Frankreich und der Schweiz, auf zwei Grenzseiten also,
Süddeutschland bereits umschließt, während der Thaler nur die nördliche
Grenze besetzt hält, die östliche das östreichische Papiergeldwesen. Damit
aber hätten wir keine nationale Münzeinheit. Die Süddeutschen dürfen auch
kaum hoffen, ihr Uebergang zum Frankensystem, dem Weltmünzwesen der
Zukunft, werde denjenigen Norddeutschlands beschleunigen; umgekehrt, es
liegt nur zu nahe, daß er ihn aufhalten und vielleicht ganz hintertreiben
würde. So wäre denn die Aussicht auf nationale Münzeinheit wahrschein¬
lich vollends getrübt, immer aber auch für den Augenblick eine noch weitere
Kluft als bisher zwischen Nord und Süd ausgerissen. Diesem Dilemma
läßt sich nur durch Verlegung der Entscheidung ins Zollparlament — ins
deutsche Parlament, wie man es schlechthin nennen sollte — entgehen. Da
können die Süddeutschen mit unmittelbarer Wirkung auf die Abstimmenden
hervorheben, um wieviel leichter der Norden einen Wechsel, der nach dem
Urtheil seiner kundigsten Männer früher oder später doch unvermeidlich
einmal eintreten muß. jetzt auf der Stelle vornehmen kann, um sich dadurch
Zwei große Vortheile gleichzeitig zu sichern, Einheit mit Süddeutschland und
Einheit mit einem bedeutenden Theil der übrigen Welt, —als der Süden zu
dem herrschenden Systeme des Nordens übergehen kann, um dann nach kurzer
Frist abermals, gemeinschaftlich mit dem Norden, eine Münzrevolution durch¬
zumachen, und zu demjenigen System überzugehen, das zur Weltherrschaft
auserkoren erscheint. Ein solches Plaidoyer würde nicht nur aller Voraus-
ficht nach an sich aus die Masse der norddeutschen Staatsmänner und Volks¬
vertreter mächtig einwirken; es würde auch positiv unterstützt werden von der
täglich zunehmenden Zahl norddeutscher Politiker, Volkswirthe und Ge¬
schäftsleute, die persönlich überzeugt sind, daß Deutschland sich beeilen sollte,
die Goldwährung anzunehmen, und zwar in der Form des internationalen
Frankensystems.
Des internationalen Franken systems, — nicht des specifisch französischen.
Denn Frankreich hält im einseitigen Interesse des Staats (als Schuldners
aller Renten-Inhaber) und der Bank von Frankreich (als des größten Bank-
und Wechselgeschäfts des Landes) noch immer an der Doppelwährung fest,
die das Münzgesetz von 1803 einführte, ohne daß deshalb bis 1830 that¬
sächlich etwas anderes gegolten hätte als Silberwährung, mit dem silber¬
nen Fünffrankenstück als Hauptmünze. Seitdem herrscht zwar, nachdem die
Fünffrankenthaler den Weg alles Silbers, d. h. nach Ostindien und China
gewandert sind, thatsächlich die Goldwährung mit den Napoleonsdors oder
Zwanzigfrankenstücken; allein es kommt nur darauf an, daß Silber noch
eine Weile auf dem internationalen Edelmetallmarkt mehr werth bleibe als
2/01 seines Gewichts in Gold der Verhältnißzahl, zu welcher es in dem
Münzgesetz von 1803 normirt ist —, so werden der Staat, die Bank und
andere Agiospekulanten wieder silberne Fünffrankenstücke bei der Münze be¬
stellen und ihre Gläubiger damit abfinden, anstatt sie in Napoleonsdors zu
befriedigen. Dann können wir es erleben, daß sich auf Kosten des großen
Publikums und zum Vortheil der großen Bankhäuser abermals ein größer
Umschwung in der thatsächlich herrschenden Währung und Münzsorte voll¬
zieht, gerade wie zwischen 1850 und 1860. Ein so nackt auf Ausbeutung berech¬
netes, den Schuldner ungerechter Weise begünstigendes System hält natürlich
keiner unbefangenen Prüfung Stich. In Frankreich selbst sind die verdien¬
testen Agitatoren für universelle Münzreform, ein Parieu, ein Chevalier u. s. f.
dagegen. Italien, Belgien und die Schweiz haben das ihrige aufgeboten,
die Doppelwährung aus dem Vertrage vom 23. December 1863, der das
Münzwesen der vier Staaten verschmolz, herauszubringen, und was ihnen
gegen Frankreichs begreifliche äußere Verlegenheit noch nicht gelingen wollte,
das hat die Weltmünzconferenz, welche im vorigen Sommer gleichzeitig mit der
Weltausstellung zu Paris tagte, wie etwas selbstverständliches nachgeholt, in¬
dem sie von ihrer Empfehlung der Grundlagen des französischen Systems die
Doppelwährung ausdrücklich ausschloß. Nicht minder herrschte darüber Ein-
verständniß, daß der Anschluß an diese wesentlichen Grundlagen des fran¬
zösischen Systems, Adoption der Goldwährung also und irgend eines Mul-
tiplum des goldnen Fünffrankenstücks als Hauptmünze, keineswegs die An¬
nahme der französischen Benennungen einschließe. Wie der Italiener den
Franken Lira nennt, der Grieche Drachme, so mögen England bei dem So-
vereign, Nordamerika bei dem Dollar oder Eagle, Südamerika bei der Du¬
blone bleiben, auch wenn sie den Werth dieser Goldstücke auf eine bestimmte
Anzahl Franken ohne Bruch herab- oder hinaussetzen. Auch uns Deutschen
also wird nicht nothwendig zugemuthet. wenn wir uns dem Kerne eines
werdenden Weltmünzsystems anschließen wollen, inskünftig? nach Francs und
Centimes oder mindestens nach Franken und Cents zu rechnen. Wir mögen
die Stücke Mark und Pfennige nennen, oder wie wir sonst wollen. Ja es
ist vielleicht nicht einmal nöthig, gerade den Franken als silberne Haupt¬
münze zu adoptiren, um einer Union beizutreten, die in den Multiplen des
goldnen Fünffrankenstücks ihr Symbol findet.
Die Entscheidung dieser secundären Frage wird zum Theil wohl, so
sonderbar es klingen mag, von Englands Entschlüssen und Oestreichs Thaten
abhängen. In letzterm Reich, das gleich Rußland und Nordamerika, und
aus gleichen Gründen wie diese ebenfalls an entwertetem Papiergeld leiden¬
den Länder den pariser Münzeinigungsplänen auf der Basis des Gold,
frankensystems das regste Interesse entgegengetragen hat, ist nämlich die Idee
aufgetaucht, die Brücke vom Silberguldensystem zum Goldfrankensystem in
einem neuen Goldgulden zu suchen, der, wenn auch in Silber geprägt, genau
als der zehnte Theil eines goldenen Zehnguldenstückes ausgegeben würde und
umliefe. Das Zehnguldenstück wäre gleich fünfundzwanzig Franken in Gold,
gleich dem englischen Sovereign, wenn derselbe um zwei Pence, und dem
amerikanischen Fünfdollarstück oder Halfeagle, wenn dasselbe um siebzehn Cents
herabgesetzt würde. Nun ist es klar, daß, wenn Oestreich und England uns
mit einer solchen leichten und unschädlichen Modifikation des Frankensystems
demnächst in die Mitte nähmen, wir sehr aufgelegt sein könnten, uns dieser
anzuschließen, und nicht dem Originalsystem. Unsere Thaler, Zehn- und Fünf¬
groschenstücke würden sich ihr bequem genug anpassen, dürften also, als
Scheidemünze behandelt, fortcirculiren; an dem Goldgulden (oder einfach Gul¬
den) hätten wir nicht nur einen bekannten Namen, sondern auch eine ge¬
wohnte Größe für die silberne Hauptmünze und Rechnungseinheit; das
kleinste kupferne Stück endlich, der heutige östreichische Neukreuzer, würde
handlicher und den herrschenden kleinsten Preisen angemessener sein, als der
etwas allzu kleine und factisch kaum gebrauchte französische Centime. Aber
freilich, einstweilen thut diese Alternative sich noch nicht vor uns auf. Ame¬
rika zwar rüstet sich offenbar, das Fünfundzwanzigfrankenstück zum Mittel-
Punkt seines Systems zu machen; schon hat der Vorsitzende des Finanzaus¬
schusses im Senat zu Washington, John Sherman, einen dahingehender An¬
trag eingebracht. Aber während man in der Ferne handelt, sitzen in der
Nähe die einen gezwungen und die andern freiwillig still. Oestreich, das im
Punkte der Einsicht und des guten Willens nichts zu wünschen übrig läßt,
hat, das Zehnguldenstück sowie manches andere Gute nur erst auf dem Pa¬
pier, weil es das Papier nicht loswerden kann, das es in unheilvollen Tagen
für Geld erklärt hat. England dagegen ist so selbstgenügsam stolz auf die Fe¬
stigkeit und Reinheit seines Münzwesens, daß es sich noch nach einem Viertel'
jahrhundert öffentlicher Discussion nicht entschließen kann, den Sovereign um
nicht ganz ein Prozent im Werthe herabzusetzen, um der allgemeinen Münz¬
einheit der Welt ein Opfer zu bringen. Es scheint daher nicht, als sollte
von außen her sobald ein mächtiger Druck zu Gunsten des Goldguldensystems
auf uns wirken. Finden wir dieses System nicht in sich selbst, und wegen
der Aussicht, auf späteren Anschluß Oestreichs und Englands, vielleicht auch
nur auf letzteres Land unsererseits einen Druck üben zu können, vorzüglicher
als das einfache Goldfrankensystem, so wird dieses wohl allein ernstlich in
Frage kommen.
Auf dem Wege, sich die civilisirte Welt zu erobern, ist dasselbe ganz
augenscheinlich. Kaum war es zum Gemeingut vier an einander grenzender
Länder geworden, Frankreichs, Belgiens, der Schweiz und Italiens, so schloß
sich ihm erst, ungeachtet aller Feindschaft gegen das Königreich Italien, der
Kirchenstaat an. dann vermöge Gesetzes vom 10. April 1867 Griechenland.
In diesem Augenblick beschäftigt der junge Staat Rumänien sich mit den
nöthigen gesetzlichen Vorbereitungen, um zum Frankensystem überzugehen.
Das Großfürstenthum Finnland, dem Rußland aus Argwohn vor der
schwedischen Propaganda neben andern Freiheiten und Eigenthümlichkeiten
auch seine eigenen Münzen und ein Papiergeld ohne Zwangscours gönnt,
besitzt schon seit 1863 in der Markka oder Mark, dem vierten Theil des
Silberrubels, eine dem Franken praktisch nahezu gleichkommende Münzein¬
heit. Diese Uebereinstimmung wird noch realere Wichtigkeit gewinnen, wenn
Schweden den Vorschlägen seines Bevollmächtigten auf der pariser Münz-
conferenz folgen, d. h. Carolin zu fünfundzwanzig, Ducaten zu zehn Franken
in Gold ausprägen und übrigens die Rechnung nach Franken und Cents
annehmen sollte. Holland gehört neben Deutschland noch zu den festesten
Burgen der Silberwährung; hat es sie doch erst 18S0 gegen Goldwährung
eingetauscht, theilweise beherrscht durch die damals allgemeine Furcht vor
der reißenden Entwerthung des Goldes in Folge der californischen und
australischen Entdeckungen. Allein seine Gelehrten und Finanzmänner richten
sich schon vollständig auf die Nothwendigkeit der Rückkehr zur Goldwährung
ein, wie man aus der aufmerksamen Sorgfalt entnehmen kann, mit welcher
sie der Bewegung der öffentlichen Meinung insbesondere in Deutschland
folgen. —
Sogar jenseits des Weltmeers beginnt das französische Münzsystem
Propaganda zu machen, von Nordamerika ganz abgesehen. Die südamerika-
nischen Republiken, deren herrschende Classen ohehin einen starken Zug nach
Paris haben, finden es gar so unmöglich nicht, den Franken zwischen den
We-ndekreisen heimisch zu machen. Die großen englischen Colonien Canada,
Australien und Indien denken über den Sovereign viel ketzerischer, als das
Mutterland und es könnte wohl sein, daß sie eines Tages entweder auf
dieses im Sinne des Anschlusses an das Goldfrankensystem zu drücken an¬
fangen, oder aber von ihrer verfassungsmäßigen Unabhängigkeit in Münz¬
sachen Gebrauch machen und allein dazu übergehen. Was endlich das pi¬
kanteste ist: nach einer Nachricht, die dem Congreß in Washington unlängst
durch einen offiziellen Bericht zuging, wünscht der Kaiser von China sein
erhabenes Bildniß an der Stelle zu sehen, wo jetzt der lorbeerumwundene
Kopf des Siegers von Magenta und Solferino prangt, d. h. auf Zwanzig¬
frankenstücken, und will diese Münzsorte daher bei den vierhundert Millionen
seiner fleißigen Unterthanen in Cours bringen. Der Napoleon hätte also
erreicht, was dem Sovereign nicht gelingen wollte: dem chinesisch-europäischen
Handel eine in beliebiger Menge zu habende Münze darzubieten, statt der
jetzt allein gangbaren alten, nicht nachgemachten Säulenpiaster. Der Ring
der werdenden Weltmünzeinheit biegt sich zusehends von beiden Seiten her
zusammen. Sehe Deutschland zu, daß es den günstigsten Augenblick für
seinen eigenen Eintritt in diesen Zusammenschluß der Völker nicht verfehle!
Wir nehmen die uns durch Abdruck des vorstehenden Artikels gebotene
Gelegenheit wahr, um die nachstehende, uns von anderer Seite her zugegan¬
gene Notiz über eine verwandte Materie, — das Gewicht, der Oeffentlich-
keit zu übergeben.
„G. in. K. — Im Laufe des verflossenen Jahres brachten die Grenz¬
boten eine Abhandlung über Münzen, Maße und Gewichte, welche den Ge¬
genstand mit großer Sachkenntniß behandelte. Die Nothwendigkeit und
Zweckmäßigkeit des Decimalsystems wurde in diesem Artikel aufs schlagendste
nachgewiesen, Hieran knüpfen wir die nachstehenden Zeilen, welche das Re¬
sultat einer längeren Beschäftigung mit den Gewichtssystemen insbesondere
mit Rücksicht auf das neue Medicinalgewicht sind, und welche sich auf eine
kurze Besprechung des deutschen Handelsgewichts beschränken. Ihr Zweck ist,
für die Abänderung desselben Vorschläge zu machen.
Das seit dem 1. Januar d. I. in Preußen eingeführte neue Medieinal-
gewicht hat, während das alte gewiß das unpraktischste aller Gewichte war,
jetzt das Handelsgewicht an Zweckmäßigkeit überflügelt. Die Decimaltheilung
ist bei ihm vollkommen durchgeführt; das Handelsgewicht jedoch laborirt
an dem unglücklichen Umstände, das man sich bei seiner Einführung nicht
hat entschließen können, von dem traditionellen Werthe des Loths noch mehr
abzuweichen, als es geschehen ist. Wenn nun auch die 30 besser ist. als die
32, so ist sie doch immer eine Zahl, die das Rechnen sehr erschwert und die
in einem guten Zahlensystem nicht vorkommen sollte. Da aber die Unter-
' abtheilungen des Loths, welche Decimaltheile desselben sind, von jenem ab¬
hängen, so muß bei Aenderung des Lothwerths auch ihr Werth ein anderer
werden. Dies wird ohne große Störung geschehen können, da Pfund und
Centner unverändert bleiben.
Um diese beiden Gewichte aber in ein Decimalsystem aufnehmen zu kön¬
nen, wird es zweckmäßig sein, Doppelpfunde und Doppelcentner hinzuzufügen.
Es ergibt sich dann auch eine vollständige Uebereinstimmung mit dem fran¬
zösischen, jetzt in allen Wissenschaften gebräuchlichen System. Ist diese aber
erreicht, so ist kein Grund vorhanden, weshalb wir die französischen Namen
annehmen sollen.
Zwischen Centner und Pfund bedarf es eines Mittelgliedes. Das alte
deutsche Gewicht hatte den Stein, und dieser Name wird sich für das ein¬
zuschiebende Zwischenglied am meisten eignen. Ein Stein würde gleich sein
20 Pfund, oder 10 Doppelpfund. Ebenso ist zwischen Pfund und Loth ein
Zwischenglied nöthig. Die Mark, das alte Silbergewicht dürfte, wenn ihr
Werth auch verändert wird, hier am bezeichnendsten sein. Die Namen für
die Unterabtheilungen des Loths, Quere und Korn, können, wenn ihre Werthe
auch kleiner werden, bleiben, da bei Einführung eines neuen Gewichts das
alte gänzlich verbannt und eine Verwechselung somit unmöglich gemacht
würde.
Das Zend, für das Hundertstel des Loths eine sehr bezeichnende Benen¬
nung, würde doch wohl besser durch einen andern Gewichtsnamen ersetzt wer¬
den, da kein Grund vorhanden ist, das Loth als Gewichtseinheit zu nehmen,
und das Hundertstel desselben Zend zu nennen, während sonst kein Gewicht
als Theil eines andern bezeichnet ist. Dazu kommt, daß das Hundertstel des
neuen Loths — 1 Decigramm ist. Wenn man es nun mit Zend bezeich¬
nete, so würde bei Vergleichung mit dem französischen Gewicht dies zu Mi߬
verständnissen Veranlassung werden, da es nahe liegen würde, es für iden¬
tisch mit Centigramm zu halten.
An Werth am nächsten steht dem Hundertstel des neuen Loths der ab¬
geschaffte Gran des Medicinalgewichts. Er würde sich als Bezeichnung dafür
auch eignen.
Die folgende Tabelle zeigt die Verhältnisse des nach obigen Prinzipien
construirten Gewichts in sich, zum jetzigen Zollgewicht und zum französischen.
Die in der Tabelle mit Sternchen bezeich¬
neten Zahlen gehören streng genommen nicht
in das Decimalsystem, sind aber aufgenommen
worden, weil sie an das jetzige Gewicht an¬
knüpfen. Ist das neue Gewicht erst geläufig,
so können sie leicht entbehrt werden. Uebrigens
ist ihr Verhältniß so, daß sie das Decimal¬
system nicht stören. Wenn man von ihnen
absieht, so haben wir ein reines Decimal¬
system, in dem nur Eins und Nullen vorkom¬
men und welches sich mit dem französischen
vollständig deckt, was bei dem jetzigen Zoll¬
gewicht vom Pfund abwärts nicht der Fall ist.
Das in der Tabelle vorgeführte Gewicht
erfüllt demnach zunächst die an jedes gute Ge¬
wicht zu stellende Forderung, ein vollkommenes
Decimalsystem zu sein, und beseitigt zugleich
den durch die 30-Theilung des Pfundes be¬
dingten Uebelstand, daß vom Loth abwärts
eine mit der Decimaltheilung der Pfunde und
Centner nicht im Zusammenhang stehende neue
Decimaltheilung besteht, wodurch die angestrebte
Uebereinstimmung mit dem französischen Ge¬
wicht für die kleineren Gewichte ganz verlo¬
ren geht.
Möge das bevorstehende Zollparlament
die ihm ganz besonders zukommende Aufgabe
einer Reform unseres Zollgewichts bald und
glücklich lösen."
Als die Verfassung und die Gesetzgebung des norddeutschen Bundes
uns mit einem gemeinsamen Jndigenat und dem Freizügigkeitsgesetz be¬
schenkte, da frohlockte manches Gemüth in der Hoffnung, daß für das Bun¬
desgebiet die Zeit angebrochen sei, wo es keine Heimathscheine, keine Natu-
ralisation, kein Bürgerrechtsgeld und keine behördliche Heirathserlaubniß
mehr gebe.
Es war eine schmerzliche Täuschung; im wesentlichen ist alles beim
alten geblieben.
Will der Bundesbrüder des einen Staats in einem andern verweilen,
so muß er nach wie vor seinen Heimathschein aufweisen, der bei Leibe nicht
für einen andern Bundesstaat gilt, als für den er gerade ausgestellt ist.
Will der Jndigena die Staatsangehörigkeit in einem andern Bundesstaate
erwerben, so muß er trotz seines Jndigenats die Formalien der Entlassung
aus dem bisherigen Verbände und Aufnahme in den andern durchmachen.
Das Einzugsgeld ist zwar durch das Freizügigkeitsgesetz aufgehoben, das
Bürgerrechtsgeld wird aber fortentrichtet. Wehe dem armen Weimaraner,
Meininger, Schwarzburger, Gothaner, Altenburger oder Angehörigen eines
sonstigen kleinen Staates, in welchem die in dieser Hinsicht freisinnigere preu¬
ßische Gesetzgebung nicht gilt, der im Auslande, das heißt in einem andern
norddeutschen Bundesstaate, mit einem ausländischen Jndigenatsgenofsen sich
zu verheirathen die Absicht hegt. Er muß bei seiner heimathlichen Gemeinde
die gütige Zustimmung zu der vorhabenden ehelichen Verbindung erbetteln
und erhält dieselbe in dem günstigen Falle, daß an seiner Subsistenzfähigkeit
nicht gezweifelt wird, erst nach Zahlung von Bürgerrechtsgeld für sich, seine
Verlobte, etwa schon vorhandene oder sogar für zu erwartende Kinder, wenn
ihm nicht noch eine hohe Caution besonders abverlangt wird.
Das gemeinsame Jndigenat verdankt es den Bestimmungen der Alineas
3 und 4 des Artikels 3 der Bundesverfassung, daß es zu einem fast wesen¬
losen Begriff geworden ist, namentlich conservirt Alinea 3, wonach diejenigen
Bestimmungen, welche die Armenversorgung und die Aufnahme in den
lokalen Gemeindeverband betreffen, durch das Jndigenat nicht berührt
werden sollen, alle engherzigen Schranken der kleinstaatlichen Heimathgesetz¬
gebungen.
Mögen nun immerhin Heimathscheine, Naturalisation und Bürgerrechts¬
gelder fortbestehen, es sind dies verhältnißmäßig unbedeutende und leicht zu
tragende Dinge.
Wahrhaft empörend aber und dem menschlichen Gefühl zuwiderlaufend
ist die in manchen Kleinstaaten noch geltende zopfige Bestimmung, daß die Bil¬
ligkeit und Zulässigkeit der von männlichen Unterthanen dieser Staaten mit
Ausländerinnen einzugehenden Ehen von der vorherigen Zustimmung
der betreffenden heimathlichen Obrigkeit abhängt. Dadurch ist
eine Leibeigenschaft der schlimmsten Art begründet, wie sie unwürdiger kaum
in Rußland bestanden haben mag. Denn es ist besser, der Willkür eines
Einzelnen unterworfen zu sein, als der unberechenbaren Vielköpfigkeit einer
Gemeindevertretung.
In Preußen, wo nach dem Gesetz vom 31. December 1842 jede Aus¬
länderin durch Trauung mit einem Inländer die Eigenschaft einer Preußin
so ipso erlangt, bedarf es einer Erlaubniß der Heimathsbehörde nicht. Dies
ist human und auch volkswirthschaftlich rationell hinsichtlich der freien Be¬
wegung der Arbeit. Dem armen Kleinstaatler aber, der seinem Vaterländchen
den Rücken gewandt, weil er im „Auslande" für sein Wissen und Können
ein ergiebigeres Feld der Thätigkeit findet als daheim, hängt die Heimath¬
scholle als ein Hemmniß an, wie Kette und Kugel dem Züchtling.
Setzen wir ein Beispiel:
Ein junger Handwerker, aus einem thüringischen Orte gebürtig, hat in
einer größeren preußischen Stadt Gelegenheit, sich zu etabliren. oder lohnende
und feste Arbeit gefunden, sodaß seine Existenz gesichert ist. Er hat sich mit
einer Preußin verlobt, beabsichtigt unter Anzahlung seiner und seiner Braut
Ersparnisse ein kleines Haus zu kaufen und demnächst zu heirathen. Wäre
er als Preuße im analogen Falle, so brauchte er nur eine Bescheinigung
der betreffenden Regierung, daß er zur Abschließung einer Ehe im Auslande
einer besonderen obrigkeitlichen Erlaubniß nicht bedarf. Aber er ist leider
kein Preuße. Er muß also die Einwilligung seiner Heimathgemeinde demü¬
thig nachsuchen.
Seine Bitte wird natürlich sehr ungnädig aufgenommen, denn senatus
populuLyue wittern hinter seinem Heirathsprojekt sofort die versteckte bös¬
willige Absicht, nach Stiftung einer möglichst zahlreichen Familie dem Armen-
seckel der Gemeinde zur Last zu fallen. Es wird dann die Gemeindevertre¬
tung zusammenberufen und bei Bier und Tabak darüber entschieden, ob man
dem Armen da draußen in Preußen des ehelichen Glückes theilhaftig werden
lassen will. Da sich gegen Fleiß und Subsistenzfähigkeit des Petenten. sowie
gegen den Leumund der Braut nichts rechtes einwenden läßt, so kann man
die Heirath nicht hindern, man beschließt aber, ihm die gesetzlichen Bedingun¬
gen, bestehend in Zahlung des Bürgerrechtsgeldes für sich (nur Bürger oder
Nachbarn haben das Recht zu heirathen) und seine Braut aufzuerlegen und
außerdem, um jeder in petto habenden heimtückischen Benachtheiligung der
Gemeinde durch künftige Verarmung vorzubeugen, von ihm eine bei der Ge-
meindecasse zu deponirende Caution von 200 Thlr. zu verlangen.
Unter diesen Umständen muß der arme Teufel natürlich Hauskauf und
Heirath aufgeben, denn so bedeutende Summen kann er nicht entbehren.
Der einzige Ausweg der Rettung ist noch, wie es auch meistens ge¬
schieht, daß er an das Mitleid der preußischen Commune appellirt, die dann,
nicht ebenso engherzig in jedem Menschen einen Armenhauscandidaten sehend,
auf ihre Gefahr hin gegen die unsittlichen Folgen der menschenfeindlichen
Gesetze eines Nachbarstaates durch Vermittelung der Naturalisation Remedur
eintreten läßt.
Wird auch nicht immer eine besondere Caution verlangt, so kommt es,
man möchte sagen, täglich vor, daß entweder durch directes Versagen der
Communen oder durch die für die Aufnahme der Braut und die Heiraths-
erlaubniß zu zahlenden Bürgerrechts- oder sonst benannten Gelder die Ver-
heirathung von Angehörigen solcher Staaten mit Ausländerinnen im Aus¬
lande unmöglich gemacht wird.
Und doch haben wir ein allgemeines Jndigenat und ein Freizügig¬
keitsgesetz!
Es wäre sehr zu wünschen, daß auf bundesgesetzlichem Wege dieser
Verkümmerung des allen freien Menschen zustehenden sittlichen Rechts, sich
eine Familie zu gründen, ein Ende gemacht würde.
Neben der Sorge um, die Nothleidenden liegen dem deutschen Volk
jetzt zumeist die Ereignisse am Herzen, welche dem ersten Zollparlament vor¬
ausgehen. Das Schmerzvollste derselben war der Tod des badischen Staats¬
ministers Mathy, welcher seit dem Juli 1866 die politische Haltung Badens
durch die souveräne Sicherheit einer ungewöhnlichen Menschenkraft bestimmt hat.
Der Patriotismus des Großherzogs hat durch die Wahl seiner Nachfolger,
durch das Ministerium Joly, ein edles Zeugniß abgelegt, daß Baden der Politik
des Anschlusses treu bleiben wird. Ein zweiter Jncidenzpunkt war der Aus¬
fall der bairischen Wahlen zum Zollparlament; sie stellen die innern Gegen¬
sätze dieses Staates und die gegenwärtige Stimmung seiner Einwohner auch
durch das Zahlenverhältniß dar. Die kleinere Hälfte der Abgeordneten, meist
von fränkischen Städten gewählt, ist mehr oder weniger bundesfreundlich,
die größere repräsentirt weniger den Ultramontanismus, sehr deutlich das
gleichgiltige, unpolitische und dem Norden abgeneigte bavarische Selbstgefühl.
Es ist die dritte der neuen Bildungen Deutschlands, welche fast zwei
Jahre nach der Krisis von 1866 ihre parlamentarische Wirksamkeit beginnen
soll, und wir haben Zeit genug gehabt zu erkennen, daß die Schwierigkeit,
einen neuen Staatsbäu deutscher Einheit aufzuführen, durch die Dreizahl der
nöthiggewordenen neuen Organisationen wesentlich vermehrt wird. Das
vergrößerte Preußen, der Nordbund, der neue Zollverein sollen nebeneinander
eingeordnet werden, nach allen Richtungen gehen die wichtigsten Acte der
Gesetzgebung, auf jedem der drei Gebiete andere Parteileidenschaften und
andere divergirende Interessen. Kein Wunder, wenn unter solchen Stürmen
alte und neue Parteien auf einzelne Tage in innere Verstörung gerathen.
Aehnliche Unsicherheit würde ihnen in keinem Staate der Welt, nicht in
England, nicht in Amerika erspart bleiben, und wir sind nicht der Ansicht,
daß man solche unvermeidliche Parteierschütterungen als ein Symptom poli¬
tischer Jugend betrachten darf. Vor allem halten wir die Ueberzeugung fest,
daß die große nationale Partei, deren Bildung zu den größten Erfolgen des
Jahres 1867 gehört, ihren Zusammenhang und Einfluß in den vorstehenden
Kämpfen für die Einheit des Vaterlandes einmüthig und entschlossen in die
Wagschale legen wird.
Die schwierigste Frage ist für uns der Eintritt der Südstaaten in den
Nordbund. Wenn die Regierungen und Völker des Nordhundes die Ant¬
wort darauf nur von den Gründen der Zweckmäßigkeit, welche ihnen die
innere Organisation des Nordbunds angibt, herleiten dürften, so müßte
ihnen als bequem und vortheilhaft erscheinen, den Eintritt der Südstaaten
einer spätern Zeit vorzubehalten/ Und es ist begreiflich, wenn auch die
Besten und Entschlossensten mit Besorgniß an eine neue Steigerung der
Schwierigkeiten in der Gesetzgebung denken, an neue unberechenbare Fluc-
tuationen der Parteien und an mögliche Verwickelungen mit dem Auslande.
Aber der Eintritt der Südstaaten ist auf der andern Seite eine Forde¬
rung des höchsten nationalen Interesses, eines Interesses, welches fast mit
jeder Woche zwingender wird. Es ist zunächst ein Irrthum, daß die Zeit
allein und die ruhige Verkehrsarbeit des Friedens den Süden ohne große
Erschütterungen mit dem Norden vereinigen werde. Die Verkehrsinteressen
haben unter dem alten Zollverein fast 40 Jahre ihre Fäden gezogen, jene
Gebiete sind in Handel und Industrie eng mit dem Norden verbunden und
doch hat das Jahr 1866 den politischen Zusammenhang nicht befestigt,
sondern gelockert. Seitdem sind die Südstaaten, was sie bis jetzt nie waren,
europäische Souveränitäten geworden, mit einer eigenthümlichen dynastischen
Politik, drei von ihnen Gegenstand der zärtlichsten Theilnahme und Um-
Werbung Frankreichs und Oestreichs. Ihre Regierungen sind sich bewußt,
daß ihre eigene Unabhängigkeit ein großes Interesse des Auslandes geworden
ist, sie beginnen sich sicher zu fühlen und finden das isolirte Leben, welches
unter dem Schutze der drei großen Nachbarmächte steht, bequem und für ihr
Selbstgefühl wohlthuend. Käme ihnen der unwahrscheinliche Fall eines Krieges
durch ihre selbständige Politik und würden sie von Oestreich oder Frankreich ve-
droht, so müßte der Nordbund sie schützen. Käme der Nordbund in Krieg, so
würden sie ihre Bundespflicht grade so erfüllen, wie 1866 die Verträge gegen
Oestreich, unvollständig und unwirksam, gleichviel ob aus Abneigung oder aus
Schwäche. Erst zwei Jahre sind vergangen, seit sie zu dem Bündniß mit
dem Nordbund veranlaßt wurden und selbst in dieser Zeit hat die diploma¬
tische Gewandtheit des Grasen Bismarck nicht verhindern können, daß ihre
Regierungen innerlich, dem Nordbund mehr und mehr entfremdet wurden.
In Darmstadt ist der Einfluß des französischen Gesandten übermächtig, in
Stuttgart erscheint die oscillirende Politik des Herrn von Varnvüler noch der
beste Verbündete Preußens und in Baiern ist von unberechenbaren Zufällen
abhängig, ob die unsichere Stellung des Ministeriums Hohenlohe sich durch
die nächsten Monate behaupten wird.
Dazu kommt eine andere Gefahr. Wir stehen in Wahrheit mitten in
einer Revolution, der größten vielleicht, welche unserer Nation durch ein gnaden¬
volles Geschick bestimmt ist, einer nicht weniger gewaltigen, weil sie in Acten
der Gesetzgebung und in fortwährenden Compromissen zwischen Volkswillen
und Regierungen sich vollzieht. In solcher Zeit ist mehr, als in jeder
anderen, die patriotische Wärme und Steigerung des nationalen Selbstgefühls
den leitenden'Reformatoren als allschaffende Kraft unentbehrlich. Was die
Besten und Großsinnigsten seit zwei Generationen geträumt, ersehnt, gefordert,
das ist jetzt in greifbare Nähe gerückt. Diesen Aufschwung öffentlicher
Meinung, die frohe begeisternde Empfindung wachsender Macht unter den
Deutschen kann die preußische Regierung fortan nicht entbehren. Innere
Dissonanzen, jede Kränkung privater und lokaler Interessen muß durch den
Schwung bewältigt werden, welchen die deutschen Angelegenheiten behalten,
und nur als Vertreter der höchsten nationalen Interessen Deutschlands ver¬
mag die Bundesregierung ihre hohe Stellung zu behaupten, in den Herzen
der Deutschen, wie vor dem Auslande.
Jetzt aber gewinnt die zweifelnde Empfindung Raum, daß der große
Fortschritt des Jahres 1866 doch durch ein schweres Opfer erkauft sei, durch
die Jsolirung des Südens, die trotz Zollverein und Waffenbündniß unleugbar
herbeigeführt ist. Nicht nur die Gegner murmeln, daß der Bund doch nicht
das ganze Deutschland sei, auch im Nordbund selbst ist der Gedanke nicht
zurückzuhalten, daß alles, was neu geschaffen wird, seine Sicherheit erst
erhalte, wenn die Compromisse mit den Südstaaten vollzogen sind, und daß
ihr Anschluß um so schwieriger werde, je weiter die speciell norddeutsche
Gesetzgebung im neuen Staat sich entwickelt.
Und daran schließt sich noch eine andere Erwägung. Wir leben in
der Revolution und wir stehen noch unter dem Eindruck der erschütternden
Ereignisse, welche vor zwei Jahren das Bestehende gebrochen haben. Noch
erscheint, was jetzt geschehen kann, als nothwendige und kaum zu verhin¬
dernde Folge einer gewaltigen Krisis. Aber die Zeit schwächt diese Em¬
pfindung; der Ruhm der preußischen Waffenthaten von 1866 wird bleiben,
das politische Gewicht derselben wird mit jedem Jahr geringer. Es liegt in
der Natur der Menschen und Staaten, daß das Bestehende Berechtigung und
die konservativen Interessen für sich gewinnt. Noch gilt die Verbindung der
Südstaaten mit dem Norden den widerwilligen Großmächten Europas, ja
sogar den Regierungen und Bürgern im Süden, für eine doch bevorstehende
Folge der nächstvergangenen Katastrophe; in Jahr und Tag wird diese Ueber¬
zeugung schwächer geworden sein, die süße Gewohnheit des unfertigen Daseins
wird ihre alte Berechtigung wiedergewinnen, die Deutschen werden in die
alte leidige Gemüthlichkeit zurückfallen, das Ausland seine Interessen im
deutschen Süden befestigt finden. Und in irgend einer künftigen Katastrophe
wird die weitergreifende Forderung des Nordhundes und der nationalen
Wünsche einen neuen Kampf mit der conservativen Stimmung der Staaten
und Völker zu übernehmen haben. Wieder würden die Preußen und Deut-
schen als Friedensstörer und Eroberungssüchtige angeklagt werden und unter
schwereren Kämpfen würde der neue große Fortschritt durchgesetzt werden
müssen. Darum gilt es, solange die Massen noch einigermaßen flüssig sind,
das Entscheidende zu thun, im Nothfall zu wagen.
Zumal gegenüber dem Auslande. Was zu verhindern im Jahre 1867
dem Kaiser Napoleon ohne tödtliche Gefahr für ihn selbst unmöglich war,
was im Jahr 1868 vielleicht noch eine Lebensfrage für ihn ist, das wird, je
weiter die Heeresorganisation in Frankreich fortschreitet, je mehr die Verhältnisse
Oestreichs sich befestigen, um so schwieriger. Noch im vorigen Jahre schien bei
einer Ausdehnung des Bundes über ganz Deutschland ernste Einmischung
des Auslandes nicht zu besorgen, jetzt betont sogar Oestreich, daß seine
Connivenz gegen den Bund nicht weiter reiche, als bis zur Mainlinie.
Selbstverständlich werden diese Prätensionen mit jedem Jahre wachsen, es ist
möglich, daß sie schon jetzt der diplomatischen Kunst die schwerste Aufgabe
stellen. Wir haben, so steht zu befürchten, nach dieser Richtung nicht gewon¬
nen, sondern verloren. Und jeder Blick auf die übrigen Großstaaten läßt erken¬
nen, daß diese Schwierigkeiten durch neue bevorstehende vergrößert werden
müssen. Es wird dem Nordbunde unmöglich sein, das alte Einvernehmen
Preußens mit Nußland zu bewahren. Die Anmaßung der panslavistischen Par¬
tei, die ungünstige Revision des russischen Zolltarifs und die Aushebung des
Zollcartels müssen der Anfang einer Entfremdung werden, welche trotz aller
entgegenstehenden Wünsche der Regierenden in naher Zukunft unvermeidlich
droht, und eine Annäherung zwischen Frankreich und Nußland anbahnt, die
bisher nicht durch widerstreitende Interessen der Staaten, sondern nur durch
die polnischen Erinnerungen aufgehalten wurde. Oestreich aber kann ein
Bundesgenoß des Nordhundes erst dann werden, wenn die Südstaaten Mit¬
glieder des Bundes sind, vorher würde der Preis, welchen Preußen sür ein
solches Bündniß zu zahlen hätte, einer Zerstörung Deutschlands gleichkommen.
Ist aber die Sachlage so, wie sie hier dargestellt wurde, und entsprechen
die Schlüsse für die Zukunft einer verständigen Wahrscheinlichkeitsrechnung,
so folgt daraus, daß die Bundesregierung und jede patriotische Partei den
möglichst schnellen Eintritt der Südstaaten in den Bund als einen Fortschritt
betrachten muß, welcher der größten Opfer werth ist. Denn wie diese
Staaten jetzt dahin leben, sind sie eine unablässige Sorge, ein Heerd fremder
Intriguen und sie werden in nächster Zeit eine starke Demüthigung des
deutschen Selbstgefühls werden. Wir haben ihnen gegenüber alle. Pflichten
und Gefahren, wir haben nicht die entsprechenden Leistungen, sie nicht die
großen Rechte. Und wir stehen jetzt vor der neuen Gefahr, daß Deutschland
in Wirklichkeit zerrissen wird, und haben uns zu hüten, daß das große
Werk, welches 1866 begann, nicht durch solche Folgen verdorben werde.
Aber was können wir thun, wenn sie selbst nicht wollen? Denn das
freilich ist klar, diese Sache kann nicht durch die Regierungen allein oder
zuförderst gemacht werden und nicht durch herausfordernde Initiative der
Bundesregierung, sondern vor allem durch den Volkswillen, in erster Linie
durch die Bevölkerung der Südstaaten. Und zeigen die bairischen Wahlen
nicht, wie ungefüge unsere Nachbarn im Süden für den Eintritt sind?
Wir lesen, daß man zu Berlin den Eintritt zumeist durch Baiern erwarte
und die Aufnahme Badens für gefährlich halte, weil sie die Schwaben und
Baiern in fremdes Lager treiben könne. Aber wenn wir warten wollen,
bis die Majorität des bairischen Volkes zuerst bei uns den Eintritt fordert,
dann steht zu besorgen, daß die Vereinigung der deutschen Stämme nicht
eher erfolgen wird, als bis der Stuhl Se. Peters auf den sieben Hügeln ver¬
fallen sein wird und die ultramontane Partei Kant und Hegel unter ihre
Heiligen rechnet.
Unsere Pflicht gegen die Deutschen außerhalb des Bundes, und unser
nationales Recht, den deutschen Staat unabhängig vom Ausland zu gestalten,
schreiben uns sehr deutlich vor, was uns obliegt. Wir haben freudig und
mit offenen Armen den deutschen Staat aufzunehmen, dessen Volksvertreter
im Einverständniß mit ihrer Regierung für sich den Eintritt begehren. Und
wenn die Badenser ihn fordern, so hoffen wir, sie werden den Bund sehr
bereit finden. Denn dies ist eine Angelegenheit vor allem der Ehre und dann
erst der Klugheit. Aber auch die beste Klugheit leitet, so scheint uns, zu dem¬
selben Ergebniß. Auf Baden würde Hessen folgen und diesem zögernd
Würtemberg. In Baiern aber mag nach solchem Vorgange ein heftiger
innerer Conflict entbrennen zwischen Franken und Oberbaiern. Wir können
dann das Resultat getrost abwarten.
Daß die Bundesregierung alles vermieden hat, was wie ein Werben
oder eine Beförderung des Eintrittes erscheinen könnte, das wird ihr Antlitz
gegen die düstern Mienen in Paris und der Hofburg zuversichtlich machen.
Welcher Fremde wagt ein Volk und einen Staat zu verhindern, nach eigenem
freien Ermessen politischen Anschluß an seine Landsleute zu wählen? —
Könnte dies aber in Deutschland der Fall sein, dann wäre unsere politische
Lage in der That so demüthigend und unfertig, daß wir den höchsten Preis
zahlen müßten, um uns aus ihr zu erheben.
Wer außerhalb der Geschäfte steht, dem fehlt jede Kenntniß des momen¬
tanen Bildes, welches sich in dem Geiste des Staatsmannes aus täglich
wechselndem Detail zusammenfügt. Aber er hat doch eine feste Richtung für
sein Urtheil, die auch der Politiker, welcher mitten in Geschäften steht, nicht
gering achten darf. Denn was jetzt der Deutsche ausspricht, das sind die
einfachen und alten nationalen Forderungen, dieselben Gedanken und Gefühle,
welche Millionen das Herz erheben, das Urtheil bestimmen und den Willen
richten, die Gebote unseres Rechts und deutscher Ehre.
In England werden zweierlei Sorten von Austern unterschieden, die
Natives und die gemeinen oder Canalaustern. Letztere sind bedeutend größer
als die ersteren; es gehen ihrer nur vier- bis neunhundert auf ein Bushel,
das fünfzehn- bis neunzehnhundert Natives faßt. Aber die Natives sind bei
weitem beliebter, sodaß sie gewogen acht- oder zehnmal, gezählt dreimal soviel
kosten, wie die gewöhnliche Sorte. Ein früherer Militärarzt, der sich neuer¬
dings dem Studium der Austern gänzlich gewidmet hat, Frank Buckland, ist
darauf verfallen, den Werth der verschiedenen Arten nach dem Verhältniß zwi-
schen dem Gewicht ihres Fleisches und dem Gewicht ihrer Schale abzustufen;
er fand, daß das Fleisch der Natives. derjenigen von Colchester und Whit-
stähle, den vierten Theil des Gewichts der Schale wiegt, das Fleisch der bei
Falmouth im Canal gefundenen Austern den sechsten Theil, das Fleisch der
künstlich aufgezogenen Austern der französischen Insel R« den fünfzehnten
Theil. In England gilt diese letztere Sorte denn auch schon ihres schlechten
Aussehens halber für unverkäuflich; aber in Frankreich nimmt man mit ihr
immerhin vorlieb und bezahlt dort gern einen Frank für dieselbe Menge
von Vendee-Austern, welche von den besten Natives in England einen Schil¬
ling kostet, nämlich direct vom Fischer im Jahre 1864 für zwanzig Stück.
Die Natives stehen also in dem unermeßlichen Austernverbrauch Eng¬
lands obenan. Ihr Fundort ist die Mündung der Themse und einiger
kleinerer Flüsse, welche sich an ihrem Ausflusse zumeist seeartig erweitern,
insbesondere des Colne und des Crouch in Essex, des Medway und des
Swale in Kent. Am Swale liegt der großartigste aller Austernparks der
Welt, der der vereinigten Fischer von Whitstable. Dies ist eine alte Gilde,
welche, wie manche andere der Art, ihren Ursprung bis auf die Zeiten der Er-,
oberung Englands durch die Normannen zurückführt, bis 1793 aber ihren
Grund und Boden nur in Erbpacht besaß. Eine besondere Parlamentsnote
ermächtigte sie dann,, das Eigenthumsrecht zu erwerben; sie that es, aber
gutentheils mit fremdem Gelde. In den dreißiger Jahren dieses Jahrhun¬
derts wurden die Schulden getilgt, und nun repräsentirt ihr Austernpark ein
Capital, das Kundige auf mehr als dritthalb Millionen Thaler schätzen, we¬
nig über vierhundert Genossen gemeinsam angehörend. Ihr Product gibt
aus dem londoner Markte den Ton an. Solange Natives von Whitstable
zu haben sind, lassen sich Feinschmecker mit keinen anderen abspeisen. Ro¬
chester am Medway und Colchester am Colne waren noch bis vor kurzem
Whitstables Nebenbuhler um den ersten Rang; aber die Gilde von Rochester
leidet jetzt unter finanziellen Nöthen, und in Colchester hat man versäumt,
junge Brut anzukaufen, weil zwischen der Stadt als Eigenthümerin des
Grundes und den Austernfischern MißHelligkeiten entstanden sind, welche die
Verwendung von Capital auf den Ankauf von Brut verhinderten.
Die Gesellschaft der Austernfischer von Whitstable hat jedem ihrer Ge¬
nossen im Durchschnitt der achtzehn Jahre 1846—1867 jährlich vierhundert
Thaler ausbezahlt, in den letzten drei oder vier Jahren, in denen die Vor¬
züge ihres Verfahrens zur vollsten Geltung kamen , sogar sechs- bis sieben¬
hundert Thaler jährlich. Um die Bedeutung dieses Ertrags richtig zu be¬
urtheilen, muß folgendes erwogen werden. Zunächst bekommen die arbeiten¬
den Genossen auch dann etwas, wenn Krankheit oder Alter sie verhindert,
an der Arbeit theilzunehmen, und auch die Wittwen von Mitgliedern, so
lange sie sich nicht aus der Gilde hinaus wieder verheirathen, haben An¬
theil. Eine solche Wittwe erhält ein Drittel des Manneslohns; ein noth-
gedrungen feiernder Mann noch mehr. Nur Kinder von Mitgliedern werden
in die Gilde aufgenommen. Sämmtliche Genossen wählen aus ihrer Mitte
einen Vorsteher, einen Stellvertreter des Vorstehers und einen Cassenführer.
Diese drei Beamten der Gilde ernennen zwölf andere Mitglieder zu einem
Ausschuß, der die Löhne, die Art der vorzunehmenden Arbeiten, die Menge
der jeweilig herauszufischenden und zu verkaufenden Austern bestimmt. Was
am Schlüsse der Jahresrechnung als Reingewinn übrigbleibt, wird unter die
Genossen vertheilt.
Als die Gesellschaft durch die angeführte Parlamentsacte freie Eigen-
thümerin geworden war, zählte sie nur sechsunddreißig Mitglieder. Seitdem
hat sich die Zahl ihrer Angehörigen rasch vermehrt, denn die Mitglieder¬
zahl betrug im Frühjahr 1865, also nach zwei Menschenaltern, schon vier¬
hundertundacht. Bis setzt ist indessen gleichwohl, wie es scheint, die Grenze
keineswegs überschritten, jenseits welcher die Zunahme der Zahl das Ge¬
deihen der Gesammtheit beeinträchtigen würde. Denn die Menge der Hände
hat eine ungleich sorgfältigere Bearbeitung des Parks möglich gemacht, und
diese hat sich aufs sichtlichste belohnt durch stetig wachsende Erträge, die
ihrem Höhepunkt augenscheinlich noch sehr fern sind. Denn von den drei
oder vier englischen Geviertmeilen, welche der Park bedeckt, sind kaum zwei
den Austern gewidmet. Der Rest bildet einen Ankerplatz nicht allein für die
Boote der Gesellschaft, sondern für allerhand Schiffe. Allerdings hat die
heute vorhandene Zahl der Mitglieder im Park nicht Arbeit genug, um den
ganzen Tag auszufüllen. Zwei bis drei Stunden täglich während der Ver¬
kaufszeit, und das doppelte etwa während der Monate Mai, Juni und
Juli reicht durchschnittlich hin. Aber die Leute lungern darum nicht müssig
herum. In ihrer freien Zeit sind sie theils beschäftigt, außerhalb des Parks
Brut oder magere Thiere zu suchen, die sie dann an ihre Gesellschaft ab¬
setzen gleich jedem anderen Fischer, oder auf sonstige eßbare Seethiere Jagd
zu machen, oder endlich Austern aus dem Park auf belgische Rechnung nach
Ostende zu bringen, wo ein großartiger Handel für den niederländischen,
französischen und deutschen Consum , der auf einhundertfünfzigtausend Thaler
im Jahre geschätzt wird, seinen Mittelpunkt hat. Berücksichtigt man ge¬
bührend alle diese Nebenverdienste, so wird man bekennen, daß vier- bis
siebenhundert Thaler festen Jahres-Einkommens aus der Gesellschaftscasse,
Achse einem hinlänglichen Theil desselben für Krankheits- und Altersfälle und
für die Hinterbliebene Wittwe, eine hübsche Versorgung einfacher Fischers-
leute selbst vor den Thoren von London ist.
Nichtsdestoweniger ist die Austernfischerei ein precärer Erwerbszweig, um
darauf eine stetiger Einnahmen bedürftige Genossenschaft von armen Leuten
zu gründen, und was in unmittelbarer Nähe des besten Marktes sowohl als
der besten natürlichen Austerngründe der Welt nicht mehreren, sondern nur
einer einzigen unter mehreren Genossenschaften völlig geglückt ist, das muß
sür diese Form des Betriebs doch wohl, wenigstens unter den gegenwärtig
gegebenen allgemeinen Umständen, überwiegende Bedenken haben. Die Er¬
fahrungen der prosperirenden Gilde von Whitstable weisen selbst eindringlich
darauf hin. Die Summen ihres Verkaufserlöses in den verschiedenen Jahren
schwanken unerhört. Von 49.691 Pfund Sterling im Jahre 1852—53 fiel
der Betrag auf 7681 Pfund im Jahre 1857—58, und von da hob er sich
im Jahre 1862—63 wieder auf 90,852 Pfund. Eine Gesellschaft muß ganz
außergewöhnlich viel Capital, oder ihre Mitglieder müssen ausreichende Neben¬
erwerbe haben, um solche schroffe Wechsel überstehen zu können. Die Austern¬
zucht ist keine Saat, die regelmäßig durch eine mindestens leidliche Ernte
lohnte. Zwischen 1850—1865 ist sie nur zweimal eingeschlagen, 1852 und
1858; die Brut, welche in einem solchen ergiebigen Jahre dem Leben gewon¬
nen wird, muß für die folgenden mageren Jahre mit vorhalten. Woher die
Mißjahre kommen, ist noch nicht völlig entschieden. Gewiß ist nur, daß sie
weit häufiger sind, als die glücklichen Jahre, zwischen Parks und freiem See¬
boden keinen Unterschied machen, und mehr oder weniger an allen europäischen
Küsten übereinstimmend eintreten, mindestens soweit der Golfstrom aus die
sie bespülenden Gewässer wirkt. Die meisten Praktiker nehmen daher auch an,
es sei ein Mangel an Wärme um die Zeit, da die Jungen das mütterliche
Gehäuse verlassen, also z. B. im Juli, woher die wenig oder nichts übrig¬
lassende allgemeine Sterblichkeit komme. Andere meinen, zu große Unruhe
im Wasser trage die Schuld, indem sie die junge Brut in Sand und Schlamm
ersticke.
Die neugeborene Auster ist allerdings ein gebrechliches Geschöpf. Ihre ^
Lebenshoffnung — um in der Sprache der Versicherungsstatistik zu reden —
steht im umgekehrten Verhältniß zu der Fruchtbarkeit des Mutterthieres.
Diese bis auf Zehner und Einer, ja auch nur auf Hunderte festzustellen, ist
nicht gut möglich; die ganze Production einer gebärenden Auster erscheint
dem unbewaffneten Auge blos wie ein lichter Schaum oder wie eine dünne
Flocke Schnee Aber mit dem Gewichte kann man dem Dinge einigermaßen
näher kommen, und da hat Buckland bei seinen Versuchen gesunden, daß die
Zahl der Kinder einer einzigen Austermutter zwischen 420,000 und 830.000
schwankt. Dieser Grad von Fruchtbarkeit muß alle Annahmen niederschlagen,
als ob die natürliche Austernzucht der See jemals durch „Raubbau" erschöpft
werden könnte. Geboren wird jeden Sommer, bis tief in den Herbst hinein,
ja Einige meinen sogar, das ganze Jahr hindurch; und wenn dann Luft
und Wasser einmal günstig sind, so wimmelt es von Milliarden junger
Thiere, welche die Kinderkrankheiten überstanden haben. Für das Netz des
Fischers gerettet sind sie damit freilich noch lange nicht alle. Ein starker
Wind oder Strom im Meere kann sie noch immer von der festen Basis ver¬
schlagen, auf welcher sie haften, an den Strand werfen oder in Schlamm
und Unkraut ersticken; sie können dem Seestern zum Opfer fallen, ihrem
gefährlichsten Feinde, dem Austernfischer genannten Vogel, oder sonst einem
darauf eingerichteten Gastronomen aus der schwimmenden oder fliegenden
Thierwelt. Diese Gefahren sind es, deren Beseitigung wohlangelegte Austern-
Parks und die sorgsame Behandlung dnselben im Gegensatz zu freien Austern¬
bänken so lohnend macht. In einem Park kommt das eigenthümliche Austern¬
netz, halb aus eisernen Ringen und halb aus gewöhnlichem Netzwerk
bestehend, das ganze Jahr über nicht zur Ruhe. Wenn es nicht nach reifen
und gesunden Thieren für den Markt fischt, so liest es Seegras, Seesterne
und alles, was sonst der Zucht schaden könnte, vom Grunde auf. Nur
wenn die Austern anfangen zu laichen, wird die Arbeit der Parkleute auf
einen bis zwei Monate ausgesetzt, um die junge Brut nicht zu zerstören.
Die sogenannte geschlossene Zeit, welche nach einem englisch-französischen
Fischereivertrag von 1839 vier Monate betragen soll, Mai, Juni, Juli und
August, und während welcher das Austernnetz überall nicht gebraucht, nicht
einmal an Bord genommen, und Austern auch zur Zucht oder zur Mästung
nicht verkauft werden dürfen, wird an den Küsten von Kent und Esser ein-
geständlich nirgends innegehalten, und auch anderswo umgangen. In der
That beruht ein guter Theil der Versorgung des unersättlichen englischen
Austermarktes darauf, daß die kaum eßbare Art, welche man in den Tiefen
des Canals, am irischen oder schottischen Strande findet, in die Parks links
und rechts von der Themsemündung verpflanzt wird, um sich dort zu mästen
und zu veredeln. Aus einer Tiefe genommen, wo die Temperatur geringeren
Wechseln unterliegt, überstehen diese Thiere nicht leicht den Winter in dem
seichteren Wasser, in welchem die Natives zu Hause sind; aber wenn man
sie den Frühling und Sommer hindurch dort niederlegt, so lassen sie sich im
Herbste einige Wochen früher auf den Markt bringen, als mit den Natives
zu thun gerathen ist, und füllen folglich eine Lücke im Handel aus.
Der englische Austernfischer gewöhnlichen Schlages, diejenigen der Gilden
von Colchester, Whitstable und Faversham eingeschlossen, will von einer
weitergehenden Züchtung, als er sie seit Jahrhunderten treibt, begreiflicher-
weise nichts hören. Aber seit einigen Jahren hat das große Capital ein
Auge auf die Austernzucht geworfen, und in seinem Gefolge wendet sich ihr
natürlich auch die halb speculative, halb theoretische Lust an praktischen Experi¬
menten zu. Es ist bekannt, daß der berühmte französische Gelehrte Coste
seine Fischzüchtungsunternehmungen auf die Austern mit erstreckt hat. Im
Canal bei Se> Malo, in Concarneau bei Quimper, auf den Inseln R6 und
Olvron bei La Rochelle sind derartige Anlagen gemacht und neuerdings viel
von wißbegierigen Engländern besucht worden. Was sie an diesen Versuchen
nachcchmenswerth und erfolgversprechend gefunden haben, wird gegenwärtig
sowohl in irischen Buchten und Strommündungen als auf dem unvergleich¬
lichen Austerngrunde des Themseausflusses in größerem Maßstabe zur An¬
wendung gebracht, und bei der geschäftlichen Energie, die dem Engländer
meistens eigen ist, dürfen wir bald von bedeutenden Ergebnissen zu hören
erwarten.
Mit der künstlichen Austernzucht ist es nicht ganz dasselbe, wie z. B.
mit der künstlichen Lachszucht; man kann sich der lebensfähigen Eier nicht
bemächtigen, ehe oder unmittelbar nachdem sie den Mutterleib verlassen haben,
um sie dann in eine solche Lage zu versetzen, daß sie zu selbständiger Bewe¬
gung und Ernährung heranreifen können. Aber was man vermag, ist, ihnen
die unentbehrliche Basis weiterer Entwicklung darzubieten. In den Parks
an der französischen Westküste werden zu diesem Ende Scherben aller Art
und dann hauptsächlich eine besondere Art von Ziegeln ausgelegt. Ein
Grund, der auch beim tiefsten Ebbestand noch eben mit Wasser bedeckt ist,
wird eingefriedigt durch eine niedrige Mauer von halb hohlen Ziegeln, je
vier übereinander, welche zusammen nicht höher als einen Fuß sind. Um
auf keinen Fall weggeschwemmt zu werden, sind sie mit Steinen beschwert,
Theils unter diese Ziegel, theils auf die den Grund bedeckenden Scherben
von Töpfen und anderer irdener Waare liebt es die eben ausgeschlüpfte
Auster sich niederzulassen, um den einmal gefundenen sicheren Platz freiwillig
dann nicht mehr zu verlassen. Man legte anfangs Faschinen, Reisigbündel,
hat aber bald gefunden, daß in diesen sich zu viel Schlamm ansetzte, als daß
die Brut darin hätte gedeihen sollen. Die Auster ist ein auf Reinlichkeit
haltendes, dem Glänzenden zustrebendes Thier; sie sucht als Standort mit
Vorliebe eine glatte schimmernde Fläche auf, Muschelschalen, kleine Kiesel¬
steine u. tgi. Die Ziegel der französischen Züchtungsparks, an Gestalt den
am Rhein gebräuchlichen Dachpfannen oder dem Halbschnitt einer Drainröhre
vergleichbar, sind mit einem Cement überstrichen, der sich leicht ablösen läßt,
wenn die darauf haftenden jungen Austern verpflanzt werden sollen. Wollte
man sie gleich vom Ziegel abnehmen, so liefe man Gefahr, ihre noch zarten
Schalen zu zerbrechen. Nach einiger Zeit aber müssen sie eben aus dem
Züchtungspark in den Mästungsteich, um fett genug für den Markt zu
werden. —
Von einer wirklichen Bewährung des französischen Systems zu sprechen
scheint noch zu früh. Professor Coste hat in Verbindung mit dem Dr. Kem-
merer zu Se. Martin auf der Insel R6, der die zahlreichen dortigen Austern-
Parks versuchsweise angelegt hat und leitet, über dieselben im Jahre 1863
oder 64 folgende Zahlen veröffentlicht: 2424 Züchtungsparks und 839 Mä-
stungstetche, zusammen eine Fläche von 146 Hectaren einnehmend, 74,242,000
Austern in jenen und 1,026,000 in diesen, Iahresertrag sämmtlicher Parks
1,086,230 Franks und sämmtlicher Teiche 40,015 Franks, zu vertheilen unter
1700 Eigenthümer. Die Austernzucht ist dort natürlich nur eine Nebenbe¬
schäftigung der dem Ackerbau, der Schifffahrt oder dem Fischfang sich wid¬
menden Bevölkerung, nicht wie in Whitstable das Hauptgewerbe, das durch
andere Erwerbszweige nur ergänzt und in seinen Schwankungen einigermaßen
ausgeglichen wird. Sonst ließe sich weder die aus obigen Zahlen hervor¬
gehende durchschnittliche Zwerghaftigkeit der Parks erklären, noch daß ein
so geringer durchschnittlicher Gewinn die Leute bei dem Gewerbe festzuhalten,
vermag.
Dieses Jahrbuch — unseres Wissens seit der Faucher-Michaelisschen Viertel¬
jahrsschrift die erste ausschließlich der Volkswirthschaftslehre gewidmete Perio¬
dische Schrift — hat sich schon durch die Namen seiner Mitarbeiter in vortheilhaftester
Weise in die Lesewelt eingeführt. Der Herausgeber selbst ist durch einen ausführ¬
lichen, 26 Seiten umfassenden Bericht über den letzten, zu Hamburg im Herbst vo¬
rigen Jahres abgehaltenen Congreß deutscher Volkswirthe vertreten; in der Vorrede
verspricht er, die folgenden Jahrgänge seines vorzüglich der Popularisierung national-
ökonomischer Lehren gewidmeten Unternehmens sofort nach Beendigung des Congresses
erscheinen zu lassen. Die übrigen Beiträge rühren zum großen Theil von den
hervorragenden Vertretern der volkswirthschaftlichen Literatur Deutschlands her;
Vr.'Braun ist durch die deutsche Uebertragung einer Abhandlung des bekannten
pariser Gelehrten Wolowski „Vom Geld" vertreten. K. Scholz durch einen Artikel
„Freizügigkeit und Jndigenat im deutschen Bunde"; I. Hirsch schildert im Auftrage
des Präsidenten Dr. Lette „die bisherige Wirksamkeit des berliner Vereins zur För¬
derung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts", Dr. Makvwiczka bespricht
die Tabakssteuerfrage, Prince-Smith die „volkswirthschaftliche Gerechtigkeit". Endlich
ist or. Julius Faucher durch eine sehr anziehende, im besten Sinne populäre Be¬
sprechung der Strikes vertreten. welche es Wohl verdiente,, auch in weiteren Kreisen
bekannt , zu werden, weil sie unter vollständiger Anerkennung des Rechts des
Arbeiters auf Erringung möglichst hoher Löhne die Gefährlichkeit der Anwendung
von Zwangsmitteln zur Erreichung dieses Zwecks mit vieler Schärfe nachweist.
Bei dem zunehmenden Antheil aller gebildeten und auch der halbgebildeter
Classen der deutschen Gesellschaft an den Fortschritten und der Bedeutung der
Volkswirthschaft kann auf einen glücklichen Fortgang des „Jahrbuchs" mit einiger
Sicherheit gerechnet werden. Der Zweck desselben, Verbreitung gesunder Wirthschaft--
licher Anschauungen im großen Publikum, macht der Presse die möglichste Förde¬
rung umsomehr zur Pflicht, als die Kenntniß jener großen Gesetze der Natur,
welche (wie das Vorwort anführt) unsere besten Schutzmittel gegen das Vorurtheil,
sind, zugleich die festeste Mauer gegen die socialistischen Umtriebe der Schüler Lassalles
bildet, deren zunehmender Einfluß auf die arbeitenden Classen vielfach mit einer
gewissen Leichtfertigkeit unterschätzt wird.
Die vierzehn in dem vorliegenden Buch veröffentlichten Briefe über conservative
Partei und Politik in Preußen sind ursprünglich in Glasers „Jahrbüchern der
Staats- und Gesellschaftswissenschaften" (B. 7 und 8) erschienen und dürften gerade
in dem gegenwärtigen Zeitpunkt, in welchem die infolge der Meinungsverschieden¬
heiten über den hannoverschen Provinzialfonds entstandene Spaltung der conser-
vativen Partei Gegenstand des allgemeinen Interesses ist, auch in weiteren Kreisen
nicht ohne Theilnahme gelesen werden. Für die Stimmungen und Ansichten,
welche die conservativen Kreise Preußens bewegen, sind diese Briefe in mehrfacher
Beziehung charakteristisch, zumal sie ziemlich entschieden dagegen Protest erheben, die
Begriffe Junkerthum und Konservatismus identificirt zu sehen. Auf die eigentlich
praktischen Fragen wird — und so ist es in den conservativen Kreisen Preußens
von jeher gewesen, nur flüchtig eingegangen, dagegen über allgemeine theologische
ethische, sociale u. s. w. Prinzipien, Bedeutung des Königthums von Gottes Gna¬
den, der historischen Schule u. s. w. eines breiteren gehandelt. Wenn wir der
Bildung der freiconservativen Partei (von welcher a. a. O. übrigens nicht die Rede
ist) auch nur das eine zu danken hätten, daß dieselbe dem Hin- und Herreden über
die religiösen und moralischen Grundlagen des Conservatismus ein Ende gemacht
und als das aufgetreten ist, was sie sein soll, Vertreterin einer bestimmten Gruppe
von Interessen, so wäre der Gewinn schon ein beträchtlicher!
In dem Artikel Ein Trobador des 13. Jahrhunderts (Ur. 7) zu lesen: xa-z.
252 Z. 1 v. o. „schürt" statt schiert; MZ. 253 Z. 22 v. o. „Fauriel" statt
Faurill; xa-
z. 258 Z. 15 v. o. „Riuples" statt Rinples; 259 Z. 3 v. u.
„Guardastagno" statt Guartastagno; xa-z. 260 Z. 13 v. o. „Crescimbeni" statt
Crescibeni. Auf Wunsch des Herrn Verf. tragen wir nach, daß der in Rede stehende
Artikel von Herrn Franz Hüffer in Berlin verfaßt ist.
Unter den geschichtlichen Quellen nehmen die satirischen Gedichte eine
eigenthümliche und nicht unbedeutende Stelle ein. Da die Satire die Wirk¬
lichkeit schildert mit der Absicht zu tadeln, so liegt es in ihrem Wesen, daß
sie möglichst auf die Einzelheiten eingeht, daß sie Personen, Ereignisse, Zu¬
stände in den kleinen, äußerlichen Zügen darstellt, welche die absichtlich
zum geschichtlichen Zeugniß aufgesetzten Urkunden und Berichte übergehen.
Für die Zeitgenossen bestimmt, kann die Satire wohl übertriebenes, verzerr¬
tes, nicht aber völlig unwahres und unmögliches berichten: dem Nachkommen
gewährt sie daher einen unschätzbaren Einblick in das Kleinleben der Geschichte.
Diesen Werth dürfen auch die Gedichte beanspruchen, welche hier bespro¬
chen werden sollen.*) Sie führen uns mit großer Treue und Breite ein
Stück der deutschen Geschichte in seinen Persönlichkeiten, seinen Stimmungen,
seinen Zuständen vor. Dabei verschlägt es nicht viel, daß die allerdings
zuerst aufstoßende Frage nach dem Namen des Dichters noch nicht beant¬
wortet werden kann. Denn das wichtigste an diesen Gedichten ist eben nicht
die Persönlichkeit des Verfassers, sondern sein Gegenstand, der geschichtliche
Kreis, dem er angehört, seine Zeit und seine Heimath. Und hierüber sind
wir zur Genüge unterrichtet. Unser Dichter war ein Oestreicher und er dichtete
in den letzten zwei Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts. Vergegen¬
wärtigen wir uns zunächst mit wenigen Zügen die Ereignisse, welche dieser
Zeit vorausgingen und die Entwicklung Oestreichs in ihr bedingten.
Als im Jahre 1273 Graf Rudolph von Habsburg zum deutschen König
erwählt wurde, sah es bekanntlich in Deutschland sehr trüb aus. Die deutsche
Nation, eben noch in den Kreuzzügen des Rothbarts und Friedrich II. als
die erste der Christenheit anerkannt, war seit dem jähen Sturze der Hohen-
staufen aufs tiefste in der fremden und eigenen Achtung gesunken; nach außen
ohnmächtig, im innern durch zahllose wilde Fehden zerrissen. Am schlimmsten
aber stand es damals mit den südöstlichen Grenzgebieten, mit Oestreich und
Steiermark; hier war noch vor dem Interregnum des Reiches ein Interreg¬
num des Landes eingetreten. 1246 war Herzog-Friedrich der Streitbare,
der letzte aus dem glorreichen Stamme der Babenberger, in einem siegreichen
Treffen gegen die Ungarn gefallen. Alsbald erhoben sich von verschiedenen
Seiten Ansprüche auf die verwaisten Land.er; unter den Bewerbern trug, vom
Papste begünstigt, Ottokar von Böhmen den Sieg davon. Seine Rechts¬
ansprüche hatte er durch eine Vermählung mit Margarethe, der Schwester
des Herzogs Friedrich, begründet; als er jedoch Oestreich sicher in seiner Ge¬
walt zu haben glaubte, verstieß er die schon Bejahrte. Ihr Schicksal war ein
Bild dessen, was das Land zu erdulden hatte. Oestreich war bereits durch die
Erbfolgekriege, die namentlich von Seiten Ungarns mit barbarischen Verwü¬
stungen geführt wurden, furchtbar mitgenommen. Nun trat auch die Herr¬
schaft des übermüthigen Böhmen mehr und mehr in ihrer wahren Gestalt
hervor. Seine Willkür und Grausamkeit wandte bald die Herzen seiner
Unterthanen von ihm ab und ließ sie mit Sehnsucht nach einem Befreier
blicken.
Und dieser sand sich allerdings. König Rudolph erkannte sofort, welche
Zukunft seinem Hause bevorstand, wenn es ihm gelang, die rechtlich herren¬
losen Länder Oestreich und Steiermark zu gewinnen, und er nahm den Kampf
gegen den scheinbar übermächtigen König auf. Als Ottokar sich weigerte,
seinen unrechtmäßigen Besitz dem Reiche zurückzugeben, zog Rudolph 127K
mit einem kleinen Heer in Oestreich ein; die Nachbarn unterstützten ihn, die
Landesangehörigen erhoben sich für ihn. Wien widerstand eine Zeit lang,
durch eine Partei des Rathes beherrscht; mit der Uebergabe der Stadt aber
brach auch der Muth des Böhmenkönigs. Er trat Oestreich und Steiermark
ab, Rudolph nahm es in seinen Besitz. Vergebens, daß Ottokar nochmals
1278 mit einem von allen Seiten gesammelten Heere in Oestreich einbrach;
Rudolphs treffliche Leitung, die Tapferkeit der Seinigen und die Hilfe des
jungen Ungarnkönigs errangen den entscheidenden Sieg auf dem Marchfelde.
Ottokar selbst siel; den Frieden mit seinem Erben stellte Rudolph her, indem
er ihn mit einer seiner zahlreichen Tochter verheirathete. Dann verfügte er
über die nun dauernd erworbenen Länder. Er belehnte im December 1282
seine Söhne Albrecht und Rudolph mit Oestreich, Steiermark und Krain,
übergab aber 128Z am 1. Juni auf die Bitte der Landesherren, der vor¬
nehmen Ritter, Albrecht allein die Herrschaft.
Wie sich nun Oestreich unter Albrecht befand, wie sich aus den Nach-
Wirkungen der langen Rechtlosigkeit und Verwilderung ein östreichisches Lan-
desgefühl und die Anhänglichkeit an das neue Herrscherhaus stark und immer
stärker erhob, das läßt sich aus den Satiren unsers Dichters am besten er¬
kennen. Es wird am angemessensten sein, sie nach ihrer zeitlichen Folge
durchzunehmen.
Das älteste dieser Gedichte (XIV) ist noch im Frühjahr 1283 verfaßt,
da es von zwei Herzögen spricht. Es enthält schon den Gedanken, den
der Dichter später mit Vorliebe verfolgte, aber noch in allzu knappen, un¬
reifem Ausdruck. Jedes Land, so heißt es, habe seine eigenthümlichen Sitten,
nur Oestreich nicht; da seien die Leute windschaffen, d. h. wankelmüthig,
wetterwendisch. Der alte Herzog Friedrich habe sich ungarisch getragen,
dann habe man den Sachsen ihr kurzes Haar nachgeäfft. Auch die böhmische
Art sei nicht spurlos vorübergegangen; das zeige der Morgengruß äodi'Mo.
Und so ahme man auch den Meißnern nach, den Baiern, Steirern, Kärnt¬
nern, Krämern, Wälschen, Schwaben. Ja die Schwaben! Ihre Sättel, die
wie Krippen um den Reiter herumliefen, ihre Bickelhauben, das alles habe
man ihnen zu verdanken. Im Ganzen stehe es wohl um Oestreich unter dem
Doppelregiment der Söhne des römischen Königs. Ein so vorzüglicher Friede
ward noch nie im Land, der König selbst sende seinen Schutz vom Rhein
her. Zum Danke dafür sollten nun die Dienstmannen, die mit Reichs-,
geistlichen und fürstlichen Lehen begabte Ritterschaft an den Rhein ziehn und
dort, wie der Dichter sich mit einer Anspielung auf die Nibelungen aus¬
drückt, den Wein König Etzels bezahlen, d. h, ihre Haut zu Markte tragen.
Abgesehen von dem Spott über die Schwaben, die mit den Habsburgern
ins Land gekommen waren, spricht sich der Dichter hier noch ziemlich aner¬
kennend über die neue Herrschaft aus. Ganz anderen Stimmungen gibt das
nächste Gedicht (V) offenen Ausdruck. „Wen es nicht verdrießen mag, der
höre an des Landes Klag! Seid ihr getreu dem ron'schen Reich, so klag
ich, König Rudolf, euch und allen euren Schwaben, die durch vier Jahre
haben, von mir, dem armen Osterland,— es ist euch sicher noch bekannt, — ihren
Unterhalt genommen. Fürwahr, das ist mir schlecht bekommen. Nicht länger
sei's verschwiegen, wie ich mich ließ bekriegen. Der Herzog, den ihr mir
gesandt, fällt mir der Ungarn Volk ins Land, dann reitet er zum Jagen.
Die Herzogin muß ich verklagen, die ist für's Gut so eingenommen, so
viel sie irgend kann bekommen, das schiebt sie alles in den Sack und sendet
dann das volle Pack zu ihrem Vater, daß ihr's wißt, der dort in Kärnten
Herzog ist." — Und nun geht es über die neuen fremden Beamten her,
über den Landschreiber, über den Grafen von Nabenswalde, und ganz be¬
sonders über den listigen Fuchs, den Haug von Taufers; der eine schicke
nach Nürnberg, der andre nach Thüringen, der dritte an die Etsch, was sie
nur zusammenraffen könnten. Ja, auch die Damen am fürstlichen Hose gehen
nicht leer aus. Da sei die Schwester des von Helfenstein, eine alte karge
Schwäbin, die leihe Pfenninge aus, um dafür eine Mark zu nehmen, und
kaufe Weizen und Korn auf, um es zu behalten, bis etwa ein theures Jahr
komme. Natürlich werden auch die Geistlichen nicht geschont: der Abt von
Admont, der Ordensbrecher, der in die Hölle fahren solle. Und endlich die
weltlichen Räthe des Herzogs. Das seien nur vier, und zwei von ihnen
noch dazu bei dem ungarischen Grafen Iwan von Güssing in Gefangenschaft.
Wenn die ganze Gesellschaft in den Schmutz versänke, dann wäre noch zu
wünschen, daß sie das Wasser nicht unlauter machten. Des klagt das arme
Oestreich, zum ersten, zweiten und dritten Mal und verwünscht zuletzt den
König selbst in ganz unehrerbietig derbem Ausdruck.
Man kann nicht leugnen, bittrer, ja frecher konnte ein Unterthan nicht
von seinem Fürsten reden. Aber es ist auch das schlimmste. Es ist der
letzte, volle Ausbruch der Unzufriedenheit, die das straffe Auftreten der
Habsburger und ganz besonders des Herzogs Albrecht in Oestreich hervor¬
gerufen hatte. Sah sich schon Rudolph genöthigt, die Steuer des Böhmen¬
königs doppelt zu erheben, so wurde nun zweierlei als besonders drückend,
ja als unerträglich empfunden. Einmal, daß es die Fremden, die Schwaben
waren, die die besten Stellen im Lande erhielten, und sodann, was uns als
gewichtiger erscheinen wird, daß man bei all dem durchgreifenden, hochbe¬
steuernden Regiment weder von der furchtbaren Pestbeule jener Zeit, dem
Raubritterthum befreit ward, noch auch Schutz gegen außen, vor allem gegen
die grausamen Verheerungen der Ungarn hatte. Dies letzte sollte aber bald
anders werden. Im Jahr 1289 sammelte Albrecht ein gewaltiges Heer und
brach in Ungarn ein. Graf Iwan von Güssing, der an den Landesgrenzen
auf einer ausgedehnten und fast ganz unabhängigen Herrschaft saß und von
da aus die deutschen Nachbarn unaufhörlich beunruhigte, wurde angegriffen,
eines feiner Raubnester nach dem andern fiel, die Städte, darunter Preßburg
wurden von den wiener Bürgern für ihren Herrn besetzt gehalten. Zwar
waren diese Erfolge keine bleibenden; denn König Andreas, der bald darauf
den ungarischen Thron bestieg, siel, von dem patriotisch erregten Adel ge¬
trieben, 1291 mit zahllosen Neiterschaaren in Oestreich ein, belagerte selbst
Wien; aber der noch am Ende des Jahres geschlossene Friede, der dem Grafen
Iwan sein Gebiet zurückgab, nöthigte ihn zugleich, seine Burgen zu brechen.
Mit dem Ungarnzug Albrechts änderte sich auch die Stimmung unseres
Dichters. In einem Gedichte (VI). das er. die Samenunge d. h. die Ver¬
sammlung des Heeres genannt hat, fordert er die vornehmen Dienstmannen
auf, ihr großes Gut anzugreifen und mit zahlreicher Ritterschaft auf dem
Sammelplatz zu erscheinen. Da werden die einzelnen geschätzt, der Herr von
Rabenswald soll hundert Reiter bringen, die von Kunringen dreihundert,
der Marschall von Meissau zweihundert u. s. f. Der eine wird gemahnt,
sich nun dem Herzog dasür dankbar zu erweisen, daß er den Haug von
Taufers vertrieben habe; denn vor dem wäre ihm doch nichts übrig geblieben.
Ein anderer muß sich daran erinnern lassen, daß er keine Kinder habe, und
wie habe vor Zeiten der Dichter Bernhard Freidank kurz und gut gesagt?
»Wer seine Wittwe viel läßt erben, macht, daß sie desto mehr umwerben."
Schwieriger war es, den Wünschen des Dichters, der damit gewiß die
Meinung aller Redlichen aussprach, in einem andern Punkte gerecht zu wer¬
den. Das Raubritterwesen hatte während des Interregnums unter dem
Deckmantel der politischen Fehden furchtbar überhandgenommen. Sowohl
die friedlichen und schutzlosen Landleute wurden beraubt und gequält, als auch
die Waarenzüge der Städter geplündert und ihre Führer zur Erpressung von
Lösegeld eingekerkert. Kaum ein Zeitgenosse gibt uns von diesem Unglück
und dieser Schmach so glührothe Bilder als unser Dichter. Und wer will
es ihm verdenken, wenn er vor allem den Herzog anklagte, der dieser ent¬
setzlichen Landplage zu steuern habe?
Greifen wir eine dieser Schilderungen heraus, die nicht sowohl das Ver¬
derbliche, Verbrecherische dieses Treibens mit Entrüstung geißelt, als viel¬
mehr die Verkommenheit der Raubritter und ihrer Helfershelfer verhöhnt.
Diese Schilderung findet sich in einem Gedicht (XIII), das sich für den Brief
eines fahrenden Spielmanns an seinen Collegen ausgibt: der Briefsteller,
der übrigens als nun schon verstorben bezeichnet wird, heißt Seifried Helb-
ling, der andere Julian. Beide werden als KovegumpsImM d. h. Hofpossen¬
reißer bezeichnet — ein wenig ehrenvoller Titel; aber die Selbstbekenntnisse
Seifried Helblings rechtfertigen ihn durchaus. Sie zeigen, daß Ritter und
Sänger, die der Beginn des dreizehnten Jahrhunderts nach gleich idealer
Höhe strebend gesehen, am Ende desselben Jahrhunderts beide schon ebenso
tief gesunken waren. Der Dichter versteht es, diesen Wechsel in das rechte
Licht zu setzen. Er läßt seinen Briefschreiber damit beginnen, daß er nun
alt und hinfällig sei. und was noch schlimmer, daß er die besten, die nach
hohen Ehren strebenden überlebt habe. Nun folgt eine Aufzählung der
östreichischen Edeln aus der letzten Zeit der Babenberger. Da werden die
von Hardeck genannt, die im Jahre 1260 den Heldentod bei der Vertheidi¬
gung der Landesgrenze gegen die Ungarn gefunden hatten. Dagegen, sagt
Seifried Helbling, müssen selbst die gefeierten Helden der Tafelrunde zurück¬
stehn. Welche Muster von Ritterschaft waren das, Kot und Kraft von
Sleunz. die Kunringer Heinrich Hadamar Alber, Rapot von Valkenstein,
und wie sie weiter heißen. Wo ihre Wappenschilde glänzten, zwölf Striche
zobelschwarz und lichtgolden, oder das Einhorn, oder der Löwe, da ward
den Feinden auch mit Löwenmuth begegnet. An ihnen hätten selbst Ga-
muret und Parzival harte Gegner gefunden, die Herr Wolfram von Eschen¬
bach so hochgepriesen habe, obschon er keinen von ihnen je gesehen; ihm
aber, sagte Seifried, seien jene wohlbekannt gewesen. „Die Edlen klag' ich
ewiglich." So schließt er die Bilder der alten Zeit und wendet sich zur
neuen. „Doch muß ich nun erhalten mich, aus welche Art ich immer kann.
Lieber Freund, Herr Julian, komm' ich in Markt' und Städte, find' Hel¬
den ich am Brette; die raunen sich und winken. Hei, wie die Wackern
trinken, die Speerewälderbrecher! Man sieht sie volle Becher in ihren Händen
schwenken und sie-zur Tjoste senken, die ihnen nicht viel Mühe schafft- Und
wenn sie nun den Rebensaft besiegt, sieht man sie Schnippchen schlagen:
,Hurrah, Gesell, das muß ich sagen, ein edler Wein, ein schöner Fund!
Wer könnt' versagen ihm den Mund! Er ist so schneidig, lind und klar."
Gar klüglich stell' ich dann mich dar Und bringe meinen Gruß so an. Den
höre lieber Julian. Ich sag' „Von Dänemark Herr Frut, der geb' euch
ewig frohen Muth, und mög' zu diesem schönen Wein Herr Saladin euch
Glück verleihn!" (König Frut und Saladin sind die stehenden Muster und
Schutzpatrone der Freigebigkeit, der Milde.) „So grüß' ich diese werthen
Herrn. Mir sehn dich, lieber Seifried, gern/ So ruft ein frommer Knappe
mir. ,Frau, bringt ihm Wein, und kostet's vier!' Der andere läßt sich hören:
,Das sollt' mich wenig ehren, wollt' ich den Gruß ihm nicht gedenken.
Frau, heißt ihm für sechs Pfenning schenken! die nimm zu Liebe mir und
trink, mein Seifried, lieber Helbling!' Der dritte und der vierte dann die
bieten mir noch andres an. Nun steht mein Spiel so wie es soll. Und bin
ich zur Genüge voll, auf tropf ich mir das Röcklein dann. ,Jhr edlen
Herren, hört mich an: Ich kann euch gute Mähre sagen. Ich sah wohl zehen
Krämerwagen — bei meiner Treu, 's ist ungelogen — die auf der Kreuser'
Straße zogen. Die Ladung ist nicht gerade schwer, sie führen jetzt ihr Geld
daher für Weizen an die Ems hinaus/ Nun Julian, jetzt pass mir auf,
was sie für Namen haben, es sind gar schlaue Knaben. .Seifried, sei still,
du sprachst zu laut!' So ruft mir Künzel Unkraut. Brechenfried und Bauern¬
haß die sagen leise .Sprich und laß uns hören, was du kannst berichten-^
Der Herzog wird doch nimmer richten. Der hat soviel zu schaffen mit Laien
und mit Pfaffen; so kommt er nimmermehr dazu/ ,der läßt uns noch auf
lange Ruh. Drum laßt das Glück uns haschen!' Sprach Eilinsgrab Steh-
beiderflaschen. ,Wir wollen Eidgenossen sein. Laßt, wie sie woll'n, die
Pfaffen schrein, wir schaffen uns Gut und Gewinn. Und trat der Teufel
vor mich hin, ich schlug ihm eins in seine Kehle, He, Endohnreu und Mord-
dieseele, Auf, eure Kraft zu messen! Daß euch die Bären fressen!' ,Herr
Grollhard, hört!' sprach Knickdenriegel, ,Wenn ich nicht heut die Bauern
Striegel', sei ich vom Rosenmund verbannt!' ,Stopfensack, bist du zur Hand?'
Sprach Großschlund, sein Geselle fein: ,Wir fliehn nicht in den Wald hinein.
Der Landfrieden ist ja so gut, daß keiner irgend was uns thut/ ,Wie freu
ich mich!' sprach Geißfuß. Nun höre, Freund, boshaften Gruß! ,Gott soll
den Herzog uns erhalten, bei dem wir so im Lande schalten!' — Zur Straße
eilen dann die Herrn, ich folge hinterdrein von fern. Denn seht, so muß
ich mich ernähren, Herr Julian, und davon zehren. Wenn ich da Scharlach
nicht erjage, noch Zobel, nun was thut's? ich trage ein Bauernwamms
davon, auch gut. ,Jhr edlen Herrn, habt guten Muth!' So seur' ich an
solch einen Ritter. Und kehrt er dann zurück und tritt er ins Haus, so
mahnt sein Liebchen ihn, Daß er die Bauern lasse knien." — Der Brief
schließt mit dem Wunsche, daß Herr Julian indessen im Viertel unterm
Mannhardtsberg mit demselben Geschäft recht viel Glück haben möge.
Zeigt- sich nun der Dichter in dieser Schilderung mehr als Spötter
denn als bittrer Tadler, so neigt er in mehreren anderen Gedichten noch
mehr zu einer ruhigen Auffassung und zu heitern, lächerlichen Bildern. Zu
dieser Mäßigung mochte er auch dadurch veranlaßt werden, daß seine früheren
Gedichte ihm nicht wenige Feinde gemacht zu haben scheinen. Er suchte daher
die Verantwortlichkeit für seine kecken Reden von sich selbst abzuwälzen und
fand eine sehr glückliche Figur, die er zu ihrem Träger machte. Er gab fortan
seinen Gedichten die Form von Gesprächen mit einem Knappen, den er so
dreist und fürwitzig erscheinen ließ wie er wollte, während er selbst ihm gegen¬
über eine zurückhaltende, mildernde und belehrende Stellung einnahm. Er
verglich diese Dichtungsform in dem Einführungsgedicht (I.) mit dem Buche
Lucidarius, einem damals beliebten Katechismus.
Die einzelnen Fragen, die der Knappe hier thut und der Ritter beant¬
wortet, sind nun nicht gerade in logischer Ordnung aneinandergereiht. Nach
Besprechung einiger Gegenstände allgemeiner Art, des Geizes, der Thorheit,
die ein Alter begeht, indem er eine junge Frau nimmt, — springt der Knappe
über zu einem ganz besondern Thema, dem Lieblingsthema unseres Dichters.
Er verwundert sich, daß in Ungarland, so groß es sei, die Leute doch nicht
einen Fuß breit von ihrer ungarischen Landesart abgingen, während in Oest¬
reich, dem kleinen Herzogthum, so ganz verschiedene Sitten herrschten. Da
seien einige in der Gegend ob dem Mannhardtsberg, die trügen eine so
wunderliche Art von Wamms, daß an einem ihrer Aermel vier Männer zu
ihren Wappenröcken genug hätten. Wo in der unförmlichen Gestalt der
Rücken und wo die Brust stecke, könne niemand errathen. Der Meister ent¬
gegnen. ,Nun ermiß an deinem Leide, wie ich es dir bescheide. Der Rock
ist das beste Einkommen des Trägers, wenn er bei Nacht und Nebel über
Feld reitet. Dann trägt er Brecheisen, Dietriche und eine ganze Rüstkammer
von solchen artigen Werkzeugen in seinem Wamms, das von Rechtswegen
eine Diebskutte heißen sollte/ — Der Knappe führt ein neues Bild vor:
Ungarisches Haar und bairisches Gebahren, an den Ellenbogen lange Zipfel;
die Stiefeln sind wohl zu sehen; denn der Nock ist ganz unanständig kurz;
mit dem Aufschürzen braucht er sich freilich nicht zu bemühen. .Ein Kraut¬
junker' entgegnet der Ritter; wer den Esel nicht erkenne, der solle nur nach
den Ohren sehen. — Noch mehr weiß der Knappe: einen vorn mit großem
Schöpf, hinten kurz geschoren, daß das Haar kaum einen Finger breit vor¬
guckt. Und doch hat er kein Landgut in Thüringen oder Sachsen;- auch ist
ihm nie in Meißen die Kornsaat verunglückt; denn nie kam er dahin. Rede
man ihn aber an, dann antworte er: „Wat wolt gi, halig Kumpan?" Ob
das wohl ein rechter Oestreicher, ein Ostermann sei? „El nein", ist die Ant¬
wort, „der mit seinem wat wat, mit seinem kurzen Kopf und langen Hals ist
eine rechte Ostergans.' —Nun aber kommt eine Figur, die der Dichter offenbar
mit besonderer Liebe gezeichnet hat. Vor dem Leithaus — der Schänke — steht
ein Knappe, im Wamms von Eisenringen, darüber einen Nock von feinem
pöltinger Tuch und hübschem Schnitt. Im breiten, etwas herabhängenden Gurt
steckt sein Daumen, die anderen Finger umspannen ein Misencar, ein Gnaden¬
messer. Die linke aber drückt auf den prächtig gezierten Griff des Fiambergs.
sodcch die Spitze hinten emporsieht. Eisenhandschuhe schützen beide Hände,
auch Hut und Gottler sind mit Eisen eingenäht. Dem Jüngling kommt die
Wirthin entgegen, die er um Wein anspricht, indem er unter Flüchen be¬
theuert, alles bezahlen zu wollen, und wenn er's seinem Vater stehlen müßte.
.Was denkt ihr, Frau? Ich bin nicht arm. Mein frommer Knecht, der
Wolfesdarm") zieht grad' ein Thier in euren Stall, — Hätt' ich die Wahl
der Hengste all, ich nähm' nicht drei für den allein. Seht, ob der kräftig
wol mag sein! Ein Fallthor brach' vor seinem Schnauben; und wenn, das
sollt ihr gern mir glauben, der Himmel auf die Erde siel, ich fürchtet' nicht
'nen Pappenstiel das Rumpeln: Denn er flog' dazwischen hindurch und sollt'
mit mir entwischen/ Derweile kommt der andere Knappe, Geierskropf, der
soeben vom Essen aufgestanden ist und sich nun ein's Trinken begibt. ,Frau
Wirthin, bringt den Leuten Wein!' rief Geierskropf, der wackre Zecher.
