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]]> vom Reichstage. 1—4. S. 77. 118.
238.
ächsische Parlamentsreform. S. 478.
rundlagen der Lehre von den Staats¬
nahmen. S. 437.
ner Correspondenz. (Ans. December.)
476.
scher Monatsbericht. (Ende September.)
26.
scher Monatsbericht. (Ende October.)
230.
scher Monatsbericht. (Ende November.)
389.
sche Rundschau. Mitte Oktober. Die
ere Lage Frankreichs. S. 151.
sche Rundschau. (Mitte November.)
französische Congreßvorschlag. S.314.
sche Rundschau. (Mitte Dezember.)
509.
russischen Ostseeprovinzen und die
sche Presse. S. 485.
und Schilderungen.
Marine Preußen« und Deutsch¬
ds-
re Fahrzeuge zum Schutze des Handels
der Küsten. S. 65.
visos und Transportschiffe. S. 94.
anzerschiffe: technischer Wettkampf der
zer und der Artillerie. S. 245.
schiffe: der „Arminius". S. 291.
rfahrzeuge: der „Prinz Adalbert".
380.
bcrgangsjahr in Hannover. S. 362. —-
to Jahr: Mozart, 2. Ausg. S. 202.
Treitschke: Historische und politische
fsätze. S. 520.
a t s - u n d V o l k s w i s se n s es a f t. Oppen¬
m: Völkerrecht. S. 443. — Hocker:
roßindustrie. S. 444. — Berghaus:
ommersches Landbuch. S. 521.
raturgeschichte, Aesthetik. Strodt-
ann: H. Heine's Leben und Werke.
282. — Bayer: Rede über Rückert.
403. — Wantzel: Göthe in Schlesien.
404. — Scherer - Deutsche Volkslieder.
403. — Neue Classiker-Bibliothek.
522. — Gödcke, Kritische Schiller-
sgäbe S. 517. — Nachlaß der Frau
n Wolzogen. S. 510. — Lemcle:
puläre Aesthetik. S. 524.
crscjzun gen und Antiquitäten.
estphal: Catulls Gedichte. S. 242.—
utarch ub d. Musik. S. 243. — Beuii-
rf und Schöne: Die antiken Bildwerke
Lateran. S. 240.
men und Novellen. Dult: Konrad
II. S. 38. — N. Ewald: Nach 15 Jahren.
30. — Reichenau: Liebesgeschichten.
484.
stblättcr. 1?or »fuera ud »»tra (Verl.
Locilloi). S. 400. — F. Prellers
tudicublättcr in Photogr. Neue Folge.
. 401. — Carstens' Zeichnungen in Phot.
. 401. — G. Koch's Rafael-Galerie.
. 402.
mischtes. Hirth's Parlamentsalmanach.
. 40. — Krenkel: Der Sachs. Ncligions-
d. S. 242.
(Fünfundzwanzig Jcchrc aus der Geschichte Ungarns von 1823 — 1848 von
Michael Horvüth. Aus dem Ungarischen übersetzt von Joseph Novelli. 2 Bde.
Brockhaus, 1867.)
Ein historisches Werk, welches die Ereignisse der Gegenwart im liberalen
Sinne auffaßt und sie zur Freude der liberalen Parteien erzählt, welches auf
politischem Gebiete durchaus dem Fortschritte huldigt, auf kirchlichem Boden diesen
wenigstens duldet und doch aus der Feder eines katholischen Bischofs stammt, ist gewiß
eine große Seltenheit, ja geradezu ein Unicum. Nur die ungarische Abstam¬
mung Michael Horväth's erklärt diese räthselhafte Erscheinung. Gehörte er
einem großen Volke an, dessen nationales Dasein gar nicht in Frage gestellt
werden kann, dessen Existenz so gewiß ist, wie die Sonne am Himmel, wo es
sich nicht mehr darum handelt, eine sichere Grundlage für das Leben und Wirken
zu gewinnen, sondern wo die einzelnen Classen und Stände sich um den größern
Antheil an der Regierung streiten: so würde wahrscheinlich die Kirche ihre An¬
sprüche auf Horvä,es behauptet haben. Als Sohn eines kleinen in seiner
Existenz bedrohten Stammes hängt er zuerst und mit wahrhaft religiösem Eifer
an der Nationalität; diese zu vertheidigen erscheint ihm als die wichtigste
Pflicht, welcher alle besonderen Standesrücksichten weichen müssen. Horvä.es ist
ist zunächst nur Magyar, dann erst Priester und Bischof; er trägt nicht gerade
eine unkirchliche Gesinnung zur Schau, er hat aber für die ultramontane Doctrin
der deutschen und französischen Priester, nach welcher überall das Interesse der Kirche
ausschließlich gewahrt werden muß, kein Verständniß. HorvÄths Gesinnungsgenossen
sind unter dem slawischen und magyarischen Klerus nicht selten. Gebildeter
als durchschnittlich der Mittelstand, mit dem Kern des Volkes in unmittelbarer
Berührung, verhältnißmäßig unabhängiger als die Beamten, haben bei den
Polen, Czechen, Kroaten und Magyaren die Kleriker vorzugsweise sich für die
nationalen Rechte begeistert und selbst den Kampf für die Nationalität nicht
gescheut. So wurde auch Horv^es bereits im frühen Alter ein enthusiastischer
Verfechter nationaler Politik und mit seiner ganzen Persönlichkeit für die For¬
derungen der Magyaren einzutreten gewohnt. Die eigenthümlichen Verhältnisse
des Landes und zufällige Beziehungen erleichterten ihm die politische Laufbahn.
Den einundzwanzigjähriger Priester wählt der Csongrader Comitat zum Notar
und führt ihn auf diese Art in das öffentliche Leben ein. Später, als Erzieher
in adeligen Häusern lernte er die Hoffnungen und Ziele der ungarischen Großen
kennen und den politischen Liberalismus, welcher in den aristokratischen Kreisen
Pesths keineswegs verpönt war, verstehen. Zum Lehrer der ungarischen Lite¬
ratur an der theresianischen Ritteracadcmie in Wien ernannt, brachte es sein
Amt mit sich, für die Macht seines Volkes, für die Größe seines Vaterlandes
zu schwärmen. Wie hätte er sonst den Eifer der Schüler für die Erlernung
der magyarischen Sprache entzünden sollen? Im Jahre 1847 wurde sein Name
zuerst in weiteren Kreisen genannt. Ausersehen, bei der Leichenfeier des Pala-
tinus in Wien die Rede zu halten, benutzte Horv-M diese Gelegenheit, um alle
Beschwerden seiner Nation, gleichzeitig auch alle Wünsche und Hoffnungen un¬
umwunden auszusprechen. Die Rede durfte nicht gedruckt werden, erregte bei der
Umgebung des Hofes kein geringes Mißfallen, gewann ihm dafür aber die
Herzen seiner Landsleute. Bald nach den Märztagen 1848 finden wir Hvrvath
in Pesth, dem nationalen Ministerium unbedingt ergebe», das ihn für seine
Anhänglichkeit mit dem gerade erledigten Czanadcr Bisthum belohnte. Wie so
Viele an sich gemäßigte Männer ließ sich auch Horvu-es von dem Strom der Ereig¬
nisse Wetter treiben, als es ursprünglich sein Wille war. Die wiener Negierung,
durch die ersten, günstigen Kriegserfolgc, die unblutige Eroberung der Haupt¬
stadt übermüthig geworden, baute ihren Gegnern keine goldenen Brücken. Wenn
Ludwig Batthyiini, zum Danke für seine Mäßigung, für sein beharrliches Wi¬
derstreben gegen Kossuths radicale Pläne dem Henker überliefert wurde, so war
es klüger, die ferneren Chancen der Revolution zu benutzen. Schlimmeres
als der Tod konnte ja auch, siel man schließlich in die Hände der Oestreicher,
mißlang der Aufstand, niemanden treffen. Horv-Z-es wurde, theilweise gegen
seinen Willen. Anhänger Kossuths. Er übernahm 1849 das Portefeuille des
Cultus, von ihm ging die Krcuzzugspredigt gegen die Nüssen, die Anordnung
des Bußtags, um die Gefahr vom Vaterlande abzuwenden, aus. Nach dem
Tage von Vilagos und Arad flüchtete Horv-M). Im Hause der Wittwe Bat-
thyänis zu Zürich fand er ein Asyl. Literarisch unermüdlich thätig, erlebte er
noch die Wiederherstellung der ungarischen Verfassung und kehrte, nachdem das
Unglaubliche wahr geworden, der in ekkgiö gesenkte Andrü.ssy, der Leiter der
Regierung, Dttik gewissermaßen Rede.rkönig geworden war, in sein Vaterland
zurück. Sein Bisthum ist ihm aber bis jetzt noch nicht zurückgegeben worden.
Diese biographische Skizze erleichtert das Verständniß des Werkes, welches
unbedingt die beste Leistung des Verfassers, auch weit über Ungarns Grenzen
hinaus Interesse erregt: fünfundzwanzig Jahre aus der Geschichte
Ungarns 1823 — 1848. Wir haben nicht zu fürchten, daß Horvuth g,c!
inerivrom eoelösiav gloriam die Thatsachen verdreht, die Ereignisse unrichtig
zeichnet, falsch färbt. Der Kleriker tritt vollkommen in den Hintergrund zurück.
Desto ausschließlicher macht sich der enthusiastische Ungar, der Stockmagyare,
wie die Wiener sagen würden, geltend. „Lxtrn. KunAaritrirl non est vita,
si est vio, no» estitu/ lautet ein altes ungarisches Sprichwort. Frei über¬
setzt bedeutet dasselbe, daß der echte Magyar für alles Außcrungarische kein
rechtes Verständniß besitz't, daß, wie seine Theilnahme, so auch sein Begriffs¬
vermögen gern an der Landesgrenze stehen bleibt. Der Ungar ist zu stolz, als
daß er sich um das Treiben der Nachbarn ernstlich kümmerte, er ist viel zu sehr
von dem Glauben an die Wichtigkeit der Vorgänge in seiner Heimath durch¬
drungen, als daß er der übrigen Welt irgend welche Bedeutung zugestehen
könnte. Aus diese Weise erklären sich manche Naivitäten in Hvrvirths Buche.
Die schlimmste ist wohl die Charakteristik des Kronprinzen (des spätern Kaisers
Ferdinand) als eines „energischen Menschen, der mehr Verstand besitzt als man
erzählt und als er von sich selbst glauben machen will. Seine Stellung ist
sehr delicat und erklärt alles." Kaiser Ferdinand, ein zweiter Brutus, der Ver¬
stellungskünste übt und der Gegenstand mannigfacher Hofintriguen wurde —
das übersteigt doch alles Maß der Leichtgläubigkeit. Und dennoch erscheint Horvälh
diese einem Briefe Desseroffy's entlehnte Schilderung so richtig, daß er sie
zweimal (I, 197 und 404) wiederholt. Eine kurze Besinnung hätte den Ver¬
fasser von der Unrichtigkeit derselben überzeugt, wozu aber die Mühe der Be¬
sinnung, wenn es sich um eine nichtungarische Persönlichkeit handelt? Aehnlich
flüchtig und unbedacht sind noch viele andere Aeußerungen über fremde Staats¬
männer und allgemeine europäische Verhältnisse. Sie verringern nicht unmit¬
telbar den Werth des Buches — niemand wird aus Horväth die moderne Ge¬
schichte studiren wollen — sie sind aber bezeichnend für die in Ungarn weithin
herrschenden Anschauungen, als deren treuen Vertreter uns der Czanader Bischof
gilt. Aus demselben Grunde finden wir auch Horv^iss nationalökonomische Irr¬
thümer lehrreich. Wärni dieselben nur einer falschen persönlichen Ansicht ent¬
sprungen, so verdienten sie allerdings eine scharfe Rüge. Die Vertheidigung
der Zwischcnzolllinicn. eines starren Schutzsystems, die Verwerflichkeit des Luxus
und aller fremden Industrie, in einem systematischen Werfe vorgetragen, erscheint
unbedingt verwerflich. Anders wen» das nationale Vorurtheil sich darin aus¬
spricht, ein ganzes Volk i» solchen Anschauungen und Maßregeln das Ziel er¬
blickt. Dann erhalten wir durch sie den Schlüssel zum Verständniß seiner
Geschichte, zur Würdigung seiner Schicksale. Was die Ungarn wollten und
was sie fürchteten, lernt man am besten aus ihren nationalökonomischen Wun-
schen und Bedenken kennen. Wir lesen I. S. 143, wo Horvöth die Gründe
für und gegen den Anschluß Ungarns an den deutschen Zollverein angiebt und
die Sorge Einzelner, die ungarische Industrie würde durch den Anschluß gelähmt
werden, hervorhebt: „Andere bezweifelten, nicht ohne Berechtigung, das Zu«
treffende solcher Sorgen, dagegen glaubten sie um so fester, daß der Anschluß
unserer noch nicht genug gekräftigten Nationalität zum Nachtheile gereichen
würde. Der deutsche Zollverein hat zur politischen Einigung des deutschen Volkes
so viel beigetragen, daß man behaupten darf: Jedes Land, welches sich dem
deutschen Zollvereine angeschlossen hat, ist ein Glied der deutschen Nation ge¬
worden, muß früher oder später deutsch werden. Ein großer Theil der In-
dustriellen Ungarns ist deutsch. Wenn Ungarn mit Deutschland in finan¬
ziellen und commerziellen Interessen gleichsam zu einer Familie verschmilzt,
so wird das deutsche Element unseres Vaterlandes, von der ungeheuren mora¬
lischen Macht des Zollvereins getragen, ein solches Uebergewicht erlangen,
daß die ungarische Nation über kurz oder lang ihren sichern Untergang fände."
Unverhüllt schauen wir hier das Ziel der neuen ungarischen Politik: Er¬
haltung der Nationalität. Aber so einfach wie es ausgesprochen wird, ließ sich
dasselbe nicht erreichen. Die sicherste Gewähr für die Fortdauer der ungarischen
Nationalität bildete die alte Verfassung. So lange diese von dem wiener
Hose und den östreichischen Staatsmännern bedroht und nach Kräften verletzt
wurde, so lange alle Anstrengungen der Patrioten aus die Deckung der Ver-
sassungsgrundlagen gerichtet waren, hatte es keine Gefahren, daß sich in Ungarn
selbst ein kritischer Geist regen und die Verfassung nach ihrem innern Werthe
werde geprüft werden. Als aber der hitzigste Kampf vorüber und. Dank dem
zähen Widerstande der Ungarn, die Verfassung wenigstens theilweise in Wirk¬
samkeit gesetzt war, merkten gerade die besten Vaterlandsfreunde, daß die Zeit
der avitischen Constituiion vorüber, ohne gründliche Verfassungsänderungen die
Wohlfahrt der Nation nicht zu erreichen sei. In der ungarischen Constituiion
hatte sich ein prächtiges Stück Mittelalter unversehrt erhalten; eigenthümlich ist der¬
selben kaum etwas anderes, als daß noch im neunzehnten Jahrhundert in ihr galt,
was überall sonst im fünfzehnten Jahrhundert und noch früher abgeschafft worden
war. Die Verfassung noch länger zu conserviren war kaum möglich, die Wand¬
lung aber der mittelalterlichen Staatsform in moderne Institutionen in Ungarn
mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft. In Italien, in Frankreich, in Deutsch¬
land gewann nur die Nation an Rechten, das Volksthum an Macht und Glanz,
was die Munizipien, die Provinzen und einzelnen Landschaften an Vorrechten
und besonderen politischen Eigenthümlichkeiten verloren. Hier überall umspannt
eine Nationalität mehre politische Kreise und es galt, die nationale Einheit
auch auf den staatlichen Organismus auszudehnen. Anders in Ungarn. Die
ungarische Nationalität kann nicht über politische Zersplitterung klagen, sie exi-
feire außerhalb des ungarischen Reiches nicht, ihre politische Bedeutung ist
größer als die materielle Grundlage, ihr Streben ist nicht darauf gerichtet, daß
im nationalen Sinne verbundene, politisch getrennte Länder fester geeinigt
werden, sondern daß ihre Herrschaft in dem von mehren Stämmen bewohnten
Reiche erhalten bleibe. Gerade diese Herrschaft wurde aber durch den Ueber¬
gang vom Mittelalter in das moderne Leben, das nur einfache Majoritätsrechte
kennt, einer gewissen atomistischen Anschauung huldigt, gefährdet. Politisede
Offensive gegen die wiener Fraction. nationale Defensive ^egen die Ansprüche
der Slowaken, Kroaten, Serben und Romunen.so lautet seit zwei Menschenaltern das
Programm der magycirischen Staatsmänner und Patrioten. DieKämpfe, zuerst um die
Wahrung der Verfassungsrechte, dann die Versuche, die Konstitution zu refor¬
mier«, den Lebenszwecken der Gegenwart gemäß zu gestalten, ohne die Natio¬
nalität zu gefährden, bilden den Inhalt der neuern ungarischen Geschichte.
Die Erzählung derselben füllt auch die Blätter des Horv^es'schen Buches. Wir
müssen dem Autor das Zeugniß geben, daß er seine Aufgabe richtig erfaßt hat,
und sie, soweit es einem Magyaren möglich ist, auch unbefangen löst. Wo er
der streng historischen Kritik Blößen giebt, fesselt er doch wenigstens das poli¬
tische Interesse, giebt er klaren Aufschluß über die Taktik der Parteien, über
ihre Ziele und Zwecke.
Von dem langen Reichstage v. I. 1825 hebt Horvg-es seine historische Er¬
zählung an. Mehr als ein Jahrzehnt war seit dem letzten Zusammentritt der
Stände vergangen. In Wien hatte man gehofft, durch Zaudern und Zögern
durch eine rein negative Politik die unbequeme ungarische Verfassung beseitigen
zu können, an die zähe Widerstandskraft der Magyaren aber nicht gedacht. Die
Reichsstände schwiegen, desto lauter und ungestümer sprachen die Comitatsstände.
Gerade jetzt erwies sich das mittelalterliche Wesen der ungarischen Verfassung,
sonst spöttisch verurtheilt, überaus zweckdienlich. Die Vermengung administrativer
und legislativer Gerechtsame, die Vielgliedrigkeit des politischen Organismus,
das durch traditionelles Mißtrauen entstandene System formaler Schwierigkeiten
und Schwerfälligkeiten legte die Angriffe des Hofes, der über kein abhängiges
Beamtenheer verfügte, lahm. Derselbe mußte einen Staatsstreich wagen oder in
das constitutionelle Geleise mit einlenken. Die Scheinheiligkeit Kaiser Franz I.
entschied sich sür das letztere, natürlich mit dem geheimen Vorbehalte, die Ver¬
fassung so wenig ernst als möglich zu nehmen. Der Reichstag 182S trat zu¬
sammen. Nach einer beinahe zweijährigen Dauer liefert er kein anderes Re¬
sultat, als daß dem Fürsten die Anerkennung der Constitution abgerungen, die
Bestätigung der alten Landesrechte abgepreßt wurde. „Allerhöchstdieselben, heißt
es im Reichstagabschiede, betrachten es als ihre größte Sorge, die durch den
Krönungseid bekräftigte Verfassung des Landes zu allen Zeiten zu vertheidigen
und einzuhalten und werden daher Allerhöchstdieselben die Gesetzartikcl 10, 12
und 19 Vom Jahre 1790—1791 nicht nur selbst beständig einhalten, sondern
auch durch andere einhalten lassen." Gerade so schlössen in früheren Zeiten die
Reichstage, auf welchen die Stände den Sieg über den Hof davon trugen.
Die alte Verfassung wurde garantirt, aber nicht reformirt.
Die Reform, von deren Nothwendigkeit die Patrioten überzeugt waren, blieb
besseren Zeiten vorbehalten. Vorläufig wurde eine Deputation eingesetzt, welche
die bereits 1792 entworfenen Reformpläne zu prüfen und neu zu bearbeiten hatte.
Sie trat in der That i» Wirksamkeit, prüfte, arbeitete, beschäftigte die politischen
Geister, unterhielt im Lande die Währung und Aufregung, unmittelbare Resul¬
tate lieferte sie aber nicht. Während die Deputation an eine Reform inner¬
halb des Nahmens der Verfassung dachte, machte sich allmälig die Meinung
geltend, daß dieser Rahmen gesprengt werden müsse, um eine wirkliche Reform
durchzuführen. Bis in die zwanziger Jahre sind die Liberalen die eifrigen Ver¬
theidiger der Konstitution; seit den dreißiger Jahren flehen die Conservativen
für dieselbe ein, denken die Liberalen an ihre gründliche Verwandlung. Dieser
Prozeß ist bei Horvs-es eingehend und richtig geschildert. Er giebt uns ein
deutliches Bild der literarischen Bewegung, welche, wie bei allen anderen kleineren
Völkern, mit der politischen Thätigkeit in enger Beziehung steht, sie theilweise
ersetzt und einleitet. Je eifriger das Studium der Volkssprache betrieben, diese
gebessert und geregelt, in den Kreis der Wissenschaften und der Poesie einge¬
führt wurde, desto mehr sank die Bedeutung der alten diplomatischen Sprache,
des Lateinischen, in welcher die konservativen politischen Gedanken allein richtig
ausgedrückt wurden. So lange man im öffentlichen Leben lateinisch sprach, fand
man von Verböczy keinen Anstoß, war die Geschäftsordnung, die Verhandlungs¬
formen, der ganze politische Apparat vollständig und praktisch. Mit dem Schwinden
der Staatssprache erschien auch alles Uebrige lästig, schwerfällig und veraltet.
Die Pflege der Literatur durchbrach ferner die starren Standesunterschiede, ver¬
lieh den gebildeten Männern, auch wenn sie unadeligen Ursprungs waren, das
Recht, in öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken, während der Anspruch roher
Adeliger auf politische Wirksamkeit zweifelhafter wurde. Der simple Landedel¬
mann, in den alten politischen Traditionen allein heimisch, mit den Chicanen
der Constitution wohl vertraut, aber der occioentalen Cultur bar, früher eine
achtenswerthe Persönlichkeit, erscheint jetzt lächerlich. Auch der Gedankenkreis
der Nation erweiterte sich und nahm, da kein Schriftsteller sich auf die magya¬
rische Ureigenthümlichkeit beschränken konnte, immer mehr das im übrigen Europa
herrschende Gepräge an. Dem literarischen Anschluß an den Westen folgte der
wirthschaftliche.
Man möchte der Schilderung Stephan Szochenyis bei Horväth
wärmere Farben wünschen. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß einem Ungarn,
der auch noch an der unmittelbaren Tagespolitik regen Antheil nimmt, sich für die
neueste Wendung der ungarischen Verhältnisse interessirt, die Charakteristik zweier
Männer nothwendig Schwierigkeiten bereiten muß. Diese sind Stephan Sz6-
chenyi und Ludwig Kossuth. Kein Magyare, in welchem noch historische Er-
innerungen lebendig sind, kann leugnen, daß Kossuch ein Jahrzehnt lang der
angebetete Führer des Volks war, daß in dieser merkwürdigen Persönlichkeit
sich die Empfindungen, Wünsche, Gedanken der Nation am schärfsten und glän¬
zendsten verkörperten. Aber die Konsequenzen der Kossuth'schen Politik will
gegenwärtig kein ungarischer Palmöl mehr anerkennen. Den Schluß der Wirk¬
samkeit des einst allmächtigen Dictators bildet bekanntlich die Proclamation
einer Bundesverfassung, welche Magyaren. Donauslaven und Romanen gleich¬
berechtigt einschließt. Er trat vom Schauplätze mit dem Eingeständnisse ab,
daß die Alleinherrschaft des magyarischen Stammes sich auf die Dauer nicht
halten lasse. Solche Folgerungen kann weder ein Altconservativer noch ein
Anhänger Death heutzutage als richtig anerkennen. Ebenso sehr scheut er auch
SzSchenyis Inconsequenzen. darf er dessen politische Wege und Ziele nicht
billigen, wenn anders das eigne Streben nicht verdammt werden soll.
„Sie haben Unrecht, ruft Szöchenyi in seiner ersten Flugschrift (Hitel, der
Credit), die da sagen, der Ungar sei gewesen; ich meine, daß er erst sein wird."
Kein Wunder, daß dieser Ausspruch als ein revolutionärer galt, SzechcnyiS
Ansichten seiner Zeit als ausschweifend und übertrieben bezeichnet wurden. Einen
größeren Gegensatz als den zwischen der herrschenden politischen Anschauung in den
dreißiger Jahren und Szechenyis Wirken kann man sich kaum denken. In der
Wiedereroberung der alten Verfassung erblickte alle Welt das Heil des Landes,
die Wiederherstellung des alten Landesrechtes bedeutete für Jedermann das Glück
des Volks und nun wurde die ganze Vergangenheit gleichsam als null und
nichtig hingestellt, der Ungar mit seinen Hoffnungen ausschließlich auf die Zu¬
kunft verwiesen. Aber Szechenyis revolutionäre Gesinnung beschränkte sich aus
das wirthschaftliche Gebiet. Reich wollte er sein Vaterland machen und darum
kämpfte er so heftig gegen die Privilegien des Adels, soweit sie die Production
hemmten, den Verkehr fesselten, sprach er der Annäherung Ungarns an den
industriellen Occident das Wort, schwärmte er insbesondere für die englischen
Sitten und Einrichtungen. Unmittelbar die Verfassung anzutasten, eine streng
politische Agitation in das Leben zu setzen, lag nicht in seiner Absicht. Die
Steuerfreiheit des Adels greift er nicht mit Gründen des Rechtes an, sondern
bestreitet sie aus wirthschaftlichen Motiven und ans vorsichtigen Umwegen. Be¬
kanntlich verdankt die Pesth.Ofener Kettenbrücke dem Grasen Szschenyi ihr
Dasein. „Durch die Brücke beabsichtigte er unmittelbar die materielle Hebung
Pesths und die Verwandlung desselben in eine Handelshauvtstadt, aber mit-
telbar erwartete er keinen geringern Erfolg davon, als daß, wenn die Brücke
von einer Actiengesellschaft geHaut und demnach die von allen Passagen zu
entrichtende Mauth den Zauber des Princips der Steuerfreiheit des Adels brechen
würde, es ihm gelingen werde, den Adel zur Steuerzahlung für allgemeine
Zwecke zu gewöhne»." Aehnlich war Szschcnyis Plan einer Zweigroschen-
steuer. An eine Zustimmung des Adels zu einer allgemeinen Steuerpflicht konnte
nicht gedacht werden. Die Comitate wiesen 1841 den Antrag, zu den Do-
mesticalkosten beizutragen, mit sittlicher Entrüstung zurück. Szechenyi hoffte
vom nationalökonomischen Eigennutze zu erhalten, was der politische Egoismus
verweigerte. Er ersann eine Zweigroschensteuer, welche die Privilegien des
Adels nicht grundsätzlich berührte. „Jeder Adelige und Nichtadelige zahlt
jährlich von jedem Morgen Land zwei Groschen, was etwa die Summe von
5 Millionen Gulden betragen würde. Hierauf wurde eine Anleihe von
100 Millionen aufgenommen, deren Interessen (zu 3V-°/°) jährlich mit 3'/-
Millionen und die zur Amortisation dienende 1'/- Million von jener Zwei¬
groschensteuer abgezahlt werden sollten. Auf diese Weise wird das Reich 35
Jahre lang — so lange sollte diese Steuer dauern — über ein Anlagecapital
von 100 Millionen verfügen. Da man aber diese Summe nur nach Verlauf
mehrerer Jahre zweckmäßig investiren kann, so wird der Ueberschuß zur Errich¬
tung einer Bvdcncreditbank verwendet und den Grundbesitzern gegen einen um
1 °/« erhöhten Zins als Darlehen ausgegeben, wodurch dem Lande noch neben¬
bei 60—60 Millionen Gulden erworben werden. Und so wird die Nation in
36 Jahren im Stande sein, etwa 160 Millionen Gulden auf Investitionen zu
verwenden. Wenn das Anlehen getilgt ist, würde auch die Steuer aufhören."
'Wenn die Steuer nicht aufgehört, der Adel nach 36 Jahren dieselbe noch
ferner getragen hätte, würde Szechenyi sich gewiß beruhigt haben. Er war
durchaus kein Freund der avitischen Verfassung, kein blinder Verehrer der „Hunds¬
häute" wie er die Adelspergamente spöttisch nannte. Er besaß aber die Ueber¬
zeugung, daß Ungarn nicht kräftig genug sei, zu gleicher Zeit eine politische
und eine wirthschaftliche Revolution durchzuführen, daß die letztere die unbedingt
wichtigere sei und auch den politischen Fortschritt nach und nach mit sich bringen
werde. Sociale Reformen, welchen keine politische Bewegung zur Seite geht,
können nur durch eine providentielle Negierung in das Leben gerufen werden.