Sie bracht' ihm einen vollen Becher, den sog er in den Schlund hinein-'
Welch gute Kehle ist doch meine! Was da für Dings hinunterfährt und
mir vom Leib den Mangel wehrt!' Und als nun die Frau dem Herrn die
Unersättlichkeit der Knechte klagt, bestätigt das Wolfesdarm: ,So krank möcht'
ich noch niemals sein, ich zaust' euch doch ein Ochsenbein wie einen kleinen
Gänsefuß.' Ist das nun östreichische Landessitte? fragt der Knappe zum
Schluß und erhält eine Antwort, die auf eine im Mittelalter oft, sogar in
den Nibelungen, berührte Stammesverschiedenheit hinweist. Die Oestreicher
sind die harmlosen, heitern, höflichen, und ihr gerader Gegensatz die Baiern.
So heißt es denn auch bei unserm Dichter: Nicht östreichisch sei diese Händel-
und Raublust, diese Gier und Maßlosigkeit in Speis und Trank, sie stamme
vielmehr von den Baiern her. Die seien so oft von Landshut herübergekom¬
men, hätten geraubt und gepraßt und sich so für ihre Armut daheim auf
ihren Steinklippen am östreichischen Reichthum entschädigt. Leider aber gebe es
auch in Oestreich so manchen Osteraffen, der gelehrig alles, was er sehe, nach¬
mache. — Der Knappe fährt fort: .Sagt, lieber Herr, wer mag das sein?
Ich sah hier manchen also fein an Haltung und in Reden klug, fast schien
es mir, mehr als genug. Ihm ist ein Freund entgegenkommen, da hab' ich
diesen Gruß vernommen: ,Gott gebe dir stets frohen Sinn! Ina, mein
Freund, woher? wohin?' Mein werther Herr, ich danke sehr, Von meiner
Schwieger komm' ich her.' ,Sag, hast du eine Schwieger hie?' .Gewiß, zu
Wien hier hab' ich die. Wer sollt' hier ohne Schwieger sein? hier gibt's
so viele Töchterlein.' Der Hieb trifft die schwäbischen Ritter, die der Herzog
in's Land gezogen und von denen er einige mit östreichischen Erbtöchtern ver¬
mählt hatte zum großen Aerger der einheimischen Herren. — Nun aber ist
es genug. Die Reihe der falschen Oestreicher beschließt die Beschreibung
des echten. Sein Kleid ist weder zu kurz noch zu lang. Sein Haar wächst
in natürlicher Freiheit und wird vorn von der Haube verdeckt. Wer ihm
mit Hohn oder Grobheit entgegenkommt, dem bietet er schnell die Spitze; aber
gegen Gute ist er gut. Vor Gott ist er andächtig, gegen seine Freunde ge¬
treu und wahr. Er versteht ebensogut Scherz wie Ernst, und spart am rechten
Orte sein Gut nicht. ,Das ist der rechte Ostermann', fällt der Herr bei, und
der Knappe wünscht, daß dem, der nun lieber anstatt dessen ein Baier sein
wolle oder ein Sachse, daß dem ein Höcker wachsen möge oder ein geschwol¬
lener Kropf.
Hierauf wird noch eine Tugend besonders besprochen, die Tapferkeit.
Der Knappe führt den Raubritter vor, den armen Herrn, der unter dem
Vorwand, zum Herzog in's Feld zu ziehen, in die Höfe der Bauern ein¬
fällt und alles wegraubt und wegschleppt, zuletzt Feuer anlegt und dem
Bauern droht, ihn mit Weib und Kind hineinzuwerfen, wenn er nicht auch
das verborgene Geld herausgebe. Der Ritter erwiedert, daß gerade die dem
Feinde gegenüber in der wahren Gefahr, den Muth verlören, den sie am
Wehrlosen so gern anstießen. Dann werden die kleinlichen Gemüther geschol¬
ten, denen, wenn sie lange vorm Feinde liegen, ihre Aecker keine Ruhe lassen
und die daher gerade im wichtigsten Augenblicke vom Heere zurückkehren.
Auch hier hat der Dichter einen bestimmten Fall im Sinne; denn um solcher
Leute willen hatte der Sommerfeldzug gegen Iwan von Güsfing unterbrochen
werden müssen. Hierauf folgt der Prahler, der ohne Harnisch dem Feind
entgegenreitet; aber er hat auch eine rechte Kunst, die Kunst Haltdichfern,
die schirmt ihn vor allen Wunden. Wenn nun das Gefecht zu Ende ist,
dann kann niemand besser erzählen als er, wie man hier mit den Lanzen
aufeinander ansprengte, dort in ganzen Scharen focht. Natürlich: denn ihm
war der Eisenhut nicht über die Augen herabgeschlagen; von ferne konnte er
in Ruhe alles ansehn. Auch hier wird endlich der rechte Mann, der still das
Beste thut, den andern entgegengestellt.
Nachdem die Ritter also in nicht gerade schmeichelhaften Bildern ab-
conterfeit sind, werden auch die Frauen vorgenommen. Diese Schilderungen
sind nicht weniger lustig, aber zum Theil für unsern Geschmack etwas derb.
Ich zähle daher nur kurz die einzelnen Gestalten auf, welche der Dichter
uns vorzeichnet. Da erscheint die Frau, die dem geizigen Manne schlechte
Suppe und Kraut ohne Schmalz vorsetzt, und während er auf dem Acker sich
quält, selbst mit ihrer Dirne guten Wein trinkt und ein zartes Hühnchen
verzehrt. Abends hat sie natürlich keine Lust, an der kargen Mahlzeit ihres
Mannes Theil zu nehmen, und er kann sich, indem er sie in die runden
Backen kneift, nicht genug wundern, woher ein so mäßiges Weib ein so
prächtiges Aussehn bekomme. — Dann folgen die Bilder der Eitelkeit: die
Frau, die ihre Reize allzubloß stellt, die andre, welche sie durch allerhand
Mittel zu erhöhen sucht — und wir erfahren da ein ganzes Register von
Toilettekünsten, die wir unsern guten Vorfahren kaum zugetraut hätten. —
Und damit ist die Bilderreihe noch nicht zu Ende; es bleiben noch übrig die
Fromme, die keine Messe versäumt und zu Hause keine Gebetzeit vergißt, die
aber ihre Dienstleute grob und grausam behandelt und ihrem Manne das
Leben fast unerträglich macht; dann die Stille, die alles gehn läßt und
duldet, wie ein Lämmlein; endlich die Fensterhenne, die beständig von ihrem
Manne weg nach einem andern kritzele. — Jetzt aber fühlt der Dichter selbst,
wie sehr seine böse Zunge sich schon versündigt hat, er schließt mit einem
warmen Lobe der guten Frauen. Freilich zuletzt kommt wieder der Schalk
zum Vorschein. Der Dichter meint, solche Frauen, ganz rein von allem
Fehl und Tadel, gebe es immer nur wenige, in einer weiten Umgegend kaum
drei, — schlau fügt er hinzu: ,die meine ist, will's Gott, dabei/
Diese Gespräche mit dem Knappen setzen sich nun in andern Gedichten
fort, und der Dichter bestrebt sich, ihnen durch die Umstände, unter welchen
er sie statt finden läßt, noch mehr den Schein der Wirklichkeit zu verleihen.
Das eine Mal (II) erzählt er, daß er nach seiner — übrigens bescheidenen —
Mahlzeit im Garten spazieren ging, wie da der Knecht zu ihm kam: Ob er
schon wisse, daß der Herzog eine Frage halten wolle, d. h. ein Gericht, bei
dem jeder anbringen konnte, was er von geschehenem Unrecht wußte. Der
Ritter faßt diesen Gedanken auf und will anstatt des Herzogs richten, was
der Knappe ihm nur anzeigen werde; an seiner Seite stehe ein Fürstenrath,
wie er besser nicht sein könne, die sieben Tugenden Treue, Wahrheit, Scham.
Zucht und Mäßigung, Verständigkeit und Ehre. In der Klage des Knappen
tritt nun freilich zunächst der beschränkte Standpunkt des Richters hervor,
der, wenn er auch die Gerechtigkeit an sich erstrebt, doch seine Standesvor¬
rechte in den Vordergrund stellt. Erst werden die Bauern gescholten, die sich
wie Ritter tragen und deren Weiber in bunten seidnen Tüchern aus Gent
einherstolziren. ,Dann kommen die Höherstehenden an die Reihe. Schon
früher war die Feindseligkeit des Dichters gegen den Dienstadel bemerkbar
geworden, jetzt tritt sie in immer höher gesteigertem Maße hervor. Nament¬
lich wird der Geiz der vornehmen Herrn gegen die von ihnen abhängige
Ritterschaft gescholten. Dienstumsonst, das sei jetzt der rechte Mann. —
Hierauf geht der Dichter jedoch zu allgemeineren Klagen, über und schilt den
Straßenrand, wofür wieder der Fürst verantwortlich gemacht wird, den
Neid, die Lüge. Der Knappe wünscht von jedem Neidischen nur eine Bohne,
oder für jede Unwahrheit ein Weizenkorn zu erhalten am Hof oder am Gra¬
ben in Wien, wo damals die Krämer feil boten, und nun gar auf dem
Schottenhofe bei den Pferdemärkten — dann wolle er bald reich werden. —
Soviel am ersten Tage. Am zweiten wird die umfichgreifende Prozeßsucht
vorgenommen, Früher habe es in ganz Oestreich drei Gerichtstage gegeben,
in Neuburg, Tulu und Mäulern. Einmal sei es auch vorgekommen, daß
der Herzog drei Tage gesessen habe, ohne daß jemand zur Klage vor ihn
getreten sei; da habe Leupold seine Hände erhoben und Gott dafür gedankt,
daß das Volk im ganzen Lande friedlich und ruhig neben einander wohne.
Jetzt aber, bei den Hofgerichten zu Wien, da gehe es anders zu. Wenn
hundert klagten, so schlichen noch tausend um die Schranne herum und möch¬
ten gern ankommen. Und noch andere, die auch warteten, säßen im Wirths¬
haus; wenn einer da seinen Uebergurt verliere, so sei er gleich bereit, den
Wirth vor Gericht zu fordern. Freilich, wenn man zur alten Sitte zurück¬
kehrte, so könnten die Schreiber nicht mehr so reich werden wie bisher; und
das sei ihnen doch zu gönnen, da die Geistlichen mit der Simonie, dem
Kaufe ihrer Würden, dem Verkauf der kirchlichen Gnaden noch ganz andre
Geschäfte machten. Ueberhaupt sei am Clerus so manches auszusetzen und
sehr zu beklagen, daß man ihn nicht vor den weltlichen Richter laden dürfe.
Und dazu komme noch die Zwietracht der Kirche, indem gerade damals von
1292 bis 1294 die Cardinäle sich zu keiner neuen Papstwahl vereinigen
konnten. Vom Papste geht der Dichter aus den König über; was solle der
am Rhein Pfenninge zählen und seine Kaiserkrönung in Rom außer Acht
lassen; — es war ja seit Friedrich II. kein Kaiser gekrönt worden, und
Adolph von Nassau, der eben 1292 die Königswürde erlangt hatte, war erst
recht außer Stande, daran zu denken. Endlich werden die Ungarn gescholten,
deren König Ladislaus vor einiger Zeit ermordet worden war: verflucht sei
das ganze Land über diese Untreue. — Am dritten Tage beginnt eine neue
Reihe von Klagen, über das Zunehmen der Juden, deren Gut man nehmen
und zu einem Kreuzzuge verwenden solle; über die umsichgreifende Rauflust,
deretwegen jedermann im Eisengewand herumgehe; über die fahrenden
Sänger, die Lottersinger, die überlästigen, von Ehre viel schwatzenden und
jeder Ehre baren, sie mitsammt ihren weiblichen Berufsgenossen. Betrübende
Bilder, an denen schnell vorüberzugehen das beste ist.
scherzhafter ist ein anderes Gedicht (III), das uns mit seiner Einkleidung
in eine der wichtigsten Beschäftigungen des mittelalterlichen Lebens einführt.
Der Ritter geht ins Bad, begleitet von seinem Knappen. Wir erfahren nun
bis auf die kleinste Einzelheit alle Vorgänge des Bades, das Begießen mit
heißem und mit kaltem Wasser, das Reiben, welches Badefrauen besorgten,
das Scheren und Kämmen. Während der Ritter auf der Bank sitzt und
sich der angenehmen Nachwirkung des Bades überläßt, heißt er den Knaben
vor ihn niederknieen. Wegen seiner frechen Reden, die er selbst jetzt noch
fortsetzt, wird ihm ein Besenschlag zu Theil — für die rittersüchtigen Bauern,
ein zweiter — für die handeltreibenden Dienstmannen; ein dritter — für
den Bischof, der eine Weinschänke hält. Nun erklärt sich der Knappe bereit,
nicht nur zu schweigen, sondern zu loben; käme einer in einem Wamms, so
weit wie ein Roßbauch, den wolle er für besser gekleidet erklären als je ein
Gralritter war. Da bringt ihn endlich die Drohung, den Besenstiel zu ge¬
brauchen, zu Ruhe. Der Ritter scheidet vom Knappen nach nochmaliger Er¬
mahnung, ihn bei den hohen Herrn nicht wieder in den Verdacht schlechter
Gesinnungen zu bringen.
Aber diese Verleugnung oder Versteckung der Angriffe scheint dem Dichter
noch nicht genügt zu haben. Er stellt in den nächstfolgenden Gedichten den
Knappen als aus seinen Diensten entlassen und nur zufällig mit ihm zusam¬
mentreffend dar. So in einem Gedichte, welches uns wieder einführt in die
politischen Ereignisse, die Oestreich von neuem tief zu erschüttern drohten.
Albrecht hatte vergeblich danach gestrebt, der Nachfolger seines Vaters Rudolph
zu werden. Mit den rheinischen Erzbischöfen hatte namentlich der junge
König von Böhmen, Albrechts Schwager, aber durch dessen hochfahrendes
Benehmen verletzt, die Wahl Adolphs von Nassau durchgesetzt. Damit
schöpften aber auch die Unzufriedenen in Oestreich, neue Hoffnung. Wie viele
derartige Elemente vorhanden waren, haben wir an unserem Dichter selbst
gesehen: und er vertrat die niedere Ritterschaft, den eigentlichen Mittelstand,
der nebst den Bauern noch am meisten das Wohl des Ganzen bedachte.
Schlimmer stand es mit den Städten und mit dem Dienstadel. Wien hatte
zuerst von Kaiser Friedrich II. die Rechte einer freien Reichsstadt, und von
Rudolph in der Noth vor der Schlacht auf dem Marchfelde wenn auch, wie
es scheint, nicht deren Bestätigung, doch auf jeden Fall ausgedehnte Frei¬
heiten erhalten. Aber Albrecht war nicht gewillt, seine beste Stadt aus der
Hand zu geben: ungescheut verletzte er die städtische Verfassung und brachte
das ausständische Stadtvolk durch Absperrung aller Zufuhr zur Ergebung.
Dies war 1288 geschehen, noch unter König Rudolph. Damals hatten die
Landherren zugesehn, vielleicht daß sie mit den Krämern nichts zu schaffen
haben wollten. Jetzt aber, nach Rudolphs Tod, traten auch sie aufrührerisch
zusammen. Daß ein Aufstand der Steirer 1292 trotz der Unterstützung durch
die Baiern und den Erzbischof von Salzburg von Albrecht schnell unter¬
drückt wurde, schreckte sie nicht ab. In Trübensee hielten sie ihre Zusammen¬
kunft; sie sandten ihre Boten an König Adolph, an den Böhmenkönig., ja
selbst an den schlimmsten Landesfeind, Iwan von Güssing. Aber Albrecht
hielt auch hier Stand. Die wirklich begründeten Beschwerden, vor allem die
Begünstigung der Schwaben, stellte er ab, die weitergehenden Forderungen
aber wies er zurück und warf die zu offenkundigem Aufstand und Landes-
verrath Fortgeschrittener mit aller Kraft nieder. So zerstob die Verschwörung
und diente nur dazu, den Herzog bei dem Kerne des Landes beliebt zu machen.
Diesen Umschwung können wir gerade an unserem Dichter deutlich wahr¬
nehmen. Wir sehen. wie ihm, dem anfänglichen Feind, dann lauen Freunde
des neuen Herrschergeschlechtes, nun die Augen aufgingen, wie er nun allein
im Anschluß an Albrecht das Heil des Landes und namentlich seines Stan¬
des erblickte. Er stellt (IV), die Auflehnungsversuche der vornehmen Ritter¬
schaft dar als eine Verschwörung von vier Landherren, die das Herzogthum
Oestreich mit Hilfe des Königs Adolph in vier Markgrasschaften hätten theilen
wollen. Die Verschwornen, die er mit halbversteckenden Namen Lachsen¬
brecht, Rüdensmer, Juflof und Henneriuch nennt — wahrscheinlich find Alber
von Buchheim, Heinrich von Lichtenstein, Conrad von Sumerau, Leutolt
von Kunringen gemeint — läßt er im Walde bei einer Jagd von seinem
Knappen belauschen. Den Herzog mit seinen Schwaben wollen sie zum Land
hinaus haben, ihre Partei in Wien und sonst begünstigen, die niedre Ritter¬
schaft aber unterdrücken. Beim Heimritt wird der Knappe befragt, wie die
Jagd ausgefallen sei. Er erwiedert, die Hunde Falsch, Haß und Neid seien
allerdings gar gut gelaufen. Fürst sei auf der rechten Fährte gewesen, und
als Fuchs und Wolf ihm tückisch nachschlichen, habe er ihnen die Zähne ge¬
zeigt, sodaß sie bang zurückgewichen seien. Treu lag zu Boden, fest an einen
Baum gebunden, trüb und matt. Wünsch aber sei weit vorausgeeilt, bis
an den Rhein; derweilen habe Merk still unter einer Staude gelegen. Die
Verschwörer, die die räthselhafte Rede anhören müssen, werden bestürzt und
schelten den Burschen als einen Narren. Daran schließt sich weiter die Be¬
schreibung der Audienz; die die Abgesandten des Dienstadels beim Herzog
hatten und wie sie durch das Murren der zuhörenden Ritter unterbrochen,
ihre theilweise Merdin gs unverschämten Forderungen dem Fürsten vorlegten,
von diesem aber ruhig und fest abgewiesen wurden. Leider ist der Schluß
der Erzählung nicht erhalten.
An dieses Gedicht schließen sich noch zwei andere an. Das eine (VII),
schildert in ganz allgemeinem Sinne und in allegorischen Gewände einen
Kampf der Tugenden und Laster, und vergleicht nur einmal ganz beiläufig
die Versammlung der Laster mit der zu Trübensee. Das andere (XV), das
sich als eine frühere Unterredung mit dem nun entlassenen Knappen darstellt,
faßt nochmals die Beschwerden der Ritterschaft gegen den vornehmen Dienst¬
adel zusammen. Der Knappe verwundert sich darüber, wie alle Freude ge¬
schwunden sei: das ritterliche Leben, von welchem die Greise soviel zu er¬
zählen wissen, müsse nun wie eine schöne Sage erscheinen. Kürzlich sei er
in Wien gewesen und habe bei Hofe dem Essen zugeschaut. Vor ihm saßen
vier der Vornehmsten. Der eine sagte: .Wenn einer eine gute Kuh hat, so'
weiß ich, wie er in einem Jahr ein ganzes Fuder Milch von ihr bekommen
kann/ Der zweite freut sich über seine zehn vollen Korngruben, die er im
Frühjahr hoch verwerthen will; der dritte erzählt, daß er für vierzig Pfund
Wein gekauft hat, nicht um selbst davon zu trinken, sondern um damit gute
Geschäfte zu machen. Der vierte endlich meint, die Ritter seien gar zu üppig
geworden. Man solle ihnen die Pferde immer nur gegen Erlegung von fünf
Sechsteln des Werthes übergeben. Diese sparsamen und gewinnsüchtigen
Gesinnungen stellt der boshafte Knappe in ein noch schärferes Licht, indem
er die einzelnen Aeußerungen mit den Mustern der Ritterschaft, den Helden
aus der Gralsage vergleicht. Der Ritter tadelt wieder die kecke Rede; da
erwiedert der Knappe, indem er einigermaßen aus der Rolle sällt, dies Ge¬
dicht sei aler 1ouMu duvet, das Buch der Geheimnisse genannt und nur
für die bestimmt, die des Landes Leid beklagen HUfen wollten. Dann fährt
er fort, was für eine Landesvertheidigung freilich bei solchem Geize heraus¬
komme, das habe man bei der Belagerung Wiens durch die Ungarn gesehen.
Da habe sich alles in die festen Mauern geflüchtet, und vor allem die Dienst¬
mannen selbst, denen doch die Abwehr der Feinde vorzüglich oblag. Wohl
habe einer oder der andere seinen Knecht hinausgeschickt, er solle muthig vor
das Burgthor reiten und sein Fähnlein schwenken, damit es der Herzog auch
sehe; aber an die Feinde brauche er nicht heran; denn wenn ihm der Hengst
erschossen werde, so müsse er seinen vorjährigen John, ein Pfund, zurückzahlen.
Wie ganz anders die Ritter früherer Zeit, von denen einer es mit taufend
Ungarn aufgenommen hatte. Darum sei denn aber auch der Friede mit den
Ungarn nicht besser ausgefallen und die furchtbaren Verheerungen des Landes
ungerochen geblieben.
Noch einmal aber nahm der Dichter die schon aufgegebene Figur des
Knappen wieder hervor, als es galt, vor Albrecht, der 1298 den östreichischen
Herzogshut mit der deutschen Königskrone (VIII.) vertauscht hatte, den Glück¬
wunsch des Landes zu tragen. Von der früheren Verabschiedung des Knappen
ist daher keine Rede; er unterhält sich wie in alter Zeit mit dem Ritter.
Auch die meisten Gegenstände des Gesprächs sind nicht gerade neu; die frem¬
den Moden, der Geiz des Dienstadels, das alles wiederholt sich. Aber neu
ist die ausführliche Hervorhebung eines innigen Verhältnisses der Dienst¬
mannen zum untersten Stande, den Bauern. Natürlich, daß hierdurch der
Ritter seine Interessen aufs schwerste bedroht glaubt. Anschaulich wird ge¬
schildert, wie ein reichgewordener Bauer keck genug ist, nach einer ritterlichen
Braut zu blicken; und leider gibt es genug adelige Väter, die reich an
Kindern, aber arm an Gütern diese schmachvolle Verbindung eingehen. Die
Kinder dieser Ehen werden dann als einschildige Ritter von den Dienstmannen
bevorzugt: so erscheint der Bauer Engelmar aus einmal mit dem pompösen
Namen Herr Eberrausch. Doch freilich so wenig wie die Osterweihe der
Lämmer einem dabeistehenden Böcklein zu Gute komme, so wenig helfe einem
solchen Bauern der Rittersegen. Wollte Gott, daß er auf einmal anstatt des
Schildes ein Sandbrett, anstatt des Schwertes einen Neutelstab trüge, daß
ihm sein seidener Beutel zum Säetuch und seine Gürtelborte zu einem han¬
fenen Futterstrick würde! Sei doch — und in diesem Glauben stand unser
Dichter nicht allein — von Julius Caesar den Deutschen verliehen worden,
daß man den höheren Stand durch Jhrzen unterscheide; wie noch Herzog
Leupold den Bauern verboten habe, Schwerter zu tragen und Wildpret oder
Fisch zu essen. Alles dies wünscht der Knappe dem neuen König vortragen
zu können, dem das Land noch immer am Herzen liegen werde, wenn er es
auch schon seinem Sohne übertragen habe. Aber der Ritter verweist ihm das
er solle seine Rede lieber auf die Geschichte des Landes richten. Er solle
also mit den Babenbergern, dem Kreuzzug Leupold's VI., beginnen, dann auf
die Gewaltherrschaft des Böhmen, die einmüthige Wahl Rudolph's zu sprechen
kommen. Der Knappe meint dagegen, das brauche man dem Könige nicht
erst zu erzählen; der wisse das selbst am besten. Für diese kecke Unterbrechung
entläßt ihn der Ritter aus seinem Dienst, wird aber doch von Herzen ein¬
gestimmt haben in die Schlußworte des Knappen: ,Was auch die Kriege uns
gethan, dies ist ein gutes Ländelein: Das soll man spüren noch am Rhein-
Ist Heuer unser Wein misrathen, so bessern wir doch unsern Schaden, wenn
Gott will, schon im nächsten Jahr. Amen und ja, das werde wahr!"
Noch sind vier Gedichte übrig, in denen die schon früher hin und wieder
hervorbrechende ernste Stimmung des Dichters ihren vollen Ausdruck findet.
Im ersten (IX.) wird der Knappe nun wirklich und für immer fortgeschickt;
sechzigjährig hat der Dichter andere Dinge zu bedenken als seine Scherz- und
Spottreden. Im zweiten (X.) bittet der Dichter die Jungfrau Maria um Ver¬
gebung seiner Sünden; sei er spöttisch gewesen, so wolle er nun jedem Bieder¬
mann sein Lob lassen. Diese beiden Gedichte stehen auch durch formelle
Eigenthümlichkeiten in einer gewissen Verwandtschaft. Ebenso das dritte und
vierte, die sich zu lyrischer Künstlichkeit und zum feierlichen Ausdruck rein re¬
ligiöser Gedanken steigern. Das eine (XI.) ist ein Ave und schließt an jedes
Wort des englischen Grußes eine Strophe an, das andre (XII.) ahmt eine
Reimspielerei Walthers von der Vogelweide nach, die dieser freilich mit bes¬
serem Geschmacke in einem scherzhaften Lied von Sommerlust und Winterleid
angewandt hatte. Es sind fünf Strophen, von denen eine jede durchgängig
auf einen der fünf Vocale reimt.
Da uns jedoch diese ernstreligiösen Gedichte weder über die Verhältnisse
des Dichters, noch über das des Landes weitere Auskunft geben, so müssen
wir als Ausgangsdatum dieser Dichtungen etwa das Jahr 1300 ansetzen.
Mit diesem Jahre war, wenn auch nicht für Deutschland, so doch für Oestreich
ein gewisser Abschluß der seit dem Eude der Hohenstaufenzeit beginnenden
Uebergangsperiode eingetreten. Oestreich, das nach der Mitte des dreizehnten
Jahrhunderts fast aus dem Kranze der deutschen Lande herausgerissen zu sein
schien, war nicht nur wiedergewonnen, es hatte sogar die politische Führer¬
schaft in Deutschland erworben. Aber diese war freilich eine andere als die
schwäbische der Hohenstaufen, unter welcher die Zusammengehörigkeit und
damit die Weltmacht Gesammtdeutschlands in den Vordergrund getreten war.
Damals hatte Walther von der Vogelweide sein schönes Lied gesungen von
der Tüchtigkeit deutscher Männer und von den engelgleichen deutschen Frauen.
Damals hatte Neidhart von Rauenthal, vom Kreuzzug zurückkehrend, sein
Vaterland begrüßt mit den Worten: So wohl dir, deutsche Zunge! — Jetzt
am Ende desselben Jahrhunderts stand es anders. Die Stämme und Staaten
waren auseinander gefallen. Von deutscher Ehre, deutscher Tugend hören
wir bei unserem Dichter nichts, nur Oestreich führt er im Munde: über Oest¬
reichs enge Grenzen blickt er nicht hinaus, was von draußen kommt, ist ihm
etwas Fremdes.
Und nicht weniger engherzig wie das Landesgefühl zeigt sich das Standes¬
bewußtsein des Dichters. Nicht als Sprecher aller, nicht einmal für die ge-
sammte Ritterschaft tritt er auf, sondern eigentlich nur als Vertreter einer
ganz bestimmten Classe, die durch sehr materielle Interessen, nicht durch ideale
Ziele nach oben und nach unten abgegrenzt war. So erhaben er sich über
den Bauern dünkt, — um von den damals allgemein verfolgten Juden gar
nicht zu reden, — ebenso feindselig sieht er zu dem durch Reichthum und An¬
sehen hervorragenden Dienstadel auf. Nicht müde wird er, ihre Habsucht zu
schelten, ihre Sparsamkeit zu verspotten.
Dazu kommt endlich noch ein dritter Vorwurf. Vergleicht man die be¬
sprochenen Gedichte mit denen aus der vorangangenen Zeit, aus der ersten Hälfte
des dreizehnten Jahrhunderts und den noch früheren, so vermißt man nicht
bloß den jugendlichen Idealismus, der die volkstümlichen Gedichte aus der
Heldensage ebenso sehr durchdringt wie die Ritterromane; sondern es fällt
geradezu eine der formellen Nachlässigkeit entsprechende Derbheit, zuweilen
sogar Roheit auf, die mit Behagen bei niederen Gegenständen verweilt. In
der gegenwärtigen Darstellung sind natürlich die Ausdrücke und Bilder dieser
Art, wo sie angeführt werden mußten, möglichst gemildert; das wenige jedoch,
was davon noch sichtbar geblieben ist, mag einen Schluß auf das weggefal¬
lene gestatten.
Wer nun aber diese Fehler, die nicht geleugnet und nicht entschuldigt
werden sollen, unserem Dichter selbst zur Last legen wollte, der thäte ihm
großes Unrecht. Den größten Theil der Schuld trägt nicht der Dichter, son¬
dern seine Zeit, und es ist vielmehr anzuerkennen, welches Verdienst er sich,
trotz ihrer Einwirkung, noch zu erwerben gewußt hat.
Denn jene Derbheit oder Rohheit ist vom Ende des dreizehnten Jahr¬
hunderts bis weit in die Neuzeit hinein eine fast durchgängige Eigenschaft
der deutschen Literatur. Man erinnere sich, um nur eins anzuführen, der
Fastnachtsspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert! Dagegen sticht denn doch
das, was man an unserm Dichter auszusetzen hat, noch licht ab. Vor allem
aber ist nicht zu vergessen, daß er nicht Gestalten einer lüsternen oder wüsten
Einbildung gibt, sondern stets nach der vollsten Wirklichkeit strebt, daß er
das Leben wie es ist und daher auch seine häßlichen Seiten schildert. Dieser
Realismus muß für das an sich Anstößige entschädigen.
Und ebenso steht es mit dem Vorwurf der Sonderinteressen. Die ganze
Zeit ging in ihnen auf. Gleichgiltig, ja feindselig standen sich Fürstenthum
und Städte, Ritterschaft und Bauern gegenüber. In diesem unaufhörlichen
^gemeinen Wühlen und Kämpfen muß man demjenigen noch am meisten
Beifall geben, der nur das Seine zu erhalten, nicht Fremdes sich anzueignen
sucht. Und diese Gesinnung darf man unsrem Ritter nicht absprechen: der
Raus- und Raublust seiner Zeit ist er mit ehrlicher Entrüstung entgegenge¬
treten. So ist denn auch sein östreichisches Landesgefühl in der Richtung
der Zeit. War Oestreich, waren die Habsburger darauf bedacht, selbst auf
Kosten des Reiches sich zu befestigen und emporzubringen, so waren es die
übrigen Fürsten nicht weniger, die großen Geschlechter so gut wie die kleinen,
unter denen die würtemberger Grafen sich ganz besonders in diesem Streben
hervorthaten. Die Habsburger aber hatten sich gerade damals ein doppeltes
Verdienst erworben, indem sie Oestreich im Innern fest zusammenschlossen und
zugleich die Uebergriffe der barbarischen Ostvölker zurückwiesen. Mit Recht
durfte unser Dichter auf diese Thaten stolz sein und in voller Ueberzeugung
sich dem neuen Herrscherhause anschließen.
In den letzten Marineartikeln ist den Lesern der Grenzboten mehr tech¬
nisches Detail zugemuthet worden, als wohl sonst in einer deutschen Wochen¬
schrift geboten wird. Der Verfasser hofft dafür Verzeihung zu finden. Es
ist ein großes nationales Interesse, welches er darzustellen suchte, und es ist
ein neues. Leider sind die Zeiten sast vergessen, in denen wenigstens Nord¬
deutschland, nicht nur der Mann von der Küste, auch der Kaufmann von
Soest und der Weber von Stendal an der Ausrüstung und den Siegen der
hansischen Orlogschiffe leidenschaftlichen Antheil nahmen. Wir alle wünschen
und hoffen, daß solche Zeit für das gesammte Deutschland zurückkehre. Und
der Verfasser dieser und der folgenden Artikel würde glücklich sein, wenn
seine anspruchslosen Zeilen dazu beitragen könnten. Vor allem aber muß
man doch kennen, was man mit lieben und pflegen soll.
Die folgenden Seiten sollen unseren Lesern die Gesammtstärke der gegen¬
wärtigen norddeutschen Kriegsflotte in einem anschaulichen Bilde vor Augen
führen, und ihnen zugleich einen Maßstab zur Abschätzung dieser Stärke gegen¬
über anderen Kriegsflotten an die Hand geben.
Wenn man die maritime Stärke eines Staats mit der Stärke des Land¬
heers oder der Heeresstärke eines anderen Staats vergleichen will, so wäre
es ungerecht, die Mannschastszahl beider als Vergleichungspunkt zu nehmen.
Man würde dann die unvergleichlich viel größere Stärke einer Flotte für
das Feuergefecht gänzlich unbeachtet lassen, sowohl die reiche Ausrüstung
der Flotte mit Artillerie des schwersten Ccilibers, als auch die Geschwindig¬
keit, mit welcher dieselbe befördert und auch im Gefecht bewegt werden kann,
sowie die Deckung der Mannschaft auf den Panzerschiffen, welche der Deckung
der Festungen des Landheers entspricht. Alle diese Factoren bringen die
Offensivkraft der Flotte auf einen viel höheren Grad, als man nach dem
bloßen Mannschaftsstande oder selbst nach der Geschützzahl annehmen müßte.
Die englische Flotte, deren Mannschaftsstand in den einzelnen Jahren zwi¬
schen 60,000 und 80,000 Mann schwankt, kann als Factor der Macht mit voll¬
stem Recht einer Landarmee von S00.000 Mann (dem siebenfachen des wirklichen
Mannschaftsstandes) gleich geschätzt werden, namentlich da neuerdings beim
Aufkommen größerer Caliber die Mannschaft im Verhältniß zur Schiffsgröße
sehr reducirt worden ist, z. B. bei Schiffen von 6600 Tons auf 700 Mann,
während früher Schiffe von 3300 Tons 1000 Mann führten. Ueberhaupt
dürften hinsichtlich der Streitfähigkeit in der Marine die großen Panzer¬
fregatten starke Brigaden vertreten; dagegen würden Schraubenlinienschiffe
etwa schwachen Brigaden, Schraubenfregatten schwachen Regimentern von
Landarmeen entsprechen, und die Geschwader, die oft nur aus 3—4 Schiffen
der ersteren Art bestehen, sind demnach, wie es auch dem Namen Geschwader
entspricht, immerhin Abtheilungen, die mit schwachen Armeecorps der Land¬
armeen gleiche Bedeutung beanspruchen. Die englische Canalflotte und ebenso
die englische Mittelmeerflotte entsprechen factisch jede einer Observations-
armee von ein paar Armeecorps, während die Geschwader der westindischen,
der westafrikanischen, der chinesischen Station bedeutend schwächer sind, ob¬
wohl sie mit Einrechnung der Kanonenboote wenigstens ebenso viele Fahr¬
zeuge zählen und nur etwa Divisionen von Landheeren entsprechen. Was
nun die Genauigkeit der beiderseitigen Abschätzung betrifft, so wird die Ver¬
anschlagung bei der ganz verschiedenen Natur von Landarmee und Flotte
natürlich immer ungenau sein.
Weit wichtiger aber ist es, sür das Stärkenverhältniß der Flotte
jedes Staates gegenüber andren Flotten eine richtige Würdigung zu finden.
In früherer Zeit, in der Periode der Segelschiffe, war diese Abschätzung
leicht: bei allen Schiffen waren die Factoren der Sicherung vor dem Gegner,
der Abhängigkeit vom Winde, der Schnelligkeit u. s. w. bis auf die Ge¬
schützausrüstung ziemlich gleich, selbst das Caliber der letzteren war bei den
Schiffen der verschiedensten Classen nicht übermäßig verschieden, und die Ka¬
nonenzahl konnte daher mit vollem Recht als Maßstab für die Stärke
einer Flotte gelten. Die Einführung des Dampfes in der Marine und die
verschiedenen Systeme seiner Verwendung begannen aber das Verhältniß zu
ändern: ein Raddampfer war bei seiner Unabhängigkeit vom Winde viel
mehr werth als ein Segelschiff, ein Schraubendampfer bei seiner Sicherheit
vor Beschädigungen der Maschine unvergleichlich mehr werth als ein Nad¬
dampfer oder vollends ein Segelschiff. Zugleich begann die Schnelligkeit eine
Rolle zu spielen, sie ward mitwirkender Factor im Kampfe und keineswegs
blos wichtig sür den Transport der Schiffe auf den Schauplatz des Gefechts.
Der neueste Factor, welcher das Stärken Verhältniß der Flotten bedeutend
verändert hat, wenn auch seine Wichtigkeit durch den Mangel an Seefähig-
keit theilweise beeinträchtigt wird, ist die Panzerung, die Deckung des Ge¬
schützes und des Schiffs gegen die Geschosse des Feindes. Und wo möglich
noch wichtiger ist die Differenz der früheren und der heutigen Kriegsschiffs¬
typen hinsichtlich des Calibers ihrer Armirung. Der leichte Kutter früherer
Zeiten mit 4 glatten Sechspsündern, und der Monitor in'it 4 glatten 480-
Pfündern sind'eben beides Kriegsschiffe von 4 Kanonen; aber welch colossaler
Unterschied ist in der Wirkungsfähigkeit beider Schiffe! Man hat vor einiger
Zeit die Abschätzung der Stärke eines Schiffs nach dem Geschoßgewicht vor¬
geschlagen, das es mit allen seinen Geschützen auf einmal zu schleudern im
Stande ist und das bei dem eben angeführten Beispiel für den Kutter
24 Pfund, für den Monitor 1V20 Pfund ergibt. Noch größer ist der Unter¬
schied, wenn man die Stärke des Schiffs nach einer Breitseite abschätzt, nach
dem Geschoßgewicht, welches das Fahrzeug nach einer Seite, auf ein Object
zu schießen vermag: der Kutter hat dann blos 12 Pfund, der Monitor 1920
Pfund, weil er, Dank seinem Pivotsystem, alle Geschütze nach einer Flanke
zu richten vermag. Aber auch dieser Maßstab genügt noch nicht völlig: denn
hierbei ist ein Factor ganz -außer Acht gelassen, der heutzutage gegenüber den
Panzerschiffen von höchster Wichtigkeit ist. Es ist für die Percusfionskraft
des Geschosses dem Panzer gegenüber durchaus nicht gleichgiltig, mit welcher
Pulverladung es geschleudert wird, und die Möglichkeit der Verwendung
einer stärkeren oder schwächeren Pulverladung hängt hauptsächlich von der
Stärke des Geschützrohres ab. Daher werden die Kanonen gleichen Calibers
noch in Nummern I—IV geschieden, je nach dem Rohrgewicht und der Fähig¬
keit, eine größere oder.geringere Pulverladung aufzunehmen. Das Rohr¬
gewicht sämmtlicher Geschütze eines Schiffs ist deshalb derjenige Factor, wel¬
cher uns den sichersten Maßstab zur Beurtheilung der Stärke seiner Armirung
geben wird. Als Einheit wollen wir dabei je 40 Centner Rohrgewicht an¬
nehmen, eine Zahl, welche dem Einheitsgeschütz von mittlerem Durchschnitts-
caliber in den früheren Segelflotten am besten entsprechen dürfte. 40 Centner
bilden außerdem nach dem Schiffsgewicht gerade zwei Tons oder eine Last
(Schiffslast), und diese „Nyhrlast" wie wir sie nennen wollen, soll den
Maßstab für die Armirungsstärke jedes Schiffs geben, wie auch die Ge-
sammtzahl derselben die Stärke der Armirung einer Flotte am anschaulichsten
darstellt. Die Anzahl der Röhrkasten jedes Schiffs werden wir deshalb auch
in der folgenden tabellarischen Uebersicht der Schiffe unserer norddeutschen
Kriegsmarine in einer besonderen Columne als Maßstab der Armirungs¬
stärke*) beifügen.
Die Anzahl der Röhrkasten jedes Schiffs belehrt uns indessen nur über
die Stärke der Armirung, nicht über die Gefechtsstärke des ganzen
Schiffs, bei welcher noch andere Factoren wie Schnelligkeit, Panzerung
u. s. w. in Betracht kommen. Allerdings werden wir bei Schiffen des
Breitseitensystems den Nachtheil, daß sie nur die Hälfte ihrer Geschütze nach
einer Richtung verwenden können, nicht mit in Rechnung ziehn dürfen, weil
ihnen auf Seiten aller jetzigen Schiffe des Pivotsystems geringere Solidität
des Ganzen und geringere Seefähigkeit entgegensteht. Dagegen werden wir
den Gefechtswerth des gezogenen Geschützes mit seiner größeren Schußweite
und Trefffähigkeit im Ganzen um 25 Procent höher veranschlagen können
als den Werth glatter Geschütze, wenn sie auch in der Nähe zum Theil ge¬
ringere Percussionskraft haben als die letzteren, und bei Einrichtung zur
Rückladung*) weniger Solidität als die glatten Geschütze besitzen. Die bis¬
herigen Bestimmungen beziehen sich auf Kanonen aus Geschützbronze-, da aber
schmiedeeiserne Geschütze, wie z. B. die englischen Armstrong-, Whitworth- und
Woolwich-Geschütze, bei gleicher Stärke bedeutend leichter sind, werden wir
bei ihnen dem Rohrgewicht etwa 25 Procent hinzurechnen müssen, und bei
den noch leichteren Gußstahlgeschützen sogar 50 Procent hinzurechnen dürfen.
Als durchschnittliche Schnelligkeit unter Dampf bei der Probefahrt (die meist
um 1—2 Knoten geringer ist als die gewöhnliche Schnelligkeit in See)
wollen wir 10 Knoten annehmen, und für jeden Knoten, den das Schiff
mehr erreicht, der Gefechtsstärke 20 Procent hinzuzählen, für jeden Knoten
weniger aber derselben 20 Procent abziehen, während wir bei Raddampfern
wegen der ungedeckten Maschinerie 60 Procent abziehn wollen. Die Steige¬
rung des Werthes durch Panzerdeckung endlich kann man trotz der Ver¬
minderung der Seefähigkeit des Schiffs bei dem in Europa gewöhnlichen
4V-zölligen Panzer (soviel wie 20V." in lauter einzölligen aufeinander ge¬
mieteten Platten) wohl auf 100 Procent veranschlagen, und überhaupt dem
Werth jedes Schiffs fünfmal soviel Procent hinzunehmen, als einzöllige
Panzerplatten für einen gleich starken Panzer nöthig wären. Die Maschinen¬
starke können wir unberücksichtigt lassen, da sie zusammen mit der mehr oder
weniger zweckmäßigen Formung des Schiffs und der Größe des Schiffs in
der Schnelligkeit ihren- Werthausdruck findet. Ebenso ist die Tonnenzahl
nicht zu berücksichtigen, da dieselbe in der Fähigkeit, mehr oder minder schwere
Maschinen, Panzerung und Geschützausrüstung zu tragen sich geltend macht
und daher durch letztere Factoren in ihrer Wichtigkeit für die Gefechtsstärke
mit repräsentirt wird. Ueberhaupt ist die Tonnenzahl an und für sich nicht
geeignet, die Gefechtsstärke sehr großer und sehr kleiner Schiffe im rich¬
tigen Verhältnisse zu einander erscheinen zu lassen, und bei den Panzer¬
schiffen macht sich dies besonders fühlbar. Einzelne kleinere Vortheile, wie
der Vortheil des Doppelschraubensystems, eines Widderbugs, eines besseren
Ruders, eines geringeren Tiefgangs, einer günstigeren Vertheilung des
Panzers, eines guten Anstrichs unter Wasser, einer stärkeren Takelage, die
für Reisen sehr nützlich ist, im Gefecht aber sehr hinderlich werden kann, und
ebenso Zahl und Quantität der Bemannung müssen hier natürlich außer
Rechnung bleiben. Bei einer der englischen Corvetten von 17 Kanonen und
1000 Tons, deren Armirung aus 11 leichten und 5 schweren 32Pfündern
(32 bez. 68 Centner Nohrgewicht) besteht und die gegen 10 Knoten Schnellig¬
keit erreichen, würde nach den angegebenen Berechnungen die Gefechtsstärke
17 Points betragen, und mit der Kanonenzahl zusammenfallen*). Sowie die
Schnelligkeit, oder auch die Größe des Schiffs und zugleich des Calibers bedeu¬
tend wächst, wird auch die Gefechtsstärke die Kanonenzahl erheblich über¬
steigen, und in noch höherem Grade wird dies bet den Panzerschiffen der
FM sein.
Wir wollen nun aus etwa 300 der besten englischen Kriegsschiffe, über
deren jedes detaillirte Angaben seitens der Admiralität vorliegen, einmal die
hauptsächlichsten Typen auswählen, und bei denselben die Rohrlastzahl und
die Gefechtsstärke in Points angeben, wie sie sich nach den eben entwickelten
Grundsätzen berechnen.
Es hat:
Unter den englischen Panzerschiffen hat dagegen beispielsweise:
Der vielgepriesene amerikan sche Monitor „Miantonomoh" dagegen hat
bei 4 Geschützen, 800 Pferdekra't, 1S64 Tons und Panzerung mit 10 ein¬
zölligen Platten nur une Gefechtsstärke von 23. — Die Gesammtstärke der
englischen Canalflotte wie ^er englischen Mittelmeerflotte beträgt gewöhnlich
etwa 1300 Rohrlast und etwa 2000 Points Gefechtsstärke.
Nach demselben Maßstab berechnet werden wir, wie bemerkt, in der fol¬
genden Schlußübersicht des Schiffsmaterials der norddeutschen Kriegsmarine
eine Columne für'die Röhrkasten und eine zweite für die Gefechtsstärke bei¬
geben, während wir die übrigen Bestimmungen nach den Ziffern der officiellen
Angaben beifügen, welche im Anfang des vorigen Jahres dem Reichstag
vorgelegt worden sind. Der Tonnengehalt ist somit bei allen Schiffen außer
der „Barbarossa" in englischen Tons angegeben; die Kraft der Maschinen
(stets Nominalkraft) ist mit Rücksicht auf die Leistungen derselben in den
erwähnten officiellen Angaben zum Theil etwas modificirt; die Zahlen der
Länge und der Breite beziehen sich auf die Dimensionen der Wasserlinie (in
rheinländischen Fußen); vom Tiefgang ist die durchschnittlich grüßte Zahl
angegeben. Die unverhältnißmäßig große Gefechtsstärke unsrer im Bau
befindlichen gedeckten Corvette „Elisabeth" erklärt sich aus ihrer größeren
Schnelligkeit und der Armirung mit lauter (28) gezogenen 24Pfündern. Bei
der „Medusa" ist die Gefechtsstärke nach ihrer gegenwärtigen Armirung von
13 Geschützen auf 15 Points berechnet und steht somit zwischen dieser und
der ursprünglichen Armirung von 17 Kanonen in der Mitte, in der Tabelle
selbst ist aber die ursprüngliche Kanonenzahl angeführt, wie dies auch die
englische Admiralität stets thut. Für die Segelschiffe ist, da ihnen die Ma¬
schine fehlt und sie im Kriege nicht zu verwenden sind, natürlich keine Gefechts¬
stärke angegeben.; aber auch die Rohrlastzahl haben wir weggelassen, weil die
Armirung bei den Artillerieschulschiffen oft wechselt und eine wahre Muster¬
karte bietet, und auf den andren Schulschiffen mit Rücksicht aus die Kräfte
der jungen Leute reducirt ist, sodaß sie keinen Maßstab bietet. Bei Berech¬
nung der Rohrlastzahl und der Gefechtsstärke sind übrigens Brüche stets
weggelassen und bei kleinen Fahrzeugen, wo sich nur ein Bruch ergeben
würde, auf 1 abgerundet- Wir lassen jetzt eine tabellarische Uebersicht der
Stärke der gesammten norddeutschen Kriegsflotte folgen.
Bon den genannten Schiffen befinden sich im Augenblick außerhalb der
deutschen Gewässer die folgenden: „Vineta" in Japan, wo sie für den
Schutz des Handels wohlthätig wirkt, Lob von fremden Nationen erntet,
auch die Bemannung eines fremden Dampfers gerettet hat; „Hertha",
„Medusa und „Blitz" im Mittelmeer, wo sie jüngst die französische Cor-
vette „Roland" vor der Strandung retteten und den kretaschen Flücht¬
lingen Schutz gewährten. „Niobe" ist auf einer Uebungsfahrt in West¬
indien, „Rover" und „Moskito" auf einer eben solchen in den spanischen
Gewässern, und endlich drei andere Schiffe sind in England, nämlich
„Augusta" (auf der Fahrt nach Mexiko begriffen) und „Friedrich Carl"
(aus der Fahrt nach Kiel begriffen) in Reparatur, sowie „Wilhelm" im Bau.
(Er wird im März von Stapel laufen als ein Zuwachs zur Marine, um
den uns die Franzosen gewaltig beneiden.) Die übrigen Schiffe sind in
deutschen Häfen, und zwar, abgesehen von „Prinz Adalbert", „Königin
Marie", „Loreley" und 2 Kanonenbooten („Basilisk", „Wolf"), welche nach
ihrer Nordseevermessung in Geestemünde überwintern, sämmtlich in Kiel,
Danzig oder Stralsund; in Danzig steht außerdem die „Elisabeth" auf Stapel,
und ebenso ist dort die „Grille" behufs einer umfassenden Reparatur aufge«
schuppt, d. h. auf das Land gezogen. Sie soll auch neue Kessel erhalten,
für welche die Lieferung bereits ausgeschrieben ist. Da ist zu wünschen, daß
die Kessel eine niedrigere Construction erhalten als früher, damit dieselben
nicht mehr über die Wasserlinie ragen und bei Verwendung des Schiffs im
Gefecht, für den Fall, daß feindliche Kugeln den Rumpf einschlagen, nicht
die Sicherheit des ganzen Fahrzeugs gefährden. — Uebrigens ist auch die
Höhe der Untermasten der „Augusta", die wir früher bei Besprechung des
„Friedrich Carl" als übermäßig bezeichneten, infolge der Erfahrungen des
letzten Sturmes bei der Reparatur in England verringert worden.
Seit dem Jahre 1861 ist der Zuwachs unserer Flotte an Schiffen be¬
deutend gewesen. Die Cadettenfregatte „Niobe", die Schiffsjungenbriggs
„Rover" und „Moskito", die beiden gedeckten Corvetten „Vineta" (28) und
„Hertha" (28). die Corvetten „Augusta" (14), „Victoria" (14) und „Me¬
dusa" (17), der Radaviso „Preußischer Adler" (4), die Panzerfahrzeuge „Ar-
minius" (4) und „Prinz Adalbert" (3), die Kanonenboote I. Cl. „Blitz" (3),
„Basilisk" (3), „Drache" (3), „Meteor" (3). die beiden Panzerfregatten
„Kronprinz" (16) und „Friedrich Carl" (16), der Transportdampfer „Rhein"
sind erst seitdem dazugekommen, und noch sind, wie erwähnt, die gedeckte
Corvette „Elisabeth" (28) sans der königlichen Werft in Danzig und die
Panzersregatte „Wilhelm" (23) ^in England) im Bau. während für dieses
Jahr der Bau noch einer Segelbrigg in Aussicht genommen ist. Die Ma¬
rine hat also in den letzten 6 Jahren eine ganz stattliche Vermehrung er-
fahren, und hoffentlich wird diese Vermehrung, seitdem die preußische zur
norddeutschen Bundesmarine geworden ist, in steigenden Progressionen
weiter gehn.
Eine im October 1864 erschienene sehr gut geschriebene Broschüre von
einem unserer tüchtigsten Fachmänner verlangte eine Flotte von 20 Fregatten
zu 50 Geschützen, 10 gedeckte und 10 Glattdeckscorvetten zu 28 und 12 Ge¬
schützen, 6 Küstenpanzerfahrzeuge zu 4 Geschützen, 10 Avisos zu 6 Geschützen,
10 Kanonenboote zu 3, 20 Kanonenboote zu 2 Geschützen und 20 Trans¬
portschiffe zu 6 Geschützen. Von den zuerst genannten 40 Schiffen sollte aber
die Hälfte stets zum Handelsschutz und zur Ausbildung der Mannschaft auf
den drei für Deutschland wichtigsten Stationen sich befinden, d. h. 2 Fregatten
und 2 Corvetten in der Levante, 4 Fregatten und 4 Corvetten im östlichen
Südamerika, und 4 Fregatten und 4 Corvetten in Ostasien. Die, letztge¬
nannten Vorschläge finden wir nun vollständig berücksichtigt in dem Flotten¬
erweiterungsplan, welcher vom Marineministerium im vorigen Jahre dem
Reichstag vorgelegt worden ist, und auch wo dieser Plan von jenen Vor¬
schlägen abweicht, erscheinen uns die Abweichungen nur zweckmäßig. Um
alle disponibel» Geldmittel zunächst auf den Ausbau der beiden Hauptkriegs¬
häfen in Nord- und Ostsee zu concentriren, deren Vollendung das aller-
dringendste Bedürfniß ist, wird von dem Bau der 50-Kanonensregatten ganz
abgesehn. Auch würden dieselben für den Handelsschutz keinen höhern Werth
als die gedeckten Corvetten haben, während sie für Seeschlachten nicht halb
so viel werth sind als Panzerfregatten, deren Seefähigkeit seit der Aufstellung
jener Vorschläge außer allen Zweifel gestellt worden ist. Man wird also
statt der 60-Kanonenfregatten besser Panzersregatten, am zweckmäßigsten nach
dem Ringtunnelsystem, zu bauen haben, sobald die beiden Haupthafen voll¬
endet sind. Trotz des Wegfalls der schweren Fregatten ist indessen die Zahl
der für Handelsschutz und Heranbildung reichlicher Mannschaft in Dienst ge¬
stellten Schiffe in der Regierungsvorlage durchaus nicht vermindert; es sollen
nämlich fast alle Corvetten, 9 gedeckte und 8 Glattdeckscorvetten, fortwährend
auf auswärtigen Stationen im Dienst sein (und zwar aus 3 solchen: Ostasien
Mit Ostindien und Ostafrika, Osten von Nordamerika mit Westindien,
amerikanische Westküste, Osten von Südamerika, endlich Mittelmeer, d. h.
Levante). Aber auch die übrigen 4 Corvetten sollen in Dienst gestellt
sein, als ein in den deutschen Gewässern kreuzendes, durch 6 Panzerschiffe
(behufs Ausbildung der Mannschaft auch auf solchen) verstärktes Uebungs-
geschwader, das jeden Augenblick zur kriegerischen Action bereit ist, als Re-
serveabtheilung die abzulösenden Schiffe auf den auswärtigen Stationen er¬
setzt, bez. die auszubessernden Schiffe übernimmt und in deutschen Häfen
repariren läßt. Und ebenso sollen 4 Schiffe für Ausbildung der Schiffsjungen
und Seecadetten in See gehalten werden, 2 Segelfregatten für die speciell
artilleristische Ausbildung der Matrosen und einige andere Fahrzeuge für Hafen-
und Vermessungsarbeiten in Dienst gestellt sein. Die Zahl der Küstenpanzer¬
fahrzeuge wird von der Regierungsvorlage mit Recht etwas höher, die Zahl
der Kanonenboote, der Transportschiffe, der Avisos") in Rechnung auf im
Kriegsfall zu miethende Dampfer der Handelsmarine mit Recht etwas niedri¬
ger normirt; auch würde eine größere Anzahl Transportschiffe wenig nützen,
so lange die active Flotte noch nicht stark genug ist, ein Landungsheer auf
denselben sicher zu escortiren. Doch müssen dann die Transportschiffe größer
werden, als der „Rhein". Daß die Regierung die Zahl der jetzigen Ka¬
nonenboote nicht vermehren will, ist aus den oben angeführten Gründen
ebenfalls nur zu billigen; doch möchten wir für Küstenvertheidigung und
Handelsschutz 2 guil-vessels von 400, 2 solche von 600 und 2 solche von
800 Tons in der Weise erbaut sehen, wie wir es in einem früheren Artikel
präcisirten.
Die Stärke der Flotte, wie sie die Regierung in den nächsten 10 (9)
Jahren, wo die Hafenbauten noch das Geld für Schaffung einer Hochsee-
Panzerflotte absorbiren, herzustellen beabsichtigt, wird somit betragen: '16
Panzer-Schiffe und -Fahrzeuge, 21 (20?) gedeckte und Glattdeckscorvetten,
8 Avisos, 3 Transportschiffe, 22 Schraubenkanonenboote, 2 Segelfregatten
als Artillerieschulfchiffe und 3 Uebungsschiffe für Cadetten und Schiffsjungen.
Wenn wir also den Stamm der bereits vorhandenen, bez. im Bau begriffe¬
nen Schiffe abrechnen, würden innerhalb der nächsten 9 Jahre noch neu zu
erbauen sein: 11 Panzerschiffe und Panzerfahrzeuge, 6 Fregatten (gedeckte
Corvetten), 6 Glattdeckscorvetten, 1 Uebungssegelschiff (außer der für dieses
Jahr in Aussicht genommenen Brigg), S Avisos und 2 Transportschiffe.
Hinsichtlich der Benennung dieser neuzuerbauenden Schisse hätten wir
noch einen Wunsch auszusprechen, der nicht ganz so äußerlich ist, wie er
zunächst erscheinen kann. Bei den Dampfercompagnien der Handelsmarine
ist es gebräuchlich, daß jede Compagnie die Namen ihrer Schiffe aus einer
bestimmten Categorie wählt, daß also eine Gesellschaft alle ihre Schiffe nach
Erdtheilen, die andere dieselben nach Flüssen nennt u. s. w. Dasselbe möchten
wir für die verschiedenen Schiffselassen unserer Kriegsmarine eingeführt sehen;
auch die französische Kriegsmarine nennt eine Classe von Schiffen, d. h. alle
ihre Transportschiffe mit den Namen von Departements (meist Flüsse, wie
„Rhin", „Rhone", „Jsöre" u. s. w.). Wir würden es aber angemessener
finden, hierzu Namen zu wählen, die patriotisch-geschichtliche Erinnerungen
wach rufen, oder Namen von historischem Werth, die sonst eher in Vergessen¬
heit gerathen, als die Namen von Flüssen (wie z. B. bei unseren Schiffen
»Rhein", „Elbe") oder Städten (z. B. „Danzig"). Ein Anfang in dieser
Beziehung ist zwar bereits gemacht bei den gedeckten Corvetten, die zum
Theil Namen aus der deutschen Sagenwelt führen („Vineta", „Hertha",
„Arkona") und ebenso bei den Panzerschiffen, die zum Theil Namen aus der
königlichen Familie führen („Wilhelm", „Kronprinz", „Friedrich Carl",
«Prinz Adalbert"). Aber „Augusta" und „Victoria" sind wieder Corvetten,
..Elisabeth" eine Fregatte — es ist also keine Consequenz der Benennung
vorhanden und die Namen der andern Schiffe, z. B. „Gazelle", haben durch¬
aus keine historische Bedeutung. Statt dessen benenne man lieber alle neuen
Panzerschiffe nach den großen Heldengestalten unserer preußischen Geschichte,
Z.B. „Großer Kurfürst", „Friedrich der Große", „Prinz Heinrich", „Leopold
von Dessau", „Ziethen", „Seidlitz", „Ferdinand von Braunschweig", „Schwe¬
rin". „Blücher", „Gneisenau" u. s. w. Man benenne ferner alle Panzer¬
fahrzeuge wie den „Arminius" nach Heldengestalten der früheren deut¬
schen Geschichte, z. B. „Karl der Große", „Otto der Große", „Heinrich' der
Löwe" u. s. w.; alle gedeckten Corvetten nach historischen Landestheilen,
deren Namen von der heutigen Verwaltung nicht adoptirt sind, z. B. „Alt¬
mark", „Ermland", „Lausitz", „Nordfriesland", „Thüringen" u. f. w.; alle
Glattdeckseorvetten nach Schlachttagen, z. B. „Königsgrätz", „Waterloo",
„Fehrbellin", „Leuthen", „Lechfeld" u. f. w.; eine andere Classe nach großen
deutschen Künstlern und Gelehrten. Namen dieser Art scheinen uns würdiger
M sein als „Medusa", „Gazelle", „Chamäleon" oder „Krokodil!".
Wenn neuerdings der Wunsch geäußert wurde, daß alle Schiffe der
norddeutschen Handelsflotte ohne Rücksicht auf die einzelnen Staaten durch¬
gehende laufende Nummern erhalten sollen, und daß man den Schiffen der
Handelsmarine ein Wechseln des Namens durch ein Gesetz verbieten solle,
weil dadurch leicht Irrungen veranlaßt und namentlich auch die Ver¬
sicherungsgesellschaften oft hinsichtlich der Tüchtigkeit des Schiffs getäuscht
Werden, so können wir uns diesen Wünschen nur anschließen. Doch scheint
außerdem die Bestimmung wünschenswert!), daß Kauffahrteischiffe nicht mit
Kriegsschiffen gleiche Namen erhalten dürfen, damit jeder Irrung vorgebeugt
werde. Verwechslungen unsrer Kriegsschiffe dagegen mit fremden Kriegs¬
schiffen, wie sie bei den auch in England und Frankreich beliebten Namen
„Meteor", „Amazone", „Medusa" u. s. w. möglich sind, würde durch die
Wahl von Namen nationalen und patriotischen Klanges verhindert.
Sollte in nächster Zeit ein Krieg ausbrechen, so würde dabei die Rolle
unserer Kriegsmarine voraussichtlich die folgende sein. Alle Schiffe auf
auswärtigen Stationen würden dort den Handel in derselben Weise zu
stören haben, wie es die südstaatlichen Kaper wahrend des amerikanischen
Krieges thaten. Die übrigen Schiffe dagegen würden sich sämmtlich nach Kiel
zurückziehn und dann würde man gegen das Blockadegeschwader vor diesem
Hafen mit den Panzerschiffen Ausfälle zu machen haben, sobald sich irgend
günstige Chancen bieten, während die Kanonen der Holzschiffe zur Armirung
der Küstenbefestigungen verwandt werden könnten, wie einst in Sebastopol.
Sollte der „Wilhelm" beim Ausbruch des Kriegs schon ausgerüstet und in
unsern Händen sein, so würde er, der bei seinem 8 zölligen Panzer kein Geschoß
zu scheuen braucht, und dem seine Schnelligkeit stets das Entkommen ga-
rantirt, sobald mehrere feindliche Schiffe ihn in der Nähe fassen wollen,
wahrscheinlich unter dem Blockadegeschwader Verwüstungen anrichten, und
möglicherweise dasselbe sogar zu vertreiben im Stande sein.
Wir beschließen hiermit die Beschreibung des Flottenmaterials der nord¬
deutschen Marine und wenden uns zunächst zu einer Besprechung der Kriegs¬
hafen und Küstenbefestigungen.
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Das Jahr 1868 bildet einen wichtigen Abschnitt in der Finanzgeschichte
des preußischen Staates. In dem Staatsetat für dieses Jahr werden
zum erstenmale die Veränderungen ersichtlich, welche die Epoche von 1866
in dem staatlichen Leben Preußens und ganz Norddeutschlands herbeigeführt
hat. Derselbe stellt sich formell und materiell als ein von seinen Vorgängern
wesentlich entschiedener dar. Einerseits ist er durch den Hinzutritt von 1325
Quadratmeilen neuen Landes bedeutend erweitert, andererseits durch die
Übertragung wichtiger Einnahme- und Ausgabezweige an den norddeutschen
Bund erheblich modificirt.
Werfen wir zuerst einen Blick auf die Fortschritte der preußischen Bud¬
getsumme seit Einführung des speeisicirten Bruttobudgets und der Verfassung
so finden wir im Jahre 1849 den Betrag von 85, 1861 von 135, 1864 von
146, 1868 von 222 Millionen. Vertheilen wir die Summe gleichmäßig auf
die jedesmalige Einwohnerzahl, so fallen 1849 ca. 5-/«, 1864 über 7V-. 1868
über 9'/s Thaler auf den Kopf der Bevölkerung. Ob wohl der Volkswohl¬
stand mit den Budgetsummen Schritt gehalten hat? Noch im Jahre 1867
schloß der Etat ab für die neuen Landestheile mit 41,690,170, was für den
Kopf der betreffenden Bevölkerung etwa 9'/„ Thaler macht, für die alten
Landestheile mit 168.929,873 oder pro Kopf etwa 8V« Thaler. Im Ganzen
betrug die Budgetsumme des Vorjahrs 210,620.143, wogegen sich die dies¬
jährige auf 222,033,225 beläuft, wenn wir die aus Preußen erhobenen Ein¬
nahmen des norddeutschen Bundes anrechnen, welche indeß aus dem preußi¬
schen Etat selbst ausgeschieden sind. Es gibt sich also auch gegen das Vor¬
jahr eine erhebliche Steigerung der Budgetsumme zu erkennen, die sich vor¬
züglich auf die alten Landestheile repartirt. Nach dem Vorbericht des Fi¬
nanzministers zum diesjährigen Etat stellt sich das Verhältniß der alten zu
den neuen Landestheilen so, daß die ersteren einen Ueberschuß von 1,620,000
aufweisen, mit welchen das Deficit der neuen Landestheile gedeckt werden
muß. In demselben Verhältniß befinden sich Hohenzollern und das Jade¬
gebiet, welche beide zur Bestreitung ihrer Ausgaben Zuschüsse aus den älteren
Landestheilen erhalten- Die neuen Erwerbungen gewähren also Preußen
vorläufig keinerlei finanzielle Erleichterungen. Ebensowenig ist dies der Fall
mit dem norddeutschen Bunde. Die auf den letzteren übergegangenen Ein¬
nahmen aus preußischen Gebietstheilen betragen 62,173.346 Thlr., sodaß sich
also nach Ausscheidung dieser Summe das eigentlich preußische Budget auf
1S9.861.879 Thlr. stellt, oder vielmehr nach der Feststellung durch das. Ab-
geordnetenhaus auf 1S9.7S7.064 Thlr,. also um 104.81S Thlr. niedriger als
im Voranschlage des Ministeriums. Auf den Etat des norddeutschen Bundes
sind übernommen die Einnahmen aus Zöllen und Verbrauchssteuern, den
Salzrevenüen, aus der Post- und Telegraphenverwaltung, den eigenen
Einnahmen der Militär- und Marineverwaltung, den Consulatsintraden und
der extraordinäre Zuschuß für die Marineverwaltung. Außerdem werden noch
17,029,550 Matricularbeiträge und Averse für Zölle und Verbrauchssteuern
von Preußen an den Bund abgeführt. Dieser hat damit aus Preußen eine
Gesammteinnahme von 79.202.896 Thlr. Dagegen leistet er für Preußen
die Ausgaben des Salzdebits, für Post und Telegraphen. Militär und
Marine, für Handelsconsulate und den Civilpensionsfonds der betreffenden
Verwaltungszweige, im Gesammtbetrage von 80,434,789 Thlr. Danach
würde also Preußen durch den Bund eine Ausgabe von 1.251,893 Thlr.
Indeß ist diese Ersparniß nur scheinbar, indem zu berücksichtigen ist, daß die
dem Bunde überwiesenen Zölle und Verbrauchssteuern für 1868 wesentlich
höher veranschlagt sind als im Etat für 1867, und daß diese Einnahmesteige¬
rung dem preußischen Etat entzogen und dem Bundesstaat direct zu gute
gekommen ist Danach führt also der norddeutsche Bund, dessen Etat mit
72,158,243 Thlr. balancirt, für Preußen ebensowenig wie für irgend einen
andern der betreffenden Staaten Ersparnisse herbei.
Das Budget des preußischen Staats für 1868 beträgt also 159°/« Mil-
livrer, doch muß man dabei in Rechnung ziehn, daß in der preußischen
Etatsaufstellung der eigenthümliche Gebrauch herrscht, die nach Artikel 59
der Verfassung auf Domainen und Forsteinkünfte fundirte Kronrente von
2,573,099 Thlr. in der Hauptsumme des Etats gar nicht erscheinen zu lassen.
Dieser Betrag wird von den betreffenden Einnahmen vorweg abgezogen und
läuft gar nicht mehr mit in Rechnung. Für die Hofhaltung werden viel¬
mehr uur die Summen in Ausgabe gestellt, welche später unter der Regent¬
schaft und im letzten Jahre als Zuschüsse zur Rente des Kronsideicommisses
bewilligt worden sind, und wonach sich die Gesammtsumme der letzteren nun¬
mehr auf 4,073,099 stellt. Fügt man'also den betreffenden Betrag der Bud¬
gethauptsumme hinzu, so erhöht sich diese auf 162,330,164.
Das Arrangement des preußischen Etats ist folgendes. Nachdem der
Finanzminister kurzen Vorbericht gemacht, kommen zuerst die Einnahmen
nach den einzelnen Ministerien, diesmal in 37 Capiteln, nachgewiesen
an die Reihe. Es folgen dann die Ausgaben in 65 Capiteln und zwar
^. die Betriebserhebungs- und Verwaltungskosten und Lasten der einzelnen
Einnahmezweige, L, die Dotationen, nämlich die Ausgaben für die unfundirte
Kronrente, für die öffentliche Schuld und für die beiden Häuser des Land¬
tags; 0. die Staatsverwaltungsausgaben nach den acht Ministerien geordnet.
Den dritten Hauptabschnitt des Budgets bildet der Nachweis der außer¬
ordentlichen Ausgaben; ein Etat für außerordentliche Einnahmen besteht also
nicht; und den vierten'Hauptabschnitt bildet der Etat der Hohenzollernschen
Lande, welcher in derselben Weise wie für das Hauptland, aber abgesondert
von diesem und in süddeutscher Währung, geführt wird. Jedes der einzelnen
Capitel des Etats zerfällt in eine Reihe von Titeln. Das zweite Capitel
der Einnahmen handelt z. B. von den Forsten, und zerfällt in 6 Titel;
1. Holz, 2. Nebennutzungen, 3. Jagd u. s. w. Sowohl für Einnahmen als'
Ausgaben ist neben dem Betrage für das betreffende Etatsjahr noch der im
Vorjahr dafür ausgesetzte ersichtlich gemacht und das Mehr und Minder
zwischen beiden Summen verglichen. Erläutert wird der Hauptetat durch drei
umfangreiche Bände Beilagen, welche die Svecialnachweisungen über die ein¬
zelnen Einnahmezweige enthalten, aber unübersichtlich und ungleichmäßig be¬
arbeitet, wie sie sind, nach Form und Inhalt vieles zu wünschen übrig lassen.
Sehen wir uns nun zuerst die Positionen der Einnahme etwas näher
an, so finden wir die Ministerien in folgender Reihe aufgeführt: zuerst das
der Finanzen, dann das für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, das
Staatsministerium, die der Justiz, des Inneren, der landwirtschaftlichen
Angelegenheiten, der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten,
achtens das des Auswärtigen. Das Kriegs- und das Marineministerium,
welche in früheren Etats zwar nicht in der Einnahme, aber in der Ausgabe eine'
erhebliche Rolle spielten, fehlen im diesjährigen Etat ganz, und ebenso in
dem des Handelsministeriums die Post-und Telegraphenverwaltung. In
Preußen hat also jedes Ministerium nicht nur seine eigene Ausgabe, sondern
auch seine eigene Einnahmeverwaltung, indeß sind nur die Einnahmen dreier
Ministerien von Bedeutung, nämlich die des Finanz-, des Handels- und des
Justizministeriums, und in den Etats dieser drei Ministerien sind es wie¬
derum nur sieben Positionen, welche zusammen fünfzehn Sechszehntel der
sämmtlichen Bruttoeinnahme liefern. Es sind dies nämlich die directen
Steuern mir 41, die Eisenbahnen mit 81, das Berg-, Hütten- und Salinen¬
wesen mit 23. die indirecten Steuern mit 19, Forsten mit 13, Justiz mit 12,
Domainen mit 9 Millionen: zusammen 151°/-. Millionen. Alle übrigen
Staatseinnahmen betragen also noch nicht se'ass Procent der Gesammtsumme.
Den höchsten Ertrag gewähren für die preußischen Finanzen die directen
Steuern, welche über ein Vertheil der Gesammteinnahme liefern. Noch im
vorigen Budget figurirten mit dem höchsten Betrage die indirecten Steuern,
da aber der größte Theil der Einnahme aus Zöllen, der Steuer von Rüben¬
zucker, Salz, Branntwein, Bier und Tabak auf den norddeutschen Bund
übergegangen ist. so bleiben für alleinige preußische Rechnung nur noch die
Mahl und Schlachtsteuer, die Stempelsteuer, der Elbzoll. Chaussee-, Brücken-
u. s. w. Gelder. Controlgebühren für Salz, Hypotheken- und Gerichtsschreibe¬
reigebühren im Bezirke des Appellationsgerichts zu Köln. Was die directen
Steuern betrifft, so ist die ergiebigste derselben die Grundsteuer mit fast 13
Millionen, dann die Classensteuer mit 12-/4 Millionen. Die letztere wird
bekanntlich in drei Hauptclassen und zwölf Stufen, die unterste mit zwei
Unterstufen, von '/-- bis zu 24 Thlr. von allen den Personen erhoben, welche
unter tausend Thaler Einkommen haben und nicht in einer mahl- und schlacht¬
steuerpflichtigen Stadt wohnen. Die classificirte Einkommensteuer, die in
dreißig Stufen von allen Personen mit tausend Thaler Einkommen und dar¬
über erhoben wird, erträgt dagegen nur 4V-- Millionen. Etwas mehr, aber
auch nicht ganz fünf Millionen bringt die Gewerbesteuer, und beiden steht
an Ergiebigkeit fast gleich die Gebäudesteuer, welche ebenso wie die Grund¬
steuer auf dem Gesetz vom 21. Mai 1861 beruht. Nur etwas über andert¬
halb Millionen erträgt die Eisenbahnabgabe, welche seit 18S3 alle Bahnen
bei einem Reinertrag von 4°/» und weniger mit V«», von dem Ertrage zwi¬
schen 4 und 8»/» mit V-o. 6—6°/° mit -/.« und über 6°/» mit -/.° der Rein¬
einnahmen entrichten müssen. Sämmtliche -directe Steuern sind auch in den
neuen Landestheilen eingeführt und werden dort nach dem Muster der west¬
lichen Provinzen meist durch besondere Steuerempfänger, nicht durch die Ge¬
meinden erhoben. Auch die Grundsteuer wird dort nach denselben Principien
veranlagt werden, welche vor einigen Jahren bei der Regulirung derselben
in den alten Landestheilen maßgebend gewesen sind. Einstweilen ist in den
annectirten Ländern die Grundsteuer bis auf den Betrag ermäßigt, den sie
nach der definitiven anderweiten Regelung voraussichtlich dort haben wird.
Wenn wir nun einen Blick auf die Vertheilung der Ausgaben, welche
den Einnahmen gleich sind, werfen, so finden wir, daß die ordentlichen und
dauernden Ausgaben incl. Hohenzollern sich auf 153,674.064 Thlr. belaufen,
wovon LSV2 Million auf die Betriebsausgaben, 26°/» auf die Dotationen
(excl. fundirte Kronrente). 71'/s auf die Staatsverwaltungsausgaben fallen;
und 216,614 Thlr. auf Hohenzollern. Die einmaligen und außerordentlichen
Ausgaben betragen demnach etwas über 6 Millionen.
Betriebsausgaben sind nur in drei Ministerien, nämlich dem Finanz-,
dem Handels- und dem Staatsministerium nachgewiesen. Die Betriebsaus¬
gaben des letzteren rühren daher, daß auf den Etat desselben das früher
mit der PostVerwaltung verbundene Gesetzsammlungs-Debitscomptoir und
vom Marineministerium' die Verwaltung des Jadegebiets übergegangen sind,
also verhältnißmäßig unbedeutende Posten. Das Finanzministerium hingegen
hat 18, das Handelsministerium 37 Millionen Betriebsausgaben. 'Vom
Finanzministerium ressortiren nämlich außer unbedeutenderen Verwaltungs¬
zweigen wie Lotterie, Seehandlung, Münze u. s. w. die Forsten, die Domai-
nen, die directen und die indirecten Steuern; vom Handelsministerium außer
der Porzellanmanufaktur das Berg-, Hütten- und Salinenwesen und die
Eisenbahnen. Die relativ höchsten Betriebskosten verursacht unter diesen
Erwerbszweigen des Staats das Berg-, Hütten- und Salinenwesen, nämlich
80°/« des Bruttoertrags; es folgen dann die Eisenbahnen mit 58, die Forsten
mit 48, die Domainen mit 23,' die indirecten Steuern mit 11, die directen
Steuern mit ungefähr 4°/« des Bruttoertrags. Die Betriebskosten für die Do¬
mänen vertheilen sich auf eine Fläche von 1,369.029 preuß. Morgen mit 859
Pachtungen und 1163 Vorwerken; die für die Forsten auf 10.204,463 Morgen
Forstland, und die für die Eisenbahnen auf zwölf Staatsbahncomplexe, Ende
1866 in einer Länge von 417'/» Meilen, davon 119 auf die hannoverschen
Staatsbahnen, 108 auf die Ostbahn, 51 auf die niederschlesisch-märkische.
Die Betriebskosten im Ganzen betragen 36°/<> der ordentlichen Staatsausgaben.
Andere 17°/° nehmen die Dotationen hinweg. Unter diesen ist der Zu¬
schuß zur Rente des Kronsideicomisses mit anderthalb Millionen, die Aus¬
gabe für den Landtag mit 292,130 Thlr. und für die öffentliche Schuld mit
fast 23 Millionen, und wenn wir den Aufwand für Verzinsung und Til¬
gung der Schulden der Stadt Frankfurt a. M. hinzurechnen, welche vorläufig
bis zur definitiven Regelung jener Verhältnisse als Passiva der Generalstaats-
kasse, nicht unter den Dotationen nachgewiesen werden, so steigt die Aus¬
gabe für die Schuld auf fast 25'/2 Millionen. Die Gesammtschuld des preu¬
ßischen Staats mit den frankfurter Schulden belief sich Ende 1867 auf
434,465,066 Thlr.; darunter 163,795,486 Thlr. zu Eifenbahnzwecken, 10
Millionen schwebende und 15 Millionen unverzinsliche Schuld. Die Kosten
dieser seit 1850 sich fast jährlich mehrenden Schuldenmasse belaufen sich bereits
auf über 1 Thlr. pro Kopf der Bevölkerung und verschlingen über 62°/» der
Reineinnahme aus den directen Steuern. Der Ertrag der indirecten Steuern
wird durch die Kriegs- und Marinebedürfnisse auf dem Etat des norddeut¬
schen Bundes absorbirt, und die Reineinnahmen aus dem Berg-, Hütten«
und Salinenwesen betragen nur wenig mehr als die Kosten der Hofhaltung.
Unter diesen Umständen kann es nicht'Wunder nehmen, wenn für die eigent¬
lichen Regierungs-, resp. Staatsverwaltungsausgaben verhältnißmäßig wenig
übrig bleibt, nämlich 71'/« Millionen oder 46°/» der ordentlichen Ausgaben,
welche sich unter die acht Ministerien so vertheilen, daß 29 Millionen auf
das Finanzministerium, Is auf das der Justiz, 9 auf das Handelsministerium
kommen, ferner 8 auf das Innere, 6 auf das der geistlichen, Unterrichts- und
Medicinalangelegenheiten, 2 auf die Landwirthschaft, noch nicht ganz eine
Million auf das auswärtige und etwas über ein drittel Million'auf das
Staatsministerium. Um bei dem Kleinsten anzufangen, bemerken wir, daß die
Ausgaben des Staatsministeriums diejenigen für das Bureau desselben, die
Staatsarchive, die General-Ordenscommission, die Verwaltung des Staats¬
schatzes, das geheime Civilcabinet, die Oberrechnungskammer, die Oberexami-
nationscommisfion, den Disciplinarhof und den Gerichtshof zur Entscheidung
der Competenzconflicte umfassen. Das auswärtige Ministerium bedarf keines
Commentars. Im Etat des landwirthschaftlichen Ministeriums nehmen die
Kosten für die Auseinandersetzungsbehörden und die Pferdezucht die hervor¬
ragendste Rolle ein, letztere sowohl in Gestalt von Prämien und Unter¬
stützungen an pferdezüchtende Private, als namentlich für die drei Haupt-
und elf Landgestüte. Im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten hat die
Säkularisation der geistlichen Güter bewirkt, daß der katholische Cultus
mit 826,239, der evangelische nur mit 594.804 Thlr. auftritt, während doch
über 64°/° der Einwohner Preußens der evangelischen Kirche angehören,
der katholischen nicht ein Dritttheil. Der öffentliche Unterricht erfordert
2.972.271, Cultus und Unterricht gemeinsam 931,553 Thlr. Unter diesen
Posten sind für die Elementarschulen °/« Millionen, für die höhern Schulen
(Gymnasien und Realschulen) 'etwas über Millionen, für die Universitäten
853,000 Thlr. angesetzt. Zu diesen Summen treten indeß die Einnahmen
der Unterrichtsanstalten aus ihrem Erwerbe, aus eignen Fonds und den
Mitteln der Gemeinden und selbständigen Gutsbezirke, .denen die Unterhal¬
tung der Volksschulen bekanntlich zum größten Theil obliegt. Das Medi-
cmalwesen erfordert etwas über eine halbe Million. — Was das Ministerium
des Innern betrifft, so bildet dessen Hauptausgabe die Polizeiverwaltung,
>äst 3'/- Million, nächstdem die Landgensdarmerie und die Straf- und Besse¬
rungsanstalten, letztere mit 2'/--, erstere mit über 1'/- Millionen; ungefähr
ebensoviel die Landdrosteien und landräthlichen Behörden; nur 37,725 Thlr.
fallen auf das statistische Bureau und das meteorologische Institut. Das
Justizministerium, welches fast 13 Millionen einnimmt und 15 Millionen
ausgibt, erhält sich zum größten Theil selbst. Schließlich kommen wir zu
den Ministerien, welche weniger ausgeben, als sie einnehmen, nämlich das
Handels- und das Finanzministerium. Das Handelsministerium braucht zur
Unterhaltung der über 2000 Meilen Staatschausseen 3V-- Millionen; für die
Unterhaltung unchaussirter Wege, Brücken u. s. w. gegen 2 Millionen und
Zu Chausseeneubauten 1,099,857 Thlr. Das Finanzministerium bestreitet mit
seinen 29 Millionen die Ausgabe von 16,910,405 Thlr. als Matricularbei-
träge für den norddeutschen Bund, ferner mit 2'/° Millionen die Passiva der
Generalstaatscasse, unter denen die Kosten der Schuld von Frankfurt a. M.
dann die Civilpensionen und Competenzen mit 4 Millionen; es unterhält
ferner die Oberpräsidien und Regierungen, die Finanzbehörden in Hannover,
dle Nentenbanken und ähnliche Unterbehörden. In dieser Weise gruppiren
sich die ordentlichen Ausgaben.
Ihnen treten neu für 1868 noch 6,101,000 oder nach der Aufstellung
des Abgeordnetenhauses 6,083.000 Thlr. an einmaligen und außerordentlichen
Abgaben hinzu, von denen über die Hälfte durch das Handelsministerium in
Anspruch genommen werden, welches für über 2 Millionen Land- und Wasser¬
neubauten ausführen will und 7« Millionen Zuschüsse zur Eisenbahnverwal-
tung braucht. Im Finanzministerium werden die außerordentlichen Ausgaben
namentlich verursacht durch die Ablösung von Forstservituten und Renten
und die Ausführung der anderweiten Regelung der Grundsteuer in den neuen
Landestheilen, deren wir schon oben gedachten.
Dies find die Hauptpositionen aus der langen Reihe von Zahlen, welche
den Finanzetat des preußischen Staats für 1868 darstellen und die in ihrer
Höhe, Gruppirung und ihren Verhältnissen zu einander einen ausführlichen
und kritischen Commentar über die Art und Organisation der preußischen
Staatsverwaltung liefern. Ohne uns auf Kritik, die in den Kammerdebatten
genügsam geübt ist, oder auf allgemeine finanzwisfenschaftliche Betrachtungen,
die in zahlreichen Büchern zu finden sind, oder auf Vergleichungen mit andern
Ländern, die immer mißlich sind, einzulassen, geben wir dem Leser diese kurze
Uebersicht als Anleitung zu weiterem Nachdenken und Studium.
Die Verhandlungen über das französische Preßgesetz, deren Leser wir
während der letzten Wochen waren, sollen den Kaiser Napoleon in
peinlicher Weise an die Kammervorgänge vor Ausbruch der Februar¬
revolution erinnert haben. Diese Reminiscenz liegt in der That ziem¬
lich nah: wenn die Analogie zwischen den französischen Zuständen von
damals und heute auch nur eine entfernte ist. Vor zwanzig Jahren schlugen
die Franzosen den Thron der Julimonarchie in Trümmer, weil sie ihre Un¬
geduld nach einer Reform des Wahlgesetzes nicht zügeln konnten, deren
Durchführung doch nur Frage der Zeit war, heute sehen wir sie vergeblich
um ein Stück Preßfreiheit kämpfen, dessen Besitz selbst den Ultras der Gui-
zvtschen Majorität niemals genügt hätte. — Obgleich die Debatte über dieses
neue Gesetz noch nicht geschlossen ist, läßt sich das Geschick desselben schon
gegenwärtig übersehen. Der 1, der jedem Franzosen das Recht zur Her¬
ausgabe einer periodischen Schrift ertheilt und die bestehenden Vorschriften
über Erwirkung einer Regierungsconcession und Hinterlegung fast uner-
erschwinglicher Kautionssummen aufhebt, gibt der Presse einen Spielraum,
den die folgenden Paragraphen (eS sind ihrer, wenn wir nicht irren, vier¬
zehn) möglichst zu beschränken suchen. Das ganze Gesetz erinnert lebhast an
das berühmte Lichtenbergsche Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel
fehlt! Dle freie Einführung ausländischer Journale, das Recht zur Mit¬
theilung und Discusftvn der Kammerverhandlungen, die Oeffentlichkeit der
Verhandlungen über Preßvergehen, lauter Dinge die sich im übrigen Europa
fast von selbst verstehen, über welche bei Kulturvölkern kaum eine Meinungs¬
verschiedenheit besteht, — sie werden in dem modernen Frankreich wie offene
Fragen behandelt, mit Gründen für und wieder belegt und es findet sich so¬
gar eine Majorität, welche feierlich ihre Unzulässigkett proklamirt. In dem
Vaterlande der continentalen Preßfreiheir wird eine Stempelsteuer erhoben,
welche die pariser Journale zwingt, fünf Thaler und zehn Groschen von
jedem Exemplar, das sie drucken, an den Staat zu entrichten, eine Steuer,
welche journalistische Unternehmungen bankerott macht, sobald dieselben we¬
niger als 8000 Abonnenten zählen, in Paris, dem liberalen Eldorado frühe-
rer Zeiten, sind im I, 1867 nur sieben Nummern der Kölnischen Zeitung
an die Leser ausgegeben, Blätter von der gemäßigten Haltung der Augs¬
burger Allgemeinen wochenlang confiscire, die unabhängigen Zeitungen zu
Geld und Gefängnißstrafen verurtheilt worden, weil sie sich erlaubten, Ste¬
nographen in das (üoiPS log'islaM zu senden; — und all' diese beispiellosen
Beschränkungen einer der ältesten freiheitlichen Errungenschaften werden durch
feierliche Beschlüsse der Volksvertretung aufrechterhalten, und von Hunderten
gebildeter Franzosen wie Dinge behandelt, über welche sich noch streiten
läßt. Von der Beseitigung anderer unerträglicher Lasten, welche auf der
französischen Presse ruhen, ist nicht einmal die Rede gewesen; man läßt sichs
ruhig gefallen, daß keine französische Postanstalt Zeitungsabonnements an¬
nimmt, die nicht dem Moniteur gelten und man findet es in der Ordnung,
daß (wiederum den Moniteur ausgenommen) kein Journal Beilagen bringen
darf, wenn dieselben auch nur Inserate enthalten; und diese beispiellosen Be¬
schränkungen der Denk- und Redefreiheit werden allmählig durch das Her¬
kommen geheiligt und gehen schließlich in das Volksbewußtsein über.
Nur der leblosen Erstarrung, welche seit den letzten Jahrzehnten über
Frankreich gelegen, ist es zuzuschreiben, daß die kaiserliche Regierung in der
entschlossenen Haltung der Opposition eine Gefährdung ihrer Sicherheit sehen
kann. Daß Männer vom Schlage Emile Olliviers in eine Verewigung der
gegenwärtig bestehenden Ordnung nicht willigen, würde in jedem andern
Staate für selbstverständlich gelten. Sehr viel gefährlicher als die Haltung
der Legislative, die es im schlimmsten Fall zu erträglich starken Minoritäten
bringt, erscheint dem auswärtigen Beobachter die gereizte Stimmung der
Pariser Bevölkerung, welche sich an jedem neuen Tage neu bekundet. Nicht
der Haß gegen das gegenwärtige Regime, die Verachtung desselben macht
tägliche Fortschritte und diese Verachtung wird allmählich zur nationalen
Selbstverachtung. Dieselben Leute, welche im Lollögs as Graues und im
Odeon, auf der Gasse und im Saale der Volksvertretung demonstriren, müssen
sich sagen, daß sie das zweite Empire weder wegschaffen noch entbehren können,
weil sie die Gewöhnung der Freiheit und ihrer Aufrechterhaltung verloren
und zwei Jahrzehnte lang anerkannt haben, daß sie eines Herrn, und zwar
eines strengen Herrn bedürfen. Könnte das heutige Frankreich das Wort
Franz' I.: „Alles verloren, nur die Ehre nicht" für sich anführen, — der
Moralische Bankerott, dem die gegenwärtige Regierung entgegen geht, wäre
eine bloß französische Angelegenheit, keine europäische Gefahr. Weil dem nicht
so ist, müssen wir wiederholen, was schon früher in diesen Blättern behauptet
worden: die Franzosen werden über kurz oder lang ihre am heimischen Herde
verloren gegangene Selbstachtung diesseit des Rhein wiederzufinden suchen,
Deutschland wird bezahlen müssen, was Frankreich sich selbst schuldig geblieben.