An eine solche dachte und glaubte Szechenyi. Und wenn er, für die Realisirung
seiner Pläne, leider viel zu spät, ein Regierungsamt annahm, so brach er dadurch
keineswegs mit seinen alten Ueberzeugungen, verfuhr er ganz folgerichtig. Nur
von einer weisen, maßvollen Negierung konnte Szechenyis Ideal den lebendigen
Körper empfangen. Persönlich ist er daher von der Inconsequenz freizusprechen,
nicht so die Sache selbst, die er verfocht. Er konnte und durste nicht erwarten,
daß die einmal ausgerüttelte Nation die Natur von Schachsteinen annehmen
werde, die sich ruhig und geduldig jeden Zug gefallen lassen; seine Bemühungen'
scheiterten an der Beschränktheit der östreichischen Regierung, an dem schlechten
Willen des ungarischen Adels, an der Leidenschaft des Volkes. Die Wahrung
der Nationalität lag diesem doch näher als der Erwerb materieller Reichthümer,
an dem Widerstand des Adels gegen Szechenyis Pläne offenbarte es sich, daß die
Reform der Verfassung dennoch dringender und nothwendiger sei, als die Regulirung
der Theiß und die Hebung des Bodencreditö. Szöchenyi, in den dreißiger
Jahren der populärste Mann Ungarns, trat allmälig zurück gegen Kossuth den
politischen Agitator und gegen die Partei des Pesel Hirlap, welche den Par¬
lamentarismus an die Stelle der altständischen Verfassung, die Centralisation
der Verwaltung an die Stelle der Halbsouveränen Comitate setzte, im Straf-
recht, im Kirchenrecht u. s. w. die modernen Humanitären Ideen zu Ehren
brachte.
Auf diesen Wechsel der Parteistellung, auf die Wandlung der politischen
Ziele übte die slavische Bewegung den größten Einfluß. HorvHth ist zu sehr
patriotischer Magyare, um dieselbe unbefangen und billig zu beurtheilen. Nach¬
dem in ganz Europa das nationale Princip als staatenbildend und in der po¬
litischen Welt ausschließlich berechtigt auf die Fahnen geschrieben worden war,
konnte man nicht einem einzelnen Volksstamme zumuthen, sich selbst als un¬
fruchtbar und todt vom Ringkampfe auszuschließen. Auch die Slaven dursten
sich in träumerischen Hoffnungen ergehen und von der nächsten Zukunft die
größten Dinge, Macht, Ruhm erwarten. Horväth wie alle Magyaren sind im
Unrecht, wenn sie an den Idealismus der slavischen Stämme schlechthin nicht
glauben und von Hanse aus Neid, Intriguen u. s. w. als die Wurzel ihrer
Bestrebungen hinstellen. Nur das Eine muß man den Ungarn zugeben, daß
ihnen gegenüber das idealistische Element nicht zur Geltung kam, sie im In¬
teresse der Selbsterhaltung feindlich gegen die Ungarslaven austreten mußten.
Sie konnten nicht ihre glorreiche Geschichte verleugnen, nicht in übel ange¬
brachten Wohlwollen alle historischen Rechte zu Gunsten von kleinen Völker-
schaften, Slovaken, Kroaten, Serben, ausgeben, die arm, unselbständig, unge¬
bildet, im politischen Leben ungeschickt, nothwendig eine Beute des Hofes werden
mußten und damit auch die Einheit des Landes, die Wirksamkeit der Verfassung
gefährdet hätten. Ein Sieg der Slaven, das hat das Jahr 1849 bewiesen,
war mit einem Siege des Wiener Hofes, mit der schimpflichsten Knechtung
Ungarns, gleichbedeutend. Die Ahnung davon beschlich die Ungarn schon früh-
zeitig, sie haßten die slavischen Landsleute wie nur ein wohlhäbiger Bürger
einen zudringlichen Bettler hassen kann, sie fürchteten sie auch als die unwillkür¬
lichen Werkzeuge der wiener Reaktion. Doppelt kräftig betonten sie die Rechte
und Vorzüge der eigenen Nationalität — dieser Tendenz verdankt Kossuth sein
Ansehen. Kein Ungar hat so leidenschaftlich die Slaven bekämpft, dem Ehr-
geize und der Eitelkeit der Magyaren so unbedingt geschmeichelt, den nationalen
Wunsch so unermüdlich gepflegt und genährt wie Kossuth. Doppelt bemühten
sie sich die Sympathien des liberalen Westeuropa zu gewinnen. Daher stammt
die theilweise überstürzte Hast, sich alle modernen Institutionen anzueignen, das
politische Neformfieber, ohne die Reife des Volks für die beabsichtigten Ver¬
änderungen abzuwarten, die beinahe kokette Sucht, als eine Art politisches
Mustervolk zu gelten, an Liberalismus mit allen Völkern Westeuropas zu wett¬
eifern. Doppelt verhcingnißvoll wurde für Ungarn der sogenannte Panslavismus.
Er bestimmte schon in den vierziger Jahren die Richtung der politischen Be¬
wegung und half 1849 das magyarische Volk und das ungarische Land zu Boden
schlagen.
Die Abwehr der slavischen Ansprüche, die Angriffe auf die Verfassung, um
sie im modernen liberalen Sinne zu reformen. bilden den Inhalt der ungari¬
schen Geschichte in den Jahren 1840—48. Mit großem Fleiße hat HorvHth
diesen Abschnitt behandelt, alle wichtigeren Actenstücke sorgfältig reproducirt, den
Gang der Reichstagsverhandlungen und die journalistischen Kämpfe eingehend,
genau und im Ganzen richtig geschildert. Selbst in der hier und da etwas hol¬
perigen deutschen Uebersetzung seines Werkes bleibt die Aufmerksamkeit des Lesers
dauernd gefesselt und das Interesse an den wechselvollen Kämpfen wach erhalten.
Der Ausgang der letzteren blieb nicht lange zweifelhaft. Wie gewöhnlich zu
spät, nahm der wiener Hof erst 1843 die Principien Szechcnyis und auch dann
noch nicht vollständig und ehrlich an. Georg Apvonyis Berufung zum Kanzler¬
amte hätte ein Jahrzehnt früher gute Früchte getragen, ehe Kossuths Agita¬
tion den Boden aufgewühlt, der Pesel Hirlap Centralisation und Parlamentaris¬
mus als unauflöslich verbunden dargestellt hatte. Jetzt stieß auch die bestge¬
meinte Maßregel der Hofkanzlei aus das von dem populären Agitator genährte
Mißtrauen und fand der Plan einer starken centralisuten Negierung in dem
Rufe nach einem verantwortlichen Ministerium und einem Parlament sein Gegen¬
gewicht. Noch andere Umstände, die eitle Schwäche des neuen Palatin, die Zer¬
fahrenheit der wiener Staatsmänner traten hinzu, um den Sieg der liberalen
Opposition zu sichern. Am Schlüsse des Reichstages 1847—1848 hatte sie alle
ihre Ziele erreicht. Die national-magyarische Grundlage des Staats war aner¬
kannt, eine verantwortliche Regierung errichtet, ein Parlament an die Stelle des
ständisch-gegliederten Reichstages getreten, zahlreiche Verwaltungsrcformen, alle
bestimmt, Ungarn zu modernisiren und das orientalisch-mittelalterliche Gepräge
von ihm abzuschleifen, waren vorbereitet, wenigstens versprochen. Die Ungarn
haben volles Recht zu behaupten, alle diese politischen Aenderungen wären bereits
vor dem Einbrüche der Revolution in der Durchführung begriffen und ihnen
verbürgt gewesen. Die Märztage 1848 kürzten nur die Debatten ab und schoben
die letzten Schwierigkeiten und Hindernisse bei Seite. Sie betrachten die neue
Verfassung als das nothwendige, naturgemäße Resultat eines hundertjährigen
Kampfes, als den organischen Schlußstein ihrer politischen Entwicklung. Trotz-
dem wurde dieselbe die längste Zeit als ein Product revolutionären Schwindels
verurtheilt, mußte sich, kaum proclamirt, bereits wieder außer Wirksamkeit gesetzt
sehen und trat nach einer neunzehnjährigen Unterbrechung, Dank der preußischen
Siege und der Beust'schen Taucherpvlitik. erst in diesem Jahre in das Leben.
Ueber diesen letzten Zeitraum seit 1848 berichtet nicht mehr Horväths
Buch; doch drängt es unwillkürlich jeden Leser, das politische Resultat des Kampfes,
von welchem Horväth ausführlich erzählt, zu ziehen und wie sich der gegen¬
wärtige Zustand zu der früheren Entwicklung verhalte, zu untersuchen. Mit
einigen bescheidenen Andeutungen, die sich aus diesen Punkt beziehen, mag die
Anzeige des verdienstlichen Horväth'schen Werkes schließen.
Das Verhältniß Ungarns zu den übrigen Provinzen Oestreichs war bis
zum Jahre 1848 ein ziemlich unklares und verworrenes, doch lag es nicht im
Interesse der einen oder andern Partei, dasselbe ernstlich zu lösen. Als
Dualismus mußte dasselbe eigentlich definirt werden. Verfassungsmäßig hing
Ungarn nur durch die Person des Königs mit den Erbländern zusammen, daß
es nicht in der Weise der letzteren regiert werde, gehört zu den wichtigsten
Privilegien des Reiches. Consequcnt wurde aber dieser Dualismus keineswegs
durchgeführt. Der Absolutismus der im übrigen Oestreich unbedingt herrschte,
machte sich auch in der Behandlung der ungarischen Angelegenheiten vielfach
geltend, auf die äußere Politik, auf die Reichsfinanzen übten die ungarische Hof-
kanzlei und der Preßburger Reichstag nicht den geringsten Einfluß. Anders
gestaltete sich die Sache, als auch in Wien an die Stelle des todten Absolu¬
tismus ein lebendiges constitutionelles Regiment trat. Dieses konnte sich nicht
mit der gemeinsamen persönlichen Spitze begnügen, sondern verlangte noch eine
sachliche Gemeinsamkeit, dehnte den östreichischen Staatsbegriff auch auf Ungarn
aus. Im Namen der östreichischen Staatseinheit sollte der ungarische Dualismus
gebrochen werden, der in Wien nur als eine Abwehr des alten Absolutismus
betrachtet wurde, nach dem Sturze des letztern wenig zeitgemäß mehr erschien.
Die konstitutionelle östreichische Einheitspartei eröffnete den Kampf gegen das
spröde Ungarn; nachdem jene, impotent wie sie war, von der unitarischen Ceu-
tralisationspartei bei Seite geschoben wurde, setzte diese den Kampf fort. Wie
mühselig sie endlich den Sieg errang, wie brutal und unmenschlich sie ihn mi߬
brauchte, ist bekannt. Der ungarische Dualismus, das Haupthinderniß des
östreichischen Einheitsstaats war gebrochen, der Einheitsstaat aber darum noch
nicht aufgebaut. In den nächstfolgenden fünfzehn Jahren zeigt sich die Tüch¬
tigkeit und politische Kraft des magyarischen Volksstammes, seine Integrität und
Ueberzeugungstreue im glänzendsten Licht. Schade, daß dieser Zeitraum 1880
—1865 noch keinen Historiker gesunden. Er ist ebenso reich an dramatischen
Scenen, wie an politischen Lehren. Auch der Hartherzigste kann sich der Thränen
kaum erwehren, wenn er von den namenlosen Leiden liest, die über Ungarn
hereinbrachen, auch der Trübsinnigste muß lachen, wenn ihm zur Abwechslung
die unerhörten Dummheiten der wiener Staatsmänner uno ihrer Sendlinge
vorgeführt werden. Die Ungarn erduldeten alles, sie ertrugen die brutale Herr¬
schaft Haynaus wie die kleinlichen Intriguen und Plackereien der späteren Dik¬
tatoren. Die Raubthiere und das Ungeziefer brachen nicht ihren Muth, nicht
ihre Geduld. Daß das Treiben der Auditöre, das an die schlimmsten Zeiten
Caraffas erinnerte, auch nicht einen Act der Selbsthilfe hervorrief, spricht besser
als jedes andere Factum von der politischen Sittlichkeit der Magyaren. Die
ganze Zeit über beharrten sie bei der Forderung des strengen Rechtes. Dieses
konnte unterdrückt werden, niemals aber gaben sich die Ungarn dazu her. es
auf höhern Befehl oder des zeitlichen Vortheiles wegen als Unrecht anzuerkennen.
Sie duldeten viel und warteten lange. Endlich wurden sie ihrer Gegner Herr.
Was freier Wille, die Ueberzeugung vom Recht, die politische Klugheit nicht
zuwege brachten, dazu zwang endlich die bittere Noth. Herr von Beust fischte
den „Ausgleich mit Ungarn" als Rettungsanker auf und fand in der Befriedi¬
gung der magyarischen Ansprüche den einzigen Ausweg, dem drohenden Sturze
der östreichischen Macht zu entgehen. Die Ungarn besitzen jetzt ihre Verfassung,
ihr verantwortliches Ministerium, ja sogar wieder den legitimen König, der durch
einen förmlichen Eid, durch Krönung und Salbung an die Constitution gebunden
ist. Der Dualismus ist ein östreichisches Grundgesetz geworden, anerkannt für
die eine NeichslMste ebensogut wie für die andere.
Noch wäre es aber voreilig zu triumphiren, noch hat der Dualismus sich
nicht in politischen Stürmen bewährt, noch kann man nicht mit der gleichen
Zuversicht behaupten, die politische Weisheit ist bei den Ungarn eben so aus¬
gebildet, wie ihr Rechtssinn, im positiven Wirken sind sie eben so stark wie in der
der Abwehr und Zurückweisung. Daß sie unter den übrigen östreichischen
Stämmen theils geheime Neider, theils offene Gegner, keinen einzigen Freund
besitzen, ist ihnen wohl bekannt, aber an und für sich kein Gegenstand bäng¬
licher Sorge. Sie fühlen sich sowohl den einzelnen Slavenstämmen, wie na¬
mentlich den Deutschöstreichern mit guten Gründen weit überlegen und da
zwischen Slaven und Deutschen in Oestreich keine Verbindung denkbar ist, so
fürchten sie die Angriffe derselben nicht. Die Gefahr liegt vielmehr in der
Lässigkeit, welche die Ungarn selbst, gegenüber de.r Pflicht, ihr Verhältniß zu
Oestreich, die „gemeinsamen Angelegenheiten" pr. alises zu regeln, offenbaren.
Es giebt in Ungarn viele Menschen, namentlich in ländlichen Kreisen, welche
die wiedererobcrte Verfassung mit der Steuerfreiheit für gleichbedeutend halten,
am liebsten ihr Land von den anderen Provinzen ganz isolirten, weil jede Ver¬
bindung mit finanziellen Opfern verbunden ist. Es giebt andere, die das Ver¬
hältniß Ungarns zu Oestreich, wie jenes Serbiens zur Pforte auffassen. Man
muß vorläufig dem Kaiser in Wien einen Tribut entrichten, bis es gelingt, das
Land ganz von der östreichischen Oberherrlichkeit zu befreien. Je geringer der
Tribut ausfällt, desto besser. Die herrschende Partei hält wohl Ungarn für ein
lebendiges Glied des Kaiserstaates, glaubt an eine dauernde Verbindung, wagt
aber mit den Vorurtheilen der Landsleute nicht zu brechen, sieht nicht ein, daß
nur in der Abstraction der Dualismus die gegenseitige Gleichgiltigkeit bedeutet,
daß in Wirklichkeit das ungarische Interesse nur dann gewahrt bleibt, wenn der
ungarische Standpunkt auch in den allgemeinen östreichischen Angelegenheiten mit
zur Geltung kommt.
In der Erörterung des ungarischen Beitrags zu den Reichsfinanzen, der
gegenwärtig die Deputirten des ungarischen Reichstags beschäftigt, wird, wie
uns scheint, ein bedenklicher Weg eingeschlagen. Es mag für den Augenblick
bequemer sein, die Quote recht niedrig zu stellen, sich ein Prcicipuum zu be¬
dingen, im Uebrigen es den Erbstaaten zu überlassen, wie sie den Rest auf¬
bringen. Das geringfügige Anbot ist in Ungarn populär, die Nichteinmischung
in die „cisleithauischen" Finanzen entspricht dem formalen Rechte. Aber unpo¬
litisch ist und bleibt es in hohem Grade. Man kann zugeben, daß die politische
Halbirung des Reichs nicht süglich auf die Finanzen übertragen werden kann,
Ungarn an Leistungsfähigkeit hinter der andern Reichshälfte zurücksteht. Dann
aber mußte nicht achselzuckend gesagt werden: Wir können nur so viel oder so
wenig bieten, seht zu, wie ihr das andere herauspreßt. Gerade die Ungarn
müßten sich der ohnehin hartbestcuerten Erbländer annehmen und so argumen-
tiren: Weil wir nicht mehr geben können, die Ergänzung des Fehlenden aber
die Erbländer zu hart träfe, so muß das Gesammterforderniß herabgesetzt werden.
Statt um die Höhe der eigenen Quote zu feilschen, müssen die Ungarn auf
eine durchgreifende Finanzreform dringen. Staatsbankerott ist freilich ein
häßliches Wort, und daß die magyarischen Staatsmänner dasselbe nicht
gern im Munde führen, begreiflich. Ist denn aber die stetige Steigerung des
Deficits, die periodische Vermehrung des Staatspapiergeldes eine lachende Per-
spective? Den gegenwärtigen Machthabern in Wien ist es nur darum zu
thun, den Credit so lange sich zu erhalten, bis bessere politische Conjuncturen
die Wiederaufnahme der alten Politik, das deutsche Primat und die Centrali¬
sation in Oestreich möglich zu machen. Wollen die Ungarn dazu helfen, dann
muß man ihnen die hettliche Schonung der Staatsschuld empfehlen; wollen sie
aber ihre Verfassung sichern, wollen sie den notorischen Vellöitäten der wiener
Regierung einen Riegel vorschieben, dann dürfen sie auch vor der Frage, wie
die Kosten der Staatsschuld zu mindern sind, nicht ängstlich stehe» bleiben.
Das gegenwärtige Geschlecht außerhalb Ungarns wird, wenn sie es aus seinen
Bequemlichkeiten aufrütteln und Opfer verlangen, ihnen fluchen, gewiß; im an¬
dern Falle werden sie aber die künftigen Geschlechter innerhalb und außerhalb
Es ist eine auffallende und sehr bemerkenswerthe Thatsache, daß bei dem
großen Interesse, welches dem Studium des classischen Alterthums in den wei¬
testen Kreisen der Gebildeten gewidmet wird, bei der Kober Stufe der
Vollkommenheit, aus welcher die politische Geschichte, die Philologie, die
Epigraphik, die Alterthümer :c. Roms sich jetzt befinden, die Kunde der
römischen Baukunst auf einer verhältnißmäßig so niedrigen Stufe steht,
daß eingehende wissenschaftliche Darstellung derselben seit Hirt nicht ein¬
mal versucht worden ist. Und doch haben die römischen Ruinen als bedeutendste
und beredteste Zeugen der Macht des Herrscherstaates der alten Welt seit Jahr¬
hunderten das lebhafteste Interesse auf sich gezogen, sind sie oft beschrieben, ge¬
zeichnet, gemessen und seit dem fünfzehnten Jahrhundert wiederholt ganz oder theil¬
weise nachgebildet worden. Aber eine gründliche, wissenschaftliche Erforschung
der in Rom vorhandenen baulichen Ueberreste, deren fast täglich neue ans Tages¬
licht kommen, und oft eben so schnell und ohne daß der richtige wissenschaftliche
Gebrauch von ihnen gemacht worden, wieder verschwinden, ja selbst gewissen¬
hafte, genaue Aufnahmen der meisten Monumente fehlen noch immer. Ohne
eine bis in alle Einzelnheiten gehende sorgfältige und genaue, auf literarischen
Hilfsmitteln, besonders Inschriften und Kritik der Kunstformen beruhende mono¬
graphische Behandlung aller einzelnen Denkmale ist aber eine wirkliche Ge¬
schichte der Baukunst nicht möglich.
Nach A. Hirt haben zunächst Bunsen und seine Freunde viele verdienst¬
volle Untersuchungen gemacht; ihr gemeinsames großes Werk, die „Beschreibung
der Stadt Rom" wird stets ein Quellen-Werk bleiben. Später hat A. Nibb y
während einer langen Reihe von Jahren in einer sehr begünstigten Stellung
in Rom mit großem Fleiß eine Menge neuen, besonders literarischen Materials
zur Erklärung der Denkmale zusammengetragen, und in seinem sehr nützlichen
Weite „Koma rttill' armo 1838" in Form von Monographien über alle be¬
deutenderen römischen Denkmale publicirt. Auf den Schultern Nibby's stehend
hat kürzlich Franz Reder in seinem verdienstvollen Buche „die Ruinen Roms"
die vornehmsten antiken Bauten der Stadt monographisch behandelt, Nibbys
Aufsätze durch die Resultate deutscher Forschungen und mannigfacher selbständi¬
ger Untersuchungen bereichert und den, freilich noch mangelhaften, Versuch ge¬
macht, die Resultate aller Einzelforschungen in einer Baugeschichte Roms zu¬
sammenzufassen. Außerdem haben mehre andere bedeutende Gelehrte manches
Einzelne von großem Werthe geliefert. Doch fehlt noch viel zu einer „Geschichte
der Baukunst in Rom", geschweige denn zu einer „Geschichte der römischen
Baukunst", da zu einer solchen alle in den einzelnen Provinzen Europas. Asiens
und Afrikas zerstreuten, oft noch wohl erhaltenen Baudenkmale in Betrage
gezogen werden müssen.
Eine Geschichte der Baukunst in Rom läßt sich — das ist gegenüber man¬
chen neueren Arbeiten zu erinnern nicht überflüssig — nur in Rom selbst, im
Angesicht der Monumente schreiben. Die reichsten Mittel dazu hatte der mit
vielen Kenntnissen und genauester Kunde des Lokals ausgestattete L. Carina.
Doch sind seine großen und sehr kostbaren, daher wenig verbreiteten, Werke —
manche Verdienste unbestritten — wissenschaftlich geradezu unbrauchbar. Seine
meist ungenauen, ganz fabrikmäßig angefertigten Zeichnungen, stellen leider nie¬
mals das Monument dar wie es ist, sondern wie Carina es sich zur Zeit seiner
Vollendung dachte. Seine Restaurationen sind keineswegs immer im Geiste
des Alterthums erfunden. Ja es kommt vor. daß er dasselbe Bauwerk —
z. B. den sogenannten terrrpio act vio Reäioulo — in zwei verschiedenen
Werken auf zwei gänzlich verschiedene Weisen restaurirt darstellt, ohne im Text
jemals anzugeben, wie viel von dem Dargestellten alt, wie viel nach eigener
Idee hinzugefügt ist. Carina liefert sogar Zeichnungen von Bauwerken —
s. LäiLsj äei contorm al Roms, das. 20 — davon keine Spur vorhanden ist,
welche wahrscheinlich auch gar nicht existirt haben. Seine Werke sind daher
geeignet, die größeste Verwirrung hervorzurufen, und haben in der That schon man-
chen, welcher der Autorität des berühmten Mannes traute, getäuscht. Man
darf sie daher nur vor den Monumenten selbst und immer nur mit der
größesten Vorsicht beruhen.
Alle diese Werke enthalten nur Vorarbeiten für eine Geschichte. Es sind
mehr oder weniger bearbeitete fast nie fertige Bausteine. Von einer wissen¬
schaftlichen Geschichte der römischen Baukunst verlangen wir aber eine
möglichst klare Darlegung der den Architekten in den verschiedenen Periode»
gestellten Aufgaben, eine Beschreibung der denselben zu Gebote stehenden Mittel
an Material :c., eine Untersuchung, auf welche Weise die Architekten ihre Auf¬
gaben unter Berücksichtigung des Klimas, der Sitten und Gebräuche des Volkes
und der ihnen zu Gebote stehenden Mittel gelöst haben, also besonders eine
Entwickelung der Grundrißformen von Baulichkeiten für besondere Zwecke (Ba¬
siliken, Thermen, Privathäuser:c.). ferner eine Darstellung der Entwickelung
und Ausbildung der auf dem Material und der jedesmaligen Ausbildung der
Technik beruhenden Constructionen, der an die Constructionen sich anschließenden
einzelnen ästhetischen Kunstformen u. s. w. Constructive und ästhetische For¬
men sind oft durch Einflüsse von auswärts modificirt worden. Solche Ein¬
flüsse, mögen sie durch den Cultus, durch Handelsverbindungen oder politische
Ereignisse, durch bedeutende einflußreiche Männer (August, Hadrian, Apollodor),
durch Epoche machende Werke z. B. den Bau des Pantheon, (von welchem mehre
antike Nachahmungen in Rom selbst sich noch erhalten haben) verursacht Seen.
sind sorgfältigst aufzusuchen und nachzuweisen. Ferner ist zu ergründen, in
welcher Weise die Architektur in den Provinzen von denen der Hauptstadt,
welcher sie doch nachahmten, abweichen, endlich welches Schicksal die römischen
Bauten während der Zeit des Mittelalters bis auf unsere Tage gehabt haben.
Daß die Werke von Kugler (noch am besten, weil sie auf Hirt beruhen) Luvte,
Reder, Friedrichs :c., welche nur eine Zusammenstellung und mehr oder
weniger sachgemäße, meist nur kurze Besprechungen der hervorragendsten und
bekanntesten Baudenkmale gaben, eine Geschichte der Baukunst in diesem Sinne
nicht sind und sein wollen, sieht jeder Kundige. Aber die besten dieser Com-
pendien machen das Verlangen nach einer Geschichte der römischen Baukunst,
welche als die Mutter der während vier Jahrhunderten die ganze Welt beherr¬
schenden Renaissance von besonders hoher Wichtigkeit ist, um so reger.
Um zu dem gewünschten Ziele zu gelangen, scheint es vortheilhaft, mit
einer tiefer eindringenden Bearbeitung der Denkmale aus den ältesten Zeiten
zu beginnen, von welchen verschiedene, sehr wichtige Ueberreste erst vor kur¬
zem ans Licht gekommen sind. Die ältesten Verhältnisse sind die einfachsten,
die Constructionen noch primitiv, aber es hat auch hier seine eigenthümlichen
Schwierigkeiten, aus unseren complicirten Verhältnissen sich in diejenigen so
früher Entwickelungsperioden zurück zu versetzen. Daher kommt es denn, daß
z.B. die Art und Weise der Befestigung der ältesten Städte nur sehr selten richtig
verstanden worden ist, obgleich die Dinge seit Jahrhunderten klar vor aller Augen
liegen, und in Latium z. B. die einfachsten sind, die man sich denken kann.
Die Befestigung der ältesten, stets auf Bergen erbauten Städte Mittelitaliens,
bestand eben in den von Natur schroffen Felswänden, bei welchen nur an ein¬
zelnen Theile» die Kunst ein wenig nachzuhelfen hatte. Wo die Natur diese
Verhältnisse nicht bot, suchte man sie auf künstlichem Wege durch Anlage von
Futtermauern u. tgi. nachzuahmen. Ein längs der Anhöhe aufsteigender, daher
von der Höhe selbst leicht zu vertheidigender Clivus bildete den einzigen Zu¬
gang zu solchen Städten. Das ist alles. Abeken hat in seinem treff¬
lichen Buch- „Mittelitalien vor den Zeiten römischer Herrschaft" schon auf
diese Verhältnisse hingewiesen, ohne daß man später davon den rechten Gebrauch
gemacht hätte. — Die älteste Stadt Rom bestand aus fünf solcher einzelnen,
nahe bei einander belegenen Bergstädten, Palatin, Capitol, Quinnal, Caelius
und Aventin, welche durch tiefe Thäler und Sümpfe von einander getrennt
waren. Jede dieser Städte war einzeln befestigt; anfangs befehdeten sie sich
untereinander. Als sie sich aber verbunden, beschloß man (der Sage nach unter
Tarquinius Priscus), diese fünf Städte mit einer gemeinsamen Befestigung zu ver-
leben, sie also zu einer einzigen Stadt zu vereinige». Man verband also
die Festungsmauern untereinander durch Hinzufügung kleiner Strecken von frei¬
stehenden Mauern, welche dann aber mit Wall und Graben versehen werden mußten.