Die Stunde dieser wunderlichen Art von Abrechnung wird vielleicht
früher schlagen, als man glaubt. Im Augenblick athmet allerdings noch Alles
tiefen Frieden: die Correspondenz über das der Welfenlegion gebotene fran¬
zösische Asyl ist zu gegenseitiger vollständiger Befriedigung verlaufen; aus
Herrn v. Beust's eigenem Munde wissen wir, daß die östreichischen Pässe der
hannoverschen Flüchtlinge aus Versehen ausgestellt worden sind und die fried¬
liche Haltung der wiener Presse hat das Mögliche gethan, um die in der
nächsten Nachbarschaft der k. k. Hofburg geduldeten welsischen Legitimitäts-
demonstrationen ihrer Bedeutung zu entkleiden. Weder die über diese Zwischen¬
fälle gepflogenen Zeitungshändel, noch die Mittheilungen, welche die Kölnische
Zeitung neuerdings über die Möglichkeit eines italienisch-französisch-östreichischen
Bündnisses brachte, haben den diplomatischen Himmel zu trüben vermocht und
die inneren Fragen stehen diesseit wie jenseit des Rhein noch immer im Vorder¬
grunde, Im Grunde kommt darauf aber nichts mehr an; da die „innere Frage
Frankreichs" den wahren Grund der Kriegsgefahr bildet, so kann die „innere
Lage Deutschlands" jeden Tag zur Kriegsveranlassung werden — und
das deutsche Zollparlament steht vor der Thüre.
Bevor diese Thür geöffnet wird, muß die des preußischen Landtags ge¬
schlossen werden. Es ist eine bedeutsame Session, die hinter uns liegt und
der wichtigste Theil derselben ist gerade in den letzten Monat gefallen. Zum
erstenmale haben die Vertreter der neu erworbenen Länder an den Verhand¬
lungen jenes preußischen Parlaments Theil genommen, das seit einem Men¬
schenalter im Mittelpunkt aller deutschen Interessen steht. Unwillkürlich fra¬
gen wir nach den Eindrücken, welche dieselben aus dem Hause am Dönhoss-
platz mitgenommen, wie nach den Eindrücken, welche sie zurückgelassen haben.
Auf beiden Seiten wird der Haupteindruck der sein, daß Verständigung zwi¬
schen den Vertretern der alten und denen der neuen Provinzen, trotz des
guten Willens, der von beiden Seiten mitgebracht worden, nur mühsam
und unvollständig zu Stande gebracht, das größere Stück Arbeit für künftige
Sessionen übriggeblieben ist. Vielleicht daß der eine oder andere Kämpfer
gar mit der Ueberzeugung nach Hause geht: „Es ist gut, daß die Annexion
vollzogen worden, bevor man uns nach Berlin gerufen — wir selbst hätten
sie nicht fertig gebracht." Und doch steht die Sache nicht ganz so. Die
Schwierigkeiten der Verständigung rühren wenigstens zum Theil davon her,
daß der militärischen Eroberung der neuen Provinzen keine moralische voran-
gegangen ist, daß man so zu sagen mit dem Ende den Anfang gemacht hat.
— Aber die Zeiten sind vorüber, in denen deutsche Politiker mit Unter¬
suchungen so unfruchtbarer Art ihre Zeit verlieren durften: auf dem Boden
der Thatsachen, die ein nicht genug zu preisendes Geschick geschaffen, sind die
Streiter, welche in den bewegten Februarwochen mit einander rangen, trotz
allem dem doch stehen geblieben und die Denkenden unter den Zeugen
dieses Kampfes werden sich sagen müssen, daß jeder weitere Tag bundes¬
täglicher Existenz denselben nur erschwert, seinen Preis vermindert hätte.
Zwanzig Jahre lang haben die Landtage von Preußen und Hannover
auf wenige Stunden Entfernung von einander getagt, zwanzig Jahre lang
sind die liberalen Koryphäen beider Volksvertretungen demselben Ziele nach¬
gegangen, zwanzig Jahre lang haben sie einen gemeinsamen Feind be¬
kämpft und doch waren es Gegensätze, welche bei der ersten Berührung zu
Tage traten und nicht anders als mit der blanken Waffe der Discussion zum
Austrag gebracht werden konnten. Die realen Verhältnisse waren um so
viel mächtiger gewesen, als die idealen Wünsche und Neigungen, daß alte
Gegner ein Bündniß gegen die neuen Genossen der eignen Partei schlössen:
die Gegensätze zwischen rechts und links, welche sich in Berlin wie in Hanno¬
ver bis zum Jahre 1866 auf Tod und Leben befehdet hatten, sie blaßten zu
Schatten ab, sobald es sich ernstlich darum handelte, ob die altpreußische
Satzung gegenüber der hannoverischen im Recht bleiben sollte oder nicht.
Keiner der beiden Parteien, welche sich im Kampf um den Provinzialfonds
entgegenstanden (erst dieser brachte die Situation zu vollständiger Klarheit)
konnte ein relatives Recht ganz abgesprochen werden; desto vollständiger trat
dafür die Unberechtigung der Zustände hervor, welche diese Gegensätze ge¬
schaffen, die besten Männer in der Gewöhnung großgezogen hatte, ihre Ge¬
wohnheiten als die allein berechtigten anzusehen.
Wir haben bereits Gelegenheit gehabt, unsere Stellung zur hannover-
schen Provinzialfondssrage zu bezeichnen und für das gute Recht dieses In-
seltnes einzutreten; auch über die prinzipielle Bedeutung dieser Angelegenheit
braucht unsern frühern Erörterungen kaum etwas nachgetragen zu werden.
Die Art und Weise ihrer Lösung legt aber die Frage nah, wie es zugegan¬
gen, daß dieselbe nicht im Zusammenhang mit der gesammten Organisätions-
angelegenheit zur Sprache gebracht worden. In dem Umstände, daß das
nicht geschehen, sehen wir den Hauptgrund der Verwirrung, welche diese Frage
hervorgerufen. Wäre der Landtag zu einer Entscheidung darüber veranlaßt
worden, ob das ehemalige Königreich Hannover beisammen bleiben, oder aber
aufgelöst und unter die'angrenzenden Provinzen vertheilt werden sollte, so
hätte sich die Frage nach' dem Provinzialsonds je nach der einen oder
der andern Eventualität von selbst beantwortet. Ihre isolirte Behandlung
schloß von Hause die Heranziehung der wichtigsten Gesichtspunkte aus und
zerrte die Discussion in jene Bahn verwickelter Rechnungen und Gegenrech¬
nungen, welche für die eigentliche, die politische, Entscheidung gleichgiltig
waren und doch wesentlich dazu beitrugen, die Gemüther zu erhitzen und zu
erbittern. Das Schlimmste an der Sache ist aber, daß eine prinzipielle Lo¬
sung auch gegenwärtig nicht erfolgt ist; die Annahme des Kardorffschen An¬
trags hat wohl entschieden, daß den hannoverschen Provinzialständen jährlich
500,000 Thlr. ausgesetzt werden sollen — eine Präjudiz für die Stellung, welche
Ordnung die Provinz Hannover den preußischen gegenüber einnehmen soll,
hat sie nicht geschaffen und der Streit, der in der ersten Februarwoche aus¬
gekämpft wurde, kann unter veränderten Formen alle Tage wieder auftau¬
chen, morgen Hannover, ein andermal Hessen, Nassau oder Holstein gelten;
die Consequenz, welche diese Lage der Dinge für die Zukunft des preußischen
Staats, ganz besonders für die' Zukunft der nationalliberalen Landtagspartei
haben kann, liegr zu nahe, als daß sie besonders genannt zu werden brauchte.
Merkwürdiger Weise ist diese Seite der Sache von der Mehrzahl der -
Organe unsrer Presse unerörtert geblieben. Man hat es vorgezogen, Con-
jecturen darüber anzustellen, welche Folgen der Beschluß vom 6. Februar
für die konservative Partei, sür die Zusammensetzung des Ministeriums und
dessen Ergänzung durch nationalliberale Kräfte haben könne u. f. w. Und
doch lag klar zu'Tage, daß an Eventualitäten dieser Art auch nicht entfernt
M denken sei — zu' unserm Glück, müssen wir hinzufügen. So lang die
nationalliberale Partei nicht darüber schlüssig geworden, welche Grundsätze
für die Organisation der neuen Provinzen maßgebend sein sollen, so lang keine
vollständige Ausgleichung zwischen den alt- und neupreußischen Gliedern der¬
selben herbeigeführt worden, hat sie das höchste Interesse da?an, von der
Theilnahme an der Regierung ausgeschlossen zu bleiben — ihren Ministern
würde andernfalls die Erfahrung nicht erspart bleiben, welche Graf Bismarck
soeben mit seinen conservativen Freunden gemacht hat. Unterschiede blieben
freilich übrig, aber nicht zu Gunsten einer möglichen Negierung unsrer Freunde;
weder läßt sich eine Stellung, wie es die des Premiers auch nach dem großen
Abfall geblieben ist, sofort von andern Männern gewinnen, noch ist das Ferment
der nationalliberalen Partei so stark, wie das der altconservativen deren Glieder
sich nicht sowohl durch Prinzipien als durch starke, egoistische Interessen ver¬
bunden wissen. Eine Ausgleichung zwischen den verschiedenen, der national¬
liberalen Partei ungehörigen Gruppen muß aus äußern wie aus innern
Gründen für die Vorbedingung jeder Betheiligung derselben in Regierungs-
Keschäften angesehen werden. Eine Partei, die am Ruder sitzt, hat one Zeit,
sich zu discipliniren, sie muß mit sich selbst fertig geworden fein, wenn sie
in Stande sein soll, dauernd die Geschäfte in Händen zu behalten; eme
liberale Regierung kann sich nur behaupten, wenn sie sich auf einen sestge-
kitteten Parteiorganismus stützt — in Preußen wird sie erst möglich, wenn
dieser Organismus bereits da ist.
Dazu kommt, daß die national-liberale Partei in nächster Zukunft einer
neuen entscheidenden Krisis entgegen geht. Durch die nationalgesinnten Ver¬
treter Süddeutschlands wird sie im Zollparlament, eine Verstärkung und Er¬
weiterung erfahren, deren Einflüsse sich noch nicht berechnen lassen. Sind die
Parteiverhältnisse des norddeutschen Reichstags von denen des preußischen
Landtags verschieden, so liegt die Vermuthung nah, dieselben würden im Zoll¬
parlament wieder andere sein. Die Erfahrung, daß Verschiedenheit der äußeren
Existenzbedingungen auch eine Verschiedenheit der Anschauungen bedinge, welche
stärker ist als die Einheit der Wünsche und Bestrebungen, haben wir zu
häufig gemacht, um eine neue Bestätigung derselben zu brauchen.
Hat es schon mit der Verständigung zwischen den besten Patrioten der
verschiedenen norddeutschen Länder ihre Schwierigkeiten gehabt — sind die
preußischen Parteiverhältnisse durch den Zutritt der Vertreter der übrigen
norddeutschen Landschaften total verändert worden, so kann nicht ausbleiben,
daß ein Gleiches geschehen wird, wenn die Vertreter Bayerns, Würtembergs
und Badens nach Berlin kommen. — Das Contingent, welches der nationalen
Partei zufließen soll, wird freilich nicht allzugroß sein. Ohne daß sich be¬
haupten ließe, die letzten Vorgänge in Berlin hätten irgend welchen Einfluß
auf die Wahlen jenseit des Main ausgeübt, sind dieselben nicht allzuglänzend
ausgefallen. Nach den in Bayern und Baden erzielten Resultaten ist anzu¬
nehmen, kaum die Hälfte der süddeutschen Vertreter werde wahrhaft guten
Willen mitbringen und es wird energische Anstrengungen kosten, um die große
Zahl der Widerstrebenden mit fortzureißen und das erste deutsche Zollparla¬
ment zum Vorparlament der zweiten deutschen Nationalversammlung zu machen.
Nicht nur das französische, auch das deutsche Volk begeht im Frühling
des Jahres 1868 den zwanzigsten Jahrestag weltgeschichtlicher Ereignisse.
Jenseit des Rhein sehen sich die Vorkämpfer der Sache um ein beträchtliches
Maß hinter die Errungenschaften zurückgeworfen, welche sie in das Jahr 1848
mit hinüber genommen hatten, bei uns soll an Vollendung der Einheit Hand
gelegt werden, deren Grundlagen damals erstrebt worden. Glücklicher als
unsere Nachbarn dürfen wir uns rühmen, daß die Spanne Zeit, welche zwischen
damals und heute liegt, keine verlorene ist, daß wir dem Ziel, dessen Erreichung
es galt, trotz des Jammers der Reaction, welche dem Völkerfrühling folgte,
um ein beträchtliches näher gerückt sind. Aber das größere Stück Arbeit
liegt noch vor, uns. wesentlich dadurch erschwert, daß es auf anderem Wege
und mit anderen Mitteln bewältigt werden muß, als denen, welche uns an
die Errungenschaften von heute geführt haben. Wenn es wahr ist, daß der
Mensch mit seinen Zwecken wächst, so muß das Gleiche für die Parteien gelten
können. Von dem Zollparlament erwarten wir. es werde neues Blut in die
Adern der Partei gießen, welcher die Aufgabe geworden, mit bereicherter Er¬
fahrung, gereiftem Sinn und erhöhtem Muth, an den Abschluß des Werks
zu gehen, das vor zwei Jahrzehnten in dem Augenblick zusammenfiel» da es
gekrönt werden sollte. Der große Gegensatz von damals, der zwischen
Oestreich und Preußen, ist heute beseitigt — werden die übriggebliebenen
kleineren, partikularen Gegensätze den nationalen Mächten Stand halten
können, welche sich rühmen dürfen, heute das „Schwert und Schild" Deutsch'
lands mitzubringen, das vor zwanzig Jahren gefesselt in der Scheide lag?
Viele Deutsche wissen, daß der Verstorbene ein ungewöhnlich kluger und
kräftiger Mann war, auch daß in seinem Wesen eine Gewalt und furchtlose
Entschlossenheit lag, welche bei großen Entscheidungen die Bewunderung der
Freunde, den Zorn der besiegten Gegner aufregte. Aber nur. wer ihm per¬
sönlich nahe getreten, weiß, wie anspruchslos und bescheiden sein Gemüth war,
wie geneigt zu liebevoller Würdigung andersgeformter Menschennatur, und
wie schön sich neben der Energie und unermüdlichen Thatkraft seine be¬
hagliche Laune und die Fähigkeit heiteren Lebensgenusses ausnahmen. Sein
Wirken wurde stets durch große Ideen gerichtet und meinte bei der genauesten
Sorge um Einzelnes das Ganze und Höchste; aber überall, wohin er durch
sein wechselvolles Schicksal geführt wurde, hat er einen großen Kreis warmer
Freunde um sich geschlossen.
Ungewöhnlich reich an Ereignissen, an Wechsel des Ortes und der Thä-
tigkeit ist sein Leben, und schon die Größe und Mannigfaltigkeit der Interessen,
welche er umfaßte, würden eine ausgeführte Lebensbeschreibung lohnend
machen. Aber sein Leben hat für unsere Nation noch eine besondere Bedeu¬
tung. Von dem Jahre 1830 bis zur Gegenwart hat er als Journalist,
Volkslehrer, Abgeordneter, Leiter großer Geschäfte und als Staatsmann seine
Kraft für Andere gerade immer in den Thätigkeiten verwerthet, welche nach
dem Zuge der Zeit obenan standen und wesentlich waren für die größten
Fortschritte unserer Nation; bei jeder von diesen verschiedenen Aufgaben war
er voller und ganzer Mann, und bei jeder, auch der größten, hat er einen
Ueberschuß von Kraft bewährt, welcher das Vertrauen gab, daß er zu noch
Höherem befähigt sei.-
So stellt sein Leben in einer Reihe von Bildern dar. wie an einem em
Zelnen Mann der große Bildungsprozeß der letzten vierzig Jahre sich vollzog,
von dem ersten unsicheren Ringen nach deutscher Einheit bis in die Jahre
ihrer politischen Realisirung. Sehr gering ist die Zahl derer, welchen ver¬
gönnt war. diese aufreibenden Kämpfe im steten Einvernehmen mit den besten
Zeitforderungen durchzukämpfen; unter Allen, welche von 1830 bis zur Gegen-
wart in großen Verhältnissen gedauert haben, ist keiner, der so hingebend, so
kriegerisch und in so exponirter Stellung alle Conflicte durchgekämpft und zu
so souveräner Freiheit in ihnen gewachsen ist, wie er. Möge man die Größe
dieser gesunden Natur auch aus der folgenden kurzen Darstellung seiner äußeren
Schicksale erkennen.
Schon das Leben seines Vaters wurde in ungewöhnlicher Weise von dem
geistigen Kampf der Aufklärungszeit ergriffen. Der Vater, Johann Arnold
Mathy, im Jahre 17S4 auf einem Dorfe bei Boppard von armen Eltern
geboren, in einer Jesuitenschule unterrichtet, studirte katholische Theologie.
Mühevoll arbeitete sich der kränkliche Knabe herauf, endlich wurde er Hof¬
meister in einem gräflichen Hause zu Heidelberg. Dort fielen die Strahlen
der Ausklärung warm in seine empfängliche Seele, er studirte in seinen Muße¬
stunden rastlos kantische Philosophie und Mathematik. Mit solcher Bildung
wurde er katholischer Weltgeistlicher und ein beliebter Kanzelredner Heidel¬
bergs. Streng, eifrig, mit dem stillen Gefühl philosophischer Ueberlegenheit
führte er auf der Kanzel und in anonymen Flugschriften seinen Kampf gegen
Möncherei und Jesuitismus. Als nach Aufhebung des Jesuitenordens in der
Pfalz die lateinischen Schulen mit Weltgeistlichen besetzt wurden, war er
einer der besten Lehrer zu Heidelberg. Aber sein Zwist mit der orthodoxen
Partei der alten Kirche hörte nicht auf. Der Kurfürst Karl Theodor wurde
bewogen, französische Lazaristen an Stelle der Jesuiten ins Land zu rufen und
die Unwissenheit und Sittenlosigkeit der meisten Mitglieder dieser halbmönchi¬
schen Kongregation rief einen mehrjährigen Widerstand der aufgeklärten Welt-
geistlichen des Landes hervor. Die persönlichen Chikanen und der verbissene
Haß der Gesellschaft zwangen endlich doch den Kantianer, seine Stellung auf¬
zugeben, er siedelte 1789 nach Manheim über, zog den Priesterrock aus,
wurde Protestant und errichtete 1800 eine Privaterziehungsanstalt, welche er
1807 bei Gründung des Lyceums von Manheim eingehen ließ, um als
Professor — Latein und Mathematik — an diesem zu wirken. Im Jahre
1806 heirathete der S2jährige Mann, das erste Kind war Karl Mathy.
Die Mutter war eine anspruchslose, einfache Frau, welche mit tiefer
Verehrung zu dem gelehrten Gatten aufsah. Wissen und Lehre des Vaters
waren mit vielen geheimen Wunden und Schmerzen bezahlt, sie waren sein
größtes Gut, sein Stolz, und Trost in unsichren Lagen. Der Vater zog den
Knaben mit eiserner Strenge, der kategorische Imperativ Kants, sein hohes
Pflichtgefühl wurde in die Seele des Sohnes gedrückt, im Unterricht die Lieb¬
lingswissenschaft des alten Herrn, die Mathematik, bevorzugt, auch der Haß
des Vaters gegen Gleißnerei, hohlen Schein und den Egoismus der Mäch¬
tigen ging auf den Knaben über, und eine deutsche Gesinnung, die durch
den Streit mit den fremden Lazaristen besonders lebendig geworden war.
Als Karl neun Jahr alt war, ließ sich der Vater wegen Kränklichkeit pensio-
niren, fuhr aber fort, bis zu feinem Tode im Jahr 1825 Privatunterricht zu
ertheilen. Mit 14 Jahren begann auch Karl Privatstunden zu geben, bald
trug er zur Erhaltung der Familie seinen Theil bei. Neben den Schulstunden
gab'er den ganzen Tag Unterricht, seine Aufgaben arbeitete er in der Nacht.
Im Herbst 1824 bezog Karl die Universität Heidelberg, dort Cameralia
zu hören, ein Studium, welches von der Regierung begünstigt wurde und
dem jungen Beamten eine gute Laufbahn in Aussicht stellte. Auch auf der
Universität wurde Mathy seiner verwittweten Mutter und den jüngern Ge¬
schwistern eine unentbehrliche Stütze, er selbst lernte, während er Ausländer
im Deutschen unterrichtete, fertig französisch, im letzten Jahr englisch. Er war
ein guter Lehrer und es fehlte ihm nie an Gelegenheit zum Unterricht. Unter
diesen Verhältnissen erhielt er in den Jahren, wo sonst der junge Mann
durch das Vaterhaus erhalten wird, eine seltene Festigkeit und Selbständig¬
keit der Existenz. Dabei war er nach den Begriffen der Jugend ein tüch¬
tiger Student, natürlich Burschenschafter; still, fest, zuverlässig, stets gesam¬
melt, übte er den größten Einfluß auf seine Bekannten, unter denen er
sich auch als ausdauernder Kamerad in fröhlicher Geselligkeit und Ge¬
sang bewährte. Als später sein eigener Sohn Karl in derselben Ver¬
bindung zu Heidelberg war, riefen diesen seine Freunde zur Durchsicht des
Buches, in welches seit früheren Studentengeschlechtern die Duelle eingezeichnet
wurden, und wiesen ihm, daß sein Vater unter anderem an einem Morgen
zweimal auf Mensur gestanden hatte. Und als der Sohn dies dem Vater
berichtete, mußte dieser sagen: ich werde den Vätern schreiben, sie sollen sich
hüten, ihre Söhne auf dieselbe Universität zu schicken, wo sie ihre Streiche
gemacht haben. In den Universitätsjah^en geschah es auch, daß Mathy
einst mit einem Freunde zu Manheim im Winter einen Hund seine Schwimm¬
kunst im Rhein versuchen ließ. Der Hund verlor im kalten Wasser die Kraft
und war im Begriff unterzugehn, da warf sich Mathy in den Rhein, rettete
das Thier und kam zum Schrecken seiner Familie triefend und erstarrt nach
Hause.
In zwei und einem halben Jahr hatte er nach damaligem Brauch als
fleißiger Hörer seine Studien vollendet; er blieb im Jahr 1827 in Heidelberg,
gab Privatstunden und benutzte die Muße, zu dem Französischen, das er fer¬
tig sprach, auch englisch zu lernen. Der Aufenthalt in Heidelberg und seine
Privatstunden hatten ihm die Bekanntschaft von Franzosen und Engländern
zugeführt, das Interesse an der Fremde vergrößert. Die Begeisterung der
Jugend und die Sehnsucht nach thatkräftigen Wagniß waren in ihm mäch¬
tig geworden und es war eine heiße Flamme, welche in feinem ernsten, zu¬
sammengefaßten Wesen aufbrannte. Jetzt stand er vor der Aussicht, in
einem kleinen Staat als Rad in die Maschine eingefügt zu werden, und
in seiner Aktenstube dahinzuleben. Da faßte ihn mit unwiderstehlicher Ge-
walt der Wunsch, sich in die großen Kämpfe seiner Zeit zu werfen. Er
hatte sich Reisegeld gespart und ging nach Paris, um dort dem Philhellenen-
comit6 seine Dienste für den griechischen Befreiungskampf anzubieten.' In
Paris schrieb er an den Grafen Harcourt — er hat das Concept des Brie¬
fes aufbewahrt — bot sich und sein Leben der Freiheitssache an und ersuchte
um Beförderung nach Griechenland. Bei der Menge von Abenteurern, welche
sich damals zudrängten und der diplomatischen Wendung, welche die griechische
Angelegenheit bereits erhalten hatte, war natürlich, daß Graf Harcourt ihm
eine höfliche Ablehnung zugehen ließ- Aber so schnell war dieser feste Sinn
nicht von einem Vorsatz abzubringen; dreimal schrieb er und forderte, daß
man seinen ehrlichen Willen nicht zurückweise, bis es ihm gelang, den Herren
vom Comite Theilnahme für seine Person einzuflößen, so daß sie ihm durch
verständige Auseinandersetzung die Ueberzeugung beibrachten, für ihn sei
keine Gelegenheit mehr, den Griechen zu nützen. Da blieb er den Sommer in
Paris und gab wieder Unterricht.
Im Herbst rief ihn ein bittender Brief seiner Mutter zurück, welche
nicht verfehlte beizufügen, die Manheimer meinten, daß der gelehrte Student
aus Sorge vor der Staatsprüfung weggegangen sei.
Mathy kehrte zurück, den größten Theil des Weges zu Fuß, und kam
mit wunden Füßen in der Heimath an, als seine Studiengenossen schon zu den
Examenarbeiten versammelt waren. Er meldete sich nachträglich, wurde be¬
reitwillig angenommen, bestand die lange Prüfung, welche unter den Aspi¬
ranten für schwierig galt, als Bester und wurde „sehr gut befähigt" zu den
Ehren und Hoffnungen eines Cameralpraktikanten — was etwa den Würden
eines preußischen Regierungsreferendars entspricht — eingezeichnet.
Aber fast unmittelbar nach seiner Aufnahme in den Staatsdienst schlu¬
gen die Wellen der pariser Bewegung von 1830 über den Rhein; sie zer¬
wühlten überall den unsichern Staatsbäu der früheren Rheinbundstaaten,
aus ihnen erhob sich ein neues Geschlecht von Journalisten und Politikern.
Mathy gehörte zu denen, welche von ganzem Herzen Beruf und Neigung
fühlten, für die Erhebung der Nation aus der undeutschen Politik des Für¬
sten Metternich zu arbeiten.
Eine Darstellung unserer Parteien seit 1815 würde lehren, daß stets die
herrschende ihr Gegenbild herauftrieb, das bei entgegengesetzter Tendenz auch
die größte Aehnlichkeit mit der feindlichen Partei hatte, ebenso wie der
Halm so emporschießt, daß sich über einem Blatt das entgegenstehende
erhebt, und wie jede Farbe ihre Ergänzungsfarbe im Auge bildet. Die
Regierungen hatten nach Tilgung Napoleons über den Lebensinteressen ihrer
Völker eine Solidarität ihrer dynastischen Regierungsinteressen proclamirt,
die Opposition im Volke verlor genau in demselben Maße den nationalen
Charakter und die liberalen Interessen verbanden alle Unzufriedenen Europas
zu einer großen Familie. Wie den Regierungen russische, östreichische, fran¬
zösische Reaction als eine Stärkung des eignen Bestandes erschien, genau
ebenso war im deutschen Volk der Pole, der Italiener, der mißvergnügte
Franzose ein werther Bundesgenosse. Wie °die Regierungen durch Censur
und rohe Unterdrückungen des gedruckten Wortes die Aeußerungen jeder
Unzufriedenheit ersticken wollten, gerade ebenso begrüßte die Volkspartei jede
geheime Druckschrift, jedes entschlossene Wort mit Freude trotz dem Bedenklichen
des Inhalts. Und wie den Regierungen das verächtlichste Individuum,
wenn es sich als gesinnungstreues und scrupelloses Werkzeug brauchen ließ,
willkommen war, gerade so ertrugen auch die Besten in der Opposition Fa¬
natismus, Selbstsucht, hohle Eitelkeit. Gewaltthätigkeit und unehrliche Mittel
ihrer Mitglieder. Aus völligem Umsturz aller Verhältnisse hatten sich die
neuen Verhältnisse gebildet, jeder der Lebenden wußte, wie willkürlich und
zufällig die Regierungen waren, die der wiener Frieden hinterlassen hatte;
zahllose Rechte und historische Ansprüche waren unter den Heerwagen
der nächsten blutigen Vergangenheit zu Staub zermalmt, die Regierenden
mit ihren Beamten forderten jetzt vergeblich Ehrfurcht vor den Gesetzen,
welche sie in beständiger Sorge um die eigene Dauer, zuweilen mit bösem Ge¬
wissen gaben, auch die Opposition proclamirte und wollte gesetzlichen Fort¬
schritt, aber kein scharfblickender konnte sich bergen, daß auf diesem Wege
kein Ende abzusehen war und der besonnene Patriot unterschied sich von
dem Verschwörer zuweilen nur dadurch, daß er an den Erfolg gewaltthätiger
Mittel nicht glauben konnte.
So war es auf dem ganzen Festlande Europas vom Tajo bis zum
Dniepr. Aber die Deutschen hatten gleich den Italienern noch ein besonderes
Politisches Leiden. Sie waren als Deutsche aufgerufen worden zur Vertreibung
der Fremdherrschaft, hatten Blut und die letzte Habe dafür eingesetzt und die
Folge aller großen Gefühle, leidenschaftlicher Anstrengungen und feierlicher
Versprechen war für einen großen Theil der Deutschen öde Kleinstaaterei
geworden. Der eigene Kleinstaat erschien dem Patrioten damals wie eine
dürftige Jnterimswohnung. Seine besten Pflichten und heißesten Wünsche
gehörten einem Ideal, welches keinen stärkern Feind hatte, als die bestehenden
Staatsgewalten. Wohl jeder dachte sich die Real-isirung dieses edlen Traum¬
bildes anders; sicher erschien dem Süddeutschen, daß es nicht Oestreich, nicht
Preußen, nicht deutscher Bund werden sollte. Doch eines erkannten die
Besten: nur ein Heranziehen des Volkes zum politischen Leben, Entwickelung
seines Wohlstandes und seiner praktischen Tüchtigkeit konnten zu einer Bes¬
serung führen.
Es ist sehr lehrreich, an einzelnen Menschenleben zu prüfen,' wie allmählich
diese unbestimmten Ideen sich lauterem und umformten, bis sie zu praktisch
greifbaren Forderungen wurden, aber auch, wie viele warmherzige Männer
in Verbitterung und Irrfahrten sich verloren. Uns erscheint jetzt Manches
in dieser Zeit der Bewegung als schwächlich; es waren in Wahrheit harte,
aufreibende und menschenvertilgende Kämpfe zwischen geliebten Traumbildern
und schlechter Wirklichkeit, und die Nachwelt wird auch den Opfern ihre Theil¬
nahme nicht versagen.
Mathy begann seine politische Thätigkeit als Journalist zuerst auf den
anspruchslosen Seiten des Karlsruher Unterhaltungsblattes (III. Jahrg. 1830):
Natur- und Völkerleben, kleine Geschichten, Aphorismen. Schnell wuchsen
ihm die Schwingen; er wurde politischer Korrespondent anderer Localblätter
und Zeitungen, seit dem Jahre 1832 der eigentliche Redacteur der Zeitschrift
„Der Zeitgeist" (Karlsruhe bei Hasper, 1832 — 34, zweimal, dann dreimal
wöchentlich). Es war ein wesentlich politisches Volksblatt mit belehrender
Tendenz, welches die politischen Neuigkeiten in prägnanter Uebersicht zusammen¬
faßte, Correspondenzen über locale Angelegenheiten brachte, vor allem Artikel
über Tagesfragen, über Pflichten und Rechte des Staatsbürgers gegen Tyrannei
und Uebergriffe der Beamten, über Verfassung und öffentliches Recht des
Auslandes u, s. w. Diese alle im Sinn des damaligen Liberalismus,
für dessen glänzendes Vorbild officiell Rotteck galt. Aber schon ist das
selbständige Urtheil des jungen Journalisten bemerkenswerth, die Klar¬
heit seines Stils, die Ehrlichkeit seiner Ueberzeugung, mit Vorliebe sind
national-ökonomische und sociale Fragen behandelt, mit tüchtiger Fachbil¬
dung; überall spricht ein warmherziger Deutscher, der sein Volk gegen
alle Fremden zu rühmen begierig ist. Die Zeitschrift machte großes Aufsehen
in Baden, nicht zuletzt bei den Beamten; die Autorschaft Mathy's blieb
kein Geheimniß, er wurde gefürchtet und mißliebig. Der Censor bekam
Weisungen, die Censurstriche wurden zahlreich, und — was damals noch er¬
laubt war, — durch leere Stellen im Texte angedeutet. Doch wollte die Re¬
gierung den hoffnungsvollen Beamten nicht verlieren; man hatte ihm, um
ihn zu gewinnen, zu den 400 Gulden seines Gehaltes noch lohnende Neben¬
arbeit überwiesen, jetzt häufte man die Acten in seiner Stube, um ihm die
journalistischen Allotria unmöglich zu machen. Das war vergebens, seine Ar¬
beitsfähigkeit schien unbegrenzt, er schriebin der Nacht, und nicht nur in den
Zeitgeist, auch als Correspondent der Augsburger Allgemeinen und anderer
Blätter. Sein wohlwollender Chef, Finanzminister Böckh, ließ ihn kommen'
„Wenn Sie sich entschließen können, Ihre ganze Kraft der Regierung zur
Disposition zu stellen, sollen Sie eine Carriere machen, wie noch nie jemand
in Baden". Darauf Mathy: „Das heißt ja wohl, ich soll für die Regierung
schreiben?" Böckh: „Allerdings." Mathy: „Nun. Excellenz, mit Ihnen
wollte ich's wagen, wir Beide würden miteinander fertig werden, aber Ihre
Herren Collegen —" Da blieb der Regierung nichts übrig, als den unbot¬
mäßigen Secretär zu entlassen. Doch wurde er in der Liste der Cameral-
praktikanten noch fortgeführt, bis er selbst die Tilgung forderte. Den Zeit¬
geist aber beschloß man durch die Censur zu beseitigen, zumal seit dem Censor
begegnet war, daß er eine kleine orientalische Geschichte unbeanstandet dem
Druck überlassen hatte, in welcher eine Rundreise des Großherzogs witzig
parodirt war — in sehr harmloser und patriotischer Tendenz, Der Censor er¬
hielt darum eine Nase und strich seitdem zornig und ohne Wahl, manchmal
den Anfang, manchmal das Ende unschuldiger Artikel, und es half nicht viel,
daß Mathy ihn persönlich zur Rede stellte, weil er durch das unsinnige Strei¬
chen eine arge Gesetzwidrigkeit begehe.
So war Mathy den Leiden und dem Aerger, welche ein Journalist unter der
Censur zu ertragen hatte, preisgegeben und das kleine Fahrzeug seines Lebens
schwamm muthig in Wind und Wellen einer aufgeregten Zeit. — Aber ge¬
rade in diesen Jahren hatte ihm ein gütiges Schicksal auch das Geschenk zu¬
getheilt, welches ihm sein Privatleben weihen und der stille Mittelpunkt
seines Fühlens und aller seiner Hoffnungen werden sollte. Im Jahre 1830
sah er in dem Hause eines Bekannten, Stromeyer, den er täglich besuchte, die
Schwester desselben, Anna. Als sie an einem Morgen in das Zimmer trat
im Trauerkleide, — sie hatte kurz vorher ihren Vater, Amtsphysikus in
Tauber-Bischofsheim verloren, — da stand sofort sein Entschluß fest, daß
diese seine Frau werden sollte oder keine. Er war damals 23 Jahr, aber
er sah weit älter aus. Hager, das Antlitz sehr ernst, stand er schweigsam
unter den Freunden.
Das Gefühl war so schnell in ihm aufgeblüht, aber es wurde zur
dauerhaften Flamme, welche seinem ganzen Leben Wärme und stillen Inhalt
gab, es war eine ächt deutsche Liebe, tief, unzerstörbar, seit er der Geliebten
sicher war, schritt er wie gefeit durch allen Sturm des Lebens. Wie unablässig
sein Geist in den großen Aufgaben der Zeit arbeitete, sein Glück fand er
seitdem nur an der Seite der geliebten Frau, welche, stark und fest wie er,
feine Bertraute bis zur letzten Stunde seines Erdenlebens blieb. Als er
beim Bruder um die Geliebte warb, und diesem die unsichere Stellung
Mathy's Bedenken machte, sagte Mathy ruhig, „wir können warten". Es war
damals weit schwerer als jetzt, auf journalistische Thätigkeit ein Hauswesen
zu gründen; Mathy setzte das doch durch, und konnte nach der Vermählung
seiner jungen Hausfrau einige hundert Gulden aufzeigen, die er für letzte
Fälle zurückgelegt hatte. Auch äußere Hindernisse hatte die Verbindung.
Schon war das Brautkleid fertig, der Brautkranz gewunden, da kam der
Braut in Schwetzingen die Schreckensnachricht, daß Mathy in Karlsruhe ver-
haftet sei. Er war einer Verbindung mit Solchen verdächtig geworden, die durch
das frankfurter Attentat compromittirt waren. Und obgleich er selbst selten
an einer politischen Demonstration theilnahm und niemals Mitglied einer
politischen Gesellschaft war, so hatte er der Polizei doch Grund zu Miß-
trauen gegeben. Denn unter den Compromittirten waren Universitätsbekannte
von ihm und er galt dafür, ein treuer Nothhelfer zu sein. So kam es, daß
die Flüchtlinge bei ihm Unterschlupf und Rettung suchten, er selbst gestand
später ein, daß er nach und nach vier von ihnen mit düsteren Gedanken und
zum Aeußersten entschlossen durch die Grenzwächter über den Rhein nach Frank¬
reich geschafft habe. Man entließ ihn übrigens bald und er führte nach der
Vermählung in Schwetzingen 1833 als glücklicher Mann seine Anna in die kleine
Wohnung auf der Herrengasse zu Karlsruhe. Noch in den letzten Jahren
seines Lebens richtete er bei Spaziergängen mit seiner Frau gern die Schritte
nach dem Hause, wo sie in der Jugend den Haushalt begonnen hatten. Dann
sah er zu den Fenstern hinauf und sprach von alter Zeit.
Aber die jungen Gatten wurden bald aus ihrem Haushalt aufgescheucht;
„der Zeitgeist" war durch die Tücke des Censors vertilgt worden. Es waren
zuletzt der leeren Blätter mehr als des gedruckten Textes. Die Polizei be-
harrte im höchsten Mißtrauen gegen die zerstörenden Tendenzen des jungen
Schriftstellers, der Bundestag zwang die süddeutschen Regierungen zu Ver¬
folgungen, auch wo sie geneigt waren zu schonen. Mathy fühlte jetzt als
Hausvater doppelt tief das Unsichere seiner äußeren Lage und beschloß, nach
der Schweiz überzusiedeln.
Im Jahre 1836 ging er nach Viel voraus; seine Frau folgte mit dem
erstgeborenen Sohne, zunächst nach Bern. Auch in den Cantonen der Schweiz
lag alte und neue Zeit im erbitterten Kampf, und politische Flüchtlinge aus
fast allen Ländern Europas steigerten die Bewegung im Bunde mit den
liberalen Parteien der Schweiz, daneben in geheimen Gesellschaften, welche
die Absicht hatten, von der Schweiz aus das alte System der Großstaaten
zu bekämpfen. Es war eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft; neben
besonnenen und charaktervoller Männern gehaltlose Enthusiasten, scrupellose
Verschwörer, schlechte Abenteurer. Durch Gemeinderäthe von Viel war eine
Presse eingerichtet worden , auf Actien sollte ein neues Journal „I.a ^fumo
Luisse" in französischer und deutscher Sprache als Organ aller Liberalen
herausgegeben werden. Mathy wurde engagirt, die französischen Artikel ins
Deutsche zu übersetzen. Er that auch hier seine Pflicht und mehr als das;
er sorgte bald auch um die französischen Artikel des Blattes und hatte Mühe,
in den geschäftlichen Betrieb Regelmäßigkeit zu bringen. Aber es war doch
eine unordentliche Wirthschaft, welche dadurch noch unsicherer wurde, daß die
Großstaaten drohend von der Schweiz die Entfernung der Flüchtlinge ver-
langten. Die conservative Partei in der Schweiz begann die bekannte Flücht-
lingshatz. Das Journal wurde unterdrückt, auch Mathy vor den Unter¬
suchungsrichter gefordert und ausgewiesen.
Aber er hatte Freunde unter den liberalen Schweizern gewonnen, ihre
Verwendung wirkte ihm bei einzelnen Lokalregierungen stillen Aufenthalt
aus. Für ihn selbst wurde diese Zeit der Unsicherheit und eines harten
Ringens mit dem Leben zugleich die hohe Schule seiner politischen Bildung.
Hier lernte er Charakter, Wissen und Wollen Vieler kennen, welche sich be¬
rufen glaubten, die Leiden der kranken Zeit zu heilen; gegenüber den Phrasen,
abgeschmackten Verschwörungsgedanken und den verzweifelten Plänen vieler
Flüchtlinge sah er mit Freude die tüchtige maßvolle Kraft seiner freundlichen
Schweizer, welche fest in ihren Gemeinden standen und klug die örtlichen
Interessen für sich zu benutzen wußten, ein umsichtiges, nüchternes, praktisches
Wesen, und wo die Liberalen zur Negierung gekommen, straffes Regiment
und Verachtung aller enthusiastischen Planlosigkeit.
In seiner Verborgenheit arbeitete Mathy gern Nationalökonomisches,
schrieb in Rau's Zeitschrift und in das Staatslexicon von Rotteck und Welker.
Durch seine Schrift „Der Zehnt" erhielt er den Preis, welcher im Canton
Bern für Lösung dieser damals den Schweizern praktisch wichtigen Frage
ausgesetzt war. So wurde er allmählich mit den Menschen und Verhältnissen
der Schweiz vertraut; endlich ward ihm die Aussicht eröffnet, Vorsteher einer
neu einzurichtenden Bezirksschule zu Grenchen im Canton Solothurn zu werden,
wenn er vorher eine Staatsprüfung ablegen wolle. Das hatte besondere
Schwierigkeiten, denn er wurde von der reactionären Partei, welche in meh¬
reren Cantonen noch die Negierungsmaschine in Händen hatte, verfolgt.
So ging er heimlich nach Aarau, wo der Schulrath liberal war; dort im
Schulgebäude wurde er geprüft und hielt seine Probelection; so oft er die
Reihe der Schüler hinabging und an das Fenster kam, sah er die Polzei-
beamten draußen harren, um ihn zu ergreifen. Ihm machte es geringe Sorge,
aber der Schulrath selbst beschleunigte das Ende der Prüfung, Mathy erhielt
sein Zeugniß, wurde eine Hintertreppe hinab in einen bereitstehenden Wagen
geschafft und fuhr nach Luzern, wo er bei dem Bundesrath die Aufhebung
des alten Ausweisungsdecrets ohne Mühe erlangte. Drei Jahre war er in
gefährdeter Lage gewesen, muthig und hoffnungsvoll hatte er mit seiner Frau
die schwere Zeit ertragen, jetzt hatte er eine Heimath, einen abgegrenzten
Wirkungskreis, eine bescheidene, aber sichere Existenz. Mit einem Wohlgefühl,
das er lange nicht gekannt, begann er seine Lehrerthätigkeit.
Die Bezirksschule, welche er als erster Lehrer im Frühjahr 1838 ein¬
richtete, hatte den Zweck, fähigen Knaben, die den Elementarunterricht
der Landschule absolvirten, den Uebergang in anderen Lebensberuf zu
ebenen. — Uns fehlen diese wichtigen Realschulen der Dörfer noch fast ganz.
— Herzerfreuend war der Antheil, welchen die Dorsleute an den beiden
feinen Fremdlingen nahmen, und das Verständniß, womit sie die Fort¬
schritte begrüßten, die ihr Dorf in Wissen und Cultur machte. Mathy und
seine Frau wurden bald die Lieblinge des Ortes. In den bescheidenen Ver¬
hältnissen lebten die Gatten sehr glücklich; am Sonntag Besuch von studirten
Freunden aus Aarau und Solothurn, in der Woche ein arbeitsames Still¬
leben; leise gingen die aufgeschossenen Alemannenjünglinge die Treppe zur
Schulstube hinauf und hinab, um die Hausfrau und ihre kleinen Kinder nicht
zu stören; was sie ihnen Liebes an den Augen absehen konnten, das thaten
sie freudig. Mathy war nach seiner Weise unermüdlich, er richtete in der
Schule auch eine lateinische Classe ein, saß in den Freistunden eifrig über
literarischen Arbeiten, in den Winterabenden, wenn der Sturm tobte und der
Schnee hoch im Thale lag, las er seiner Frau Shakespeare und die deut¬
schen Dichter vor. Es war freilich ein knapper Haushalt, aber Frau Anna
verstand die Kunst, unter allen Umständen behaglich Haus zu halten; auch
die Culturgenüsse, welche das Dorf nicht bot, fanden zuweilen aus den Can-
tonsstädten Zugang. So hatte Mathy einst in der Stadt ein schönes Packet
Kaffee als Geschenk für die Hausfrau eingekauft und trug es zu Fuß über
die Berge, da überfiel ihn ein starkes Gewitter im Freien, ein Blitz schlug
dicht neben ihm ein und warf ihn betäubt zu Boden; als er die Besinnung
wieder fand, war sein erster Gedanke, daß seine Frau durch solche elementare
Zudringlichkeit nicht den Kaffee verlieren dürfe; er suchte in Finsterniß und
strömendem Regen sorglich zusammen, was sich von dem zerstreuten Schatz
auffinden ließ, und lieferte es vergnügt seiner Herrin ab, ohne seines Aben¬
teuers mit dem Blitze zu erwähnen; erst als Frau Anna erstaunt auf die
verwüsteten Bohnen sah, kam das Unglück heraus.
Fast drei Jahre waren in diesem Stillleben vergangen. Mathy hatte
Aussicht, das Schweizer Bürgerrecht zu erhalten und wahrscheinlich bald einen
größern Wirkungskreis. Aber er fühlte doch sehr tief, daß seine Arbeitskraft
der deutschen Heimath angehöre. Er war eine kampsfrohe und organisatorische
Natur und die politischen Kämpfe der Heimath beschäftigten ihn immer
leidenschaftlicher. Das Jahr 1840, die Kriegsgefahr von Frankreich her und
die Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV, hatten in die deutsche Bewegung
neuen Schwung gebracht; in Baden vereinigte die Reaction des Ministeriums
Blittersdorf alle liberalen Kräfte zu entschlossenem Streit; man schrieb ihm,
daß er dort nöthig sei; ein persönlicher Bekannter, der Buchhändler Groos
bot ihm die Redaktion einer neuen Zeitung unter guten Aussichten an.
Mathy merkte, daß er von dem idyllischen Leben scheiden müßte, aber die
Trennung wurde schwer. Die ganze Gemeinde Grenchen hatte sich bei der
Abreise ihrer fremden Freunde versammelt, die Frauen hoben die Kinder
in die Höhe, daß sie noch einmal die Scheidenden erblickten. Und dies herz¬
liche Verhältniß der Deutschen zu dem Schweizerdorfe hat bis zur Gegenwart
gedauert. Auf das Grab des geschiedenen Lehrers haben in den letzten
Wochen auch die Grenchner ihre Kränze gesandt.
Das Jahr 1841 wurde für Mathy der Anfang größerer Thätigkeit.
Damals 34 Jahre alt, war er unter ernsten Prüfungen zum politischen Manne
gereift, gerade seine Flüchtlingszeit, der Aufenthalt in den freien Gemeinden
der Schweiz hatte ihn gelehrt, was dem deutschen Bürger und Bauer zu¬
meist Noth thue, daß die Formen, in denen unser Volk zur Freiheit und
Größe gelangen könne, andere sein müßten, als die der republikanischen
Cantone. Sein eigener Werth war streng geprüft worden; er brachte das
ruhige Selbstgefühl eines bewährten Mannes heim. Der Anfang seiner
neuen Thätigkeit als Schriftsteller und Abgeordneter war wieder leidvoll.
Als er in Karlsruhe ankam, fand er den Verleger Groos tief gebeugt durch
Familienunglück; ein halbes Jahr darauf pflegte er ihn in der letzten Krankheit.
So wurde die „Badische Zeitung", welche Mathy seit dem 1. Januar 1841
als verantwortlicher Redakteur herausgab, in ihrem Gedeihen gestört, er
setzte sie vom 1. Juli unter dem Titel „Nationalzeitung" fort, aber seine
Thätigkeit wurde schon im nächsten Jahre durch die „Landtagszeitung" in
Anspruch genommen, welche er, jetzt selbst Abgeordneter für Constanz, heraus¬
zugeben veranlaßt ward. Ihr folgte im Jahre 1846 die „Rundschau".
Mancher von den Publicisten der Gegenwart weiß wohl nicht, daß
Mathy einer unserer bedeutendsten Journalisten und politischen Schriftsteller
war. Ein ausgezeichneter Reporter, verstand er die längsten Reden in wenig
Sätzen so scharf und charakteristisch zusammenzufassen, daß der Redner zuweilen
Ursache hatte, sich bei der Logik seines Berichterstatters zu bedanken; er war
ein ebenso guter Verfasser von Leitartikeln, schnell, prompt, immer zur rechten
Zeit fertig, schmucklos und klar, sicher und von fester Ueberzeugung, dabei
zuweilen von unwiderstehlicher Wirkung durch eine trockene Laune und
eine feine und scharfe Ironie. Außerdem, — seine Zeitungen schrieb er fast
ganz selbst, — von einer Fruchtbarkeit, die unendlich schien, er trieb Andere
zum Schreiben, schrieb selbst in die meisten liberalen Provinzialvlätter des
Südens, in größere Zeitungen, außerdem nationalökonomische Artikel sür
gelehrte Zeitschriften, dies alles ohne jemals müde zu werden und ohne
sich auszugeben, und alles als Nebenarbeit; denn seine Hauptthätigkeit verlief
in den endlosen Sitzungen der zweiten badischen Kammer.
Als Itzstein im Jahre 1842 Mathys Eintritt den Parteigenossen mit¬
theilte, sagte er: „Jetzt Dringen wir euch Einen, wie ihr noch keinen gehabt
habt!" Und das war allerdings wahr. Mathy hatte nicht den Ehrgeiz, ein
bewunderter Redner zu werden, er sprach nur bei wichtiger Veranlassung,
dann gedrungen, einfach, scharf zur Sache, aber in seinen Worten war
eine Klarheit und die Wucht einer starken Natur, welche des Eindrucks niemals
verfehlte. Dagegen wurde er wieder der Arbeiter der Partei, für Organi¬
sationsentwürfe und Kritik der Gesetzgebung, und ständiger Referent über
das Budget; seine Referate, auf die umfassendsten Vorarbeiten gestützt, können
noch jetzt als Muster gelten.
Die Opposition des badischen Landtags von 1842—1848 zog durch
ihren Reichthum an Talenten und die Lebhaftigkeit ihres Kampfes um freiere
Staatsformen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, sie wird für alle Zeit
bedeutsam sein, weil sich in ihr zuerst die Patteigegensätze der Liberalen und
der socialen Demokraten schieden. Seit dem Winter 1845 sind die Anfänge
dieser Trennung erkennbar, die nur dadurch ausgehalten wurde, weil alle
die Ueberzeugung hatten, daß man gegen die gemeinsamen Gegner zusam¬
menhalten müsse. Schon in der Frage um Staatsunterstützung für die
großen Fabriken, deren Existenz durch den Haberschen Concurs bedroht war,
stand Mathy allein, auch von seinen nächsten Freunden verlassen; und als
im Beginn des Jahres 1848 ein Theil der Linken sich herbeiließ, die Massen
aufzuregen und dafür sogar die sociale Frage auszubeuten, stemmte sich
Mathy mit aller Energie dagegen und rief dem Redakteur der Seeblätter,
Fickler, die Warnung zu. er möge sich hüten; er empfing dafür die trotzige
Antwort, Mathy selbst solle sich in Acht nehmen. Das war freilich nicht
Mathys Art.
Und als der Sturm losbrach und im Süden alles aus den Fugen
ging, da fühlte Mathy in gehobener Stimmung, daß jetzt lebendig werden
könne, was seit seiner Jugend ihm als heißer Wunsch in der Seele lag,
ein großer deutscher Staatsbäu, der durch Benützung der Regierungen er¬
rungen werden könne, und er sah mit zorniger Verachtung auf die kopflosen
Versuche alter Bekannter, der Hecker, Brentano, Struve, Fickler, durch zu¬
sammengelaufene Freischaaren und französische Hülfe eine deutsche Republik
in einer Bevölkerung zu proklamiren, die nichts von republikanischer Zucht
und Selbstbeherrschung hatte. Fickler hatte am 7. April in Manheim offenen
Aufruhr verkündet und zur Absetzung des Großherzogs aufgefordert. Am
Tage darauf fuhr er nach Constanz, um dort nach Verabredung mit Hecker
loszubrechen, da traf ihn Mathy aus dem Bahnhof zu Karlsruhe, ließ ihn
verhaften und fuhr darauf nach Manheim, wo er die Sensenmänner
Henkers, die 'den Tod des Verräthers forderten, durch ruhiges Entgegentreten
verstummen machte und die Bürgerschaft durch eine Anrede vom Rathhaus
ermuthigte, eine Aufforderung zu gesetzlichem Verhalten unter allgemeinem
Jubel zu unterzeichnen. Wohl war er der Mann, Baden vor dem Unglück
einer thörichten Revolution zu bewahren, und die Regierung hatte wahr¬
scheinlich eine Empfindung davon, als sie ihn kurz darauf zum Staatsrath
machte. Aber man kam nicht zu dem Entschluß, ihn an die Spitze der
Geschäfte zu stellen; Mathy ging zum Vorparlament nach Frankfurt und der
kurze Schreck, welchen sein Eingreifen über die Verschwörer gebracht hatte,
hielt bei der Schwäche der badischen Beamten nicht vor.
Ihm selbst war gleichgültig, daß er jetzt plötzlich ein Gegenstand wü¬
thenden Hasses für die Volkshaufen geworden war, er widmete feine ganze
Thätigkeit den Arbeiten der Paulskirche, wurde Unterstaatssecretär im
Reichsministerium der Finanzen, und war zeitweise als Commissarius in
Kiel und München. Damals wurde ihm auch einmal — und zwar durch
Vermittlung Varnbülers — das Finanzministerium Würtembergs angeboten.
Ein angesehenes Mitglied seines Clubs, wenn er die Tribüne betrat mit Ach¬
tung und Scheu gehört, hielt er doch im Ganzen sich zurück, seinem Scharf¬
blick wurde frühzeitig klar, daß der ganze Erfolg von Kompromissen mit
Preußen und Oestreich abhänge und daß die ersteren unsicher, die Ausein¬
andersetzung mit Oestreich unwahrscheinlich sei. Als 1849 Friedrich Wil¬
helm IV. die angebotene Kaiserkrone ablehnte und das Parlament zerfiel, sah
er kurz entschlossen, daß die nächste Arbeit sein müsse, die Vereinigung der
deutschen Stämme auf dem Gebiet der materiellen Interessen vorzubereiten,
Preußen mußte die Führung des neuen Staates haben, der Zollverein und
die Verkehrsinteressen mußten die Brücke für eine künftige politische Einheit
der deutschen Staaten werden. Für die Steigerung dieser realen Interessen
hatte jetzt der Patriot zunächst zu arbeiten..
Die badische Regierung hatte ihn unter dem Einfluß der östreichischen
Reaction ohne Pension durch Decret aus seiner Staatsstellung entlassen.
Schon im Jahre 1844 hatte er mit Bassermann eine Buchhandlung in
Manheim gegründet, welche schnell eine angesehene Stellung im Buchhandel
erwarb. Er war auch in diesem Geschäfte regelmäßiger Arbeiter gewesen,
soweit seine häufige Abwesenheit das möglich machte; jetzt kehrte er in die
Handlung zurück. Aber die Rücksicht auf seine eigene Existenz nöthigte ihn
bald, eine andere Thätigkeit zu suchen.
Durch Mevissen wurde ihm 1853 eine Stellung in dem Schafhausenschen
Bankverein zu Köln vermittelt. Und jetzt trat er in einen neuen Kreis
großer realer Interessen ein, wieder gerade in den Jahren, in denen sie eine
entscheidende Fortbildung erfuhren, und er hatte wieder einen wesentlichen
Antheil an ihrer Organisation und ihrem Gedeihen. Kaum einer, der nicht im
kaufmännischen Geschäft aufgewachsen, mochte so reiche Kenntniß des geschäft-
lichen Verkehrs besitzen. Er war in der Theorie der Verkehrsinteressen eine
Autorität, ein guter Rechner und vorzüglicher Disponent, und einzurichten
verstand er wie wenige. Kurze Monate hatte er in dem Schafhausenschen
Bankverein gearbeitet, da kam Hansemann, ihn zu werben. Dieser trug
sich mit großen Projekten; er wollte zuerst die Discontogesellschast auf
weiter Basis mit großem Capital einrichten, dann Deutschland mit einem
Netz von zusammenhängenden Banken überziehen. Mathy ließ sich be¬
stimmen, die Einrichtungsstatute der Gesellschaft auszuarbeiten, dann eine
Directorstelle bei der Discontogesellschast anzunehmen. Aber der geschäft¬
liche Verkehr mit dem unruhigen, endlos speculirenden Hansemann wurde
ihm bald unbequem und als er von Berlin aus die Gothaer Bank ge¬
gründet hatte, übernahm er bereitwillig die angebotene ruhige Stellung eines
Directors dieser Provinzialbank. Von da ging er im Jahr 1859 nach Leipzig
als Director der großen deutschen Creditgefellschaft, zumeist weil dort die
Regelung schwieriger Geschäfte und die Zurückführung des Unternehmens
auf gesunde Grundlagen ihm lockend erschien. Auch diese verantwortliche Aufgabe
hat er in wenigen Jahren mit vortrefflicher Umsicht gelöst. Er war, solange
es Gefahr und Schwierigkeiten gab, für alle diese Institute von ganzem Herzen
bei der Sache. War aber alles in ruhigem Gang und Gleis, dann empfand er
wohl, daß das Beste seiner Kraft nicht in Verwendung kam. Er that überall
feine Pflicht, er war ein gewissenhafter Dirigent und arbeitete mit der Pünkt¬
lichkeit eines Uhrwerks den jüngern Männern zum Beispiel, er übersah und
wußte alles, die Beamten respectirten und liebten ihn, die Actionäre grüßten
ihn mit inniger Hochachtung, die Institute kamen herauf und gediehen unter
seiner Leitung, für alle Schwierigkeiten und Verwicklungen fand er Auskunft
und es waren immer die größten Gesichtspunkte, auf welche er drang. Aber
er sah allerdings ohne sonderliche Hochachtung auf die Börsengeschäftigkeit
und Procentmühen herab, und er, der Leiter von drei Bankgeschäften, hatte,
um alles zu sagen, eine sehr souveräne Stimmung gegen die Sorge seiner
Kunden, reich zu werden und starke Mißachtung gegen die Usancen und
Kunstgriffe, welche bei der Mehrzahl auch der ehrlichen Geschäftsmänner für
erlaubt gelten. Es wird hier nicht ohne Absicht erwähnt, daß er, der die
letzten 13 Jahre seines Lebens mitten über den größten Geldgeschäften lebte,
und Gehalte bezog, welche in Deutschland immerhin für hoch gelten, bei
seinem Tode an Ersparnissen nicht soviel hinterlassen hat, daß von den Zinsen
eine gebildete Familie mit den mäßigsten Ansprüchen in. größerer Stadt
leben könnte. — Im Jahr 1855 hatte er sein letztes Kind, Karl, während
dessen Universitätszeit verloren. Was war ihm und seiner Gattin das Geld!
In sehr verschiedenartiger Arbeit war er umhergezogen; selten war ihm
länger als drei Jahre vergönnt gewesen, an einem Ort zu weilen, aber in
der mannigfaltigsten Thätigkeit unter Alemannen, Märkern, Thüringern,
Sachsen war die große Idee, für die er lebte, immer stetig und immer die-
selbe gewesen: vielen Einzelnen Bildung und Wohlstand zu mehren, damit
sie befähigt würden zu freien Bürgern eines großen deutschen Reiches. Jetzt,
wo er auf der Höhe seines Mannesalters stand, rief ihn der Fürst seiner
Heimath in die Regierung des Großherzogthums Baden. Da wo er als
junger Beamter seine politische Laufbahn begonnen hatte, sollte er seinen
letzten und größten Wirkungskreis finden. Die zarte Freundschaft des Freiherrn
v. Roggenbach, der damals Präsident des auswärtigen Ministeriums war,
that alles, ihm den Uebergang in den neuen Beruf leicht zu machen. Mathy
übernahm zuerst als Director der Domainenkammer den Vorsitz im Finanz¬
ministerium, bald die Leitung des Handelsministeriums. Wahrscheinlich hatten
alte Beamte starke Zweifel gegen die Actentugenden des neuen Ministers; er
gewann auch hier die Liebe und Verehrung seiner Beamten. >Er war gerade
ein Chef, wie ihn der gute Beamte ersehnt. Regelmäßig, schnell, von Allem
unterrichtet, bei jedem, was ihn interessiren mußte, von großem und festem
Entschluß, verstand er das Geheimniß, seine Beamten zu leiten und ihnen
doch die Selbständigkeit zu lassen, welche der wackere Mann zum fröhlichen
Schaffen braucht. Es freute ihn, wenn er in Verhandlungen mit anderen
Regierungen seinen Räthen die officiellen Ehren zuweisen konnte, welche an
solchen Geschäften hängen; jedem wußte er nach seiner Persönlichkeit Spiel¬
raum zu geben, und doch fühlte jeder, daß der Mann mit den großen Augen
und dem weißen Haar das Steuer in eisenfester Hand hielt. Was in den
Jahren seiner Ministerthätigkeit für die Landescultur geschehen, mögen die
Badenser erzählen. Telegraphenstationen fast in jedem größeren Dorf, oft
Frauen als Beamte, Eisenbahnen fast nach aller Richtung, in welcher der
Landesverkehr lief, eine Eisenbahnbrücke auf Schiffen über den Rhein, die
Gewerbehalle in Karlsruhe u. f. w.
'
Als Frhr. v. Roggenbach sein Ministerium aufgegeben hatte und Herr
v. Edelsheim sein Nachfolger wurde, mit weit anderen Gedanken, die er zur
Zeit noch barg, da blieb Mathy neben dem andersgesinnten Mann doch im
Ministerium, weil er richtig fühlte, daß er seinen Fürsten, der ihm durch die
Berufung aus der Fremde einen so großen Beweis des Vertrauens gegeben
hatte, in der Katastrophe des Jahres 1866 nicht verlassen durfte. Er gab
damals kühnen Rath, trotz seinen östreichischen Collegen, trotz den abgeneigten
Kammern und übelbearbeiteten Soldaten. Endlich, als die östreichische Partei
jubelnd die ersten Siege über die Preußen begrüßte, legte er sein Amt in die
Hände des Großherzogs. Er selbst suchte sofort den alten Journalisten heraus
und schrieb Artikel für Preußen in süddeutsche Blätter. Nach wenigen Wochen
kam der Umschwung, er wurde zum Staatsminister ernannt und mit der
Bildung eines neuen Cabinets beauftragt. Mit dem Feuer eines Jünglings
ging er ans Werk, jetzt war der Erfüllung nahe, was er einst geträumt,
wofür er gesprochen, geschrieben, gelitten, sein Leben in die Schanze geschlagen.
Und die Erfüllung sollte kommen durch den Staat, auf den er seit dem
Jahre 1848 gehofft, und auf dem Wege, den er im Vertrauen schon lange
seinen Freunden prophezeit. In der ersten Nacht seines Ministeriums wurde
das badische Heer von der Reichsarmee zurückgerufen und Waffenstillstand von
den Preußen gefordert. Seitdem betrieb er mit unübertrefflicher Energie
die neuen Organisationen welche nothwendig wurden, um Baden der Ver¬
fassung des Bundesstaates anzupassen. Alles hatte er in der Stille fertig
gemacht für den bevorstehenden Eintritt, nie war seine Stimmung gehobener
gewesen als jetzt, wo er die Last von drei Ministerien auf seinen Schultern
trug. Da, — wenige Wochen vor der Entscheidung — starb er. Ob kurz
vor dem Tage, an welchem dem großen Werk, das auch ein Werk seines
Lebens gewesen war, die Krone der Vollendung aufgesetzt werden sollte, ob
kurz vor einer Enttäuschung, vor neuen Anläufen und vieljähriger Arbeit
der Besten?--
Er starb, die Hand der geliebten Frau in der seinen.
Ungezählt ist die Fülle von Talenten und Charakteren, welche der gute
Geist unserer Nation seit den letzten Geschlechtern verwandthat, um uns aus
der Dürftigkeit, Enge und Zersplitterung deutschen Lebens herauszuheben.
Ungezählt sind die pflichtvollen Beamten, Geschäftsmänner, Volkslehrer, welche
in den kleinen Kreisen des viel getheilten Deutschlands ihr Leben aufwandten,
zu bewahren, zu regieren und fortzubilden. Aber die stille, dauerhafte, liebe¬
volle Arbeit derer, welche mit ergrauenden Haar unter uns leben, ist wohl
werth, daß wir sie aufsuchen und rühmen, denn was wir gewonnen haben
und noch zu erreichen hoffen, das beruht auf ihrer geduldigen Thatkraft
und ihrer Hingabe an die Pflicht.
Aus dieser politischen Lehrzeit unseres Volkes erhob sich sein Bild, stets
wachsend mit der Größe der Aufgaben. Ein klarer, scharfblickender Geist,
durch keinen Schein zu bestechen, ein selbstloser Sinn, der nur den Erfolg der
Sachen, nie den eigenen suchte, vor allem ein festes, tapferes Herz. In
ruhiger Zeit bescheiden, gemächlich, dauerhaft regelmäßiger Arbeit hingegeben,
stellte er sich in der Noth, wo andere verwirrt und betäubt des Entschlusses
entbehrten, mit heiterer Ueberlegenheit auf die gefährlichste Stelle, ihm be¬
flügelte die Gefahr Willen und Erfindung, er kannte keine Furcht; wie aus
Erz gefügt, in festem Selbstvertrauen begeisterte er durch die Gewalt seines
Wesens die Freunde, schreckte die Gegner.
Es war das Leben eines großen und guten Mannes.
Die außerordentliche Sterblichkeit auf den beiden hamburgischen, der
Firma R. M. Sloman gehörenden Auswanderer-Segelschiffen „Lord Brou-
gham" und „Leibnitz" hat sowohl in Nordamerika als in Deutschland ernst¬
liche Aufmerksamkeit erregt. In Newyork war man eben vorher erst durch
ähnliche schlimme Erlebnisse mit einem östreichischen, von Antwerpen expedir-
ten Schiffe, dem „Baccarcich", alarmirt worden. Die dortige „Deutsche Ge¬
sellschaft", gegründet zum Schuhe der deutschen Einwanderer gegen land¬
läufige und ortsübliche Betrügereien, hat sich vor kurzem den regelmäßigen
Beistand Friedrich Kopps gesichert, eines Mannes wie gemacht für eine der¬
artige Aufgabe, vertraut mit der ganzen Entwicklung des Auswanderer¬
wesens, und eine ebenso energische als vertrauenerweckende Persönlichkeit.
Da Kopp seine Thätigkeit mit der Anklage eines östreichischen Schiffes und
belgischen Expedienten hatte eröffnen müssen, welchen letzteren er einfach des
Mordes beschuldigte, so wird ihm eine unparteiliche und strenge, wennauch
gerechte Untersuchung der beiden Hamburger Schiffe betreffenden Fälle als
Ehrensache erschienen sein. Zufällig traf sichs, daß gerade auch neben zwei
liverpooler Dampfern ein Hamburger Dampfschiff, die „Saxonia", im New-
yorker Hafen mit Beschlag belegt wurde wegen Uebertretung der legalen
Maximalzahl von Passagieren im Verhältniß zum Raum. So mag es ge¬
kommen sein, daß das Urtheil über den „Leibnitz" nicht glimpflicher ausfiel.
Damit ist nicht gesagt, daß es glimpflicher hätte ausfallen sollen. Es
kommt überhaupt nicht vorzugsweise auf die Beurtheilung des einen oder
andern einzelnen Falles an; sondern auf die allgemeinen Schlüsse und For¬
derungen kommt es an, welche aus dem Erlebten gezogen werden oder zu
ziehen sind. Eine vorurtheilsfreie Betrachtung ergibt, wie uns däucht, daß
Herr Sloman das bestehende Recht wissentlich nicht verletzt hat, weder aus
Bosheit oder schnöder Gewinnsucht, noch in grober Fahrlässigkeit; daß er
dagegen einen Menschen von mehr Stumpfsinn und weniger- Energie zum
Capitän gemacht hat, als auf einem Schiffe mit Passagieren zulässig erscheint,
und daß die Belegung des untern Zwischendecks mit Passagieren in Hamburg
sogut verboten sein sollte, wie sie es in Bremen ist. Die mörderischen Krank¬
heiten des „Leibnitz" haben hauptsächlich in diesem untern Zwischendeck ge¬
wüthet, dessen natürliche Unbewohnbarkeit durch die Gleichgiltigkeit oder
Willensschwäche des Capitäns, der den Bewohnern des darüber liegenden
oberen Zwischendecks gestattete, ihren Unrath heruntersickern zu lassen, auf
den Gipfel getrieben wurde. In Newyork gehen die Forderungen noch
weiter. Die deutsche Gesellschaft hat sich an den Congreß gewendet, um
einer Vermehrung der Mittel, welche zu bewirken beeinträchtigten Schiffs¬
reisenden zustehen gegen den Rheder oder Capitän Schadenersatzansprüche
durchzusetzen, und um die Vorschrift gesetzlich zu machen, daß jedes Schiffmit
mindestens fünfzig Passagieren einen Arzt an Bord zu haben gehalten sei.
Dieses Verlangen kommt nicht zum erstenmal an die Gesetzgebung der
Vereinigten Staaten. Im Jahr 1853 ist es schon erhoben worden, damals
von Seiten, der Gesellschaft der amerikanischen Aerzte. Der Congreß ordnete
eine Untersuchung an; sowohl die Frage, ob ärztliche Begleitung, wie die
verwandte Frage, ob eine Begleitung von Krankenwärtern vorzuschreiben
sei, wurde durch zahlreiche Zeugenverhöre geprüft, auf deren Grund man
zuletzt beschloß, alles beim alten zu lassen. Dieses negative Ergebniß gewinnt
an Gewicht, wenn man sich die Stellung der Vereinigten Staaten zu der
Angelegenheit vergegenwärtigt. Ihre Rhederei ist bei der europäischen Ein¬
wanderung nicht nennenswert!) betheiligt. Ihr einziges Interesse ist daher,
daß die Europamüden möglichst vollzählig und möglichst frisch und kräftig
nach Amerika gelangen; und ob die Maßregeln, welche sie aus diesem Ge¬
sichtspunkt ihrerseits treffen mögen, dieser oder jener Flagge, diesem oder
jenem Hafen Eintrag thun, kann ihnen ziemlich gleichgültig sein. Wenn sich
die Unionsgesetzgebung gegen eine zum Schutze der Auswanderer erdachte
Vorschrift erklärt, ist darum die Vermuthung, daß dieselbe entweder werthlos
oder geradezu schädlich sei, die nächstliegendste.
Es scheinen hauptsächlich die Gutachten anderer Aerzte gewesen zu sein,
welche den Congreß abgehalten haben, auf den Vorschlag der American Me-
dical Association einzugehen. Aerztliche Praktiker von specieller Vertrautheit
mit den Bedingungen der Gesundheitspflege und Heilkunst an Bord von
Schiffen, wie z. B. der Dr. Cartwright in Neworleans, der darüber ein
eigenes Buch herausgegeben hat, theilen nicht die Ansicht ihrer binnenländi¬
schen Collegen, daß ein Arzt an Bord viel gutes thun oder viel schlimmes
verhindern könne. Auf den ersten Blick erscheint es dem Laien allerdings
befremdlich, daß Hunderte von Menschen jedes Geschlechts und Alters, unter
denen Säuglinge und Wöchnerinnen niemals fehlen, wochenlang außerhalb
des Bereichs ärztlicher Hilfe sein sollen, und man versteht nicht, wie jemand
bei gesunden Sinnen behaupten kann, es komme in' diesem Falle auf eigent¬
liche ärztliche Hilfe so besonders viel nicht an. Allein bei näherer Betrach¬
tung und Ueberlegung gewahrt man wohl, daß verschiedene Umstände für
diese Behauptung sprechen. Machen wir uns mit denselben näher bekannt.
Eine Schiffsgesellschaft von Auswanderern besteht in der Regel aus gesunden
Individuen, da kranke oder entkräftete Personen sich nicht leicht entschließen,
einen fremden Welttheil aufzusuchen. Es handelt sich also durchschnittlich
nicht, wie sonst in einem gleich großen Haufen gemischter Bevölkerung, um
eine Mannigfaltigkeit schwer zu erkennender und verschieden zu behandelnder
Uebel. Die Luft, durch welche das Schiff dahinfährt, ist ungewöhnlich rein
und so zuträglich, daß ihr Genuß allein schon manche gelindere Affectionen
der Nerven u. s, w. zu heben vermocht hat. Ueber die Qualität des Trink¬
wassers und der Lebensmittel, welche an Bord genossen werden sollen, läßt
sich eine durchgreifende und unbedingt wirksame Controle üben. Es kommen
deshalb unter gewöhnlichen Umständen eigentlich nur folgende Dinge für
ärztliche Hilfeleistung in Betracht: Entbindungen, Kinderkrankheiten, von außen
her eingeschleppte Epidemien. Verwundungen'treffen häufiger die Schiffs-,
Mannschaft als die Passagiere. Es ist mithin ein verhältnißmäßig sehr ein¬
geschränkter Kreis körperlicher Leiden und Gefahren, gegen welche auf Schiffen
Vorsorge zu treffen ist. Es erscheint nicht unmöglich, hierfür noch auf andere
Weise zu sorgen, als dadurch, daß man den Rheder zur Anstellung eines
Arztes nöthigt. Die Möglichkeit aber wird wünschenswert!), wenn man die
Qualität der durch einen Arzt zu erlangenden Hilfe erwägt. Ein solcher
müßte vor allen Dingen selbst von der Seekrankheit frei werden, d. h. meh¬
rere längere und wechselvolle Fahrten hinter sich haben, um für brauchbar
gelten zu können. Auch von den Schrecken des Noviziats abgesehen, hat die
Aufgabe nichts so lockendes oder belohnendes, daß sie tüchtige junge Leute
anziehen könnte. Man stelle sich die Entbehrungen vor, denen ein solcher
Schiffsarzt entgegengehen müßte, die Eintönigkeit des ewigen Unterwegsseins,
den Mangel an Familienverkehr, an gebildeter Gesellschaft, an Fachgenossen,
an Gelegenheiten, sich in seinem Berufe zu vervollkommnen, an Aussichten
auf Emporsteigen, kurz an allem, was der Existenz des Gebildeten Reiz zu
verleihen pflegt. Liegt nicht der Schluß nah, daß entweder ein beispiellos
hoher Gehalt geboten werden müßte, oder der Masse nach nur solche an¬
gehende Aerzte sich melden würden, die anderswo keine Aussicht haben, ein
leidliches Glück zu machen? Die in Frankreich und England gemachten Er¬
fahrungen bestätigen denn auch, daß es meist Subjecte von höchst zweifel¬
haftem Werth sind, welche in diesen Ländern als Schiffsärzte vorkommen.
Selbst auf Dampfschiffen pflegt der Capitän befreundete Reisende davor zu
warnen, sich selbst oder die ihrigen unbesonnener Weise dem Herrn Doctor
anzuvertrauen. Von den englischen Schiffsärzten gibt es in Bremen ein
Probeexemplar deutscher Herkunft, das über die Eigenschaften seiner Gattung
hinreichend aufklärt: einen alten Waterlookrieger, der sich feine Bekanntschaft
mit Wunden lediglich auf dem Schlachtfelde und seinen Begriff von Krank¬
heiten aus den Hospitälern geholt hat, im übrigen aber kaum eine Spur
von allgemeiner Bildung besitzt. Das französische Schiffsarztexamen haben
schon deutsche Steuerleute bestanden, die den auf der bremer Steuermanns¬
schule ertheilten Unterricht in der Schiffsheilkunde genossen hatten.
Unterricht für Steuerleute in der Schiffsheilkunde — das ist das dem
Seeleben entsprechende Surrogat für specifisch medicinischen Beistand, welches
mehr oder weniger alle Kenner empfehlen. In Bremen, wo er gewisser¬
maßen versuchsweise und facultativ bereits eingeführt ist, sind alle Theile
mit dem bisherigen Erfolge im höchsten Grade zufrieden. Der unterrichtende
Arzt bezeugt, daß Seeleute sich besonders gut für gewisse körperliche Hilfe¬
leistungen eignen. Sie haben viel Ruhe und Kaltblütigkeit, und ihre täg¬
liche Beschäftigung mit dem Tauwerk macht es ihnen leicht, einen Verband
kunstgerecht anzulegen. Trotz seiner blos relativen Bedeutung wird der Unter¬
richt von den jungen Männern eifrig und erfolgreich besucht. Unter den
Cavitänen der bremer Auswandererschiffe gibt es bereits mehrere, die ebenso
regelmäßig und im ganzen nicht ungeschickter, als Aerzte oder eine Hebamme
zu Hilfe kommen, wenn eine Wöchnerin des Zwischendecks ihre Stunde
nahen fühlt. In der Behandlung der gewöhnlichsten Kinderkrankheiten wird
man mit ihnen leicht mindestens auf denselben Grad wirksamen ärztlichen
Zuthuns kommen, wie ihn die in Rede stehende Bevölkerungsschicht, d. h.
die ärmere und ärmste Classe, daheim zu erhalten gewohnt ist, oder vielmehr
darüber hinaus. Epidemien endlich wie Blattern, Cholera und Typhus
spotten ja im wesentlichen auch noch des ärztlichen Einschreitens. Ihnen
gegenüber gilt es, eher einem Uebermaß von Behandlung, namentlich mit
Arzneien, vorzubeugen, als eine bestimmte therapeutische Behandlung durch¬
zusetzen. Ihnen vorzubeugen oder wenn sie unglücklicher Weise doch aus¬
brechen, ihr Bereich einzuschränken, ist die Hauptsache.
Es handelt sich im Zwischendecke der Auswandererschiffe überhaupt nicht
so sehr um positive Heilkunst, als um permanente praktische Gesundheits¬
pflege. Mörderische Schiffsfieber, wie sie die Zwischendecksbevölkerung des
„Leibnitz" zweifach decimirt haben, müssen gar nicht entstehen können. Ihren
Ausbruch aber zu verhüten, hat der Capitän, haben selbst die Steuerleute
ungleich bessere Mittel in der Hand, als der Arzt. Bei jenen ist die Auto¬
rität, die unwiderstehliche und selbst rechtlich fast unumschränkte Gewalt
über alles was an Bord ist, — diesem würde sie fehlen. Zur Verfügung
des Capitäns ist die Mannschaft, seinen Anordnungen müssen alle Passa¬
giere unweigerliche Folge leisten. Dies ist denn doch eine ganz andere
Macht, als der Einfluß eines einzelnen Arztes auf Hunderte von mangelhaft
erzogenen vorurtheilsvoller Menschen der untersten Stände sein könnte. Es
kommt nur darauf an, dieser Macht einen aufgekärten Willen einzuhauchen,
— Capitän und Steuerleute mit dem Bewußtsein zu erfüllen, wieviel von
scrupulöser Reinlichkeit, unverdorbenen Lebensmitteln und allen übrigen Be¬
dingungen menschlicher Gesundheit abhängt. Wenn der Capitän des „Leibnitz"
von der Bedeutung dieser Dinge die entfernteste Ahnung gehabt hätte, so
würden heute wahrscheinlich fünfzig, vielleicht hundert Menschen mehr am
Leben sein, welche hingeopfert worden sind.
Das Surrogat ist also dem Originalartikel vorzuziehen, auch wo dieser
allenfalls zu haben wäre. Dazu kommt aber noch, daß es in hundert Fällen
ebenfalls zu haben ist, in denen der Originalartikel gänzlich außer Frage
bleibt. Aerztliche Begleitung kann natürlich nur bei einer großen Zahl von
Passagieren vorgeschrieben werden; die newyorker Deutsche Gesellschaft nimmt
50 als die anzusetzende Minimalzahl an. Eine elementare medicinische chirur¬
gische Ausbildung von Capitänen und Steuerleuten dagegen würde mit der
Zeit jedem Schiffe ohne Ausnahme, also außer sämmtlichen Schiffsreisenden
auch oller Schiffsmannschaften zu Gute kommen. Sie wäre gleichbedeutend
mit Einbürgerung der Heilkunde auf der ganzen Kauffahrteiflotte. Mit ihr
wird eine Maßregel vom sichersten, höchsten und allgemeinsten Werthe an
die Stelle einer Maßregel von ungewissem und jedenfalls nur partiellen Er¬
folge gesetzt.
Hiernach wäre also erstens der an der bremer Steuermannsschule facul-
tativ bestehende Unterricht in der Schiffsheilkunde an allen deutschen Steuer¬
mannsschulen unter die obligatorischen Fächer aufzunehmen, und zweitens
von einem gewissen nicht zu entfernten Termin an vorzuschreiben, daß der
Capitän und der Obersteuermann eines Passagierschiffs sich darüber ausweisen
müssen, einen solchen Cursus mit Nutzen absolvirt zu haben.
Eine weitere zu empfehlende Vorsichtsmaßregel wäre verschärfte Aufsicht
darüber, daß nicht Keime von Epidemien in ein Auswandererschiff eingeschleppt
werden. Diese Maßregel weist schon auf die Nothwendigkeit bundesmäßiger
Inspection hin. Eine solche Inspection hätte außerdem noch zu constatiren,
daß die bestehenden resp, zu erlassenden Vorschriften über das Verhältniß
der Kopfzahl zum Raume, über die mitzunehmenden Lebensmittel, Wasser¬
vorräthe und Arzneien, über Reinlichkeitsanstalten und Krankengelder u. f. f.,
in jedem einzelnen Falle genau befolgt seien. Bisher ist diese Fürsorge Ham¬
burg und Bremen allein überlassen worden. Man kann nicht sagen, daß
die beiden Freistätte ihre Pflicht gänzlich verkannt oder gröblich vernachlässigt
hätten. Im Gegentheil, das Interesse des eigenen Platzes im Gegensatz zu
concurrirenden Häfen und wohl auch ein gewisses allgemeines humanes und
Patriotisches Mitgefühl mit den auswandernden Landsleuten haben sie ge¬
trieben, nach Kräften und bestem Wissen einer schlechten Behandlung der
Auswanderer entgegenzuwirken. Es ist notorisch, daß die deutsche Auswan¬
dererbeförderung im ganzen vor jeder auswärtigen entschieden den Vorzug
verdient. Die Sterblichkeitsziffern zeugen allerdings gegen die hamburgischen
Segelschiffe, hauptsächlich wohl, weil der Gebrauch des unteren Decks in
Hamburg nicht verboten ist und vielleicht auch wegen des nicht besonders ge-
funden Trinkwassers aus der Elbwasserkunst; allein sie zeugen zu Gunsten
sämmtlicher deutschen Dampfschiffe, der Hamburger sogut wie der Bremer,
und zu Gunsten der bremischen Segelschiffe. Nun geht aber beinahe die
Hälfte aller deutschen Auswanderung über Bremen, und nicht weniger als
ein Viertel auf deutschen Dampfern hinüber. Wir brauchen uns folglich der
bestehenden Zustände keineswegs zu schämen. Allein ebensowenig können wir
wünschen, die bisherigen, immer noch mangelhaften Einrichtungen unver¬
ändert aufrecht erhalten zu sehen. Die neue Stellung, zu welcher Deutsch¬
land sich erhoben hat, bringt gesteigerte Pflichten mit sich. Die Einmischung
des alten deutschen Bundestags in Auswanderungsangelegenheiten mochte
man sich, da sie doch nur im engherzigsten polizeilichen Sinne erfolgt wäre,
von Seiten der Hansestädte verbitten, und konnte es mit Erfolg; dem
norddeutschen Bunde kann man dieses Gebiet aber nicht versperren, weder
verfassungsmäßig noch thatsächlich, zumal seit unselige Vorgänge seine Da¬
zwischenkamst einmal herausgefordert haben. Jenseit des atlantischen Oceans
werden nicht mehr Hamburg oder Bremen für die Mängel des deutschen
Auswanderungswesens verantwortlich gemacht, sondern Deutschland muß
eintreten, und nach Berlin richten sich die Klagen oder Anklagen derer, welche
unter den feststehenden Einrichtungen zufällig oder nothwendig zu leiden
haben. Die Einsetzung einer ständigen Aufsichtsbehörde erscheint daher un¬
umgänglich. Zur Ausrüstung derselben mit zugleich wirksamen und doch auch
nicht unnöthig verletzenden Waffen aber wird es gut sein, wenn ein Bundes¬
gesetz die bestehenden örtlichen Vorschriften über Einrichtung von Auswan¬
dererschiffen übersichtlich und reformatorisch zusammenfaßt.
Dahin weist auch schon das Bedürfniß gleicher Gesetzgebung in beiden
deutschen Einschiffungshäfen. Hamburg und Bremen allein befördern zwar
nicht die gesammte deutsche Auswanderung nach Amerika hinüber, Havre,
Antwerpen, Rotterdam, und vor allem Liverpool, über das selbst ein Theil
der Hamburger Züge seinen Weg nimmt, haben daran ihren Antheil. Wie
nun bewirken, daß die Wohlthaten einer weise und umsichtig bemessenen
öffentlichen Fürsorge auch den über diese Häfen ziehenden Landsleuten zu Gute
kommen? wie insbesondere verhüten, daß nicht der Druck verschärfter Schutz¬
maßregeln, indem er auf den Passagepreis wirkt, die dürftigste Classe den
fremden Hafenplätzen, d. h. einer schlechteren Art von Beförderung zudränge?
Zu diesem Ziele gibt es offenbar einen Weg: internationale Verträge. Wie
man Conventionen über Post und Telegraphenwesen, über Münzumlauf und
Zuckerbesteuerung schließt, welche den Spielraum der einzelnen Gesetzgebung
zu Gunsten einer alle gleichmäßig interessirenden Uebereinstimmung einengen,
so läßt sich auf demselben Wege wohl auch ein gewisses Minimum von
Schutz für schutzbedürftige Auswanderer Deutschlands erreichen. Dann fiel?
alle Sorge weg, daß die Einmischung der Bundesgewalt nicht blos zum Nach,
theil der deutschen Beförderungsplätze, sondern auch zum Schaden der aus¬
wandernden Massen selbst ausschlagen möchte, dann erst hätte der Bund in
dieser Richtung seine Schuldigkeit so vollauf gethan, daß keine begründete
Forderung oder Klage übrig bliebe.
In Berlin ist aus Anlaß des „Leibnitz"-Falles die Idee der Begründung
eines Centralvereins für Auswandererangelegenheiten wieder zur Sprache ge¬
kommen. Die Lösung der vorliegenden Aufgabe kann augenscheinlich nicht
darauf warten, bis sich der projectirte Verein ihrer mit Kraft und Nachdruck
bemächtigt; damit ist aber nicht gesagt, daß ein solcher Verein nicht mannig¬
fache Vortheile bieten sollte, zumal hinsichtlich der künftigen Ziele des Aus¬
wandererstroms und der Erhaltung geistig-nationaler Beziehungen zu den
deutschen Colonien in andern Welttheilen. Nur müßte der Verein gegründet
und geleitet werden im Einklang, nicht im Widerspruch mit den praktisch
bewährten, an Erfahrung reichen hanseatischen Elementen.
„Man wird sehen," sagt Macaulay in der Einleitung seiner berühmten
Geschichte von England, „wie Irland, belastet mit dem Fluche der Herrschaft
eines Volksstammes über den andern, einer Confession über die andere, frei¬
lich ein Glied des Reiches blieb, aber ein welkes und verrenktes, welches dem
Politischen Körper keine Kraft verleiht, und auf welches alle diejenigen mit
vorwurfsvollen Blicken zeigen, welche die Größe Englands fürchten oder
beneiden." Kürzer und drastischer hat vor ihm O'Connell denselben Gedan¬
ken in den oft citirten-Worten ausgedrückt: „Ihr habt uns verschlungen,
aber Ihr könnt uns nicht verdauen!" Beide ahnten wohl nicht, daß eine
Zeit so nahe sei, wo der unverdauliche Bissen, das verrenkte Glied dem
Körper empfindliche Schmerzen bereiten würde, daß der Racehaß sich bald zu
einer Höhe steigern würde, auf der er, wenigstens von Seiten des beherrsch¬
ten Volksstammes, vor keiner Gewaltthat, vor keinem Verbrechen mehr zurück¬
schreckt. Wohl galten schon früher einmal selbst nächtliche Brandstiftung
und Meuchelmord für erlaubte Vergeltungsmittel gegen wirkliche oder ver¬
meintliche Unterdrücker; unsern Tagen aber blieb es vorbehalten, Mordan¬
fälle am hellen Tage in belebten Straßen volkreicher Städte, bewaffnete
Angriffe gegen die Polizei- und Militärmacht des Staates, ja vor wenigen'
Wochen in der Hauptstadt des mächtigen Jnselreichs das Trauerspiel einer
diesmal leider zum Ausbruch gekommenen, wenngleich erfolglosen Pulver¬
verschwörung zu sehen. Kein Wunder, daß auch England die stolze Ruhe
verloren hat, die es sonst in den schwierigsten Lagen wenigstens äußerlich zu
zeigen liebte; es fühlt sich nicht ernstlich bedroht, aber wie mit Nadelstichen
gepeinigt, unbehaglich im eignen Hause, und widersteht nur schwer der Ver¬
suchung, auch seinerseits zu Gewaltmaßregeln zu greifen.
Mie groß die gegenseitige Erbitterung ist und wie offen sie ausgespro¬
chen wird, das zeigen zwei Preßprozesse, die vor wenigen Tagen vor dem
Gerichtshofe Queens Beiles zu London und dem Schwurgericht zu Dublin
verhandelt wurden.
Bekanntlich wurden vor kurzem zu Manchester drei Männer hingerichtet,
welche daselbst einen Angriff auf einen Wagen gemacht hatten, in dem einige
politische Verbrecher aus der Gerichtssitzung ins Gefängniß zurücktrcmsportirt
wurden; die drei hatten bei dieser Gelegenheit einen Constabler durch Revolver¬
schüsse getödtet. Es bedarf keiner Erwähnung, daß dieselben im gewöhnlichen
Gange des Strafverfahrens durch regelrechten Spruch der Geschwornen und
den Gesetzen gemäß zum Tode verurtheilt worden sind. Die dubliner Zeitung
„The Jrishman" aber widmete ihnen unter der Ueberschrift: Das Brand¬
opfer, folgenden Nachruf: „Taub gegen alle, auch die unheilverkündendsten
Warnungen, taub gegen die Beweisgründe der Gerechten und die Bitten
der Barmherzigen, hat heute die Regierung von England eine blutige
That vollbracht, die vor aller Welt e.inen finstern Schatten auf ihren
Namen werfen wird. Nichts kann deren Ausführung gegen alles Drän¬
gen der Staatsklugheit und der Menschlichkeit entschuldigen, außer der
Blindheit, mit welcher der Himmel dünkelhaften Stolz schlägt. Wolken von
Leidenschaft und Vorurtheil haben ihre Rathsversammlungen umzogen, dicht,
finster und schrecklich, wie nur die schwarze Nacht, die auf Egypten fiel, weil,
sprach der Herr, der Gott Israels, ihr mein Volk nicht wolltet ziehen lassen.
Unglückliches Volk! Glücklich allein im Schutze eines Herrschers, des Königs
der Könige, des Richters der Richter, des Rächers unterdrückter Unschuld,
der gewiß von allen Verbrechern Buße einfordern wird mit Zinsen bis auf
den letzten Pfennig. Unglückliches Volk! Sie wurden gepreßt zu bauen ohne
Steine, und Ziegel zu machen ohne Stroh, und wenn ihre Vögte die Zahl
nicht voll fanden, so siel die Geißel schonungslos auf ihre Rücken. Man
beraubte sie ihres Landes, und strafte sie, weil sie arm waren; man beraubte
sie der Freiheit und schmähte sie, weil sie Sclaven waren; man beraubte sie
ihrer Lehrer und schlug sie gleichmäßig, wenn sie lernten und wenn sie un¬
wissend waren. „Diese Zeiten," rufen sie aus, „sind vergangen und vorüber.
Wir haben längst gewünscht, euch milde und gut zu regieren." So sagen
sie, und wir fragen: seit wann ist denn dieser Umschwung erfolgt? Sollen
wir ihn finden in der Gnade der Herrscher, deren Antlitz wir nie gesehen,
aber deren Schwerter wir oft gefühlt haben? Sollen wir ihn darin finden,
daß man uns das Recht abspricht, eine Stimme in unsrer eignen Regierung
zu haben, wie Ungarn, wie Oestreich, wie Canada, wie jede andre Colonie
des Reichs, sei sie noch so klein, nur nicht Irland?
„Auf Grund eines gefälschten Wahrspruchs, eines erkauften Zeugnisses,
eines Beweises durch Meineidige, eines eingestandenermaßen irrigen Ver-
dicts, sind zwei Männer und ein Jüngling, in den Augen des Gesetzes ein
Kind, einem grausamen Tode überantwortet. Seht da die Gerechtigkeit
Englands in der Ueberführung und Verurteilung, seht da die Gnade Eng¬
lands in der Hinrichtung der politischen Verbrecher Allen, Larkin und O'Brien!
Da lest, was wahrhaftig mit großen und tiefen, mit unzerstörbaren, mit
blutigen Lettern geschrieben steht von der Gerechtigkeit und Gnade Englands.
Sie sterben fern von dem Lande, das sie liebten, fern von dem Volke, dem
sie dienen wollten, schmählich verleumdet durch die Organe einer blutdürsti¬
gen Aristokratie, in Mitten von fünftausend Bajonetten. Man sagt zur
Entschuldigung: sie waren Verbrecher gegen die Gesellschaft; aber ein Heer
mußte zwischen sie und das Volk treten, um ihre Befreiung zu verhüten. Man
sagt zur Entschuldigung: sie waren gemeine, nicht politische Verbrecher; aber
sie hatten ihr Leben daran gesetzt, das zweier Landsleute zu retten, und sie
starben das Antlitz gegen Westen gekehrt, in der Seele Vertrauen auf Gott,
und auf den Lippen den patriotischen Ruf: Gott erhalte Irland! Todt, todt!
todt! Aber es sind, die da glauben, daß sie im Tode stärker sein werden,
als im Leben! Es sind, die auf ihren Gräbern das Gebet lesen werden, daß
ein Rächer aus ihren Gebeinen entstehen möge — exoriaro Äiyuis sx ossibus
ultor — und wir sehen Wirren und Erschütterungen voraus, welche durch
eine menschliche Politik hätten abgewendet werden können, welche wir abge¬
wendet wünschten, und vor denen, wie wir flehen, noch jetzt die Völker durch
tveise Beschlüsse behütet werden mögen! Mögen jene Märtyrer geirrt haben,
so soll man ihrer doch in ihrer Heimath gedenken mit denen, die ihnen voran¬
gegangen sind, und ihr Tod soll weder die Sehnsucht nach legislativer Un¬
abhängigkeit, noch die Zuversicht auf deren schleunige Herstellung erschüttern.
Von der Morgenwache bis zur Nacht soll Israel hoffen auf den Herrn.
Denn bei dem Herrn ist Gnade, bei ihm ist Erlösung in Fülle! Und er wird
Israel befreien von allen, die Ungerechtes schaffen!"
Dieser Artikel und verschiedene andere, welche „The Jrishman" gleich¬
artig brachte und welche noch bedenklicheren Inhalts gewesen zu sein scheinen,
veranlaßten die Regierung, gegen den Eigenthümer der Zeitung, Mr. Pigott,
Strafverfahren einzuleiten. Die Anklagejury sprach ihr: Iruiz Kill! (die
Anklage ist begründet) und Mr. Pigott wurde dem Schwurgericht überwiesen,
vor welchem.am 12. Februar die Verhandlung stattfinden sollte. Natürlich
erscholl in allen irischen Blättern ein Schmerzensschrei über Unterdrückung
der Preßfreiheit, und dies veranlaßte die londoner Zeitung „Daily Telegraph",
für die Regierung in die Schranken zu treten. Sie that dies in einem ge¬
harnischten Leitartikel etwa folgenden Inhalts:
„Wäre der Sturm hibernischer Verwünschungen, die auf die Regierung
wegen der gegen Mr. Pigott erhobenen Anklage gerichtet werden, wäre
das Geschrei, daß die Minister einen Angriff gegen die Freiheit der Presse
unternommen haben, irgend begründet, so müßten wir Engländer je eher,
je besser an die Seite der irischen Schriftsteller treten. Lieber mag die Frei¬
heit die Gestalt der Zügellosigkeit annehmen, als daß Ordnung eintritt, wie
einst in Warschau herrschte! lieber mag etwas aufrührerischer Unsinn ungestraft
bleiben, als daß der Regierung gestattet wird, einen Präcedenzfall zu schaffen,
der in Zukunft vielleicht als Vollmacht benutzt werden könnte, die Wahrheit
zu unterdrücken. Für ministerielle Communiquv's, ministerielle Verwirrun¬
gen, ministerielle Verfolgungen wegen Aeußerung von Zweifeln an der Un¬
fehlbarkeit der Minister paßt das Klima von England nicht.
Die Wahrheit aber ist, daß selten ein thörichteres Geschrei erhoben worden
ist. So wenig es der Redefreiheit Eintrag thut, daß derjenige bestraft wird,
der seinen Nachbar mündlich verleumdet, so wenig ist die englische Presse des¬
halb unfrei, weil kaum eine Woche ohne einen Verleumdungsprozeß gegen
irgendeine Zeitung vergeht, weil das Gesetz überhaupt jeden für seine Ver¬
öffentlichungen verantwortlich macht. Die französischen Tagesschriftsteller ge¬
nießen weit geringere Freiheit, als die unsrigen. Dennoch ist es keinem von
ihnen eingefallen, sich einzubilden: weil er die Leitartikel in den Debats oder
der Temps schreibe, müsse es ihm frei stehen, einen Senator zu beschuldigen,
daß er Löffel stehle, einen Minister, daß er den Markt unsicher mache, oder
einen Souverain, daß er in seinen Handlungen alle Verworfenheit aller Cae-
saren vereinige. Sie verlangen weiter nichts, als daß bei politischen Ver¬
gehen die Regierung so handle, wie die unsrige jetzt in Irland, das heißt,
daß sie den Schriftsteller, der sich vergangen hat, vor einem Gerichtshofe
verklage, die Gesetze, gegen die er verstoßen hat, einzeln aufführe, und die
Entscheidung einer Jury anheimstelle.
Nun, die Frage, um die es sich handelt, ist nicht, ob der Freiheit der
englischen Presse engere Schranken gesteckt werden sollen, sondern ob die
irischen Organe des Fenierthums das Gesetz verletzt haben. Sie haben nicht
nur ihr unbestrittenes Recht geübt, die wegen des gemeinen Verbrechens der
Ermordung eines Polizeibeamten Hingerichteten Männer Märtyrer zu nennen,
sondern Aufruhr, Niederbrennen der Landhäuser, Niedermetzelung der einen
Race durch die andere in den klarsten Worten gepredigt, kurz, ihr Möglichstes
gethan, die ganze Nation in Anarchie und Blutvergießen zu stürzen. Haben
sie hierdurch das Gesetz verletzt oder nicht? nur um diese Frage handelt es
sich in dem Prozesse gegen die dubliner Zeitung, die mindestens ebenso hitzig
in ihren Erörterungen war, als irgendeine andere; angesichts dieser prosaischen
Streitfrage sind heroische Tiraden über die Freiheit der Presse, das Palladium
unserer Freiheit, so wenig am Platze, als es oratorische Ergießungen über
englische Freiheit in einem Prozesse gegen einen Taschendieb sein würden.
Wird der Herausgeber des Jrishman freigesprochen, so mag das Publikum
fragen, ob es weise sei, daß das Gesetz so schwach ist, die Veröffentlichung
directer Aufforderungen zum Aufruhr zu gestatten. Wird er verurtheilt, nun,
so mag seine Partei versuchen, die Aufhebung eines Gesetzes zu bewirken,
welches sie in der angenehmen Beschäftigung stört. Verrath, Anarchie, Rebel-
lion, Blutvergießen und Mord zu predigen, und wenn sie einen parlamenta¬
rischen Kämpen finden kann, der den Gegenstand vor das Haus der Gemeinen
bringt, ist sie völlig ebenso berechtigt hierzu, als der Straßenräuber, für Auf¬
hebung der tyrannischen Bestimmungen zu agitiren, welche den Raub mit
Zuchthaus und Strafarbeit bedrohen."
Mr. Pigott wollte nun gegen den Verfasser dieses von ihm für ein Libell
(Schmähschrift) erklärten Artikels Anklage erheben, wählte aber hierzu nicht
den gewöhnlichen Weg, wonach die Anklage zunächst der großen oder Anklage-
Jury vorgelegt wird und diese über iyre Zulassung entscheidet, sondern bean¬
tragte bei dem hierzu allein competenten Gerichtshofe Queens Beiles zu London
die Zulassung der Anklage ohne Prüfung vor der Anklagejury. Eine solche
Anklage heißt information, im Gegensatz zur gewöhnlichen Form, dem in-
Äietmsnt. Der Vertreter desjenigen, der dies Verfahren beantragt, trägt
dem Gerichtshofe eine von seinem Clienten eidlich bekräftigte Sachdarstellung
(Mäavit) vor, und stellt den Antrag, an den Beschuldigten eine schriftliche
Aufforderung (rule nisi) zu erlassen, sich über die Gründe zu äußern, welche
^ gegen die Zulassung der intorwatiou geltend machen könne. Gibt der
Gerichtshof dem Antrage Statt, so wird demnächst der Vertreter des Beschul¬
digten gehört, und dann definitiv über die Zulassung entschieden. Die Rich¬
tigkeit der Anklage hat der Gerichtshof nicht zu prüfen. — Zur Entscheidung,
°b die rule an den Redacteur des Daily Telegraph zu erlassen, stand nun
am 27. Januar vor der Queens Beiles Termin an.
Der Vertreter des Mr. Pigott, Mr. Foster, trägt dessen Affidavit vor.
Mr. Pigott versichert in demselben, daß er nicht Fenier sei und nie zu Auf¬
ruhr oder Hochverrath gereizt habe, daß der Artikel „Das Brandopfer" einer
von denen sei, die Gegenstand der gegen ihn erhobenen Anklage geworden
wären, und zwar der einzige Original-Artikel, während die anderen Abdrücke
von Briefen oder aus amerikanischen Zeitungen seien, und daß der Daily
Telegraph in Dublin und Umgegend sehr verbreitet sei, wahrscheinlich also
auch von denen gelesen werde, die als Geschworne über ihn zu richten haben
würden. Demnach sei der Artikel darauf berechnet, dieselben vorweg gegen
ihn einzunehmen, so daß er nicht tÄr 1ris,I, ehrlichen Prozeß, werde haben
können.
Auf Verlangen des Lord-Oberrichters verliest Mr. Foster nach längerem,
einige Heiterkeit hervorrufenden Widerstreben den Artikel „Das Brandopfer",
erkennt an, daß darin überführte Mörder als Märtyrer dargestellt werden,
und versichert, er sei nicht gekommen, dies zu entschuldigen. Der Gerichtshof
wünscht noch einen andern Artikel des Jrishman, „Brief an O'Kelly", vor¬
lesen zu hören. Mr. Foster erklärt, das sei blos Schmutz und Unrath, der
dem Gerichtshofe nur verächtlich sein könne. Ja, aber bösartiger Schmutz,
hochverräterischer Unrath, entgegnet der Vorsitzende, und spricht seine Ver¬
wunderung aus, daß Mr. Foster, da er dies anerkenne, doch die Information
beantrage. Mr. Foster erklärt wiederholt, daß dies nur geschehen, weil Mr.
Pigott den nachtheiligen Einfluß jenes Artikels auf feinen Prozeß fürchte;
auf die Frage, warum er nicht den gewöhnlichen Weg des inäietmont ge¬
wählt habe, erwiedert er, daß dies Verfahren vor dem Termine gegen Pigott
nicht zum Austrage kommen könne, während schon der bloße Erlaß der rulo,
also die bedingte Zulassung der Information, einen heilsamen Einfluß aus
die Geschwornen haben und sie warnen würde, sich von den in ihnen er¬
weckten Vorurtheilen nicht leiten zu lassen. Er macht darauf aufmerksam,
daß die Veröffentlichung einzelner Prozeßverhandlungen vor Beendigung des
Verfahrens stets für unwürdig gehalten worden sei, und citirt mehrere Aus¬
sprüche hierüber, die, wie der Gerichtshof ihm bemerklich macht, auf den vor¬
liegenden Fall nicht passen.
Nach längerem Hin- und Herreden verweigert der Gerichtshof die
Zulassung der Information. Die Regierung, erklärt der Lord-Oberrichter, war
wegen der gegen Pigott eingeleiteten Strafverfolgung heftig angegriffen, der
„Telegraph" nimmt sie in Schutz. Das war das Recht und die Pflicht der
Presse, und wenn der Verfasser vielleicht eine etwas heftigere Sprache führt,
als wir als Richter wünschen würden, so müssen wir auch den verletzten Ge¬
fühlen derjenigen Rechnung tragen, welche die besten Interessen der Gesell¬
schaft durch Schriften von so aufrührerischer Tendenz gefährdet sehen. „Von
diesem Gesichtspunkte aus würden wir, wie ich glaube, Unrecht thun, wenn
wir auch nur einen Augenblick daran dächten, dem Gesuche Statt zu geben!"
Man sieht, daß der Gerichtshof, wahrscheinlich sehr gegen den Wunsch
des Mr. Pigott, seine Ansichten über dessen Schuld ziemlich unumwunden
aussprach, und daß selbst Mr. Foster seinen Clienten nur schwach in Schutz
zu nehmen wagte. Inzwischen hatte das gerichtliche Verfahren gegen den
Letzteren seinen Verlauf, und am 18. und 19. Februar fand vor dem Schwur¬
gerichtshofe zu Dublin die Schlußverhandlung statt. Obschon, wie die eng¬
lischen Blätter mit Stolz erwähnen, ein politischer Preßprozeß in England
seit Menschengedenken, in Irland seit 20 Jahren nicht vorgekommen war,
war doch die Theilnahme des Publikums äußerst gering, und Beamte und
Polizeimannschaften bildeten den größten Theil der Zuhörerschaft. Der General-
Staatsanwalt begründete in längerem Vortrage die Anklage. Wir erfahren
von ihm, daß das Fenierthum zwei Ursachen hat, einmal den Zufluß ver¬
zweifelter Schaaren amerikanischer Emissäre, welche durch die Beendigung des
Bürgerkrieges ihre Beschäftigung verloren haben, dann die Einwirkung einer
„pestilentialischen" Presse auf ein unwissendes, reizbares, aber hochherziges
(Mnerous) Volk. Wie der Trompeter der Aesopischen Fabel, der zwar nicht
gekämpft, aber zum Kampfe geblasen hat, so sei auch die Presse, die zum Auf¬
ruhr anreizt, strafbarer, als diejenigen waren, welche die Waffen gegen die
Königin ergriffen haben.
Wir übergehen die einzelnen Artikel, welche den Gegenstand der Anklage
bilden, und allerdings großentheils „im klarsten Englisch" wie Daily Tele¬
graph sagte, zum bewaffneten Aufstande auffordern, und erwähnen nur bei¬
spielsweise noch den auch vor der Queens Beiles zur Sprache gekommenen
„Brief von Colonel Kelly". Kelly erklärt darin, er habe eine englische re¬
publikanische Brüderschaft gegründet, deren Hauptquartiere innerhalb zweier
Meilen von Buckingham-Palast seien; er droht mit Repressalien, wenn Allen,
Larkin und O'Brien nicht als Kriegsgefangene behandelt würden, bespricht
die Möglichkeit, dem englischen Handel zu schaden, und schließt mit der
Phrase: der Hölle, der britischen Regierung und allen seinen andern Feinden
zum Trotz, ist Kelly noch ein freier Mann.
Der Staatsanwalt hält sich für verpflichtet, zu Gunsten des Angeklagten
anzuführen, daß derselbe im Jrishman auch den bekannten Hirtenbrief des
Cardinal Cullen mitgetheilt hat, welcher das Fenierthum verdammt.
Der Vertheidiger führt u. a. an, es sei eigentlich gut für die Regierung,
wenn alles, was das Fenierthum betreffe, in der Zeitung des Angeklagten
veröffentlicht werde, denn Oeffentlichkeit sei die Seele der Wahrheit und Ge¬
rechtigkeit, Geheimniß die Seele des Fenierthums. Der Attorney General
^ der, wenn er selbst in Staatsprozessen die Anklage vertritt, das letzte
Wort hat — replicirt, und der Vorsitzende hält seinen Schlußvortrag, in
Welchem er die Rechte der Presse erörtert. Sie darf die Ansichten, die Schrif¬
ten, die Thaten der Staatsmänner, die Parlamentsverhandlungen, die Wahr¬
sprüche der Geschworenen beurtheilen und tadeln, sie darf jede Beschwerde
des Volks aufdecken und Mittel zur Abhilfe angeben — aber sie muß die
Regierungsform achten, unter der sie so ausgedehnte Vorrechte genießt, darf
sich nicht Verschwörern dienstbar machen, nicht Unruhe und Unzufriedenheit
durch das Land verbreiten, Classe gegen Classe aufhetzen, die Gerichte dem
Hasse aussetzen, die Gemüther entflammen, um sie zum Aufstande zu reizen.
Er bespricht dann die einzelnen Artikel. „Das Brandopfer" sei in einer
Sprache geschrieben, welche gar nicht besser darauf berechnet sein könne, die
Iren zum Hasse gegen die Engländer zu reizen. Wenn die Jury nun glaube,
daß der Angeklagte diese Artikel in der Absicht veröffentlicht habe, Aufruhr
zu schüren, so solle sie Schuldig sprechen.
Nach zwei ein halbstündiger Berathung sprechen die Geschwornen das
Schuldig in Betreff aller unter Anklage gestellten Artikel bis aus einen. Der
Gerichtshof spricht am 21. Februar das Urtel: es lautet auf zwölfmonat¬
liches Gefängniß. Schon am 20. Februar aber widmet die Times diesem
Prozesse einen Leitartikel. Sie ist mit der Verurtheilung einverstanden. Die
Artikel seien darauf berechnet gewesen, Unruhen zu erregen und zu gewalt¬
samen Versuchen, die bestehende Regierungsform zu ändern, aufzureizen, und
seien mit der Absicht, diese Wirkung hervorzubringen, veröffentlicht worden.
Dies haben die Geschworenen festgestellt; damit seien aber auch die Grenzen
des in Rede stehenden Vergehens gegeben. Wenn behauptet worden sei, eine
Schrift sei aufrührerisch, weil sie beabsichtige, Mißtrauen und Verachtung
gegen die Regierung zu erregen, und kein Schriftsteller dürfe sein Privilegium
mißbrauchen, um Unzufriedenheit hervorzurufen oder die Handhabung der
Gesetze in Mißachtung zu bringen, so seien dies Redensarten von so gefähr¬
licher Unbestimmtheit, daß nicht nur unschuldige, sondern selbst lobens-
werthe Handlungen unter jene Unschuldigen gebracht werden können. Der
Begriff einer aufrührerischen Schrift sei stets biegsam gewesen; die Zeit sei
aber gekommen, ihn genauer festzustellen, und die Gefahr, die aus der Un¬
sicherheit des Begriffs erwachse, lasse diese Feststellung als höchst wünschens¬
wert!) erscheinen.
So die Times. Man sieht, daß die Furcht vor jeder Gefährdung der
Preßfreiheit dem Hasse gegen das Fenierthum in England bis jetzt noch die
Wage hält.
Der am 20. Februar geschlossene würtenbergische Landtag ist ohne Frage
der denkwürdigste und inhaltreichste, der seit der Dauer der Verfassung ver¬
sammelt war. Damals freilich, als er gewählt wurde, konnte niemand ahnen,
welche Aufgaben seiner warteten, für welche Zwecke er Gelder zu verwilligen,
welchen Verträgen und Gesetzen er seine Sanction zu ertheilen haben werde.
Sechsjährig sind im constitutionellen Musterstaat die Landtagsperioden'. im
Januar 1862 ward die Kammer gewählt und welche Fülle von Ereignissen
drängt sich in diesen 6 Jahren zusammen und spiegelt sich wieder in den
Verhandlungen eines kleinstaatlichen Landtags!
Es macht Mühe, sich in jene Zeit zurückzuversetzen, da er zu seiner ersten
kurzen Sitzung zusammentrat. Damals, im Mai 1862, regierte noch König
Wilhelm, und auf dem Präsidentenstuhl saß der alte Römer, beides die Ver¬
treter einer entschwundenen Zeit. Noch waren die Parteien in einer uns
heute schwer verständlichen Mischung. Es gab noch eine geschlossene Linke,
die sich nicht wenig darauf zu gute that, daß sie eben die Linke war. Zwar
rüttelte die deutsche Frage bereits sehr unbequem an dem Bestand dieser
Partei, aber man war noch nach Kräften bemüht, den im eigenen Lager
sich erhebenden Zwiespalt sorgfältig zu verdecken, Es war die Zeit, da in
den Einzelkammern die bekannten Anträge auf „Centralgewalt und Parla¬
ment" gestellt zu werden pflegten, und damals vereinigten sich Holder und
Oesterlen zu einem gemeinschaftlichen Antrag in der deutschen Frage, die
kurz darauf als die Führer gegnerischer Lager auseinandergehen sollten. Denn
im Lauf des Jahres 1863 theilte sich auch in Würtemberg die Linke in eine
nationale und eine großdeutsch-demokratische Partei; über dem Delegirten-
projekt und der Reformakte — wer denkt heute noch an diese Aktenfascikel!
— über Abgeordnetentag und Fürstentag erhob sich unsäglicher Hader, bis
dann im November 1863, eben als der Landtag zu seiner ersten längeren
Session zusammentrat, die Schleswig-holsteinische Verwicklung zwang, die alten
ausgetretenen Geleise dessen, was man bis dahin die deutsche Frage genannt
hatte, zu verlassen.
Und nun warf sich die Kammer kopfüber in die große Politik. Es
folgten, von acht zu acht Tagen wiederholt, die warmherzigen Verhandlungen
über das augustenburgische Erbrecht und über die Nothwendigkeit einer selb¬
ständigen Mittelstaatenpolitik. Den großen Worten entsprach freilich nicht
der Erfolg. Nach kurzem Anlauf war es mit der Mittelstaatenpolitik zu
Ende und die Unterwerfung unter die Großmächte vollständig. Bald daraus
folgte eine neue Niederlage, der Abschluß des Handelsvertragsstreits, der
gleichfalls ein so ganz anderes Ende nahm, als die Kammer und der be¬
rühmte Mohlsche Foliant gewünscht hatte. Zwei empfindliche Erfahrungen
hatte man so hinter sich und es war nur natürlich, wenn an der Hand
dieser geschichtlichen Lectionen bescheidenere Vorstellungen über Aufgabe und
Politik eines Kleinstaates im allgemeinen und einer kleinstaatlichen Kammer
insbesondere zu reisen schienen. War doch im Grund alles hinderlich ge¬
gangen. In energischen Reden hatte man das Menschenmögliche geleistet,
und doch hatte man schließlich das Nachsehen, das eigene Nein wurde zum
Ja; man mußte zuletzt ratifieiren, was man offen und laut mißbilligt
hatte. Ein Zug der stillen Resignation ging durch den Halbmondsaal, und
bereits erregten die Reformbestrebungen, die zugleich mit dem Regierungs¬
wechsel auftauchten, mehr wehmüthiges Lächeln, als stolze Hoffnung.
Als freilich das große Schicksalsjahr kam. waren jene guten Lehren
wieder vergessen. Jetzt schien der Tag der Rache für so viel Demüthigung
gekommen. Immer noch war es dieselbe Kammer, die im Juni fast noch
größeren Eifer für den Krieg wider den Friedensbrecher entwickelte, als der
Minister des Va.ö Vietis, und ihm mit einer Art ungeduldiger Freudigkeit
die Gelder dafür bewilligte. Dieselbe Kammer hatte noch im August, als
Königgrätz bereits geschlagen war und es galt, weiteres nutzloses Blut am
Main zu sparen, den Vorschlag, ein Wort sür den Frieden einzulegen, von
sich gewiesen, und als sie dann nach Tauberbischofshcim den Friedensvertrag
zu genehmigen hatte, that sie es nicht, ohne gleichzeitig eine Adresse zu be¬
schließen, worin sie ihren Gefühlen noch einmal feierlich Ausdruck gab und
eine engere Verbindung mit Preußen zur Ueberbrückung des Main nach¬
drücklich von sich wies. Aber das vergeltende Schicksal hatte ihr noch mehr
aufgespart. Denn wiederum war es dieselbe Kammer, die im Jahr 1867
vor den neuen Zollvertrag und das Bündniß mit Preußen sich gestellt sah,
die der Genehmigung dieser Verträge nicht ausweichen konnte und schließlich
ein Wehrgesetz votirte, welches das verhaßte preußische System auch in
Schwaben einführt. Wie zur Sühne durste sie mit eigner Hand die Fäden
wieder knüpfen, bei deren Zerreißung im Juni 1866 sie mitgeholfen hatte.
Es liegt ein heiterer Zug der Gerechtigkeit in dieser kurzen Aufzählung
der Daten. Grausam freilich war es unter allen Umständen, daß eine Kam¬
mer, die sich so bestimmt und feierlich in einer politischen Richtung engagirt
hatte, zu Acten genöthigt wurde, die in entgegengesetzter Strömung lagen.
Es bewies keine übergroße Achtung vor der Würde der Volksvertretung,
daß Herr v. Varnbüler von einer und derselben Kammer verlangte, seine
Politik von 1866 und seine Politik von 1867 mitzumachen. Er konnte sich
freilich darauf berufen, daß er selber ja gleichfalls es verstanden habe, den
verschiedenen Situationen mit Gleichmuth gerecht zu werden, und daß er
auch andern zumuthen könne, was er sich selbst zugemuthet habe.
Gleicher Erleuchtung erfreuten sich nun die Abgeordneten der zweiten
Kammer nicht. Unmöglich auch konnte die des Ministers einfach sür sie
maßgebend sein. Und wenn die Thatsachen inzwischen vernehmlich gesprochen
hatten, so war auch dies noch keineswegs ein Grund, der mit Sicherheit ein
Verständniß dieser Thatsachen voraussetzen ließ. Im Gegentheil. Verächtlich
ist für den Schwaben der brutale Erfolg, ihn reizt das Unmögliche, und
mit besonderer Wärme pflegt er an dem zu hängen, was definitiv beseitigt
ist. Oder ist nicht Schwaben das Land, wo es heute noch großdeutsche Pro¬
gramme gibt, und wo der Südbund empfohlen wird, als ob es keine Allianz¬
verträge und kein Zollparlament gäbe, und eine Mittelstaatenpolitik, als ob
wir noch in den Jahren der Unschuld lebten? Gerade daß der Erfolg für
Preußen gesprochen hatte, forderte den Trotz der großen Seelen heraus.
Dennoch hatte Herr v. Varnbüler guten Grund, es mit derselben
Kammer zu versuchen, die schon in seiner Saulusperiode hinter ihm ge¬
standen. Zwar nicht darauf durfte er rechnen, daß- doch immerhin eine
Mehrheit sich finden werde, die aus nationalen Gründen, aus Ehrgefühl
für die neue Politik einstehen werde, welche die Aufgabe hatte, die unnatür¬
liche Mainlinie, nachdem der Krieg sie geschaffen, im Frieden wieder zu be¬
seitigen. Diese nationalen Gründe bestanden, aber sie bestanden nur für eine
kleine Minderheit. Die deutsche Partei, deren Programm war. jedes Mittel
der Annäherung an den Norden zu ergreifen, zählte vor und nach König-
grcitz in der Kammer nie mehr als ein Dutzend Stimmen, unter 90 Mitglie¬
dern ein kleines Häuflein. Was ihnen aber entgegenstand, war nicht gleich¬
falls eine geschlossene Partei, sondern eine Mischung höchst heterogener Ele¬
mente. Da waren zunächst die großdeutschen Demokraten der stritten Obser-
vanz, die das bedauerliche Unglück haben, in Preußen nur einen einzigen
deutschen Mann zu wissen, nämlich den or. Johann Jacoby; dann die Ultra¬
montanen, die klug genug sind, sich gleichfalls unter die Fahne ebenge¬
nannter Demokratie einzureihen, der sie'die leitenden Kopfe liefern; weiter¬
hin eine Anzahl Altliberaler, ohne nachhaltige nationale Regungen, alter
Tradition gemäß die treuen Hüter des würrembergischen Staatssäckels; endlich
aber - und dies ist ein starkes Contingent — der Troß dunkler Ehren¬
männer, denen die politischen Doctrinen im Grund wenig Scrupel machen,
desto mehr die gute oder üble Meinung ihrer Mandanten. Abgeordnete, die
im Politischen mit dem eben wehenden Wind zu segeln Pflegen, im Uebrigen
sich aber zunächst als Vertreter der lokalen Interessen ihrer Bezirke betrachten
und schon aus dieser Rücksicht möglichst gute Freundschaft mit dem jeweiligen
Ministerium halten. Das kleine Königreich zählt 70 Volksabgeordnete, da
kann unmöglich jeder ein großer politischer Charakter sein, die Mittelmäßig¬
keit herrscht unvermeidlich vor, sie muß nothwendig selbst auf die drücken,
die unter weiteren Verhältnissen vielleicht mehr geworden wären. Dazu kommen
dann noch etwa 20 privilegirte Ritter und Prälaten, meist sichere Stimmen
für die Regierung, obwohl sich gerade in den letzten politischen Kämpfen auf
diesen Bänken theilweise eine hartnäckige Selbständigkeit gezeigt hat. Wie
man sieht, eine bunte Gesellschaft, innerhalb derselben noch eine Anzahl un-
elassificirlicher Käuze, wie z. B. Moritz Mohl, im Ganzen eine primitive,
unzuverlässige Parteibildung, weniger auf Grundsätzen als auf Persönlich,
teilen beruhend — besser konnte sie Herr v. Varnbüler sich gar nicht wün¬
schen. Einen überlegenen Kopf hätte es auch ohne Noth reizen müssen, eine
solche Versammlung'heute in dieser, morgen in jener Richtung zu gebrauchen.
Als im Jahr 1863 Friedrich Römers Rücktritt den Präsidentenstuhl er¬
ledigte, schien niemand größere Anwartschaft auf denselben zu haben als Herr
v- Varnbüler selbst, der damals Vicepräsident war. Allein die Kammer that
sich damals noch viel auf ihre liberale Mehrheit zu gut, dem Ritter, der
kurz zuvor eine hervorragende Rolle beim Reformverein gespielt hatte, wollte
man solchen Vertrauensposten nicht übertragen, er mußte sich abermals mit
der Stelle des Vicepräsidenten begnügen. Dafür wußte er sich bitter zu
rächen. In allen jenen kleinen Künsten des Constitutionalismus. eine ur-
sprünglich abgeneigte und mißtrauische Mehrheit zu gewinnen, die Interessen
zu theilen, hier zu schmeicheln, dort zu drohen, durch einen verbindlichen
Händedruck, ein herablassendes Lächeln den Groll der Parteimänner zu ent¬
waffnen, hat er sich vom Beginn seines Ministeriums als Meister gezeigt.
Dabei empfahl er sich von Anfang an durch ein fast affectirt bescheidenes
Auftreten. Während der großen Redeübungen, die auf dem Landtag 1863/64
fast allwöchentlich über die Schleswig-holsteinische Frage stattfanden, hatte er
sich durchaus schweigend verhalten. Jetzt war die Niederlage der Mittel¬
staaten besiegelt, sie hatten sich den Großmächten unterworfen, allmählich
verstummte das Schmerzensecho selbst in der würtembergischen Kammer. Und
diese Stimmung des Ueberdrusses an der eignen Tugend benutzte der Minister,
der neben dem Auswärtigen zugleich das Departement der Nerkehrsanstalten
in die Hand genommen hatte. So oft die Kammer wieder die politische
Frage aufs Tapet brachte, zuckte er die Achseln; Württemberg, meinte er,
sei ein kleiner Staat, große Politik zu treiben nicht seine Sache, er selbst be¬
trachte sich mehr als Verkehrsminister dann als Lenker des auswärtigen Amts.
Für kleine Staaten sei die Hauptsache, Eisenbahnen zu bauen und sich ein
behagliches-befriedigtes Dasein zu schaffen. Wirklich bildeten nun Eisenbahn-
projecte und -Vorlagen einen Hauptgegenstand der Session von 186S, und
diese Zurückführung des Interesses auf kleine und kleinste Wünsche der Be¬
völkerungen, wo jeder Kirchthurm, eifersüchtig und in Fehde mit dem Nach¬
bar, um die Gunst des mächtigen Verkehrsministers warb, war für diesen
das Mittel, nicht blos eine gewisse Popularität im Land sich zu verschaffen,
sondern insbesondere die Stimme der Abgeordneten zu gewinnen und sie bald
durch Gnadenspender, bald durch Versprechungen und Vertröstungen an sich
zu fesseln. Früher hatten die Landstraßen diese Dienste geleistet. Jetzt ist es
die Führung der Eisenbahnlinie an diesem oder jenem Städtchen vorbei oder
die Anlage der Bahnhöfe, und neuerdings ist zu diesen Mitteln durch die
neue Gerichtsorganisation auch die Vertheilung der Gerichtshöfe getreten.
Es ist nun einmal Herkommen, daß dergleichen seine politische Wirkung
äußert. Seit vielen Jahren ist System darin, und es ist dadurch ein Grad
von politischer Unselbständigkeit und Gesinnungslosigkeit großgezogen worden,
von dem man sich keinen Begriff macht, wenn man nicht diese Dinge im
Detail kennen lernt. Und es handelt sich dabei weniger davon, daß die
Regierung jene Angelegenheiten wirklich als Prämien für die Gefügigkeit
benutzte, sie hat das gar nicht nöthig, die Bevölkerungen sind ihr aus freien
Stücken zu Willen. Eine kleine Stadt, die eine Eisenbahnverbindung begehrt,
hat überhaupt keine politische Gesinnung mehr, sie wird jede Gelegenheit
ergreifen, ihre Ergebenheit kundzuthun und ihr Vertreter wird in solchen
Fällen immer das getreue Organ seiner Mandanten sein. Ein Wort das
ihm der Minister ins Ohr flüstert, wirkt Wunder vor Abstimmungen. Man
hat das schon an „bewährten Volksmännern", erleben können, und man er¬
lebt es eben in diesem Augenblick wieder bei den Zollparlamentswahlen. Als
kürzlich das Programm der deutschen Partei hinausgegeben wurde, um es
von Notabeln in den verschiedenen Städten unterzeichnen zu lassen, kam aus
dem Städtchen R. die Antwort zurück: „Alles ist hier mit dem Programm
einverstanden, es hat den besten Eindruck gemacht, und die deutsche Sache
findet immer mehr Anklang. Aber mit öffentlichen Unterschriften können wir
zur Zeit natürlich nicht hervortreten, denn man weiß noch nicht, ob das neue
Kreisgericht nach R. oder nach B. kommt." Das war in aller Naivetät
geschrieben, kein erröthender Versuch der Bemäntelung, es war einfach „na¬
türlich", — ein Beitrag zu der Frage, was das „vierhundertjährige Ver-
fassungsleben" für die politische Erziehung des Volks geleistet hat, und eine
Illustration zu der berühmten süddeutschen Freiheit.
Seit den Eisenbahndebatten besaß Herr v. Varnbüler die Kammer. Immer¬
hin aber waren noch außerordentliche Veranstaltungen nothwendig, als die
Zollvereins- und Allianzverträge genehmigt werden sollten von derselben
Kammer, die noch im September 1866 von den Herrn v. Mittnacht und
Oesterlen zu jener deklamatorischen antipreußischen Adresse sich hatte hinreißen
lassen, im guten Glauben, daß sie damit ein der Regierung wohlgefälliges
Werk thue, welche durch nichts verrieth, daß sie einen Allianzvertrag mit
Preußen bereits in der Tasche habe. Herrn v. Mittnacht hatte es freilich
keine Mühe gekostet, an Herrn v. Neuraths Stelle seinen Platz neben Varn¬
büler zu nehmen und mit diesem jetzt eine Politik zu vertreten die er damals
bekämpfte. Bei den übrigen hatte aber doch der Umwandlungsprozeß größere
Schwierigkeiten, und es bedürfte des ganzen Gewichts der materiellen Inter¬
essen, das in zahlreichen Adressen des Handels- und Gewerbestandes sich aus¬
sprach, es bedürfte der von Berlin aus drohend betonten Solidarität des
Zollvercinsvertrags mit dem Allianzvertrag, endlich sogar der persönlichen
Dazwischenkunft des Königs, der seinen Wunsch für das Zustandekommen
der Verträge demonstrativ zu erkennen gab, — dies alles bedürfte es, um eine
Mehrheit zu gewinnen, die stumpf und gleichgiltig gegen das nationale Mo¬
ment in den Verträgen war.
Bis dahin hatte das Ministerium ganz loyal die ihm durch die Verträge
vorgezeichnete Linie eingehalten. Es ward in der Kammer nachdrücklich für
deren Annahme eingetreten. Herr v. Varnbüler hatte insbesondere sich ein
Vergnügen daraus gemacht, Moritz Mohl gründlich zu verarbeiten. Wer
damals Zeuge war, wie der Minister diesem zähesten Widerpart die Sünden
seiner Vergangenheit von den Seiten der Gründung des Zollvereins an vor¬
hielt, und wie dieser unter der Wucht der Beweisstücke, die der Minister
triumphirend emporhielt, tiefer und tiefer unter das Subsellium einsank, so-
daß schließlich kaum noch die Spitze einer Perücke sichtbar war, der . hatte den
Eindruck, daß in jedem anderen Lande Mohl künftig eine unmögliche Persön¬
lichkeit wäre. Nicht vermuthet hätte er, daß bald darauf der Minister den
also Hingerichteten mit der Erklärung beschwichtigen würde, er werde sich in
Bälde überzeugen, daß die Politik der Negierung von der seinigen nicht so¬
weit auseinandergehe; und am wenigsten hätte er sich träumen lassen, day
eines Tages Herr v. Varnbüler dem Zollparlamentscandidaten Moritz Mohl
den Einfluß der Regierung zur Verfügung stellte. — Allein mit der Annahme
der Verträge schien sich 'der nationale Eiser des Ministeriums erschöpft zu
haben. Von da an begann plötzlich ein anderer Wind zu wehen. Se: es,
daß man von Anfang an nach Genehmigung der Verträge Halt zu machen
beabsichtigte oder daß seit Salzburg wieder ein größeres Vertrauen in tue
Selbständigkeit der süddeutschen Staaten sich eingestellt hatte die Losung
war jetzt: bis hierher und nicht weiter. Im December hielt Herr v. Varn¬
büler die berühmte Rede wider den norddeutschen Bund, und ,in^anuar er¬
schien der schon durch seine drastische Redeweise überraschende Artikel „Vom
Lande" im Staatsanzeiger, der gegen das nationale Wahlprogramm der
badischen Abgeordneten polemisirte und mit großem Aufwand sittlicher Ent¬
rüstung das Streben nach Erweiterung der Zuständigkeit des Zollparlaments
als Bruch der Verträge denuncirte. Unter der Hand suchte man den (standen
M verbreiten, daß diese neueste Wendung im vollsten Einklang mit den In¬
tentionen des Grasen Bismarck stehe, der weit entfernt sei. die tumultuanfchen
Begehren der nationalen im Süden zu billigen. Damit sollte ein doppelter
Zweck erreicht werden: man gab sich den Anschein höchster Loyalität in Er¬
füllung der eingegangenen Verpflichtungen, während man die nationale Partei
vor dem Lande hinstellte, als sei sie'preußischer als Preußen selbst. Nach
Berlin aber versicherte Herr v. Varnbüler angelegentlich: ganz Schwaben brenne
in unglaublichem Preußenhaß, dies sei die Stimmung, mit der er zu rechnen
habe, daher seine zurückhaltende Politik, die allein zum Ziele führen werde.
Was die wahren Gedanken der Regierung waren, ist dann später wäh¬
rend der Agitation für die Zollparlamentswahlen offen zu Tage getreten.
Schon mit jenen Kundgebungen hatte sie den Standpunkt deutlich bezeichnet,
den sie gegenüber den Wahlen einzunehmen gedachte. Ihre nächste Folge
aber war, daß sie ein wichtiges Gesetzgebungswerk, das noch im Rückstand
war, gefährdete: die Armeereform. Wie konnte diese selbstverständlich unpo¬
puläre Maßregel durchgeführt werden, wenn nicht auch für sie das Ministerium
mit allen Kräften einstand? Und wie konnte man an den guten Willen
eines Ministeriums glauben, das sich in so nachdrücklichen Ausfällen gegen
die norddeutschen Einrichtungen gefiel? In der That erfuhr man jetzt, daß
es in der Militärfrage nicht an Differenzen zwischen den Ministern fehle.
Man wollte wissen, die Stellung des Kriegsministers seinen Collegen gegen¬
über sei lange schon ein wahres'Martyrium. Unter den Offizieren der wür-
tembergischen Armee zählt die Neugestaltung Deutschlands warme Anhänger.
Die Mehrzahl war aus dem unglücklichen Feldzug gut preußisch gesinnt zu¬
rückgekommen. Aus ihrem Wunsch, daß die Streitmacht des Landes einem
großen nationalen Heere einverleibt werde, machte sie nirgends ein Hehl.
In diesen Kreisen wurde es darum sehr freudig begrüßt, daß während des
luxemburger Conflicts Herr v. Varnbüler das Kriegsministerium dem General
Freiherrn v. Wagner übertrug, von dem man wußte, er theile jene Gesinnung
vollständig; und eine erneute Bürgschaft für eine nationale Führung dieses
Departements durfte man darin erblicken, daß er den Oberstlieutenant
v. Succow als seinen Adjutanten berief, der, eine junge, feurige und sehr
begabte Kraft, zuvor schon eine Denkschrift über den Anschluß Würtembergs
an das preußische Wehrsystem — im Gegensatz zu den Plänen des damaligen
Kriegsministers General v. Hardegg — eingereicht hatte. Als letzterer das
Ministerium verließ, war zwar entsprechend den Münchener Verabredungen
Formation und Reglement bereits dem preußischen System angepaßt, dagegen
schwankte man noch in der Bewaffnung, man suchte nach dem besten Hinter¬
lader, und für das Kriegsdienstgesetz hatte derselbe einen Entwurf ausgear¬
beitet, der eine bedenkliche Neigung für das schweizerische Milizwesen verrieth,
^ein Rücktritt war unvermeidlich in einem Augenblick, wo das Waffenbündniß
mit Preußen praktisch zu werden drohte. Die nächste Folge war, daß das
preußische Gewehr definitiv adoptirt wurde und Herr v. Wagner ein neues
Programm für die Heeresorganisation vorlegte.
Dieses Programm bedeutete den engsten Anschluß an die norddeutsche
Organisation. Das würtenbergische Armeecorps sollte ein Theil der natio¬
nalen Armee sein, für den Oberbefehl und für die Leitung des Generalstabs
verlangte es einen preußischen General; abwechselnd sollten die Offiziere in
preußische Garnisonen geschickt werden, um die dortigen Einrichtungen zu
studiren und den Zusammenhang der nationalen Armee zu unterhalten.
Diese Bestimmungen hatten auch die Billigung des Ministerraths gefunden.
Als aber die unmittelbare Kriegsgefahr verschwand, drängten sich sofort un¬
günstige Einflüsse hervor. Es schien jetzt nicht mehr so dringlich, zu einem
so weitgehenden Verzicht auf die Souveränetätsrechte sich zu verstehen. Man
bemäkelte diesen und jenen Punkt. Herr v. Wagner sah sein Programm all-
mählich in den wichtigsten Dingen beschnitten, und als er den Entwurf eines
Kriegsdienstgesetzes vorlegte, das wesentlich dem preußischen nachgebildet war.
immerhin aber in einzelnen Abweichungen von den dortigen Normen eine
gewisse Selbständigkeit zu retten versuchte, stieß er auf entschiedene Mißgunst.
Dem König wurde eingeredet, man wolle ihn an Preußen verkaufen, im ge¬
heimen Rath wurde die Stelle in dem von Succow verfaßten Entwurf, wo¬
nach die würtenbergische Armee nur als Glied des nationalen Heeres orga-
nisirt werden konnte, gestrichen und durch einen gleichgiltigen Passus ersetzt.
Ein Vorgang in der Kammer zu Anfang December, als es sich um die Be¬
handlung der Beschlüsse der ersten Münchener Militärconferenz handelte, zeigte
Herrn v. Wagner in offenem Widerstreit mit seinen Collegen Varnbüler und
Mittnacht. Es hatte damals den Anschein, als ob diese jede Solidarität nur
dem Kriegsminister ablehnen wollten. Der eine hatte seine Verträge, der
andere seine neue Justizverfassung durchgesetzt; der Kriegsminister mochte sehen,
wie er mit seinen Entwürfen 'in der 'Kammer fertig würde. Da aber in
dieser Zeit Herr v. Varnbüler seine Philippina gegen den norddeutschen Bund
hielt, brachte man dies in Verbindung mit jenen Vorgängen, hinter denen
sich eine Intrigue gegen den Kriegsminister zu verbergen schien.
Es schwebt über diesen intimen Dinge noch ein gewisses Dunkel. Man
wollte wissen, der Kriegsminister habe damals eine energische Jnterpellation
an Herrn v. Varnbüler gerichtet, die von diesem beschwichtigend beantwortet
wurde. Mehr Erfolg noch scheint in dieser Zeit ein Schritt gehabt zu haben,
der von gewisser Seite direct beim König gethan wurde. Der Erfolg war,
daß der Monarch Herrn v. Varnbüler seinen entschiedenen Willen zu erkennen
gab, das Kriegsdienstgesetz zu Stande zu bringen, und das Ministerium ver¬
breitete jetzt unter der Hand die Erklärung, daß es für die Militärreform
solidarisch einstehen und sie mit allen Mitteln unterstützen werde.
Inzwischen aber hatte die ministerielle Presse so gut wie nichts gethan,
um das Volk über ein Gesetz aufzuklären, das von der Demagogie längst
als ein willkommenes Agitationsmittel benutzt worden war. Unschwer lieb
sich voraussehen, daß die Heeresreform in der Kammer einen ungleich schwie¬
rigeren Stand haben werde, als die Anschlußverträge. Schon dies war un¬
günstig, daß die Berathung gerade dieses Gegenstandes bis an das Ende
der Session hinausgeschoben wurde, wo die Abgeordneten bereits dem Ge¬
danken an die Wiederwahl mehr als billig nachzuhängen pflegen und eme
planmäßig betriebene Agitation auch im Ständesaal auf eme größere Em¬
pfänglichkeit rechnen kann. Diese Agitation aber wandte sich an Vorurtheile
und Schwächen des schwäbischen Stammes, die nur mit allzuviel Glück gegen
die bessere Einsicht und gegen das nationale Pflichtgefühl aufgerufen werden
konnten. —
Das neue Krieqsdienstgesetz erfüllte nicht blos eine Forderung, die
theoretisch auch von den demokratischen Parteien längst erhoben worden war.
die der allgemeinen Wehrpflicht, sondern es brachte auch eme Reese positiver,
sehr werthvoller Erleichterungen, so das Institut der Einjahrig-Freiwilligen,
die Herabsetzung der Präsenzzeit von K auf 3 Jahre, das Recht der Ver¬
heiratung für alle Reservisten. Das waren unbestreitbare Dinge, Dennoch
nahmen die Volksschmeichler in Versammlungen und Adressen, die sie von
Gemeinde zu Gemeinde trugen, keinen Anstand, die Sache so darzustellen,
als ob das neue Gesetz nur ein Privilegium der Reichen, ein Mittel zur
Unterdrückung der Armen sei. Die schlimmsten socialistischen Schlagwörter
wurden ins Volk geworfen, der sichere Ruin der Volkswohlfahrt als unaus¬
bleibliche Folge der unerschwinglichen Lasten dargestellt, und wie gerufen kam
der Nothstand in den preußischen Ostprovinzen, der, in den bekannten Farben
der Zukunftspresse geschildert, unserm Volk als Spiegel dessen, was ihm un¬
vermeidlich bevorstand, entgegengehalten wurde. Diese Umtriebe fanden
um so willigeren Boden, als die Abneigung gegen den Kriegsdienst ohne¬
dem bei uns allgemein ist.
Es hängt mit der Geschichte dieser südwestlichen Reichsecke zusammen,
die wie keine andre in zahllose kleine Territorien zersplittert war, daß sich
hier das Gefühl der Pflichten gegen den Staat nicht entwickeln konnte. Man
kannte keinen Staat und fremd blieben daher auch die Bande, die in einem
wirklichen Staatswesen den Bürger an das Ganze knüpfen. Von all diesen
Pflichten die lästigste aber war immer die des Kriegsdienstes, die schon bis¬
her, in den Zeiten des Loskaufs, Tausende von jungen Leuten über den
Ocean hinübergetrieben hat. Das ist immer der empfindlichste Punkt gewesen
für den Hang der Schwaben, den man euphemistisch ihren Freiheitssinn zu
nennen pflegt, für ihren Hang, die Ansprüche der Individualität geltend zu
machen auf Kosten der Rechte der Gesammtheit. Unterordnung, Disciplin,
ist die schwierigste Forderung, die an den Schwaben gestellt 'werden kann.
Wenn die allgemeine Wehrpflicht auch hier eine alte Forderung gewesen ist,
so verstand man darunter weniger ein System, das die unerläßlichen Lasten
gerecht und gleichmäßig vertheilte, als vielmehr ein solches, das alle von den
Lasten möglichst befreite, und jedem wohl das Recht Waffen zu tragen verlieh,
aber die fachmäßige Bildung auf ein Minimum beschränkte. Darum'"°sind
auch alle jene dilettantischen Spielereien mit Bürger-, Jugendwehren u. tgi.
immer in Schwaben außerordentlich populär gewesen, man sah darin ein
Mittel, sich auf recht billige Art mit den Forderungen des Staats abzufin¬
den, und der „Beobachter" konnte neulich alles Ernstes versichern, der all¬
gemeine Waffendienst sei unter dem Landvolk außerordentlich beliebt, voraus¬
gesetzt, daß die Ausbildung „zu Hause" stattfinde. Diese „Präsenz zu Hause"
ist in der That eine der sinnreichsten und bezeichnendsten Erfindungen unsrer
demokratischen Presse. Der theils künstlich genährten, theils aber instinctiven
Abneigung gegen Preußen lag immer ganz besonders der Widerwille gegen
strenge militärische Disciplin zu Grunde. Man hatte das Gefühl, daß eben
diese dem Norden sein unbestreitbares Uebergewicht über den Süden verleihe.
So concentrirte sich denn der Widerstand gegen die neue Gestaltung
der Dinge, deren Anerkennung von den würtembergischen Ständen verlangt
wurde, ganz besonders auf die Armeereform. Die Partikularisten hatten
den Allianzvertrag hauptsächlich mit dem Argument bekämpft, daß seine
Genehmigung zugleich die Uebernahme der unerschwinglichen Lasten, die das
preußische Wehrsystem mit sich bringe, mit Nothwendigkeit nach sich ziehe-
Als aber jener Vertrag genehmigt war und das Kriegsdienstgesetz vorgelegt
wurde, stellten sie ihre selbstgezogene Consequenz wieder in Abrede. Jetzi
hieß es, an dem Vertrag wolle man allerdings festhalten, aber er begründe
nicht im mindesten eine Verpflichtung, das Heerwesen nach denselben Grund¬
sätzen einzurichten. Im Gegentheil. Preußen, sagten die Demokraten, habe
sich ja verbindlich gemacht, die Selbständigkeit unsres Landes auf alle Fälle
zu schützen; wozu also unsererseits Anstrengungen machen? Nachdem dann
doch das Kriegsgesetz mit knapper Mehrheit durchgegangen, begann derselbe
hartnäckige Kampf wieder beim Contingentsgesetz. Was dort zugestanden
war, wollte man hier wieder zurücknehmen, und nachdem endlich auch diese
Position verloren war, hielt man sich noch an das allerletzte Mittel, an die
Berathung des Militäretats, um nachträglich durch Verweigerung der Gelder,
durch Zerren an jedem einzelnen Posten die wirkliche Durchführung der Re-
organisation zu vereiteln oder wenigstens zu erschweren. Man setzte seinen
Ehrgeiz darein, weniger zu leisten, als das ganze übrige Deutschland, auch
die Minister vertheidigten die Regierungsvorlagen nicht von dem Gesichts¬
punkt aus, daß sie eine Forderung der nationalen Ehre seien, sondern damit,
daß ihre Genehmigung im Interesse der Selbständigkeit des Königreichs
liege. Namentlich leugnete Herr v. Varnbüler jeden Zusammenhang der
Heeresreform mit den Allianzverträgen. Sie wäre, meint er. ohnedem gebo¬
ten gewesen und stehe nur mit den Verabredungen der süddeutschen Staaten
zu München in Verbindung.
Durch so unwürdiges Markten gelang es nun wirklich, die Militärvor¬
lagen derart zuzurichten, daß für das Kriegsministerium die Frage entstehen
mußte, ob nicht das Scheitern am Ende vorzuziehen sei. Wenn es gleich¬
wohl an dem Entwürfe festhielt, so war hiefür die Erwägung maßgebend,
daß denn doch schon allein die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ein
wesentlicher Fortschritt, ja die Hauptsache sei. Aus anderen Gründen lag
auch den andern Ministern daran, daß überhaupt das Kriegsdienstgesetz —
wie beschaffen immer — zu Stande komme. Denn blieb es in der Schwebe,
so wäre dies bei den nächsten Abgeordnetenwahlen ein höchst willkommenes
und wirksames Agitationsmittel für die demokratischen Vereine gewesen.
Und dieses Interesse des Gesammtministeriums machte wieder die Stellung
des Kriegsministers einigermaßen günstiger. Die deutsche Partei war näm¬
lich eben stark genug, um zwischen den 'Reinministeriellen und den Partiku-
laristen den Ausschlag zu geben. Das Gesetz durfte also nicht unannehmbar
sein für die deutsche Parteisonst wäre es sicher gescheitert. Diese aber
machte ^ ihre Zustimmung wesentlich von der Haltung des Kriegsministers
abhängig, auf den sie unbedingtes Vertrauen setzen durste. So gab dieser
Rückhalt dem General von Wagner seinen College» gegenüber festere Position.
Nun war bei der Stimmung der Kammer und des Landes allerdings
eine Herabsetzung der im Entwurf auf drei Jahre bestimmten Präsenzzeit.,
obwohl sie dem ganzen System widersprach, unvermeidlich. Es beruhte diese
Forderung weniger auf einer bestimmten Abschätzung der Kräfte des Landes
un Verhältniß zu den angesonnenen Leistungen, als vielmehr auf einem
Schlagwort, das noch eine fatale Erbschaft des preußischen Militärconflicts war.
Hatte das preußische Abgeordnetenhaus so lang gegen die dreijährige Präsenz
sich gewehrt, so konnte in Schwaben unmöglich dieselbe Forderung zugestanden
werden. Hier also mußte der Kriegsminister, von seinen Collegen gedrängt,
nachgeben, obwohl noch kurz zuvor auf der zweiten Münchner Conferenz die
Kriegsminister der 3 süddeutschen Staaten das Festhalten an der dreijähri¬
gen Präsenz verabredet hatten. General v. Wagner konnte unter diesen
Umständen wenigstens solche Bedingungen stellen, welche auf Zugeständnisse
^in nationalen Sinn und auf theilweise Wiederherstellung seines ursprüng-
uchen Programms hinausliefen, — insbesondere rücksichtlich der Sendung
von Offizieren nach Berlin, — und man erzählt, er habe sich im Minister-
rath diese Zugeständnisse schriftlich ertheilen lassen. Allein auch mit der
Nachgiebigkeit im Punkt der Präsenz erreichte er noch keine sichere Mehrheit
sur seinen Entwurf, die Abstimmungen blieben bis zuletzt fast Sache des
Zufalls. In der ersten Berathung wurden sämmtliche Anträge über die
Präsenz verworfen und erst in der Schlußberathung gelang es. die Mehrheit
>ur eine gesetzliche Fixirung der Präsenzpflicht auf nicht über zwei Jahre zu
gewinnen, nachdem das Kriegsministerium auch noch in Betreff der Unter¬
offiziere hatte nachgeben müssen-, für die es vergebens die Möglichkeit einer
längeren Präsenz zu retten versuchte, die ihm aber nur für die Reiterei be-
willigt wurde. Auch sonst that die Kammer noch ihr möglichstes, um das
Gesetz den schwäbischen Eigenthümlichkeiten anzupassen. So beseitigte sie die
Controlversammlungen der Landwehr, „weil man bei uns nicht so streng zu
sein brauche, wie in Preußen", während gerade das pädagogische und mora¬
lische Moment dieser Versammlungen bei der Stammesabneigung gegen Dis¬
ciplin doppelt werthvoll gewesen wäre. Die Partikularisten scheuten sogar
nicht vor dem Versuch zurück, den Grundsatz der Stellvertretung wieder in
das Gesetz zu bringen, konnten aber damit nicht durchdringen. Dagegen ließ
die Kammer sich zu dem sinnreichen Beschluß verleiten, daß alle diejenigen, die
in den Jugendwehren hinreichende militärische Vorbildung erhalten, zu einer
nur sechsmonatlichen Präsenz verpflichtet sein sollten, ein Beschluß, der nur
durch den Widerspruch der ersten Kammer wieder beseitigt wurde.
Bei der Berathung über das Contigentsgesetz und schließlich über den
Militäretat begann, wie gesagt, das Markten aufs neue. Das Contigents¬
gesetz war schon im Regierungsentwurf aufs Sparsamste angelegt worden.
Man hatte sich insbesondere, was den Offizieren keine Freude war, aus
Sparsamkeitsgründen mit dem bisherigen Formationsbestand begnügt. Man
muthete den Würtenbergern gar nicht zu, daß sie so viel leisten sollten als
die Badener und die Baiern. man war zu einem Minimum des Erforder-
dernisses herabgegangen. Der Spielraum, den die Münchener Beschlüsse ge¬
währten, wurde von Würtemberg aufs äußerste ausgenützt. Während im
ganzen übrigen Deutschland die Friedensstärke 1 Proc., die Kriegsstärke 2 Proc.
der Bevölkerung beträgt, verlangte man in Würtemberg nur V- Proc. für
den Frieden, IV2 Proc, für den Krieg. Es stellt damit in Frieden 5000 Mann
weniger als in Baiern und Baden verhältnißmäßig gestellt werden und auch für die
Landwehr sind statt 12.000 Mann nur 6000 Mann verlangt, während in Baiern
und Baden die Einrichtung der Landwehr sofort systematisch durchgeführt wird.
Trotz dieser Rücksichten auf die schwäbischen Eigenthümlichkeiten kostete
.es die größte Mühe, das Contingentsgesetz durchzubringen, es erhielt schließlich
nur drei Stimmen Mehrheit. Und bei der Berathung des Militäretats that
die Kammer noch in „Ersparnissen" ein Uebriges. Insbesondere bewilligte
sie, zum Dank für das Entgegenkommen des Kriegsministers, nur die
Gelder sür eine 1°/«jährige Präsenz. So haben denn die Militärdebatten
ein Ergebniß gehabt, das nur zu sehr beweist, wie widerwillig Schwaben
selbst ein bescheidenes Theil der Pflichten für die Vertheidigung des Gesamint-
Vaterlandes übernimmt, ein Ergebniß, das in der That ein wenig rühmliches
Capitel unserer parlamentarischen Geschichte bildet. Immerhin ist wenigstens
der Fortschritt zu begrüßen, der in der Einführung der allgemeinen Wehr¬
pflicht liegt. Hat sich diese einmal eingebürgert, ist sie, die jetzt noch ein
Schreckgespenst bildet, zu einem Bestandtheil unserer öffentlichen Sitten ge'
worden, so wird dies am allermeisten dazu beitragen, auch im widerstrebenden
Schwaben einer höheren Staatsidee Eingang zu verschaffen.
Die Geschichte der Militärdebatten ist aber nicht blos bezeichnend für
die Denkweise der Bevölkerung, als deren Organ die Kammer gesprochen hat,
sondern insbesondere auch lehrreich sür die Haltung unserer Regierung. Die
Thronrede, mit welcher der Landtag geschlossen wurde, hat dann ihre Nei¬
gungen in einer Weise enthüllt, wie man dies kaum erwarten durfte, und
wenn ja noch ein Zweifel über dieselben bestehen konnte, so hat die Bundes-
genossenschaft, mit welcher die Regierung angesichts der Zollparlamentswahlen
auftritt, vollends jeden Schleier hinweggenommen. _ .^
Sie wünschen für Ihre Zeitschrift eine Besprechung des Nothstandes in
Ostpreußen. Ihnen zu wiederholen, wie es bei uns aussieht, wäre nach
der Wuth von Berichten, welche die Tagesblätter aller Farben darüber ge¬
bracht haben, mindestens überflüssig. Uebertreibungen sind dabei vorgekom¬
men, nach beiden Seiten hin — das gebe ich bereitwillig zu. Aber leider
bleibt dazwischen noch genug, mehr als genug übrig.
Weniger erschöpft scheint mir die oft gehörte Frage zu sein: wie der
Nothstand habe entstehen können, in einer Provinz, die als Korn¬
kammer bekannt und nichts weniger als übervölkert ist?
Schon diese Fassung der Frage läßt erkennen, daß das auswärtige
Publikum entweder die Verhältnisse und die Bedeutung des Landbaues in
unserer Provinz nicht kennt oder in der offiziösen Anschauung befangen ist,
wonach wir lediglich mit den Folgen eines durch die Ungunst der Elemente
herbeigeführten Mißwachses zu kämpfen haben. Wahr ist es: Ostpreußen
hat seit fünf Jahren vier schlechte Ernten gemacht und nur eine mittelmäßige
(1866). Aber selbst diese großen Verluste würden nicht die Noth aus eine
solche Höhe gebracht, nicht die halbe Bevölkerung der Provinz ruinirt haben,
wenn nicht ihr Wohlstand schon vorher tief erschüttert gewesen,
ihre wirthschaftliche Entwicklung seit Jahrzehnten verkümmert
wäre. Für jeden, der die Provinz kennt, muß es klar sein: Der jetzige
Wohlstand ist nur der plötzliche Ausbruch einer schleichenden
Krankheit, die seit lange an unserm Marke zehrt! Ich will ver¬
suchen, sie Ihnen nachzuweisen.
Die Provinz, die' dem preußischen Staate nicht blos ihren Namen, son¬
dern auch ihre besten Kräfte gegeben hat bis zu deren jetziger Erschöpfung,
ist von jeher sein Stiefkind gewesen. Schon der große König Friedrich II.
der das entlegene, isolirte Ostpreußen seinem Schicksal überlassen mußte,
konnte es ihm doch nie vergeben, daß es außer Stande war, sich der russi¬
schen Uebermacht zu erwehren. Kaum war dann durch den Erwerb von
Westpreußen die Provinz mit dem übrigen Staatsgebiete zu einem zusam-
menhängenden Ganzen vereinigt; kaum hatten die neuen Landestheile Süd¬
preußen und Neuostpreußen von dort aus deutsche Beamte, deutsche Land¬
wirthe und Handwerker als Pionire deutscher Cultur empfangen — da er¬
folgte der unglückliche Krieg von 1806—1807, in welchem die Provinz viele
Monate hindurch den Tummelplatz ungeheurer französischer und russischer
Heere bildete und furchtbar ausgesogen wurde. Im Tilsiter Frieden nahm
Nußland einen Theil jener ehemals polnischen Provinzen für sich, der andere
wurde als Herzogthum Warschau selbständig —- die dorthin eingewanderten
Preußen mußten fast sämmtlich unter großen Verlusten ihre Stellungen auf¬
geben. Die alte Provinz mußte den Abzug der Franzosen durch eine in
jenen Zeiten kaum zu erschwingende Kriegscontribution erkaufen. Noch heute,
nachdem zwei Geschlechter zu Grabe gegangen sind, haben die Nachkommen
an jener Kriegsschuld zu tilgen und zu zinsen: Königsberg noch 1,300,000,
Elbing noch ca. 800,000 Thaler! Die Stadt Königsberg war i. I. 1807 er¬
schöpft durch Einquartirungslasten und Requisitionen, schwer geschädigt in ihrem
Handel, da die Franzosen eine Menge von Waaren unter dem Vorwande, sie
seien englisches Eigenthum, mit Beschlag belegt hatten. Nun mußte sie noch
4 Millionen Francs in Waaren und von den der Provinz auferlegten 8 Mill.
in paar entrichten, für das übrige aber Vorschüsse gewähren, oder mit
ihrem Credit eintreten, „um sich nicht den schweren Vorwurf zuzuziehen, die
Räumung des Landes aufzuhalten", wie der König Friedrich Wilhelm III-
schrieb. Die Waaren wurden natürlich von den französischen Befehlshabern
nur mit Spottpreisen in Rechnung gebracht, und um baares Geld aufzutreiben,
mußte man unglaubliche Opfer bringen. Konnte doch der preußische Staat
damals unter keinerlei Bedingungen eine Anleihe zu Stande bringen! Bei
alledem wußte die Stadt noch Mittel zu finden, um in der Zeit der größten
Bedrängniß, als der König bis nach Memel geflüchtet war, unter den Augen
des Feindes den Staatsbehörden einen baaren Vorschuß von 41,000 Thlr.
zuzusenden. Der König drückte ihr seine ganze Zufriedenheit aus, stellte sie
allen andern großen Städten als Muster hin und nannte die Einwohner
„brave, patriotische Bürger, denen er dieses nie vergessen werde". Nach dem
ersten pariser Frieden wurde Königsberg zwar Aussicht gemacht, seine Kriegs¬
schäden durch französische Entschädigungsgelder erstattet zu sehen und es wur¬
den dieselben von der Regierung aus Höhe von 3,800,000 Thlr. anerkannt.
Allein diese Aussicht ist nie in Erfüllung gegangen. Nur der noch nicht ge¬
tilgte Rest der 8 Millionen-Anleihe wurde 1822 auf die Staatskasse über¬
nommen, 1°/» Millionen blieben der Stadt zur Last und alle Bitten und
Anträge, auch diese zur Staatsschuld zu erklären, sind bis auf die neueste
Zeit fruchtlos geblieben. Ebenso hat Elbing seine Kriegsschuld behalten,
während der Staat das Gebiet, welches diese Stadt früher eigenthümlich
besaß, eingezogen hat. Wie anders ist man neuerdings gegen Hannover,
wie anders gegen das reiche Frankfurt verfahren, die sich doch beide wahr¬
lich nicht durch Verdienste um den preußischen Staat besondere Ansprüche
auf Berücksichtigung erworben haben!
Genug, die Finanzen Königsbergs kranken noch unter den Nachwehen
jener fernen Vergangenheit: es kann sich keine Wasserleitung bauen, es kann
die verderbliche Mahl- und Schlachtsteuer nicht aufheben, weil es ohnehin so
hohe directe Steuern erheben muß, daß unabhängige, vermögende Leute gern
wegziehen- Der Verlust der ganzen Provinz aber in jener Zeit 1806—
1807 wird nach gewissenhafter Schätzung auf beinahe 100 Millionen Thaler
veranschlagt, abgesehen von dem auf Jahre, hinaus wirkenden Rückgange
der Landwirthschaft, der Gewerbe und des Handels.
Kaum fing Ostpreußen an aufzuathmen, da wälzte sich 1812 aufs neue
die größte Armee durch seine Gauen, welche die neuere Zeit gesehen hat.
Obgleich die Franzosen nicht als Feinde kamen, zogen sie doch wie ein Heu-
schreckenschwarm hindurch.
Es kam 1813! Was dieses Jahr der Provinz an Gut und Blut ge¬
kostet hat, weiß die Welt. Ostpreußen war reich an Ehre und Ruhm, aber
bettelarm geworden.
Der Frieden von 1813 brachte der Welt die lang entbehrte Ruhe und
damit die Möglichkeit, die Schäden der Kriegsjahre zu heilen. Anderwärts
geschah dies auch: Handel, Verkehr und Fabrikwesen entwickelten sich zu
nie dagewesener Blüthe und schufen Wohlstand und Reichthum. Wie aber
bei uns?
Der schmale Küstenstrich, der die Provinz Preußen bildet, mit seiner
dünnen, damals noch viel dünneren Bevölkerung, kann keinen bedeutenden
Binnenhandel unterhalten. Das Gebiet der Weichsel und des Riemens, das
ehemalige polnische Reich ist unser natürliches Hinterland, unsere Ostseehäfen
seine natürlichen Stapelplätze; Getreide, Hanf, Flachs. Leinsaat. Holz, Talg.
Häute und andere Rohproducte sind seine Ausfuhrartikel. Manufacturwaaren.
Häringe, Thee. Zucker. Oel seine Bedürfnisse. Unser Transithandel blühte,
so lange der Verkehr mit Polen und Litthauen nicht durch unnatürliche
Schranken gehemmt wurde. Was geschah aber nachdem diese Länder 1815
in den Besitz Rußlands, unsers Verbündeten und Nachbarn übergegangen
waren? — desselben Freundes, der uns schon während des 7jährigen Krieges
annectirt hatte; der uns im Winter 1812 zum zweitenmale annectirt haben
würde, wenn nicht der hochverdiente damalige Präsident v. Schön mit einem
allgemeinen Aufstande gedroht hätte; der endlich, als seine Truppen das
wesentlich durch die preußische Landwehr wiedergewonnene Danzig verlassen
mußten, wenigstens die Kanonen von den Wällen mitnehmen wollte!
Der Vertrag vom 3, Mai 181S setzte in seinem Artikel 28 fest, daß zur
Beförderung des Kunstfleißes und der Wohlfahrt der Einwohner „für immer
die unbeschränkteste Circulation aller Natur- und Kunsterzeugnisse aller Pro¬
vinzen des vormaligen Polens (von 1772) in diesen nämlichen Provinzen"
erlaubt sei. Binnen 6 Monaten sollte ein Tarif der Ein- und Ausgangs¬
zolle für Natur- und Fabrikerzeugnisse festgesetzt werden und es sollten diese
Zölle „10°/o des Werthes der Waare am Orte der Versendung nicht über¬
steigen". Obgleich Kaiser Alexander für die Ausführung dieses Vertrages
noch besonders „sein kaiserliches Wort für sich und seine Nachfolger" ver¬
pfändete, kam es dazu doch nicht, weil die russische Regierung es bedenklich
fand, für die ehemals polnischen Landestheile besondere Zoll- und Handels¬
bestimmungen zu erlassen. Statt dessen bot sie Preußen einen allgemeinen,
das ganze russische Reich umfassenden Handelsvertrag an. welcher auf libe¬
ralen Grundsätzen beruhte und der preußischen Industrie günstig war. Nach
längeren Verhandlungen kam er 1818 zu Stande. Nußland verpflichtete sich
ausdrücklich, „für ewige Zeiten" die Sätze des Tarifs nicht ohne Genehmigung
Preußens abzuändern. Aber kaum war der Vertrag in Kraft getreten, als
ein Ukas erschien, der ihn ganz einseitig für aufgehoben erklärte und das
Schutzzollsystem einführte, welches die Einfuhr preußischer Fabrikate nach
Rußland fast unmöglich machte. Es ist genugsam bekannt, daß Rußland an
diesem unheilvollen Systeme bis zur Stunde festhält, trotz endloser Unter¬
handlungen und Vorstellungen Seitens der preußischen Regierung, trotzdem,
daß nach und nach alle europäischen -Staaten auf die Bahn des Freihandels
eingelenkt sind und die Erfahrung über die Vorzüge desselben längst ent¬
schieden hat.
Seitdem haben wir statt des Handels den Schmuggel. Dort mitten
in Deutschland, wo die inneren Zollschranken seit einem Menschenalter ge¬
fallen sind, wo auch gegen das Ausland vernünftige und natürliche Handels¬
beziehungen immer mehr Platz greifen — dort weiß man wohl kaum mehr,
was der Schmuggel im Großen bedeutet. Wir hier an der Grenze wissen
es nur zu gut. Er bedeutet für die Unternehmer die Bestechung und den
Betrug statt des redlichen Erwerbes, das Hazardspiel an Stelleder gesunden
Speculation. Für die Werkzeuge bedeutet er die Gewöhnung an Gesetz¬
losigkeit, die Gleichgiltigkeit gegen Gewaltthat und Blutvergießen, den wilden
Wechsel zwischen Gefahr und Strapaze einerseits, Müßiggang und Völlerei
andererseits. Und zu diesen Werkzeugen gehören professionsmäßig viele,
gelegentlich die meisten Männer unserer Grenzdörfer — mache man
sich hiernach ein Bild von dem verwitternden Einflüsse des Schmuggels auf
die Bevölkerung unserer Grenzkreise! Den wenigen aber, die er bereichert,
gedeiht der Gewinn meist ebenso schlecht, wie das große Loos aus der Lotterie.
Was unser Handel sein könnte, davon haben uns die Jahre des Krim-
kriegs von neuem eine Vorstellung gegeben. Leider war diese Blüthezeit von
zu kurzer Dauer, um den Wohlstand unserer Handelsplätze nachhaltig zu heben.
Aber es wäre ungerecht, das Darniederliegen unsers Handels einzig und
allein auf das Verhalten Rußlands zu schieben; die Handelspolitik des Zoll'
Vereins trägt auch einen Theil der Schuld. Wir sind gewiß die Letzten, die
die große nationale Bedeutung des Zollvereins verkennen. Aber gesagt muß
es werden, daß in materieller Hinficht unsere Provinz demselben keine Vor¬
theile dankt, sondern Opfer gebracht hat. Von dem erweiterten Absatzgebiete
konnte sie ihrer Lage und Entfernung wegen und bei der mangelhaften Com-
munication mit dem westlichen Deutschland keinen Nutzen ziehen. Dagegen
leidet sie bis auf den heutigen Tag.unter den hohen Eisenzöllen, welche der
Eisen- und Kohlenindustrie Westphalens und Rheinlands zu Statten kommen.
Wir sind darauf angewiesen, das Eisen, dessen wir zum Schiffbau, zur
Fabrikation landwirtschaftlicher Maschinen und andern Zwecken bedürfen,
mittelst des wohlfeilen Seetransports aus Schweden und England zu be-
ziehen. Die Vertheuerung des ausländischen Eisens durch den Zoll kann
man mindestens auf 20 Sgr. für den Centner veranschlagen. Der durch¬
schnittliche Bedarf an Eisen wird im preußischen Staate auf 58 Pfund pro
Kopf und Jahr angenommen. Rechnen wir auf Ost- und Westpreußen V, Ctr..
so gibt dies bei 3 Mill. Einwohnereine Million Thlr., die die Provinz
jährlich an die Eisen- und Kohlendistricte des Zollvereins zahlt!
Fabriken können überhaupt schwer gedeihen, wo Capitalsarmuth,
dünne Bevölkerung und unsicherer Absatz zusammentreffen. Nichtsdestoweniger
hatten wir in der Provinz sieben bedeutende Zuckerraffinerieen, welche die
Provinz und, wenn auch nur durch Schmuggel, einen Theil Polens ver¬
sorgten. Allein in Königsberg gaben drei derselben 400 Arbeiterfamilien aus¬
kömmliches Brod, vielen Gewerbtreibenden erwünschten Nebenverdienst und
60—70 Schiffe mit Rohzucker, fast ebensoviele mit Steinkohlen liefen alljähr¬
lich ein, um sie mit Material zu versorgen. Diese Fabriken arbeiteten
natürlich mit westindischen Rohrzucker; denn die Runkelrübe gedeiht bei
unserem Klima nicht mehr. Da kam die schutzzöllnerische Handelspolitik des
Zollvereins. Um die Rübenzuckerindustrie in Sachsen, Anhalt u. s. w. zu
begünstigen, wurden die Zölle auf ausländischen Rohzucker erhöht und damit
unseren Fabriken die Concurrenz unmöglich gemacht; sie sind zu Grunde ge¬
gangen.
Erwägt man außerdem, daß wenigstens der frühere Zollvereinstarif fast
von allen Transitgütern Durchgangs- und von den wichtigsten russischen Pro-
ducten Eingangszölle erhob, so wird man zugeben müssen, daß die Provinz
Preußen sich das Stiefkind des Zollvereins nennen darf.
Vom Bergbau, der Schlesien. Westphalen, Rheinland reich machen
hilft, ist bei uns überhaupt kaum die Rede. Wir haben nur ein einziges
Naturproduct, das dessen würdig wäre: den Bernstein, und dieser ist
Regal. Bis vor wenigen Jahren war das Regal an Einzelne verpachtet
und brachte diesen Vortheil, den Bewohnern des Seestrandes durch die aus¬
geübte scharfe Controlle nur Belästigung. Gegenwärtig ist die Bernstein¬
gewinnung gegen eine mäßige Pacht an die Grundeigenthümer längs der
Küste ausgethan und zwei unternehmende Memler Kaufleute betreiben, natür¬
lich ebenfalls gegen eine Abgabe, eine ergiebige Baggerung auf Bernstein
im kurischen Haff. Die Benutzung desselben ist also im Zunehmen. Indessen
ist die wissenschaftliche Erforschung der bernsteinführenden Schichten und die
Anregung zu ihrer regelrechten bergmännischen Ausbeutung doch erst in aller-
jüngster Zeit von einer Privatgesellschaft, der physikalisch-ökonomischen zu
Königsberg, ausgegangen. Die Bergämter hatten mit wichtigeren und näher
liegenden Dingen in andern Provinzen so viel zu thun, daß auch in dieser
Beziehung Preußen zu kurz kam.
Man sollte nun wenigstens glauben, der Staat würde der schwer durch
die politischen Ereignisse geschädigten und verarmten, von der Natur wenig
begünstigten Provinz eine Entschädigung dadurch gewährt haben, daß er
durch Kunststraßen und Canäle den inneren Verkehr und durch frühzeitige
Anlage einer Eisenbahn die Verbindung mit dem Westen erleichterte. Sehen
wir zu, was davon geschehen ist!
Während in den meisten Gegenden unserer Provinz des tief aufweichen¬
den Lehmbodens wegen alljährlich mehrere Monate lang die Wege kaum
passirbar sind, hatten wir bis 1830 noch keine einzige Chaussee. Doch nein,
ich will«nichts verschweigen! In den zwanziger Jahren kam der Feldmar¬
schall Fürst Wrede als bairischer außerordentlicher Gesandter von Petersburg
zurück und wurde kaum eine halbe Meile vor dem Thore Königsbergs mit
seiner Karosse dermaßen um und in den tiefsten Schmutz geworfen, daß er
sich in keineswegs courfähigem Zustande befand. In seinem gerechten Zorn
ging er direct aufs Schloß zum Oberpräsidenten v. Schön und stellte diesen
mit soldatischer Derbheit über den Zustand der Landstraße zu Rede. Darauf
wurde wirklich eine Chaussee gebaut — eine halbe Meile lang, bis über das
Loch hinaus, in welchem der Feldmarschall gelegen hatte! Erst in den drei¬
ßiger Jahren führte die Nothwendigkeit einer sichern und regelmäßigen Ver¬
bindung zwischen Berlin und Petersburg zum Bau der Staatschaussee bis
an die russische Grenze bei Tauroggen. Sie blieb wieder Jahre lang die
einzige; sehr allmählich kamen ein paar, die Provinz in querer Richtung
durchschneidende Kunststraßen hinzu. In den vierziger Jahren endlich hatte
sich.so viel Capital in der Provinz angesammelt, daß die Kreise anfangen
konnten, ihrerseits mit Hilfe der Staatsprämien Chausseen anzulegen; eigent¬
lich aber datirt der Entwurf und Ausbau eines förmlichen Chausseebaunetzes
erst aus der Zeit, wo die Eröffnung».der Ostbahn in naher Aussicht stand,
also vom Anfange des vorigen Jahrzehnts. Und noch gegenwärtig stehen
wir hinsichtlich des Reichthums an Kunststraßen relativ hinter andern Pro¬
vinzen weit zurück. Es kommen auf je 10 in Meilen in:
Aber das ist nur der Durchschnitt; die entlegneren Kreise bleiben
weit hinter demselben zurück. In Masuren gibt es noch jetzt einen 17V-
lH Meilen großen Kreis, der nur 1'/- Meilen Chaussee hat. Viele Bewohner
der Grenzkreise haben noch gegenwärtig 8—10, manche 13 und mehr Meilen
zum Theil unchaussirten Weges zurückzulegen, ehe sie ihren Absatzort oder
die nächste Eisenbahnstation erreichen.
Noch schlimmer ist es uns mit der Eisenbahnverbindung gegangen,
und doch ist gerade diese in neuerer Zeit entscheidend für die Wege, die
der Handel einschlägt. Die ersten Eisenbahnen im preußischen Staate wurden
1838 eröffnet. 1852 besaß derselbe schon 594 Meilen Schienenwege sertig
im Betriebe — aber noch keine einzige in unserer Provinz! Erst 1853
streckte die Ostbahn ihren eisernen Arm bis Königsberg aus; doch wurde sie
für den Güterverkehr im Großen eigentlich erst 5 Jahre später nutzbar, nach¬
dem die festen Brücken über die Weichsel und Nogat eröffnet worden waren,
und das Jahr 1860 kam heran, bevor sie bis zur russischen Grenze verlängert
wurde. —
Ebenso hatten wir bis auf die jüngste Zeit herab nur einen Kanal,
den etwa 3 Meilen langen Friedrichsgraben, der zur Umgehung des kurischen
Haffs bestimmt ist. Der nördliche Theil dieses gefährlichen Gewässers muß
noch immer von den den Riemen herabkommenden und nach Memel bestimm¬
ten Holzstößen passirt werden; alljährlich werden mehrere derselben durch
Stürme zerschlagen Und zerstreut und dem Holzhandel jener Stadt — ihrer
hauptsächlichsten Erwerbsquelle — empfindlicher Schaden zugefügt. Jetzt
endlich ist zur Abhilfe dieses Uebelstandes der Wilhelmskanal bei Memel in
der Anlage begriffen. Wir besitzen ferner seit einigen Jahren ein Meister¬
werk der Wasserbaukunst in dem oberländischen Kanal, der die Seen des
holzreichen Oberlandes mit Elbing verbindet. Auch an der Verbesserung der
bis dahin höchst mangelhaften Haseneinrichtungen von Pillau und Memel
wird neuerdings mit Eifer gearbeitet. So bereitwillig ich also auch aner¬
kenne, daß in Bezug auf Verbesserung und Vermehrung der Wasserstraßen
in der letzten Zeit Dankenswerthes geleistet worden ist, so sind doch eben
alle diese Verbesserungen noch so jungen Datums, daß ihr heilsamer Einfluß
sich noch kaum hat fühlbar machen können.
Viel länger und in viel größerem Maße haben wir die Gewässer als
Steine des Anstoßes und Hindernisse des Verkehrs zu ertragen gehabt,
ja wir müssen dies noch. Bis zur Vollendung der Brücken bei Dirschau
und Marienburg war mindestens in jedem Herbste, ehe das Eis sich stellte,
und im Frühling, wenn es aufging, der Traject über die Ströme für Per¬
sonen Tage lang, sür Waaren noch viel länger mit Lebensgefahr verknüpft
oder ganz unmöglich. Oft genug aber führte eine Periode von Thauwetter
mitten im Winter und das Hochwasser des Sommers noch ein drittes und
viertes Mal im Jahr ähnliche Zustände herbei. Und an der Memel bestehen
diese noch gegenwärtig, womöglich in noch höherem Grade, sodaß die Be¬
wohner des nördlichsten Zipfels unserer Provinz unberechenbar oft und un¬
berechenbar lange vom Verkehr mit dem übrigen Staate völlig abgeschnitten
sind. Die Stadt Tapiau und ihre stark bevölkerte Umgegend hatte früher
eine bequeme PostVerbindung mit Königsberg auf dem nördlichen Pregelufer.
Diese ist seit Eröffnung der Ostbahn eingegangen. Aber die Bahn läuft auf
dem südlichen Ufer, und zum Bau einer Brücke, die auf ganze 100,000 Thlr.
veranschlagt ist, haben sich immer die Mittel noch nicht gefunden. So oft
daher der Betrieb der Fähre durch Eis oder Hochwasser unterbrochen wird,
mag Tapiau und Umgegend zusehen, wie es auf die Bahn kommt.
Das also sind die materiellen Schwierigkeiten, mit denen Handel und
Industrie Ostpreußens zu kämpfen gehabt haben und denen es wenigstens
zum größten Theile zuzuschreiben ist, daß unsere Provinz noch bis auf den
heutigen Tag eine so überwiegend ackerbauende geblieben ist.
Und die Landwirthschaft selbst? Gewährt sie uns wenigstens einen
Ersatz für das Darniederliegen anderer Erwerbszweige? Hat sie in ihrer
Entwicklung gleichen Schritt gehalten mit den übrigen Provinzen? Auch
auf diesem Gebiete ist unsere Lage von Haus aus ungünstiger. Viele edle
Gewächse, die einen hohen Ertrag geben (Wein, Obst, Hopfen, Taback, Zucker¬
rüben) eignen sich des Klimas wegen zum Anbau im Großen nicht mehr.
Andere, wie Klee und Oelfrucht, werden zwar noch gebaut, aber ihre Erträge
sind unsicher. Unser Winter ist schon gegen Berlin um 3—4 Wochen, gegen
den Mittelrhein wohl um 6—8 Wochen länger. Die Folge davon ist, daß
der Landmann um soviel mehr Winterfutter für sein Vieh bereit halten muß,
daß er um soviel mehr Arbeitskräfte an Menschen, Pferden oder Maschinen
braucht, um während des kurzen Sommers die sich drängenden Arbeiten zu
bewältigen. Die Bevölkerung ist dünn, fremde Arbeiter daher in der meist
sehr kurzen Erntezeit sehr gesucht. Wer deren braucht, muß unverhältnis¬
mäßig hohen Tagelohn zahlen. Schon diese Umstände erklären wohl hin¬
länglich, warum der Reinertrag trotz unsers guten Bodens und günstigen
Wiesenverhältnisses bei uns durchschnittlich niedriger ausfällt, als in allen
andern Provinzen. Bei Regulirung der Grundsteuer wurde der Reinertrag
des Morgens im Durchschnitt aller Benutzungsarten veranschlagt in:
Hierzu kommt endlich noch der erschwerte Absatz, dessen Ursachen schon
erörtert worden sind. Noch heute muß die Hälfte der Provinz die Trans¬
portkosten für Getreide bis Königsberg auf 6—12 Sgr. pro Scheffel veran¬
schlagen— oft doppelt soviel, als der Transport von Königsberg nach Eng¬
land kostet! Aber das ist die günstigere Gegenwart. Vor 10—20 Jahren,
wo man vom Herbst bis zum Frühjahr nicht mehr als 20 Scheffel auf einen
vierspännigen Wagen laden und nicht mehr als 4—3 Meilen täglich zurück¬
legen konnte, war es ganz selbstverständlich, daß-die Getreidefuhren 3, 4 und
mehr Tage bis zu ihrer Heimkehr bedurften und daher die Kosten sich weit
höher beliefen, ganz abgesehen von dem Verluste durch zerbrochene Wagen,
zerrissene Geschirre oder erkrankte Pferde und von der langen Entbehrung
der Arbeitskräfte. Dies vorausgeschickt, lassen Sie mich einen raschen Blick
auf die Lage unserer ländlichen Besitzer während der letzten Jahrzehnte werfen.
Kaum waren die Verwüstungen der Kriegszeit an Gebäuden, Aeckern und
Viehstand einigermaßen ausgeglichen, so trat zu Anfang der zwanziger Jahre
auf den ausländischen Märkten ein gänzlicher Mangel an Nachfrage nach
Getreide ein. England, Holland, Frankreich — alle unsere Kunden hatten
mehrere Jahre hindurch so ungewöhnlich ergiebige Ernten, daß sie ihren Be¬
darf selber deckten. In Folge dessen sanken die Preise in einer bis dahin
unerhörten Weise: der Scheffel Roggen galt 10 Sgr., der Scheffel Weizen
12—15 Sgr. und selbst zu diesen Preisen wollten die königsberg^r Kaufleute
kaum noch kaufen, da ihre Speicher überfüllt waren. Die Gutsbesitzer brachten
kaum die Wirthschaftskosten heraus, die meisten, noch stark verschuldet, konnten
die Zinsen nicht erschwingen, Subhastationen waren an der Tagesordnung, die
Güter wurden zu wahren Spottpreisen verkauft, viele Hypothekengläubiger
fielen mit ihren Forderungen aus, viele Besitzer mußten Haus und Hof verlassen
und versanken in die tiefste Dürftigkeit. Nur diejenigen, die selbst oder deren
Eltern diese Krisis überdauert haben, und die, welche erst in oder bald nach
derselben ihre Güter gekauft, stehen heutzutage fest in ihren Schuhen. Denn
nach einigen Jahren wurde der Markt für Getreide günstiger, Schafzucht
und Rapsbau fingen an sich auszubreiten, die ersten Chausseen wurden an¬
gelegt, Credit und Kaufpreis der Güter stieg, zuerst langsam und mäßig —
dann schwindelhaft. Besonders seit den fünfziger Jahren wurden große und
kleine Besitzungen förmlich zur Handelswaare. Eine Schaar von Güter-
agenten wuchs gleich Giftpilzen aus dem Boden und vermittelte die Geschäfte.
Fremde Käufer, namentlich aus Mecklenburg, kamen ins Land, darunter
solide, mit Capital und Wirthschaftskenntniß ausgerüstet — ihnen allen geht
es gut und sie werden auch fast ausnahmslos die gegenwärtige Krisis über¬
stehen — aber auch Abenteurer und Unerfahrene genug. Jene kauften
besonders gern Güter mit Waldbesitz, machten sofort das Holz zu Gelde,
den Waldboden zu Acker und verkauften dann das Gut zu noch höherem
Preise, um mit dem Erlös sogleich ein neues Geschäft gleicher Art zu begin¬
nen. Diese gingen, oft mit sehr geringem Capital, Gutskäufe ein zu so
hohen Preisen, als müßten die günstigen Conjuncturen ewig dauern und
als könnten gar keine andern Ernten mehr vorkommen, als gute. Beiden
Kategorien ist nicht zu helfen — sie werden die Folgen ihres Leicht¬
sinns oder ihrer Schwindelei zu tragen haben! Das Unglück ist nur, daß,
wie so häufig, der Unschuldige mit dem Schuldigen leiden muß: der Credit
unserer Landwirthe ist zur Zeit völlig ruinirt! Einer unserer leitenden
Staatsmänner hat kürzlich gesagt: man möge doch nicht den Credit der Pro¬
vinz durch übertriebene Schilderungen des Nothstandes gefährden. Ich möchte
wissen, was an einer Sache zu gefährden ist, die eigentlich gar nicht mehr existirt!