Später (der Sage nach unter Servius Tullius) wurde auf den Höhen des
Esquilin und Viminal der große, nach diesem Könige benannte Wallbau ans-
geführt, welcher den Mauerring schloß. Damit erst war die Gründung
Roms als Stadt vollendet.
Dieser heroische Mauerbau ist vielfach von den bedeutendsten Gelehrten be¬
handelt worden. Er bildete ein Lieblingsthema des um die Topographie der
Stadt Rom hochverdienten Becker, war bisher seiner Anlage und Eonstruction
nach, aber noch niemals gründlich untersucht worden, in Folge dessen denn auch
die Angaben über den Lauf der Mauern und ihre Thore mannigfach von einander
abweichen. Die meisten Topographen äußern sich über die Beschaffenheit der
Mauern gar nicht. Carina nahm an, daß die heroische Mauer freistehend,
nach Art der acht Jahrhunderte später erbauten aurelianischcir Stadtmauer,
auf den Höhen die Hügel umzogen habe. Seine Restauration ist durchaus
willkürlich und falsch. Der Wahrheit am nächsten kam Niebuhr und nach
ihm Schwegler in seiner leider unvollendeten „Römischen Geschichte."
Unsere Kenntniß von der Art und Weise der Beschaffenheit der heroischen
Befestigung trat in ein neues Stadium als im Jahre 1862 am FuHe des
Palatin Reste der ältesten Befestigung der palatinischen Stadt ausgegraben wurden.
Darauf folgten dann bald die Entdeckungen anderer Mauerreste am Aventin
und am Quirinal. Im April des Jahres 1862 endlich wurde gelegentlich bei
der Anlage des Centralbahnhofes für Rom in der Villa Negroni der Agger
des Servius Tullius durchstochen. Man fand die Futtermauer, welche den Wall
stützte und konnte den Wall selbst in seinen Dimensionen erkennen. Von dem
archaeologischen Institut zu Rom mit der Aufnahme dieser ehrwürdigen Neste
beauftragt, habe ich dieselben im Frühjahr 1862 genau vermessen und die
Resultate meiner Untersuchungen in Gemeinschaft mit meinem Freunde E. Pinder
veröffentlicht.*)
Während des Winters 186S—66 endlich habe ich alle ächten oder zweifel¬
haften Ueberreste dieser alten Mauer einer genauen vergleichenden Untersuchung
unterzogen, habe die Terrainverhältnisse der Siade Rom genau studirt und die
erhaltenen Mauerreste mit den Befestigungsmauern anderer benachbarter Städte
und den betreffenden Nachrichten der alten Autoren verglichen und bin auf diese
Weise zu einer Reihe von Resultaten gekommen, welche mit allen anderen be¬
glaubigten Nachrichten über die Urzeit Roms übereinstimmen und auch über
manche andere Verhältnisse neues Licht verbreiten.
In meiner Abhandlung „die Befestigung Roms durch Tarquinius Priscus
und Servius Tullius" (?diIo1oFUS La. XXV. Heft 4) war ich bemüht, alle
diese Befestigung betreffenden Verhältnisse, den Gang der Mauer, ihre architek¬
tonische Gliederung, ihre Geschichte und erhaltenen Reste möglichst vollständig
darzustellen. Zwei Momente mögen hier erwähnt werden. Aus dem Princip
der Construction läßt sich erweisen, daß es nicht bloße Willkür war, wenn
Servius Tullius die zu seiner Zeit noch unbewohnten Hügel Viminal und
Esquilin, Ausläufer desselben Hochplateau, dem auch der Quirinal angehört, in
den Stadtbezirk hineinzog, sondern constructive Nothwendigkeit. Eine die fünf
Bergstädte umfassende Ringmauer nach dem damals in Mittelitalien üblichen und
für jene Zeit sehr praktischen System wäre auf andere Weise nicht zweck¬
mäßiger d. h. nicht fester und kürzer herzustellen gewesen. In Betreff der
Thore ferner weicht meine Ansicht wesentlich von denen anderer Forscher ab.
Die Anzahl derselben ist bisher stets viel zu groß angegeben worden. Dem
nachgewiesenen Princip der Befestigung gemäß mußte dieselbe aber möglichst klein
sein. Ich habe wahrscheinlich gemacht, daß der größeste Theil der Thore, deren
Namen uns die alten Autoren überliefert haben, deren Lage sich aber nur in
den seltensten Fällen mit Sicherheit nachweisen läßt, zur Zeit als die heroische
Befestigung vollendet wurde, noch nicht vorhanden war, sondern daß dieselben
erst, als seit den punischen Kriegen die Furcht vor Feinden verschwunden war,
nach und nach im Laufe der Jahrhunderte, je nachdem das Bedürfniß nach
freierer Communication sich herausstellte, angelegt sind. Die Zeit der Entstehung
dieser später hinzugefügten Thore ließe sich in einigen Fällen vielleicht mit Hülfe
der Ereignisse, bei deren Erzählung sie zuerst genannt worden, feststellen.
Im Anschluß an jene Untersuchungen der größten baugeschichtlicher That
des ältesten Rom hoffe ich nun nach und nach zunächst die anderen Bauten aus
der Zeit der Könige, welche in Gemeinschaft mit der heroischen Mauer die
Gründung der Stadt Rom in architektonischer Hinsicht darstellen,
in ihren charakteristischen Eigenschaften zu beschreiben und dann die nur spar¬
sam erhaltenen und chronologisch sehr schwer zu bestimmenden Denkmale aus
der Zeit der Republik zu untersuchen, um auf diese Weise ein Gerüst herzu¬
stellen, in welches die Resultate späterer Entdeckungen sich leicht einfügen lassen.
Ein Kapitel der Geschichte der römischen Baukunst, welches bisher fast noch
gar nicht bearbeitet worden ist. und doch zu den allerwichtigsten derselben gehört,
ist der römische Backsteinrohbau. Man hat meist nur auf die großen
Monumente in Travertin und Marmor Rücksicht genommen, bat wohl gelegent¬
lich der kurzen Besprechung der in Rom zur Verwendung gekommenen Bau¬
materialien auch der Ziegel gedacht, ohne jedoch zu bemerken, daß gerade sie
das in Rom am meisten zur Anwendung gekommene Baumaterial sind, welches
uns in den Ruinen noch heute überall entgegentritt. Freilich ist der gebrannte
Thon unscheinlich, kann mit der Pracht des carrarischen weißen und den fremden
farbigen Marmorarten sich nicht messen, aber die Ziegel sind ein höchst bedeu-
tender Factor der ganzen architektonischen Entwickelung Roms, sowohl in con-
structiver als ästhetischer Beziehung.
Die Anwendung des gebrannten Thon für Zwecke der Bau- und
Bildkunst war im alten Etrurien allgemein verbreitet und zu hoher Vollendung
ausgebildet. Von den Etruskern lernten die Römer diese Technik. Thon findet
sich in der nächsten Umgebung Roms in sehr vorzüglicher Qualität und in
großen Massen. Gute gebrannte Ziegel waren daher leicht herzustellen und in
allen Fällen brauchbar, während alle anderen Baumaterialien Roms nur mit
Auswahl verwendbar sind. Der Tuff, aus welchem die Hügel Roms bestehen,
ist nicht hart genug, um tectonische Formen aus demselben herzustellen. Er
wird meist um für Unterbauten, Futtermauern und dergleichen verwendet. Pe-
perin, welcher schon zu den Zeiten der Könige für Staatsbauten (Agger des
Servius Tullius), und später sehr oft verwendet wurde, mußte erst von Albano
oder Gabii herbeigeschafft werden und war für feinere decorative Ausbildung
doch nicht genügend. (Sarkophag des Scipio Barbatus im Vatican.) Den
Travertin. ein sehr vorzügliches Baumaterial, mußte man erst von Tivoli
herbeiholen; er war deßhalb nur für Staatsbauten (Colosseum, Grabmal des
Bibulus) und für die reichsten Privatleute (Grabmal der Caecilia Mctella) zu¬
gänglich. Man war daher vorzugsweise auf gebrannte Ziegel angewiesen.
Sie bildeten in Rom zu allen Zeiten das am leichtesten zu erlangende und
deßhalb billigste Material. Dazu kam noch die nahe Verwandtschaft der Römer
mit den Etruskern, welche in Arbeiten in gebranntem Thon in hohem Grade
geschickt waren. Der Backsteinrohbau war nicht nur bei Privatbauten und kleinen
Staatsbauten im Gebrauch, sondern kam sogar bei den Haupttempeln Roms
zur Anwendung, war daher wohl die eigentliche national-römische Bau¬
weise. Vitruv (II, 3) spricht ausführlich von ihm.
Als seit den Zeiten Augusts Marmor in größerer Menge nach Rom kam,
wurden die äußerlich sichtbaren Kunstformen, namentlich Capitelle, Gesimse.
Wandbekleidungen :c. aus Marmor gemacht. Den Kern derselben stellte man
aber nach wie vor aus Gußmauerwer? mit kleinen Tuffstücken, die Gewölbe und
alle constructiv wichtigeren Theile aber aus Ziegeln her, wie solches die Ruinen
der Kaiserpaläste auf dem Palatin, die Thermen ze. noch heute zeigen. An
ihnen sieht man deutlich, auf welcher hohen Stufe der Vollkommenheit die Be¬
reitung der Ziegel, die man in außerordentlich großen Dimensionen anwendete,
sich befand. Erst zur Zeit des Constantin wendete man in übertriebenen Luxus
ZUM Theil kolossale massive Marmorblöcke an, (5arm8 quaärjü'vns im Vela-
brum. Bogen des Constantin) während der Kern der Basilica des Constantin
noch aus Ziegeln besteht. Es kann demnach nicht befremden, daß neben den
Bauten aus Marmor auch der Ziegelrohbau, als der eigentlich nationale, noch
immer fleißig cultivirt worden ist. Daß die Formgebung im Ziegelbau viel¬
fach verschieden von den Bauten in Marmor, daß im erstem, besonders bei
Grabesbauten, sich noch mancherlei alterthümliche Formen bis in die spätesten
Zeiten erhalten haben, liegt in der Natur der Sache.
- Die nicht sehr zahlreichen uns noch heute erhaltenen Reste von künstlerisch
durchgebildeten Ziegelrohbauten — das bekannteste und schönste Beispiel ist
ein Grabmal, der sogenannte ^ompio äst vio Keäioulo im Thal der Cafarella,
ferner die Kirche S. Albano in der Nähe der Via ^.xM, einige Gräber an
der Via I.g,lag, u. f. w. — sind, wie schon angedeutet, bisher wenig beachtet
worden. Man hielt sie, die hohe Bedeutung des römischen Ziegelbaues ver¬
kennend, für Werke geringern Ranges. Die Beschreibungen Roms von Kugler,
Nibby, Carina und Ueber besprechen dieselben nur ganz vorübergehend, ohne
besondern Hinweis auf die abweichende Technik. Nur Guattani und Uggerö
sind näher daraus eingegangen. Bei genauerer Betrachtung wird man aber
finden, daß ein decorativ so reich ausgestatteter Bau wie z. B. der sogenannte
?empio <l<zi I)lo Rsclieulo nicht billiger sein konnte als ein Bau in Marmor.
Es scheint vielmehr, daß der hieratisch-alterthümliche Ziegelrohbau für Grabbauten,
besonders bei einigen altrömischen Geschlechtern sehr beliebt gewesen. Auf diese
Weise erklärt sich auch leicht, daß ein so außerordentlich reicher Mann, wie
Herodes Atticus, bei Einrichtung eines Grabtempels für seine Gemahlin Annia
Negilla, aus dem erlauchten Geschlecht der Julier, fo nahe dem prächtigen Grab-
mal der Caecilia Metella, den Ziegelrohbau wählen konnte.
Ueber die Zeit der Errichtung dieser Bauten sind die Gelehrten sehr ver¬
schiedener Ansicht. Nibby setzt sie — es ist dabei stets besonders von dem
tempio äst vio lieäieulo die Rede — in das erste, de Rossi in das zweite,
Kugler und Burgeß in das dritte Jahrhundert nach Christus. Es dürfte dem¬
nach ein Fortschritt sein, daß es mir gelang, den ursprünglichen Zweck eines
der besterhc«leeren dieser fraglichen Bauten, die heutige (verlassene) Kirche S.