Selbst Hypothekendocumente, die auf größeren, wohl bewirthschafteten Gütern
zu sicherer Stelle eingetragen sind, kann man nicht ohne 20 Proc, Verlust
versilbern. Der Bauer aber, auch der solideste, dem ein Capital gekündigt
worden ist, oder der zum Betriebe seiner Wirthschaft unumgänglich nöthig
baares Geld braucht, bekommt es unter keinerlei Bedingungen mehr. Im
Januar waren allein im stallupöner Kreise 170 Subhastationen bäuerlicher
Grundstücke im Gange, im gumbinner und insterburger je 70—80; und deren
Besitzer waren keine Schwindler, sondern größtentheils ordentliche Leute, die
bis vor ein paar Jahren noch für wohlhabend, für echte Repräsentanten des
tüchtigen, ehrenhaften deutschen Bauernstandes gelten konnten. Solche That¬
sachen reden laut genug; dagegen helfen keine Bemäntelungen!
Man würde also sehr irren, wenn man die Noth Ostpreußens auf die
Losleute, auf die besitzlosen Classen beschränkt glaubte. Diese hungern aller¬
dings und sie würden noch weit schlimmer haben hungern müssen, wenn
nicht die thätige Menschenliebe unserer deutschen Brüder uns in solchem
Umfange zu Hilfe gekommen wäre. Die Besitzer aber, von denen doch schlie߬
lich auf die Dauer die Existenz der Besitzlosen abhängt, sind großentheils
schon jetzt zu Grunde gerichtet. Bei Eigenkäthnern und Bauern, Leuten, die
sonst wenigstens reichlich satt zu essen hatten, ist ebenfalls der bitterste Man¬
gel eingezogen; bei den größeren Besitzern werden Subhastationen und Ban¬
kerotte in erschreckender Zahl nachkommen. Die übrigen, die sich halten,
werden Jahre brauchen, ehe die Verluste der letzten Zeit wieder ausgeglichen
sind. — Nun bedenken Sie, welche überwiegende Wichtigkeit die Landwirth¬
schaft für unsere Provinz hat! Die Hälfte der ganzen Bevölkerung lebt
unmittelbar von ihr, ein guter Theil der andern Hälfte, z. B. die Hand¬
werker und Krämer der kleinen Städte und ländlichen Ortschaften wenigstens
mittelbar., So ist denn das Gedeihen des Landmanns in viel
höherem Grade eine Lebensfrage für die Gesammtheit, seine
Calamität ein viel allgemeineres Unglück, als in einer ande¬
ren Provinz mit einer stärkeren, selbständigeren Städtebe¬
völkerung und mit vielfältigeren Erwerbsquellen. Und wenn Sie
.sich erinnern, daß die gegenwärtige Krisis nun schon die dritte in unserm
Jahrhundert ist; wenn Sie dazu noch die dauernden Hemmnisse erwägen,
welche den Aufschwung unseres Wohlstandes erschweren, so werden Sie es,
wie ich glaube, vollkommen begreiflich finden, wie die Provinz in ihrer gan¬
zen wirthschaftlichen Entwicklung so weit hinter den andern Landestheilen
hat zurückbleiben können.
Lassen Sie mich zuletzt nur noch einige Zahlen anführen, welche diese
zurückgebliebene Entwicklung thatsächlich belegen werden.
Die Provinz Preußen hat auf mehr als 3 Millionen Einwohner nur 3
Städte mit einer Bevölkerung von über 20,000 Seelen: Königsberg, Elbing
und Danzig. In ihnen hat sich im Vergleiche mit andern Städten der älteren
Landestheile die Bevölkerung von 1816 bis 1864 folgendermaßen entwickelt:
Sieht man also auch ganz ab von den zuletzt genannten Fabrikstädten
der Eisen- und Kohlenbezirke, so sind doch fast-alle andern größeren Städte
unsers Staats doppelt und dreifach so schnell gewachsen, als die unserer
Provinz. Ja, das Wachsthum der letzteren ist überhaupt erst in der aller-
jüngsten Zeit ein stetiges und lebhafteres geworden, während es früher stets
mit Perioden des Stillstands und sogar des Rückgangs abwechselte. So
z. B. hatte Königsberg
dann bis 1846 langsame Zunahme, bis 1849 wieder Abnahme, sodaß von
1823—49 sich nur eine Steigerung um 10 Proz. ergibt. Erst von 1852, dem
Jahre vor Eröffnung der Ostbahn, beginnt ein rascherer Aufschwung. Danzig
und Elbing zeigen ganz ähnliche Verhältnisse. Ist dem schon so bei den
größten, am günstigsten gelegenen Brennpunkten des Verkehrs, dem Sitze der
Behörden, so kann man sich denken, wie viel traurigere Ziffern die kleine¬
ren Städte der Provinz darbieten.
Die Sparkasseneinlagen beliefen sich 1864
Die Feuervcrsicherungsbeträge pr. Kopf der Bevölkerung beliefensich 1
nur in Posen und ausfallender Weise auch in Schlesien standen sie noch
etwas niedriger.
Die stärkere oder geringere Benutzung dieser beiden Kategorien wirth¬
schaftlicher Anstalten seitens einer Bevölkerung mag keinen absolut richtigen
Maßstab für den Wohlstand derselben gewähren. Aber insofern gerade auch
solche Factoren den gesammten wirthschaftlichen Zustand der Bevölkerung
mit bedingen, scheinen mir jene Angaben durchaus bezeichnend für die ma¬
terielle Lage der Provinz zu sein.
Es würde aber sehr einseitig sein, wollte man nicht bei dieser Gelegen¬
heit ausdrücklich hervorheben, daß wir auch in einem geistigen und mora¬
lischen Nothstand e leben, welcher den materiellen wesentlich verschlimmert.
Die große Masse'der Bevölkerung ist bei uns roh, sehr roh, sodaß
es für den Gebildeten eine wahre Erholung ist, einmal mit schlesischen, säch¬
sischen oder rheinischen Arbeitern zu thun zu haben. Woher kommt das?
Warum strahlt so wenig von dem geistigen Inhalte der notorisch hochgebil¬
deten höheren Stände auf die übrigen aus?
Erstens stehen Nationalität und Sprache hinderlich im Wege. Man
vergißt leicht, daß wir in unserer Bevölkerung eine ganz erhebliche Bei¬
mischung nichtdeutscher (litthauischer und masurischer) Elemente haben, weil
dieselben in der Geschichte keine hervortretende Rolle gespielt haben, weil sie
auch selbst in dieser Zeit der neuentdeckten edlen Nationalitäten noch keinen
„Schmerzensschrei" haben hören lassen. Der Litthauer und Masure hat in
der That gar kein anderes nationales Bewußtsein, als daß er unter der
schwarzweißen Cocarde dem Könige von Preußen gedient hat. Und der
masurische Bauer bewahrt noch die dunkle Erinnerung an die polnische Leib¬
eigenschaft und weiß, daß seine Vorfahren in Preußens großer Verjüngungs¬
periode „die Hufe" vom Könige zu eigen bekommen haben. Deshalb hegt
er, so weit er protestantisch ist, gegen den Polen Mißtrauen und Abneigung.
Ja, vor den Wahlen von 1849 und wieder 1866 wurde von reactionären
Werkzeugen das Märchen verbreitet, die Demokraten wollten Masuren wieder
polnisch machen. So plump die Lüge war, sie fand Glauben und genügte,
viele Bauern ins Lager der Reaction zu treiben. Gelag, diese beiden nicht
deutschen Stämme, welche in manchen Grenzkreisen noch die Mehrzahl bilden
und deren Germanisirung nur langsam vorrückt, sind ein Hemmschuh für den
Fortschritt der Cultur. Woher sollte ihnen diese auch kommen? Der Gebil¬
dete spricht und ist Deutsch. Ihr ganzer Bücherschatz beschränkt sich auf
Bibel, Gesangbuch und einige, meist aus älterer Zeit stammende, streng
orthodoxe Erbauungsbücher; dazu den lithauischen .Aeleinis" (d. h. Wan¬
derer), ein Wochenblatt voll Aberglauben und Fanatismus, das die Auf¬
klärung und Demokratie als die Wurzel alles Uebels darzustellen liebt. Die
liberale Partei hat den Versuch nicht unterlassen, in verständig redigirten
Wochenblättern den Litthauern und Masuren frische geistige Nahrung dar¬
zubieten. Aber unsere traurigen Preßverhältnisse haben diese Versuche erstickt,
ehe sich noch bei jenen Stämmen die Gewohnheit des Lesens recht befestigen
konnte. Und wie in geistiger Beziehung, so ist es auch in moralischer
gar übel mit ihnen bestellt. Auf den bösen Einfluß des Schleichhandels ist
schon hingewiesen worden. Das rauhe Klima und die harte Feldarbeit be¬
günstigen serner den Trunk und mit ihm Zank, Schlägereien, Familien-
zerwürsnisse, Verwahrlosung der Kinder. Die Begriffe von Ehre, Pflicht
und Gesetz stehen noch auf der niedersten Stufe: Holzdiebstahl gilt kaum als
Diebstahl, Unkeuschheit ist bei der ärmeren Classe kaum mehr ein Tadel. Aber
auch in den Theilen der Provinz, wo Masuren und Litthauer gar nicht oder
nur als vereinzelte germanisirte Einwanderer vorhanden sind, ist eine Kluft
zwischen den gebildeten und ungebildeten Classen, als wohnten zwei ver¬
schiedene Volksstämme auf derselben Scholle. Der gemeine Mann spricht platt¬
deutsch, die Gebildeten hochdeutsch. Jener ermangelt des natürlichen An-
standes, der gefälligen Sitte, die den Verkehr mit jedem gewöhnlichen Arbeiter
im westlichen Deutschland leicht und angenehm machen: er ist entweder unter¬
würfig oder grob. Die nordische Abgeschlossenheit der höheren Stände thut
das Uebrige die chinesische Mauer ist fertig! In den größeren Städten
hat das Vereinswesen der neuesten Zeit angefangen, eine Bresche in dieselbe
zu legen, die verschiedenen Schichten der Gesellschaft einander zu nähern und
die schroffen Abstände in Bildung und Sitte einigermaßen auszugleichen.
Aber Sie wissen, mit welchen Hindernissen diese Bestrebungen zu kämpfen
haben, und auf dem Lande werden sie schon allein durch die weiten Ent¬
fernungen und schlechten Wege fast völlig vereitelt. Die landwirtschaftlichen
Vereine, deren es fast in allen Kreisen einen oder mehrere gibt, wirken aller¬
dings segensreich; aber sie greifen nicht tiefer hinab, als bis zu den bäuer¬
lichen Besitzern; der Jnstmann, der Losmann, der gerade der Cultur am
dringendsten bedürfte, steht außerhalb ihrer Sphäre. Eine Landgemeinde¬
ordnung, die natürlichste Bildungsschule für den Landmann
aller Classen, haben wir ja nicht und werden sie auch wohl so bald
noch nicht bekommen!
Auch die Wirksamkeit der Presse ist noch immer eine äußerst untergeord¬
nete. Hat auch bei dem Handwerker und Bauern das Bedürfniß, eine Zei¬
tung zu lesen, seit 1848 merklich zugenommen, so lesen doch auch diese Leute
noch völlig ohne Nachdenken und Urtheil, ja kaum mit einigem Verständniß,
sobald der Gegenstand über die alltäglichsten und nächstliegenden Interessen
hinausgeht. Der Arbeiter aber liest überhaupt noch nicht — schon deswegen,
weil er großenteils nicht mehr lesen kann!
Es ist eine traurige Thatsache, daß unsere Provinz nebst Posen hinsicht¬
lich des Schulunterrichts hinter allen übrigen alten und neuen Provinzen
des Staats weit zurücksteht. Von 1000 in den letzten Jahren eingestellten
Rekruten waren ohne alle Schulbildung: in den Regierungsbezirken Königs¬
berg und Gumbinnen 101 Mann, in dem von Marienwerder 151 und im
R. Danzig gar 162, durchschnittlich etwa 130! Aehnlich stehen nur noch Brom-
berg mit 144 uKd Posen mit 133 auf 1000, während selbst Oppeln, das
doch auch eine starke Quote polnisch redender Bevölkerung enthält, nur 75
auf 1000 ohne Schulbildung gestellt hat — zum deutlichen Beweise, daß es
nicht allein an der Sprachvcrschiedenheit liegt. Wenn wir uns auch nicht
mit dem alten Culturlande Sachsen oder mit Berlin, dem Hauptsitze der
Intelligenz vergleichen wollen, die beide nur 2 Mann auf 1000 ohne Schul¬
kenntnisse aufzuweisen haben, so ist doch selbst die Mittelzahl der übrigen
alten Provinzen 8—9. Wie tief stehen Preußen und Posen darunter!
Und man könnte sich noch darüber trösten, wenn jene schlimme Zahl
wenigstens gegen früher einen Fortschritt bedeutete. Aber nein — wir sind
in den Resultaten der Schulbildung des gemeinen Mannes zurückgegan¬
gen! Als vor wenigen Jahren bei Anlage der Tilsit-Jnsterburger Eisenbahn
Verhandlungen über die Grundentschädigung mit einer Menge von kleinen
Besitzern gepflogen werden mußten, fand sich, daß die älteren Männer,
welche ihre Schulbildung vor 40—50 Jahren erhalten hatten, noch fast
alle lesen und schreiben konnten, von den jüngeren nur die Minderzahl! —
Ein Umstand, der zu diesem Rückschritte beigetragen haben mag, obwohl
er an sich mit einem Culturfortschritte zusammenhängt, ist das Halten
der sogenannten „Hütejungen". Früher, als noch jede Dorfschaft eine ge¬
meinschaftliche Weide hatte, hielt sie auch nur einen Gemeindehirten. Jetzt
nach durchgeführter Theilung muß jeder kleine. Besitzer sein Vieh auf seinem
Stückchen Weide besonders hüten lassen und verwendet dazu natürlich gern
die billigste Kraft, d.h. ein Kind im schulpflichtigen Alter. Die Schulstrafen
weiß er zu umgehen oder er bezahlt sie auch und kommt trotzdem noch billiger
fort. Unzweifelhaft werden auch auf vielen größeren Gütern Kinder, die
noch in die Schule gehörten, schon zu wirthschaftlichen Arbeiten verwandt,
nicht nur während der Erntezeit, wo ja durch lange Ferien auf diese Noth¬
wendigkeit Rücksicht genommen ist, sondern auch außerhalb derselben. -Da
hier der Gutsherr als Ortspolizei die Schulstrasen festzusetzen hat und der
Lehrer außerdem sehr von seinem Wohlwollen abhängt, so kann man sich
denken, wie dabei die gesetzlichen Bestimmungen gehandhabt werden. Hat ja
doch neuerdings einer unserer Pairs in dem Commissionsberichte über das
neue Volksschulgesetz die Kinder geradezu als ein wirthschaftliches Capital
bezeichnet, das die Eltern möglichst vortheilhaft auszunutzen suchen müßten;
das sei richtige Nationalökonomie! Die Amerikaner freilich, die doch auch
etwas von Nationalökonomie verstehen, denken anders. Sie glauben jenes
„Capital" zu verdoppeln, wenn sie zunächst dafür sorgen, daß die Kinder
möglichst viel lernen. Deshalb ist bei ihnen der Volksunterricht kostenfrei
und wird dennoch eifrig benutzt ohne Schulstrafen.
Indessen solche Versäumniß trifft doch nur Einzelne. Aber unsere
ganze Volksschule ist krank. Und wie könnte es an-ders sein bei dem
geistigen und materiellen Drucke, der auf den Lehrern lastet? Halb klösterlich
erzogen, von der Geistlichkeit bevormundet, von den Behörden ängstlich über¬
wacht, dabei mit einem Einkommen, welches sie kaum vor dem Hunger
schützt — ist es unter solchen Verhältnissen ein Wunder, wenn sich die fähigen
Köpfe mehr und mehr von dieser dornenvollen Laufbahn abwenden, ja wenn
die Negierung nach eigenem Mngeständniß überhaupt nicht mehr Candidaten
genug für alle Stellen findet, sondern diese zum Theil durch Präparanden
— selbst noch halbe Knaben — verwalten lassen muß? Und endlich der Geist
des Unterrichts selbst! Einst hatten wir an der Spitze unsers Volksschul¬
wesens einen Dinter, jetzt haben wir — die Regulative. Damit ist
Alles gesagt!
Noch vieles, Herr Redakteur, hätte ich über dieses und andere Capitel
auf dem Herzen. Doch bin ich wohl schon zu lang geworden und überdies
hat das Preßgesetz uns Ostpreußen gelehrt, daß in vielen Stücken Reden
Silber ist, aber Schweigen Gold. Das bisher gesagte wird, meine ich, hin¬
länglich darthun, daß die Provinz Preußen schon lange krankte, ehe von
Nothstand die Rede war. Verkümmerte Entwicklung auf allen Gebieten,
auf einigen sogar Rückschritt; nothgedrungene Beschränkung auf eine Er¬
werbsquelle und dann Versagen derselben — das ist, kurz gefaßt, die
traurige Erklärung der Zustände, von deren Schilderung alle Tagesblätter
voll sind.
Werke der Barmherzigkeit hat man reichlich an uns gethan — Dank
allen freundlichen Gebern dafür! Aber unserer Noth ist nicht damit abge¬
holfen, daß man augenblicklich die Hungernden speistund die nackten kleidet.
Gründlich helfen kann uns nur der Staat; von ihm erwarten wir in Zu¬
kunft bessere Berücksichtigung unserer Interessen, raschere Entwicklung unserer
Kräfte. Wir bitten nicht um Gunst; Gerechtigkeit ists, die wir anrufen!
Es ist in Deutschland gewöhnlich, daß gemeinnützige Unternehmungen
erlauchte Förderer suchen. Wenn aber hier und in späteren Heften Bestre¬
bungen von hervorragender Bedeutung mit dem Namen einer deutschen Fürstin
verbunden werden, so hat dies seinen besondern Grund. Denn in Wahrheit
ist die Kronprinzessin für das obengenannte, wie für einige andere Institute
die erste Begründerin, und der thätige Antheil, welchen sie den betreffenden
Vereinen zuwendet, reicht weit über das Maß der vornehmen Gunst, welche
sonst volksthümlichen Bestrebungen zu Theil wird. Sie war es, welche die
Reise des Dr. Hermann Schwabe nach England und die Schrift desselben:
„Die Förderung der Kunst und Industrie in England" veranlaßte, und als
bei dem Erscheinen dieser Schrift die Agitation für Begründung eines
Gewerbemuseums in Berlin begann, hat sie wieder in eingehendster Weise
dem Unternehmen Freunde geworben, an dem Verein den wärmsten Theil
genommen, selbst mit schönem Eifer beigesteuert und Andere dazu veranlaßt.
Bevor aber mit der gebotenen Discretion in d. Bl. von ihrer Thätigkeit
und von der Bedeutung des neuen Instituts die Rede ist, soll in dieser
Nummer kurz der gegenwärtige Stand des Unternehmens dargelegt werden.
Seit die Grenzboten einen Aufsatz über die Broschüre von Dr. Schwabe
brachten, haben wir die ersten praktischen Resultate der Agitation gesehen;
sie hat festen Boden gewonnen, der größte Schritt vorwärts ist gethan. Denn
in diesem Augenblick ist das ersehnte Institut nicht mehr eine schöne Idee,
sondern ganz positive Wirklichkeit: das Museum als Sammlung wie als Lehr¬
anstalt ist der öffentlichen Benutzung übergeben, seine Schränke füllen sich
täglich mehr mit den für dasselbe erworbenen Objecten, seine Lehrclassen mit
Schülern; das gute Vertrauen Aller, welche zuerst den Gedanken dazu faßten
und die Initiative zu seiner Verwirklichung ergriffen, ist wenigstens nicht
gänzlich ungerechtfertigt geblieben.
Unter denen, welche am lebhaftesten für das Werk arbeiteten, nennen
wir: den Assessor Lehfeldt, den Maler Ewald, Dr. F. Jagor.(den Siam-
Reisenden). Das Bedürfniß erschien so einleuchtend, die Wichtigkeit
machte sich so fühlbar, daß der gute Gedanke Anklang finden mußte. Be¬
kannte und einflußreiche Persönlichkeiten, Industrielle, Techniker, Gelehrte
und Künstler Berlins fanden sich bald genug in dem gleichen Eifer zu¬
sammen, die Sache kräftigst zu fördern. Directe Einladungen und Auf¬
forderungen seitens der hohen Frau an Männer von Namen und Vermögen
im ganzen Lande, sich thätig zu erweisen zur Realisirung eines solchen Plans,
konnten nicht des Erfolgs entbehren. Staatsbeihilfe zu beantragen und damit
staatliche Einmischung und Reglementirung herbeizuziehen, enthielt man sich
zunächst mit Recht; man hoffte eine rein bürgerliche Schöpfung des Gemein¬
sinns durch die freiwillige Arbeit und Selbstbesteuerung auch bei uns ins Leben
rufen zu können, eine Hoffnung, welcher freilich der spätere Verlauf der Ent¬
wicklung nicht völlig entsprochen hat. Die Ereignisse des Jahres 1866 wur¬
den der Betheiligung des Capitals daran verhängnißvoll; und kaum be¬
gann dieselbe wieder etwas lebhafter zu werden, als sich die.durch die
luxemburger Affaire in die europäische Welt geworfene neue Unsicherheit und
Unruhe den Interessen des zu begründenden Instituts nicht weniger ge¬
fährlich erwies. Gegenwärtig aber thun wieder Geschäftsstockung, Noth¬
stand und theuere Zeit das ihrige, um das thätige Interesse der Besitzenden
an dem Institut zu lahmen. Im Verhältniß zu der Wichtigkeit des Zwecks
ist noch immer sehr viel zu thun.
Ein bedeutungsvolleres Zeitereigniß aber für die Förderung der ganzen
Sache hätte schwerlich eintreten können, als die pariser Weltausstellung des
letzten Jahres. Auf diesem ungeheuren Bazar aller Erzeugnisse der Gewerbe,
der Kunst und Kunstindustrie aller Völker der Erde, und nicht blos aus der
gegenwärtigen Periode ihres Schaffens, wurde eine Gelegenheit zum Sehen,
Prüfen und Sammeln geboten, wie vielleicht nie zuvor. Es ist bekannt,
wie derselbe auf allen jenen gewerblichen Gebieten, in welchen Bildung
des Geschmacks und Schönheitssinn, künstlerische Schulung des Geistes und
der Hand am unentbehrlichsten sind, und ihr Mangel sich am empfindlichsten
rächt, für unsere heimische, speciell unsere norddeutsche Industrie nicht gerade
zu den schmeichelhaftesten Ergebnissen führte; wie sogar die Mehrzahl der
europäischen Culturvölker in dem großen Wettkampf auf einzelnen von diesen
Gebieten gegen die Orientalen und -manche von uns als Halbwilde mit Ge¬
ringschätzung angesehene Volksstämme unbestreitbar unterliegen mußte. Wenn
die für jeden offenen Sinn unabweislich gewordene Selbsterkenntniß und
Einsicht in die Vorzüge der einen, in die Schwächen der andern, wenn die
ungeheuere Erweiterung des Gesichtsfeldes und der Anschauung des Ge¬
leisteten schon als ein großer und wichtiger Gewinnst dieser Weltausstellung
anzusehen ist, so wurde dieselbe für die Angelegenheit des Gewerbemuseums
dadurch nicht minder folgenreich,' daß sie eine so einzig kostbare Gelegenheit und
Möglichkeit bot, die besten, lehrreichsten Muster jeder Gattung gewerblicher Er¬
zeugnisse für die Sammlungen des zu begründenden Instituts zu gewinnen. Hier
griff der Staat auf Verwendung der Kronprinzeß in dankenswerther Weise mit
ein durch Bewilligung einer Summe von 13.000 Thalern zu Ankäufen solcher
Objecte für das Museum. Das ist gegen die colossalen Summen gehalten,
welche z. B. das Kensington-Museum zu gleichem Zweck auf der Ausstellung
verwendete, nicht viel. Jedenfalls aber konnte damit ein guter Grundstock
für die Sammlungen gewonnen werden. Tausch mit andern Ausstellern und
Regierungen, Schenkungen internationaler Höflichkeit und Freundschaft, und
wohl auch Erwerbungen von der königlichen Familie und Privaten haben diesen
Bestand noch in Paris bedeutend und systematisch zu vermehren geholfen.
Nicht ohne warme Anerkennung konnte man dort besonders die hingebende
unablässige Thätigkeit des bereits unter den ersten Begründern genannten
Dr. F. Jagor für die Interessen dieses werdenden Instituts sehen, der nicht
müde wurde, zu suchen, zu sichten, auszuwählen in allen Richtungen, Wege
des vortheilhaftesten Erwerbens zu finden und mit den eignen reichen Mitteln
zu kaufen, was nur irgend unserm Zweck dienstlich erschien.
Während man in Paris am Zusammenbringen mit so schönem Eifer
thätig war, arbeitete man daheim an der Consolidirung, der Organisation
und Gründung eines Hauses für das junge Institut.
Nach den am 1. Juli 1867 veröffentlichten „Satzungen" repräsentirt nun
das „Deutsche Gewerbemuseum zu Berlin" einen Verein, der den Zweck hat,
den Gewerbetreibenden die Mittel der Wissenschaft und Kunst zugänglich zu
machen und beides durch die Gründung einer öffentlichen Sammlung von
künstlerischen und technischen Mustern und Modellen und gleichzeitig durch
eine Unterrichtsanstalt zu erreichen strebt, in welcher Gelegenheit zur Er¬
werbung wissenschaftlicher und künstlerischer Fachbildung geboten wird, außer¬
dem aber Vorlesungen über künstlerische, gewerbliche und wissenschaftliche
Gegenstände veranstaltet werden. Die Kosten sollen in der Hauptsache durch
Ausgabe von Antheilsscheinen zu lOO THlr., auf den Namen des Einzcchlen-
den lautend, aufgebracht werden. Sobald 25,000 Thlr. gezeichnet sind, be¬
ginnt das Museum seine Thätigkeit. Außer durch solche Actienzeichnung
erwirbt die Mitgliedschaft sich noch durch regelmäßigen Jahresbeitrag von
6 Thlr. Die Verwaltung des Instituts wird durch einen von der General¬
versammlung auf 3 Jahre gewählten Vorstand von Is Mitgliedern, deren
11 ihren Wohnsitz in Berlin haben sollen, geführt. Die Anordnung von
Zweiganstalten und Wanderausstellungen durch den Vorstand ist in Aussicht
genommen. Ordentliche Generalversammlungen finden alljährlich im April
statt. Außerordentliche kann der Vorstand jederzeit berufen. Zur Controle
der Cassenverwaltung wählt die ordentliche Generalversammlung einen Prü¬
fungsausschuß, welcher nach Ablauf des Verwaltungsjahres den Bericht über
die Cassenführung zu geben und den Antrag aus Entlassung des Vorstandes
zu stellen hat. Der erste regelrechte Vorstand, welcher diese Satzungen unter¬
zeichnet hat, bestand aus den Herren Bundeskanzleipräsidenten von Delbrück,
von Hennig, Assessor Lehfeldt, Director Reuleau, Dr- Schwabe, Bildhauer
Süßmann, Heilborn und Baumeister Gropius. Seitdem hat er sich durch
Cooptirung der Herren or. Kuhnheim, Maler Ewald, Fabrikanten Hälfte,
Navene, Dr. Rosenthal, Dr. Waagen, Geheimrath Wehrmann und die An¬
nahme des Präsidiums durch den Herzog von Ratibor completirt. Damit
hatte das Museum seine Constitution, es handelte sich zunächst um Haus und
Unterkommen für dasselbe. Natürlich wäre es sehr wünschenswert!) gewesen,
wenn es sich gleich von vornherein sein eigenes Unterkommen zu schaffen ver¬
mocht hätte. Aber die vorläufig beigesteuerten Fonds, mit welchen das junge
Institut zu rechnen und zu wirthschaften hatte, stellten dies gänzlich außer¬
halb der Möglichkeit. Man entschloß sich daher für die Pacht der nöthigen
Localitäten. Kaum ein anderes hier verfügbares Grundstück empfahl sich für
den vorliegenden Zweck so wohl, als das Gebäude des ehemaligen Dioramas
in der Georgenstraße, in welchem Gropius in den vierziger Jahren den Ber¬
linern ihre unentbehrlichsten Weihnachtsamusements zu bereiten pflegte. Die
Räume, die es enthält, entsprechen dem Bedürfniß für die nächsten Jahre
und stellen dazu noch immer einen, vor der Hand nicht verwendeten, Raum in
Reserve. Die Lage recht im Mittelpunkt der Stadt, nahe der Universität,
den Museen, der Akademie und den belebtesten Verkehrsstraßen, obgleich selbst
in der allerstillsten befindlich, ist die günstigste. Und überdem fand sich der
gegenwärtige Besitzer zu einem sehr vortheilhaften Contract bereit. Er lautet
auf 6 Jahre und spricht dem Museum nach dieser Zeit das Vorkaufsrecht
zu, von dem es dann hoffentlich Gebrauch zu machen befähigt sein wird.
Käme es aber in fernerer Zeit etwa dazu, daß der Staat das Institut
übernähme, so dürfte es wichtig werden, daß die ganze Umgebung des Ge¬
bäudes fiscalischer Boden ist, von welchem ehemals das Grundstück nur zum
Geschenke für Gropius abgezweigt wurde, vorbehaltlich des einstigen Nück-
erwerbs, wenn staatliche Interessen denselben nöthig erscheinen lassen sollten, ein
Recht, welches die Negierung bei Gelegenheit des Verkaufs im Jahre 1866
nur aus Rücksicht auf die damaligen Zeitverhältnisse ruhen ließ. Wir wün¬
schen nun freilich aufs lebhafteste, daß eine immer wachsende und großartigere
Betheiligung des Publikums dem Institut diese Uebernahme durch den Staat
fern halten und ihm seinen Charakter der Selbstverwaltung untz, Unabhängig¬
keit auch ferner wahren möge, der ihm schon jetzt in seinen Anfängen zur
eigenthümlichsten Auszeichnung vor andern künstlerischen und gewerblichen
Bildungsanstalten gereicht. Ebenso auffallend, von preußischen Gewohnheiten
abweichend, als erfreulich bleibt es übrigens, daß von Seiten des Staats
seither noch so wenig versucht worden ist, aus der Bewilligung jener 13,000
Thlr. zu Ankäufen, oder auch aus seiner allgültigen Autorität das Recht zur
Einmischung, Beaufsichtigung, Ordnung des Lehrplans u. tgi. herzuleiten.
Er ließ im Gegentheil die Begründer und Mitglieder in allen diesen Dingen
völlig frei gewähren. Wie in Bezug auf die Sammlungen hat man sich
auch hinsichtlich des Unterrichts vorläufig den verfügbaren Mitteln entspre¬
chend in bescheidenem Maßstab eingerichtet, immer so, daß mit dem Anwachsen
der letzteren auch diese gesammte Einrichtung sich fort und fort ausdehnen
kann. In den Museums- und Hörsälen, Classenräumen, Bureaux ist jede
Art von baulichen oder dekorativem Luxus streng vermieden; aber sie sind
durchweg zweckmäßig und praktisch.
Die Abtheilung der Sammlungen ist noch nicht vollständig einge¬
richtet und daher bis jetzt (Februar) dem Besuch des Publikums noch nicht
zugänglich gemacht worden. Man hatte zur Beschaffung der Objecte drei
Wege erwählt; durch Kauf, resp. Tausch und Schenkung, durch Entlehnung,
durch Ausstellung neuer Erzeugnisse seitens der sie provocirenden Gewerb-
treibenden. Auf dem ersten ist man, wie bereits oben erwähnt, nach besten
Kräften vorgegangen. Leider hat ein an die Industriellen erlassener Aufruf,
Institut durch „Ueberlassung von Rohstoffen, Halbfabrikaten, Fabrik¬
proben, welche durch systematische Anordnung geeignet sind, einen Fabrikations-
ürveig zu veranschaulichen und auch als Hilfsmittel für den technologischen
Unterricht zu dienen", so gut wie gar keinen Erfolg gehabt; die Schenkungen
^schränken sich auf die von berliner Freunden des Museums seinen Samm¬
lungen hinzugebrachten Erzeugnisse verschiedener Kunstgewerbe. Auch der
zweite Weg zur Vervollständigung jener, das Leiden ganzer Sammlungen
^der einzelner wichtiger und interessanter Objecte durch reiche Privatbesitzer,
Weg, der sich in England beim South-Kensington-Museum und neuer¬
dings bei dem verwandten wiener Institut so glänzend bewährt hat, führte
bei uns bis jetzt freilich auch noch nicht zu dem gewünschten Erfolg. Aber
man mag die Hoffnung nicht aufgeben, daß doch auch hier mehr und mehr
jener edle Ehrgeiz erwache, welcher solche Besitzer veranlaßt, auf den egoisti¬
schen Genuß des Alleinhabens zeitweilig zu verzichten, um ihre Schätze im
Museum aufbewahrt dem Gemeinwohl dienstbar zu machen.
Ausstellungsort aber für Jndustrieerzeugnisse durch die Producenten selbst
kann das Institut wohl erst in einem vorgerückteren Stadium seiner Ent¬
wickelung werden.
Man ist in diesem Augenblick dabei, die bisher gemachten Erwerbungen
in den Glasschränken der Museumssäle zu ordnen. Die Aufstellung ist so,
daß sie dem gewöhnlichen Besucher den vollen Anblick jedes einzelnen Gegen¬
standes gestattet. Aber der wesentliche Unterschied, respective Vorzug gegen
die sonst in öffentlichen Sammlungen gültige Praxis besieht darin, daß zu
Studienzwecken jedes dieser Objecte jederzeit herausgenommen werden soll,
zur eingehendsten Betrachtung, Untersuchung, Skizzirung, oder Nachbildung,
gegen welche letztere aber die von Fabrikanten ausgestellten Arbeiten selbst¬
verständlich, wo es verlangt wird, geschützt bleiben werden. Ueber die Grund¬
sätze, nach welchen die Anordnung und Abtheilung des vorhandenen Samm¬
lungsbesitzes stattfinden soll, spricht sich eine vo'n dem Vorstand herausgegebene
Broschüre folgendermaßen aus: „Soweit die auszustellenden Gegenstände der
Bearbeitung unterworfen sind, haben einzelne derselben einen inneren Zu¬
sammenhang, welcher sich im gemeinen Leben durch das Gewerbe ausdrückt,
dem die Verfertigung zugewiesen ist. Es wird empfehlenswert!) sein, diese
Zusammengehörigkeit bei der Ordnung der Gegenstände, wo es angeht, zu
berücksichtigen. Eine vollständige Ordnung nach Gewerben ist aber weder
empfehlenswert!), noch durchführbar, weil viele Gewerbe nicht natürlich von¬
einander geschieden sind, auch manche sich auf natürlichem Wege in zwei oder
mehr spalten ließen. Es wird deshalb angemessen sein, die Gewerbe wieder
zu gruppiren und höheren Einheiten unterzuordnen. Als Gesichtspunkt für
diese Eintheilung bietet sich am natürlichsten das Bedürfniß des Menschen,
welches durch die Erzeugnisse der Gewerbe Befriedigung finden soll. Inner¬
halb dieses großen Nahmens aber müssen die kleineren Abtheilungen nach den
Stoffen sich abgrenzen, welche bearbeitet werden. Denn die Gleichartigkeit
oder Verwandtschaft der Stoffe nöthigt zu einer Aehnlichkeit der Handtlne-
rungen und zu einer Gleichmäßigkeit der Stilgesetze, welche die Verwandtschaft
dieser Gewerbe mehr in die Augen springen läßt. Aus diesen beiden Gesichts¬
punkten, des Zweckes und des Stoffes, ist die von uns vorgeschlagene
Eintheilung entsprungen, von der wir hoffen, daß sie den Zwecken jeder
Sammlung, den Beschauer zu fesseln ohne zu ermüden, das Auffinden der
einzelnen Gegenstände zu erleichtern und bei der Betrachtung des Einzelnen
doch stets den Zusammenhang des Ganzen erkennen zu lassen, erfüllen wird."
Jetzt erst sieht man, (was von der ungeheueren Masse des in Paris
Zusammengehäuften erdrückt wurde und gering erschien) wie bedeutend und wie
gut gewählt die von der Regierung und den Vertrauensmännern des Instituts
allein schon auf der pariser Ausstellung gemachten Erwerbungen gewesen sind.
Die Schränke mit den orientalischen Geweben und Stickereien, mit den Bronce-
und Metallarbeiten, den Thon- und Porzellangefäßen enthalten bereits jeht
sehr reichhaltige und besonders höchst instructive Sammlungen. Die täuschend
genauen Nachbildungen mustergültiger älterer kunstgewerblicher Meisterwerke
ergänzen dieselben, die Originale vollständig ersetzend. Und diese Sammlungen
sind eine vortreffliche Einrichtung — mit Ausnahme der hohen Kirchenfesttage,
des Buß-, Neujahrs- und jedes Montags, nicht nur von 10—2 Uhr täglich,
sondern außerdem auch Dienstag, Mittwoch, Sonnabend und Sonntag von
7—10 Uhr abends jedem „anständig Gekleideten" zum Eintritt geöffnet, die
Bibliothek des Museums in den genannten Abendstunden des Dienstags,
Mittwochs, Donnerstags und Freitags. Zudem Bestand der letzteren haben
einige Buchhandlungen, wie Ernst Korn, F. Schneider in Berlin und See¬
mann in Leipzig, mit sehr anerkennenswerther Liberalität beigesteuert, die
übrigen deutschen Collegen dafür bisher der Aufforderung eine um so auf¬
fälligere Zurückhaltung entgegengesetzt.
Wenn diese beiden Abtheilungen des Museums noch nicht aus dem
Stadium des Werdens zu einer bestimmten Form des Gebrauches gelangt
sind, so hat die dritte, die Unterrichtsanstalt, bereits eine solche gefunden.
Dieselbe bietet, neben directen praktischen Lehr- und Uebungs-Cursen, Vor¬
lesungen über die gewerblichen Hilfswissenschaften. Keine Art von Prüfungen,
keine Ausweise, Älteste, einzugehende Verbindlichkeiten behindern oder er¬
schweren den Zutritt der Schüler, und die Lage der Stunden, die außer¬
ordentliche Billigkeit des Honorars macht ihre Benutzung jedem möglich, der
danach verlangt. Folgende Classen sind seither eröffnet und haben es in ihrer
Gesammtheit bereits auf 200 Schüler gebracht. Die Sonntagsclasse für
»gebundenes Zeichnen" unter Leitung des Ingenieurs Greiner (d. h. für
geometrisches und Maschinenzeichnen mit Projeetionslehre und Schatten-
construction), von Maschinenbauern und Baugewerbtreibenden zahlreich
besucht, für welche sich der Preis der Stunde etwa auf 6 Pfennige
stellt; die beiden Abendclassen (von 7'/«--10 Uhr) für Gefäß- und archi¬
tektonisches Ornamentzeichnen unter dem Baumeister Jacobsthal und
Löste. Ersterer versteht es ganz vorzüglich, die Schüler in die aus der Na¬
tur dieser Dinge hervorgehenden Gesetze der künstlerischen Gestaltungen ein¬
zuführen. Er läßt diese an der Tafel in derber, fester Kohlenzeichnung von
den einfachsten Grundformen beginnend, vor ihnen entstehen, und durch freies
nachzeichnen derselben lernen sie das Wesentliche, Gesetzmäßige aller dieser
Formen gründlich verstehn, erwerben eine Geläufigkeit im künstlerischen Aus¬
druck derselben, steigern und regen ihre Erfindungskraft bis zu selbstthätigem
Schaffen an. Prof. Lob des Classe repräsentirt einen etwas höheren Grad
der architektonischen und ornamentalen Formenlehre und zieht die farbige Aus'
führung mit in den Kreis der Darstellungsmittel hinein. — In zwei großen,
unmittelbar zusammenhängenden, gut erleuchteten Sälen findet ferner der Unter-
richt im freien Handzeichnen thierischer und menschlicher Gestalt und im Model¬
liren nach diesen und besonders nach Ornamenten statt. Für die Ertheilung
des Handzeichens konnte das Museum sicher keine geeignetere künstlerische Lehr¬
kraft gewinnen, als sie in A. Wiszniewski gesunden hat, einem unsrer durch-
bildetsten, sichersten und tüchtigsten Zeichner von der gründlichsten Natur¬
kenntniß und Freiheit von jeder Spur des akademischen traditionellen Zopfs
in seinem eignen Schaffen wie in seiner Lehrmethode. Die Schüler zeichnen
nach dem Runden; nicht der abstracte „feine" Contour, sondern eine plastische
Körperlichkeit der Form ist es, was er sie vor allem anzustreben leitet.
Große an die Tafel gezeichnete Ansichten des Knochenbaues und der Musku¬
latur müssen dabei das Verständniß der Gestalt und aller ihrer Einzelformen
herbeiführen und mehren helfen. Ebenso tüchtig ist der Unterricht des Bild¬
hauers Göritz, eines besonders im Ornament vielbewährten jüngern Meisters,
im Modelliren. Es ist ein frischer, kräftiger Zug, der Gegensatz alles Schlen¬
drians in diesen Lehrern und ihrem Unterricht, der sich den Schülern mit¬
theilt und sich an ihren Leistungen aufs wohlthuendste ausprägt. — Unter
der Leitung des bekannten Baumeisters Kölscher ist sodann eine, jetzt noch
spärlich benutzte „Compositionsclasse" eingerichtet, in welcher die praktische
Ausführung der für den Bau- und Wohnungsschmuck, wie für die verschie¬
denen, dessen benöthigten Gewerbe dienenden Modelle zur Uebung der Be¬
treffenden gelehrt und auf Bestellung übernommen werden soll. Ein großes
Atelier für Stubenmaler unter Leitung des Herrn Schneider, während der
Wintermonate zu allen Tagesstunden geöffnet, bietet den Arbeitern auch
dieses Kunstgewerbes ihre künstlerische Weiterbildung und übernimmt eben¬
falls einschlägige Aufträge zur Ausführung. Eine Zeichenelasse für Damen,
zu deren Uebernahme Ludwig Burger bereits gewonnen sein soll, wird vor¬
aussichtlich noch im kommenden April eröffnet werden.
Die Vorträge haben bereits sämmtlich begonnen. , Es sind verschiedene
Curse von Vorlesungen über gewisse Gebiete der Technologie, der praktischen
und Kunstwissenschaften in einem umfangreichen Hörsaal mit guter Akustik
und ziemlich zweckmäßigem Arrangement der Plätze gehalten. Auch Damen
haben Zutritt. Es mag hier schwer sein, das richtige Verhältniß zwischen
dem Unterhaltenden, Dilettantischen und dem wirklich Fordernden, positives
Wissen Gebenden und Mehrenden zu finden. Das Publikum und die durch-
schnittliche Beschränkung jedes Cyclus auf je 6 Vorlesungen von ca. IV-
Stunden bringt diese Schwierigkeit von selbst hervor. Die bisher begonne¬
nen Curse sind der über chemische Technologie (mit Versuchen) von Professor
Buff gehaltene, der über Farbenlehre mit Rücksicht auf die Gewerbe von
Professor Dr. Rosenthal und der über die Geschichte der Kunstgewerbe und
ihre Aesthetik mit Benutzung der Sammlungen des Museums von Dr. Julius
Lessing. Sämmtliche Vorlesungen jedes Cyclus sind für ein Eintrittsgeld von
1 Thaler dem Publikum zugänglich. Für den Besuch der Sammlungen ist
ein ziemlich niedriges Eintrittsgeld angesetzt, das zwischen IV» Sgr. bis
5 Sgr. an den verschiedenen Wochentagen variirt.
Das ist die bisherige Geschichte und der gegenwärtige Stand des „deut¬
schen Gewerbemuseums" zu Berlin. Aus einem glücklichen Gedanken, einem
allgemeinen Bedürfniß, und seiner Erkenntniß hervorgegangen, haben seine
Begründer sich auf das von der Wirklichkeit gegebene Maß zu beschränken
verstanden, haben mit richtigem Takt das zunächst Erreichbare ergriffen, ohne
an der weitern Entwicklung in größerem Sinne darum zu verzagen. Die
Mittel erscheinen gut und richtig gewählt, um in stetiger Arbeit die Mängel,
an welchen unsere Kunstindustrie krankt, zu heilen, das ganze Unternehmen
macht jetzt, in diesem frühen Stadium seiner Existenz, durchweg den Eindruck
gesunder Lebensfähigkeit und gedeihlicher Zukunft. Was es aber, um dieser
gewiß zu sein, nicht entbehren kann, ist eine bei weitem lebhaftere thätige
Theilnahme des Volks, aller Classen des Staats, als die ihm bisher bewiesene.
Die dieser Sache etwa zubringenden Opfer gehören zu denen, welche sich
sicher lohnen und zurückerstatten an die ganze bürgerliche Gemeinschaft, als
Bildung, Ehre bei Fremden und durch jene directen praktischen Vortheile,
welche eine höhere Entwicklung der Kunstgewerbe großen Bevölkerungen zu¬
führt. Möge dem Unternehmen solche Theilnahme im reichsten Maße werden.
In der Session des böhmischen Landtages vom November 1866 bis
März 1866 stellte der Historiker Const. Höfler bei Gelegenheit der Debatte
über die Restaurirung der Burg Karlstein (bei Prag) den Antrag, es möchte
statt des üblichen Ausdruckes „Krone des si. Wenzel" der correctere Aus¬
druck „Krone des Königreichs Böhmen" gebraucht werden. Bei der Majo¬
rität, über welche damals die föderalistisch-nationale Partei im böhmischen
Landtage gebot, ist dieser Antrag Höflers natürlich gefallen.
Seit dieser Zeit ist der Ausdruck „Wenzelskrone" erst recht beliebt ge¬
worden und auch über die Grenzen Oestreichs hinaus gedrungen. Wenige
sind aber über diesen Begriff vollkommen im klaren. Während die einen
hierunter blos das alterthümliche goldne Reischen verstehen, welches gegen¬
wärtig im prager Schlosse deponirt liegt, verstehen darunter die andern das
Symbol der staatsrechtlichen Individualität Böhmens.
Die böhmische Krone, welche sich jetzt in Prag befindet, rührt bekanntlich
nicht von dem alten Herzoge Böhmens, dem heiligen Wenzel her; man nennt
sie blos aus Pietät die Wenzelskrone. Sie wurde, nachdem im Jahre
1346 Klemens VI. die betreffende Bulle erlassen hatte, im Jahre 1347 an¬
gefertigt. Seitdem trugen alle Könige Böhmens diese Krone auf ihrem
Haupte, von Karl I. (IV.) angefangen bis Ferdinand I. (V.). Nur die beiden
Kaiser-Könige Namens Joseph verschmähten es. sie zu tragen. Bekanntlich
hat auch der jetzt regierende Kaiser von Oestreich versprochen, sich mit dieser
Krone feierlich krönen zu lassen.
Aber es handelt sich nicht um die Kroninstgnien selbst, sondern um
die Bedeutung derselben und um die Beziehung, welche sie zu den Bestre¬
bungen der nationalen Partei in Böhmen hat.
Nun muß vor allem dem Irrthum entgegengetreten werden, als ob die
Böhmen mit der Katastrophe am weißen Berge ihre politischen Rechte voll¬
ständig eingebüßt hätten. Ferdinand II. stilisirte in der Landesordnung vom
10. Mai 1627 den Krönungseid dahin, daß der Regent von Böhmen die
Privilegien der damaligen Volksrepräsentanz, der Stände, handhaben wolle.
In dieser „verneuerten Landesordnung" räumte er den Böhmen das Recht ein.
alle Steuern für und in Böhmen zu bewilligen, und im Falle des Ausster¬
bens der Dynastie eine Neuwahl vorzunehmen.
Ferdinand II. hat überdies mit der Confirmationsurkunde vom 29. Mai
1627 alle Privilegien mit Ausnahme zweier Rudolphinischer Majestate, welche
auf die Religionsübung Bezug nehmen, erneuert. Ebenso blieb die Integrität
der Länder der böhmischen Krone anerkannt, die Zusammengehörigkeit mit dem
incorporirten Mähren und Schlesien; Böhmen behielt auch seine eigene Hofkanzlei.
Die Privilegien Böhmens wurden in den Jahren 1640, 1708, 1720,
1742, 1791, 1806, 1829 und 1836 wiederholt erneuert, sodaß das böhmische
Staatsrecht continuirlich bis in die Gegenwart (1848) hineinreicht. Seit den
ältesten Zeiten wurden in Böhmen in den wichtigsten Landesangelegenheiten
(wie Gebietsabtretungen, neue Gesetze oder Steuern) die sog. gebotenen Land¬
tage lMxovöäiü Lnölvovö) einberufen, zu welchen auch die Abgeordneten aus
Mähren und Schlesien kamen (Generallandtage). Ferdinand II. hat zwar
diese Generallandtage abgeschafft, aber die Gesetzgebung und Verwaltung
blieb in Mähren und Schlesien dieselbe, wie in Böhmen.
In dem bereits erwähnten Majestätsrescript vom 29. Mai 162? erkannte
Ferdinand II. gegenüber allen drei Ländern der böhmischen Krone (oder
Wenzelskrone) an, daß der damalige Aufstand nur ein partieller war und
daß nur die die Akatholiken betreffenden Majestate aufgehoben seien. Die
andern Landesprivilegien, also die Theilnahme an der Landesgesetzgebung,
das Recht der Verwaltung des Landes, die Rekrutenbewilligung, die Unver¬
äußerlichkeit der Krongüter ohne Einwilligung des Landes, die Lehnrechte ze.,
dies alles wurde anerkannt und auch fortan ausgeübt.
Böhmen blieb ein selbständiges Ganzes. Es gab keine gemeinsamen
Ministerien mit den übrigen Ländern des jetzigen Oestreich, wie Niederöstreich
und Ungarn. Das böhmische Volk konnte zu Kriegsdiensten nur dann auf¬
geboten werden, wenn es die Vertheidigung Böhmens galt. Handelte es sich
beispielsweise um eine Kriegshilfe gegen die Türken, so mußte der Landtag
derselben zustimmen. Alle Landesbeamten der höchsten Kategorie mußten
ferner im Lande ansässig sein. Die Art und Weise der Verwendung der
Steuern wurde stets genau vom Landtage vorgeschrieben und von der Re¬
gierung respectirt.
In den Declaratorien vom 1. Februar 1640 räumte Ferdinand III. den
Ständen das Recht ein, alle Landesangelegenheiten frei zu discutiren.
Karl II. legte den böhmischen Ständen die pragmatische Sanction (1720)
zur Genehmigung vor. Leopold II. restaurirte mit Rescript vom 12. August
1791 die von Joseph II. alterirte bisherige Verfassung von Böhmen. Die
Stände erhielten auch wieder den Revers, daß den Privilegien, Freiheiten
und Gerechtigkeiten des Landes kein Nachtheil zugefügt werden solle.
Mit dem Patent vom 6. August 1806 erlosch die Kurwürde Böhmens
und die Verbindung mit dem deutschen Reiche. Das Patent gebraucht die
Worte: „die mit der Krone Böhmen verbundene" Kurwürde. Bekannt¬
lich umfaßt die Krone Böhmen seit 1086 Mähren und seit 13S3 Schlesien.
Zur Veräußerung der Landesdomänen wurde stets die Einwilligung
der Stände für nöthig erachtet. So willigten die Stände im December 1825
ein, daß einige böhmische Domänen (?aräubie, 8miri<-, Abirov) zur Tilgung
der östreichischen Staatsschulden veräußert würden.
Am 7. September 1836 ließ sich Ferdinand V. als König von Böhmen
zu Prag feierlich krönen.
Daß die Stände der vierziger Jahre die Steuerpostulate gar nicht be¬
riethen, sondern sich mit der Auffahrt auf dem prager Schlosse begnügt
hätten, ist übertrieben. Allerdings hielt man damals viel auf das Landtags-
ceremoniell und dieses schrieb genau vor, wie die Stände en paraäe in den
ihnen aus „besonderer Gnade" (1808) verliehenen rothen Gewändern unter
Vortritt der Livriebedienten und mit angezündeten Flambeaux einherzu-
fahren hätten, aber die Landtage sanken trotzdem nie zu einer bloßen Cere¬
monie herab. Die Stände stimmten über die Postulate alljährlich ab und
zwar in böhmischer Sprache, nämlich mit den Worten: ?ri2näväm 8e.
Ferdinand V. erklärte in dem Hofdecrete vom 18. Juni 1847, er wolle
sich die Landesprivilegien und Freiheiten-, wie solche in der Landesordnung
enthalten sind, gegenwärtig halten. Die Postulatlandtage gestatteten nicht
die nach 1848 in Uebung gekommene Erhöhung der Grundsteuer. Eifersüchtig
wachten die Stände über den Privilegien des Landes; Beweis dessen die De¬
putation, die 1845 unter Mathias Thun nach Wien ging, und die Denk¬
schriften vom Jahre 1847.
Im Jahre 1848 wurde die böhmische Verfassung abermals erneuert.
Kaiser Ferdinand gab in einem Schreiben vom 8. April 1848 folgende Er¬
ledigung der böhmischen Deputation:
1. Die böhmische Nationalität hat durch vollkommene Gleichstellung
der böhmischen Sprache mit der deutschen in allen Zweigen der Staatsver¬
waltung und des öffentlichen Unterrichts als Grundsatz zu gelten;
2. Zu dem nächst einzuberufenden böhmischen Landtage sind alle Stände
des Landes zu versammeln. Diese Versammlung hat aus einer, alle Interessen
des Landes umfassenden, gleichmäßigen Volksvertretung auf der möglichsten
breiten Basis der Wahlfähigkeit und Wählbarkeit mit dem Rechte, über alle
Landesangelegenheiten zu berathen und zu beschließen, zu bestehen;
3. Die Errichtung verantwortlicher Centralstellen für das Königreich
Böhmen in Prag mit einem ausgedehnten Wirkungskreise wird bewilligt.
Bemerkenswerth erscheint noch folgender Umstand. Einzelne Mitglieder
der böhmischen Stände ließen im Anfang April 1848 eine Erklärung drucken
(Prager Zeitung 1848 Ur. 54), in welcher sie sich bereit erklärten, zur Zu-
standebringung einer zeitgemäßen Volksvertretung zusammenzuwirken. Zu
oberst war Karl Fürst Auersperg unterzeichnet.
Am 30. März 1848 kam in Brunn die Ständeversammlung zusammen.
Gleich in der ersten Sitzung wurde freiwillig jeder der sieben königlichen
Städte Mährens statt der bisherigen Collectivstimme eine Virilstimme zuge¬
standen. Freiwillig wurde ferner der Bauernstand und die nicht habilitirten
Besitzer landtäflicher Güter in den Landtag berufen.
Die folgenden Ereignisse sind bekannt.
Erst am 6. April 1861 wurde wieder ein böhmischer Landtag eröffnet.
Die Mitglieder der ständischen Corporation brachten dem Präsidium einen
wichtigen Protest rücksichtlich der neuen Verfassung zur Kenntniß. (Seen. Prot.
d. bösen. L. 1861 MZ. 53). Sie beriefen sich auf die Landesordnung vom
Jahre 1627 und erklärten, daß sie durch ihre Theilnahme an der einberufe¬
nen Versammlung den Rechten und Freiheiten des Königreichs Böhmen und
der Continuität seines durch eine ununterbrochene Reihe von Staatsacten
staatsrechtlich gewährleisteten Bestandes nicht präjudicirt haben und nicht
präjudiciren können.
Nach dem Gesagten wird auch klar, was die czechisch-nationale Partei
in Böhmen gegenwärtig anstrebt. Sie will eine möglichst große Autonomie
der Länder'der Krone Böhmens; sie will ferner eine veränderte Wahlord¬
nung. Während jetzt alle wichtigen Entscheidungen beim wiener Reichstage
liegen, und dem böhmischen Landtag nur Ausnahmsfälle bleiben, soll viel¬
mehr Alles Angelegenheit des Landtags werden und der Reichsvertretungs-
competenz nur die Ausnahmen zustehen. Die Machtstellung der Monarchie sei
durch eine gemeinsame Behandlung der höchsten Staatsausgaben zu wahren
und die Einheit des Reichs in der Beachtung der Mannigfaltigkeit seiner Be¬
standtheile und ihrer geschichtlichen Rechtsentwicklung zu sichern.
Die Bedeutung der böhmischen Wenzelkrone liegt sonach darin, daß Böh¬
men eine staatsrechtliche Individualität, eine staatsrechtliche Persönlichkeit
beansprucht. Diese staatsrechtliche Individualität manifestirt sich vornehmlich
in folgenden Rechten, welche die Landesvertretung Böhmens ohne alle Rück¬
sicht auf die neueste Landesordnung Schmerlings hat:
Erstens die Integrität des Territoriums, also die Zusammengehörig¬
keit mit Mähren und Schlesien, sammt dem eventuellen Heimfallsrecht
auf die Lausitz und dem Lehnverhältnisse zum Egerer Gebiete; dann das
Recht, beim Erlöschen des Hauses Habsburg einen König von Böhmen zu
wählen; das alleinige Recht, die Verfassung zu ändern; das Recht, alle
Steuern in Böhmen zu bewilligen; die Mitwirkung bei der Landesgesetz¬
gebung; die Mitverwaltung-im Handel und in Polizeisachen; das Recht, über
die Landesdomänen zu disponiren, Landestheile abzutreten oder zu erwer¬
ben; über Aufnahme von Mitgliedern in seine Mitte zu entscheiden; einen
Landesausschuß zu wählen, welcher das Landesvermögen verwaltet; Gleich¬
berechtigung der böhmischen Sprache mit der deutschen in Schule und Ge¬
richt; das Recht, zu verlangen, daß sich der Kaiser von Oestreich als König
von Böhmen krönen lasse und einen Eid dahin schwöre, daß er alle Rechte
und Freiheiten der böhmischen Krone — oder mit einem Ausdrucke der Pietät
-~ der h. Wenzelskrone wahren und schützen wolle und solle.
Auch bei den Zollparlamentswahlen ist das Loos, die letzten zu sein,
uns Schwaben nicht erspart worden. Indessen, wir sind es gewöhnt; our-
dern würdrn wir uns nur, wenn es einmal anders wäre. Wir sind zufrie-
den, daß unsre Abgeordneten überhaupt rechtzeitig nach Berlin kommen wer¬
den, um an der Eröffnung und den Arbeiten des Parlaments Theil zu neh¬
men. Denn eine Zeit lang stand selbst dies in Frage. Und nur der Nach¬
sicht, die man in Berlin mit unsern Eigenthümlichkeiten und Canzleigewohn-
heiten hatte, ist zu verdanken, daß es nicht anders kam. Ein seltsamer
Unstern schien überhaupt über den schwäbischen Vorbereitungen zu der ge-
sammtdeutschen Versammlung zu walten.
Man hätte denken sollen, für eine mäßig geordnete und mäßig willige
Verwaltung hätte das Geschäft der Wahlvorbereitung keine übergroßen
Schwierigkeiten darbieten können. Man durfte sich in allem nur nach dem
richten, was im ganzen übrigen Deutschland bereits in aller Ordnung ge¬
schehen war. Die Versuchung zu originellen Experimenten schien doch bei
diesem Anlaß am wenigsten gerechtfertigt. Alles war glatt und eben, allein
offenbar viel zu glatt und eben für unsre Regierung, die sich ein Vergnügen
daraus machte, sich selbst Steine des Anstoßes in den Weg zu wälzen, über
die sie nothwendig straucheln mußte.
Schon die Frage machte der Regierung viel Kopfzerbrechen, wie viele
Abgeordnete Würtemberg eigentlich zu wählen habe. Nach der Zählung von
von 1864 waren es deren unstreitig 17, nach der neuesten von 1867 stieg
diese Zahl ohne Zweifel auf 18. Nun war nicht blos im Nordbund nach
der Zählung von 1864 gewählt, sondern auch Baden und Baiern hatten
selbstverständlich nach dieser Rechnung ihre Wahlen angeordnet. Für die wür-
tenbergische Regierung konnte dies freilich nicht bestimmend sein. Als man
ungeduldig verlangte, die Regierung möge endlich die Eintheilung der Wahl¬
bezirke veröffentlichen, die für diesmal ihrer discretionären Gewalt anheim¬
gegeben war, wurde mit schlauem Blinzeln erwidert, man möge sich doch
gedulden, es werde nur das noch nicht officiell festgestellte Resultat der jüng¬
sten Zählung abgewartet, auf welche die Wahlen zu basiren seien. Die Re¬
gierung hatte allen Ernstes die Absicht, auf Kosten der Gleichheit mit dem
übrigen Deutschland ihrem Land ein Benefiz, ein ganz kleines Prositchen zu¬
zuwenden. Erst als das officielle Resultat der Zählung länger aus sich warten
ließ, als die Regierung in den Kammern über ihre Absichten interpellirt und
ihr vorgehalten wurde, daß das Parlament in Berlin das zuständige Tribunal
für die Gültigkeit der Wahlen sei, entschloß sie sich, ungern, zur Nach'
giebigkeit.
War über solchen Speculationen ziemlich viel Zeit hingegangen, so war
man bemüht auf andere Weise den Verlust wieder zu decken. Es war be¬
zeichnend für die Manieren unserer Verwaltung, daß eines Tags plötzlich
ein Rescript des Ministers erschien, welches die Wahlcommissionen in Furn-
lion treten hieß und einen bestimmten Termin für den Schluß der Wähler¬
listen ansetzte, bevor noch das Wahlgesetz zu Stande gekommen, publicirt
und in Kraft getreten war. Natürlich war jene Anordnung ungiltig, und
sobald die Presse Lärm schlug, war das Ministerium zu ihrer Zurücknahme
genöthigt; oder vielmehr sie wurde nicht zurückgenommen, sondern einfach
ignorirt, und mit Publikation des Gesetzes ging ein zweiter Befehl hinaus,
die Wahllisten aufzulegen. Dadurch wurde für die Anfertigung dieser Listen
eine weitere Zeit gewonnen; wie sie benutzt wurde, werden wir sogleich sehen.
Ein erheiternder Zwischenfall war es, als das Ministerium eines Tags
dem Gemeinderath der Stadt Stuttgart einen Ukas zugehen ließ, des In¬
halts, daß 13 städtische Wahlbezirke gebildet und für jeden derselben 3 Ge¬
meinderäthe zur Leitung des Wahlgeschäfts bestellt werden sollten. Der Ge¬
meinderath war in der Lage zu erwidern, daß'es ihm beim besten Willen
schlechterdings unmöglich sei, dieser Weisung nachzukommen, sintemal er be¬
kanntermaßen nur aus 24 Mitgliedern bestehe, während zu jenem Auftrag
nach Riese 6S Mitglieder aufzubringen wären. Niemals haben die Väter der
Stadt init edleren Bürgerstolze eine unbegründete Zumuthung des Ministe¬
riums zurückgewiesen!
Erinnerte dieser Zug stark an Schilda oder Abdera, so hatten einen
ernsteren Hintergrund die Versuche, dem allgemeinen Stimmrecht ein Schnipp¬
chen zu schlagen. Das Gesetz bestimmte, wie überall, daß jeder volljährige
und unbescholtene Bürger da, „wo er zur Zeit seinen Wohnsitz habe", das
Wahlrecht auszuüben habe. Nun ist der Ausdruck Wohnsitz bekanntlich ein
juristisch äußerst streitiger; ebendeswegen mochten die Gesetzgeber hinzugefügt
haben: „zur Zeit", und im übrigen Deutschland hat man nichts davon ge¬
hört, daß Controversen über die Auslegung dieses schwierigen Ausdrucks sich
erhoben hätten. Es war diese juristische Scrupulosität den würtembergischen
Staatsmännern vorbehalten, und um alle etwa auftauchende Bedenken zu
heben, erfolgte ein Rescript, wonach bei Anfertigung der Wählerlisten jene
Bestimmung auf den juristischen Begriff des Domieils einzuschränken sei. Da¬
durch wurden aber im Widerspruche mit dem Prinzip des allgemeinen Stimm¬
rechts eine Menge von Personen, insbesondere aus der Arbeiterbevölkerung,
ausgeschlossen, die nach den anderwärts überall geltenden Normen wahlberech¬
tigt waren. Ob dies einzig aus dem juristischen Gewissen unserer Regierenden
M erklären ist, oder vielleicht damit zusammenhing, daß in Stuttgart gerade
die Arbeiterbevölkerung entschieden national gesinnt ist, bleibe dahingestellt.
Genug, die Stuttgarter Wahlcommission protestirte sofort, sie hatte die Wahl¬
listen fertig, und zwar in liberalster Weise hergestellt, sie war nicht Willens,
auf eine einseitige Interpretation, zu welcher das Ministerium kaum legitimirt
schien, das Geschäft von neuem zu beginnen. Auch in den Kammern wurde
deshalb interpellirt, und Herr v. Geßler schien auch in dieser Frage zur Nach¬
giebigkeit geneigt. Indessen erschien bald darauf ein neues Rescript — man
sieht, an Geschäftigkeit hat es der Minister nicht fehlen lassen — welches
zwar jene erste Interpretation nicht aufrecht hielt, jedoch von den Arbeitern,
Commis u. f. w. nur die Verheiratheten für wahlberechtigt erklärte, also eine
neue Beschränkung, ein seltsames Privileg auf die Ehe, eine rein willkürliche
Interpretation. Auch daran hat man sich in Stuttgart wenigstens nicht ge¬
kehrt. Dagegen wird man auf dem Lande überall den verschiedenen mini¬
steriellen Anordnungen nachgekommen sein, und auch daraus ist vielleicht die
Verzögerung zu erklären, die das Wahlgeschäft überhaupt erlitten hat.
Diese Verspätung, die inzwischen in unsern Canzleien ihr unbemerktes
Wesen trieb, kam erst dann ans Tageslicht, als alles längst in Ordnung
schien und Preußen den Termin für die Eröffnung des Parlaments endlich
ansetzen zu können glaubte. Bekanntlich war für dieselbe erst der Februar,
dann Anfang, später Mitte März in Aussicht genommen. Dies wußten die
Regierungen. Niemand konnte es überraschen, als endlich der 20. März als
Eröffnungstermin bestimmt wurde.
In den Ministerien am Nesenbach entstand aber an jenem 27. Februar,
an welchem die Anzeige aus Berlin anlangte, ein jäher Schreck. Auf solche
Ueberstürzung war man nicht gefaßt. Sofort erging eine Erklärung nach
Berlin, es sei schlechterdings unmöglich, die Wahlen so zu beschleunigen, man
bitte dringend um Aufschub. Und warum war in Würtemberg unmöglich,
was doch überall sonst möglich war?. Weil hier von den untergeordneten
Beamten des Schreiberstaats die Ausfertigung der Wählerlisten ganz mit
derselben Gemüthlichkeit betrieben worden war. mit der auch sonst die tgi.
würtembergischen Canzleigeschäfte behandelt zu werden pflegen. Der eine
Fall spricht beredter für den Charakter des kleinstaatlichm Verwaltungs¬
mechanismus, als eine lange Abhandlung. Am 6. September hatte der be¬
treffende Ministerialbeamte das Wahlgesetz ausgearbeitet und vorgelegt. Nun
hatte es aber den landesüblichen Instanzenzug durchzumachen, d. h. es mußte
wochenlang auf dem Ministerium, wochenlang im Geheimenrath, wochenlang
in der Commission des Abgeordnetenhauses liegen, bis es zur Verabschiedung
mit den Ständen gelangte. Endlich nach 6 Monaten, am 10. Febr., konnte
es publicirt werden. Inzwischen waren aber seit Wochen die Weisungen
für die Vorbereitungen der Wählerlisten hinausgegangen, sodaß dieselben,
wie man annehmen mußte, sofort nach Publikation des Gesetzes aufgelegt
werden konnten. Dies geschah auch zum Theil. Zum Theil aber ließen sich
die Oberamtleute und Schulzen Zeit. Dem einen erschien die Sache mehr,
dem andern weniger dringlich. So kam es, daß in einzelnen Gemeinden
erst am 24. Februar die Listen aufgelegt wurden. Die Folge war, daß erst
nach Verlauf von 4 Wochen, also nicht vor dem 24. März, im ganzen König,
reich giltige Wahlen vorgenommen werden konnten.
Was bedeuten in Schwaben Wochen oder Monate? Man hat hier
eine bezeichnende Redensart, die als Beruhigungspflaster für alle Versäum¬
nisse oder Mißgriffe dient: In hundert Jahren ists eins. So hatten die
Schulzen auf dem Lande gedacht, als sie sich zur Auflegung der Wahllisten
Zeit ließen: in hundert Jahren ists einerlei, ob es 14 Tage früher oder
später geschieht. ^
Dieser geschichtsphilosophische Trost mag nun seine unläugbare Berech¬
tigung haben; für den Augenblick aber entstand doch die unangenehme Alter¬
native: entweder das Parlament wurde am 20. März eröffnet — ohne die
Würtenberger, die dann vielleicht nach 8 oder 10 Tagen, wofern sonst nichts
Störendes mehr dazwischen kam. auch kein Unfall auf der Reise sie traf,
glücklich nachrückten; oder es mußte um ihretwillen die Eröffnung abermals
hinausgeschoben werden. In Berlin mag man unmuthig genug über dieses
Dilemma gewesen sein. Der König hätte es wohl gern gesehen, an seinem
Geburtstag, den 22. März, die Vertreter von ganz Deutschland um sich zu
haben. Und abgesehen davon, wird man dort über den Zeitverlust nicht
so gemüthlich sich hinwegsetzen, wie Hierzuland. Man wird dort ein Ver¬
fahren, wie es hier beliebt, überhaupt kaum begreifen, und man wird bei
der sonstigen Haltung der würtembergischen Regierung wenig geneigt gewesen
sein, die Nachsicht gegen sie aufs äußerste zu treiben. Andererseits mußte
man sich sagen, daß bei der Empfindlichkeit der Schwaben die Eröffnung
ohne sie den übelsten Eindruck machen mußte, man hätte das Volk büßen
lassen, was die Negierung verbrochen, ohne Zweifel hätten die Wahlen selbst
sehr entschieden den Rückschlag davon verspürt. Auch hätte es der Feierlich¬
keit und Bedeutsamkeit des Moments ohne Frage Abbruch gethan, wenn
man die erste gesammtdeutsche Vertretung eröffnet hätte, bei der die Abge¬
ordneten eines Südstaates gar nicht oder nur mit mangelhaften Legitima¬
tionen versehen erschienen wären. Dieser Grund gab schließlich den Aus¬
schlag. Man beschloß, in Gottes Namen zu warten, bis auch die Schwaben
in aller Gesetzmäßigkeit und ohne sich unnöthig zu echauffiren, ihre Wahlen
vorgenommen hätten. Um gleichwohl keine Zeit zu verlieren, wird, wie bekannt,
nunmehr die Session des Zollparlaments in die des Reichstags eingeschaltet.
Die Regierung wird ohne Zweifel die Schuld für diese Verschleppungen
auf die mangelhafte Ausführung ihrer Weisungen in den unteren Sphären
der Hierarchie schieben. Aber es wird sich doch nicht läugnen lassen, daß sie,
wenn sie ernstlich wollte, es in der Hand hatte, die Federn ihrer Schreiber
rascher in Bewegung zu setzen. Ueberhaupt, wenn man den ganzen geschil¬
derten Gang dieser unglücklichen Wahlvorbereitungen überblickt, kann man
sich dem Eindruck nicht verschließen, daß die Regierung mit einem sehr
mäßigen Vorrath von gurem Willen diesem Geschäft sich unterzogen hat.
Es ist ihr sichtlich kein Vergnügen gewesen, Wahlen zu einem gesammtdeut-
schen Parlament vornehmen zu lassen. Der erste Beitrag zur Arbeit am
neuen Deutschland ist ihr offenbar sauer geworden.
Und damit beantwortet sich auch eine Frage, die in diesen Tagen zu¬
weilen an unsere Partei gerichtet wurde. Als die bairischen Wahlen vor¬
lagen, hörte man von ossieiöser Seite gegen die nationalen den Vorwurf
erheben, sie hätten mit der Regierung, d. h. mit der Mittelpartei, gegen die
Ultramontanen gemeinsam Front machen sollen, anstatt sich untereinander
zu bekämpfen. Warum dies in Baiern nicht, wenigstens nicht überall, der
Fall war, haben wir nicht zu untersuchen. Gewiß aber ist, daß bei uns jede
solche Combination von vornherein unmöglich war, und zwar durch die
Schuld der Regierung.
Hätte ihre Gesammthaltung irgendwie das Vertrauen hervorrufen können,
daß sie die mit Preußen geschlossenen Verträge nicht als eine unbequeme Last
empfindet, sondern das ganze Vertragsverhältniß aufrichtig und mit allen
seinen natürlichen Consequenzen hinnahm, um von da aus, wenn auch lang¬
sam, eine dauernde und organische Befestigung der Beziehungen zum nord¬
deutschen Bund zu suchen, so wäre ein Bündniß mit der nationalen Partei,
das freilich auf gegenseitigen Zugeständnissen hätte beruhen müssen, um so
natürlicher gewesen, als die letztere ihr Programm: Eintritt in den Nord¬
bund, selbstverständlich für den Augenblick zurückstellen muß. In der That
fehlt es nicht an vermittelnden Nuancen, an nahen Berührungspunkten
zwischen der sogenannten liberalen und der deutschen Partei. Jene hat zum
Theil Candidaten ausgestellt, für die es der letzteren sehr wohl möglich war
zu wirken. Jene hat im April vorigen Jahres, als freilich ein anderer Wind
wehte, und noch kein Salzburg dazwischen lag, ein Programm verkündigt,
das fast identisch war mit dem der deutschen Partei. Und selbst ihr jetziges
Wahlprogramm war, wenn auch unklar und verschwommen, doch eben damit
elastisch genug, um je nachdem den partikularistischen oder den nationalen
Elementen die Hand zu reichen. Daß jenes geschehen ist, und nicht dieses,
war der Wille der Regierung.
Von Anfang an, noch bevor die Agitation in Fluß kam, trennte sie sich
schroff von der deutschen Partei, nicht so von den partikularistischen Parteien.
Jene wurde als der eigentliche Gegner hingestellt, den man zu bekämpfen hatte.
Ihre kleinen Organe eröffneten den Kampf mit dem Rufe: nur keinen Preußen
wählen. Sie begannen eine Polemik gegen den Eintritt in den norddeutschen
Bund, den noch niemand verlangte. Sie appellirten an den Geldbeutel des
Volks, indem sie ihm für den Fall des Anschlusses an Preußen die entstehenden
Mehrkosten in Ziffern ausrechneten, die, gelinde gesagt, keinen ausgebildeten
Sinn für Wahrheit verriethen. Ein Rechenexempel, das in einer Wahlver¬
sammlung von einem dem Herrn v. Varnbüler sehr nahestehenden Mann zum
besten gegeben wurde, und das notorische Unrichtigkeiten enthielt, machte, von
officiösen Flügeln getragen, die Runde durch alle Wochenblättchen des Reichs.
Ueber das maßvolle Wahlprogramm der deutschen Partei herrschte in den
höchsten Kreisen eine solche Erbitterung, daß man Unterzeichner desselben bis
vor den König citirte. Nicht blos die gefürchteten Führer der nationalen
Partei, die Römer und Hölder, wurden, wie billig, von der Regierung be¬
kämpft, sondern ganz ebenso die gemäßigtsten, zum Theil im öffentlichen Leben
noch unversuchten Männer, wenn sie nur auf der keineswegs exclusiver Liste
der deutschen Partei standen. Auch dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer,
Weber, glaubte die Regierung einen Gegenkandidaten entgegenstellen zu
müssen. Selbst den Director der hohenheimer Akademie, Werner, wußte man
zum Rücktritt zu bewegen, damit er einem intimen Freund der Minister Platz
mache. Als dann auch die Ultramontanen und die Volkspartei auf den
Kampfplatz traten, um die nationale Partei zu bekämpfen, erschienen sie auf
der ganzen Linie als die natürlichen Verbündeten der Regierung. Aus Vor¬
gängen in einzelnen Wahlbezirken mußte man schließen, daß förmliche Com-
promisse unter den Führern dieser Coalition abgeschlossen seien. Man stellte,
wie gerade die Aussichten in den Wahlkreisen waren, gegen die deutsche
Partei hier einen Demokraten, dort einen Ultramontanen, am dritten Ort
einen Minister auf. In Stuttgart rief die Regierungspartei ausdrücklich
unter ihre Fahne: „Alle, die mit dem Wahlvorschlag der deutschen Partei
nicht einverstanden sind." Damit war die Coalition mit allen antinationalen
Elementen ebenso offen eingestanden, wie die Unfähigkeit, das Programm
dieser Coalition positiv zu formuliren. Einen Augenblick schien allerdings
die Negierung über solche Bundesgenossenschaft doch etwas betreten. Wenig¬
stens suchte sie sich den Anschein zu geben, als sei ihre Stellung genau
zwischen der deutschen und der Volkspartei, und weise sie die Candidaten der
einen wie der andern zurück. Der Staatsanzeiger nahm sogar den Anlauf
zu einer kleinen Polemik gegen extreme Gegner Preußens, wie Moritz Mohl
und Prof. Schäffle. Allein der schüchterne Versuch ward nicht fortgesetzt.
Im Ganzen wurde dadurch nichts mehr geändert. Die Parteistellung blieb
dieselbe. Die deutsche Partei ist gegen einen übermächtigen dreifachen Gegner,
dem der Einfluß der Regierungsbeamten, die Disciplin der Ultramontanen
und die Rührigkeit der Demokratie zu Gebote steht, einzig auf sich selbst
angewiesen, auf die Macht ihrer Gründe, auf den Rest von nationaler Ge¬
si
Daß das heute lebende Geschlecht auf der Grenze zweier verschiedener Welten
steht, macht sich auf dem künsterisch-literarischen Gebiet ebenso geltend, wie auf dem
politischen. Dieselbe Generation, welche während der ersten Hälfte ihres Lebens in
den Erfolgen einer Reihe großer Künstler, Dichter wie Musiker, Theil nahm, mit
dem einen Fuß noch in der Göthezeit stand, sieht dieselben aussterben und muß sich
sagen, daß an einen vollständigen Ersatz schon darum nicht zu denken ist, weil der
Schwerpunkt der nationalen Interessen aus dem Gebiet der Kunst in das einer
rauhen und strengen Wirklichkeit verlegt worden ist. Die „jungen Aare", an deren
kühnem Fluge der sterbende Göthe sich erfreute, sie sind einer nach dem andern ins
Grab gegangen, Chamisso und Heine, Uhland und Rückert. Friedrich Rückert war
der letzte große Lyriker, der aus der Zeit der Befreiungskriege und des Wieder¬
erwachens der Romantik in unsere Tage hineinragte, und als man ihn zu Grabe
trug, mußte die Nation sich sagen, sie habe den letzten Repräsentanten einer großen
Zeit begraben, einer Zeit, die nach Uhlands schönem Wort nur noch in den Kin¬
dern derer lebt, die sie selbst einst todt gemeint hatte." Gerade darum müssen
wir es mit Dank begrüßen, daß uns die Gelegenheit geboten ist, die Schätze,
welche der Dichter des Liebesfrühlings und der Bramanenwcisheit hinterlassen, in
einer Gesammtausgabe in die Hände zu bekommen: wird das Soll und Haben
eines Vermögens doch in der Regel erst regulirt, wenn dasselbe zur Erbschaft eines
Verstorbenen geworden. — Das Erscheinen einer Gesammtausgabe der Rückertschcn
Dichtungen war um so nothwendiger geworden, als des Dichters kleinere poetische
Schöpfungen, die lyrischen Gedichte, seit Jahren eigentlich nur in einer ausgewählten
Sammlung zu haben waren, deren beschränkter Umfang eine auch nur annähernde
Vollständigkeit ausschloß. Eine der vollendetsten Dichtungen des Meisters, jene
„Griechischen Tageszeiten", welche allein neben Schillers „Göttern Griechenlands"
genannt werden können, fehlte jener Sammlung, ebenso manches andere, unserem
Volk lieb gewordene Gedicht. — Die von der Verlagsbuchhandlung angekündigte
neue Gesammtausgabe, ist auf zwölf Bände angelegt und soll Rückerts sämmtliche
Schöpfungen, auch die Dramen umfassen; die beiden ersten Bände, den Liebes¬
frühling und die vaterländischen Gedichte, find bereits erschienen, die Herausgabe der
Uebrigen ist für die nächste Zukunft in Aussicht gestellt.
Einem wirklich vorhandenen, nicht erst seit gestern fühlbar gewordenen Bedürfniß
entgegen kommend, wird das verdienstvolle Unternehmen auf die dankbarste Anerken¬
nung aller Deutschen rechnen können.
An Werken über die Geschichte der Musik ist kein Mangel, Wohl aber hat
es bisher an einem Buche gefehlt, welches, wie das obengenannte, in gleicher Weise
den Fachmusiker wie den gebildeten Kunstfreund zu befriedigen geeignet wäre. Ge¬
lehrte und umfassende Monographien über einzelne, treffliche Biographien über her-
vorragende Meister vermochten diesem Mangel nicht abzuhelfen. Vereinzelte Ver¬
suche einer Gesammtdarstellung, wie sie von Ambros und Reißmann vorliegen, wa¬
ren theils zu umfangreich angelegt, theils wieder mit allzu erkennbarer Flüchtigkeit
gearbeitet, als daß der eine bei dem großen Publikum, der andre bei den Fach¬
genossen sich volles Burgerrecht hätte erringen können. Und doch war ein solches
Buch zum lebhaften Bedürfniß geworden. Deutlicher als irgend etwas anderes
beweisen dies die mehreren Auflagen, welche ein so allseitig ungenügendes Buch wie
Brendels Vorlesungen erlebt hat, in denen bekanntlich die Musikwerke von Wagner
und Lißt als der eigentliche Ziel- und Schlußpunkt der Musikentwicklung hingestellt
werden. Vorzugsweise dem Mangel an dergleichen Werken, die dem Laien zugäng¬
lich sind, ist es zuzuschreiben, daß noch heute diese Producte einer kleinen aber be¬
triebsamen Partei Verbreitung finden. Minder begreiflich will es seit lange erschei¬
nen, warum das leipziger Konservatorium, eine Anstalt, welche von jeher ihre Auf¬
gabe in der Pflege guter Musik gesucht hat, ihren Zöglingen die Geschichte der
Musik von einem Standpunkte vortragen läßt, der, nach den ebengenannten Vor¬
lesungen zu urtheilen, in der That wenig mit den künstlerischen Prinzipien der
Anstalt und der an ihr wirkenden Künstler übereinstimmt. — Von jenen Ueber¬
treibungen der jungdeutschen Musikgeschichte hält sich, wie sich dies bei der Trefflich¬
keit des Verfassers von selbst versteht, A. v, Donners Buch völlig frei. Eher
würde man wahrnehmen können, daß die neuere Musik etwas stiefmütterlich behan¬
delt worden ist, und wenn wir bemerken, daß von den 593 Seiten des Buches
nur ungefähr 50 den Heroen Haydn, Mozart, Beethoven gewidmet sind, so geschieht
dies, um für eine etwaige zweite Auflage den Wunsch nach entsprechender Ausführ¬
lichkeit für diese Blüthezeit der Musik so dringend als möglich auszusprechen. Mag
auch die persönliche Neigung des Verfassers und die specielle Richtung seiner Stu¬
dien ihn mit besonderer Vorliebe zu den älteren Meistern hinziehen, so kann ihm
doch nicht entgehen, daß ein Handbuch der Musikgeschichte diese als ein Ganzes,
ein historisch Gewordenes aufzufassen hat, und daß dem Höhepunkt einer großartigen
Entwicklung eine nicht minder eingehende Behandlung gebührt, als den vorauf¬
gegangenen Entwicklungsphasen, wenn man nicht als Fachgelehrter Studien, sondern
als Historiker eine Musikgeschichte für Künstler und Kunstfreunde schreibt. Es wird
dem Verfasser nicht schwer werden, den nöthigen Raum dazu durch gelegentliche
Kürzungen innerhalb des Buches zu gewinnen.
Dagegen können wir uns nur damit einverstanden erklären, daß der „vorchrist¬
lichen" Musik, als dem einleitenden Abschnitte, nur ein sehr bescheidener Raum zuge¬
messen ist, während doch andrerseits die griechische Musik, insoweit sie für das Verständ-
niß der mittelalterlichen Musik in Frage kommt, genügende Berücksichtigung gefunden hat.
Die Darstellung ist klar und verständlich, hie und da allerdings etwas größe¬
rer 'Übersichtlichkeit fähig. Gewissenhafte Angaben der Quellen und literarische
Nachweise, sowie ein sorgfältiges Namen- und Sachregister erhöhen die Brauchbar¬
keit des Buches, dem wir möglichst große Verbreitung wünschen.
Der Theil Europas, auf welchen die Aufmerksamkeit der politischen Welt seit
Jahresfrist am lebhaftesten gerichtet ist, das Land an der untern Donau und nörd¬
lich vom Balkan, kann zweifellos als der am wenigsten bekannte Strich unseres
Welttheils bezeichnet werden, — die östreichisch-türkischen Grenzländer und die der
Pforte unterworfenen Slavenländer liegen für uns Deutsche bereits „im Orient",
d. h, außer der civilisirten Welt, als deren südöstliche ultima llmlo gewöhnlich
Ungarn angesehen wird.
Das vorliegende Buch hat darum einen besonderen Anspruch auf Beachtung,
zumal es mehr hält, als es verspricht, d. h. zwei seiner Capitel, das dritte und
das fünfte, außerhalb des Rahmens liegen, welchen der Titel umfaßt. Während
das erste, zweite und vierte Capitel ausschließlich von Bosnien und der Herzegowina
handeln (Cap. I. Physikalische Verhältnisse. Il) Politische Verhältnisse. Cap. II.
Reisebeschreibung, Verkehrswege, Bosra Seraj. Cap. III. Die Administration des
Landes, die Konsulate), geht der dritte Abschnitt auf eine ausführliche Auseinander¬
setzung über den Koran, die Organisation des Priesterstandes und den Einfluß des
Islam auf das häusliche und gesellschaftliche Leben der Bosnier, ihre Sitten und
Gebräuche ein. Mit dem praktischen Blick des gebildeten Soldaten weiß der Ver¬
fasser auf diejenigen Gegenstände, welche dem Interesse des Westeuropäers am näch¬
sten liegen, sein Augenmerk zu richten und dadurch eine wirklich lebendige Anschau¬
ung von Land und Leuten zu bieten. Ueberdies sind die statistischen und topo¬
graphischen Angaben so gründlich hergestellt, als bei dem primären Stande der
türkischen Cultur möglich war — der Verfasser hat sich das Terrain offenbar mit
Gedanken an die kriegerischen Operationen angesehen, zu deren Schauplatz dasselbe
dereinst werden kann. — Das Schlußcapitel enthält in seiner ersten Hälfte einen
Ueberblick über die Geschichte des osmcmnischen Reichs mit besonderer Berücksichti¬
gung der militärischen Einrichtungen und des Entwicklungsgangs derselben, in der
zweiten Hälfte eine Beschreibung des gegenwärtigen Standes der türkischen Armee
und ihrer einzelnen Theile. Wie das Urtheil über dieselben ausfällt, erräth sich
leicht: zum großen Theil vortreffliches Material, dessen Werth aber trotz der Anlehnung
an französische Muster durch die Mängel einer corrumpirten und systematischen Ver¬
waltung beträchtlich geschmälert wird. Der Infanterie wird nachgerühmt, daß sie
namentlich in der Defensive befestigter Punkte unübertroffen sei, die Cavalerie ist,
wegen mangelhafter Detailabrichtung der Mannschaft, nur in kleinen Abtheilungen
und als Sicherheits- und Vorpostentruppe zuverlässig, relativ am tüchtigsten die Ar¬
tillerie, weil zum größten Theil in den Händen fremder Offiziere, welche das natürliche
Geschick der türkischen Soldaten für die Bedienung von Geschützen in richtiger Weise aus¬
zubeuten wissen, übrigens unaufhörlich mit dem Mißtrauen, der Indolenz und Kor¬
ruption der Eingebornen zu kämpfen haben. — In militärischen und politischen Kreisen
wird das Roskiewiezsche Buch sicher auf eine dankbare Aufnahme zu rechnen haben-
Der erste Band dieses verdienstvollen Werkes ist im vorigen Jahrgange der
„Grenzboten" so ausführlich besprochen worden, daß wir zunächst auf diese Bespre-
chung zu verweisen haben. Der vorliegende zweite Band (XXIV und 490 eng¬
gedruckte S.) enthält außer einem Nachtrage zu der im ersten Bande ausführlich
entwickelten Organisation des Zollvereins ein ausführliches chronologisches Verzeichnis
aller von-1818 bis 1867 erlassenen Geschäftsinstructionen. Gesetze und Verträge,
u. A. das Zollgcsetz. die Zollordnung und das Gesetz wegen Untersuchung und Be¬
strafung der Zollvergehen vom Jahre 1838, und zum Schluß den am 8. Juli 1867
zu Berlin unterzeichneten Vertrag über die Fortdauer des Zoll- und Handelsvereins
zwischen dem norddeutschen Bunde, Baiern, Würtemberg, Baden und Hessen, so wie
das Schloßprotokoll. Ein sorgfältig ausgearbeitetes Sachregister erhöht die praktische
Brauchbarkeit dieses fleißigen und gründlichen Buchs, auf welches nochmals hinzu¬
weisen wir am Vorabend des deutschen Zollparlaments für besondere Pflicht hielten.
Dieses auf 12 Hefte zu je 2 Blättern angelegte Album, über dessen Structur
uns keine ausführlicheren Mittheilungen vorliegen, scheint es vorzugsweise auf die
photographische Wiedergabe norddeutscher und hanseatischer Städte abgesehen zu haben.
Die uns vorliegenden beiden ersten Blätter enthalten Ansichten der Marienkirche und
des Rathhauses zu Lübeck, welche in Bezug auf Sauberkeit und Correctheit der
Ausführung nichts zu wünschen übrig lassen und die Annahme nahe legen, das
Unternehmen sei in guten Händen. Für die nächsten Hefte sind Hildesheim (das
Nürnberg des deutschen Nordens), Stendal, Tangermünde und Brandenburg in Aus¬
sicht genommen. Von der Aufnahme des ersten Cyclus wird es wahrscheinlich ab¬
hängen, ob das Unternehmen den Main überschreiten und die architektonischen Schätze,
an denen unser Süden überreich ist, in sein Bereich ziehen wird — eine Erweiterung
des ursprünglichen Programms, welche ebenso im Interesse des Unternehmers, wie
der Sache zu wünschen ist.
Für Sensativnsbroschüren ist Deutschland nie ein so günstiger Boden gewesen,
Wie Frankreich, und seit es Journale von allen Farben, Größen und Richtungen
L'de, werden Broschüren eigentlich nur noch zum Zweck der Sensation geschrieben.
Daß. die unter dem Titel „An der Schwelle des europäischen Krieges" veröffent¬
lichten zwei Druckbogen europäischer Politik darauf gerechnet haben, Aufsehen zu
Aachen, ist allerdings kaum zu glauben, denn die „Rundschau" welche der Verfasser
"ber Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der Beziehungen Preußens und Oese-
^>ass zu Rußland hält, ist wenig mehr, als ein dürftiger Auszug aus dem be¬
liebigen ersten politischen Dresdner A-B-C-Buch. Der Verfasser schildert in einem
--Borwort" die Bedrohlichkeit der gegenwärtigen Situation: Preußen wolle den Frie¬
dn, Frankreich wolle den Frieden, der „erleuchtete" k. k. Staatskanzler gleichfalls. Daß
trotzdem der Krieg vor der Thüre stehe, sei allein Rußlands Schuld. Wer hat an Ru߬
end gedacht? Nur wenige und kaum Jemand mit dem Ernste, den die Lage erheischte."