Urbano, zwei Miglien vor Porta S. Sebastians zu bestimmen und damit zu¬
gleich eine genauere Datirung zu gewinnen. Ich glaube in meinem Aussatz
„'über das Grabmal der Annia Negilla" lMIoloZus Lei. XXIV. Heft 3) näm-
lich nachgewiesen zu haben, daß diese Kirche im siebenten Jahrzehnt des zweiten
Jahrhunderts nach Christus von Herodes Atticus als Grabtempel für seine Ge¬
mahlin erbaut worden ist.*) Mit der sichern Datirung dieses Gebäudes erbat-
ten wir aber zugleich einen Anhalt für Bestimmung der meisten anderen
sehr ähnlichen. Ein Grabmal an der Via I^tius, z. B. wird in derselben Zeit,
der oft genannte lemxio ack vio Reäieulo und ein Grabmal an Ports Pia,
(die sogenannte Leäig, Ael ala.volo) werden aber früher, wahrscheinlich noch im
ersten Jahrhundert erbaut worden sein. —
Datirte Ziegelstempel habe ich trotz eifrigster Nachforschungen bei keinem
dieser Bauten auffinden können. Einige andere Arbeiten über römische Archi¬
tekturwerke in Ziegelrohbau hoffe ich binnen kurzem publiciren zu können. —
Im Juni des Jahres 1590 berichtete der dresdener Stadtrath an den
Kurfürsten Christian den Ersten, daß ein sich Hans Frank nennender Handels¬
mann aus Magdeburg, der im goldenen Löwen herbergend von Leitmeritz auf
der Elbe Wein erwartet habe, verhaftet worden sei, da ein junger Mann Rudolf
Blank aus Gral) ihn als einen Schwindler erkannt und angezeigt hatte, daß
er sich als Graf von Schwarzburg mit steiermärkischen Edelleuten herum¬
getrieben und, nachdem er viele Schulden gemacht, verschwunden sei. Die vom
Kanzler Dr. Nikolaus Crell angeordnete Untersuchung klärte durch die Geständ¬
nisse des gütlich vernommenen aber mit der Schärfe bedrohten Inculpaten
sowie durch einen schriftlich aufgesetzten Bericht desselben über eine zur Sprache
gekommene Schwindclgeschichte in Spandau, einige Partien seines Lebens in so
eigenthümlicher Weise auf, daß eine gedrängte Mittheilung seiner Erlebnisse, soweit
sie actenkundig wurden, für die Culturgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts
ganz beachtenswert!) ist. Man lernt aus derselben neben der Slarkgläubigkeit
jener Zeit eine naive Rohheit und Gemeinheit der Sitten auch in den höheren
Lebenskreisen kennen, wie sie so klar und charakteristisch in solchen Abschnitzeln
des geschichtlichen Materials selten zur Anschauung kommt. Man sieht
ferner, wie die religiöse Bewegung, so lies sie auch viele Gemüther ergriffen
und viele Geister eiregt haben mochte, doch auf die Sitte in den höheren Kreisen
nicht nachdrücklich einzuwirken vermocht hatte. Erst die wunderbar großartige
Arbeit der Vertreter der Humanitätscntwickelung des achtzehnten Jahrhunderts,
die freilich nur bei der in der religiösen Bewegung gewonnenen Freiheit mög¬
lich war, hat in unserm Vaterlande eine sittliche Reform im Familienleben
der höheren Kreise angeregt, welche in den politischen Stürmen und Wande¬
lungen der letzten achtzig Jahre immer weiter und reicher wirksam geworden ist. —
Nach diesen Bemerkungen möge die Geschichte jenes Schwindlers, ohne weitere
Erläuterung, hier und da, wo es zur Charakteristik der Zeit dient, mit seinen
eigenen Worten kurz zusammengefaßt einfach erzählt werden. Für die Zuverlässigkeit
der Aussagen bürgt der Umstand, daß dieselben von der Behörde durch Bericht¬
erstattung nach Spandau und Gratz leicht controlirt werden konnten.
Der angebliche Hans Frank hieß Gottfried Strauber und war aus der
Grafschaft Schwarzburg. Sein Vater, ein kleiner Handelsmann, war verschul¬
det gestorben, die Mutter diente als Kinderfrau beim Grafen Albrecht von
Schwarzburg. Gottfried Strauber war einige Jahre vorher Bedienter bei einem
Grafen von Hohenstein gewesen und scheint dann in Norddeutschland mit Erfolg
sein Glück gesucht zu haben. Denn dort war er, als er schwer krank geworden,
in Lübeck im Hause eines Kaufmanns ein halbes Jahr lang beherbergt und
von dessen Frau verpflegt worden und hatte sich zu einer angeblichen Geschäfts¬
reise nach Polen 300 Thaler zu verschaffen gewußt. Eine Episode aus dieser
Reise nach Polen ist es, über welche Strauber genauen Bericht giebt. Auf dem
Wege nach Berlin kam er, — natürlich in stattlichem Aufzuge, wie ihn die
Edelleute trugen — nach Ruppin und erhielt hier bei einem Tuchmacher, den
er nach einer guten Herberge gefragt hatte, gastfreundliche Aufnahme. Den
andern Tag kam er in dem Wagen, den ihm der Tuchmacher besorgt und mit
einem Jungen, den dieser mitgegeben, zum Bürgermeister von Spandau, dem
Bruder des Tuchmachers, der ihn, ohne seinen Namen zu kennen oder später
darnach zu fragen, bei sich aufnahm und gut verpflegte. Den andern Morgen
— eines Sonntags — ging der Bürgermeister mit seinem Gaste in die Kirche
und zwar zur Orgel hinauf, weil sich dieser für Musik zu interessiren schien.
Dies erregte die Aufmerksamkeit der Familie des Generals Grafen Rochus von
Lynar. des Commandanten von Spandau: das Fräulein zumal verwendete keinen
Blick von dem fremden Herrn. Mittags waren beim Bürgermeister Gäste:
es ging lustig zu: der Cantor und die Schüler mußten singen. Als Strauber
fortfahren wollte, hielt ihn der Bürgermeister zurück und ließ sich beim Grafen
^das Instrument" holen. Während dessen hatten die Gräfin und das Fräulein
den Jungen des Fremden fragen lassen, wer sein Herr sei: der hatte seine
Auskunft geben können. Nach der Vesper in der Kirche waren die Herren
im Garten des Bürgermeisters und dann bis 11 Uhr in seinem Hause, wo.
wie zu der Zeit immer, tüchtig gezecht wurde. Auch hierbei sangen die Schüler.
Darauf, Nachts 11 Uhr, ging der ganze Zug auf der Straße spazieren — sie
gingen ein wenig „^assatuin", wie sich der Bürgermeister ausdrückte. Da be¬
gegnete ihnen auf dem Kirchhofe der Glasir Bruder, tractirte sie vor des Grasen
Haus mit Bier, wobei wieder die Schüler singen mußten. Der Gräfin Bruder
ging dann mit zum Bürgermeister, wo in Wein fortgezccht wurde. Auf Be¬
fragen desselben nannte Strauber sich Dietrich von Wirben. Den dritten Tag
zeigte „mit Erlaubniß der Gräfin" der Bürgermeister seinem Gaste die Festung
und behielt ihn bei sich. Nachmittags kam der alte Graf: es wurde bis 1
Uhr Nachts beim Bürgermeister „gefressen und gesoffen." Dann geleiteten sie
den Grafen nach Hause, der den Fremden seinem Sohne, dem Grafen August
vorstellte und sie beim Becher noch zurückhielt. Der Cantor und die Schüler
waren immer dabei gewesen und mit herumgezogen. Am vierten Tage wurde
früh 10 Uhr der Herr von Wirben der Gräfin und dem Fräulein vorgestellt:
auch hier mußten die Schüler singen. Er blieb mit dem Bürgermeister den
ganzen Tag beim Grafen: es wurde geschmaust, gezecht und getanzt bis 1 Uhr
Nachts und für den nächsten Morgen wurden sie zum Frühstück eingeladen;
wie gewöhnlich gaben die Schüler den Heimkehrenden das Geleite und sangen
Vor des Bürgermeisters Hause noch einige Motetten. Den fünften Tag früh
wollte Strauber fort. Da erhielt er von einem „Bildhauer" Kupferstiche ver¬
ehrt und eine Büchse mit seinem und des Fräuleins Portrait in Wachs —
wahrscheinlich mehr Spekulation des gräflichen Hauses als des Bildhauers,
der zwei Goldgulden zur Verehrung erhielt. Nun mochte es aber dem Schwind¬
ler unheimlich werden. Darum schickte er des Bürgermeisters Jungen zum
Grafen, um Dank und Abschied zu sagen, „er bedanke sich höchlich des erzeigten
Willens und alles Guten, und lasse bitten, wenn er sich ungebührlich gehalten,
wollten sie es dem Trunke zurechnen". Da kam wieder Botschaft mit schönen
Complimenten, das Fräulein ließ sagen: „der fremde Herr und der Herr Bür¬
germeister müßten rechte Nachtraben sein." Zugleich schickte der Graf sein
Stammbuch. Da aber Ser-ander sich einzuschreiben ablehnte, so kam die drin¬
gende Einladung für Nachmittags zum Grafen und nachdem der Bürgermeister
und Strauber dort bis 1 Uhr geschmaust und gezecht, mußte letzterer beim jungen
Grafen zur Nacht bleiben. Auch den andern Morgen hielt ihn dieser mit
„Sect" zurück, bis sie von der Gräfin zum Frühstück gerufen wurden; der
Bürgermeister wurde geholt, Strauber mußte dableiben, den andern Tag wollte
ihn die Gräfin nach Berlin fahren lassen. Doch denselben Abend kam der
andere junge Gras, der kurbrandcnburgische Regierungsrath Johann Casimir zu
den Aeltern nach Spandau. Er erzählte, daß ihm die Mutter von den Gästen
nach Berlin geschrieben und trank sofort mit dem angeblichen Herrn von Wirben
Brüderschaft. Das Fräulein mußte „eine Gaillarde schlagen" und dann wurde
getollt und getanzt; auch die alte Gräfin tanzte mit. Ebenso ging es den siebenten
Tag. da Johann Casimir den Tag darauf den neuen Freund selber mit nach Berlin
nehmen wollte. Als die Gräfin hörte, wie ihr Sohn den Gast dutzte, sagte
sie, wenn der Herr mit ihrem Sohne Bruder wäre, müßte er auch ihr Sohn
sein und sie Frau Mutter nennen, und sie nannte ihn von nun an ihren
Herrn Sohn, fand auch einen Ring, den er trug, so hübsch, daß Strauber
ihr denselben verehrte. Des Nachts mußte er mit Johann Casimir in
einem Bette schlafen. Der stand aber den andern Morgen früh auf, weil er
nach Berlin mußte. Strauber wollte mit, doch ließ es Casimir nicht zu, er
wollte ihn den zweiten Tag holen. „So bin ich blieben," berichtet Strauber,
„und habe mich wieder zu Bette gelegt, denn ich bin von wegen großen Saufens
gar krank gewesen. Ist Gras Augusius, seine Frau Mutter und das Fräulein
kommen und sich vor's Bett gesetzt und mich gefragt, ob ich nicht essen wollen.
Doch ich habe nichts gewollt als ein wenig Hühnerbrühe und dann mit dem
Grafen Karte gespielt." Dann hat er beim Goldschmied ein Armband geholt,
und es dem Fräulein geschenkt, welche ihm darauf bei Tische einen „Näglein-
kränz" (Nelkenkranz) mit zwei verschlungenen Händen und seinen und ihren
Namen verehrt hat. Nächsten Tag aber erhielt er von ihr solidere Geschenke,
nämlich 2 Ringe, einen mit einem Smaragd, den andern mit einem Demant
und der Umschrift: ^nor vrneit orrmig,. Jetzt aber wurde Straubers Lage
immer bedenklicher und da Graf Casimir nicht kam, reiste er den zehnten Tag nach
Berlin. Als er sich hierbei Casimir verabschieden wollie, hielt ihn dieser zurück.
„Er habe noch etwas in der Regierung zu thun und dann wollten sie lustig
sein"; auch schenkte er ihm einen Ring mit „einem Krötenstein" und zwei Rubinen.
Sie waren überaus lustig und den folgenden Tag mußte Strauber — wieder
mit nach Spandau zurück, was die Gräfin und das Fräulein überaus gern
sahen. „Hier bin ich noch etzliche Tage geblieben und ich wußte nicht, wie
ich davon kommen sollte." Abends nahm das Fräulein eine goldene Kette Von
ihrem Halse und hing sie ihm um und als sie den nächsten Tag zusammen
Gevatter standen, zog Casimir die Kette dem Drchbruder unter dem Wams
hervor mit den Worten: „Trage sie doch vor den Leuten, Du hast sie ja nicht
gestohlen." Nun rückte der Graf Casimir dem Strauber ernstlicher auf den Leib.
Er fragte nach seinen Lebens- und Vermögensverhältnissen. Strauber schwin¬
delte von vieler Beute, die er bei der Niederlage der spanischen Armada ge¬
macht und von seinen Gütern im Niederlande. Da meinte Casimir, er solle
durch ein paar Cavaliere seiner Bekanntschaft beim Vater um seine Schwester
anhalten, sie erhalte 10.000 Thlr. Mitgift. Strauber mußte Briefe schreiben
und durch Gelegenheiten, wie sie sich damals zufällig boten, absenden, nach
Hamburg, um seine erbeuteten Kostbarkeiten holen zu lassen, sowie zu seinen
angeblichen Vettern, damit diese zur Brautwerbung nach Spandau kämen und seine
Güter für ihn einrichteten. Unterdeß kamen gelockt durch die interessanten
Nachrichten auch vornehme Frauen von des Grafen Bekanntschaft aus Berlin
nach Spandau, um den fremden Herrn kennen zu lernen und das Fräulein zu
„vexiren", die Frau Kanzleien und die Frau Schenkin. Letztere schien nament¬
lich an dem Fremden Wohlgefallen zu finden, sie trank mit ihm Brüderschaft
und wollte ihn mit nach Berlin nehmen, was Gras Casimir nicht zuließ. Es
war für Strauber hohe Zeit sich zu entfernen mit der Versicherung baldiger Ruck'
lehr. So kam er nach einem lustigen Abend wirklich fort nach Berlin und
dann nach Frankfurt a. O., wo er die Kette für 90 Ducaten verkaufte und
sich nach Polen zu aus dem Staube machte. Was Strauber in Polen gemacht
hat, davon berichten die Acten nichts. Nach Jahresfrist tauchte er zu Gratz in
Steiermark auf und kam als Fuhrmann in eine Herberge, wo er sich Cavalier-
Neidung zu verschaffen wußte. Er kam als „guter Gesell" mit dortigen Edel¬
leuten in Verkehr, die ihn für einen vornehmen Herrn hielten, weil er so dick
von Königen und Fürsten sprach. Bald darauf wollte man aus Briefen, deren
Verbreitung er klüglich veranlaßt hatte, wissen, daß er Hans Georg Graf
zu Schwarzburg hieß. AIs solchen nahm ihn ein Herr Caspar zu Hermsdors
zu sich ins Haus und er galt jetzt überall als ein Graf von Schwarzburg,
nachdem er bei einem Herrn von Wolfcrsdorff einen Edelmann, der wegen seiner
Herkunft bedenklich wurde, tüchtig angeschnarcht hatte, „er hätte niemanden ge¬
beten, mit ihm zu fressen; so jemand was wider ihn hätte, möchte er mit ihm
hinausgehn." So wuchs sein Credit. Er kaufte sich bei verschiedenen Kauf¬
leuten Tuch und Waaren, theils mit einem Wechsel auf Linz als Graf zu Schwarz¬
burg, theils auf bloßen Credit. Ja er wurde so unverschämt, daß er dem Kauf¬
mann, der ihn vor seinen guten Gesellen ziemlich grob an Zahlung mahnte
auf der Straße Ohrfeigen gab und jene waren gutmüthig genug, beide bei
einem guten Trunke wieder mit einander zu versöhnen. Als aber Herr von Herms¬
dorf erfuhr, daß bei einem Herrn in Gratz ein Hauslehrer lebe, der aus der
Grafschaft Schwarzburg sei, wollte er mit seinem vornehmen Gaste denselben
aufsuchen. Da verschwand Plötzlich der Herr Graf; auch der Musiklehrer des
Herrn von Hermsdorf, welcher „das Fräulein das Instrument schlagen lehrte."
hatte dem Schwindler 10 Kronen geliehen, die er nicht wieder erhielt. Er war
daraus nach Wien und von da mit einem Apvthekergehilfen in dessen Fuhrwerk
nach P>ag gereist. Dort hatte er in der Herberge mit einem Edelmann Händel
bekommen und war verwundet worden. Darnach war er von Leitmeritz aus
aus der Elbe mit einem Schiffe, das Wein führte, nach Dresden gefahren.