Nachdem der Verfasser auf diese Weise den Schlüssel zum Geheimniß der Si¬
tuation gefunden, und alle lebenden Politiker der Unfähigkeit zur Beurtheilung des
Letzten europäischen Continentalstaats angeklagt hat, geht er zur Beweisführung
des Satzes über, daß Rußland den allgemeinen Frieden störe, und zur Angabe der
Mittels welche eine — natürlich einfache — Beseitigung dieser Gefahr bewirken könnten.
Rußland wünscht die Erbschaft im Orient anzutreten, hat zu diesem Zweck Polen
vernichtet und will gegenwärtig Oestreich zu Leibe gehen. Oestreich aber ist der
Hort der Cultur. Der Verfasser mahnt Preußen, sich durch keine russische Allianz
ködern zu lassen, sondern Oestreichs Sache zu verfechten, und zwar im Namen der
Humanität, der Cultur, der Freiheit, des Deutschthums und seiner eigenen Inder«
essen. Solange die beiden deutschen Großmächte Hand in Hand gegangen, sei alles
wie in des Doctor Pangloß bester Welt vortrefflich gegangen, Deutschland einig,
frei u. s. w. gewesen; der Hader dieser Staaten habe den schmerzlichen, zur Zeit
des Bundesstaats unmöglich gewesenen Verlust Luxemburgs herbeigeführt, ganz Nord-
deutschland unfrei und mit sich selbst unzufrieden gemacht u. s. w. Der „geniale
Staatsmann" an der Spitze des k. k. Cabinets ragt natürlich als Fels über dem
trostlosen Horizont empor, den der Rundschauer gedankenvoll überschaut. Der uner¬
schöpfliche Reichthum an Auskunftsmitteln, der dem Lenker der Geschicke Oestreichs
zu Gebote steht, wird denn auch die Mittel mi: Verständigung mit dem „hohen
Herrn" und „geistreichen Kanzler" in Berlin mühelos ausfindig zu machen wissen,
Preußen natürlich zu Concessionen bereit sein und hinter die Anforderungen des
prager Friedens zurücktreten — dann aber ist alles geschehen, was verlangt wird,
und die verloren gegangene beste Welt mühelos in intezrum restituirt, Rußlands
Ehrgeiz für immer in Schranken gehalten. Die Entscheidung — so lehrt der
Autor zum Schluß „wird davon abhängen, ob jeder angesichts dieser ernsten Krisis
seine Schuldigkeit thut. Wir (d. h. ich Dr. O. W.) glauben, die unsrige zunächst
mit dieser Schrift gethan zu haben."
Nach Falstaff's bekanntem Ausspruch kann es niemandem übel genommen werden,
wenn er in seinem Berufe emsig ist, am wenigsten einem Verehrer des Hrn. v. Beust.
Lassen wir dem Verfasser der vorliegenden Flugschrift den seinen. Schwierig dürfte es
nur sein, für diese Art und Weise der Behandlung weltbewegender Fragen die richtige
Bezeichnung zu finden. „Dilettantisch" klingt zu vornehm und drückt die „Berufs¬
mäßigkeit" nicht gehörig aus, „unberufen" würde gleichfalls das Recht, welches jeder
Deutsche zum Patriotismus und dessen Bethätigung^ hat. in Frage stellen. Daß
der Verfasser als Einziger seiner Art dagestanden und außerhalb der gewöhnlichen
BerufLsphäre Politisirt habe, kann gleichfalls nicht behauptet werden, denn die Zahl
derer, welche Conjectüralpolitik aus freier Hand treiben und täglich eine neue „Frage"
lösen, ist im engeren wie im weiteren Vaterlande zu bedeutend, um eine Ausnahme¬
stellung sür den Garanten des ewigen Friedens übrig zu lassen, der sich „an der Schwelle
des europäischen Krieges" bereit gefunden hat, den aus den Fugen gebrachten Welt¬
theil wieder einzurenken. Der Name fehlt uns — die Gattung dieser Art von
Gelegenheitspolitikern ist leider bekannt genug und hat zu allen Zeiten ihr Wesen
getrieben. Daß es in unserer Zeit, der Zeit der schärfsten und ausgeprägtesten Gegen'
Sätze, im Herzen Deutschlands noch Leute gegeben hat, welche dieselben mit ein pcuU'
Phrasen übertünchen zu können glauben, wird — so steht zu hoffen — in SO Jahres
sür ein psychologisches Problem gelten.
Es gibt einige schöne Bildnisse Lessing's, in verschiedenen Lebensepochen
gemalt und ohne Zweifel ähnlich, da sie unter einander sowie mit der Todten-
maske übereinstimmen; mit diesen vortrefflichen Hilfsmitteln ausgerüstet,
haben Schadow, Rauch, Rietschel, unsere größten Bildhauer, Lessing treu und
schön dargestellt; dennoch ist in neuer Zeit ein Bildniß von ihm, ein zier¬
licher Kupferstich, erschienen, welcher die Copie eines abscheulichen älteren
Blattes ist! Hier erscheint er so unähnlich, so aufgedunsen und häßlich, daß
er selber wohl höchst unzufrieden wäre, denn er legte bekanntlich großen
Werth auf sein anmuthiges Aeußere. Gewiß hatte er schon als Knabe mit
seinem bis auf den Kern der Dinge eindringenden Scharfblick aus den Klas¬
sikern gelernt, daß die uns so auffallende plastische Abgeschlossenheit der an¬
tiken Charaktere sich zum Theil aus dem großen Gewicht erklärt, welches
das Alterthum auf die körperliche Ausbildung gelegt; deshalb hatte er als
leipziger Student der Theologie gegen alle damalige Gewohnheit das Fechten,
Reiten und Tanzen so eifrig betrieben, daß er später, als er sich in Tauen-
zien's Gefolge begab, um nun die große Welt, die Soldatenwelt, kennen zu
lernen, auch in diesen äußerlichen Beziehungen sich den Offizieren bequem
an die Seite stellen konnte. Schreibt ihm doch seine Braut Frau König,
ein Schauspieler, welcher in Hamburg aufgetreten war, gefiele, weil man
ihn einem gewissen Herrn (Lessing nämlich) ähnlich fände, welcher allen
Frauen gefallen habe. Und wenn es auch nicht alle Traditionen sagten, daß
er auch äußerlich von der unbehilflichen Pedanterie seiner gelehrten Zeit¬
genossen völlig frei gewesen, die vollkommene und schöne Harmonie seines
Wesens, welche aus jeder Seite seiner Schriften spricht, beweist es.
Die Nachrichten über Lessing's Bildnisse in dem fleißigen und vortreff¬
lichen Buche von Danzel und Guhrauer sind nicht vollständig und nicht
völlig genau; eine Aufzählung der vorhandenen Bildnisse, so weit sie dem
Schreiber dieser Blätter bekannt sind, mit Hervorhebung der besten, fast ganz
auf eigener Anschauung beruhend, wird seinen Verehrern nicht werthlos
scheinen.
Das früheste Bildniß ist ein lebensgroßes Brustbild von Tischbein in
Oel gemalt. Es stellt Lessing etwa dreißigjährig dar, also in der Zeit, wo
er Mitglied der Berliner Academie ward, damals für einen Deutschen und
einen so jungen Mann keine geringe Ehre, und wo er denn als Tauenzien's
Secretär nach Breslau ging. Man sieht ihn fast von vorn, er hat den
dreispitzigen Hut verwegen auf den Hinterkopf gesetzt, das lockige lichtbraune
Haar hängt frei und ungefärbt auf die Schultern, der Hals ist nackt, der
Rock von gelblicher Farbe zeigt auf den umgeschlagenen Bruststücken ein rothes
Futter. Dies Bild war früher im Besitze des berühmten berliner Arztes
Hofrath Hertz, nach seinem Tode erhielt es der Stadtrath D. Friedlaender,
dessen Nachkommen es der neuen Nationalgallerie zu Berlin geschenkt haben.
Daß es von einem der zahlreichen Tischbein gemalt ist, beruht nicht allein
auf mündlicher Ueberlieferung, , auch ein älterer Kupferstich danach, von
Bussler, nennt Tischbein als Maler. Dieser Tischbein ist wahrscheinlich
Johann Heinrich der ältere, welcher auch Gleim, Campe und andere Schrift¬
steller jener Zeit gemalt hat. Auch ist das Bild dieses ausgezeichneten Künst¬
lers würdig, so wie es Lessing's würdig ist. Der Kopf erscheint höchst geist¬
voll, die anmuthigen freien Züge sind voll heiteren Lebens, die blauen
Augen funkeln. Das Bild erfreuet jeden Beschauer, und schon mancher hat
davor ausgerufen: ja, so muß Lessing in seinen besten Stunden ausgesehen
haben.
Der erwähnte Bussler'sche Kupferstich in punktirter Manier ist äußerst
schlecht, er entstellt das schöne Bild, und nach diesem Blatte ist das erwähnte
neue Portrait copirt! Es gibt aber noch eine nach dem Originalbilde ge¬
machte geistreiche und geschickte wenn auch rohe Radirung, welche die Hand
eines Malers, nicht eines Kupferstechers, verräth, vielleicht Tischbein's eigene
Hand, mit dessen bezeichneten Radirungen dies Blatt einige Aehnlichkeit in
der Technik hat. Das einzig bekannte Exemplar davon besitzt Herr Buch¬
händler Dr. S. Hirzel zu Leipzig, und ein Umdruck ist im königlichen Kupfer-
stichcabinet zu Berlin. Auch hat Lachmann für seine Ausgabe von Lessing's
Werken dies Bild von Karl Schuler dem Aelteren stechen lassen, allein der
sonst gute Stich gibt nicht den Charakter des Orginals wieder, vielleicht
weil einige Äußerlichkeiten verändert sind; so ist der Hut fortgeblieben,
welcher in dem Bilde wesentlich die Charakteristik bedingt, und außerdem
fehlt nach der jetzigen leidigen Mode auch der dunkele Hintergrund und die
viereckige Umrahmung des Bildes, der Kopf ist statt dessen nur von einigen
sogenannten Wolken umgeben. Wieviel deutscher war dagegen die ernste
und liebevolle Behandlung der Kupferstichbildnisse des vorigen Jahrhunderts,
in denen nicht die Köpfe allein, auch die Kleidung und alles Beiwerk sorg¬
sam ausgeführt sind. Den jetzigen gestochenen Bildnissen hat der Steindruck
seinen schnellfertigen Charakter aufgeprägt, oft tragen auch die Köpfe die
deutlichen Spuren der Hast. Es ist daher erfreulich, daß Herr Professor
Bürkner in Dresden soeben eine vortreffliche Radirung nach dem Original¬
gemälde vollendet hat.
Wer vor dem Hofrath Herd das Gemälde besessen, ließ sich nicht er¬
mitteln; in Berlin scheint es ursprünglich nicht gewesen zu sein, sonst hätte
Friedrich Nicolai es gewiß im Jahre 1770 benutzt, statt ein als Bildniß
und als Stich gleich elendes Portrait für den zwölften Band der allgemeinen
deutschen Bibliothek anfertigen zu lassen. Nicolai entschuldigt sich durch
einen Scherz, er schreibt am 23. Juni 1770 an Lessing: „Da ist ein Bildniß
mit einer schönen ürax ä'krg-eine-Weste vor dem zwölften Bande der Biblio¬
thek, worunter Ihr Name steht. Sie sehen übrigens leicht ein, daß ich
hieran unschuldig bin wie ein neugeborenes Kind, und daß es ein hämischer
Streich von Klötzen ist, der uns zusammensetzen will. Man hat mir zwar
sagen wollen, der Kupferstich wäre nach einem Bildnisse, das Ihr Herr
Vater in Camenz besitzet, gemacht; das kann aber nicht sein, denn der würde
doch ein Bildniß haben, das Ihnen ähnlicher sähe."
Ein zweites ebenfalls vortreffliches lebensgroßes Bildniß hat der wackere
alte Gleim für seine berühmte Sammlung von Freundesbildnissen in Oel
malen lassen, welche in der gefühlsseligen Sprache seines Kreises: der Freund¬
schaftstempel genannt wurde. Jetzt ist diese Sammlung durch Vermächtniß
in den Besitz des Domgymnasiums zu Halberstadt gekommen, und befindet
sich in dem ehemals von Gleim bewohnten Hause hinter dem Dom, wo auch
seine Bibliothek aufgestellt ist. Diese Bilder verdienen allen Schutz und alle
Ehre, denn es sind lauter Originalgemälde, manche nicht ohne Kunstwerth,
und von mehreren unserer namhaften Schriftsteller ist hier das einzige über¬
haupt vorhandene Bildniß. Lessing's Portrait ist eins der größesten und
als Kunstwerk das beste, es ist eine Halbfigur, doch ohne Hände, in hellblau-
sammtnen Kleidern.
Erst vor kurzem ist der Maler mit Wahrscheinlichkeit nachgewiesen wor¬
den. Nach einer freundlichen Mittheilung des als Kunstforscher rühmlich be¬
kannten Herrn Dr. Lucanus in Halberstadt hat sich gesunden, daß ein anderes
in Halberstadt befindliches Bild, eine Dame der Familie Spiegel zu Pickels-
heim, welches den Künstlernamen May trägt, so vollständig mit dem Bildniß
Lessing's in Auffassung, Farbe und Technik übereinstimmt, daß Herr Dr.
Lucanus keinen Anstand nimmt, auch das letztere für ein Werk dieses rühm¬
lich -bekannten Bildnißmalers zu erklären. Georg Oswald May aus Offen¬
bach lebte Meist an den brandenburgischen Höfen in Franken, aber er machte
auch häufige Reisen, und als ein kenntnißreicher und angesehener Mann ver¬
kehrte er viel und gern mit Gelehrten; so hat er Wieland gemalt, ein Bild,
welches Bause gestochen hat und welches nach diesem Stich zu urtheilen
ebenfalls anmuthig und vortrefflich ist.
Hiernach ist es irrig, daß ein entstellender Kupferstich nach diesem Hal¬
berstädter Bilde, welcher für den „deutschen Ehrentempel" (herausgegeben
von Herrings) v. F. Müller gestochen ist, Anton Graff als Maler nennt,
und ein besserer, fast lebensgroßer Stich in leichter Roulettemanier, von Pro¬
fessor Christian Müller in Weimar, dagegen einen Tischbein. Dieser letztere
Stich gehört zu einer Reihe ähnlicher Bildnisse der größesten deutschen Dichter
und Gelehrten des vorigen Jahrhunderts. Vor wenigen Jahren ist in Dresden
nach diesem Stich ein Steindruck, in halber Lebensgröße, von W. Küntzel
verfertigt worden, auf dessen früheren Abdrücken irrig steht, das Original
befinde sich in der Götheschen Sammlung, auf jden späteren richtig: in der
Gleimschen. Den Anlaß zu diesem Irrthum gab wohl der Umstand, daß
Göthe das Bild, als er es in Halberstadt bei Gleim's Schwiegersohn
Körte gesehen hatte, endlich, in seinem Arbeitszimmer aufstellte, und sich
endlich, wie er sagt, „sehr ungern" davon trennte, als nach anderthalb Jahren
Körte es zurückforderte. Die darüber gewechselten Briefe befinden sich im
Besitz des Herrn Buchhändlers Dr. Hirzel zu Leipzig.
In dem Programm zur Jenaischen Literaturzeitung von 1807 spricht
Göthe ein treffendes Urtheil über dies Bild aus, so treffend wie alle seine
Urtheile über Kunstwerke: „Es ist zuverlässig die Arbeit eines tüchtigen
Malers, frei mit Geist und Kraft behandelt, frisch von Farbe, von lebhaftem
Ausdruck. Wenngleich Lessing hier in dem nicht mehr gefallenden und wirklich
etwas steifen Modecostüm der 1760er Jahre dargestellt ist, so erscheint er uns
darum doch als eine anziehende Gestalt. Ein volles behagliches Gesicht, das
Auge ganz ungemein lebhaft, die festen Theile, besonders die Stirn, schön
und regelmäßig gebaut. Auch ohne weitere Nachricht würden aufmerksame
Beschauer sogleich einen ausgezeichnet klaren geistreichen Mann in diesem
Bilde erkennen."
Das letzte der drei Oelgemälde ist von dem berühmten Anton Graff,
ein Brustbild, fast ganz von vorn, im rothsammtnen Rock. Es ist 1771
gemalt, als Lessing 42 Jahre alt war. Denn Lessing schreibt am 29. Juli
1772 an Frau König: „Sie wissen ja, daß ich voriges Jahr in Berlin mich
von Gräffer mußte malen lassen." Sie erwidert, er habe versprochen, ihr
das Bild zu schenken. Ob das geschehen, erfahren wir nicht. Mehrere Jahre
später erzählte Graff dem Herrn von Herrings, Lessing habe vor dem vol¬
lendeten Gemälde ausgerufen: „sehe ich denn so verteufelt freundlich aus?"
Seine Bemerkung ist völlig richtig, der Ausdruck ist lebendig und geistvoll,
aber von etwas gezwungener Freundlichkeit.
Dies Gemälde ist in mehreren Exemplaren vorhanden; es ist bekannt,
daß Graff, damals der erste Bildnißmaler in Nordeutschland, häufig seine
Bilder von Schülern und Gehilfen copiren ließ und dann selbst die letzte
Hand anlegte, indem er sie mehr oder minder übermalte.. Und ohne Zweifel
wünschten manche von Lessing's zahlreichen Verehrern und Freunden gleich
damals sein Bildniß zu besitzen. Wir kennen jetzt fünf alte gleichzeitige
Exemplare; ein sehr schönes im Besitz des Herrn Buchhändlers I)r. Härtel
zu Leipzig stammt nach dessen freundlicher Mittheilung aus dem Besitz des
alten Breitkopf, welcher bekanntlich mit Lessing bekannt war. Ein zweites
besitzt Herr Ziegler im Palmengarten zu Winterthur, Herr Buchhändler An¬
dreas Perthes zu Gotha das dritte, welches aus dem Hause seines Groß'
Vaters Matthias Claudius, des Wandsbecker Boten, stammt. Von einem
andern Exemplar zu Mainz hat Herr Freiherr von Aufseß dem Herrn An¬
dreas Perthes Nachricht gegeben, also dem vierten. Und endlich verdanken
wir Herrn Dr. A. Soetbeer zu Hamburg die Kunde, daß sich das fünfte
Exemplar dort im Besitz der Frau Senator Pehmöller befindet.
Welches von diesen fünf Exemplaren das Original ist, falls dies nicht
vielleicht in Braunschweig oder Wolfenbüttel sich noch versteckt, das könnte
nur eine künstlerische Vergleichung aller neben einander gestellten Exemplare
ermitteln. Herr Dr. Soetbeer, welcher einen ausführlichen Aufsatz über das
Hamburger Bild vorbereitet, hält dieses für das Original. Möglich ist es,
aber nicht wahrscheinlich. Fest steht nur, daß dies Exemplar früher im Besitz
des Kaufmanns Schwalb in Hamburg war, welcher zu Lessing's dortigem
Umgangskreise gehörte. Allein es ist wahrscheinlicher, daß Schwalb, mit Graff
nachweislich befreundet, sich eben auch ein Exemplar malen ließ, als daß
Lessing's Gattin ein solches Gemälde — wenn sie es besaß, was wir nicht
einmal wissen — einem Freunde geschenkt hätte. Das leipziger Exemplar,
welches ich gesehen, hat mir durchaus den Eindruck des Originals gemacht.
Wie ein französischer Literat Thievault, welcher zwanzig Jahre als Leh¬
rer seiner Muttersprache an der Kriegsschule und als literarischer Handlanger
Friedrichs des Großen in Berlin gelebt hat, sich rühmt, er habe aus diesem
Bildniß, ohne zu wissen, daß es Lessing vorstelle, dessen Charakter mit all
seinen Eigenthümlichkeiten erkannt, mag man in seinen Souvenirs as vinZt
ans at Labour Z, Berlin oder in dem Buche von Danzel und Guhrauer nach¬
lesen. Die Erzählung macht nicht den Eindruck der Wahrheit.
Gleich im folgenden Jahr, nachdem dies Bild gemalt war, hat Bause
seinen bekannten Stich danach herausgegeben; vielleicht hat er ihn nach dem
Exemplar des Herrn Dr. Härtel gemacht, da wir wissen, daß dies von An¬
fang an in Bause's Wohnort Leipzig war. Dieser Stich ist von der Gegen¬
seite, deshalb hat der aufmerksame Bause Knöpfe und Knopflöcher vertauscht,
damit Lessing nicht, wie der colossale Göthe von Schwanthaler in Frankfurt
welches Bause gestochen hat und welches nach diesem Stich zu urtheilen
ebenfalls anmuthig und vortrefflich ist.
Hiernach ist es irrig, daß ein entstellender Kupferstich nach diesem Hal¬
berstädter Bilde, welcher für den „deutschen Ehrentempel" (herausgegeben
von Herrings) v. F. Müller gestochen ist, Anton Graff als Maler nennt,
und ein besserer, fast lebensgroßer Stich in leichter Roulettemanier, von Pro¬
fessor Christian Müller in Weimar, dagegen einen Tischbein. Dieser letztere
Stich gehört zu einer Reihe ähnlicher Bildnisse der größesten deutschen Dichter
und Gelehrten des vorigen Jahrhunderts. Vor wenigen Jahren ist in Dresden
nach diesem Stich ein Steindruck, in halber Lebensgröße, von W. Küntzel
verfertigt worden, auf dessen früheren Abdrücken irrig steht, das Original
befinde sich in der Götheschen Sammlung, auf jden späteren richtig: in der
Gleimschen. Den Anlaß zu diesem Irrthum gab wohl der Umstand, daß
Göthe das Bild, als er es in Halberstadt bei Gleim's Schwiegersohn I)r.
Körte gesehen hatte, endlich, in seinem Arbeitszimmer aufstellte, und sich
endlich, wie er sagt, „sehr ungern" davon trennte, als nach anderthalb Jahren
Körte es zurückforderte. Die darüber gewechselten Briefe befinden sich im
Besitz des Herrn Buchhändlers Dr. Hirzel zu Leipzig.
In dem Programm zur Jenaischen Literaturzeitung von 1807 spricht
Göthe ein treffendes Urtheil über dies Bild aus, so treffend wie alle seine
Urtheile über Kunstwerke: „Es ist zuverlässig die Arbeit eines tüchtigen
Malers, frei mit Geist und Kraft behandelt, frisch von Farbe, von lebhaftem
Ausdruck. Wenngleich Lessing hier in dem nicht mehr gefallenden und wirklich
etwas steifen Modecostüm der 1760er Jahre dargestellt ist, so erscheint er uns
darum doch als eine anziehende Gestalt. Ein volles behagliches Gesicht, das
Auge ganz ungemein lebhaft, die festen Theile, besonders die Stirn, schön
und regelmäßig gebaut. Auch ohne weitere Nachricht würden aufmerksame
Beschauer sogleich einen ausgezeichnet klaren geistreichen Mann in diesem
Bilde erkennen."
Das letzte der drei Oelgemälde ist von dem berühmten Anton Graff,
ein Brustbild, fast ganz von vorn, im rothsammtnen Rock. Es ist 1771
gemalt, als Lessing 42 Jahre alt war. Denn Lessing schreibt am 29. Juli
1772 an Frau König: „Sie wissen ja, daß ich voriges Jahr in Berlin mich
von Grahem mußte malen lassen." Sie erwidert, er habe versprochen, ihr
das Bild zu schenken. Ob das geschehen, erfahren wir nicht. Mehrere Jahre
später erzählte Graff dem Herrn von Herrings, Lessing habe vor dem vol¬
lendeten Gemälde ausgerufen: „sehe ich denn so verteufelt freundlich aus?"
Seine Bemerkung ist völlig richtig, der Ausdruck ist lebendig und geistvoll,
aber von etwas gezwungener Freundlichkeit.
Dies Gemälde ist in mehreren Exemplaren vorhanden; es ist bekannt,
daß Graff, damals der erste Bildnißmaler in Nordeutschland, häusig seine
Bilder von Schülern und Gehilfen copiren ließ und dann selbst die letzte
Hand anlegte, indem er sie mehr oder minder übermalte.- Und ohne Zweifel
wünschten manche von Lessing's zahlreichen Verehrern und Freunden gleich
damals sein Bildniß zu besitzen. Wir kennen jetzt fünf alte gleichzeitige
Exemplare; ein sehr schönes im Besitz des Herrn Buchhändlers .Dr. Härtel
zu Leipzig stammt nach dessen freundlicher Mittheilung aus dem Besitz des
alten Breitkopf, welcher bekanntlich mit Lessing bekannt war. Ein zweites
besitzt Herr Ziegler im Palmengarten zu Winterthur, Herr Buchhändler An¬
dreas Perthes zu Gotha das dritte, welches aus dem Hause seines Groß-
Vaters Matthias Claudius, des Wandsbecker Boten, stammt. Von einem
andern Exemplar zu Mainz hat Herr Freiherr von Aufseß dem Herrn An¬
dreas Perthes Nachricht gegeben, also dem vierten. Und endlich verdanken
wir Herrn Dr. A. Soetbeer zu Hamburg die Kunde, daß sich das fünfte
Exemplar dort im Besitz der Frau Senator Pehmöller befindet.
Welches von diesen fünf Exemplaren das Original ist, falls dies nicht
vielleicht in Braunschweig oder Wolfenbüttel sich noch versteckt, das könnte
nur eine künstlerische Vergleichung aller neben einander gestellten Exemplare
ermitteln. Herr Dr. Soetbeer, welcher einen ausführlichen Aufsatz über das
Hamburger Bild vorbereitet, hält dieses für das Original. Möglich ist es,
aber nicht wahrscheinlich. Fest steht nur, daß dies Exemplar früher im Besitz
des Kaufmanns Schwalb in Hamburg war, welcher zu Lessing's dortigem
Umgangskreise gehörte. Allein es ist wahrscheinlicher, daß Schwalb, mit Graff
nachweislich befreundet, sich eben auch ein Exemplar malen ließ, als daß
Lessing's Gattin ein solches Gemälde — wenn sie es besaß, was wir nicht
einmal wissen — einem Freunde geschenkt hätte. Das leipziger Exemplar,
welches ich gesehen, hat mir durchaus den Eindruck des Originals gemacht-
Wie ein französischer Literat Thiebault, welcher zwanzig Jahre als Leh¬
rer seiner Muttersprache an der Kriegsschule und als literarischer Handlanger
Friedrichs des Großen in Berlin gelebt hat, sich rühmt, er habe aus diesem
Bildniß, ohne zu wissen, daß es Lessing vorstelle, dessen Charakter mit all
seinen Eigenthümlichkeiten erkannt, mag man in seinen Souvenirs as virißt
ans ac LHour Z, Berlin oder in dem Buche von Danzel und Guhrauer nach¬
lesen. Die Erzählung macht nicht den Eindruck der Wahrheit.
Gleich im folgenden Jahr, nachdem dies Bild gemalt war, hat Bause
seinen bekannten Stich danach herausgegeben; vielleicht hat er ihn nach dem
Exemplar des Herrn Dr. Härtel gemacht, da wir wissen, daß dies von An¬
fang an in Bause's Wohnort Leipzig war. Dieser Stich ist von der Gegen¬
seite, deshalb hat der aufmerksame Bause Knöpfe und Knopflöcher vertauscht,
damit Lessing nicht, wie der colossale Göthe von Schwanthaler in Frankfurt
am Main, seinen Rock linkshändig zuknöpfen müsse. Auch hat Bause die
Brust etwas verlängert, weil er das Bildniß in ein Oval gesetzt hat. Weicht
nun schon in diesen Äußerlichkeiten sein Stich vom Original ab, so ist er
auch zwar vortrefflich und fleißig ausgeführt wie alle Bäuschchen Arbeiten,
doch in den Gesichtszügen weit stärker markirt als das Gemälde, und das
Antlitz erhält dadurch einen etwas philisterhaften und eher abstoßenden Aus¬
druck. So mag man auch schon, als das Blatt erschien, geurtheilt haben,
denn Reiske schreibt am 12. December 1772 an Lessing: „Meine Frau be¬
trachtet oft Ihr Portrait von Bause, ob es Ihnen gleich wenig ähnlich
sieht." Frau Reiske, bekanntlich eine hochgelehrte Frau, liebte Lessing, und
hoffte später nach Reiske's Tode, er würde sie heirathen.
Weit treuer als Bause's Stich, wenn auch- ein wenig verflacht, gibt
ein neues Blatt von L. Sichling, welches auch in den Aeußerlichkeiten genau
dem Originale entspricht, den Charakter des Gemäldes wieder. Dies Blatt
gehört zu der bei Breitkopf und Härtel erschienenen Bildersammlung großer
Deutschen.
Nach diesem Gemälde und besonders nach dem Bäuschchen Stiche sind
von jeher die meisten der unzähligen Bildnisse Lessing's, ja fast alle, copirt
worden. - Von älteren Stichen ist besonders eine vortreffliche Radirung ohne
Künstlernamen zu nennen, welche sich in der Oesfeldschen Portraitsammlung
bei der königlichen Bibliothek zu Berlin befindet, dann kleinere Stiche von
Fritsch, Sturm und Liebe, die zum Theil für Bücher oder Kalender bestimmt
waren, ein Blatt von Verhelft, sauber aber karrikirt, ist in Manheim 1778
gestochen, also bald nachdem Lessing dort gewesen, besser ist eins von Karcher,
1797 erschienen.
Diese drei schönen Gemälde von Tischbein, May und Graff bezeugen
nicht allein durch ihre Uebereinstimmung in den Zügen, daß sie alle drei
ähnlich sind, sondern sie gleichen auch sämmtlich der Todtenmaske, welche
der braunschweigsche Medailleur und Bildhauer Krull abgeformt hat. Sie
ist freilich nicht „höchst sorgfältig gearbeitet", wie Guhrauer sie nennt, denn
Todtenmasken werden, nicht gearbeitet, sondern sind mechanische Abgüsse des
Antlitzes von Verstorbenen, und haben eben als unmittelbare Abdrücke größere
Authenticität für die physischen Züge als irgend ein Kunstwerk. Dies ist es,
was allen Todtenmasken solch hohes Interesse gibt. Die Todtenmaske
Lessing's ist nicht einmal sorgfältig abgeformt, allein dennoch zeigt sie die
edlen, reinen Formen seines Kopfes, und besonders tritt die Stirn als be¬
deutend hervor, sie ist wie die griechischen Stirnen breit aber nicht hoch, und
ein reiches Leben voll ernster tiefer Forschung hat sie ausgearbeitet. Krull
hat nach der Maske sogleich eine wohlgelungene lebensgroße Büste verfertigt,
von welcher auch kleine Copien in Biscuitmasse gemacht wurden.
Ein viertes Originalbildniß Lessing's besitzt die großherzogliche Biblio¬
thek zu Weimar; es ist im Dreiviertelprofil, der Maler Calau hat es in
antiker Wachsmalerei, die er wiedererfunden zu haben glaubte, gemalt. Lessing
war mit ihm bekannt, wie aus einem Briefe an seinen Bruder Karl hervor¬
geht. Das Bild ist als Gemälde nicht ohne Werth, aber die Aehnlichkeit
steht dahin.
Bald nach Lessing's Tode erschienen auch einige Profilbildnisse, das eine
nach einer Zeichnung von Frisch, dem Director der berliner Academie, von
Berger gestochen für die Gesammtausgabe der Werke, dann ein ganz kleines
ohne Künstlernamen, ein drittes auf dem Titelblatte der zweiten Ausgabe
von Mendelssohn's Morgenstunden, in Form einer Medaille, von Meil,
welcher auch eine auf den Nathan bezügliche Kehrseite zu dieser Medaille
für den zweiten Band dieses Buches zeichnete. Es wäre möglich, daß eins
dieser, von allen guten Bildnissen völlig abweichenden, durchaus unähnlichen
Profile auf ein Gipsmedaillon Lessing's zurückzuführen ist, welches der ber¬
liner Bildhauer Sabier nach Nicolai's Beschreibung von Berlin verfertigt
hat; ich kenne kein Exemplar dieses Medaillons, ebensowenig Tassaert's Ar¬
beit; dieser Hofbildhauer Friedrichs des Großen hat im Jahre 1783 „Lessing
und Gellert modellirt, sie sollen in Marmor ausgeführt werden"; so schrieb
Gottfried Schadow's Mutter ihrem Sohne; ob hier Medaillons oder Büsten
gemeint sind, bleibt ungewiß.
Auch wurden bald zwei leider schlechte Medaillen geprägt; die eine, von
dem berliner Hofmedailleur Abramson, stellt Lessing im Profil mit kurzge¬
schnittenem Haar dar, wie er es nie getragen; auf der Kehrseite ist eine
höchst geschmacklose allegorische Darstellung der trauernden Wahrheit, mit
der Sonne auf der Brust oder aus dem Magen, und der Natur, die an der
Todtenurne weint, gerade als ob Lessing keinen Laokoon geschrieben hätte.
Die andere Medaille von dem erwähnten braunschweigischen Medailleur Krull
zeigt eben so häßlich Lessing's Büste fast von vorn, und eine lange Inschrift
auf der Kehrseite.
Nur als Curiosum soll noch das in Camenz befindliche Bild erwähnt
werden, welches Lessing als kleinen Knaben mit seinem Bruder Theophilus
darstellt. Vor einigen Jahren hat ein dortiger Maler das sehr beschädigte
Original copirt und ein Lichtbild seiner Copie veröffentlicht. Der Knabe
sollte mit einem Vogel in der Hand gemalt werden, allein er verlangte einen
großen Haufen Bücher, sonst wolle er lieber gar nicht gemalt sein. Ein
wundersam frühes Vorgefühl des einstigen Berufs. Unbekannt war dies
Bild nicht, denn Karl Lessing erwähnt es in der platten Biographie seines
Bruders, wo er diese Anekdote erzählt. Schiller hat wirklich kaum zu hart
geurthetlt, als er in den Xenien von diesem Buche sagte:
Edler Schatten, du zürnst? ja, über den lieblosen Bruder,
Der mein modernd Gebein lässet in Frieden nicht ruhn.
Denn diese Lebensbeschreibung beweist in der That, daß Held und Biograph
geistverwandt sein sollten. Hier schiebt der Bruder seine flachen Ansichten
und dürftigen Motive dem großen Manne unter, daß dieser selbst, so geschil¬
dert und so vertheidigt, schwach erscheint. Aber dennoch sind wir Karl
Lessing Dank schuldig, denn nur ein Bruder konnte uns manche seiner Nach¬
richten überliefern.
Während wir demnach so zahlreiche und theilweise vortreffliche Bildnisse
besitzen, hat Herr Fr. Pecht in seiner „ Lessing-Gallerie", welche Personen
aus Lessing's Dramen in idealen Gestalten darstellt, auch ein Jdealbildniß
Lessing's gegeben, welches halb Klopstock, halb Capitän Cook ähnlich sieht.
In unserer Zeit der Monumente hat die Sculptur mehrmals Gelegen¬
heit gefunden, sich an Lessings Bildnissen zu erproben. Gottfried Schadow
hat im Jahr 1824 für den Vorsaal des schönen von Schinkel erbauten Con¬
certsaales im Berliner Schauspielhause unter mehreren Büsten der größten
Dichter und Musiker auch eine von Lessing verfertigt, welche, meisterhaft und
geistvoll wie alle seine Arbeiten, doch vielleicht nicht individuell genug ist.
Eine Statuette von Schalter in München mag der Vollständigkeit wegen
erwähnt werden. Im Jahre 1863 ward in Lessing's Vaterstadt Camenz auf
dem Schulplatze eine von Kraner gearbeitete Colossalbüste aufgestellt. Die
von Rietschel in Dresden verfertigte Broncestatue in Braunschweig ist durch
die vielverbreiteten Abgüsse der kleinen, sorgfältig gearbeiteten Wiederholung
allgemein bekannt und beliebt geworden. Man will jedoch die etwas schlanke
Figur in ihrer stattlichen, ja vornehmen Haltung nicht völlig der Tradition
entsprechend finden, welche Lessing als einen nicht eben großen Mann von
breiter Brust und gedrungenem Bau, und seine Haltung immer freundlich,
frei, entgegenkommend schildert. Diesen Ueberlieferungen ist Rauch gefolgt,
welcher ihn auf dem Fußgestell des Denkmals Friedrichs des Großen sehr
lebendig und ansprechend dargestellt hat; er benutzte dazu das erste der drei
Oelgemälde, die Todtenmaske und die Büste danach. Rauch's Statue ist
nicht allein ähnlich, sie entspricht auch der Vorstellung, die man sich von
Lessings Wesen zu machen liebt.
Man hat es als unhistorisch getadelt, daß Lessing an dieser Stelle er-
scheint. Ein namhafter Tagesschriftsteller, der sich auch mit Lessing beschäf¬
tigt, hat in einem, wenn wir nicht irren, Friedrich der Große und Lessing
betitelten Journalaufsatze geäußert, der König hätte von dem bekannten
Streite Lessing's mit Voltaire über eine von Voltaire's Secretär Richier'an
Lessing geliehene Handschrift erfahren, er hätte daher eine üble Meinung von
Lessing behalten, deshalb habe er ihn später nicht anstellen, nichts von ihm
Wissen mögen; und folglich sei es auch unhtstorisch, daß Lessing nun an dieser
Stelle stehe. »
Di;se Darstellung, obwohl ausführlich genug und mit Einzelheiten
ausgeschmückt, ist hypothetisch, um nicht apokryphisch zu sagen. Allein auch
abgesehen von diesen Zweifeln, was würde jener Schriftsteller wohl meinen,
wenn man „historisch" verfahrend Voltaire, d'Alembert und Maupertuts auf
das Postament gesetzt hätte? Es ist ja gerade schön, daß die Nachwelt die
Gegensätze in Friedrichs und' Lessing's literarischen Richtungen im höheren
Sinne versöhnt; Lessing wäre ohne das an Friedrich sich aufrichtende Selbst¬
gefühl des deutschen Volkes nicht Lessing geworden, er hat den großen König
in der Minna so schön verherrlicht, es ziemt sich also, daß er nun im Ab¬
glanz des königlichen Ruhms auch an dieser ehrenvollsten Stelle steht.
Karl Mendelssohn-Bartholdy, Friedrich von Gentz. Ein Beitrag zur Geschichte
Oestreichs im XIX. Jahrhundert. Mit Benutzung handschriftlichen Materials. Leipzig,
Hirzel, 1867. — Derselbe, Briefe von Friedrich von Gentz an Pilen. Ein Beitrag
zur Geschichte Deutschlands im XIX. Jahrhundert. 2 Bände. Leipzig. Bogel, 1868. —
(v. Prokesch-Osten) Aus dem Nachlasse Friedrichs von Gentz, I. Briefe, kleinere
Aufsätze, Aufzeichnungen. II. Denkschriften, Wien, Gerold, 1867.
Noch immer ist das Interesse, welches Friedrich Gentz uns einflößt, im
Steigen. Jeder neue Beitrag zur Geschichte Napoleons I. oder Metternichs
— also jede Aufklärung über die jüngstvergangene, auf uns nachwirkende
Zeit lenkt uns wieder auf seine umfassende politische Thätigkeit zurück, und
jede Mittheilung von seinem Wirken und Leben hebt uns zugleich von neuem
die unversöhnlichen Gegensätze in seiner Natur heraus. Er fesselt uns gleich
sehr als Staatsmann und als Mensch; sein Charakter und seine politische
Thätigkeit erläutern sich gegenseitig. Man muß ihn aus seiner Zeit, und
seine Zeit aus ihm selbst verstehen lernen. Was wir aber von ihm wissen,
erregt zu gleicher Zeit so sehr unsere Bewunderung und unsere Verachtung,
daß eine vorurtheilsfreie Schätzung uns erheblich erschwert und entfremdet
wird. Sein politisches Wirken ist man jetzt, wo man sich mit mächtigem
Zuge aus der Zeit politischen Druckes und Stillstands zu lösen bestrebt ist,
und wo man alles, was jetzt noch unzulängliches und kleinliches zu ertragen
ist, alle Verderbniß und alle Ohnmacht politischer Zustände aus jene Zeit
Metternichs zurückführt, geneigt, als Akte der Verblendung und der Tücke mit
Entrüstung zu schildern, und seitdem die von Ludmilla Ussing herausgegebe¬
nen Tagebücher mit erschreckender Offenheit auch Gentz' sittliche Schwächen
vor der Welt enthüllten, haben alle diese Züge liederlichen und anrüchigen
Lebens nur neue Gründe für das Verdammungsurtheil, geliefert, in welches
man das gesammte Thun des Mannes zusammenfaßt. Es ist schon ein Fort¬
schritt zur Unparteilichkeit, wenn man sich der leichten und lockenden Auf¬
gabe widmet, diese wunderbaren Contraste in seinem Wesen sich gegenüber
zu stellen, zu erzählen, wie derselbe Mann, der schon im Jahre 1808 den
Plan eines constitutionellen Bundesstaats unter Oestreichs Leitung ausarbei¬
tete, also mit den östreichischen Traditionen nicht nur völlig brach, sondern
noch weit mehr, weit lebenskräftigeres und ersprießlicheres forderte, als später
unter seiner vornämlichen Mitwirkung zu Stande kam, wie derselbe Mann,
der zu dem Kampfe gegen Napoleon an das deutsche Volk, „den Bund der
Starken, Reinen und Guten" sich gewendet, es an den Stolz und die Herr¬
lichkeit unserer Nation gemahnt und mit flammender Beredtsamkeit es zum
Kampf aufgerufen hatte — wie eben derselbe später die Carlsbader Beschlüsse
als die größte retrograde Bewegung seit dreißig Jahren, als ein Ereigniß
größer als die Schlacht von Leipzig pries und sich nun groß und stolz in
dem Gedanken fühlte, bei solchen Beschlüssen, „dem edelsten und fruchtbarsten
Werke, welches unsere Zeit, unter Gottes sichtbarer Mitwirkung hervorge¬
bracht hat, ein eingeweihter Zeuge und manchmal ein brauchbarer Hand¬
langer gewesen zu sein." Was war mit dem Manne vorgegangen, daß er,
der die Schäden autokraten Regiments früher als die leitenden Staatsmänner
erkannt und die Zukunft auf die gesunden, mächtigen Kräfte des Volks hatte
gründen wollen, die Berufung des Ministeriums Polignac als „einen so
großartigen Entschluß preist, daß nur Gott ihn dem schwachen König ein¬
geben konnte", und mit dem Bischof von Laibach sich dahin verständigt, daß
„ohne eine Totalreform in den Lyceen und anderen Erziehungsanstalten, daß
ohne unmittelbare Verabschiedung der drei Viertheile aller Professoren in der
Monarchie die Achtung für die Religion und für die öffentliche Ordnung
nicht wieder hergestellt werden kann, die weit mehr von innen heraus, als
durch alle auswärtigen Libellisten untergraben worden ist?"
In der That, es ist verlockend, in der Schilderung dieser Gegensätze zu
verweilen und hellen Lichtseiten desto düstere, räthselhaftere Schatten entgegen¬
zustellen. Die Publikationen aus Gentz' Nachlaß, welche die letzten Monate
uns brachten, führen uns einen guten Schritt dem rechten Ziele näher. Das
Werk des Baron von Prokesch-Osten schildert Gentz namentlich als Staats¬
mann; politische Aufsätze, in denen er seine Ansichten sich selber entwickelt,
Denkschriften, die er für Staatsmänner oder in officiellen Auftrage verfaßte,
Bemerkungen, welche die Lektüre historischer und politischer Werke veranlaßte,
bilden den Hauptinhalt der beiden Bände; die mitgetheilten Briefe sind
gleichfalls vorwiegend politischen Inhalts. Wichtig sind die Publikationen
nicht nur zur Kenntniß der einzelnen Ereignisse, die sie betreffen , sondern
auch, weil aus ihnen weit mehr als bisher Gentz' Anschauungen sich charak-
teristren, und sich ergibt, was in ihm bleibende Ueberzeugung, innerste Geistes¬
art war und was und wie es sich im Lauf des Lebens und seiner Erfahrungen
allmählich, und zum Theil bis in den Gegensatz umwandelte. Allgemeines
Interesse beansprucht sein Briefwechsel mit Pilat, der in diesem Werke nur
in spärlichen und ungenauen Bruchstücken, vollständig aber von Professor
Mendelssohn, der die Originale von Pilats Erben in Wien erwarb, heraus¬
gegeben worden ist. In ihnen offenbart sich Gentz gleich unbefangen als
Mensch und als Staatsmann; sie geben zu jenen schroffen Zügen, in denen
man sich sein Bild vorzustellen gewöhnt hat, die versöhnenden Mitteltöne.
In einem besondern Essay hat Mendelssohn mit einer vollkommeneren Be¬
herrschung des Materials, als es früheren Biographen zu Gebote stand, die
Grundzüge in Gentz' Charakter geschildert und deren Gegensätze erläutert
und verbunden.
Diese zahlreichen Briefe, welche Gentz an den wiener Polizeiminister
Pilat richtete, den Herausgeber des österreichischen Beobachters, einer von
Metternichs Regierung inspirirter Zeitung, zeigen in der That alle glän¬
zenden und gesunden Seiten von Gentz. Sein dem Adressaten überlegener
Rang berechtigte ihn, gegen denselben eine Würde und Zurückhaltung zu
bewahren, die ihm sehr gut anstehen. Um so freiwilliger und natür¬
licher äußert sich dazwischen eine Vertraulichkeit, die zu erweisen der leicht
bewegten Seele Gentz'5 ein Bedürfniß war. Besonders aber nimmt für
Gentz die geistige Ueberlegenheit ein, die einem kleinklugen und leicht er¬
hitzten Politiker wie Pilat gegenüber wohlthuend und klar hervortritt und,
wenn er seinen Correspondenten mit starken Worten hat in Schranken wei¬
sen müssen,*) so erscheinen die Gleichmäßigkeit seines Vertrauens zu ihm und
sein unbeirrt sicheres politisches Urtheil doppelt erfreulich und werthvoll.
Den gleichen Eindruck macht Gentz gegenüber der fast belustigenden Bigotterie
Pilats. Er weist ihn zuweilen mit ernsten und vortrefflichen Worten zurecht
— freilich ohne die geringste Wirkung. Das hindert ihn aber nicht, seine
eignen freien Ansichten stets offen vor dem wiener Polizisten zu entwickeln.
In den ersten Jahren der Korrespondenz zeigen Gentz' Briefe noch mehr
Ernst, mehr Feuer, seine Gedanken sind schärfer, geschlossener, große Ziele
treten näher heran und beherrschen lebhafter seinen Geist; allgemeine Grund¬
sätze werden behandelt. In späteren Jahren gehen die Gedanken in ruhige¬
rem, breiterem Strom; Einzelheiten nehmen überHand, Plaudereien werden
öfter untergemischt, alles wird äußerlicher erfaßt, das Urtheil wird gelassener,
zweifelhafter — aber durchgängig offenbart sich Welt- und Menschenkenntniß,
Meisterschaft in diplomatischen Geschäften, eine staunenswerthe Arbeitskraft,
eine reiche und allzeit handliche wissenschaftliche und publieistische Bildung
kurz, das Bild eines echten Staatsmannes. Er hat ein Recht dazu, auch
uns zur Lehre auszurufen: „Nach dreißigjähriger Arbeit bin ich endlich so
weit gekommen, daß ich begreife, wie einem Manne, der handeln und regie¬
ren muß, eigentlich zu Muthe ist. Wenn dieser Gedanke taufenden meiner
Bekannten nur ein einziges Mal aufstieße, so würden sie sich doch schämen
müssen, über das schwerste auf Erden mit so sträflichen Leichtsinn abzuspre¬
chen." Manche seiner Urtheile über die Presse, seine Aeußerungen über die
Erfordernisse einer guten Zeitung, seine Grundsätze über praktische Staats¬
kunst sind ausgezeichnet. Er überschaut Sinn und Gang der politischen
Lage und behält alles, was seinem System Nutzen und Schaden bringen
kann, zusammenhängend vor Augen. In vielem aber steht er noch höher und
vielleicht in nichts anderm trifft uns die Voraussicht und Größe seines Gei-
stes näher, als in den wie für unsere Tage geschriebenen Worten über die
römische Frage: „der Cardinal Spina sprach wie eine Nachtmütze (schreibt er
während des laibacher Congresses) und so hat sich auch der römische Hos
seither leider benommen. Ihm kann von außen her nicht geholfen werden,
wenn er sich nicht selbst helfen will — die wahre Gefahr für die katholische
Kirche ist in Rom und nur in Rom. Wenn der päpstliche Hof nicht in
kurzem zu sich kommt und einsieht, daß er nicht, mit dem Kopf gegen ein
eisernes Thor rennen kann, so werden keine auswärts zu seinem Besten er¬
griffenen Maßregeln ihm mehr helfen. Die Gewalt des Stromes, der von
allen Seiten gegen ihn andrängt, ist zu groß, und wenn der Papst sich nicht
selbst an bis Spitze dieser Hauptreformation stellt, so wird in wenig Jahren
eine viel ärgere als die von Luther gegen ihn ausbrechen."
Je wohlthuender uns nun die Achtung vor einem so viel geschmähten
Manne überkommt, je Mehr wir in ihm edle, große Eigenschaften, ja, mit
uns übereinstimmende Urtheile entdecken, um so ernster ergreift der Gegensatz,
in welchem wir die Summe seines Wirkens und seine ganze Zeit zu unserer
Gegenwart stehen sehen. Hier ist der Kernpunkt des Interesses, mit welchem
Gentz gleicherweise unsern Verstand und unser Gemüth fesselt. Ein Bild
seiner Wirksamkeit, am besten seine eignen Zeugnisse, seine Briefe zeigen ihn
inmitten einer Zeit, die uns, der unmittelbar folgenden Generation, wunder¬
bar entlegen erscheint, inmitten- einer politischen Lage, deren Gegensatz zu
unseren Tagen nicht schroffer gedacht werden kann, mit seltener Kraft und
Mit voller Zuversicht an einem Werke arbeiten, welches jetzt durchaus zer¬
trümmert vor uns liegt, mit allem Reichthum und allem Scharfsinn seines
Geistes Zielen dienen, deren Schwäche, deren Lüge, deren UnHaltbarkeit jetzt
aller Welt offenkundig und im allgemeinen Bewußtsein sind.
Man darf Gentz mit Metternich identificiren. er war dessen zweites Ich,
sein Rath und seine Feder. Mit Gentz werden alle Akte der Negierung ver¬
handelt, ihm die wichtigsten Schriftstücke übertragen, er ist der Praktiker, der
die öffentliche Meinung beobachtet, und der thörichten, groben oder böswilli¬
gen Volksmenge Schädliches vorenthält, Vermessenes tadelt, Irriges wohl¬
meinend berichtigt. Er ist der Träger jener Periode farblosen Einerleis,
dumpfer Stille, dummen Gehorsams, der „Ruhe um jeden Preis". Es über¬
rascht uns immer wieder, daß jene Männer wirklich glaubten, ein großes,
von jungen Siegen erregtes und begeistertes Volk in blinder Abhängigkeit
und Theilnahmlosigkeit unter einer Regierung zu halten, die ausschließlich nach
dem Interesse eigengefälliger Cabinetspolitik und ohne Zusammenhang, ohne
Verständniß von dem Wünschen und Wesen des Volkes handeln wollte, daß
sie keine.Vorstellung von der unerschöpflichen und unwiderstehlichen Macht
hatten, welche aus einer sorgsam gepflegten und geleiteten Entwicklung des
Volksbewußtseins quillt, daß das Stichwort und das Zauberwort unserer
Tage, bey Grund unserer Größe, die „nationale Politik" von ihnen völlig
unbegriffen war. Schwächlich und kindisch waren freilich oft die Regun¬
gen dieses nationalen Bewußtseins; wer will sich des Lächelns erwehren,
Kenn sechs jenenser Studenten — nach der gewiß wahrheitsgetreuer
Schilderung von Gentz — vom Großherzog von Weimar zur Tafel geladen,
M deutscher Tracht mit großen rothen Schärpen, offenem Halse und langem
Barte erscheinen und, als der Großherzog die Gesundheit der Universität
aufbringt, einer der „Unholde" mit dem Gegentoaste antwortet: „dem ein¬
zigen deutschen Fürsten, der sein Wort gehalten hat", — aber ganz unwür¬
dig schwächlich waren auch die Empfindsamkeit und Furcht, welche Gentz und
die Seinigen diesen Regungen entgegensetzten. Spaßig ist es noch, daß ihm
^ dem herrlichen Gemälde des Heidelberger Schlosses „der einzige Fleck die
grotesken und widerlichen Figuren sind, die in schmutzigen altdeutschen Trach¬
ten, Gott und den Menschen ein gerechter Greuel, mit Büchern unter dem
Arm, die falsche Weisheit ihrer ruchlosen Professoren einholen gehen". Aber
bedenklicher offenbart sich der schwachsinnige Widerwille von Gentz in einer
höchst bezeichnenden Schilderung des Besuchs, den ihm der treffliche Buch¬
händler Reimer aus Berlin mit einem jungen Reisegefährten in Gastein
macht: „Ich glaubte, er sei ein Sohn des bekannten Reimer, und leugne
Ihnen nicht, daß sofort alle Sands und Löhnings von Norddeutschland vor
meinem Gemüth standen. Da die beiden Menschen schon im Nebenzimmer
waren, so blieb Anstands halber nichts übrig, als sie kommen zu lassen.
Hierauf trat ein der berühmte Herr Buchhändler in höchst eigner Person,
nebst einem ziemlich jungen Dr. de Wette, vermuthlich einem Sohn des be¬
rüchtigten Professors. Der Besuch, dessen eigentliches Motiv ich nicht begrei¬
sen konnte und noch nicht begreifen kann, setzte mich in einige Verlegenheit,
die ich aber unter einer sehr höflichen Aufnahme, so gut es gehen wollte,
verbarg. Das Gespräch dauerte, Gottlob, nur eine halbe Stunde. Jedes
Wort, welches die Unholde sprachen, verrieth den innern Grimm gegen alles
Bestehende und ihre hochmüthigen Projekte, alles neu zu schaffen. Von
eigentlicher Politik hielt ich sie streng entfernt; und auf die Frage, ob ich
keine neuen Nachrichten aus Italien hätte, antwortete ich kurz und trocken
mit nein! — Als sie fort waren, konnte ich mich nicht enthalten, Gott zu
danken, daß ich mit dem Leben davon gekommen war; denn mehr als einmal
kam mir der Gedanke, sie würden Dolche odu Pistolen aus der Tasche zie¬
hen. — Allen Scherz bei Seite gesetzt, werden Sie wohl begreifen, daß ich,
der ich mit dieser Höllenbrut nun so lange in keiner Art von Berührung
gewesen bin, mich äußerst unheimlich mit ihnen fühlen mußte, und daß
ich lieber noch einmal, allenfalls auch bei Nacht, über alle hängenden Brücken
der Klarn und alle Abgründe der Salzach gehen oder fahren, als mit diesen
deutschen Carbonari unter einem Dache wohnen wollte. Hätte sich die Rotte
auch nur auf drei Tage hier niedergelassen, ich wäre sogleich davon gegangen.
Daß übrigens eine ganze Gesellschaft solcher motorischer Umtriebler unsere
Provinzen in allen Direktionen frei durchstreifen darf, scheint mir doch eine
bedenkliche Sache, und besonders zu Fuß, wo alle Controle aufhört, und
wo sie in den abgelegensten Winkeln der Monarchie treiben können, was
ihnen beliebt. Die Leichtigkeit, womit unsere Gesandtschaften in Berlin und
Wien Pässe austheilen, hat mich schon oft scandalisirt. Ich würde in unseren
Zeiten keinem nur irgend verdächtigen Reisenden einen andern Paß geben,
als um auf der Poststraße nach Prag oder nach Wien zu gehen; und
hier müßte dann erst entschieden werden, ob er geeignet sei, Beobachtungs¬
reihen im Innern des Landes zu machen." — Armselige Kurzsichtigkeit! der
selbstgefällige Humor, mit welchem diese Episode geschildert wird, darf doch
die Wahrheit solcher Befürchtungen nicht zweifelhaft machen; sonst würde
Gentz nicht mit fast heuchlerischer Emphase über denselben Gegenstand aus¬
rufen können: „Im Fleisch muß die Revolution bekämpft werden, die mora¬
lischen Mittel sind vor der Hand ganz ohnmächtig. In geharnischten Glie¬
dern, aufmarschirt in Massen, müssen endlich die beiden Systeme auf Leben
und Tod kämpfen. Siegen wir, so siegen alle guten Sachen mit uns. Wer¬
den wir (tmgliter) geschlagen, so mag Gott in tausend Jahren eine neue
Welt schaffen, mit der alten ist es dann im christlichen und moralischen
Sinne aus."
Die Charakteristik jener mattherziger und verirrten Anschauungen, welche
die Zeit beherrschten, wird erst vollständig, wenn man sich des Hohnes be.
wußt bleibt, mit welcher diese Staatsmänner den „ridiculen preußischen Hof"
betrachteten. Schon 1818 schreibt Gentz: „Von der Verehrung, welche die
Preußen allem, was Oestreich angeht, unserer ganzen Stellung, unserm
System, unsern Maßregeln, unserer Sprache u. f. w. widmen, könnte ich
Ihnen einen langen Brief schreiben. Die Persönlichkeit des Fürsten Metter-
nich und sein ebenso liebenswürdiges als klug berechnendes Benehmen hat
sie nun vollends bezaubert." Und noch 1826: „Es geht ins unglaubliche,
was man der preußischen Regierung heute bieten darf." Es waren freilich
Wonnetage für ihn, als er und Metternich „schon zwei Meilen vor Cöln
zwischen einer Art von fortlaufendem Spalier, durch die Volksmenge Einzug
in Cöln hielten" und der Kaiser in Aachen „sich gleich beim Eintritt in den
Dom in einen Betstuhl warf, seine Andacht verrichtete, die Reliquien und
das berühmte Evangelienbuch küßte, während der König und sein Sohn
(heutige Souverains der Stadt!) von fern stehend Zuschauer waren."
Diese wenigen Skizzen bekunden zur Genüge den fundamentalen Unter¬
schied zwischen jener Zeit und unserer befreiten Gegenwart, die doch nur durch
ein Menschenalter getrennt sind. Jene Staatsmänner haben die Kräfte des
Volks nicht zu entbinden, sie haben sie nicht einmal zu achten, nicht einmal
M verstehen gewußt. Es fehlte ihnen jedes Bewußtsein der Zusammen¬
gehörigkeit mit dem Volke, sie schafften nicht nur ohne, sondern auch nicht
einmal für das Volk, sie fühlten sich ohne große sittliche Pflichten, sie be¬
saßen Staatskunst, aber keine Staatsweisheit. „In der praktischen Politik gibt
es eigentlich gar kein System mehr für mich. Es ist nichts als eine Kunst
und der beste Künstler der, der in jedem Augenblick seines Instruments am
meisten Herr ist." — Sie regierten nur für sich und ihre Fürsten. Lhu«z
vivere et 1g.etg.ri — dieser Wahlspruch des Sebastians del Piombo und der
ganzen italienischen Renaissance war der ihrige geblieben. „Genießen Sie
das Leben und lassen Sie den Himmel für die Welt sorgen. Es wird immer
noch einige feste Punkte geben, auf welchen man stehen bleiben kann, wenn
auch Alles bricht." All ihr Mühen ging nur dahin, ungestört von den „Un-
holden" und von „Bestialitäten" — wie Gentz fast alles bezeichnet, was in
gröberem Ton und mit naturkräftiger, durch den Druck gesteigerter Gewalt
aus dem Volke gegen ihn andrängt, — das behaglichste Dasein zu führen.
Gentz ist der vollkommene Typus dieser pflichtlosen, genußsüchtigen Gesell¬
schaft. Man mag nicht gegen die endlose Reihe üppiger Gelage eifern, deren
rühmende Schilderung fast jeder seiner Briefe enthält. Ebenso wären die
Huldigungen gegen schöne Frauen, und die unsaubern Liebschaften höchst
gleichgiltige Dinge, wenn sie nicht zum Preise für staatsmännische Arbeit
würden. In der That aber legte man dahinein den Werth des Lebens,
und nur, wenn und weil etwas diesem Zustande ruhigen eitlen Genusses
hindernd in den Weg trat, erweckte es zum Handeln. Eine große Zeit stei¬
gerte daher allerdings Gentz zu großartiger Wirksamkeit; er hat unter den
Ersten den Kampf gegen'Napoleons Tyrannei geführt. Daß ihn aber nur
enge selbstsüchtige Beweggründe leiteten, bewies später sein ebenso hartnäckiger
Kampf gegen alles, was die Ruhe des Metternichschen Systems stören wollte.
Diesem frivolen Ziele zugewandt, versinkt er mehr und mehr in Gleichgiltig-
keit, in Blasirtheit, in „öde Resignation". Es ist ein erschreckendes Ende, daß
derselbe Mann, der zuvor im Dienste der Reaction sich gerühmt hatte: „Der
wahre Grund meiner unerschütterlichen Ruhe ist der, daß noch nie eine so
gute, so reine, so fleckenlose Sache wie die unserige mit einer so durchaus
schlechten und schändlichen wie die unserer Gegner im Kampf war," am Schluß
seines Lebens bekannte: „Ich war mir stets bewußt, daß ungeachtet aller
Majestät und Stärke meiner Committenten und ungeachtet aller der einzelnen
Siege, die sie erfochten, der Zeitgeist zuletzt mächtiger bleiben würde, als
wir; daß die Presse, so sehr ich sie in ihren Ausschweifungen verachtete, ihr
furchtbares Uebergewicht über alle unsere Weisheit nicht verlieren würde, und
daß die Kunst der Diplomaten so wenig als die Gewalt dem Weltrade in
die Speichen zu fallen vermag." In einem ausführlichen Briefe, den er
unter dem Eindruck der Julirevolution an den Fürsten Wittgenstein schreibt
(Prokesch-Osten I. 108 ff.) erörtert er die Aussichten auf den Sieg und den
Bestand seines Systems: er sieht es, „nachdem wir durch 16 Jahre mühsam
und beharrlich daran gearbeitet haben, sogut als zerstört. Aus dem unver¬
meidlichen Schiffbruche alles Alten dasjenige zu retten, was uns am nächsten
liegt und was der Erhaltung am würdigsten ist, das allein muß und kann
unser eifriges Bestreben sein." Das „eine Mittel für diesen großen Rettungs«
Prozeß, den Kampf auf Leben und Tod", weist er zurück — „das andere
liegt in dem wohl berechneten Temporisiren, welches den Stürmen der Zeit
nichts als Besonnenheit und Beharrlichkeit entgegen setzen soll." Er bekenne
sich als entschiedener Anhänger dieses Mittels. Schon 180S erklärte er sich
bestimmt, „sich ganz dem schweren, dem undankbaren, dem gefahrvollen Ge-
Schäfte zu widmen, das Uebermaß der Cultur zu bekämpfen." — In eine
solche Renitenz faßt, derselbe Mann seine Lebensaufgabe zusammen, dessen
politische Einsicht und Thatkraft, dessen staatsmännisches Talent wir bewun¬
dern! Er war ohne Verständniß für die Mächte, welche die Geister vorwärts
trieben, geschweige denn, daß er eine Verständigung mit ihnen unternahm.
Er und die Seinigen standen fremd und einzeln der allgemeinen Volkskraft
gegenüber; sie kämpften nur für sich, nicht für ein Allgemeines, für keine
sittliche Macht, und daher unterlagen sie.
Ohne je durch das Gefühl einer edlen Pflicht gestärkt und geläutert zu
sein, war Gentz durch das Leben gegangen. Niemals hatte er aus innerem
Drange für das Glück Anderer, für die allgemeine Wohlfahrt sein Selbst rück¬
sichtslos eingesetzt oder zu Dienst gegeben. Seine Ehe hatte er früh und
freventlich gebrochen. Nirgends bestand für ihn eine Offenbarung des Idealen,
an welcher er sich gemessen und begeistert hätte. Die Werke der Kunst machten
nur flachen Eindruck auf ihn. „Sogenannte Kunstschätze" waren ihm gleich-
giltig, Bauwerke wie die Dome von Köln und Mailand werden nur obenhin
in seinen Briefen erwähnt. Nur die Natur vermochte- seine Seele zu be¬
wältigen, aber, was für ihn charakteristisch ist, eine in ihren gewaltigsten und
erhabensten Formen. Eine anmuthige, freundliche Gegend war ihm wider¬
wärtig, die Umgegend von Johannisberg fand er eintönig und formlos, eine
einzige Stelle im Salzachthal sei ihm lieber als die ganze Natur des Rhein¬
gaus. Allerdings, die Alpenlandschaften hat er fast mit jedem Jahre wieder
in begeisterter und schöner Schilderung gepriesen. Er bedürfte aber eines
bewältigenden Eindrucks, einer überlegenen Größe, um in Thätigkeit oder .
Stimmung zu kommen. Es ist bekannt, welche Furcht ihm Gewitter ein¬
flößten. Er zählte ihre Schläge, verfolgte ihren Gang, berechnete ihren Aus¬
bruch, und ängstigte sich schon im Voraus bei den Anzeichen,, die er peinlich
beobachtete. Er wird dessen nicht müde und bedenkt sich nicht, in seinen
Briefen die umständlichsten Beschreibungen und die offenherzigste Beichte seiner
^ugst zu geben. — Vor einer idealen Macht wenigstens liebte es Gentz, Ehr¬
furcht zu heucheln: vor der Religion. Man kann ihm keinen Borwurf daraus
wachen, daß er nicht kirchlich gläubig war: er hatte zu viel von philosophi¬
scher Aufklärung in jungen Jahren in sich aufgenommen, hatte zu früh in
der scharfen Zugluft des profanen Lebens gestanden, und sich viel zu leicht
diesem Treiben der Welt anbequemt, um einen confessionellen Standpunkt
M bewahren. Mit seinem Uebertritt in östreichische Dienste und mit der
Verfechtung metternichscher Staatskunst verflüchtigte sich aber selbst das, was
^ von ernster Erwägung religiöser Gedanken noch in sich trug, in auffallen¬
der Weise: denn in seiner Vergleichung der „sogenannten Reformation mit
der Büchse der Pandora, die den letzten Ruin über die zuvor hinlänglich
proscmirte und entgötterte Welt gebracht hatte", bekundete er nur, wie ihm
der politische Zelotismus jeden Maßstab für andere als politische Werthe ge¬
raubt hatte und daß er sogar religiöse Entrüstung heucheln konnte, wenn es
seinen politisch-selbstsüchtigen Zwecken diente; ebenso beweist seine Versicherung,
fünf Jahre mit dem Entschluß, katholisch zu werden, gerungen zu haben,
daß er sich von einer früheren, ernsteren, verstandesklaren Ueberzeugung schon
getrennt hatte. Die Ehrfurcht, mit welcher er religiöse Fragen zuweilen be¬
rührt, ist nichts als Emphase, welche die Untreue und Vergessenheit, deren
er sich schuldig fühlt, wieder gut machen soll. Ueber den zweiten Brief Pauli
an die Corinther wollte er halbe Nächte lang geweint haben. Der Ekel vor
der Welt, der sich seit dem Jahre 1813 seiner bemächtigte, sollte das Sonderbare
bewirkt haben, ihn für die innere Welt ebenso feindselig zu stimmen als für
die äußere. „Seitdem ist auch alle Poesie, alle Rührung, alle Wehmuth,
aller Glaube und alle Hoffnung aus meinem Gemüthe verschwunden, und
daß ich Ihnen dieses mit einer gewissen Ruhe sagen kann, beweiset Ihnen
wenigstens, wie wahr es sein muß. Ich lobe diesen Zustand nicht, auch liebe
ich ihn nicht; ich sehe aber die Möglichkeit nicht ab, mich in einen andern
zu versetzen. Ich trage ihn wie ein vernünftiger Mensch einen siechen Körper,
oder Armuth, oder andere Mängel und Widerwärtigkeiten trägt, gegen die
er nun einmal keine Hilfe weiß.--Glauben Sie mir, ich überhebe mich
wahrhaftig nicht meiner Weisheit und habe mich von der Religion nicht mit
Trotz oder Hochmuth getrennt. Ich habe nicht sie, sie hat mich verlassen (!);
und da mir das Unglück in einer ziemlich hohen Sphäre (wohin mein Ver¬
stand mich geführt hatte) begegnet ist, wie soll ich hoffen, sie in irgend einer,
weniger hohen, wieder zu finden?"
Diese schönen Worte sind nichts, als fein zurechtgelegte, und getiftelte
Entschuldigungsgründe vor sich selbst und vor der Welt, es ist eitle Schön¬
malerei. Der Mann hatte nicht die Kraft und nicht den Ernst, sich aus den
Versuchungen eines weltlichen Lebens je wieder auf sich selbst zu besinnen
und sich zu einer festen Ueberzeugung über die wichtigsten Fragen unseres
Daseins hindurchzuringen. Sein Bedürfniß danach war abgestumpft, sein
reich begabter Geist hatte sich dem Strome des Lebens überliefert. Es fordert
unsere entschiedene Verwahrung heraus, daß Gentz sich brüstet, „seine Zuflucht in
einer gewissen Neutralität der höheren Vernunft, der reinen Vernunft nämlich,
gefunden zu haben." Wer sich wirklich bewußt ist, der reinen Vernunft nach¬
zustreben, kann ihren Namen nicht so ungebührlich mißbrauchen und den
völligen Verzicht auf die Lösung der wichtigsten Fragen, den ohnmächtigen
geistigen Nihilismus daraus herleiten. Eben diese Worte, die mit so viel
Gleißnerei von der Religion und mit so viel Stolz von der Vernunft reden,
beweisen, daß er vor jener die Achtung verloren und den Dienst der Philosophie
längst verlassen hatte. Zieht man ihm die Maske ab, so enthüllt sich seine
frivole Natur in den Worten: „In Zeiten wie die unsrigen kenne ich nur zwei
Mittel, dem Geiste Heiterkeit und dem Herzen die gehörige Spannkraft zu
bewahren: eine lebendige und tiefe Religiosität — oder eine passionirte Liebe
zu einem irdischen Gegenstande. Da ich nicht unter die Ausgewählten ge¬
höre, denen jene verliehen ist, so muß ich mich an diese halten, und ich kann
mit Wahrheit sagen, daß sie mir bisher unvergleichlich gedient hat."
So elend war eine so reiche Natur durch den constanten Mißbrauch ihrer
Talente geworden! Mag auch die Fäulniß der politischen Welt, in welcher
er lebte und wirkte, ihn um so schneller verdorben haben. Er hatte doch zu
Anfang seiner Laufbahn gezeigt, wie hoch er seine Zeit überschauen, wie
treffend er ihre Krankheit und die Mittel zur Heilung nennen konnte. Aber
er selbst war in dies Getriebe versunken und hatte mit all seinen bewunderns-
werthen Geisteskräften die Verfechtung einer furchtsamen und gehaltloser
Politik übernommen. Es ist ein verlorenes Dasein gewesen. Und dahin hat
ihn der Mangel an sittlichem Willen gebracht.
Ein Leuchtthurm ist auch im Binnenlande jedermann von Jugend her
ein bekanntes Ding und ein Gegenstand, welchem sich die Phantasie mit
Vorliebe zuwendet, besonders in stürmisch kalten Winternächten, wenn die
brandenden Wogen ihren Gischt bis zu den Fenstern der Wärterwohnung
hinaufspritzen. Dagegen werden manche deutsche Zeitungsleser A>ohl zum
erstenmal von einem Leuchtschiffe gehört haben, als neulich von Berlin her
gemeldet wurde, daß ein solches, unheimlich schwarz angestrichen, in der Mün¬
dung der Eider ausgelegt sei. Was der Thurm vor dem Schiffe an herge¬
brachter Poesie und Romantik voraus haben mag, das gleicht sich aus durch
die noch größere Unbehaglichkeit der Existenz auf einem Fahrzeuge, das mitten
in einer mächtigen Strömung festgeankert liegt und seine Position zu be¬
haupten nie stärker verpflichtet ist, als gerade wenn Sturm und Wogendrang
es bedrängen.
Mit dem Feuerschiff in der Eidermündung ist übrigens das deutsche
Veleuchtungswesen keineswegs abgeschlossen. Es gjbt noch zahlreiche und
sehr empfindliche Lücken in der Beleuchtung unseres Nord- und Ostseestrandes,
auch wenn man nicht den Maßstab des französischen Grundsatzes anlegen
will: jeden Fleck der Küstengewässer unter Licht zu bringen. — sondern nach
dem englischen Grundsatz, da ein Licht aufzupflanzen, wo das Verkehrsbedürf¬
niß es gebieterisch erheischt. Nicht einmal die Wesermündung, nächst der
Elbmündung doch die befahrenste und wichtigste unserer Seewasserstraßen,
ist ausreichend beleuchtet. Sie bedarf dringend eines zweiten Feuerschiffs in
der Nähe der Schlüsseltonne, der das bremer Wappen tragenden am weitesten
ins Meer hinausliegenden Bezeichnung des Weserfahrwassers. Noch schlimmer
steht es um die Lichter längs der ostfriesischen Inselreihe, in deren Angesicht die
Mehrzahl der Schiffe, welche von oder nach der Elbe oder der Weser fahren,
ihren Weg zu suchen pflegen. Ein Feuerschiff vor der Insel Borkum, ein
Leuchtthurm auf Norderney, Baltrum oder Spiekeroog gehören zu den un¬
entbehrlichsten Anstalten, um die Nordseeschifffahrt sicher zu machen. Daß
sie bald hergestellt werden, ist eine nationale Ehrenpflicht, denn nicht allein
deutsche, auch fremde Schiffe, Mannschaften und Passagiere leiden unter der
mangelhaften Beleuchtung der deutschen Küstengewässer, und was andere
Nationen in der Nähe ihrer Häfen und Buchten zu unseren Gunsten bereit¬
halten, das dürfen sie umgekehrt auch von uns erwarten.
Solange der alte deutsche Bund bestand, wurde an eine zeitgemäße Ent¬
wicklung des Leuchtwesens nicht einmal gedacht. Man müszte auf soviel
andere näher liegende und vergleichsweise wichtigere Wünsche verzichten, daß
es sogut wie niemandem einfiel, eine Ueberwindung des bureaukratisch-parti-
cularistischen Schlendrians auf diesem Gebiet auch nur für möglich zu halten.
Der folgenreiche Umschwung des Jahres 1866 hat auch in dieser Beziehung
die Anschauungen verändert. Man wagt jetzt den Gedanken zu fassen, daß
die deutschen Ufer eines Tags ebenso vollkommen beleuchtet sein könnten, so¬
wohl was" die Dichtigkeit der Thürme und Schiffe, als was die Zweckmäßig¬
keit ihrer Leuchteinrichtungen betrifft, wie die soviel längere Küstenerstreckung
Frankreichs oder der britischen Inseln.
Aber auch wenn der Deutsche bewußtermaßen unter dem Impulse der
vaterländischen Einheitsbewegung handelt, schlägt ihn der altererbte Geist
furchtsamer und mißtrauischer Sonderbündelei immer noch in den Nacken.
Die bremer Bürgerschaft hat dieser Tage einen Antrag angenommen, der,
wenn er die Zustimmung des Senats und weiterhin noch anderer anspre¬
chender Instanzen finden sollte — was freilich nicht zu befürchten steht — die
Entwickelung unseres Beleuchtwesens auf einen Weg leiten würde, der zu
den Zeiten des alten Bundestags allenfalls hätte betretbar heißen dürfen,
der aber heute, statt an das nahe und bequem erreichbare Ziel, in einen
Sumpf zu führen droht.
Den Urhebern dieses Beschlusses — denen übrigens eine beträchtliche und
tapfer kämpfende Minderheit gegenüberstand spukt das englische Trinity
House im Kopfe. Dieses ist eine alte Körperschaft aus Heinrichs VIII. Zeit,
welche als Lootsencorporation begann, allmählich aber alles, was die See¬
schifffahrt sicher machen hilft, in ihr Bereich zog, die Sorge für alters-
schwache Seeleute, für die Wittwen und Waisen von Seeleuten, sowie für
die seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts wieder auftauchenden Leucht¬
thürme, die neben den im 18. Jahrhundert hinzukommenden Leuchtschiffen
bald den Hauptbestandtheil ihrer Thätigkeit ausmachten. Unter dem histo¬
rischen Gesichtspunkt ist das Trinity House gewiß ein ebenso ehrwürdiges
als interessantes Institut; unter dem praktischen Gesichtspunkt erscheint es
aber weder nachahmbar noch nachahmenswert!), für Deutschland sowenig wie
für irgend ein anderes Land. Wenn man zu einem Dienste, der volle männ¬
liche Kraft erfordert, einen rüstigen jungen Mann haben kann, warum einen
noch so achtunggebietenden Greis wählen? Die Engländer selbst, wenn sie
heute ihr Beleuchtwesen frisch zu organisiren hätten, würden kein Trinity
House, sondern eine vom Staat errichtete und unterhaltene Centralbehörde
schaffen. Denn sie haben erfahren, wie wenig das Leuchtwesen Zersplitterung
und Systemlosigkeit vertragen kann. Der gegenwärtige Chef des Trinity House,
Capitän Arrow, hat in einer Unterredung mit dem hanseatischen Gesandten
in London, Dr. Geffcken, seine Meinung unverhohlen dahin ausgesprochen,
daß Deutschland am besten thäte, das Seeleuchtwesen einer einzigen Behörde
mit dem Sitze in Hamburg oder Bremen anzuvertrauen.
Der Plan der bremer Bürgerschaft läuft darauf hinaus, daß Preußen,
Oldenburg und Bremen sich zur Versehung der Wesermündung mit Leucht¬
apparaten, Tonnen und Baker (Stangen mit einem Korbe oder sonstigem
leicht sichtbaren Gestell an der obern Spitze) vertragsmäßig verbinden, die
Kosten durch eine Schifffahrtsabgabe von S-—6 Silbergroschen auf die Last
jedes über 30 Last haltenden Seeschiffs decken, und die Verwaltung einem
aus den Interessenten erwählten Comite' übertragen sollen. Angenommen,
daß damit für die Bedürfnisse der Wesermündung ausgiebig und sachgemäß
gesorgt würde, so fragt sich doch, was wird dabei aus dem Rest der Nord¬
seeküste? wer bestreitet z. B. die Beleuchtungskosten auf und vor den ost¬
friesischen Inseln, bei deren Aufbringung und richtiger Verwendung der
Weserverkehr mindestens ebenso stark interessirt ist, wie der Emsverkehr?
Und weiter: wenn zugelassen wird, daß das nächste sich darbietende, durch
^e daran geknüpften Interessen besonders bedeutungsvolle und dringliche,
eben deswegen auch am ehesten zu befriedigende Bedürfniß für sich allein
befriedigt wird, ohne Zusammenhang mit einer Reform des ganzen natio¬
nalen Leuchtwesens, welche Aussichten bleiben dann für dieses übrig? Kann
es weise und patriotisch erscheinen, den stärksten Anstoß zu einer so lange
verzögerten, so unbedingt wünschenswerten Reform ohne Nutzen für die
Gesammtheit in einer Einzelmaßregel verpuffen zu lassen?
Wenn Preußen sich einfach auf den Standpunkt der preußischen Inter¬
essen stellt, so könnte es zwar auf den Plan der bremer Bürgerschaft — oder
H. H. Meiers, denn von diesem einflußreichen und energischen Manne rührt
derselbe her — eingehen, aber doch nur, indem es sich vorbehielte, den Weser¬
verkehr für das Feuerschiff vor Borkum und den Thurm auf Baltrum eben¬
falls heranzuziehen. Es ist nicht gerecht, daß die preußische Staatscasse diese
Anlagen allein übernehme, denn dieselben kommen den in Bremerhaven und
Brake verkehrenden Schiffen ebenfalls zu Gute; und geradezu unmöglich
wäre es, das neue Selbsterhaltungs - und Selbstverwaltungsprinzip so anzu¬
wenden, daß man den Verkehr der Emshäfen und der kleinen Hafenplätze
im Norden Ostfrieslands dafür besteuerte, denn damit hätten diese mindestens
das Zehnfache der Last des Weserverkehrs zu tragen. Sollte aber der Weser¬
verkehr, wie billig, zur Gründung und Erhaltung des ostfriesischen Leucht¬
wesens mit herangezogen werden, so würden Herr H. H. Meier und seine
Anhänger unter den Rhedern nicht ohne Grund erklären, das sei für die See¬
schifffahrt zuviel.
Es ist in der That zuviel verlangt, daß die Schifffahrt das ganze Leucht¬
wesen auf ihre Schultern nehmen solle. Der Hauptgegenstand der Küsten¬
beleuchtung ist der Mensch, nicht das Schiff oder die Waare, und für dessen
Sicherheit auszukommen ist die Sache des Staats. Mag man die Schifffahrt
immerhin besteuern, unrecht wäre es, ihr die ganze Last aufzubürden. Sie
hat sich in Bremen durch Herrn H. H. Meier im Stande und willig er¬
klärt, 3 oder 6 Silbergroschen für die Last aufzubringen; damit wird ziem¬
lich ein Drittel der Gesammtlast, eine vollständige Küstenbeleuchtung voraus¬
gesetzt, zu decken sein. Für den Rest möge der Bundessäckel in Anspruch
genommen werden. 200,000 Thaler jährlich werden ihn nicht zu schwer be¬
drücken, wenn es sich um eine so klare und bedeutsame Ehrenpflicht der
Nation handelt.
Erst mit der Einsetzung einer ordentlichen Bundesbehörde würde Schwung,
gleichmäßiger Fortschritt und wirkliches System in die Sache kommen. Bleibt
sie den bisher dafür thätigen Technikern der Einzelstaaten überlassen, so wird
es im Großen und Ganzen in dem alten Schlendrian weitergehen.
Schoße der bremer Bürgerschaft ist viel gegen die preußische Bureaukratie
declamirt worden; allein in wessen Händen befinden sich denn und bleiben
neun Zehntel der Aufgabe, wenn sie den Einzelstaaten nicht entwunden wird?
'Wenn der Bund dieselbe aber an sich zieht, so wird es sicher nicht geschehen,
ohne daß einesteils die etwa vorhandenen brauchbaren hanseatischen Kräfte
zugezogen, anderntheils die auch dann muthmaßlich noch übrigen Lücken w
den Erfahrungen und Einsichten nach Möglichkeit. ergänzt werden, sei es
durch Gewinnung des einen oder andern auswärtigen Sachverständigen, sei
es durch Aufnahme tüchtiger deutscher Gelehrten in die leitende Behörde.
Es wird niemand behaupten, daß Hamburg und Bremen gegenwärtig bereits
im Besitz aller wünschenswerthen Sachkunde auf diesem Felde seien. Man
versteht sich in diesen Städten wohl auf die Bedürfnisse der Seeschifffahrt,
aber Architekten, die im Bau von Leuchtthürmen. Schiffsbaumeister, die in
der Herstellung von Feuerschiffen. Physiker oder Optiker, die in den verschie¬
denen Leuchtapparaten speciell beschlagen wären, hat man darum noch nicht.
Woher sollte man sie auch haben? Das Leuchtwesen wurde dort ja bisher
im allerkleinsten Maßstab betrieben und ohne jeglichen Ehrgeiz besonderer
Leistungsfähigkeit.
Schiffe der norddeutschen Kriegsmarine, die in den Jahren 1866 und
1867 die deutschen Nordseegewässer. auszunehmen hatten, haben gleichzeitig
auch Studien über neue Leuchtfeuer angestellt. Das Feuerschiff in der Mün¬
dung der Eider ist die erste Frucht dieser Studien. Möge die zweite und
dritte immerhin ein Thurm auf Baltrum. ein Schiff vor Borkum sein, aber
nicht, ohne daß das Leuchtwesen vorher für Bundessache erklärt und daß eine
Centralbehörde errichtet würde, die. nach Frankreichs. Nordamerikas und
anderer fortschreitender Staaten Vorgang aus Marineoffizieren. Technikern.
Rhedern und Naturforschern passend zusammengesetzt, innerhalb einer Grün¬
dungsperiode von längstens zehn Jahren unser Seeleuchtwesen auf den Fuß
der großen civilisirten Nationen zu erheben hätte.
Die Wahlbewegung ist in vollem Gang. Nicht genug an den' Pro¬
grammen der Parteien, auch noch jeder Candidat hat sein eigenes Programm
ausgegeben, das als Flugblatt in seinem Bezirk flattert. Außerdem zahl¬
reiche Flugblätter der deutschen Partei, die anfänglich mehr allgemein ge¬
halten , die wirthschaftliche und nationale Bedeutung des Zollparlaments be¬
leuchteten, die späteren mehr concreten Fragen und der Widerlegung gegne¬
rischer Ausstreuungen gewidmet. Wahlversammlungen an allen Orten, in
den Städten und in den Dörfern, an Sonn- und Werktagen, es ist ein
politischer Wahlkampf, wie ihn Schwaben noch nie erlebt hat. Unerhört ist
dieses zähe Ringen aller Parteien, niemals sind alle Classen der Bevölkerung
so tief ergriffen, niemals sind vor dem Volk politische Fragen aller Art. die
Zoll- und Steuerfragen, das Militärwesen, und schließlich die große poli¬
tische Frage des Verhältnisses zu Preußen und der deutschen Zukunft so im
Einzelnen erörtert worden.
Und diese lebhafte Theilnahme des Volks ist das erste und erfreulichste
Moment, das in der Wahlbewegung zu constatiren ist. Stundenweit kommen
die Wähler zu den angesetzten Versammlungen und horchen andächtig und
mit gespannter Aufmerksamkeit der Dinge, die so zum erstenmal vor ihnen
verhandelt werden. Es sind wohl, seitdem auch die Demokratie auf den
Plan getreten ist, da und dort sehr häßliche Scenen vorgekommen, wie sie
schwer bei so hochgehender Bewegung zu vermeiden sein mögen. Aber im
ganzen ist die Haltung dieser Versammlungen, namentlich auf dem Lande,
bisher eine würdige gewesen. Das Volk kommt mit gutem Willen, es will
belehrt sein und es läßt sich belehren. Freilich nicht im Sturm, und am
wenigsten mit hochtönigen Phrasen wird es gewonnen. Unser Landvolk ist
zäh, nicht leicht gibt es sofort den Eindruck zu erkennen, den es empfangen
hat; es ist ihm von Natur ein tiefes Mißtrauen eigen, mit derselben Ge¬
müthsruhe hört es Redner entgegengesetzter Meinungen an und behält sich
sein Urtheil vor. Aber eben dieser Entschluß, das Gehörte zu eigener Mei¬
nung zu verarbeiten, dieser Widerstand gegen blendende Kunststücke der Be-
redtsamkeit ist das Bezeichnende. Die Abwendung von der Phrase ist unver¬
kennbar. Es datirt von dieser Wahlbewegung ein neuer Abschnitt in der
politischen Erziehung unseres Volks.
Es liegt auf der Hand wie sehr diese Bewegung der nationalen Sache
zu Gute kommt. Die Organisation der deutschen Partei hat bisher noch
vieles zu wünschen gelassen, mit bestem Willen war es ihr nicht gelungen,
in einzelne Landesgegenden zu dringen, und die unteren Classen blieben ihr
sast gänzlich verschlossen. Der Einfluß der Volkspartei — dies war wohl
zu fühlen — war überall im Abnehmen, aber dies kam noch nicht der deut¬
schen Partei zu gut. Die große Masse stand apathisch zwischen beiden.
Allein diese Zeit war nicht verloren, es war eine Zeit der Selbstbesinnung
um aus den Stimmungen herauszukommen, in welche das Volk im Jahr
1866 hineingesetzt worden war. Was man an einzelnen bemerkte, daß ein
langsamer Umwandlungsprozeß zu besserer Erkenntniß stattfand, den man
doch nicht recht Wort haben wollte, das vollzog sich in ähnlicher Art in
weiten Kreisen. Und wenn jetzt der nationale Gedanke überall anklopfte,
in den abgelegensten Gegenden, in allen Dörfern, so traf er wohl überall
noch lebhaften Widerspruch und alte Vorurtheile, aber er traf doch überall
auch herzliche Erwiederung. Die Parteiung drang jetzt in jede Gemeinde,
dem selbstsüchtigen Partikularismus war sein Monopol entrissen. Viele Hun¬
derte hörten zum erstenmal die Wahrheit über das Jahr 1866. Auch aus
dem Land gewann man, über Erwarten, eifrige und geschickte Agitatoren.
Die junge Generation zeigte sich vorwiegend den neuen Ideen geneigt. Es
kam vor, daß des Vaters Namen unter dem Ausruf für den partikularisti-
schen Candidaten stand, der Sohn den seinigen unter den nationalen Auf¬
ruf setzte.
Daß die Wahl in ein deutsches Parlament so viel Leben in unser Land
brachte, das allein ist ein unschätzbarer moralischer Erfolg. Die Demokratie
hätte bekanntlich am liebsten die ganze Sache ignorirt. Sie hatte gro߬
sprecherisch verkündigt, daß das würtenbergische Volk sich nicht an diesem
..Verbrechen" betheilige, mit Verachtung von dieser „Berliner Macherschaft"
sich abwende und durch imposante Wahlenthaltung ihr Urtheil über diese
Falle, die man dem süddeutschen Volk legen wolle, vor der Welt abgebe.
Das Volk ertheilte diesen Großsprechereien ein sehr hurtiges Dementi. Es
zeigte im Gegentheil so viel Eiser und Interesse, daß es dadurch auch die
Häupter der Volkspartei zwang, mit in den Kampf einzutreten und um Sitze
in derselben Versammlung zu werben, die sie noch eben aufs unwürdigste
geschmäht hatten. Selbst Moritz Mohl schrieb jetzt, es „wurme" ihn, in das
Parlament zu kommen, nachdem er zuvor in öffentlicher Kammersitzung er¬
klärt hatte, lebendig werde man ihn nicht in dieses Parlament bringen, in
welches kein Mensch eintreten könne, der Respect vor sich selber besitze, und
der in einem Commissionsbericht den norddeutschen Mitgliedern des Parla¬
ments insgesammt Ignoranz und Eigennutz vorgerückt hatte. Oesterlen war
fast der einzige gewesen, der, schon damals zur Candidatur entschlossen, er¬
klärte: „man müsse den Löwen in seiner Höhle aufsuchen." Jetzt nach dem
ermunternden Ausfall der bairischen Wahlen bekamen auch die übrigen Führer
der Demokratie Lust zu dieser fröhlichen Löwenjagd, und es tauchte nun ein
Name um den andern, zum Theil sehr merkwürdige, aus diesem Lager auf,
um zu erklären, daß es patriotische Pflicht sei, im Parlament der Verpreußung
Süddeutschlands entgegenzuarbeiten.
Durch das Auftreten dieser Elemente bekam nun der Kampf allerdings
einen anderen Charakter. Jetzt war wenig mehr vom Zollparlament und
seinen Aufgaben die Rede. Massivere Schlagworte kamen nun an die Reihe.