Was aus dem jedenfalls gewandten Abenteurer geworden, berichten die Acten
nicht. Die Untersuchung wurde sistirt. weil man zunächst Auskunft von Grätz
erwarten mußte. —
Die günstigen Auspicien, unter denen sich der Zusammentritt des nord¬
deutschen Parlaments vollzogen hat, scheinen demselben treu bleibe» zu wollen.
Obgleich die Fractionsbildung noch nicht zum Abschluß gelangt ist und die
Thätigkeit der Versammlung nur sehr allmälig in Fluß kommt, läßt sich bereits
absehen, daß das Gewicht der Entscheidung bei den Mittelparteien liegen wird
und daß diese Willen und Fähigkeit zur rechten Benutzung desselben behaupten
werden. Daß die Beschlüsse der Fortschrittspartei sich mehr und mehr mit
denen der offenen und directen Gegner der nationalen Sache decken, und daß
das Verhältniß des Centrums zur Rechten ein gegen früher durchaus verändertes
ist. luß sich nach den Ereignissen der letzten Monate bereits ziemlich sicher vor¬
aussehen und kann uns nicht befremden. Der Natur der Sache nach fühlen
sich diejenigen, welche die norddeutsche Bundesverfassung geschaffen haben, auch
wenn ihre Wege diametral auseinander gehen, sobald es sich um innere Fragen
handelt, enger mit einander verbunden, als mit denjenigen ihrer früheren
Freunde, mit denen sie in der Hauptsache jetzt verschiedener Meinung sind.
Daß die Nation diese Hauptsache in der nationalen Einigung sieht, das hat sie
ihren Vertretern so deutlich und so wiederholt gesagt, daß dieselben wissen
müssen, was sie zu thun haben. Die Annäherung zwischen den Mittelparteien
und der Rechten gereicht allerdings nicht nur dem Radikalismus zum Aerger¬
niß, sie ist auch zahlreichen national gesinnten Freihcitsmännern bedenklich
geworden. Bei allem Bedauern darf uns das nicht irre machen; es liegt ein¬
mal aus der Hand, daß Compromisse über äußere Fragen nur s.Ä Koe geschlossen
werden, und ohne Konsequenzen für die Behandlung innerer Principienfragen
sind, und es ist zweitens an der Zeit, daß man sichs angelegen sein lasse, die
Vorstellungen, welche herkömmlich mit dem Ausdrucke „conservative Partei"
verbunden werden, einer ernsthaften Revision zu unterziehen. Das Existenzrecht
einer konservativen Partei als solcher und ihre Gleichberechtigung mit anderen
Parteien in Zweifel zu ziehen, die Begriffe „conservativ" und „volksfeindlich"
mit einander zu identificiren, vermag nur der Radikalismus alter Doctrin.
Das Schlimme an den preußischen Conservativen und der Grund dafür, daß
dieselben zeitweise außerhalb des parlamentarischen „Comment" waren (wenn
dieser burschikose aber zutreffende Ausdruck anders gebraucht werden kann), be-
stand darin, daß die Ziele dieser Fraction wesentlich nicht konservativer
Natur waren, d.h. daß dieselbe nicht auf dem Boden der Verfassung stand,
sondern diese zu Gunsten des Absolutismus umzudeuten versuchte. Davon kann
im norddeutschen Parlament, dessen rechtliche Basis von den Conservativen un¬
geschaffen worden ist, nicht die Rede sein, zu Suppositionen dieser Art fehlt es
vollständig an Grund und Veranlassung. Einen weitern Unterschied zwischen
den ParteiverhÄltnissen der preußischen Conflictszeit und der Gegenwart bildet
das Vorhandensein einer Gruppe von Männern, welche ihre Aufgabe wesent¬
lich in der Vermittelung zwischen den conservativen Interessen und den liberalen
Principien sehen; die Kluft zwischen dem linken Centrum und der Rechten,
welche in den preußischen Kammern der Conflictsjahre unüberbrückt dastand
und jede Verständigung unmöglich machte, besteht mithin nicht mehr. Die Brücke
bildet das Bekenntniß zu der Bundesverfassung und auf dieser Brücke stehen die
freien Conservativen. Die Bedeutung dieser und ihrer bisherigen Leistungen
zu überschätzen sind wir weit entfernt, wir wissen sehr genau, daß noch viel
daran fehlt, damit dieselben der Aufgabe entsprechen, welche naturgemäß an sie
gestellt ist — daß der Platz zwischen den preußischen Conservativen und der
alt-liberalen Gruppe aber nicht mehr leer steht, scheint uns von großer Wich¬
tigkeit zu sein. Es geht uns mit diesen Vertretern eines Conservatismus, der
sein Programm grundsätzlich den Anforderungen der Zeit offen halten will, wie
weiland Voltaire mit dem vere supröme: wie der pariser Philosoph behaup¬
tete: „wenn kein solches da wäre müßte man eines erfinden", so
muß der Konsolidation dieser Fraction, weil dieselbe unentbehrlich ist, möglichster
Vorschub geleistet werden. — Die bisherige Haltung der rechten Seite des
norddeutschen Parlaments hat es der radicalen Demokratie übrigens nicht leicht
gemacht, ihre schwarzen Ahnungen von einer Aufsaugung aller liberalen Ele-
mente durch die conservative Nachbarschaft für bewahrheitet auszugeben. Zu
den wichtigsten der bisher gethanen Beschlüsse des Hauses haben die Ratio-
nal liberalen die Initiative ergriffen und die Conservativen sind ihnen ge¬
folgt; das gilt sowohl von dem Beschluß, das Budget sofort im Plenum zu
berathen, wie von der Adresse. Daß der nationalUberale Adreßentwurf von dem
der Conservativen verschieden ist, daß die Sprache des erstern durch den letztern ab¬
geschwächt und paraphrasirt wird, kommt Angesichts der Thatsache, daß die genannten
beiden Gruppen überhaupt und im Gegensatz gegen die Linke eine Adresse wollen und
zwar eine solche, die die Beziehung zum Süden behandelt, kaum in Betracht,
und es wird für die „Zukunft", die „Volkszeitung" und ihre neue Verbündete
„die Sächsische Zeitung" (die über die mangelhafte Vertretung der Fortschritts-
Partei im Bureau, wie über ein specifisch sächsisches Unglück jammerte) eines
großen Aufwandes von Sophistik bedürfen, um in dieser Adresse einen feudalen
Verrath an der Sache des „deutschen" Volks und der „deutschen" Freiheit
nachzuweisen.
Ueberblicken wir die auf den Süden bezüglichen Ereignisse, welche dem Zu¬
sammentritt drr norddeutschen Volksvertretung vorhergegangen waren, so werden
wir uns davon überzeugen, daß es an Veranlassungen dazu, das Kind beim
eigentlichen Namen zu nennen und mindestens den Eintritt Badens in den
norddeutschen Staat herbeizuführen, nicht gefehlt hat und das für die Opvor«
tumidae einer Adresse zahlreiche Gründe sprechen. Die Zolleinigung, das Fiasko
des Ve>Suess, die süddeutschen Fürsten auf die Straße nach Salzburg zu füh¬
ren, die ungünstige Aufnahme des Frövelschen Programms, die badische Thron¬
rede und ihre Beantworiung, die bedeutsame Lücke in der Rede König Wilhelms,
vor allem das Biemartsche Circular an die süddeutschen Höfe, laden die Volks¬
vertretung dazu ein, die Negierung in Form einer Adresse über ihre Stellung
zum Süden zu interpelliren und zu weiteren Schritten zu veranlassen. Daß
diese Adresse dem Bundespräsidium unwillkommen sein werde, scheint nach dem
Geschehenen wenig wahrscheinlich und die ablehnende Notiz der Kreuzzeitung
sieht — abgesehen davon, daß sie vor der Zustimmung der konservativen Partei
zu dem Adreßgedanken erschien — einem zu größerer Kühnheit ermutigenden
Sträuben ziemlich ähnlich. Auch wenn das Bundespräsidium einer directen
Antwort aus dem Wege zu gehen für nothwendig hält, können wir uns von
der Adresse nur Vortheile versprechen. Zu diesen zählen wir in erster Reihe
die Nöthigung Frankreichs, mit der Sprache herauszurücken und uns definitiv
zu sagen, ob die Überschreitung der Mainlinie ein Lg.8us delli wäre oder nicht.
Dem Kriegsgeschrei der preußenfeindlichen Blätter wird dieses Mal sicherlich
von einem bedeutenden Bruchtheil der gemäßigten Liberalen Frankreichs energisch
begegnet werden; die letzten Aeußerungen Olliviers. Lemoines, ja selbst Girardins und
Ncffzers sind von der Sprache, welche noch vor sechs Monaten in denselben Kreisen
geführt wurde, so verschieden, daß wir mit einiger Sicherheit darauf rechnen
können, die pariser Presse werde' Napoleon dem Dritten die Entscheidung über
Krieg und Frieden beträchtlich erschweren. Dazu kommt, daß Frankreichs Rü¬
stungen noch nicht beendet sind, während die unsrigen nicht erst zu beginnen
brauchen; nach den Reden von Arras, Lille und Amiens dürfte es mit der
plötzlichen Wiedereröffnung des napoleonischen Janustempels überdies seine
Schwierigkeiten haben, zumal wenn vor der Hand nur der Eintritt Badens in
den norddeutschen Bund in Wendung kommt. Läßt Frankreich diesen geschehen
oder auch nur offen discutiren, desto besser, — dann hat es sich für die Zu¬
kunft selbst captivirt. Die moralische Wirkung eines Schrittes, der — wenn auch
ohne wirklichen Grund — ziemlich allgemein für eine Provocation des Tuilerien-
cabinets angesehen würde, müßte ferner der Kräftigung der nationalen Sache in
Deutschland unschätzbare Dienste leisten und die Feinde derselben ins Herz
treffen. Aus diesem Grunde, und nicht aus Parteilichkeit für die speciellen
Vorschläge unserer politischen Freunde, geben wir der Adresse der National¬
liberalen unbedingt den Vorzug vor dem conservativen Entwurf. Schon die
Aufschrift dieses letztern will uns nicht gefallen; so lange der Particularismus
noch so keck sein Haupt erhebt, wie gegenwärtig, kann keine Betonung des
föderativem Characters unsers norddeutschen Staats von heilsamer Wirkung
sein und weil jedes öffentlich gesprochene Wort über die Nothwendigkeit der
Heranziehung des Südens in Paris Anstoß giebt, liegt kein Grund dafür vor,
nicht möglichst deutlich und energisch zu reden. Ist das ein Mal geschehen, so
ist mindestens das Gerede der Schwarzen und Rothen in München und Stutt-
gart, welche immer wieder darauf zurückkommen, daß der norddeutsche Klein¬
muth gegen Frankreich nicht zu den Ansprüchen eines Großstaats stimme — ein
für alle Mal auf den Mund geschlagen und der ungünstige Effect der Entschei¬
dung über Luxemburg aus der Welt geschafft. Seit Menschengedenken hat das
norddeutsche Volk zum ersten Male einen preußischen Minister des Auswärtigen
an seiner Spitze, der den besten Theil der Tapferkeit nicht in der Vorsicht sieht;
wenn der officielle und Verantwortliche Repräsentant der preußischen Politik ein
kräftiges Wort wie das des national-liberalen Adreßentwurfs für nicht unzulässig
hält, so liegt für das Volk und dessen Vertretung absolut kein Grund dafür vor, für
seinen Theil die Rollen der Bedächtiger und Aengstlichen zu übernehmen, welche
sonst in entscheidenden Zeiten an der Spitze unserer Geschäfte standen.
Von den Vorlagen, an deren Bearbeitung der Reichstag in nächster Zeit
gehen wird, verdient der Miguelsche Antrag auf Erlaß eines allgemeinen Wahl¬
gesetzes für alle Bundesstaaten, unseres Erachtens, besondere Berücksichtigung,
denn er füllt eine thatsächlich vorhandene Lücke aus, deren Unzuträglichkeiten
bereits wiederholt fühlbar geworden sind. Es ist schlechterdings nicht abzusehen,
warum kleinstaatliche Eigenthümlichkeiten vom Schlage der mecklenburgischen,
dem Volk die Freiheit seines Wahlrechts wenn nicht verkürzen, so doch einengen,
und das Bewußtsein nehmen sollen, daß allenthalben im Bundesstaat wenig¬
stens in Bundesangelegenheiten nach einer Elle gemessen werde. Weriii es
auch nicht unwahrscheinlich ist, daß die Conservativen dieses Mal mit der „con-
stitutionell-föderativem" d. h. particularistischen Gruppe gegen die Nationallib- ihter
Front machen werden, so dürfte an der Annahme dieses Antrags doch ni l t zu
Zweifeln sein, denn die Fortschrittspartei kann demselben ihre Unterstützung nicht
versagen, um für Mecklenburg. Neuß oder Waldeck Partei zu nehmen. Von
den übrigen Vorlagen weiß die Presse noch zu wenig um über sie reden zu
können. Nimmt doch zur Zeit die Zusammensetzung des Reichstages und was
mit dieser zusammenhängt, immer noch den Haupttheil des öffentlichen Interesses
in Anspruch, besonders so lange die Nachwahlen nicht beendetsind. Für diese ist. seit
die Versuche zur Durchdringung gemäßigter Kandidaten in Berlin noch ein Mal
gescheitert sind, nur der eine Wunsch berechtigt, daß die noch nicht gewählten
Veteranen des preußischen Parlamentarismus, vor allem Vincke, Lette und Gneist
berücksichtigt werden. Daß Namen von so erprobten Klang fehlen können, zeugt
von der Jugendlichkeit und Unreife unseres gesammten politischen Lebens und
ganz besonders des neuen Wahlapparats; daß einem englischen Parlament Män¬
ner wie d'Jsraeli, Gladstone oder Roebuck fehlen sollten, auch wenn dasselbe
unter dem Eindruck eines Erfolges ihrer Gegner zusammengetreten wäre, ist
undenkbar, weil ihre Nichtberücksichtigung für einen Verstoß gegen die Ehre des
Hauses gelten würde. Es giebt auch bei uns parlamentarische Männer, die nicht
mit dem, was sie thun oder zuletzt gethan haben, sondern mit dem was
sie sind, zahlen und das Gewicht dieser Art von Zahlung zu unterschätzen,
haben wir Deutsche am wenigsten Grund.