Jetzt hieß es: man will euch preußisch machen, wie es in Baiern geheißen:
man will euch lutherisch machen. Jetzt wurden die elendesten Vorspieglungen
von Steuer und Militärdruck unter das Volk geworfen. Da und dort tauchte
auch die schwäbische Eigenthümlichkeit: „lieber französisch als preußisch" wieder
auf. Die etwas abgegriffene Phrase: „durch die Freiheit zur Einheit" erhielt
die angenehme Variation- „durch die Einheit zum Hungertyphus". Alles
dies hätte jedoch der Demokratie wenig geholfen, wenn nicht die Regierung,
zur Bekämpfung der nationalen Partei um jeden Preis entschlossen, mit allen
antinationalen Richtungen Bündniß gemacht und ihnen ihren Einfluß zur
Verfügung gestellt hätte. Die Negierung mit ihren Organen vom Minister
bis zum Dorfschulzen, das ist die eigentliche Macht im Schreiberstaat, und
sobald sie mit den Loyalen auch die Demokraten und Ultramontanen, sobald
sie alles zum gemeinsamen Kampf gegen die nationale Partei aufrief, war
der Ausgang des Wahlkampfs entschieden. Diesem dreifachen Gegner ist die
deutsche Partei numerisch nicht gewachsen. Die Wahlbewegung ist für sie
ein Mittel, sich durch das ganze Land zu organisiren, aber nur in wenigen
Bezirken wird sie jetzt schon über die entgegenstehende Coalition siegen können.
Die Wahlen werden also weit überwiegend gegen die nationale Partei
ausfallen; damit aber noch nicht gerade antinational. Unter den voraus¬
sichtlich aus der Wahlurne hervorgehenden Siegern sind gewaltige Differen¬
zen. Die gouvernementale Mittelpartei zählt Mitglieder, die dem Programm
der deutschen Partei nahe stehen, die so zu sagen auch ein großes Vaterland
wollen und die sich ausdrücklich für Erweiterung der Competenz der Bundes¬
organe ausgesprochen haben. Nur ganz wenige haben den Muth gehabt, sich
gegen solche Erweiterung ausdrücklich zu verwahren. Selbst die Demokraten
wie Oesterlen und Probst, sahen sich zu der Erklärung genöthigt, daß man
an den Verträgen mit Preußen, deren heftigste Gegner sie gewesen, nun¬
mehr loyal festhalten müsse, und allein der Freiherr v. Neurath, „der treue
Neurath", wie er jetzt im Beobachter genannt wird, sprach es offen aus,
daß man die Verträge allerdings so lange halten müsse, als man keine Ge¬
legenheit habe, sie „auf völkerrechtlich zulässige Weise" wieder zu vernichten.
Nicht wenige wollen sogar prophezeien, daß Herr Oesterlen, der jetzt so tapfer
dem Löwen in der Höhle zu Leibe rückt, wenn er desselben einmal ansichtig
geworden, vielleicht nicht abgeneigt sein dürfte, ein billiges Abkommen mit
demselben zu schließen. Ueberhaupt werden unsere Bundesstaatlich-Constitu-
tionellen wie unsere Demokraten im Zollparlament so wenig gefährlich sein,
als es im ersten Reichstag die Sachsen und Holsteiner und Hannoveraner
waren, die es meist vorzogen, auf dem zweiten Reichstag sich nicht mehr
blicken zu lassen; und es wird den Schwaben, ohne daß sie den Gang der
Dinge aufzuhalten vermögen, einzig der Ruhm bleiben, daß sie es für ihre
Vertretung in Berlin weniger auf tüchtige und willige Kräfte abgesehen haben,
als auf die Befriedigung eines kleinlichen Trotzes.
Auf die Stimmung im Lande selbst kann der ganze Wahlkampf nur
günstig zurückwirken. Das widerliche Bündniß der Demagogie mit den
Loyalen, die Mittel, welche von jener Seite wie von der Regierung unge-
scheut angewandt wurden, haben auf alle anständigen Leute einen bleibenden
Eindruck machen müssen, den die Regierung schwerlich voraus gesehen hat'
sie wenden sich ab von einem Staatswesen, das> wie es scheint, nur noch
mit solchen Mitteln aufrecht zu halten ist. Die deutsche Partei wird, wäh¬
rend die verbündeten Sieger nach gewonnenem Sieg auseinander fallen, durch
den Kampf selbst gekräftigt fester dastehen als zuvor, und stärker als jede
der anderen Parteien. Jedes Flugblatt, jede Wahlrede streut -Keime aus,
die nicht verloren sind. Nur das hoffen wir allerdings, daß die süddeutsche
Frage nicht so lange aä acta gelegt werde, bis alle diese Keime gereift sind
und Schwaben einmal eine national-gesinnte Vertretung nach Berlin sendet.
Schon jetzt wäre der Ausfall der Wahlen ein anderer gewesen, wenn ein
günstigerer Wind von Norden geweht hätte.
Nicht nach der den Dingen innewohnenden Wichtigkeit und Bedeutung,
sondern meist nach Herkommen und Gewohnheit bestimmen sich Maß und
Inhalt dessen, was der Deutsche von der Welt erfährt. Besser unterrichtet als
die Mehrzahl seiner continentalen Nachbarn, erhält er ziemlich genaue Kunde
von dem. was in Frankreich, England und Italien verfällt; in der außer¬
europäischen Welt bildet die Grenze der Baumwollencultur gewöhnlich die
Linie seines Zeitungshorizonts, — höchstens, daß zu Gunsten Afrikas eine
Ausnahme gemacht wird Minder bekannt sind die Länder des Ostens und
Nordostens. — der europäische Süd öfter. obgleich klassischer Boden der s. g.
orientalischen Frage, ist fast nur dem Namen nach gekannt. Von der Eigen¬
thümlichkeit des Landes an der untern Donau und dem adriatischen Meer,
von der Bildungsstufe, den Gewohnheiten und Anschauungen seiner Bewoh¬
ner weiß man nur. daH sie von denen der übrigen Bewohner abweichen
und diese Kunde gilt der Convention für ausreichend.
Daß sie es nicht sei, hat sich in den letzten Wochen mit besonderer
Deutlichkeit gezeigt. Während der ersten Hälfte des Februarmonats wurde
von Paris aus plötzlich gemeldet, in Serbien und Rumänien gehe es un¬
ruhig zu; russische Agenten durchzögen das Land, hie und da hätten sich
bereits bewaffnete Banden gezeigt. Zu welchem Zweck agitirt würde, und
gegen wen die „Banden" sich gewaffnet hätten, blieb der Mehrzahl derer, die
diese Nachrichten wiederholten und als ..Anzeichen einer Lösung der orienta¬
lischem Frage" signalistrten. unbekannt. Seit Rußland friedliche Versicherun¬
gen ertheilt, sein Gesandter Baron Budberg dieselben zu Paris wiederholt
und der officielle „Invalide" erklärt hat. alle Nachrichten über russische Um¬
triebe an der Donau seien erfunden, hat man sich wiederum beruhigt, oder
^ um den herkömmlichen Ausdruck zu gebrauchen, „eine Vertagung der
orientalischen Frage" angenommen. Gilt den meisten Leuten doch die sla¬
visch-orientalische Welt nur für eine Art von Hampelmann, der, je nachdem
Nußland den Faden anzieht oder unberührt läßt, „fieberisch zuckt" oder un¬
beweglich daliegt. Und doch bewegt sich das Leben dieser slavisch-orientalischen
Völker, welche bald in dichten Gruppen, bald mit andern Nationalitäten ver¬
mischt das ungeheure Gebiet von den Karpathen bis an den Bosporus be¬
wohnen — nach eignen Gesetzen, von denen Rußland wohl Vortheil ziehen
kann, die aber nicht von der Willkür dieses Staats, geschweige denn seiner
Regierung abhängig sind. Kämpfe um das Nationalitätsprinzip und dessen
Auslegungen wurden hier geführt, lange bevor der Name für dasselbe ge¬
sunden, seine Lehren dem Codex des modernen Völkerrechts einverleibt waren.
Hat es doch von den Millionen außerrussischer Slaven, welche in Oestreich
und der Türkei leben, kein einziger Stamm zu selbständiger staatlicher Exi¬
stenz zu bringen vermocht, sind sie doch sammt und sonders, die Ruthenen
wie die Slovenen und Slovaken, die Kroaten, Jllyrier, Wallachen, Serben,
Bulgaren und Montenegriner, noch immer damit beschäftigt, die Grundlagen
einer solchen zu finden. Rußland ist wohl im Stande, die nationalen
Wünsche dieser Völkersplitter so zu leiten, daß sie zur Erweiterung seines
Machtgebietes beitragen, denselben dauernd Halt zu gebieten ist dieser Staat
ebensowenig im Stande als ein andrer, zumal seit auch sein Herrscher auf
die traditionellen Neigungen und Sympathien seiner Unterthanen Rücksicht
zu nehmen hat. Einmal geweckt, ist der nationale Fanatismus nicht mehr
zu beschwören, denn es heißt auch hier: „Das erste steht uns frei, beim
zweiten sind wir Knechte." Möglich, daß in den östreichischen und den
türkisch-slavischen Ländern noch eine Zeit lang Friede gehalten wird. Ru߬
lands Versicherung, den Zersetzungsprozeß, der sich in denselben vollzieht, nicht
fördern zu wollen, wird aber, auch wenn sie ernst gemeint ist, diesen Frieden
noch nicht verbürgen können. So bedeutend auch sein Einfluß ist, ein flüchtiger
Blick auf die gespannte Lage, in welcher die west- und südslavische Welt sich
befindet, reicht zu der Ueberzeugung hin, daß der Gründe zur Befürchtung
einer Explosion mehr sind, als der Gründe für Annahme des Gegentheils.
'
Halten wir auf Grund uns vorliegender Localzeitungen Rundschau
über die Stimmungen und Bestrebungen, welche sich in den genannten Län¬
dern des slavischen Westens und europäischen Ostens während der letzten
Wochen kund gethan haben. So übel es auch mit der Kultur der Donau-
Slaven bestellt ist, sein Zeitungsblatt hat jeder größere Ort in Galizien,
Rumänien, Serbien und Croatien, über die Vorgänge auf türkisch-slavischem
Gebiet sind diese Journale meist gut unterrichtet, und die russische Sprache
bietet einen Schlüssel, der die Geheimnisse mindestens eines Theils der slavi¬
schen Idiome erschließt.
Beginnen wir mit Galizien. jenem östreichischen Kronlande, das zwar
zu Cisleithanien gezählt wird, aber nichtsdestoweniger eine eigene Welt bil¬
det, in welcher der deutsche Einfluß, wenn überhaupt, nur höchst spärlich
Wurzel geschlagen hat. Während der westliche Theil des Landes (das Flüß-
chen San bildet die Sprach- und Stammesgrenze) polnisch ist, leben im Osten
sog. Ruthenen, d. h. Kleinrussen, die durch nichts von den Bewohnern der
angrenzenden russischen Provinzen verschieden, seit Jahrzehnten die Herrschaft
des polnischen Adels und der polnischen Cultur abzuwerfen bestrebt sind und
von der k. k. Regierung je nach denn augenblicklichen Zwecken bald gehät¬
schelt, bald zurückgestoßen werden. Vor uns liegt das Hauptorgan der russischen
Partei, das zweimal wöchentlich zu Lemberg erscheinende Journal Slowo.
Schon das Aeußere desselben ist für die Tendenzen der Richtung, welche es
vertritt, höchst charakteristisch: die Lettern sind russische, die Sprache wesent¬
lich dieselbe, wie sie in Moskau und Petersburg gesprochen und geschrieben
wird, höchstens daß taktische und orthographische Abweichungen uns daran erin¬
nern, daß wir nicht auf russischem Boden stehen. Außer einigen Korrespondenzen
aus Weder (Wien) und verschiedenen galizischen Nachbarstädten, einem Leit¬
artikel von wesentlich panslavistischer Färbung und kurzen Notizen aus
Frankreich, Italien und Norddeutschland, handelt der größte Theil des Blatts
von Rußland und russischen Dingen; das Feuilleton enthält einen längeren
Artikel über die „Jesuiten in Rußland", dessen Spitze nicht gegen den
Jesuitenorden, sondern die mit dem Polonismus verbündete römisch-katholische
Kirche gerichtet ist. Vergebens sehen wir uns nach Spuren der Freude über
den vielgerühmten jungen Constitutionalismus des Kaiserstaats um, der lei¬
tende Artikel unterzieht die Finanzpolitik des Dr. Brest! einer scharfen Kritik
und enthält bittere Klagen über das traurige Geschick des russisch-östreichi¬
schen Volks (der Ausdruck „Ruthenen" wird geflissentlich nicht gebraucht,
existirt überhaupt nur noch in deutschen Handbüchern und Zeitungen). Es
ist von der projektirten Couponsteuer die Rede: „Dieser Plan," heißt es
a. a. O., „wird sicher Billigung finden, wenigstens in den Ländern, in
welchen der Boden für denselben bereits gehörig bearbeitet ist. Bei uns
sind die Verhältnisse längst nicht mehr dazu angethan, daß derartige Reformen
noch Hoffnungen erwecken könnten, unser Land befindet sich immer noch in
einer exceptionellen Lage. Alle seit 1848 unternommenen politischen Orga¬
nisationen sind für uns ungeeignet gewesen und haben nicht zum Wohl
des Landes, sondern zu dessen Schaden, zu materiellen Verlusten und man¬
cherlei Schädigungen geführt, wie sie von unsern Volksvertretern oft genug
auf den Landtagen zur Sprache gebracht worden sind. Die Wünsche und
Forderungen, welche das russische Volk seit dem Jahre 1848 verlautbart
hat, sind der Hauptsache nach unberücksichtigt geblieben, die von der Im-
tiative der Regierung herbeigeführten Maßregeln haben denselben gleich¬
falls nie entsprochen. Nicht nur daß die eine Partei in unserem Vater¬
lande, die stärkere, immer noch über dieselben Schäden klagt, —der anderen
Partei ist es nicht einmal möglich gewesen, ihre natürlichen Rechte bei
der Centralregierung zur Geltung zu bringen. Bevor das nicht geschehen,
werden die Unordnungen und Uebelstände in unserem Lande stets dieselben
bleiben, wird sich das Mißtrauen des Landmanns ebensowenig vermindern,
wie die allgemeine Unzufriedenheit und vollständige Apathie im Lande; da¬
gegen werden alle ministeriellen Experimente, auch die liberalen, nichts ver¬
schlagen." Im weiteren Verlauf wird die absolute Werthlosigkeit aller den
Bewohnern Galiziens ertheilten politischen und konstitutionellen Rechte be¬
hauptet. „Möglich, daß dieselben in andern Ländern, wo bereits etwas für
Bildung und Wohlstand der Unterthanen geschehen ist. von Werth sind, z. B.
in Preußen, wo alle Bewohner zu lesen und zu schreiben perstehen und wo
es viele gebildete Leute giebt, welche gern politische Ehrenämter übernehmen
und für die Selbstverwaltung thätig sind. Bei uns sind alle Lasten zu so
unerträglicher Höhe angewachsen, daß im ganzen Lande nur Unwillen über
die neuen Einrichtungen herrscht." Bezüglich der von Dr. Brest! in Bor¬
schlag gebrachten Veräußerung der galizischen Staatsgüter heißt es, „eben¬
sogut könne der Minister die Güter der Privaten, namentlich der Bauern
einziehen" und „um Oestreich vom Bankerott zu retten" meistbietlich ver¬
äußern. — Noch drohender und unzufriedener lautet die Sprache, welche
ein anderer Artikel desselben Blattes führt: „Unsere gerechtesten Forderungen
bleiben unberücksichtigt; unsere Bestrebungen nach Gleichstellung mit den
Polen und andern Völkern Oestreichs werden verlacht, unsere heiligsten
und edelsten nationalen Empfindungen werden beleidigt und gekränkt;
russische Beamte und Lehrer werden in den polnischen Theil des Landes
versetzt, der uns, unserem Glauben und unseren Gewohnheiten feindlich
ist; in Folge eines ungesetzlichen Beschlusses des lemberger Landtags
verschwindet unsere Sprache aus der Schule wie aus der Administration;
unsere Jugend muß polnisch lernen; unsere Deputirten werden gewalt¬
sam aus dem Reichsrath wie aus dem Landtage, aus den städtischen und
ländlichen Verhandlungen gedrängt. Wir sind zum Schweigen verurtheilt
und unsere Feinde beurtheilen und entscheiden das Geschick der russischen
Nationalität."
So redet ein Journal, das der Anwalt von zwei Millionen russischer
Bewohner des Kronlands Galizien ist, kaum in einer Bauernstube Ostgali-
ziens fehlt und. von zahlreichen Popen, Schullehrern und niederen Beamten
eifrig verbreitet wird — so redet es zu einer Zeit, wo das den Russen feind¬
liche Föderativsystem gebrochen ist und Rußland den galizischen Dingen
schweigsamer und zurückhaltender zusieht, als seit langer Zeit, die Moskaner
Presse dieselben fast vollständig ignorirt. Zieht man ferner in Betracht, daß
Galizien ohne Frage das geordneteste und bestregierteste Land des gesammten
slavischen Südostens ist und in dieser Beziehung weder mit Rumänien noch
mit Serbien oder der Herzegowina verglichen werden kann, so erscheint nicht
übertrieben, wenn dieser ganze Theil Europas mit einem Pulverfasse ver¬
glichen wird, das durch den ersten Funken, — mag er von Osten oder von
Süden oder Westen her geschleudert werden — zu furchtbarer Erplosion ge¬
bracht werden kann.
Gehen wir von Galizien zu dem rumänischen Staat der Moldau-Wal¬
lachen über. Seit dem Tage Peters des Großen daran gewöhnt, Rußland als
seinen Hauptschutz gegen die Pforte anzusehen, hat dieses Fürstenthum durch
Absenkung einer außerordentlichen Gesandtschaft nach Se. Petersburg und
durch Ansammlung beträchtlicher Streitkräfte (es sollen mit Einschluß der
Milizen 30,000 Mann sein) zu Besorgnissen vor einer Störung des Friedens
besondere Veranlassung geboten. Neuerdings wird allerdings gemeldet, das
Land werde nicht von russischen Agenten durchzogen und in demselben sam¬
melten sich keine Freischaaren an: nach den übrigen aus diesem mysteriösen
Erdwinkel einlaufenden directen Nachrichten zu urtheilen bedarf es aber dieser
besonderen Agitationsmittel gar nicht, um das Land in Aufregung zu er¬
halten. Das oben erwähnte Lemberger Journal theilt seinen Lesern als welt¬
bekannte Nachricht mit. daß Fürst Karl zwar nicht die Türkei angreifen, sich
aber demnächst zum unabhängigen Könige von Rumänien erklären wolle und
der Zustimmung der Cabinette von Berlin und Petersberg im voraus gewiß
sei — eine Auffassung der neuesten in Buckarest vorbereiteten Schritte, die
unseres Wissens noch in keine deutsche oder französische Zeitung den Weg
gefunden hat. Damit stimmt, was die slavischen und russischen Journale
sonst aus Rumänien melden; wie dem Golos Ende Februar aus Buckarest
geschrieben wird, nimmt die Zahl der in die Wallachei geflüchteten bulgari¬
schen Unzufriedenen täglich zu. Schon Mitte des vorigen Monats betrug
ihre Zahl über 2000 und die türkischen Behörden sollen das Mögliche thun,
um diese Auswanderung zu begünstigen. „Wenn diese unruhigen Leute außer¬
halb unseres Staats leben", hat der neue Minister Mithad-Pascha dem eng¬
lischen General Consul Longworth auf dessen bezügliche Anzeige geantwor¬
tet, so kann ich ihre Schritte genau überwachen lassen und von all ihren
Umtrieben Kunde erhalten: gegen sie interveniren zulassen, steht mir völker¬
rechtlich zu und ich habe die Mittel, solches herbeizuführen. Bleiben sie in
der Türkei, so können sie die Landbewohner zu einem Aufstande veranlassen
und dann haben wir Türken Alles zu verlieren." Daß viele dieser Aus¬
wanderer rumänische Dienste genommen haben, ist aller Wahrscheinlichkeit nach
der Grund zu dem Gerücht von der Concentration revolutionärer Banden
gewesen. Sieht die Pforte diesen Emigrationen ruhig zu und läßt sie es
geschehen, daß Rumänien mit Hilfe derselben im Stillen seine Wehrkraft er¬
höht, so steht die Sache aber in Wahrheit sehr viel schlimmer, als wenn Ban¬
den gebildet würden, denn es fehlt der formelle Grund zum Einschreiten der
Schutzmächte, so lange die äußere Ruhe nicht gestört wird. Festzustellen,
wer Alles in der rumänischen Armee dient, hat seine großen Schwierigkeiten
und aus diesem Grunde sind die einzelnen Verhaftungen, welche Mithad-
Pascha an aus Buckarest nach Bulgarien zurückgekehrten Handelsleuten vor¬
nehmen ließ, durchaus resultatlos geblieben, d. h. sie haben zu keinerlei Ent¬
deckungen revolutionärer Umtriebe geführt. Daß die moldau-wallachische Re¬
gierung darauf sinnt, sich kommenden Eventualitäten gegenüber möglichste
Freiheit des Handelns zu sichern, geht schon aus den Anstrengungen hervor,
welche gegenwärtig gemacht werden, um die Handlungen der Minister wenigstens
für einige Zeit von der konstitutionellen Controle zu emancipiren. Die durch
polnische Verbindungen sehr wohl unterrichtete, zu Paris neuerdings begrün¬
dete „ Lorrssxoväg.mes An Uorä-Lst" brachte dieser Tage die Mittheilung,
es sei Bratiano, dem Minister des Innern, nach ziemlich harten Kämpfen
gelungen, eine Bill durchzubringen, deren § 6 u. A. bestimmt, daß Ab¬
weichungen vom Gesetz, welche ein Minister „direct im Interesse des Staats
vornehme", unbestraft bleiben sollten, sobald dieses Interesse gehörig nach¬
gewiesen worden! — Höchst charakteristisch für die Richtung, welche die Moldau-
Wallachische Unabhängigkeitspolitik neuerdings einzuschlagen begonnen hat,
ist ferner eine Rede, welche derselbe Bratiano in den letzten Februar-Tagen
in einer Volksversammlung gehalten hat und über welche das erwähnte russi¬
sche Journal gleichfalls ausführlich berichtet. „Die Moldau-Wallachei ist
Frankreich stets dankbar gewesen und wird dieser Macht für das Gute dankbar
bleiben, das dieselbe ihr auf dem pariser Congreß erwiesen hat*). Wäre
Frankreich nicht dagewesen, wir hätten es niemals zu unserer gegenwärtigen
Stellung gebracht. Die Moldau-Wallachei wird gegen ihre Wohlthäterin
niemals die Hand erheben — sie ist aber verpflichtet, zugleich gute Beziehun¬
gen zu den übrigen Schutzmächten aufrecht zu erhalten und diese sind uns
zur Zeit wohl geneigt — ja sie sind bereit, uns überall und in jeder
Beziehung zu unterstützen. Die Moldau-Wallachei leidet an Vielem
Noth, vor Allem bedarf sie bis zu ihrer vollständigen inneren Orga-
nisation äußeren Schutzes und diesen darf sie nicht zurückweisen, mag er
ihr von Osten oder von Westen angeboten werden. Sind wir voll¬
kommen organisirt, so haben wir alle Zeit, in Erwägung zu ziehen, mit
wem Freundschaft zu schließen ist, mit wem nicht."
Diese Sprache scheint deutlich genug, um des Commentars entbehren
zu können- Auch wenn keine Banden gebildet, keine Aufstände vorbereitet
werden, ist reichlicher Grund zu der Annahme vorhanden, die Dinge an der
Donau gingen trotz der russischen Zurückhaltung einer entscheidenden Cnfis
entgegen und zwar weil diese das Resultat einer langjährigen natürlichen
Entwickelung ist, die gar keiner Beschleunigung bedarf, um zum Ausbruch
zu kommen. Bemerkenswerth ist, daß der offietelle „russische Invalide" im
Gegensatz zu der zurückhaltender Sprache, die er in letzter Zeit sonst zu führen
begonnen, die östreichische Presse neuerdings zu einer kategorischen Antwort
darüber eingeladen hat, was die k. k. Regierung für den Fall plötzlicher
innerer Ereignisse in den türkischen Grenzländern zu thun gedenke, und daß
die Moskaner Zeitung ziemlich gleichzeitig von den officiellen Petersburger
Journalen verlangt hat, sie sollten wenigstens Alles vermeiden, was zur
Entmuthigung und Demoralisation der „Brüder im Auslande" gereichen
könne.
Ziemlich analog den rumänischen, scheinen die serbischen Zustände zu
sein. Auch Serbien hat seine wichtigsten Rechte russischem Wohlwollen (den
Verträgen von 1812, 1829 und denen der fünfziger Jahre) zu danken; der
Gegensatz zwischen der großserbischen und der panslavistischen Partei ist heute
ausgeglichen, beide haben sich in dem Bestreben nach Befreiung von allen
türkischen Einflüssen vereinigt und verständigt. Auch hier spielen die böh¬
mischen Flüchtlinge eine wichtige Rolle; allein siebenhundert derselben studiren
in der Belgrader Kriegsschule. Gerade wie in Buckarest ist in Belgrad der
französische Einfluß in der Abnahme und will es trotz verzweifelter An¬
strengungen nicht gelingen, denselben neu zu beleben. Ziemlich unverblümt
spricht sich in dieser Beziehung ein Artikel der weitverbreiteten serbischen
Zeitung „Widowdan" aus, der eine Besprechung der im pariser Gelbbuch
veröffentlichten Aktenstücke mit nachstehenden kräftigen Worten schließt: „Die
französische Presse wird Niemandem mehr Furcht einjagen, sie ist außer Stande,
unsere Bestrebungen zu hemmen. Fürst Michael huldigt wie früher den
Grundsätzen einer gemäßigten und friedliebenden Politik, wie sie durch die
Interessen Serbiens gefordert wird. Er wird den Frieden Europas nicht
stören, wenn Europa nur nicht seinem Ehrgefühl (wörtlich: seiner Liebe zur
Ehre) zu nahe tritt." Daß Serbien mit besonderem Eifer rüstet, dürfte aber
nicht nur durch die „Liebe zur Ehre" motivirt sein, welche Fürst Michael
sich offen nachrühmen läßt, sondern zugleich mit der Rücksicht, welche durch
die Concurrenz Rußlands und Rumäniens gefordert wird, das in Bosnien
und der Herzegowina bereits gegenwärtig mindestens ebenso einflußreich ist,
wie Serbien. Das Ansehen dieses Staats bei den Bosniaken, so heißt es in
einer aus Sarajewo (türkisch: Bosra-Sarai) datirten Correspondenz des kroa¬
tischen Journals „Napredak" ist in der Abnahme begriffen. „Seit sechs
Jahren macht Serbien Vorbereitungen, um zu uns nach Bosnien herüber
zu kommen und doch geschieht Nichts. Komm Serbien und zögere nicht
länger, es könnte dich sonst gereuen. Zeige endlich durch die That und nicht
immer wieder nur durch Worte, daß du uns vom türkischen Joch befreien
willst. Ein mächtiger Nebenbuhler steht dir gegenüber, der, wenn er sich nur
ein wenig organisirt (wörtlich: ausbessere), leicht sagen kann: Bosnien ist
mein, Türken geht heraus! Dann bist auch du, Serbien, verloren, dann ist
es mit den Hoffnungen auf deine Entwickelung vorbei. So meint das böh¬
mische Volk und es hat Recht und wird Recht behalten, wenn Serbien auch
in diesem Jahre wieder sagen sollte: Wir sind noch nicht ganz fertig."
Ziemlich übereinstimmend lautet ein Urtheil, welches in der zu Neusatz
(östreichisch-Serbien) erscheinenden Zeitung „Sastawa" (der Schlagbaum) über
die Politik Serbiens gefällt wird, nur daß sich die Anklage hier directer
gegen die mit Oestreich verbündeten Westmächte als gegen den Fürsten
Michael richtet. „Serbien ist es eben nicht erlaubt sich selbst sicher zu stellen
und dem Bedränger Widerstand zu leisten, das hat der Fall mit dem Dampfer
Germania deutlich bewiesen, Serbien darf nicht an seine Zukunft denken,
sich nicht naturgemäß entwickeln."
Nach diesen Daten zu urtheilen sind die Gründe, welche Serbien zur
Concentration seiner Macht und zu energischem Vorgehen gegen die Pforte
drängen, somit nicht nur äußere, sondern hauptsächlich innere und zwar solche,
welche vom Willen- des Beherrschers der 1.100,000 Serben und Ranzen und
seiner Skuptschina (Volksvertretung) unabhängig sind. Nicht sowohl russische
Einflüsterungen oder russisches Geld und Waffensendungen, auch nicht
eigener Ehrgeiz, sondern die Rücksicht auf einen durch jahrelange Opfer
mühsam erkauften politischen Credit bei den benachbarten Stämmen ist
der eigentliche Hebel, der den Fürsten Michael nöthigt, die Kräfte seines
Staats zu sammeln und gegen die Pforte eine immer drohendere Haltung
anzunehmen. Jene äußeren Motive kommen zweifellos auch in Betracht;
während es bezüglich ihrer den friedensbedürftigen Westmächten aber immer¬
hin möglich ist, einen energischen Gegendruck zu üben, erscheint die Macht
der böhmischen Volkswünsche ebenso unbeschwörbar zu sein, wie die wohlge¬
gründete Besorgniß der serbischen Minister, von entschlosseneren Nebenbuhlern
überflügelt und in der elften Stunde um den Preis jahrelanger Opfer an
Geld und Kräften betrogen zu werden.
So begegnen wir in den slavischen Ländern, welche von den Karpathen
bis an den Balkan reichen, allenthalben Zuständen, deren Haltbarkeit mehr
wie zweifelhaft erscheint, die mit oder ohne eine russische Intervention über
kurz oder lang zusammenbrechen müssen, weil der Entwickelungsgang, den
die Verhältnisse einmal genommen, auf eine gewaltsame Lösung zudrängt.
Noch von dem gereizten, nahezu feindlichen Verhältniß, in welchem die Kroaten
und die übrigen slavischen Bewohner Ungarns zu der neugegründeten magy¬
arischen Ordnung der Dinge stehen, zu handeln, erscheint uns überflüssig,
denn dieses Thema wird in der Mehrzahl aller Zeitungsblätter unaushörlich
variirt. Sei es uns statt dessen gestattet, noch in Kürze von den Berichten
Act zu nehmen, welche die oben angeführten südslawischen Journale Sastawa
und Napredak, sowie die in Wien erscheinende slawische Zeitung „Novy
Pozor" (das neue Schauspiel) von der Lage der Dinge und den Stimmungen
in Bosnien, der Herzegowina und türkisch-Serbien entwerfen.
Aus BosnaSarai wird dem Napredak geschrieben:
„Die Stimmung ist so gereizt, daß wir selbst in unseren Häusern nicht
mehr sicher sind. Eben ist der türkische Ramasan vorüber; diese Fastenzeit
der Muhamedaner bringt uns jährlich viele Bedrückungen. Wenn wir uns,
ohne an dieselbe zu denken, friedlich und mit der Pfeife in der Hand vor der
Thür zeigen, so kann es leicht geschehen, daß wir den Rest der Fastenzeit
im Gefängniß zubringen. „Verbannter Giaur" sagt der Türke, „ich muß
fasten und kann nicht dulden, daß du inzwischen mit spöttischem Behagen
auf mich herabsiehst." So bleibt uns Radjas nichts übrig, als gleichfalls zu
fasten und mit Sehnsucht die Stunde zu erwarten, in welcher die Festungs¬
kanonen das Ende dieser Zeit verkünden .... Jeder Europäer, der hierher
kommt, sei's auch nur um Geschäften nachzugehen, wird sofort als Spion ange¬
sehen und ängstlich überwacht. Arme Türkei, was kann dir ein Spion schaden,
da doch das gesammte Europa deine Schwäche kennt. Die Welt weiß, daß deine
ruhmredige Sprache Unwahrheit ist und daß deine Macht in Bosnien völlig
bedeutungslos ist. Du rubust, daß in Sarajevo eine ganze, von Mustafa-
Pascha commandirte Armee unter den Waffen ist, und doch besteht dieselbe
nur aus einem Infanterie- und einem Cavallerie-Regiment und vier Bat¬
terien .... Und doch glauben die Türken, daß im Frühjahr ein Krieg
gegen Serbien ausbrechen wird; sie sind davon fest überzeugt und in höchster
Erregung, denn ihre Bücher enthalten die Weissagung, daß es in diesem
Jahr zu einem großen Blutvergießen kommen müsse, wir aber zweifeln, denn
Serbien droht und zögert schon seit sechs Jahren."
Aus demselben Ort wird dem Novy Pozor geschrieben: „Sowohl das
Volk, als diejenigen Vertreter des Auslandes, denen es um Erforschung der
Wahrheit zu thun ist, wissen ganz genau, daß das gegenwärtige böhmische
Verwaltungssystem zu vollständiger Zerstörung des Landes und zu furchtbaren
Geschicken für das gesammte Reich führen muß. Bosnien liegt von der
Centralregierung weit ab und ist mit den übrigen Provinzen nur mangelhaft
verbunden. Die neuerdings von der Regierung ergriffenen Maßregeln be¬
weisen, daß dieselbe sehr wohl weiß, von Bosnien her drohe ihr unaufhörliche
Gefahr und dieselbe könne nur durch Anwendung brutaler Gewalt und durch
den Terrorismus, welchen der tyrannische Osman-Pascha täglich härter aus¬
übt, beschworen werden..... In Bosra-Sarai hat dieser Terrorismus
so furchtbare Dimensionen angenommen, daß kein ehrlicher Mann zum An¬
dern mehr in Beziehung treten kann, daß es unmöglich ist, gegen einen
Günstling der Türken auch die gerechteste Klage anzustellen und daß die einzige
Hilfe die ist, die von ausländischen Unterthanen geleistet wird. Unter solchen
Zeichen hat das neue Verwaltungsjahr des böhmischen General-Gouverne¬
ments begonnen!"
Ob diese Schilderungen der Wahrheit gemäß sind, dürfte schwer festzu¬
stellen sein. Darauf kommt es aber zunächst auch nicht an, daß sie von
Millionen geglaubt und von allen slavischen Blättern zwischen Wien und
Moskau nachgedruckt werden, um die Aufregung der Stammesgenossen in
Permanenz zu erhalten, das ist die Hauptsache. Von der ungeheuern Wir¬
kung, die mit ihnen erzielt worden, von der Aufregung, welche das instinc-
tive Gefühl, die Krisis stehe vor der Thür, allenthalben an der Donau her¬
vorgerufen hat, legt eine in dem arvalischen Journal „Sastawa" vor kurzem
veröffentlichte Volksstimme Zeugniß ab, welche in der periodischen Presse der
Nachbarprovinzen sofort Wiederhall gefunden hat. Ein ziemlich ausführlicher,
wie es scheint auf Grund von Reisebeobachtungen zusammengestellter Bericht
über die Stimmung in Bosnien, Alt-Serbien und der Herzegowina enthält
an seinem Schluß u. a. folgende Sätze:
.„Was Frankreich, England und Oestreich anlangt, welche die morsche
Türk'enherrschaft stützen und das tapfere, freiheitslustige Christenvolk knechten,
so wird es ihnen trotz aller Anspannung ihrer Kräfte nicht gelingen, das
auf faulem Fundament stehende Haus vor den Stürmen zu schützen, — sie
werden nur den Zusammensturz desselben beschleunigen. Sie ist nicht mehr
fern die heilige Stunde, in welcher unsere Brüder aus Serbien und Monte¬
negro die Fahne Nemanitsch's erheben und rufen werden: Mache sich jeder
zum Kampf bereit, der sich einen Serben nennt, damit die Milch der Serbin
ihn nicht verfluche (?). Die Zeit ist da, in welcher wir der Welt beweisen
müssen, daß noch die alten Serben leben, bereit, für ihr Volk, für das Kreuz
und die Freiheit in den Tod zu gehen. Auf diesen heiligen Nus werden
alle Serben vom adriatischen Meer bis nach Widdin, von der Kupa,
Drava und Marosch bis zum Wardar einstimmig antworten: Tod oder
Leben, Tod den Bösewichtern. Auch unsere Brüder die Bulgaren, Rumänen
und Griechen werden sich auf diesen Ruf erheben, denn sie haben alle die¬
selben Interessen. In diesem Aufstande zählen wir darauf, daß das große,
glaubensverwandte Rußland, das edle Preußen, das sreie junge Italien und
die freie Schweiz unserer heiligen und gerechten Sache wohl geneigt sein
werden!" — In diesem begeisterten Stil geht es weiter; den Türken wird
schließlich in ihrem eignen Interesse gerathen, der Bildung eines großserbi¬
schen Staats keine Hindernisse in den Weg zu legen, sondern sich durch Con¬
cessionen an denselben einen Nest ihrer Macht zu retten; andernfalls würden
sie Gefahr laufen, - alles zu verlieren, denn die serbische Idee lebe in der
Brust jedes Sohnes dieses Stammes und sei, nicht mehr von der Erde zu
vertilgen.
Freilich, wie weit es mit der Thatkraft und Opferfreudigkeit her ist,
welche hinter diesen hochtönenden Phrasen steckt, läßt sich aus der Ferne
schwer beurtheilen. Mag dem aber sein wie ihm wolle, daß dieser Zustand
gegenseitiger Aufreizung und Erregung aller die Donauniederung bewohnen¬
den Slavenstämme nicht ewig fortdauern kann, und einmal zur Erplosion
kommen muß, ist zweifellos. Und doch besteht die ganze Weisheit der Mächte,
welche für die Vertreter des alten europäischen Gleichgewichts gelten, darin,
zu temporisiren und durch Anwendung von Palliativmitteln über die nächsten
Schwierigkeiten hinwegzukommen. Hat solch ein kleines Mittel einmal ge¬
wirkt, so gibt sich der gesammte europäische Westen wieder dem Gefühl der
Sicherheit hin und freut sich des gewonnenen Aufschubs, als werde durch
diesen die Gefahr auch stetig verringert. Schon beim Beginn des kretischen
Aufstandes machte Andre Consul in der Lepus ach äeux mouäes darauf auf¬
merksam, daß diese Politik der kleinen Hausmittel zur Fristung des Lebens
der Türkei nur Rußlands Einfluß stärke und die slavisch-christlichen Völker
unfehlbar in die Arme des nordischen Niesen treibe. Diese Warnung hat
sich in der Geschichte der letzten Jahre wiederholt bewahrheitet. Der. Um¬
stand, daß das Mißtrauen der Türken sich in erster Reihe gegen die grie¬
chisch-orthodoxen Christen richtet, und daß der Uebertritt zum Katholicismus
neuerdings für ein ziemlich sicheres Mittel gilt, um bei den Paschas in Gunst
zu kommen, — gibt einen Maßstab dafür ab, von welcher Seite her Musel¬
männer wie Rajahs die Entscheidung erwarten. Hätten die Westmächte mit
Rußland in Concurrenz treten wollen, sie hätten heute über einen beträchtlichen
Einfluß in der christlichen Welt des Orients zu gebieten, denn bei allem ortho-
boxen Fanatismus sind die russischen Sympathien der Westslaven mit sehr
gemischten Empfindungen versetzt. Jetzt stehn die Dinge so, daß je nach dem
Verhalten Rußlands Erhaltung oder Zusammensturz der türkischen Zustände
prognosticirt wird: die ganze Friedenssicherheit bezüglich des Orients, in
welcher man sich neuerdings wiegt, beruht auf der Annahme, Nußland werde
still halten. Daß es auch ohne die Dazwischenkunft dieser Macht an'der
Donau losbrechen kann und daß dieser Losbruch nur Rußland keinen
Schaden bringen würde, — dafür glauben wir auch in den vorliegenden
Berichten einige neue Belege angeführt zu haben. Keine Regierung kann
eine Garantie dafür übernehmen, daß es in den türkischen Grenzländern ruhig
bleibt, auch wenn Nußland nicht das Signal zum Aufstand gibt. Das wer¬
den auch die deutschen Politiker in Erwägung zu ziehen haben, wenn sie sich
für den kommenden Sommer einrichten.
Dem Prinzen Napoleon war, wie verlautet, bei seiner Reise Haupt¬
zweck, durch seine Anschauungen von Personen und Verhältnissen den Kaiser
über die Lebenskraft des-norddeutschen Bundes, über die Stärke des Bundes
und der im Bundesgebiete dagegen reagirenden Bestrebungen aufzuklären.
Für solche Reise eines Familienmitgliedes mochte der Kaiser gute Gründe
haben. Bei dem französischen Botschafter in Berlin, Herrn Bencdetti, wird
eine besonders abgeneigte Stimmung gegen die Resultate des Jahres 1866
vorausgesetzt, die französischen Agenten der kleineren Höfe berichten nach den
Anschauungen der Coterien, in denen sie sich bewegen, und im Sinne ihrer
Instruction, durch welche sie an einigen Höfen zum Mittelpunkt der anti¬
preußischen Intriguen gemacht waren. Die bundesfeindliche Opposition hat
in mehreren deutschen Territorien die Scham verloren, welche im Jahre 1867
wenigstens mißvergnügte Privatleute abhielt, bei Frankreich Zuflucht zu
suchen; die Schilderungen allgemeiner Unzufriedenheit, welche nach Paris
liefen, hatten dort Eindruck gemacht und große Erwartungen erregt; die
Agenten des Weisen und anderer depossedirten oder geängsteten Dynastien
stellten den Augenblick als günstig dar, um den haltlosen Bau des Bundes
zu werfen, und wir dürfen den Umzug der hannöverischen Legion, die Wall¬
fahrt nach Hietzing, die Verbreitung der Proclamation in Kurhessen und ge¬
heime Werbungen in Hannover als planmäßige Versuche betrachten, ein großes
deutsches Mißvergnügen vor Europa festzustellen und ein Eingreifen des Kaisers
Napoleon zu provociren, welches außerdem in seiner Umgebung warme Ver¬
treter fand. Dazu kamen rührige Polen, welche in ihrem Sanguinismuö
versicherten, daß das polnische Element für Preußen eine große Verlegenheit
und eine gefährliche Schwächung seiner Kraft sei. So war in dem officiellen
Paris starke Neigung vorhanden, sich ein unrichtiges Bild von den deut¬
schen Verhältnissen zü machen.
Wir wissen nicht, ob die Beobachtungen, welche PrinzNapoleon von Kassel,
Berlin und Dresden heimgebracht hat, dies Bild berichtigen werden- Aber
wenn man aus den Eindrücken, welche der Prinz in Berlin gemacht, auf die
schließen darf, welche er selbst empfangen, so dürfen wir wohl' friedliche Resul¬
tate von dieser Reise erwarten. Denn Prinz Napoleon hat, wie man hört,
überall gut gefallen, er zeigte sich gescheidt, klar, mit ruhiger Haltung, und
einem lebendigen Interesse, sich zu informiren; sicher hat er Alles gesehen
und zu beurtheilen gesucht, was sich bei einem Aufenthalt von wenigen Tagen
erkennen läßt; die'Reise nach Posen hat er als unnöthige Demonstration
aufgegeben.
Wir Deutsche haben wenig Geheimnisse zu verbergen. Stärke und Schwäche
unserer Stellung liegen klar am Tage. Wir sind kein reiches Volk, eine
Mißernte und der Nothstand in Ostpreußen werden den Staatseinnahmen
einen Ausfall veranlassen, aber unsere Finanzen würden uns dennoch gestatten,
den größten Krieg ohne Anleihe zu beginnen. Die Armee des norddeutschen
Bundes vermag jetzt im zweiten Jahre ihrer Organisation, mit ihren Reserven,
ohne Landwehr, eine halbe Million Streiter aufzustellen, wobei das 12-
(sächsische) Bundesarmeecorps außer Rechnung gelassen ist. Zu weiteren
Formationen würden allerdings die preußischen'Landwehren noch einmal,
wenigstens zum Theil, für das übrige Deutschland herangezogen werden
müssen. — In den annectirten Landschaften und den übrigen Staaten des
Bundes besteht über Einzelnes viel Unzufriedenheit. Sie war zum großen
Theil unvermeidlich, die Depression des Handels und Verkehrs, für welche
der neue Staat nicht verantwortlich ist, haben das Gefühl neuer Größe und
eines frischen Gedeihens bisher zurückgehalten, die stärkere Anspannung des
Volkes für staatliche Leistungen ist den NichtPreußen noch sehr lästig, große
Veränderungen in der Gesetzgebung, Verwaltung und vor Allen in der Be¬
steuerung machen jederzeit eine Bevölkerung auf'einige Jahre unzufrieden.
Aber unleugbar sind die Schwierigkeiten der Neubildung zumal in den
annectirten Ländern den Bevölkerungen fühlbarer geworden, als nöthig ge¬
wesen wäre. Preußen trat in den Kampf des Jahres 1866 ein, während
es selbst in einer Entwickelungskrankheit war; im Innern hatte ein partei¬
süchtiges und engherziges Regiment nicht nur geärgert, auch in Lehre und
Verwaltung zurückgehalten; unter den leitenden Beamten fehlte zu sehr
Urtheil, Geschick und Kraft, denn zu lange war das, was man damals konser¬
vative Gesinnung nannte, die erste Forderung an den Staatsdiener gewesen.
Zumal in den obern Verwaltungsstellen war ein öder Mangel an Talenten
und Charakteren; die Wahlen, welche man bei Besetzung einflußreicher Posten
in den annectirten Landschaften traf, waren in der Mehrzahl nicht glücklich;
die alte Idee des persönlichen Regimentes verhinderte zuletzt eine Regeneration
des Staatsministeriums. Kein Wunder also, wenn auch Solche unzufrieden
sind, welche Fähigkeit und guten Willen mitbrachten, die neue Lage der
Dinge anzuerkennen.
Aber es gibt in dieser unbequemen Zeit für den Fremden ein Symptom,
und wie uns scheint, ein untrügliches, daß der Deutsche sich doch mit dem besten
Theil seines Empfindens bereits in dem Bundesstaate eingerichtet hat. Von
allen lästigen Neuerungen hat keine sich so behend in die Seelen eingelebt, als
gerade die. welche in Frankreich die größten Schwierigkeiten bereitet, die all¬
gemeine Dienstpflicht. Wie denn überhaupt die gesammten militärischen
Organisationen des Bundes am schnellsten und im ganzen mit der glücklichsten
Verbindung von Schonung und Energie eingerichtet sind. Wenn aber der
gebildete Hesse und Sachse sich so willig und nicht selten mit einem gewissen
kriegerischen Stolz gefallen läßt, daß die jungen Männer seiner Familie
Soldaten des Bundes werden, so mag man im Ausland versichert sein, daß
er sich in kurzem völlig darein finden wird, der Bundeskasse die nöthigen
Steuern zu zahlen.
Auch wer unbefangen in Berlin die Personen begutachtet, wird nicht
ohne Respect scheiden. In der Stadt und der Staatsmaschine noch viel von
der Enge und Beschränkung eines kleineren Staats, vielleicht sogar in den
Leitern der Geschäfte, außerdem aber überall junge Kraft und redlicher
Eifer; eine regierende Familie, sehr fest in ihrem Volke verwachsen, ein
arbeitsames, opfergewöhntes Volk, welches jetzt das Bedürfniß hat, aus
seinen Staat stolz zu sein, treue und gewissenhafte Beamte, welche fest
an ihren Staat glauben und ihm mit Devotion dienen. Wer das nicht
sehen wollte, dem läge der Fehler in den Augen. — Und alles zu sagen,
unsere deutschen Feinde im Norden des Main, die lauten und die stillen,
sind wenig darnach angethan, feindlichen Conaten des Auslandes schätzens-
werthe Bundesgenossen zu werden, und ihre Pläne und Seufzer schaffen uns
mehr gute Laune als Sorge.
Hat aber der Verwandte des französischen Kaisers gut beobachtet, so ist
ihm eine ganz andere Schwäche unsers Bundes nicht Geheimniß geblieben. —
Preußen und der Bund helfen selbst dazu, die Illusionen der Gegner zu
nähren. Die Organisation des Bundes trägt noch allzusehr den Charakter
eines Provisoriums; noch ist oft zufällig, was geschieht und unterlassen wird;
auch was geschieht, hat zu sehr ein persönliches Gepräge, es ist nur ein
Mann. Graf Bismarck, der die Summe aller Arbeiten im norddeutschen
Bund disponirt, überwacht und vertritt, und wie groß seine Arbeitskraft sei,
sie ist nicht im Stande, die gewaltige Strömung neuer Interessen in stetigem,
wohlthätigem Fluß zu erhalten.
Im Jahr 1867 war die Diktatur des Grafen Bismarck eine Nothwen¬
digkeit; damals galt es, die Geundlagen der neuen Organisation zu gewin¬
nen durch schnelle That, durch persönliche Kompromisse, durch einen festen,
einheitlichen Willen. Es war ein gutes Zeichen für die politische Intelligenz
- der Nation, daß die nationalen und Konservativen in richtiger Würdigung
dieser Nothwendigkeit übereinstimmten. Jetzt aber sind durch die Verfassung
des Bundes weite Gebiete von Interessen geschaffen worden, ein Departe¬
ment des Krieges, der Finanzen, des Handels neben dem auswärtigen Amte.
Jedes dieser Departements fordert einen kräftigen Mann als Leiter, jedes
fordert gebieterisch einen Organismus, welcher regelmäßige und zwar eminent
schöpferische Thätigkeit zu entwickeln vermag. Und dieser Ausbau fehlt. Es
ist unmöglich, daß die ganze Bundesarbeit wie ein Neben- oder Seiten¬
geschäft von den alten preußischen Ministerien, oder durch die Kanzlei des
Grafen Bismarck bewältigt werde. Es ist ferner unmöglich, daß ein Bundes¬
rath, der gelegentlich einberufen wird, diese Kontinuität der Administration
darstellen helfe und durch seine Mitwirkung dem Bundeskanzleramt die Sicher¬
heit, die Ideen, den Respect herstelle, welche eine wohlorganisirte Ministerarbeit
dem neuen Staatsleben geben würde. Es ist endlich unmöglich, daß ein
Mann, selbst mit der größten Personen- und Sachkenntniß und mit uner¬
schöpflicher Erfindungs- und Arbeitskraft ausgestattet, zugleich die geordnete
Verwaltung des Bundeskriegswesens, der Finanzen, des Handels und der
auswärtigen Angelegenheiten in kräftigem Zuge erhalten könne. Jetzt ist
unvermeidlich, daß in dem Drange gehäufter Geschäfte nur gerade das er¬
ledigt wird, was sich, vielleicht zufällig, als dringlich empfiehlt. Und es ist nicht
unberechtigte Ungeduld, wenn schon jetzt leise Klage tönt, daß frische Energie und
Thatkraft des Bundes nur gelegentlich und nur da sich äußere, wo gerade Graf
Bismarck ein Interesse gewinne, und daß von seiner persönlichen Ausfassung der
Personen und Sachen allzuviel abhänge. Schreiende Uebelstände des Auswande¬
rungswesens z. B. veranlassen ihn zur Niedersetzung einer Commission, laute
Klagen über die Mängel unseres Beleuchtungswesens zur See mögen vielleicht
wieder die Vorschläge einer Commission und langwierige Verhandlungen mit
den Küstenstaaten hervorrufen; Vorschläge der preußischen Admiralität mögen
ihn in guter Stunde veranlassen, einmal Befehl zum Bau neuer Panzerschiffe
zu geben, wenn einmal andere Klagen über die abgeneigte Stimmung des
Offiziercorps in einem Bundesstaat ihm nahe treten sollten, würde er viel¬
leicht auf irgend eine acute Maßregel dagegen dringen, vielleicht auch nicht.
Aber diese improvifirende Art, die größten Interessen der Nation zu behan¬
deln, erweist sich schon jetzt nach einem Jahr als ungenügend. Sie trägt
wesentlich dazu bei, den Separatismus zu ermuthigen.
Graf Bismarck hat ein wohlerworbenes Recht, sich als Schöpfer und
Mittelpunkt des deutschen Neubaus zu betrachten. Es würde jedem Mann
in so einziger Stellung schwer werden, Gedanken und Vollen durch Kom¬
promisse mit gleichberechtigten Kollegen zu beschränken, und ihm sagt man
nach, daß es ihm besonders schwer werde, eine selbständige Kraft neben sich
zu ertragen.. Dennoch wird die starke Selbstüberwindung, welche ihm die Ein¬
richtung geordneter Bundesministerien kosten muß, die edelste Förderung
sein, welche er jetzt der großen Arbeit seines Lebens zu geben vermag. Daß
seine preußischen Minister-Collegen für diese Aufgabe sich nicht eignen, er¬
schwert die nöthige Neubildung; sie macht ihr Bedürfniß um so größer.
Daß dieser nächste Schritt für Stärkung des Bundes den meisten Bun¬
desregierungen unwillkommen wäre, ist zweifellos, denn erst durch ihn wür¬
den sie dem Bunde wirklich eingefügt und von den Illusionen befreit werden,
mit denen jetzt noch einzelne sich im geheimen ihre Zukunft färben. Auch in
Preußen würde die Einrichtung von Bundesministerien in das Gefüge der
Beamtenhierarchie verhängnißvoll eingreifen, und auch dort würde es an
Widerstand nicht fehlen.
Aber wenn der Bund seine Lebenskraft erweisen, wenn er sich gegen¬
über den Interessen der Einzelstaaten befestigen und vor Allem, wenn er der
Nation das stolze Gefühl eines kräftigen Fortschritts geben soll, ist eine ge¬
ordnete regelmäßige Verwaltung und eine Gliederung der höchsten Bundes¬
regierung in Ministerien mit verantwortlichen Ehefs unentbehrlich geworden,
und es ist, so scheint uns, jetzt die größte Aufgabe der nationalen Partei,
diese Consolidirung zu verlangen, und den Bundeskanzler dabei zu unter¬
Mit Ur. beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1863.Die Verlagshandlung.
Die naive Schilderung, welche Thomas Platter in seiner Selbstbio¬
graphie von dem Leben und Treiben unter t>en fahrenden Schülern und seinem
ferneren Bildungsgang gibt, ist aus Freytags Bildern allgemein bekannt.
Wenn die lebendige Anschaulichkeit seiner Darstellung auch gar keinen Zweifel
zuläßt, daß er eigene Erlebnisse mit der treuesten Wahrheit wiedergibt, so
machen doch seine Berichte auf uns einen so seltsamen Eindruck, daß man
geneigt sein könnte, ungewöhnliche und ausnahmsweise Erfahrungen darin
zu sehen. Man wird daher auch einen andern Erzähler nicht ungern hören,
der bezeugen kann, wie das, was uns jetzt so schwer begreiflich erscheint,
einst an der Tagesordnung war. Ein Benedictinermönch des Klosters Laach
am Rhein, Frater Johannes Piemontanus, hat in einem an seinen
geliebten Bruder Philipp, Schulmeister in Münster- und Westphalenland,
gerichteten Reisebuch (Oäeporieon) seine Lebensweise, namentlich seine Jugend
und seinen Bildungsgang ausführlich geschildert. Als Gelehrter schreibt er
lateinisch in fließender Sprache, die durch Citate und Anspielungen von seiner
classischen Lecture Zeugniß ablegt, doch läßt das fremde Kleid nirgend Un¬
mittelbarkeit und Frische lebendiger und treuer Jugendeindrücke vermissen.
Wer aus seiner Handschrift ihm nacherzählt, muß freilich beträchtlich kürzen,
aber er würde ihm Unrecht thun, wenn er ihn nicht in der Muttersprache
einfach und ohne classische Reminiscenzen reden ließe.
Johannes Butzbach ist in Miltenberg im Jahr 1478 geboren, der
Sohn Meister Conrads, eines ehrsamen, nicht unbemittelten Webers.
Als kleines Kind nahm ihn die Schwester seines Vaters, die in kinderloser
Ehe mit einem reichen Mann lebte, zu sich und erzog ihn mit mütterlicher
Liebe. Frühzeitig schickte sie ihn in die Schule; anfangs lockte sie ihn mit
Brezeln, die er zur Belohnung erhielt, wobei er des horazischen Verses ein¬
gedenk ist, daß
manchmal auch liebkosende Lehrer den Knaben
Backwerk spenden;
nachher hielt sie ihn mit Ernst zum Schulbesuch an und sparte die Ruthe
nicht. Später dankte er ihr diese verständige Strenge — denn, sagt er wieder
mit Horaz,
ward einmal er getränkt noch neu, so bewahrt die Gerüche
lange der Topf. —
Der Knabe wußte sie aber noch so wenig zu würdigen, daß er sich, als nach vier
Jahren die mütterliche Pflegerin starb und er ins elterliche Haus zurückkehrte,
mit der Hoffnung tröstete, mit der Schule werde es nun vorbei sein. Darin
täuschte er sich; seine Eltern hielten ebenfalls auf fleißigen Schulbesuch, aber
die Aussicht konnte nicht so streng geführt werden. So brachte er manchen
Tag im Kahn auf dem Fluß statt in der Schule zu und entschuldigte sich
vor dem Lehrer damit, daß er zu Hause in der Werkstatt oder in der Küche,
gebraucht worden sei. Eines Tages hatte er vergessen, daß er an einem
Fasttage hinter die Schule gegangen war und brachte als Entschuldigung
vor, daß er auf den Braten habe Acht geben müssen. Für Versäumniß und
Lüge mit Ruthen gestrichen, war er fleißig, solange ihn die Schmerzen der
Striemen und Narben beim Sitzen warnten; bald verlockte ihn wieder das
lustige Kahnsahren. Da erregte er einmal bei seinem Vater Verdacht, dem
die lateinischen Vocabeln, die der Knabe als frisch gelernte nach der Schule
hersagen mußte, so bekannt vorkamen, und am andern Tage brachte die
Mutter selbst ihn in die Schule und forderte den Lehrer auf, ihn nach Ver¬
dienst zu strafen. Unglücklicherweise hielt der Unterlehrer gerade Schule,
ein roher, prügellustiger Mensch, der den Knaben ausziehen und-an die
Säule binden ließ und Mit den Mitschülern um die Wette auf ihn losschlug.
Auf der Straße hört die Mutter das Wehgeschrei des Geprügelten, kehrt
um, dringt mit Gewalt in die verriegelte Schulstube und stürzt ohnmächtig
zusammen, als sie ihr Kind unter barbarischen Mißhandlungen blutbedeckt
an der Säule sieht. Nachdem sie zu sich gebracht worden war, nahm sie den
Sohn mit und drohte dem Lehrer, daß er fortan kein Bürgerkind mehr mi߬
handeln solle. Auf die sofort ergangene Klage wurde er auch abgesetzt und
zu der für ihn passenderen Stelle eines Stadtbüttels befördert. Später hat er
dem ehemaligen Schüler die grausame Züchtigung reumüthig abgebeten.
Was nun zu machen? In die Schule konnte Hans nicht wieder ge¬
bracht werden, und doch stand des Vaters Sinn darauf, der Sohn solle stu-
diren und geistlich werden. Da traf es sich, daß der große Sohn eines
Nachbarn als fahrender Schüler (Beanus)^) von der Hochschule in den Fe¬
rien nach Hause kam und von seiner Gelehrsamkeit und dem Studentenleben
viel Gerede machte. Der erbot sich, wenn man den Knaben ihm anvertrauen
wollte, väterlich für sein Wohlergehen an Leib und Seele zu sorgen, ihn
zum Lernen und zu allem Guten anzuführen und nach einigen Jahren als
perfecten Gelehrten wieder heimzubringen. Der Vater ging nach wiederholter
Rücksprache mit dem vielverheißenden Beanus darauf ein, überantwortete
diesem eine Summe Geldes und sagte ihm fernere Unterstützung zu, nur solle
er für seinen Hans sorgen und es ihm nicht fehlen lassen. Der war froh,
aus dem Ort zu kommen; er dachte nach dem Sprichwort, draußen in der
Welt hingen die Bratwürste an den Zäunen und die Häuser seien mit Pfann¬
kuchen gedeckt, und wer ihn fragte, dem versicherte er, unter zehn Jahren
bleibe er nicht aus, aber dann käme er als Doctor heim. So rückte der Ab¬
schied heran. Der Vater versammelte die Angehörigen zum feierlichen Ab-
schiedstrunk, gab dem Sohn mit vielen frommen Vermahnungen (die ein
etwas livianisches Colorit bekommen haben) seinen Segen und begleitete ihn
mit der Familie bis ans Thor. Die Mutter ging weinend und klagend
noch eine Strecke weiter mit. Der Beanus, der merkte, daß auch dem Kna¬
ben weich ums Herz wurde und fürchtete, er möchte am Ende wieder mit
umkehren, redete ihr zu, sie ziehen zu lassen; es gehe ja nur nach Nürnberg,
von wo sie durch Handels- und Fuhrleute immer gute Nachrichten von ihrem
Ergehen bekommen würde. So trennte sie sich denn von ihnen und Hans
schlich bitterlich weinend hinter seinem Beanus her, der ihm anfangs mit
guten Worten tröstlich zusprach; je weiter sie sich entfernten, je weniger an
ein Umkehren zu denken war, desto kürzer und härter wurden seine Weisun¬
gen an den Knaben, den er vor sich hergehen ließ.
Nach einem Marsch von zwei Meilen machte der arme Junge schon im
ersten Nachtquartier die Erfahrung, wie sein Beanus die Pflicht väterlicher
Fürsorge auffaßte. Kaum im Wirthshaus angelangt, bestellte er ein reich¬
liches Abendessen, ließ eine Anzahl armer Verwandter und Bekannter zusam¬
menholen und tractirte sie von dem Gelde, das ihm Meister Conrad mitge¬
geben hatte, ohne sich um dessen Sohn zu kümmern. Als die mitleidige
Wirthin fragte, ob nicht für den Burschen, der weinend am Ofen „in der
Hell" saß, gesorgt werden solle, meinte der wackere Pflegevater, dem thue
Schlaf mehr noth als Essen, und zum erstenmal mußte Hans hungrig zu
Bett gehen. Das nächste Nachtquartier gab ihnen in Bischofs heim ein
Weber, der bei Meister Conrad in Arbeit gestanden hatte; er nahm sich des
Knaben an, verpflegte ihn gut, redete ihm wohlmeinend zu und richtete seinen
Muth wieder auf, daß er getrost weiter zog. So kamen sie in Tagemärschen
von zwei Meilen über Weinsheim und Langezen (longus aeus) endlich
nach Nürnberg, das mit seinen Thürmen und Zinnen so weither sichtbar
wurde, daß der ungeduldige Reisende das Ziel gar nicht erreichen zu können
glaubte. Aber beim Eintritt in die Stadt sollte er gewahr werden, wie ein
A°B-C-schütze mit seinem Beanus seinen Einzug hielt. Nachdem dieser durch
Erzählungen von den Herrlichkeiten Nürnbergs seine Erwartungen aufs
höchste gespannt hatte, sagte er zu ihm: „Weil du noch nie hier warst, mußt
du dir das Gesicht mit Straßenkoth beschmieren lassen, und dann gehst du
hinter mir her und unterstehst dich nicht, dich umzusehen oder mit offenem
Maul die hohen Häuser anzugaffen; wenn ich in den Straßen auf dich war¬
ten muß, gibts im Wirthshaus jämmerliche Schläge." Mit unterdrückten
Thränen schlich Hans hinter ihm drein und kaum waren sie in der Stadt, so
stürzten aus den Häusern die Schüler hinter ihnen her, machten ihm Esels
ohren und verfolgten ihn mit Schimpfen und Spotten bis zur Herberge, wo
sie hörten, daß er als Schüler dort bleiben werde. Aber der Beanus fand
bei näherer Nachfrage, daß hier noch zuviel Verkehr mit Miltenberg sei, sein
Schüler konnte leicht Nachricht nach Hause gelangen lassen, oder auch wohl
Gesellschaft zur Heimreise finden. Unter dem Vorwande, daß Nürnberg mit
Studirenden überfüllt sei, wurde wieder aufgebrochen, um einen freien Platz
in einer Burse*) aufzufinden. Ueber Forchheim, das mit Recht den Ruhm
seines weißen Brodes, mit Unrecht, wie Johannes kritisch bemerkt, den, die
Vaterstadt des Pilatus zu sein, in Anspruch nahm, kamen sie nach Bam-
berg, welches ihm außerordentlich gefiel und durch eingerückte Verse aus
Gotfrieds Chronik gepriesen wich. Im allgemeinen Armenhospital fanden
sie zwar gute Aufnahme, aber der Rector Gymnasii verweigerte ihnen wegen
der großen Zahl der Scholastici die Aufnahme und so ging es denn aus
demselben Wege wieder nach Nürnberg zurück. Auf Johannes machte Nürn¬
berg mit seiner Burg, seinen Reliquien und Reichsinsignien, seinem Verkehr
mit reichen Handelsleuten aus fernen Ländern von Venedig bis Antwerpen
den mächtigen Eindruck einer Weltstadt, wie sie Dr. Hartmann Schedel in
seiner schönen Cronica beschreibe, dessen Angaben er aus eigner Anschauung
bestätigt. Indessen war auch jetzt seines Bleibens dort nicht; sein Beanus,
dem es ums Studiren gar nicht zu thun war, machte sich mit ihm wieder
auf die Suche nach einer passenden Burse und zog als echter Bachant**)
mit seinem Schützen in Baiern umher. Dies müßige Vagiren war es, was
ihm behagte, sein Schüler erinnerte sich nicht, je ein lateinisches Wort von
ihm gehört zu haben, von Lernen war daher nicht die Rede, wohl aber ver¬
gaß er, was er noch aus der Schule mitgebracht hatte. Solange nun das
Geld reichte, das Meister Conrad beigesteuert hatte, wurde sorglos in den
Tag hineingelebt; als das ausging, mußte der Schütz betteln. Der Beanus
war dazu zu bequem, auch wußte er Wohl, daß man ihm als einem großen
starken Burschen Arbeit bieten, aber kein Almosen geben würde, der zehn¬
jährige übelgehaltene Knabe konnte eher auf Mitleid rechnen. Kamen sie an.
einen Ort, so wurde Hans hineingeschickt und mußte sich durch grundlose
Straßen, in deren Koth er oft bis über die Knie versank, und Schaaren
bissiger Hunde, die ihn in Todesangst, auch wohl in wirkliche Todesgefahr
brachten, durchschlagen und von Haus zu Haus Gaben heischen. Am Aus¬
gang erwartete ihn dann sein Herr, der auf bequemen trockenen Wegen um den
Ort herumgegangen war. Hatte er nichts oder nichts ordentliches bekom¬
men, setzte es Schläge; brachte er etwas gutes mit, verzehrte es der Beanus
und ließ ihm nichts oder den Abfall übrig. Dabei hatte er ihn immer in
Verdacht, daß er von den geschenkten Lebensmitteln schon etwas verzehrt
hätte und pflegte das probate Bachantenmittel anzuwenden, daß er ihn war¬
mes Wasser trinken und ausspucken ließ, um zu sehen, ob er nichts fettes im
Munde hätte. Nun kam es nicht selten vor, daß mitleidige Frauen ihn ins
Haus riefen, sich an den Tisch setzen ließen und gut bewirtheten; so oft der
Beanus davon erfuhr, vergalt er es mit reichlichen Püffen und Schlägen.
Auf dieser academischen Laufbahn wandelte der gute Hans fechtend über
Culmbach und Hof nach Böhmen; dort fanden sie in Kaaden endlich
eine Burse, wie. sie dem Beanus zusagte. Der Stand der Studien, war
so niedrig, daß er trotz seiner Unwissenheit als ein Gelehrter großthun konnte.
Sie theilten das Zimmer mit zwei alten Studenten, die auch ihre Schützen
bei sich hatten. Wegen der starken Kälte pflegten die Jungen auf einer Bank
über dem Ofen zu schlafen^ von der Hans eines Nachts herunterstürzte, und
weil er dabei nicht blos seinen Kopf, sondern auch den Ofen beschädigt hatte,
bekam er noch tüchtige Schläge in den Kauf. Da es hier, wo alles bettelte,
mit dem Betteln keinen rechten Fortgang hatte, verlangte der Beanus, Hans
solle durch Stehlen das Deficit ergänzen, aber dazu ließ er sich durch keine
Mißhandlungen bewegen. Mit dem Frühjahr zogen sie nach Commotau
von da nach einigen Monaten durch die Pest wieder vertrieben, nach Machtau.
wo sie nur einen fremden Schüler, einen Baiern mit seinem Schützen fanden.
Hier waren sie mitten unter hussitischen Ketzern, und der schlimmsten einer
war der Herr der nahegelegenen Burg, ein grausamer Wüthrich und in
Zauberkünsten geübt, von dem man schreckliche Geschichten erzählte. Einen
Kammerdiener, der es bei ihm nicht hatte aushalten können und entwichen
war, hatte er trotz eines großen Vorsprungs durch seine „Nigromantik" in
seine Gewalt gebracht und zum Tode verurtheilt. Allgemein verwandte man
sich für den Unglücklichen, der brav und beliebt war, die Geliebte des „Ty¬
rannen" bat ihn fußfällig um Gnade, seine eigene Mutter eilte herbei und
beschwor ihn, sich nicht mit einem solchen Verbrechen zu belasten: vergebens,
der Flüchtling wurde vor einer großen wehklagenden Menschenmenge aus¬
gepeitscht und aufgehängt. Daran knüpft sich die Bemerkung, es gebe leider
noch gar manche Edelleute, die, jemehr man sie bitte, nur um so härter und
grausamer würden. Derselbe „Tyrann" hatte seinen Koch auf einem Dieb¬
stahl ertappt; auch dieser wurde in den Thurm geworfen und sollte gehängt
werden. Nun hatte der Koch einen Bären von Jugend auf gezähmt und
ganz an sich gewöhnt; der Tyrann, von allen Seiten um Freilassung des
Kochs bestürmt, erklärte zum Hohn, wenn der Bär ihn aus dem Thurm
holte, wolle er ihm das Leben schenken. Und siehe da, der Bär zeigte mensch¬
liches Gefühl und menschlichen Verstand. Als zur gewohnten Zeit das
Futter ausblieb, eilte er an den Thurm und gab durch Kratzen und Brum¬
men seine Gegenwart zu erkennen. Dann packte er den Strick, an dem die
Gefangenen heraufgezogen wurden, mit den Tatzen, warf das andere Ende
mit dem daran befestigten Sitzbret in den Thurm hinunter dem Gefangenen
unter beständigem Brummen zu und zog diesen glücklich aus dem Verließ
wieder herauf. Zuerst hatte der Tyrann seinen Spaß an dem klugen Thier,
nachher aber ärgerte es ihn, daß er deshalb hatte nachgeben müssen; er ließ
den Bären in den Wald führen und mit Hunden Hetzen, und da diese dem
gewohnten Spielgenossen.kein Leid anthun wollten, zwang er die Jäger
durch heftige Drohungen, ihn zu erschießen. Es war überhaupt eine unheim¬
liche Gegend. Ein Vetter dieses Edelmanns hatte es durch unmenschliche
Grausamkeit dahin gebracht, daß böse Geister seine Burg bei Nachr von
Grund aus zerstörten; eine merkwürdige Begebenheit, die Butzbach in einem
anderen Buch ausführlich erzählt hat. In der Nähe war noch ein Berg,
in welchem Schätze verborgen waren, die nur ein unschuldiger Knabe sehen
und heben konnte, jeden anderen erwürgten die schatzhütenden Geister. Dem
Beanus gefiel diese Gelegenheit, ohne eigene Gefahr ein reicher Mann zu
werden, er muthete daher Hans zu, den Schatzgräber zu machen. Die Geister
brauchte der zwar nicht zu fürchten, aber das ganze Unternehmen erschien
ihm so bedenklich, daß er sich weder durch Vorstellungen noch Schläge dazu
bringen ließ. Der Beanus mußte sich es also an dem genügen lassen, was
sein Schütz ihm erbettelte und — was hier nun nicht mehr zu vermeiden
war — an Hühnern und Enten zusammenstahl. Dazu wußte er ihm als
alter Praktikus sinnreiche Anweisung zu geben, während es übrigens mit
dem Lernen schlecht bestellt blieb. Auch that es ihm zunächst mehr noth,
böhmisch als lateinisch zu lernen, weil er sich auf seinen Bettelexpeditionen
kaum zu helfen wußte. Da er es dabei meistens mit den Frauen zu thun
hatte, bat er einen- Mitschüler, ihn ein recht feines Compliment zu lehren,
womit er auf hübsche Mädchen Eindruck machen könne. Dazu war der gern
bereit; allein als Hans nach einigen Tagen Mit der eingelernten Anrede bei
der jungen Schwester eben dieses Mitschülers die Probe machte, sprang die
entrüstet vom Stuhl auf, ergriff den Rocken und ging damit dem Compli-
mentenmacher so ernstlich zu Leibe, daß dieser voll Schrecken rückwärts zur
Thür hinausstolperte, einige junge Gänse zertrat und unter lauten Schmähun¬
gen des Mädchens über die Straße floh. Als er dem Mitschüler ganz be¬
stürzt erzählte, was ihm für ein Empfang geworden sei, gestand ihm dieser
lachend, daß er ihm die beleidigendsten Unflätereien beigebracht habe. Das
ließ sich denn Hans zur Warnung dienen, auf diesem Wege keine fremde
Sprache zu lernen.
Auch von da vertrieb sie eine Seuche, und nachdem sie einige Wochen
in Carlsbad die Bäder gebraucht hatten, wandten sie sich nach Eger, wo
sie nicht allein als Scholares zugelassen, sondern bei reichen Leuten als Pä¬
dagogen für die Kinder, welche die Schule besuchten, angenommen wurden.
Hier ging es Hans gut und er hätte etwas lernen können, aber sein Beanus,
der jetzt ohne ihn bestehen konnte, gönnte ihm nicht, daß es ihm ebensogut
und vielleicht besser ging, als ihm selbst und war ebensowenig gemeint, sein
Recht, Vortheil von ihm zu ziehen, aufzugeben. Er vermuthete ihn daher
an zwei ältere rohe Studenten, denen er den Winter über alle Dienste leisten
und für die er betteln mußte. Als er auf Zureden der Eltern seines Zög¬
lings sich dieser Knechtschaft zu entziehen suchte, lauerte ihm sein Beanus
auf der Straße auf und schleppte ihn in die Wohnung seiner Gesellen. Dort
Zerschlugen ihn alle drei aufs entsetzlichste und sperrten ihn die Nacht in einer
kalten Kammer ein; morgens wurde er, nachdem er für die Folge Gehorsam
gelobt hatte, unter harten Bedrohungen entlassen. Als die Eltern'seines
Zöglings dies erfuhren, beredeten sie ihn, in ihrem Hause zu bleiben und
das weitere abzuwarten. Am folgenden Morgen drang der Beanus mit
seinen Gesellen und einer Schaar von Schützen ins Haus, um den Flücht¬
ling herauszuholen; bewaffnet kam ihnen der Hausherr entgegen, schlug wie
rasend blindlings auf sie ein und jagte den Haufen in die Flucht. Aber was
half Hans dieser Sieg? Sein Beanus ließ ihm sagen, wenn er sich auf der
Straße sehen ließe, würden sie ihn zerreißen; er wagte daher weder in
die Schule zu gehen noch 'irgend ein Gewerbe zu bestellen. Endlich kam er
zu dem Entschluß, die Schule aufzugeben, machte sich heimlich davon und
kam glücklich wieder nach Carlsbad. Was aus seinem Beanus geworden
sei, hat er nicht erfahren; nach Miltenberg hat er sich nicht wieder gewagt;
seine beiden Gesellen wurden später wegen Diebstahls aufgehängt.
In Carlsbad ging der nunmehr zwölfjährige Hans, der auf eine Fort¬
setzung seiner Studien gänzlich verzichtete, in den Dienst einer vornehmen
böhmischen Familie, die ihn mit sich auf ihre Güter nahm. Wie ein Höriger
wurde er von einem Herrn an den andern verkauft, vertauscht, verliehen
und bediente bald im Stall oder auf der Weide das Vieh, bald als Kämmer¬
ling oder Reitknecht in der Burg oder am Hoflager die Herrschaft. Fünf
Jahre verlebte er unter mancherlei Abenteuern in einem Lande, dessen Sprache
ihm, wiewohl er sie sich jetzt bald aneignete, so barbarisch erschien, daß er,
wenn die Burschen den Mädchen Ständchen brachten, immer glaubte, es
werde Mord und Feuer geschrieen, weil alle sich bei den Köpfen haben.
Fühlte er sich auch zu Zeiten geschmeichelt, wenn die Bauern, die jeden
Fremden für einen Vornehmen hielten, ihn als Pan (Herr) Hansle an¬
redeten, so stießen ihn doch Land und Leute ab, er konnte sich dort nicht
heimisch fühlen. Von den'Räuberbanden in den böhmischen Wäldern, von
ungeschlachten Sitten, von Ketzerei und Aberglauben weiß er zu berichten.
Doch ließ er sich sympathetische Euren wenig einladender Natur gefallen,
deren Sündlichkeit ihm freilich später in der Beichte klar gemacht wurde; aber
wahr muß wahr bleiben: geholfen hatten sie ihm. Doch als eine alte
Hexe, deren es damals in Böhmen viele gab — diese war freilich aus Deutsch¬
land dahin gekommen —, sich erbot, in eine schwarze Kuh verwandelt ihn
in einem Tag und einer Nacht über Berg und Thal, durch Wälder und
Flüsse nach Deutschland zu tragen, verwünschte er sie, wo sie hin gehörte,
ins höllische Feuer, so groß sein Verlangen nach der Heimath auch war.
Aber ohne übernatürliche Künste fortzukommen war nicht leicht, überall paßte
man ihm scharf auf und hielt seine guten Kleider und Sachen unter Ver¬
schluß. Die mußte er auch im Stich lassen, als es ihm endlich durch einen
glücklichen Zufall gelang, seiner Herrschaft zu entwischen und dann über die
Grenze zu kommen. Und als er erst in Deutschland war, da ließ es ihm
keine Ruhe, bis er mit Hilfe wohlthätiger Menschen auch seine Vaterstadt
erreichte.
Als Doctor kam er freilich nicht wieder nach Miltenberg und statt latei¬
nisch brachte er nur böhmisch mit, die Freude über seine Wiederkehr bei Ver¬
wandten und Bekannten war darum nicht minder groß. Seine Mutter, die
ihn schon verloren gegeben hatte, war überglücklich, aber mit einer Trauer¬
kunde empfing sie ihn, die ihn bittere Thränen kostete: sein Vater war wäh¬
rend seiner Abwesenheit gestorben. Seine Mutter hatte sich wieder verhei-
rathet und in seinem Stiefvater fand er einen braven Mann, der ihn mit
herzlicher Liebe aufnahm und für ihn Sorge trug, wie für sein eigenes Kind.
Der Gedanke an gelehrte Studien wurde jetzt ganz aufgegeben; Hans ent¬
schloß sich, Schneider zu werden und wurde zu einem tüchtigen Meister in
einem benachbarten Ort in die Lehre gegeben und die Lehrzeit auf zwei Jahre
bedungen. Sie wurden ihm herzlich sauer, er wurde schlecht und hart gehalten,
mußte viele leidige Knechtsdienste thun, es war ihm auch gar nicht recht, so
der Eitelkeit der Welt zu dienen — ein langes Register von Mustern und
Stoffen zeigt seine gründliche Schneiderbildung — und besonders beschwerte
es sein Gewissen, daß er so manches gute Stück Tuch in den Kasten fallen
lassen mußte, der unter dem Arbeitstisch stand und das Auge hieß, damit
man den Kunden mit gutem Gewissen betheuern konnte, es sei auch nicht
soviel zurückbehalten, als man im Auge leiden könne. Für alles entschädigte
ihn der Gedanke: du bist in Deutschland! und endlich ging auch diese Prü-
fungszeit vorüber, als freigesprochener Gesell besah sich Hans erst die frank¬
furter Messe und nahm dann Arbeit in Mainz, Hier suchte und fand er
Gelegenheit, mit Geistlichen zu verkehren, und besuchte fleißig die Klöster, zu
dene.: er sich innerlich hingezogen fühlte. In diesem Umgang steigerte sich
der Wunsch, selbst einem Kloster anzugehören, und er war glücklich, als
er es dahin brachte, als Laienbruder im Kloster Se. Johannisberg
im herrlichen gesegneten Rheingau ausgenommen zu werden. Den Schnitt
der Klostertracht hatte er in einem benachbarten Kloster in wenig Wochen
gelernt, und nun saß er da in einer schönen über dem Krankensaal gelegenen
Werkstatt mit köstlicher Aussicht und schneiderte sür die Geistlichen, Laienbrüder
und Dienstleute des Klosters. Auch sonst gab es in dem Kloster, wo es
überhaupt rührig und fleißig herging, genug für ihn zu thun; außer manchem
Kirchendienst mußte er im Hospital zur Hand sein, den Küchenmeister bei -
seinen Markteinkäufen, die Arbeiter im Weinberg und auf den Wiesen unter¬
stützen, den Prälaten und die Conventualen auf Reisen zu Pferde begleiten.
Er wäre hier ganz zufrieden gewesen, wenn nicht der Trieb zu studiren un-
bezwinglich sich wieder in ihm geregt und der Wunsch seines Vaters, daß er
ein Geistlicher werden sollte, ihn wie zu einer Gewissenspflicht gemahnt hätte.
Als es beschlossen worden war, ihn zum Schneider in die Lehre zu geben,
da war ihm und seinem jüngeren Bruder die Gestalt des Vaters erschienen
und hatte ihn wehmüthig flehend angeblickt. Und im Kloster kam eine
neue Vorbedeutung. Als er dort mit einem armen Kranken von seiner
Sehnsucht nach dem geistlichen Stande sprach, löste sich eine Thür von der
Wand und fiel vor ihm nieder, was ihm der Greis wie in prophetischer
Verzückung als ein glückverkündendes Zeichen deutete. Auch jüngere Geist¬
liche redeten ihm zu und riethen ihm, in die Schule zu gehen, von der sie
kamen, die als die Schule aller Schulen galt, nach Deventer zu Hegius,
an den sie ihm Empfehlungsbriefe mitzugeben versprachen.
Alexander Hegius, geb. um 1420 in Westphalen, eröffnete, Nachdem
er in Wesel und Emmerich Rector gewesen war, um 1465 in dem durch
eine Seuche hart mitgenommenen Deventer die Schule, aus welcher, unter
ihm und durch ihn gebildet, eine lange Reihe ausgezeichneter und tüchtiger
Männer hervorging, die durch Schriften und Lehre an Schulen und Univer¬
sitäten classische Studien als das Fundament geistiger Freiheit und Bildung
begründeten. Namen wie Desiderius Erasmus, Herrmann von dem
Busche, Johann Murmel. Johann Cäsarius, Conrad Goclenius
genügen, um zu zeigen, welche Schüler er bildete. Klaren und kräftigen
Geistes vermochte er, ein Schüler von Thomas a Kempis, die Fesseln
der scholastischen Disciplin abzustreifen und verschmähete nicht, von jüngeren
Mitschülern und Freunden, denen es gelungen war, in Italien an der Quelle
des Humanismus zu schöpfen, wie Rudolf Agricola und Rudolf von
Lange, zu lernen, um sich der griechischen und lateinischen Sprache völlig
zu bemeistern. Unbestritten ist sein Verdienst, die Methode des Unterrichts
gereinigt und vereinfacht, die alten Lehrbücher verbannt oder verbessert, die
Lecture der Alten in ihr Recht eingesetzt, der Schulbildung die Richtung
gegeben zu haben, welche sie zur Trägerin eines neuen geistigen Lebens
machte. Er war einer von jenen geborenen Lehrernaturen, welche unwill¬
kürlich durch ihr Wesen, durch Erscheinung, BeHaben und Leben belehren,
bilden und erziehen, die in den verschiedensten Schülern die geistige und sitt¬
liche Kraft wecken und stärken, auf jeden seiner Art gemäß einwirken, und
in dieser Thätigkeit volle Befriedigung finden. Wie Erasmus nichts an
ihm auszusetzen weiß, als daß er für seinen Ruhm als Schriftsteller nicht be¬
sorgt genug gewesen sei, so verstand er auch nicht, Geld und Gut zu sam¬
meln. Bei dem außerordentlichen Zudrang zu seiner Schule erwarb er nicht
wenig, lebte einfach und hinterließ doch bei seinem Tode kein Vermögen;
er war ein Vater seiner dürftigen Schüler gewesen, und hatte mit ihnen ge¬
theilt, was ihm die bemittelten zahlten. Ein Blick auf den sittlichen Ernst
und die edle Bescheidenheit einer so großartigen, tiefgreifenden Wirksamkeit
vermag uns zu entschädigen,-wenn auf die Anfänge der Humanitätsstudien
in Deutschland kaum ein Streiflicht von dem hellen Glänze fällt, in welchem
sie in Italien strahlen und nur "zu oft auch prunken.
Nicht ohne Mühe erlangte Johannes von dem Abt — zugleich mit
seinem Eintritt war Johann von Segen zum Abt erwählt worden
die Erlaubniß, in Deventer wieder die Studien zu beginnen, und stellte sich
mit Empfehlungen wohl versehen dem verehrten Rector vor. Hegius prüfte
ihn und schüttelte den Kopf, denn der neue Schüler wußte auf gar keine
Frage Bescheid zu geben, nur weil die Briefe gar so dringlich lauteten, setzte
er ihn zur Probe in die siebente Classe, um mit den kleinen Kindern die An¬
fangsgründe der Grammatik zu lernen. Er bestand die Probe nicht, Hunger
und Kälte, Scham' und Verlegenheit trieben ihn bald, die Schüler im Stich
zu lassen, er war froh, daß man ihn in seinem Kloster wieder als Laien¬
bruder aufnahm. Und doch ließ es ihm nun hier keine Ruhe, daß er nicht
Geistlicher werden sollte. Als er einstmal den Abt nach Frankfurt begleitete,
traf er dort seine Mutter. Diese, welche den sehnlicher Wunsch ihres ver»
storbenen Mannes nicht aus dem Sinne brachte und von einem Priester in
Aschaffenburg die prophetische Verheißung erhalten hatte, er werde in Erfüllung
gehen, flehte den Abt fußfällig an, er möge ihren Sohn zum Geistlichen sich
bilden lassen. Erwies die Frau hart und streng zurück, aber heimgekehrt in sein
Kloster, fühlte er sich doch beunruhigt, ließ den Laienbruder kommen und forderte
ihn freundlich auf, sich gegen ihn auszusprechen. So ermuthigt, legt ihm
Johannes seine Noth, seine Wünsche und seine Zweifel so aufrichtig dar, daß
der Prälat nun ihm selbst zuredete, wieder auf die Schule zu gehen und
standhaft sein Vorhaben zu Ende zu führen.
Zunächst ging er nach Miltenberg, um mit den Seinigen für den
längeren Aufenthalt in Deventer das Nöthige zu berathen und zu rüsten.
Er fand den biedern Stiefvater bereit, alles für ihn zu thun, was in seinen
Kräften stand, ja sein Eifer, ihm zu helfen, führte noch eine heftige Familien¬
scene herbei. Er hatte fünf Gulden für ihn zusammengebracht und verlangte
nun von der Frau, daß sie einen Gulden, den sie von ihrem seligen Manne
als Morgengabe erhalten hatte, ihm auch noch geben sollte. Als sie sich
dessen beharrlich weigerte, weil sie dem Johann bereits einen heimlich erspar¬
ten Gulden zugesteckt hatte, gerieth er in einen solchen Zorn, daß er sich
thätlich an der Frau vergriff. Johannes, der vergeblich die» Eltern ausein¬
ander zu bringen versuchte, stürzte auf die Straße hinaus und betheuerte
weinend, um solchen Preis wolle er nicht auf die Schule ziehen, nicht Geist¬
licher werden. Der Vater, rasch zur Besinnung gebracht, eilte ihm nach und
holte ihn wieder herein; der Friede wurde hergestellt und die Mutter rückte
mit dem Gulden heraus, den der Sohn ihr beim Abschied schweigend in die
Hand drückte.
Den Main und Rhein herab fuhr Johannes zu Schiff bei günstigem
Wetter in neun Tagen nach Deventer. Hegius nahm den wiederkehren¬
den als letzten Schüler in seine Schule ause denn fünf Monate daraus starb
(1498) der allverehrte Mann, dessen letztes Dictamen ein Lobgedicht auf sein
geliebtes Deventer war, aufrichtig und tief betrauert, auch von unserm Jo¬
hannes, der von ihm in einer andern Schrift eine Charakteristik entwirft,
während er sich bier begnügt, ehrende Zeugnisse in Versen und Prosa von
Männern, die besser wären als er, zusammenzustellen, von Erasmus, Agri-
^via, Mus. Hobing und Hermann von dem Busche. Gern erführe
Man nun genaueres über die Einrichtung der Schule, über Lehrmethode und
Disciplin, über das Leben der Lehrer und Schüler, allein leider hat Johan¬
nes seine Studien in Deventer nicht so eingehend geschildert, als die Irr¬
fahrten seiner Jugend; der regelmäßige, stufenweise fortschreitende Gang
des Unterrichts bot der Erinnerung und der Erzählung ungleich weniger
Neiz dar. Leicht wurde es ihm dort nicht. Die Prüfung beim Rector führte
ihn diesmal in die achte Classe, wo er bejahrte Mitschüler fand, die zum
Theil die Furcht vor den Soldaten in die Schule getrieben hatte; einer
mühte sich dort schon vier Jahr lang vergeblich ab, das Lesen zu lernen.
Rasch überwand er diese und die folgenden Classen, und als er die fünfte
erreicht hatte, war ihm eine große Hilfe bereit durch die Aufnahme ins
Haus der Brüder des guten Willens. Zwar hatte es ihm an Unterstützung
in der wohlhabenden und wohlthätigen Stadt nicht gefehlt, namentlich hatten
sich ein Canonicus von Zütphen und eine mildthätige reiche Frau seiner
angenommen. Es that auch noth, denn fast unausgesetzt ward er von schwe¬
ren Krankheiten mancherlei Art heimgesucht, die ihn am Arbeiten hinderten
und seinen Muth auf harte Proben stellten. Doch auch in der Krankheit
sollte er Gottes Finger erkennen. Schon war er, wie viele, so verzagt ge¬
worden, daß er fortzugehen beschlossen und den Tag der Abreise festgesetzt
hatte, als er am Abend vorher von einem Fußübel befallen wurde, das ihn
zurückhielt. Und wie er fo dalag, erhielt er die Nachricht von seiner heiß
ersehnten Versetzung in die vierte Classe, die seine Zuversicht belebte und ihm
neue Kraft gab. daß fortan kein Zweifel an der Fortsetzung seiner Studien
in ihm mehr aufkam. Den kräftigsten Rückhalt gewährte ihm dabei das
Fraterhaus dewvon Gerhard Graefe am Ende des vierzehnten Jahrhun-
derts gestifteten Brüderschaft des gemeinsamen Lebens. Diese Genossenschaft,
welche, ohne durch eigentliches geistliches Gelübde sich zu binden, zu dem
Zweck zusammentrat, durch Predigt und Unterricht das geistige und sittliche
Leben des Volks zu heben und zu fördern, und jede darauf gerichtete Thätig¬
keit, wie Abschreiben und Buchbinder, durch innern wie äußern Beistand zu
unterstützen, beweist in ihrer Ausbreitung und Verzweigung über ganz Nord¬
deutschland, wo sie mit außerordentlichen Mitteln ausgerüstet eine große und
bedeutende Wirksamkeit ausübte, wie tief das Bedürfniß geistiger Bildung
im Volk empfunden und gefaßt wurde, und wie man von vornherein bestrebt
war, in unscheinbarer Thätigkeit in der Schule für die Volkserziehung eine
feste Grundlage zu gewinnen. Sie allein hat es möglich gemacht, daß die huma¬
nistischen Studien, nachdem sie in Italien und Frankreich nach einer glänzenden
Blüthezeit rasch abgewelkt waren, in Deutschland nicht blos eine Nachblüthe
hervorrufen, sondern Früchte zeitigen konnten, die hoffentlich ein unveräußer¬
liches Erbe unserer Kunst, Literatur und Bildung bleiben werden. — Die
reichen Stiftungen der Brüderschaft in Deventer gaben in mehreren wohl
eingerichteten Häusern zahlreichen Schülern Wohnung, Nahrung und Pflege
und sonst jegliche Förderung bei ihren Studien. Sie nahmen sie aber erst
auf, wenn sie bis zur fünften Classe vorgerückt waren, um eine Bürgschaft
zu haben, daß sie wirklich bei den Studien aushalten würden. Hier fand
nun auch Johannes Aufnahme, der, nachdem er ein Jahr unter Magister
Godfried in der fünften und ebenfalls ein Jahr unter dem Baccalaureus
juris Johann von Venzey in der vierten Classe studirt hatte, dann in
der dritten an Bartholmäus von Köln einen vorzüglichen Lehrer fand,
der mit gleichem Eifer für sich seine Studien forttrieb, als sei er noch ein
Schüler, und wißbegierige Schüler in alle Wege thätig zu fördern bestrebt
war. Aber jetzt traten Verhältnisse ein, welche Johannes bestimmten, nach
einem Aufenthalt von vier Jahren gegen seine Wünsche die Schule in De-
venter zu verlassen und in den Orden als Geistlicher einzutreten. So hoch
stand das Ansehen der Schule, daß einer, der auch nur die fünfte Classe er¬
reicht hatte, für besser vorbereitet zu dem geistlichen Stand galt, als wer
sonst irgendwo die höheren Classen absolvirt hatte.
Wir verfolgen die geistliche und literarische Laufbahn des Johannes
nicht weiter; auch sein Reisebuch legt Zeugniß ab von der fleißigen Lecture,
der stilistischen Gewandtheit, der tüchtigen Bildung, welche ihn als einen
ehrenwerthen Schüler der Schule von Deventer charakterisirt.
Wenn man von dem norddeutschen Reichstag, als er vor Jahresfrist
zum erstenmal zusammentrat, sagen konnte, er nehme das Werk wieder auf,
das im Erfurter Parlament 18S0 zu Boden fiel, fo knüpft das Parlament,
dessen Zusammentreten nun bevorsteht, den schon im Frühjahr 1849 abge¬
rissenen Faden gesammtdeutscher Gesetzgebung von neuem an, und gibt der
Nation für die Dauer zurück, was sie einmal vorübergehend wie im Traum
besessen. Daß es dem Namen und der nächsten vertragsmäßigen Rechts¬
umgrenzung gemäß nur ein Zollparlament sein soll, das die Erbschaft
jenes ersten nationalen Parlaments übernimmt, entspricht dem Gesetz, welches
unsere politische Entwickelung beherrscht. Im Zollverein hat die- preußische
Staatskraft zu Zeiten, in denen sie sich der Vernunft ihres Thuns kaum
selber noch bewußt war. den Gegenbund geschaffen, der den alten deutschen
Bund langsam, unmerklich aus den Angeln heben sollte, und der sich schon
vor der letzten gewaltigen Ermannung Preußens, während des Streits über
den deutsch-französischen Handelsvertrag, fester gefugt erwies als das Werk
des wiener Congresses von 1815. Das Fraternisiren der Deutschen auf
großen Volksfesten erwies sich im Augenblick der Probe nicht als. von beson-
ders tiefgehendem und nachhaltigem Werthe für das Zusammenwachsen der
lose verbundenen Glieder der Nation. Die nationale Parteibildung stieß
ebenfalls auf unüberschreitbare Grenzen. wo das specifisch politische Interesse
und Pathos in dem Menschen aufhörte. Die Eisenbahnen aber, welche all¬
gemein deutsche Congresse und Nationalfeste, welche die Entstehung wirklich
nationaler Parteien überall erst möglich machten, hatten auch zu der großen
negativen That des Zollvereins, der Entfernung der innern Verkehrs¬
schranken, die positive Ergänzung eines' regen, dichten, massenhaften, Be¬
hagen und Wohlstand ausströmenden Waarenaustausches gefügt. So unent¬
behrlich auch der durch sie vermittelte Personenverkehr für die Gestaltung
und den Sieg der nationalen Ideen gewesen war, noch wichtiger war doch
ihr Güterverkehr, weil er der Einheitsforderung die beste Stütze erworbener
Rechte, ausgebildete Interessen unterschob. Der Locomotive auf der eisernen
Schiene verdanken es die Zeitgenossen, daß sie den Tag der Erfüllung ihrer
patriotischen Wünsche und Hoffnungen noch selbst erlebt haben. Sie ver¬
setzte dieselben aus dem Reich der Freiheit und Wahl in das Reich der
Nothwendigkeit; sie vor allem bereitete den Sieg vor; sie führte auch das
preußische Heer in einer solchen Naschheit und Geschlossenheit auf die Wahl¬
statt der Entscheidung, daß seine technische und moralische Ueberlegenheit sich
binnen kürzester Frist entfalten konnte. Wie es natürlich ist, nehmen die
idealen Factoren auf der Bühne des öffentlichen Lebens den Vordergrund
ein; Ideen, Stimmungen, Leidenschaften scheinen dem oberflächlichen Beobach¬
ter alles zu sein. In der breiten Tiefe der Bühne aber wirken inzwischen
unausgesetzt die materiellen Interessen, deren Spiel wohl verdunkelt, vorüber¬
gehend zurückgedrängt, aber niemals dauernd unwirksam gemacht werden
konnte durch den Aufschwung edler und unedler Leidenschaften.
Wir haben deshalb nicht zu bedauern, daß die parlamentarische Wieder¬
vereinigung von ganz Deutschland sich zuerst auf diesem festesten aller Funda¬
mente erheben soll. Es ist schmal, aber es ist über allen Vergleich solide
und zuverlässig. Darum will auf ihm jeder, auch der feindlichste Bundes¬
genosse, seine Füße haben. Ueber Militärausgaben und andere verfassungs¬
mäßige Beschäftigungen des norddeutschen Reichstags möchten Süd- und
norddeutsche. Föderalisten und Unitarier leicht unheilvoll auseinanderfahren,
in den Zollfragen werden sie sich gewöhnen, miteinander auszukommen. Es
wohnt den letzteren eine heilsame Nüchternheit inne; ihre Wichtigkeit ist frei
von aller Beimengung politischen Parteiinteresses; sie verlangen endlich ernst¬
haftes Studium, und dieses ist der Erhaltung des Fanatismus niemals günstig
gewesen.
Das alles hat sich schon auf einer Art von Vorparlament ergeben, wel¬
ches ohne die Prätension, ein solches zu sein, gegen Ende Februar in Berlin
getagt hat. Der Ausschuß des deutschen Handelstags hat zwar zwischen sich
und den östreichischen Handelskammern das Tischtuch zerschnitten, weil er
mit Recht findet, daß praktisches Thun einstweilen jedenfalls nur getrennt
möglich ist; aber die süddeutschen Handelskammern gehören ihm nach wie
vor an, und keine hat die Schwärmerei sür unsere liebenswürdigen Landsleute
im Kaiserstaate soweit getrieben, daß sie mit ihnen ausgeschieden wäre, ja
daß sie über das halb freiwillige, halb dringend anempfohlene Ausscheiden
derselben auch nur ernstlich geschmollt hätte. Wenn trotzdem nur ein ein¬
ziges süddeutsches Ausschußmitglied in Berlin anwesend war, so wurde doch
ausdrücklich bezeugt, daß lediglich das Wahlinteresse die übrigen daheim
Halte, das Interesse desselben Parlaments also, für dessen Thätigkeit die
des Handelstags-Ausschusses eine sachverständige Vorarbeit sein sollte. Eine
Differenz zwischen Süd- und Norddeutschland hat sich weder in den münd¬
lichen Verhandlungen des Ausschusses, noch — was mehr sagen will — bei.
der Vergleichung der dem Ausschuß zugekommenen Antworten der einzelnen
Handelskammern auf früher gestellte Fragen, entwickelt. Eine süddeutsche
Handelskammer, die zu Bamberg, wollte — allein unter allen — von einer
Ausdehnung der Zollparlamentscompetenz auf sämmtliche im Artikel 4 der
norddeutschen Bundesverfassung aufgeführten wirtschaftlichen und rechtlichen
Gebiete vorläufig nichts wissen; allein einerseits steht sie damit selbst unter
ihren Schwestern südlich vom Main vereinzelt da, und andererseits hatte
eine norddeutsche, durchaus preußischgesinnte Handelskammer, die zu Bremen,
sich durch irgend einen nicht leicht zu qualificirenden politischen Kniff verleiten'
lassen, die Competenzerweiterungs-Frage des Ausschusses ebenfalls ziemlich
flau zu beantworten. Im übrigen beherrscht nicht der neue Gegensatz preußisch,
süddeutsch oder unitarisch-föderalistisch die Debatten, sondern der die geogra¬
phischen Grenzen mißachtende alte Gegensatz Freihandel — Schutzzoll. Aller¬
dings auch er in sehr milder Form. Die Hauptschlachten dieser Gegner
liegen eben schon hinter uns. Die am Zollschutz interessirte Industrie ist
theils hinlänglich erstarkt, um die Ausgleichung der Bedingungen auf dem
heimischen Markte nicht mehr sonderlich zu fürchten, theils hat sie die Hoff¬
nung aufgegeben, die Staatsmänner und die öffentliche Meinung ihren Ar¬
gumenten zugänglich zu machen, nachdem die Prophezeiungen der Freihandels¬
prediger sich in England so überraschend bewährt haben. Wenn auch einige
deutsche Stubengelehrte neuerdings in Carey's Theorien das List'sche Evan¬
gelium gern wideraufleben lassen möchten, so glauben an den Erfolg solcher
Schattenbeschwörungsversuche doch nicht einmal diejenigen, denen ihr Ge¬
lingen Vortheil bringen würde. Unsere Fabrikanten sind im Grunde nicht
mehr Schutzzöllner — das haben die Verhandlungen im Handelsausschuß
deutlich herausgestellt. Sie lassen sich immer lieber auf den Weg verweisen,
der ihnen von Faucher schon auf dem volkswirtschaftlichen Congreß zu Köln
im Jahre 1860 gezeigt worden war: statt eine Besteuerung des consumiren-
den Publikums zu ihren Gunsten zu verlangen, vielmehr auf Vermehrung,
Verbesserung und Verwohlseilung der Transportmittel zu dringen, sowie
darauf, daß die Staatsgewalt ihre Verwendung eintreten lasse zur Ermäßigung
oder Aufhebung der Schutzzölle anderer Länder. Von dieser Art gesunder
Compromisse sind auch im Handelstagsausschuß mehrere geschlossen worden;
zu einem eigentlichen Kampfe zwischen Freihändlern und Schutzzöllnern ist
es gar nicht gekommen, wiewohl auf der einen Seite Elberseld, Barmer
und Augsburg, auf der anderen die großen Nord- und Ostseeplätze vertreten
waren. Davon läßt sich im voraus auf die bevorstehenden Verhandlungen
im Parlament schließen.
Einer vom Congreß deutscher Volkswirthe ausgegebenen Losung folgend,
hat der Ausschuß des Handelstags sein Hauptaugenmerk auf Vereinfachung
des Tarifs gerichtet. Von den 43 Nummern des bestehenden Zolltarifs, die
aber tausende von einzelnen Artikeln umfassen, sind gegenwärtig 6 schon frei:
der Ausschuß schlägt vor, ihnen 9 andere hinzuzufügen, nämlich Blei und
Bleiwaaren, Zinn und Zinnwaaren, Zink und Zinkwaaren, Hopfen, Schie߬
pulver, Papier und Pappwaaren, Bürstenbinder- und Siebmacherwaaren,
Häute und Felle (von denen nur letztere, falls zu Pelzwerk dienend, noch be¬
steuert sind)', Thiere und thierische Producte (von denen ebenfalls nur auf einer
Anzahl der letzteren noch Zoll ruht, während „Vieh" übrigens eine besondere
und zwar Steuerpflichtige Nummer bildet). Außerdem sollen in andern
Tarifnummern wegfallen die Zölle auf Reis, Butter, allerhand Droguen
zum Färbe- oder Medicinalgebrauch, Palm- und Kokosnußöl, hölzerne Schiffe,
Kraftmehl. Nudeln, Sago, Puder, Stärke, Arrowroot, Cichorien, Honig,
Fleisch, Kastanien, Maronen, Johannisbrot, graue Packleinwand, Jungvieh,
Borsten, Korkplatten, -Sohlen und -Stöpsel, Holzmöbel, Holz in geschnittenen
Fourniren, grünes und halbweißes Hohlglas, ungefärbte Strohmatten, Jute¬
garn, Walzen zum Drucken und Appretiren, Edelsteine, Perlen, Corallen,
Segeltuch. Waschschwämme. Baumwollwatte, Schmierseife, Stuhlrohre und
ein paar andre noch weniger bedeutende Gegenstände. Eine nicht viel kleinere
Reihe von Artikeln empfiehlt der Ausschuß niedriger anzusetzen, auch hier die
Tendenz der Vereinfachung vorzugsweise verfolgend. Dies sind in der Reihen¬
folge ihrer finanziellen Wichtigkeit folgende: Korinthen, Rosinen, Feigen und
Datteln, Roheisen, Häringe, rohes Leinengarn (von Ur. 30 abwärts, wofern
das Schock mehr als 75 Pfund wiegt), Locomotioen und Dampfkessel, feine
Holz- und Korbflechterwaaren sammt Bleistiften, undichte Baumwollgewebe,
Soda. Maschinen aus unedlem Metall, Baumöl in Fässern, feineres Wachs¬
tuch, gebleichtes und gefärbtes Baumwollengarn, einige Droguen, lackirte
Kautschukwaaren, Strohhüte mit Garnitur, gepolsterte und überzogene Mö¬
bel, feineres Pelzwerk, gemeine feste Seife, gefärbte Strohmatten und ein
paar andere Gegenstände ohne Belang. Nach einer Berechnung des bremer
Handelsblattes, die sich auf die Zollvereinseinfuhr von 1866 gründet, win¬
den die Befreiungen etwa 1,123,000, die Ermäßigungen 1,188,000 Thaler
Ausfall herbeiführen. Es wären also 2'/s Millionen anderweitig zu decken,
vorausgesetzt, daß der norddeutsche Bund und die süddeutschen Regierungen
nicht im Interesse des consumirenden Publikums und in der Hoffnung aus
die natürlichen Wirkungen gesteigerten Verkehrs, welche sich früher oder später
in erhöhten Einkünften aus den übriggebliebenen Zöllen geltendmachen wer¬
den, ganz auf den entsprechenden Theil ihrer Einnahmen verzichten wollen.
In dem Reformplan des Handelstagsausschusses ist übrigens ein nicht
unerheblicher Zoll, der auf Wein, unberücksichtigt geblieben, weil dessen künf¬
tiges Geschick durch die Verhandlungen mit Oestreich und Frankreich bereits
so gut wie entschieden war. Eine selbständige, abgesonderte Behandlung haben
die ebenso schwierigen als wichtigen Fragen der Zuckerbesteuerung erfahren.
Die Herabsetzung des Weinzolls auf zwei Drittel wird vorübergehend ohne
Zweifel einen Ausfall nach sich ziehen, wogegen bei der Reform des Zucker¬
zolls und der Rübensteuer mit Sicherheit auf einen bedeutenden Mehrertrag
zu rechnen ist, falls sie in einem halbwegs vernünftigen und praktischen Sinne
geschieht. Gegenwärtig verkürzt der Zollverein seiner Casse die Einnahme,
welche sie vom Zucker haben könnte und hängt den untern Volksclassen die
Zuckerdose zu hoch, indem er einestheils die Rübenzuckerindustrie gegen den
Colonialzucker, anderntheils die Raffinade gegen den Rohzucker im Zolle
begünstigt. Vermöge dieser selbstmörderischen Praxis hält sich unser Zucker¬
verbrauch auf 10 Pfund im Jahr durchschnittlich auf den Kopf der Bevöl¬
kerung, während Frankreich 13—14 und England gar 40 Pfund verbraucht;
und ganz entsprechend nimmt bei uns der Staat nur 10 Sgr. auf den Kopf
der Bevölkerung ein, in Frankreich aber 19 und in England 35 Sgr. Der
Spielraum für eine rationelle Reform ist also erfreulich groß. Ernste Hin¬
dernisse stehen derselben auch nicht im Wege, denn die Nübenzuckerindustrie>
die seit Jahren regelmäßig exportirt, schämt sich beinahe selbst schon, noch
nach Schutz zu rufen, und an den Zuckerrohrsiedereien ist eigentlich nichts
mehr zu ruiniren. das hat der Nübenzuckerschutz bereits mit bestem Erfolge
übernommen und durchgeführt. Sowohl die Motive als die zweckmäßige
Art der Reform finden sich mit musterhafter Gründlichkeit in einer Denk¬
schrift der Hamburger Handelskammer, von Dr. Soetbeers Hand erörtert, die
auch so unparteilich zu Werke geht, daß nicht allein anderweite Schutzzöllner,
sondern selbst Rübenzuckerindustrielle sich mit ihren Schlüssen einverstanden
erklärt haben. Für die Umwandlung der Rübensteuer in eine Zuckersteuer,
die zu den integrirenden Bestandtheilen der Maßregel gehört, hat sich seitdem
sogar auf dem Congreß norddeutscher Landwirthe, also einer reinen Jnter-
essentenversammlung, eine ansehnliche Minderheit gefunden.
In einer ganz ähnlichen Lage wie zu dem Zucker, sieht sich der Zoll¬
verein, nachdem er handlungs- und bewegungsfähig geworden, einem andern
großen Genußmittel gegenüber, dem Tabak. Bei einem viel größeren durch¬
schnittlichen Verbrauch einer größeren Bevölkerung liefert er in Deutschland
der Staatscasse nur 3—4, in England über 70 Millionen Thaler im Jahre.
Aber auch Frankreich, Oestreich, Rußland, die Vereinigten Staaten wissen
ihm mehr Finanzertrag abzugewinnen, die einen durch ein Verkaufsmonopol
des Staats, die andern durch hohe Eingangszölle und Productions- oder
Consumtionssteuern. Werth besteuert zu werden ist er vermöge seiner Stel¬
lung in der Reihe der menschlichen Bedürfnisse jedenfalls noch viel mehr als
Zucker, der ein eigentliches Nahrungsmittel ist; mehr überhaupt als fast alle
Gegenstände allgemeineren Gebrauchs. Es erscheint daher durchaus nicht
wunderbar, daß der erste Gedanke unserer Finanzmänner, als die neue Ver¬
fassung des Zollvereins ins Leben getreten war, eine höhere Heranziehung
des Tabaks war. Da man aber seit Jahren an eine sehr niedrige, ja zum
Theil — in Betreff des in Süddeutschland selbst verbrauchten Theils der
süddeutschen Tabaksproduktion — an gar keine Besteuerung des Tabaks ge¬
wöhnt ist, rief die erste entfernte Ankündigung dieser Absicht gleich einen
wahren Sturm von Opposition hervor. Auf der einen Seite die Tabaks¬
pflanzer der Pfalz und anderer Landstriche, auf der andern die durch ganz
Deutschland zerstreuten zahlreichen Fabrikanten von Tabak und Cigarren
sammt ihrer Reserve, den Importeuren und „oberländischen Häusern" Bre¬
mens und Hamburgs, erhoben lautschallenden Protest, den die Masse der
Gewohnheitsraucher grollend und murrend verstärkte. Die Finanzverwaltung
schien vor dieser furchtbaren Phalanx umkehren zu wollen. Monate lang
war von einer höheren Tabaksbesteuerung keine Rede mehr. Noch als der
Ausschuß des Handelstags in Berlin versammelt und der Zollbundesrath
bereits einberufen war, galt jene Sorge für so vollständig abgethan, daß der
Ausschuß auf diese Frage gar nicht eingehen wollte. Die badische Regierung
hat bekannt, daß sogar sie völlig überrascht worden sei, als gleichwohl nach¬
her im Zvllbundesrath ein Erhöhungsantrag eingebracht wurde. Man hat
also schon nicht übel manövrirt, daß mindestens der Bundesrath seine Ent¬
scheidung fassen wird, ohne dem Drucke einer lebhaften actuellen Agitation
gegen jede Erhöhung zu unterliegen. Als günstiger Umstand kann es ferner
betrachtet werden, daß früher von einer bedeutend höheren Steigerung von
Zoll und Steuern die Rede war, als sie gegenwärtig beabsichtigt wird; der
Zoll auf rohe Blätter soll von 4 aus 6 Thaler, die Steuer von ca. 20 aus
60 Silbergroschen für den Centner erhöht werden. Damit ist der Antrag
freilich noch nicht durch das Zvllparlament durchgebracht. Bis dieses zusam¬
mentritt, kann die Agitation sich von neuem erheben, — wenn auch einer
ihrer lautesten Träger, Herr Adam Trabert in Kassel, durch Verantwortung
auf eine Hochverrathsanklage augenblicklich verhindert ist, den Stoff im Inter¬
esse der künftigen Föderativrepublik auszubeuten. Im Schoße des Parla¬
ments selbst werden die gefährdeten Productions-, Industrie- und Handels¬
interessen sich zu einem mächtigen Bunde die Hand reichen, verstärkt durch
alle die, welche stark mit den von Einschränkung und schlechterem Kraute
bedrohten Rauchern sympathisiren. Das gegenüberstehende finanzielle Motiv
wird daher imponirend auftreten müssen, wenn es den Sieg behalten will.
Eine bloße Erhöhung der Zollvereinseinkünfte auf gut Glück, ohne nach¬
gewiesene Nothwendigkeit gleichen Mehrbedarfs, mag man sie nun auf rund
zwei Millionen, auf mehr oder auf weniger anschlagen, wird — das läßt
sich ohne Wagniß weissagen — keine siegreiche Beredtsamkeit entwickeln kön¬
nen. Selbst mit dem Nachweis entsprechenden Mehrbedarfs wird man es
im Parlament außerordentlich genau nehmen, und wahrscheinlich lieber auf
die Matrieularumlagen ziehen, als sich ohne weiteres zu einer Erhöhung der
Tabaksauflagen verstehen, zumal schon die Ausdehnung der norddeutschen
Morgensteuer auf Süddeutschland, der sich kein Verständiger widersetzen wird,
'eine Mehrbelastung der süddeutschen Producenten und einzelner Classen der
süddeutschen Raucher involvirt. Kurz: die höhere Tabaksbesteuerung hat nur
dann Chancen der Annahme, wenn sie als ein Theil eines umfassenden und
in der Hauptsache erleichternden, nicht mehrbelastenden Rcformplanes auf¬
tritt. Wenn man eine durchgreifende Reduction des Tarifs auf eine spätere
Session vertagen zu müssen meint, so gebe man nur auch gleich die Hoffnung
auf höhere Heranziehung des Tabaksverbrauchs auf. Denn dann wird den
verletzten Interessenten gegenüber im Parlament keine überlegene mora¬
lische Macht ins Feld geführt, wie es der Fall sein könnte, wenn man
erklärte, eine erhöhte Tabaks- und eine berichtigte Zuckerbesteuerung seien
gewissermaßen der Preis, sür welchen die Staatsfinanzen es sich gefallen
lassen könnten, daß eine Menge zollpflichtiger Artikel ganz oder theilweise
vom Zoll befreit würden. An einer derartigen umfassenden Aufhebung und
Ermäßigung von Zöllen sind Handel, Industrie und Landwirthschaft, kurz
alle Factoren der nationalen Production (und ebenso die Consumenten) in
noch höherem Grade interessirt, als an dem Fortbestand der gegenwärtigen
Besteuerung von Tabak und Zucker. An sie knüpfen sich Hoffnungen eines
volkswirtschaftlichen Aufschwungs und eines finanziellen Mehrertrags, welche
eine beinahe unabsehbare Perspective immer zunehmender Erleichterung der
Staatslasten, verbunden mit gleichmäßig zunehmender Fähigkeit des Volkes,
*
die übriggebliebenen zu tragen, eröffnen. Dann würde muthmaßlich eine Mehr¬
heit der Neichsvertretung die an sich glimpflichen Zuschlage in den Kauf nehmen,
welche vorgeschlagen werden, um von zwei besonders besteuernswerthen Ver¬
brauchsgegenständen mehr als die bisherigen unerheblichen Summen für die
Staatscassen zu erzielen. Für die Mehrbelastung des Volkes allein wird sich
dagegen niemand erwärmen. Tabak und Zucker sind allerdings, wie die Staats
bedürfnisse einmal sind, in Deutschland theils zu niedrig, theils verkehrt und
uneinträglich besteuert; die Finanzverwaltung ist berechtigt zu wünschen, daß
man mehr aus ihnen herausschlage: allein das Parlament, als eine Versamm¬
lung constitutioneller Politiker, muß von diesem Interesse der Finanzverwaltung
insoweit Nutzen ziehen, daß es sie gegen den Schlendrian der Finanzverwaltu.ng
ins Feld stellt, und nicht anders aus die Wünsche dieser letztern eingeht, als
wenn eine den Staats- und den Volksfinanzen gleich heilsame radicale Tarif-
reduction gleichzeitig zu Stande kommt. Eine Volksvertretung muß ihr Ja,
als die Waare mit der sie handelt, stets so theuer wie möglich zu verkaufen
suchen — nicht auf Kosten gerechter fremder Ansprüche und Interessen, aber
auf Kosten der Trägheit und Selbstsucht der ihr gegenüberstehenden Ver¬
waltungsbehörden.
Neben der Reform des Zolltarifs wird es sich im Parlament auch um
Reform des Zollverfahrens handeln, eine nicht minder wichtige und noch
weniger aufschiebbare Maßregel. Die jetzige Zollgesetzgebung stammt in der
Hauptsache aus dem Ende der dreißiger Jahre. Das will sagen, sie wurde
geschaffen, als der deutsche Grenzverkehr noch nicht ein Drittel seines heutigen
Umfanges erreicht hatte, als Dampfschiffe an unsern Küsten noch Ausnahms-
erscheinungen bildeten und der Bau von Eisenbahnen in Deutschland eben
begonnen worden war. Kein Wunder, daß das vorgeschriebene Verfahren
der nothwendigen Geschwindigkeit des Dampfzeitalters nirgends entspricht.
Ministerialerlasse haben zwar vielfältig nachzuhelfen versucht; allein was der
eine Minister aus Rücksicht auf die Bedürfnisse des Verkehrs gewährt hat,
kann der andere in seiner pflichtschuldigen Sorge für die Staatseinkünfte
wieder entziehen zu müssen glauben, und dann ist der Spielraum natürlich
auch sehr eng begrenzt, innerhalb dessen sich auf diesem Wege ein Gesetz ver¬
bessern läßt, dessen ganzer Geist dem Wesen der Gegenwart zuwiderläuft.
Der Ausschuß des Handelstags dringt daher mit Recht auf eine ganz neue
Gesetzgebung. An Vorarbeiten zu derselben mangelt es nicht. Abgesehen
von den Schätzen, welche sich in den Acten und den Köpfen der Behörden
im Lauf von drei Jahrzehnten angehäuft haben müssen, haben namentlich
Königsberg, Leipzig und die Hansestädte eingehende Erörterungen geliefert,
welche dem Bundesrath und dem Parlament ihre Aufgabe wesentlich erleich¬
tern werden.
Beide große Reformen, die des Zolltarifs sowohl als die des Zollver¬
fahrens, haben ihre Bedeutung auch für die von manchem so lebhaft ersehnte
und unzweifelhaft erstrebenswerthe Verlegung der Zollgrenze auf allen Punk¬
ten ohne Ausnahme an die Reichsgrenze, d. h. praktisch gesprochen sür die
Hereinziehung Hamburgs und Bremens in die allgemeine deutsche Zolllinie.
Das jetzige Zollverfahren ist auf den Massenverkehr dieser beiden Welthan¬
delsplätze schlechthin unanwendbar. Der bestehende Tarif mit seinen zahl¬
reichen Positionen und hohen Sätzen würde einen so beträchtlichen Theil ihres
Platzverkehrs in die Zollniederlage verweisen, daß eine tiefgehende Verletzung
ihres Geschäftsumsatzes zu Gunsten concurrirender auswärtiger Häfen kaum
ausbleiben könnte. Wer daher thatsächlich etwas thun will zur Verwischung
dieser letzten und relativ berechtigten Anomalie, der wirke für einen auf
wenige einträgliche Zölle zurückgeführten Tarif und ein den Erfordernissen
modernen Verkehrs entsprechendes Verfahren; anders geartete Versuche, zum
Ziel zu kommen, werden nur fruchtlos die Leidenschaften erregen und wahr¬
haft praktischer Reformthätigkeit in den Weg treten.
Neben diesen eigentlichen, sozusagen technischen Aufgaben hat das Zoll-
Parlament unzweifelhaft auch noch eine hohe politische Mission, die in der
öffentlichen Discussion, bei den Wahlen in Süddeutschland u. s. w. sogar in
den Vordergrund getreten ist. Allein dieselbe hängt, was ihre speciellere
Praktische Behandlung betrifft, eben völlig von der politischen Lage* ab. Sie
läßt sich nicht wohl auf Wochen im voraus und gewiß nicht ohne Anschlag
und Ueberblick der gesammten deutsch-europäischen Situation mit Nutzen be¬
sprechen. Was feststeht, ist nur, daß schon eine wohlbemessene und nicht zu
zaghafte Reform der Zollvereinsgesetzgebung, den Tarif eingeschlossen, die
wünschenswerte Wirkung haben wird, der neuen deutschen, Gesammtverfassung
das öffentliche Vertrauen zu gewinnen; daß also auch dann, wenn Erweite¬
rungen dieser Verfassung schon während der bevorstehenden ersten Session
ihrer Repräsentativorgane möglich sein sollten, eine glückliche Lösung der
Zollgesetzgebungsfragen immer hohe Bedeutung behalten wird.
Was gibts denn hier so Hochgefährlichcs?
Ihr macht mir Meugier, näher hinzuschauen.
Nach der Heimkehr vom preußischen Landtage finde ich den Aufsatz glei¬
cher Ueberschrift in Heft 7 Ihrer Zeitschrift hier vor. Sie wollen einem
alten Leser der Grenzboten einige Bemerkungen dazu gestatten, wozu er
vielleicht vor andern Mitgliedern des Landtages sich aufgefordert sieht, einmal
weil er, wie dort beiläufig erwähnt wird, bei der Discussion sich lebhaft be¬
theiligte, und dann weil er theilweise der in Rede stehenden Provinz, ande¬
rerseits aber keiner der bestehenden Fractionen des Landtages angehört, also
ein mindestens durch vorgefaßte provinzielle oder Parteistandpunkte nicht be¬
fangenes Urtheil sich bewahrt zu haben glaubt. —
Ihr Korrespondent legt der vorliegenden Frage eine ganz außerordent¬
liche politische Tragweite bei. „Der Pr'ovinzialfonds ist (ihm) eine Frage,
welche wie keine andere ein Criterium für die Gesundheit der von den ver¬
schiedenen Parteien befolgten inneren Politik bot", „welche für die gesammte
Organisation der neuen Provinzen und des neuen Staates präjudicirlich ist";
„ohne ihre prinzipielle Entscheidung ist jeder Versuch zu einer heilsamen Re¬
organisation der Verwaltung in den neuen Provinzen vergeblich." —
Ja, noch mehr! — Es soll sich um die Frage handeln, „inwieweit
die Ordnungen des alten preußischen Staates für den neuen
deutschen Staat maßgebend sein" — „ob Deutschland in Preußen
aufgehen, oder Preußen mit Deutschland zu einem neuen Staatsorganismus
verbunden werden sollte." — ..Von ihrer glücklichen Lösung ist die Zukunft
der gesammten deutschen Frage wesentlich mitbedingt."
Ich habe mir erlaubt, diese Aussprüche, wie sie an verschiedenen Stellen
der Ausführung sich finden, zu einem Gesammtausspruche zusammenzuziehen;
aber vergebens habe ich dabei mich umgesehen nach einer näheren Darlegung
und Begründung einer so schwerwiegenden Charakteristik der vorliegenden
Frage. Worum handelte es sich denn in Wirklichkeit?
Die alten Provinzen des Staates besaßen zum Theil seit etwa 40 Jahren
mannigfache Anstalten sür provinzielle Zwecke: Landarmenhäuser, Corrections-
anstalten, Pflegeanstalten für verwahrloset? Kinder, Kranken-, Irren-, Taub¬
stummen-, Blindenanstalten; zum Theil auch provinzielle Fonds, daneben in
vielen Kreisen Kreisverpflichtungen und Gemeindeverpflichtungen für den
Wegebau. Die Mittel zur Errichtung und Unterhaltung dieser Einrichtungen
waren und werden noch heute zum weit überwiegenden Theile nur aus den
Mitteln der Provinzen und deren Unterabtheilungen bestritten; ihre Ver¬
waltung führt nicht der Staat, sondern die bezüglichen Vertretungen.
In der jetzigen Provinz Hannover verhielt es sich damit anders. Eine
Selbstverwaltung der bezeichneten Wohlthätigkeitsanstalten durch gewählte
Vertretungen bestand überhaupt nicht; dagegen wurden von den Ständen
die Mittel zu deren Unterhaltung durch den Staat im Staatshaushaltsetat
gewährt. Für den Wegebau bestand eine besondere Verwaltung und Be¬
steuerung durch die Amtswegeverbände unter Controle und wesentlicher Mit-
Wirkung der Staatsbehörden und Gewährung von Beihilfen aus der Staats-
casse. Nach den durch die Kriegsereignisse unterbrochenen Intentionen der
ehemaligen hannoverischen Negierung sollten die letzteren erhöhet, dagegen auch
die Leistungen der Wegeverbände entsprechend gesteigert, und von denselben
ein namhaster Theil des aus der Staatscasse Empfangenen später wieder
abgetragen werden.
Solange Hannover als besonderer Einzelstaat bestand, war das Geld¬
interesse der einzelnen Staatsgenossen nicht wesentlich dabei betheiligt, ob die
Gewährungen aus der Staatscasse als dieser oder — unter Wegfall des
entsprechenden Theiles der Staatssteuern — durch Provinzialsteuern auf¬
gebracht wurden. Sobald aber Hannover eine Provinz des preußischen
Staates wurde, erschien es als eine einfache Forderung der ausgleichenden
Gerechtigkeit, wie dieselbe in Art. 101 der preußischen Verfassung Anerken¬
nung gefunden hat, daß alle Staatslasten nach Verhältniß der Steuersähig-
keit von allen Staatsgenossen — in den neuen, wie in den alten Provinzen
gleichmäßig getragen, keiner Provinz eine bevorzugte Sonderstellung einge¬
räumt, mit andern Worten nicht in den alten Provinzen außer den Staats¬
steuern noch namhafte Provinzialsteuern für die bezeichneten öffentlichen
Zwecke erhoben, in Hannover die letzteren dagegen aus der gemeinsamen
Staatscasse bestritten würden. Eine Ausnahme mußte natürlich anerkannt
werden, insoweit etwa für einzelne Verwendungen ein rechtlicher Special-
tirel, eine besondere klagbare Verpflichtung bestand. Wo eine seitherige Aus¬
gabe dagegen nicht auf einer solchen, sondern lediglich auf einer widerruf¬
lichen Bewilligung der früheren Landesvertretung beruhete, war es die Auf¬
gabe der jetzigen Landesvertretung, auch in dieser Beziehung jede Bevor¬
zugung zu beseitigen, und die eine Provinz zu behandeln wie die andere.
Nun verlangte die Regierung, daß der Provinz Hannover ein Capital
'später eine immerwährende Rente von einer halben Million — aus Staats¬
mitteln überwiesen werden solle, um daraus die bezeichneten Zwecke entweder
im seitherigen Maße allein, oder in erhöhtem Betrage mit Ausschluß der von
der hannoverschen Regierung selbst verlangten Mehrleistung der Wegever¬
bände zu bestreiten.
Man sollte sagen: nach den einfachsten Grundsätzen der Gerechtigkeit
konnte die Behandlung der Frage hiernach nicht zweifelhaft sein. Um die
Provinzen in ihren Leistungen gleichzustellen, mußten die Verwendungen für
die benannten WohltlMgkeitsnnstalten vom Etat gestrichen, die Wegegesetz-
gebung angemessen modificirt, jedenfalls die mit diesen Grundsätzen unver¬
einbare Regierungsvorlage abgelehnt werden.
Ist es nun dem entgegen eine „gesunde innere Politik", an die Stelle
des gleichen Rechtes aller Theile des Staates, einer Provinz Sonder-
Vortheile zu gewähren, und damit dem Ganzen den Keim des Neides und
der Zwietracht einzuimpfen? Ist die Zurückweisung so gefährlicher Krank¬
heitsstoffe „präjudicirlich für die gesammte Organisation des neuen Staates?"
Hängt irgendwie damit eine „heilsame Reorganisation der Verwaltung in
den neuen Provinzen" zusammen, eine Reorganisation, welche zudem die
Vertreter von Hannover auf das entschiedenste ablehnen?
Und nun gar der neue deutsche Staat! Läßt sich derselbe anders grün¬
den, als auf die Grundsätze der Gerechtigkeit, und das sind eben „die Ord¬
nungen des alten preußischen Staats", welche neben aller Anerkennung be¬
rechtigter provinzieller Eigenthümlichkeiten doch niemals in einer begünstigten
Sonderstellung — einer soeietgZ Isouirur — eine berechtigte Eigenthüm¬
lichkeit zu erkennen vermag.
Geht damit etwa „Deutschland in Preußen auf", daß alle seine einzelnen
Theile nach dem alten preußischen Grundsatze „suum cuiczus" zu einem in
allen Theilen gleichberechtigten Ganzen sich vereinigen? oder soll Preußen,
um in Deutschland aufzugehen, damit beginnen, in der Provinz Hannover
aufzugehen? Ist überhaupt der Begriff „Deutschland" oder „deutscher Staat"
ein so eng begrenzter, daß von der glücklichen Lösung der Frage, ob einer
preußischen Provinz ein Fonds für ihre Provinzialzwecke gebühre, „die Zu¬
kunft der gesammten deutschen Frage wesentlich mitbedingt" ist?
Die Bejahung dieser Fragen scheint mindestens eine strengere Beweis¬
führung vorauszusetzen, als ihnen Ihr Correspondent hat angedeihen lassen.
Auch in der Debatte begegnete man einzelnen solchen Exvectorationen; aber
es blieb auch da bei unbewiesenen Behauptungen. Die Regierung — an
der Spitze der Herr Ministerpräsident, um mit dem Correspondenten zu reden,
der „ausschließliche Träger der nationalen Idee", der Repräsentant des
„idealen Preußens" hat mit der kühlen, besonnenen Haltung, welche ihn seine
großen Erfolge hat erringen lassen, von derartigen Speculationen sich frei
gehalten. Er begründet seine Vorlage einmal auf Rücksichten der Billigkeit,
„dem Lande Hannover den Uebergang aus alten gewohnten Zuständen zu
erleichtern" — Rücksichten, welche doch eben nur vorübergehender Natur sind,
und denen in diesem Sinne eben durch den Diestschen Antrag Rechnung ge<
tragen werden sollte — und auf die Absicht, damit „zuerst eine Bresche in
das System der Centralisation zu legen", einen zweiten Versuch dazu (nach
dem Vorgange des hessischen Staatsschatzes) zu machen — als ob nicht in
den hervorgehobenen Beziehungen bereits seit länger als einem Menschenalter
Decentralisation und Selbstverwaltung in den alten preußischen Provinzen
bestanden hätte; aber wohlverstanden, wie es die eigentliche Selbstverwaltung
bedingt, aus ihren Mitteln, auf ihre Kosten; während in der Provinz Han¬
nover allerdings jetzt der erste Versuch einer solchen Selbstverwaltung unter-
nommer wird — nach dem Vorgange der alten Provinzen, aber nach einer
neuerfundenen Schablone auf Kosten und für Rechnung des Staates*).
Es dürfte hienach einleuchten, daß es allerdings in erster Linie nicht um
eine politische oder Parteifrage — sondern um eine Frage des Rechts, des
Meins und Deins. der ausgleichenden Gerechtigkeit von Provinz zu Provinz
sich handelte, und es kann hiernach nicht überraschen, daß die Abstimmung
wesentlich nicht nach politischen Parteistellungen stattfand; sondern nach lands¬
mannschaftlicher Zusammensetzung; sodaß die Vertreter von Hannover und
Hessen nicht blos, sondern auch von Nassau und mit Ausnahmen von Zweien
Schleswig Holstein, und ebenso alle Polen (die consequenten Vertreter aller
Particularistischen, wie sie es bezeichnen nationalen Bestrebungen) für —
die Vertreter der alten Provinzen weit überwiegend gegen die Bewilligung
sich erklärten.
Ihr Correspondent meint, nur aus der vollen Bedeutung für die deutsche
Frage lasse sich „die ungeheure Rolle erklären, welche die Debatten im preußi¬
schen Parlament und in unserm öffentlichen Leben gespielt haben." Diese
Parlamentarische Bedeutung kann man zugeben; der Grund lag aber wesent¬
lich in inneren rein preußischen Beziehungen, nämlich:
1. in der Einführung eines neuen, in der preußischen Verwaltung seit¬
her unbekannten Prinzips der Bevorzugung einer neuen, in vielen ihrer ein¬
flußreichen Kreise zudem der Einverleibung opponirenden Provinz;
2. in den unausgesetzten Bemühungen der Regierung wie einzelner ein¬
flußreicher Abgeordneten, der Vorlage gegen die anfangs ziemlich allgemeine
Abneigung zum Durchgange zu verhelfen;
3. in dem durch die Natur der Sache weniger, als durch die zu der
Frage einmal eingenommene persönliche Stellung motivirten Bestreben des
Ministerpräsidenten, seine hervorragende Stellung und die begründete An¬
hänglichkeit seiner alten Parteigenossen für die Vorlage einzusetzen, deren
Annahme viele Mitglieder (mit Ausnahme der Polen, aus allen Parteien
des Hauses) einmal mit ihrer rechtlichen Ueberzeugung — sagen wir lieber
mit ihrem Gewissen und ihrem Eide — nicht vereinbar fanden.
Weil man diese Ueberzeugungen nicht der Rücksicht auf die großen Ver¬
dienste des Grafen Bismarck zum Opfer bringen wollte und durfte, nur des¬
halb ist die Verstimmung eingetreten, welche Ihr Correspondent als einen
"Conflict zwischen der Regierung und den Conservativen" bezeichnet. Daß
derselbe größere Dimensionen angenommen hat, als die Sache an sich recht-
fertigt, ist eben weniger aus einer Haltung der Parteien, denen man jeden¬
falls einen sehr niedrigen Standpunkt beimessen würde, wenn man irgend¬
wer.» ihre Aufgabe als „Gehorsam" gegen die Regierung bezeichnen wollte,
sondern aus der Persönlichkeit des Grafen Bismarck zu erklären, welchem die
größten Erfolge zu einer — in den meisten Fällen ohne Zweifel gerecht¬
fertigten — Gewohnheit geworden sind.
Abweichend von dem Gegner will es mir vielmehr als eine Bürgschaft
gesunder politischer Zustände erscheinen, daß nicht allein ein Stirnrunzeln
des leitenden Ministers, nicht Rücksichten auf alte Verbindungen und Par¬
teifreundschaften, sondern auch in hohem Maße sachliche Interessen und ge¬
wissenhafte Ueberzeugung des Einzelnen in der Landesvertretung maßgebend
erscheinen. Und dafür hat allerdings die Verhandlung über den hannover-
schen Provinzialfonds einen schlagenden Beweis geliefert. Eine Sache, wel¬
scher Benda, Bodelschwingh, Brauchitsch, Gneist, Loewe. Reichensperger,
Schulze (Delitzsch), Tuchter und Waldeck gemeinsam als Gegner gegenüber-
stehen, darf wohl als eine nicht politische Frage bezeichnet werden.
Und auch das ist ein nothwendiger Gewinn aus einer derartigen ob¬
jectiven Auffassung dieser Frage, daß seitdem viele gegenseitige Verbitterungen
der letzten Jahre von Partei zu Partei im Interesse des großen Ganzen einer
größeren persönlichen Anerkennung Platz gemacht haben.
Es ist für Jeden, welcher innerhalb der wochenlangen Vorerörterungen
gestanden hat, völlig unverständlich, wie hier von einer „alten Schablone
der Demokratie" oder dem „schroffen Altpreußenthum der Conservativen"
gesprochen werden mag. Die Voraussetzung, daß die letzteren der Regierung
„auf der Bahn der Concessionen an außerpreußische Eigenthümlichkeiten über¬
haupt nicht folgen wollten", wird durch ihr Votum zu Gunsten der hanno-
verschen Aemterverfassung entschieden widerlegt.
Wenn der einheitlich ministerielle Charakter der freiconservativen Partei
rühmlichst erwähnt wird, so muß doch zur Steuer der Wahrheit bemerkt
werden, daß 11 Mitglieder gegen die Majorität von 36 gestimmt haben,
und der Ruhm als „Partei" den „Ausschlag" gegeben zu haben, muß im
Einklang mit der Dankadresse der Hameler Bauern der wie immer ein-
müthigen Haltung der 10 Polen ungeschmälert verbleiben.
Ganz unverständlich, weil an innerem Widerspruch laborirend, erscheinen
aber die Vorwürfe gegen die eigene Partei des Correspondenten — die Na¬
tionalliberalen. Eine Partei, welche man selbst als die „Hauptträgerin der
neuesten Aera preußisch-deutschen Staatslebens" prädicirt, „welche die besten
Kräfte der neuen Provinzen an sich gezogen, und mit den einsichtigsten Män¬
nern der alten Länder in Verbindung gebracht hat", sollte man dann auch
mit Vorwürfen, wie „Mangel an einheitlicher Leitung, wie an der gehörigen
Klarheit über die Punkte, worauf es für die inneren preußischen Fragen
wesentlich ankam", verschonen.
Daß im Schoße der Fraction häufig verschiedene politische Auffassungen
über innere Fragen herrschen, ist allerdings nicht zu verkennen; ihre Bildung
scheint sich wesentlich die verdienstliche Aufgabe gestellt zu haben, aus den
Negationen der Conflictszeit hinaus zunächst auf dem festen Böden der deut¬
schen Politik der Regierung wieder Fuß zu fassen, und ein festes Programm
über die weitere innere Entwickelung liegt vielleicht noch nicht vor. Wenn
aber der Herr Berichterstatter diesen Mangel an Uebereinstimmung seiner
Partei in wesentlichen Punkten hervorhebt, wie kann er sich dann darüber
Wundern, daß die Zeitungen der Partei in Cardinalfragen ihre Ansichten
nicht treffen? Daß es ihnen an Information über die Ansichten der Majorität
gebrach, und sie daher auch ihren Lesern eine solche nicht zu bieten ver¬
mochten!
Dem besondern Vorwurfe — daß die Partei „der wichtigsten von allen
vorliegenden Fragen — nach der Organisation der neuen Landestheile, nach
dem Verhältnisse, in welchem die neuen Provinzen zu den alten stehen sollten;
ohne festes Programm entgegen gegangen war", läßt sich die Erwägung
gegenüberstellen, daß die Ansichten über die Organisation der Verwaltung
der neuen Provinzen wesentlich von der Entscheidung der eben nicht einfachen
Vorfrage abhängen, für welches der sehr verschiedenen Systeme man in Be¬
zug auf die dringend nothwendige Neuorganisation der Verwaltung auch in
den alten Provinzen sich entscheidet, eine Frage, welche nicht blos von all¬
gemeinen politischen Parteigrundsätzen abhängt, sondern durch eine Menge
von technischen, statistischen und localen Erörterungen bedingt wird, und
daher im Schoße derselben politischen Partei eine sehr verschiedenartige Be¬
antwortung finden kann, ohne daß dieselbe für die Frage des Zusammen¬
haltens und der Einigkeit unter den Parteigenossen ein zutreffendes Merkmal
darstellte. Erst von Entscheidung der allgemeinen Fragen hängt dann wieder
ab, welche Einrichtungen im ganzen Staate durchgängig bestehen, für welche
eine verschiedene Behandlung nach abweichenden örtlichen Gesichtspunkten in
den einzelnen Provinzen nachgelassen werden soll. Welche Verschiedenheiten
der Ansichten über wichtige Organisationsfragen unter fach- und ortskundigen
Angehörigen derselben Partei, derselben neuen Provinz bestehen, das zeigt
K- B. die Meinungsverschiedenheit zwischen den hannoverschen Abgeordneten
v- Bennigsen. Grundrecht und Miquel über den Fortbestand der Lcmd-
drosteien in der Provinz Hannover. Und nun macht man der nationallibe¬
ralen Partei, in welcher eine Menge von Juristen sich befinden, welche nie¬
mals praktisch mit Verwaltungsangelegenheiten vertraut geworden sind, einen
Vorwurf daraus, daß sie nicht schon im November über solche durch Orts-
kunde mit bedingte Fragen schlüssig war, daß sie die thatsächlichen Verhält¬
nisse der neuen zu den alten Provinzen in Budgetfragen nicht durchschaute,
welche selbst den Mitgliedern der Regierung nicht durchgängig geläufig waren!
Es ist unstreitig, daß „das Schlagwort „Entwickelung freiheitlicher In¬
stitutionen" nicht bereits identisch ist mit der. Erhöhung der preußischen At-
tractionskraft"; aber auch der allgemeine Satz, daß „die Einverleibung der
neuerworbenen Provinzen in den Einheitsstaat ohne Störung des organischen
Lebens der ersteren und ohne Schwächung der Einheitlichkeit des letzteren zu
vollziehen, mit andern Worten, eine wirklich lebendige Assimilationsfähigkeit
des preußischen Staates zu bewähren" sei, — ein Satz, welchen alle Parteien
des Abgeordnetenhauses meines Erachtens unterschreiben können, ohne ihren
Parteigrundsätzen etwas zu vergeben, — eignet sich eben deshalb wohl kaum zu
einem Programm der nationalliberalen Pariei. Man könnte vielleicht noch
umfassender die Aufgabe nicht etwa einer einzelnen Partei, sondern des
preußischen Staates, als deren „Träger" zunächst die Regierung desselben
in Anspruch zu nehmen wäre, dahin bezeichnen: Gerechtigkeit gegen alle
Theile des großen Ganzen, Beseitigung aller Bevorzugungen von Provinz
zu Provinz in Besteuerung wie dauernder Betheiligung an den Zuschüssen
aus der Staatscasse — Decentralisation in allen Angelegenheiten, welche
ohne Schädigung der gemeinsamen Staatszwecke durch die (möglichst selbst
gewählten) Organe der Provinzen wahrgenommen werden können. Auch
diese Sätze würden voraussichtlich von Links und Rechts alle Parteien unter¬
schreiben, und wenn man an die concrete Gestaltung der allgemeinen Sätze,
an die Unterordnung des einzelnen Falles unter die Regel gelangte, würden
über die Anwendung und Auslegung die Parteien und innerhalb derselben
die Einzelmeinungen immer wieder auseinandergehen, wie eben die jüngste
Verhandlung über den Provinzialsonds bewiesen hat.
"
Politische Parteien — das hat die Geschichte alter, wie neuer Partei¬
händel gelehrt — bilden sich und ändern ihre Stellung nicht nur nach doc-
trinären Ansichten über politische Grundsätze, wie sie auch in den Systemen
unserer Staatsweisheit ihre Vertretung fanden; sondern auch nach ihrer
praktischen Auffassung der Tagesfragen, oder nach ihrer persönlichen Stellung
zu den leitenden Staatsmännern der Gegenwart. Wir können uns täglich
davon aus der Geschichte Englands überzeugen.
Wir dürfen uns daher auch nicht darüber verwundern, daß eine nam¬
hafte Zahl von Mitgliedern der konservativen Partei einmal in einer wich¬
tigen Einzelfrage — die man zudem nur uneigentlich eine politische nennt,
da sie augenscheinlich weder vom conservativen noch vom demokratischen oder
constitutionellen Standpunkt aus in eins dieser Systeme eingereiht werden
kann — nach ihrer abweichenden Anschauung über die Rechtmäßigkeit oder
Zweckmäßigkeit der Maßregel gegen den Grafen Bismarck poliren, obwohl
er aus ihren Reihen als ihr entschiedener Parteigänger hervorgegangen, und
nach seiner Angabe viele seiner momentanen Gegner ausdrücklich zu seiner
Unterstützung gewählt sind. Es ist auch wohl noch etwas voreilig, schon
jetzt zu prophezeien, daß diese „Angelegenheit für das Verhältniß des Mini-
steriums zu den Konservativen entscheidend geworden", oder sich „durch die
Thatsache der Zersetzung der conservativen Partei zu trösten". Es würde,
darin kann man Ihrem Correspondenten gewiß beitreten, von beiden Seiten
eine mehr als leichtfertige Behandlung solcher schwerwiegenden Beziehungen
verrathen — eine Behandlung, welche am wenigsten von der folgerichtigen
Beharrlichkeit des Ministerpräsidenten sich voraussetzen läßt — wenn eine
einmalige Meinungsverschiedenheit ausreichen sollte, „Verbindungen von so
langjähriger Dauer zu lösen, wie es die zwischen dem Grafen Bismarck und
den Eonservativen sind". —
Andererseits zählt die nationalliberale Partei zu viele staatskluge und
besonnene Elemente, als daß sie in Folge des sür das Ministerium — nach
Anwendung der außerordentlichsten Kraftanstrengungen — erfolgreichen Aus¬
gangs dieser Angelegenheit ihre demselben günstige Stellung modificiren,
oder den 21 Mitgliedern. welche unter einem so hervorragenden Führer wie
Tochter von der Majorität abfielen, es dauernd verübeln sollte, daß ihnen
ihre Ansicht von der Recht- und Zweckmäßigkeitsfrage, wie die Rücksicht
auf das Interesse und die Stimmung der 8 alten Provinzen höher stand,
als eine vorübergehende Popularität der einigen 30 Gesinnungsgenossen aus
Hannover und der phantasiereiche Ausblick auf den zukünftigen deutschen
Staat. —
Dieser deutsche Staat der Zukunft — hoffentlich ein Einheitsstaat im
engsten Anschlusse an den bewährten Kern altpreußischen Wesens — er wird
— das erlaube ich mir nochmals zu betonen — sich nur bilden und im
Segen erhalten bleiben, wenn er von Haus aus gegründet wird auf Gerech¬
tigkeit gegen die einzelnen Theile wie gegen das große Ganze; wenn alle
berechtigten Eigenthümlichkeiten der Provinzen geschont und gepflegt wer¬
den, soweit sie die Action des Ganzen nicht lähmen. soweit sie nicht Sonder¬
rechte beanspruchen, welche andern Provinzen vorenthalten bleiben; wenn
jeder Provinz das Maß von Selbstverwaltung ihrer eignen nicht blos, —
sondern auch der allgemeinen Staatszwecke im Namen des Staates — ge¬
währt wird, was sie mit eigenen Kräften selbständig wahrzunehmen vermag:
wenn aber auch alle Theile des großen Ganzen stets eingedenk bleiben, daß
sie nicht auf Kosten desselben sich zu überheben, daß sie auch theure Inter¬
essen da aufzugeben haben, wo sie mit gleichberechtigten des Ganzen oder
anderer Theile collidiren.
Wenn alle Parteien im Staate von diesen Grundsätzen sich leiten lassen
— und es liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln — so können Meinungs¬
verschiedenheiten über die Anwendung auf den gerade vorliegenden Fall —
beispielsweise die immerhin untergeordnete Frage über den hannoverschen
Provinzialsonds — die Entwicklung des Fortschrittes unseres Staates zu
dem Ziele, wie es bei aller Abweichung in Einzelheiten — mit Ausnahme
der Polen — uns allen vorschwebt, nicht hemmen; sie werden auch die Par¬
teien untereinander so wenig, als die Meinungsgenossen jeder einzelnen Frak¬
tion in Hader von der gemeinsamen Aufgabe ablenken, am wenigsten den
Grafen Bismarck in den großen Conceptionen beirren, welche er zum Heile
des Vaterlandes auf seine Fahne geschrieben hat.*)
Das walte Gott!
Ur. 11 d. Bl. enthielt eine kurze Darstellung der Fortschritte, welche
unser Gewerbemuseum in dem letzten Jahre gemacht hat. Vorläufig eine
Anlage von bescheidenem Umfang, aber auf guten Grundlagen begonnen,
gibt sie Hoffnung für eine reiche Entwickelung. Die Leser werden aus der
Schilderung gesehen haben, daß wir Berliner nach dieser Richtung zur Zeit
kaum so viel für künstlerische Hebung des Handwerks gethan haben, als z- B.
Carlsruhe und Stuttgart und auf anderen Wegen Wien. Ueberhaupt ziemt
uns das Bekenntniß, daß wir nicht nur in diesem Kreise unserer Cultur¬
arbeit, sondern fast auf jedem Gebiete, auf welchem Kunst und Wissen¬
schaft in das Leben des Volkes geleitet wird, manches nachzuholen haben. Un¬
leugbar ist während der letzten Decennien darin bei uns Preußen eine
Stockung eingetreten, welche eine neue reformatorische Thätigkeit nöthig
macht. Der Staat mußte seine Mittel fast ausschließlich verwenden, um sich
aus der politischen Depression herauszuheben; für die menschlichen Thätigkeiten,
welche durch Vermehrung der Bildung auch die Leistungsfähigkeit des Volkes
für den Staat stärken, ist verhältnißmäßig viel zu wenig geschehen. Die
Lage unserer Volksschullehrer ist kläglich im Vergleich zu manchem andern
Staat, z. B. mehreren thüringischen, wo der niedrigste Gehalt eines Dorf¬
lehrers mit 200 Thlrn. normirt ist. Die zahlreichen Anstalten und Vereine
für landwirtschaftliche Cultur haben bei uns, einige begünstigte Gegenden
ausgenommen, trotz des Landes-Oekonomie-Collegiums. für Obstbau, Wiesen¬
cultur. Verbesserung der Ackergeräthe und Zucht der Nutzthiere dem kleinen
Mann weniger gethan, als z. B. in Hannover und Würtemberg durch-
gesetzt worden ist. Sogar in den größten wissenschaftlichen und Kunst¬
instituten Preußens ist die Knappheit der Mittel, und was ebenso schlimm
war. zuweilen der Mangel an Verständniß und Interesse bei der Regierung
einer zeitgemäßen Fortbildung hinderlich gewesen. Die große Bibliothek in
Berlin hat bis zum letzten Landtage eine völlig ungenügende Dotation gehabt;
die naturwissenschaftlichen Institute der Universität Berlin entsprechen in der
Mehrzahl nicht den Anforderungen, welche moderne Wissenschaft macht, sie
können sich z. B. mit dem. was bei Ihnen in Leipzig eingerichtet wird, gar nicht
vergleichen. und es ist kein Zufall', daß die meisten großen Gelehrtenamen
in diesen Disciplinen außerhalb Preußen zu finden sind. Auch ein Institut
von altem Ruf und Ansehen, wie unsere Academie der Wissenschaften,
ist in Form und Inhalt ihrer Publicationen und in der Weise, wie dieselbe
dem Publikum zugänglich gemacht werden, in ausgezeichneter Weise alt¬
fränkisch und ungeschickt. Gegen die Leiter so wichtiger Kunstanstalten, wie
unsere Museen sind, hat die schlechte Restauration eines Bildes fast zufällig die
allgemeine Kritik aufgeregt; die Leitung des Herrn von Olfers wie der
Vilderkatalog des Herrn Waagen haben fühlbar gemacht, daß es auch mit
der offiziellen Kunstkritik in der bisherigen Weise nicht fortgehen darf. Ein¬
zelne Anläufe auf allen diesen idealen Gebieten hat die Gegenwart zu loben,
und es wäre ungerecht zu leugnen, daß vieles Tüchtige bei uns dauert, aber es
sind als^ctÄ memwa. der frische Zug fehlt, und in der Regierung bei aller
Sorge um Einzelnes doch die rechte warme Ueberzeugung von der unerme߬
lichen Wichtigkeit, welche diese Interessen gerade jetzt für Preußen haben.
Uns bleibt zur Zeit nur der Trost, daß wir im Stande sein könnten, große
Schritte zu machen, um das Versäumte nachzuholen.
Unter diesen Umständen ist es von Bedeutung, daß das Bedürfniß star¬
ker Reformen auf. diesen Gebieten sich nicht nur unter .den Gebildeten kräftig
geltend macht, sondern daß es auch in dem Herrscherhause warme Vertreter
findet. Da ich dies in der Feststimmung eines loyalen Tages schreibe. so
wöge das Bekenntniß Nachsicht finden, daß wir Berliner zwar sehr demo-
kratisch sind, daß wir aber sehr gern sehen, wenn Mitglieder der königlichen
Familie unseren gemeinnützigen Vereinen Antheil und Förderung zuwenden.
Und ich möchte heut einmal unsere Kronprinzessin rühmen. Man erkennt
bei uns in Preußen allmählich den Werth der genialen Frau, welche der
Kronprinz aus dem englischen Königshause zu uns herübergeführt hat. Wir
merkten bald, daß die Kronprinzessin eine gute Mutter und Hausfrau ist.
welche die Erziehung ihrer Kinder sehr sorgfältig und in großem Sinne leitet,
zu deren Stolz gehört, in alter Weise auch als Hausherrin ihrem Haushalt
vorzustehen; sie ist die Herzensfreundin und Vertraute ihres Gemahls, und
die Innigkeit und Reinheit dieser Ehe eine Freude der Stadt. Aber sie ist auch
eine sehr reich begabte Natur, welche dafür gilt, alle, welche in ihre Nähe
kommen, durch die Liebenswürdigkeit ihres Herzens fest an sich zu fesseln, ein
ernster Geist, ein wahrhaftiges Gemüth mit einer reichen und sichern Bildung,
liberal nicht nur aus Klugheit, sondern aus Herzensbedürfniß, und sie ist
endlich nicht nur von schönem Schwunge des Geistes und der Phantasie, auch
von einer dauerhaften und männlichen Thatkraft. Bei der großen Zahl von
Pflichten und Zerstreuungen, welche ihre Stellung unvermeidlich macht, ist
doch erfreulich, daß sie bei jeder Beschäftigung ein ganzes, volles und dauer¬
haftes Interesse einzusetzen weiß. Auf dem Bazar für die Victoria-Stiftung sah
unser Publikum zwei Oelbilder und einige Statuetten von ihrer Hand, deren
Technik und bescheidener Realismus sehr achtungswerth waren. Bei den Ge¬
lehrten, mit denen die erlauchte Frau sich unterhält, ist eine Ueberraschung
darüber nicht ungewöhnlich, wie gut die Prinzessin auf jedem Gebiet orientirt
ist, und wie entschlossen sie sich die Resultate freier Forschung zu eigen ge¬
macht hat. Und der Landwirth, der über seinen Beruf zu ihr redet, kann
sich gratuliren, wenn er die Racen der Rutzthiere und, den Werth jeder ein¬
zelnen für seine Wirthschaft so gut zu beurtheilen weiß, als diese wohlerfahrene
Tochter des großen englischen Farmers. Von denen endlich, welche das--
glückliche Familienleben des kronprinzlichen Hauses gesehen, wird als bester
Eindruck hervorgehoben, wie schön sich die schwungvolle, in großen Ideen
lebende Seele der Frau und der lautere Charakter ihres Gemahls, sein
klarer Verstand und praktisches Wesen ergänzen.
Aus Berichten über die Verhandlungen, welche die Kronprinzessin vor
Gründung des Gewerbemuseums mit einigen Leitern des Unternehmens
hatte, vermag Ihr Correspondent wenigstens ungefähr die Gesichtspunkte zu
erkennen, welche von der hohen Dame bei dem Unternehmen geltend ge¬
macht wurden.
Die erste Industrieausstellung zu London 1851 machte den ausstellenden
Engländern, nicht zuletzt dem Prinzen Albert, dem thätigen Leiter des Unter¬
nehmens, auffällig, wiesehr englische Industrie und Handwerke fast überall,
wo schöne und zierliche Arbeit, wo Geschmack und wohlthuende Form ver'
langt wurden, hinter der französischen Arbeit zurückgeblieben waren. Diese Beo¬
bachtung legte nahe, die gesammte Stellung des Handwerks zu unserer
Kunstbildung zu prüfen, Uns Modernen ist die bildende Kunst zur Zeit eine
Glashauscultur, völlig gelöst von der Arbeit des Handwerkers. Das war
noch bei unseren Vorfahren anders. In der antiken Welt und im deutschen
Mittelalter bis zur Renaissance, ja für einzelne Handwerke bis zum Rococco,
lebte das Handwerk mit der Kunst der Zeit im innigsten Verbände, die
Technik der bildenden Künste war völlig Handwerkstechnik, und jedes Hand¬
werk fand seine Formen im engen Anschluß an die Erfindungen seiner Kunst,
indem es sich sorgfältig aneignete, was ihm brauchbar war. Stilgefühl und
Sinn für das zeitgemäße Schöne war jedem tüchtigen Handwerker eigen,
der Steinmetz war oft Bildhauer und Architect, der Goldschmidt war Bild¬
hauer, Erzgießer und Stempelschneider, der Glaser auch Glasmaler, wer
die Schilde der Ritter und die Schilder der städtischen Häuser malte, der ver¬
fertigte auch die Heiligen auf Kirchenfahnen und Altarschreinen. Auch bei
kleiner Handwerksarbeit hatte er seine Künstlerfreude; die Muster eines alten
Teppichs oder Kirchengewandes, Griff und Scheide eines geschmückten
Schwertes, der Trinkkrug, der Thürbeschlag,, die Ledertasche, das Schmuck¬
stück aus Steinen und edlen Metall erwiesen das Behagen, womit der alte
Handwerker für das einzelne Stück die Zierathen und Schönheitslinien seiner
Zeit verwerthete. In unserer Zeit aber zeigt, was dem Bedürfniß des Tages
dient, in den gewöhnlichen Formen von dem Schönheitssinn und der Er¬
findungskraft des Verfertigers in der Regel nichts; wird einmal eine
außerordentliche Anstrengung von dem Handwerker verlangt, so steht
er hilflos und verlegen, er sucht irgend etwas aus fremdem Volke oder
vergangener Zeit ungeschickt nachzubilden, sclavisch, ohne Verständniß, und
es wird in der Regel eine plumpe Nachformung, und gegen unverhältniß-
wcißige Bezahlung. Auch da. wo die Industrie Maschinen und Fabrik¬
thätigkeit für das Handwerk eingeführt hat, wo großes Capital aufgewandt
>se und größere geschäftliche Intelligenz leitet, ist dieselbe Armseligkeit der Er¬
findung, ungeschickte Nachbildung und unzweckmäßige Anwendung vorhan¬
dener Formen bei der Massenproduktion gewöhnlich. Es gibt große Städte,
w denen kein Buchbinder einen zierlichen und geschmackvollen Einband, kein
Goldschmidt ein frei modellirtes Silbergefäß zu, machen versteht, und wo auch
ewe schwungvoll betriebene Fayencefabrik über die geschmacklosesten und
rohesten Formen der Teller und Tassen und ihrer Zierathen nicht hinaus¬
kommt.
Diese auffallende Verkümmerung des Handwerks vermögen wir uns
^ohl zu erklären. Vieles hat dazu beigetragen; eine große Masse der
Unbemittelten fordert Antheil an Erfindung und Genüssen, welche früher
dem Wohlhabenden allein zukamen, dadurch ist die Production zunächst
massenhaft und schmucklos geworden. Aber auch den Gebildeten, und den
Künstlern ist der alte Formensinn beeinträchtigt, und es sieht fast so aus,
als hätte überhaupt die Empfänglichkeit des Auges und die Freude an
schöner Darstellung in den Völkern germanischer Rasse seit den letzten Jahr¬
hunderten eine Verminderung erfahren. Unser Leben ist weit innerlicher ge¬
worden; während in Sprache und Poesie der Ausdruck feiner und edler
Empfindung weit ergreifender ward, hat sich der Sinn" für stattliche Er¬
scheinung, würdige Repräsentation, für bunte Aufzüge, dramatische Feste,
prächtige Kleidung seit der Rococeozeit fast verloren, und wir scheinen
auch nach dieser Richtung nur langsam wieder zu gewinnen, was unsere
Borfahren besaßen. Verhängnißvoll war ferner, daß unsere gelehrte Cultur
und die unermeßliche Steigerung des internationalen Verkehrs fast plötz¬
lich sehr verschiedene Kunstformen und technische Erfindungen unserem
Leben nahe gestellt hat, so daß der Einfluß des Fremden, das uns nahe
trat, übermächtig geworden ist. Altasiatische, egyptische, hellenische, rö¬
mische Kunst, romanisches Mittelalter, germanischer und maurischer Stil,
ältere und spätere Renaissance und Rocoeco werden in ihrer Eigenthüm¬
lichkeit verständig genossen, alles Originelle, Zierliche, Schöne, was durch
die fremdartigen Culturen asiatischer Völker gewebt, gehämmert, gemalt,
lackirt ist, wird auf unsere Märkte geworfen. Es ist ein Ueberfluß an frem¬
der Habe, es ist wie eine Betäubung der Schaffenden und des Publicums.
Dazu kommt, daß der moderne Fortschritt in den bildenden Künsten vom
gelehrten Studium der Antike und der italienischen Kunst am Ende des
Mittelalters ausging; die Vorbilder und Ideale unserer Maler und Bild¬
hauer stammen aus entfernter Zeit, der Zugang zur Kunst verlangt eine
besondere Zucht und Bildung, welche noch mühsam erworben wird, und ihrer
technischen Kunstgriffe noch gar nicht sicher ist; der Künstler fühlt sich als
Besitzer dieser Geheimnisse im stolzen Gegensatz zum Handwerker; unsere
Kunstliebhaber und vor Allem die Kunstvereine haben den Ehrgeiz der Schaf'
senden fast ausschließlich auf Staffeleibilder, Fresken und antikisirende SW'
euer, auf die höchsten Aufgaben der Kunst gerichtet, sie haben fast alle
kleinern Talente zu einem Künstlerproletariat vereinigt, welches vergebens
danach ringt, in freien Kunstschöpfungen die Ideale einer entfernten Ver¬
gangenheit wieder lebendig zu machen und mit den Bedürfnissen unseres Ge<
müthes zu versöhnen. Dadurch sind viele hundert begabte Männer zu studi'
renden Don Quichote's der Kunst geworden, denen weit lohnendere Aufgabe
wäre, in die begrenzten Kreise des Handwerks schöne Erfindungen zu leiten-
Diese und andere Uebelstände fühlen wir schmerzlich; unser Handwerk
gilt für gemein und trivial. Und dieser Fluch, der Mangel an Kunstver-
ständniß und schöpferischer Kraft drückt den wackeren Handwerksmarm mehr
nieder, als etwas anderes. Die schwierige sociale Stellung unserer Arbeiter,
der Kampf zwischen Handwerk und Maschinentechnik, sie können gut und
gründlich nur dann geheilt werden, wenn unser Handwerk wieder kunstvoll
wird, d. h. wenn dem bescheidenen Mann wieder die stolze Freude kommt,
auch schön zu erfinden, und wenn solche Arbeit ihm zu lohnender Werkthätig¬
keit wird. Jetzt ist im Handwerk der Mangel an Talenten sehr groß, und
überall wird die Klage laut, wie selten geschickte Gesellen zu finden sind. welche
auch nur die gewöhnliche Tagesarbeit gut und mit Verstand verrichten. Die
Ueberlegenheit, welche die Franzosen aus einzelnen Gebieten der Industrie
und Technik unleugbar besitzen, kommt nur daher, daß durch günstige Ver
Hältnisse der Sinn für zierliche Form, der sich von dem zusammengefügten
Blumenstrauß bis zu Umriß und Malerei einer Porzellanvase und einer
Broche bewährt, in dem Volke nie ganz verloren ging und jetzt reichlicher
gepflegt ward.
Deshalb ist die Einführung schöner Formen in das Handwerk und die
Bildung des Schönheitssinnes im Arbeiter eine der wichtigsten Culturauf¬
gaben unserer lehrhaften Zeit geworden, und wer nach dieser Richtung un¬
serem Volke wohlzuthun weiß, der hebt nicht nur die Production und leitet
Wohlstand in die enge Behausung des Armen, er verschönert auch das Leben
aller, welche die Handwerksarbeit für sich gebrauchen, und nicht zuletzt Leben.
Gedanken und Gemüth des Arbeitenden selbst. Und man meine nur nicht,
daß solche Veredlung der Handwerksindustrie gleichbedeutend sei mit einer
unverhältnißmäßigen Steigerung des Luxus und unwesentlicher Bedürfnisse des
Genießenden. In zahllosen Fällen werden die Genüsse unseres Lebens dadurch
nicht vertheuert. sondern das Schönere wird billiger gemacht. Es ist z. B.
jetzt fast überall in Deutschland noch schwierig, nur die einfachste Zimmer¬
einrichtung so herzustellen, daß Farbe und Muster der Tapeten. Vorhänge.
Möbeln. Teppiche in gefälliger Weise zu einander stimmen. Auch unter den so¬
genannten Gebildeten haben die wenigsten ein Verständniß dafür. Und wer
jetzt solche das Auge nicht beleidigende Uebereinstimmung bei der Einrichtung
seiner Wohnung sucht, der muß entweder eine außerordentliche Mühe auf¬
wenden und sich selbst von vielen Orten einzelnes zusammentragen, oder
einen außerordentlichen Preis bezahlen. Dann aber wird den Reicheren bei
verfeinerter Cultur des Handwerks alle Tage Gelegenheit gegeben, auch be¬
sonders Zierliches und die liebevollen Arbeiten eines talentvollen Handwerkers
um sich zu sammeln, und diese Art von Verschönerung der Stuben ist gerade
das beste Gegengewicht gegen den rohen und prahlerischer Luxus, der jetzt
nur in theuren und fremdartigen Stoffen und in einem unablässigen Wechsel
modischer Möbel und neuen Tafelgeschirrs seine Befriedigung findet.
Als die Kronprinzessin' von Preußen in solchem Sinne zu Berlin die
Gründung einer Lehranstalt für das Handwerk anregte, vermochte sie dem
Mißtrauen und Kleinmuth, welche dergleichen socialen Forderungen zu wider¬
stehen Pflegen, einen großen Erfolg in England als Beispiel vorzuhalten. Nach
den Beobachtungen der ersten Industrieausstellung hatte Prinz Albert das
Kensington-Museum eingerichtet, jetzt bereits eine großartige Sammlung von
Mustern fast aus jedem Volk und Arbeitsgebiet, mit populären Lehrstunden
und höchst praktischen Einrichtungen für Benutzung derselben durch das Volk.
Der Segen dieser Einrichtung wurde in England schon nach wenig Jahren
auf den meisten Gebieten der Industrie wohlthätig erkannt. Wir dürfen
als sicher annehmen, daß bei uns eine gute Wirkung nicht weniger in die
Augen fallen wird. Aber freilich ist dazu eine größere Ausdehnung des In¬
stituts nothwendig, als jetzt dem Gewerbemuseum vergönnt ist, sowohl für
die Sammlungen, als die Lehrstunden, und nicht weniger wichtig ist, daß die
neue Anstalt auch ein Mittelpunkt werde für die Ausstellung neuer Arbeit.
Gerade diese letzte Einrichtung hat in Süddeutschland, wo sie besteht, sich
als besonders fruchtbringend erwiesen, sie hebt den Ehrgeiz des Arbeiters,
gibt ihm das frohe Gefühl einer allgemeinen Anerkennung, die er sonst so
sehr entbehrt, und sie macht, sobald Gewerbemuseen merkwürdige Aus¬
stellungsstücke einander zusenden, auch die Tüchtigkeit der Nachbarn zu einem
Sporn für die heimische Technik.
Wir wissen sehr wohl, solche Institute dienen der Kunstbildung einer
Zeit zunächst dadurch, daß sie das Schöne, welches irgend einmal geschaffen
wurde, popularisiren; durch sie wird also mehr die Mannigfaltigkeit
der Formen, Muster, Stilgattungen gefördert, als ein besonderer natio¬
naler Stil gelehrt, denn Antikes und Japanesisches, Mittelalter und Cinque¬
cento stehen in Sammlung und Lehre dicht bei einander. Das aber ist ein¬
mal die nothwendige Vorbedingung für moderne Kunstentwickelung. Nicht
dadurch vermag ein modernes Volk seiner Erfindung eigenthümliche Schön¬
heit zu gewinnen, daß es die massenhafte Erfindung der Fremden von sich
ausschließt, nur dadurch, daß es sie sämmtlich als Bildungselemente mit kräf¬
tigem Künstlersinn verarbeitet. Daß sich bei solcher Mannigfaltigkeit fremder
Kunstformen nur langsam und schwer die Freiheit eines originalen Stils
entwickelt, i^t selbstverständlich. Aber in einer Periode der eclectischen Auf¬
nahme verschiedenartigster Gebilde wird sich zunächst der Sinn für das Cha¬
rakteristische kräftigen. Darauf wird ein feines Verständniß für das Zweck¬
mäßige folgen und es ist kein Zweifel, daß auch die modernen, Völker all¬
mählich lernen werden, das höchst Zweckmäßige nach dem Zug ihres eignen
Wesens zu formen und etwas von ihrem eignen Gemüth hineinzulegen. Und
das wird dann originelle Schönheit, im Handwerk wie in der Kunst.
Der neue Theil eines großangelegten Werkes, welcher nach längerer Unterbre¬
chung erschienen ist, bekundet, wie schön Bildung und politisches Leben der Gegen¬
wart den Blick der Zeitgenossen für das Dasein unserer Vorfahren geschärft haben.
Mit besonderer Freude begrüßen wir den geachteten Namen des Verfassers vor diesem
Werke, denn es ist ein wackerer Patriot und ein feingebildeter Geist, der in ange¬
strengter politischer Thätigkeit seit Jahrzehnten unabhängig und treu für Bildung
des Volkes gearbeitet hat und der seinen publicistischen Arbeiten die Muße abringen
muß für dies fleißige Werk. Der neue Band umsaßt die Periode der Empfind¬
samkeit bis auf Lessing; obenan stehen darin: Gellert, Gleim und sein Kreis.
Klopstock und Wieland; jeder von diesen vier Abschnitten ist ein wohlgelungener
Essay, alle vier gehören nach unserem Dafürhalten zu dem Besten. was Herr Bieder¬
mann geschaffen. Nicht nur das sichere, billige und mit wohlthuender Wärme
temperirte Urtheil zieht an, es unterhält auch eine reiche Fülle von Detail. Als
Hauptsache, und das scheint uns das größte Verdienst des Buches, ist überall,
und eingehender als in anderen literarhistorischen Werken, die Wechselwirkung
zwischen dem Schriftsteller und seinem Volke dargestellt. Wir hoffen, daß dieser
Vorzug das Werk unsern Lesern besonders werth machen wird, denn nicht der
ästhetische Werth eines Poeten allein regulirt die Bedeutung, welche er für uns hat,
oft ist noch wichtiger der Einfluß, welchen er auf Bildung und Gemüth seiner Zeit-
genossen im Guten und Bösen deshalb ausübte, weil er geheimer Sehnsucht und
stillen Geschmacksrichtungen des Volkes zu rechter Zeit Ausdruck gab. Nur wenn
wir diesen schwer zu schätzenden Factor möglichst genau berechnen, werden wir in
Stand gesetzt, die politischen und socialen Schicksale der Nation in ihrer Abhängig¬
keit von der Thätigkeit ihrer geistigen Führer zu verstehen. Und gerade sür diese
culturhistorische Arbeit unserer großen Literaturperiode erweist. der Verfasser daS
freieste Verständniß. Daß er in der Gegenwart selbst lehrend und bildend auch den
kleinen Kreisen des Volkes nahe steht, das kommt überall seiner Auffassung der Ver¬
gangenheit zu gute. Möge ihm recht bald vergönnt sein, die stille Einwirkung
der Poesie auf das Leben an den großen Talenten unserer classischen Literaturzeit
nachzuweisen.
Ueber ein Viertehahrhundert ist seit dem Erscheinen der zweiten Auflage von
Droysens Aeschylosübersetzung verflossen. Der Verfasser, inzwischen zu einem M
W der Geschichtschreibung emporgewachsen, und mit voller Kraft nahelegenden
Aufgaben zugewendet, hat doch das Gebiet der alten Geschichte und der ant.ken
Kunst nicht aus den Augen verloren, aus dem er die erste Zeit seiner academischen
und literarischen Thätigkeit fast ausschließlich beschäftigt war. Die vorliegende dritte
umgearbeitete Auflage gibt Zeugniß dafür.
Mit welchen Schwierigkeiten eine Übersetzung gerade des Aeschylos zu kämpfen
hat, ist keinem Kundigen verborgen. Der Strenge und Herbigkeit seines Ausdrucks
im Dialog und der überwuchernden Fülle seiner lyrischen Sprache in den Chören
einigermaßen gerecht zu werden, ist eine Aufgabe, die zu den schwersten gehört,
welche der deutschen Sprache und der Uebersetzungskunst gestellt werden können.
Hierzu kommt noch ti.e an unzähligen Stellen fast hoffnungslos verderbte Ueber¬
lieferung, sodaß mit der poetischen Thätigkeit der Nachbildung und Uebertragung
zugleich eindringende Kritik und scharfsinnige Interpretation verbunden sein und
fortgesetzt zusammenwirken müssen. — Endlich aber wird, wer Aeschylos überträgt,
zuvor sich mit einem Problem der Uebersetzungskunst auseinandersetzen müssen, das
nicht ohne entscheidende Wichtigkeit gerade für diese Aufgabe ist. Es betrifft die
Stileigenthümlichkciten des Dichters, vermöge deren er bereits dem ihm zeitlich
nahestehenden Alterthum im Gegensatz zu Sophokles und Euripides als der alter¬
thümliche Tragiker erscheint. Die Thatsache ist nicht zu leugnen, ihre Gründe
eingehend auseinanderzusetzen ist hier nicht der Ort, und so mögen einige Andeu¬
tungen genügen.
Das Wort von Fr. Schlegel, „der Historiker sei ein rückwärts schauender Prophet",
kann mit vollstem Rechte auch auf Dichter wie Aeschylos angewendet werden, zumal
wenn sie, wie dieser, in einer Zeit leben, welche die geistige Arbeit des Historikers
noch nicht selbständig ausgebildet und von den verwandten Thätigkeiten losgelöst zeigt-
In der Vorstellung de-r Griechen, wie in der unsrigen und Wohl in der Literaturgeschichte
aller kommenden Zeiten gilt diese Richtung nach der Vergangenheit, die Abwendung
von der Bewegung des Tages als ein charakteristischer Zug für das Dichterportrait
des Aeschylos. und es ist kein Zufall, daß wir schon bei Aristophanes jene Eigen¬
thümlichkeit empfunden und hervorgehoben finden. Dieselbe Erscheinung zeigt sich
auch in der Volksdichtung. So wenig man leugnen kann, daß die homerischen Ge¬
dichte einst das poetische Wollen und Empfinden einer bestimmten Zeit neu und
lebendig darstellten, welche nur so und nicht anders zu empfinden und sich auszu¬
sprechen vermochte, so wenig darf vergessen werden, daß für die Blüthezeit 'des grie¬
chischen Volkes Homer schon von dem ganzen Zauber eines Sängers längst ver¬
gangener Zeiten umflossen war, daß dieser Zug seinem Bilde für alle Zeiten als
ein unverlöschlicher aufgeprägt ist. — Sicher gab es eine Zeit, in der die Komödien
des Plautus als das sprechendste Zeugniß für die poetischen und socialen Interesse»
der Gegenwart gelten konnten, in der Ennius sogar als ein kühner Neuerer aus
poetischem Gebiete angestaunt und angefeindet wurde, aber trotzdem werden beide
Dichter für immer in unserer Vorstellung eine alterthümliche Färbung haben." S>e
beruht ebensowohl auf ihrer Stellung zur später eintretenden Blütheperiode ihrer
vaterländischen Literatur, als auf einem inneren Charakterzüge ihrer Production, die
wohl einerseits sich weit über das Moderne, Momentane, Vorübergehende erhob,
andererseits aber doch nicht jene völlige Uebereinstimmung zwischen Form und Inhalt
zu erreichen vermochte, welche wir als classisch zu bezeichnen Pflegen und welcher w
unverwelklicher Jugend und Schönheit ewiges Leben zu Theil wird. Während diese
höchste Vollendung poetischer Schaffenskraft, als auf bewußter künstlerischer That be¬
ruhend, sich nur in der Kunstdichtung findet, zeigt sich jene vereinzelt auftretende
Stileigenthümlichkeit in Werken der Kunstpoesie wie des Nolksgesanges und verlangt
vom Uebersetzer Berücksichtigung. Und so ist als einer der größten Vorzüge der
Vossischen Homerübersetzung die Feinheit zu betrachten, mit welcher der Schatz der
ältern deutschen Sprache und der deutschen Dialecte zur Erzielung dieses alterthüm¬
lichen und individuellen Kolorits verwendet worden ist, ein Vorzug, der mehr als
man gemeinhin glaubt der Schätzung Homers in Deutschland zu gute gekommen ist,
und den keine der späteren Homerübersetzungen bei aller sonstigen größern Genauig¬
keit und Präcision auch nur annähernd erreicht hat.
Es will uns bedünken, als hätte Droysen, der in seiner Aristophanesübertra-
gung so vielfach den glücklichsten Tact in der Wiedergabe auch dieser und verwandter
stilistischen Charakterzüge bewiesen hat, bei Aeschylos sie etwas mehr als billig un¬
berücksichtigt gelassen. Im Uebrigen hat die Uebertragung ihre alten Vorzüge be¬
wahrt und ist einer sorgfältigen und bessernden Revision unterzogen worden, die sich
auf den Ausdruck und auf kritische Prüfung der Ueberlieferung erstreckt. Ueber Ein¬
zelnes wird sich streiten lassen. So hat, um nur ein Beispiel anzuführen, Droysen
die Verse vlmexlior. 973—1006 folgendermaßen geordnet: 973—983, 997—1004,
983 — 996, 1005, 1006, eine sehr künstliche Umstellung und wenig überzeugend,
der gegenüber Dindorfs Verwerfung von Vers 993—1004 svergl. dessen dritte Auf¬
lage des Aeschylos, Leipzig, Teubner, 246 und XI.VIII) weit ansprechender ist.
Nur wird man sich entschließen müssen, auch die beiden höchst lahmen Schlußverse
1005 und 1006 ebenfalls für unecht anzusehen.
In der neuen Auflage hat Droysen den historischen Abriß über die Vorgeschichte
der griechischen Tragödie und die Einleitung in die einzelnen Stücke zu einem
Ganzen vereinigt und dieser Abschnitt bildet den Schluß des Werkes. Hier wird
der Verfasser ohne Zweifel dem meisten und oft auch begründetsten Widerspruch
begegnen, wie denn Res. sich an dieser Stelle damit begnügen muß, seine abweichende
Ansicht von einzelnen Aufstellungen zu constatiren, unter denen als besondere Dif¬
ferenzpunkte beispielsweise die Stellung der Aeschylischen Tragödie zur Tagespolitik,
das Wesen der Trilogie und des tragischen Wettkampfes, insbesondere auch die Re-
construction der Persertrilogie hervorgehoben werden mögen.
Freunde des Alterthums werden sich der neuen Aeschylosbearbeitung freuen.
So bedeutend,"quantitativ und qualitativ, auch die eigentliche sachgemäße Production
auf diesem Gebiete ist, so bescheiden ist die Zahl von Erscheinungen, welche uns
eine willkommene Bürgschaft dafür geben, daß der Kreis der Gebildeten noch nicht
a,anz und ausschließlich von den sogenannten exacten, insbesondere den Naturwissen¬
schaften absorbirt worden ist, so natürlich auch ihre Bevorzugung in einer vorwie¬
gend praktischen Zielen zugewandten Zeit erscheinen mag. Daß im Jahre 1868
eine Uebersetzung des Aeschylos, von einem unsrer geistvollsten und gedankenreichsten
Historiker geschrieben, in dritter Auflage erscheint, ist eine Thatsache, die wir auch
um deswillen mit Freuden begrüßen, weil sie aufs neue beweist, wie tief und un¬
zerstörbar die Antike, unsrer höchsten geistigen Güter zweite Mutter und Pflegerin
in unserm Volke einheimisch geworden ist.
Der Verfasser, der uns bereits aus seinen „Politische» Skizzen" als einsichti¬
ger Patriot bekannt geworden war, berichtet in der vorliegenden Schrift über die
verschiedenen Versuche, welche er gemacht, um seinen Landesherrn, den ehemaligen
König von Hannover nach der Schlacht bei Langensalza zur Entlassung seiner
damaligen Rathgeber und zum Einschlagen einer vernünftigen Politik zu bewegen.
Der schlichte und einfache Bericht über die bezüglichen Verhandlungen, bei denen
es Graf Münster besonders darauf abgesehen hatte, den König von der Uebersiede-
lung nach Wien, abzuhalten, macht der Loyalität und Gesinnung des Verfassers ebenso
viel Ehre, als er dazu dient, die Urteilslosigkeit, den Hochmuth und Dünkel des
„Welsen" in ein grelles Licht zu stellen. Während Graf Münster lediglich als loya¬
ler Privatmann auftritt, der mit den Geschäften nichts zu thun hat und blos um
seinem Gewissen genug zu thun handelnd eingreift, wird er vom Könige von Hause
aus ungnädig empfangen, weil dieser nicht gewohnt ist, andern Rath, als solchen,
den er sich im Voraus bestellt hat, anzuhören. Für einen Augenblick der Stimme
der Vernunft zugänglich gemacht, kehrt König Georg zu seinen thörichten Träumen
der unvergänglichen und unantastbaren Herrlichkeit des Welfenhauses wieder zurück,
sobald der uneigennützige Rathgeber ihn verläßt.
In der zweiten Hälfte dieser Schrift macht Graf Münster von den Schritten Mit¬
theilung, welche er für nothwendig gehalten, um die Selbständigkeit des hannoverschen
Staats zu retten und die preußischen Minister darauf aufmerksam zu machen, daß
sie für den Fall einer Volksabstimmung aus ein der Annexion günstiges Votum nicht
zu rechnen hätten.
Am Schluß spricht der Verfasser sich energisch gegen das Hochverrätherische Treiben
der hietzinger Emigration aus, deren anfangs zweifelhafte Sache im Laufe der Zeit
zu einer schlechten geworden.
Auf S. 489 Z. 12 v. u. dieses Heftes zu lesen: „löste sich die Hostie" statt
„löste sich eine Thür". — S. 491 Z, 7 v. u. „Hebius" statt „Mus. Hobing".
— S. 492 Z. 19 v. o. „Groote" statt „Graefe".
Mit Ver. 54 beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buehhandluttgen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1868.Die Verlagshandlung.