Mag der Ausgang dre Verhandlungen des Parlaments sein, welcher
er wolle, die Entscheidung über die Adresse — wir müssen daraus zurückkommen,
wird unter allen Umständen zu den wichtigsten, dem Hause vorgelegten Fragen
gehören. Der Zeitpunkt für einen entscheidenden Schritt zur Annäherung des
Südens dünkt uns in jeder Rücksicht ein glücklich gewählter. Seit in eilfter
Stunde in die Regelung der Verhältnisse der annectirten Provinzen durch directe
Ausflüsse des königlichen Willens und durch Einberufung von Vertrauensmän¬
nern eingegriffen worden ist, hat sich die Stimmung in diesen unerwartet rasch ge¬
bessert, sogar in Hannover und Schleswig-Holstein, wo das „Stammesbewußt-
sein" unüberwindlich und die einzige Form des Vaterlandsgefühls zu sein be.
hauvtete. Die vor einigen Tagen stattgehabte Eröffnung des hannoverschen
Provinziallandtags, (dessen große Majorität sich entschiedener gegen das vorlaute
und anspruchsvolle Gebahren königlicher „Diener" aus welfischer Schule aus¬
gesprochen hat, als sich irgend erwarten ließ), hat zugleich dem neuen Ober-
präsidenten Grafen Stolberg Gelegenheit zur Abhaltung seines iniuäen-spöaeli
und zur Bekanntschaft mit dem Lande gegeben, das er künftig im Namen und
Geist des Königs und seines Ministers verwalten soll. Die Versuche der ra-
dicalen und particularistischen Opposition, den neuen Statthalter von Hause aus
zu discreditiren und in ächt bureaukratischer Manier aus mangelnden Exami-
nativuszeugnisscn auf mangelnde politische Fähigkeiten desselben zu schließen,
werden wenig ausrichten, wenn es sich bestätigt, daß der Graf nach erhaltener
Instruciivn und eigener Neigung bestrebt ist, im EinVerständniß mit Männern
wie Miquel und Benningsen. dem neuen Vicelandmarschall, zu wirken. Mit
Spannung und Interesse wird den Provin^ialversaMmlungen der neuen Pro¬
vinzen allenthalben gefolgt werden und der alte Katechismus derRadicalen ist,
nach welchem ständisch-provinzielle Versammlungen immer nur vom Uebel sind, ist
demnach wiederum um einen seiner Glaubensartikel ärmer geworden. Auch an
diesem Stück zeigt es sich, daß unsere liberale Parteidogmatik — Dank ihrem
Ursprung in den Tagen der Manteuffel und Westphalen — der Revision und
Ergänzung sehr viel bedürftiger ist, als man geglaubt hat; die Fähigkeit zu
lernen und zu bessern hat sich aber — wenigstens in einer der freisinnigen Frac-
tionen, so rasch entwickelt, daß diese Schäden alle Aussicht haben, in Bälde gut
gemacht zu sein. In der Politik ist die Erfahrung eben die einzige zu¬
verlässige Lehrerin und von der Schule, durch welche der deutsche Liberalismus,
dem die Möglichkeit praktischer Thätigkeit fast immer gefehlt hat. gehen mühte,
liegen ja erst die untersten Curse hinter uns. Wenn man bedenkt, daß die
englischen Whigs nach eigenem Geständniß trotz ihrer langjährigen Herrschaft im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durch das dreißigjährige Toryregiment
der Pitt-Castlereagh-Wcllingtonschen Periode um einen großen Theil ihres Ge¬
schicks für die praktische Behandlung der Geschäfte gebracht worden waren, so
wird man um die Erklärung für den dvctnnären Character, den der deutsche
Liberalismus in den Herbst 1866 mitbrachte nicht verlegen sein und den Werde¬
zustand des nationalliberalen Programms für einen Vorzug ansehen müssen.
Während alles, was für die nationale Sache Herz und Verständniß hat,
seine Blicke nach Berlin richtete und die außerdeutschen Staatsmänner die
Spannung theilten, mit welcher in Deutschland dem Zusammentritt des nord¬
deutschen Parlaments entgegengesehen wurde, waren die europäischen Revolu¬
tionäre anderweitig beschäftigt; sie wallfahrteten »ach Genf und Lausanne, wo
der Friedenscongreß und eine socialistische Arbciterassvciation tagten, indessen gleich¬
zeitig in Belgien ein Katholikencvngreß versammelt war. um in seiner Weise radicale
Politik zu treiben. Selbst die anfangs blos lächerlichen, zuletzt scandaleufen
Auftritte der Genfer Versammlung sind nicht im Stande gewesen, unseren
„Entschiedener" über die wahre Natur des Radicalismus die An.r,en zu öffnen,
Von welchem dieselben die Wiedergeburt Europas und Deutschlands erwarten.
Unbekümmert um Thatsachen, welche die ganze gebildete Welt zur entrüsteten
Zeugin gehabt haben, verkünden die Propheten der „Zukunft" und „die Volks¬
zeitung" noch immer, daß das Heil von denen zu erwarten sei, welche außer-
halb des Bodens der gegebenen Verhältnisse stehen und daß der Faustkampf,
mit welchem die Friedcnsliga ihre diesjährige Thätigkeit abschloß, das Werk von
Muckern, Jesuiten und aus Aengstlichkeit händelsüchtig gewordener Bourgeois sei.
Eine Versammlung, in welcher Ludwig Simon die äußerste Rechte repräsentirt,
Fanny Lewald neue zehn Gebote verkündet, und der Kriegsmann Garibaldi
zu seiner Freunde Entsetzen Theorie der Politik treibt, soll der wahre Ausdruck
des Willens der europäischen Nationen, die deutsche mit einbegriffen, sein, während
die dritthalbhundert Volksvertreter, welche sich in Berlin zur Wiedergeburt
Deutschlands die Hände reichen, nichts weiter sind als die Handlanger einer
„fein ausgedachten geistreichen Reaction", deren Ende identisch sein wird mit
dem der norddeutschen Bundesverfassung! Und das wird in der „Hauptstadt
der Jntcll genz" gedruckt und von einem Journal ausgesprochen, auf dessen
Blättern der Name eines Mannes steht, dessen Ansprüche auf die Achtung seines
Volks in der That unverjährbare sind, der ohne die Ereignisse des Jahres 1866
noch heute für den Führer einer Partei gelten würde, deren Herrschafterecht
ein halbes Jahrzehnt lang ebenso zweifellos dastand, Wie der Anspruch aus
dasselbe. — Die Erkenntniß, daß mit Anschauungen dieser Art, mögen ihre
Vertreter Namen haben, welche sie wollen, kein Bund zu flechten ist, wenn
nicht auf die Verwirklichung der Politischen Wünsche unsers Volks für ein
Menschenalter verzichtet werden soll, muß uns schadlos halten für das an
und sür sich berechtigte Bedauern darüber, daß unserer gegenwärtigen Aufgabe
das Opfer langjähriger Beziehungen und Sympathien unwiderruflich gebracht
werden muß. Wir haben kein Recht, Particularisten und Großdeutschen aus
ihrer politischen Sentimentalität und aus der Unfähigkeit liebgewordenen Illu¬
sionen den Rücken zu kehren, einen Vorwurf zu machen, so lange wir nicht
selbst durch die That beweisen, daß uns die Sache des Vaterlandes über
Freunde und Brüder, über Sympathien und Traditionen geht. Der
Dienst der Freiheit ist von je ein schwerer gewesen und hat niemals Ar-
beiter brauchen können, die zurückschauen, wenn sie die Hand an den Pflug
legen.
Wenden wir uns von der Betrachtung dessen, was am heimischen Heerde
geschehen, den Nachbarstaaten zu, so sehen wir dieselben — vielleicht Frankreich
allein ausgenommen — von inneren Fragen eingenommen, die die Freiheit der
Action Preußens sichtlich begünstigen. Oestreich ist durch die Schwierigkeiten
des Ausgleichs mit Ungarn zu ernster Beschäftigung mit seinen Finanzen ge¬
zwungen worden und sieht es auf nichts weniger, als auf eine gänzliche Um¬
gestaltung seines Staatscrebits und auf Unification seiner Staatsschuld ab. In
Europa ist der letzte Versuch zur Ordnung zerrütteter Finanzen durch dieses
schwierige und gefährliche Auskunftsmittel, unseres Wissens, von der Türkei im
Jahre 1863 unternommen worden. Es hieß damals, fortan beginne für die
hohe Psvite eine neue Aera geordneter und consolidirter Geldverhältnisse und
wenige Monate später wurde zum Erstaunen aller europäischen Börsen be¬
reits eine neue, durch die Ottomanische Bank vermittelte Anleihe versucht,
die trotz einer Prämie von 11'/t Procent nur theilweise realisirt werden konnte.
Ob es in Oestreich ebenso geschehen wird, wissen wir nicht; die wiener Finanz¬
männer selbst scheinen minder optimistisch zu sein, als es damals die Türken
waren, — von einer neuen Aera ist nicht die Rede und die Verschmelzung der
vorhandenen Staatsschulden soll nur „so weit als möglich" vorgenommen werden
d. h, unvollständig bleiben. Der Reichskanzler von Reuse, der seine Neise nach
Sachsen mit Trostredcn an die Industriellen Mährens bezeichnet hat, ist seinen
Zuhörern leider jede Andeutung darüber schuldig geblieben, wie er zu der Schul¬
denverschmelzungsfrage steht und doch könnte es leicht geschehen, daß der Aus'
gang derselben für seineeigne Zukunft entscheidend wird. Wir fürchten des Herrn
v. BeustStcllung zu technisch-finanziellenFragen ist ebenso unverändert dieselbe ge¬
blieben, wie sein Verhältniß zum „deutschen Liede". Daß sich keines der Systeme,
mit denen man es seit 1859 in Wien versucht hat, auf die Dauer behaupten
konnte, daran hat der Umstand, daß weder Schmerling noch Bclcredi ein eigenes
lebensfähiges Programm für die Finanzfragen des Kaiserstaats oder ihrer Auf¬
gabe gewachsene Fiuanznünister mitbrachten, seinen beträchtlichen Antheil
gehabt. Mit einer wirklichen Regelung des östreichischen Finanzwesens würde
ein k. k. Staatsmann wenigstens die große Partei derer auf seine Seite brin¬
gen, denen eine Besserung der wirthschaftlichen Zustände wichtiger oder ebenso
wichtig ist, als die Auffindung einer Staatsform diezuglcich Centralistcn, Föderalisten
und Dualisten befriedigt und die Zahl der Leute, welche zu dieser Partei gehören,
ist in Oestreich größer, als sonst irgendwo. So lange das Verhältniß zu Un¬
garn eine offene Frage war, Schleswig-Holstein und Venetien jeden Augenblick
zu easus belli werden konnten, ließen sich die Ungunst der Geldverhältnisse
und die Zunahme des Deficits mit den Schwierigkeiten der politischen Lage ent¬
schuldigen. Seit die Elbherzogthümer, die adriatische Hafenstadt und das be¬
rühmte Festungsviereck nicht mehr in Frage kommen und die Grundlinien für
das künftige Reichsgebäude gezogen sind, steht es anders oder könnte es anders
stehen; die Geschäftswelt des Kaiserstaats ist aber immer noch darauf angewiesen
von Hoffnungen und Versprechungen zu leben und der leitende Staatsmann ist
nichts weniger als Financier, sondern ein Mann der großen Politik, der die
Fragen, welche technische Kenntnisse verlangen, kleinen Leuten überläßt. So
lange man die Besserung der Finanzen in Wien nicht als Selbstzweck, sondern nur als
Mittel zur Wiederaufnahme eines hohen Spiels in der großen Politik ansieht,
Wird das Beustsche System aber die Unterstützung der Leute, welche das Fort¬
bestehen des Staats nur für berechtigt halten, wenn dasselbe zu einer erträgli¬
chen Existenz der Staatsbürger führt, entbehren müssen. An den ernsthaften
Entschluß der Hofburg, den Staatszweck nicht mehr in der Erreichung traditio¬
neller Ziele der auswärtigen Politik zu suchen, sondern dem Wohl der eignen
Völker zu leben, werden auch die Böscnleute erst glauben, wenn man in Wien
einen ehrlichen Frieden mit dem norddeutschen Bunde schließt und Preußen
die Möglichkeit bietet, fortan wo anders als in Nußland Verbündete zu suchen.
Was man aus Wien über die neuesten Stadien der orientalischen Ange-
legenheiten hört, ist ebenso unzuverlässig wie das, was aus einseitiger Kennt¬
nißnahme der russischen Auslassungen über Candioten und Bulgaren gefolgert
werden könnte. Während die N. Fr. Pr. von Verhandlungen in Livadia be¬
richtet, die ein russisches Bündniß mit der Pforte betroffen hallen sollen, bläst
der „Russische Invalide" mit vollen Backen in die Larmtrompete, um „alle
slawischen Brüder" zu Gunsten der Bulgaren, des apathischesten, unfähigsten
und darum Rußland zugänglichsten türkisch-slawischen Stammes, unter die Waffen zu
rufen. Nicht drei Wochen ist es her, daß aus zuverlässiger Quelle mitgetheilt
wurde, die Lage der Pforte sei als temporär verbessert anzusehen und es werde zunächst
ein Stillstand in der orientalischen Frage eintreten: inzwischen ist durch die
russischen Blätter, die moralische Unmöglichkeit einer Fortdauer des gegenwärti¬
gen Zustandes, durch wiener Stimmen eine Krisis in Athen für den Fall der
Nichtabtretung Candias proclamirt werden. In Sachen des Orients scheint
die salchurgcr Zusammenkunft ebensowenig zu einer östreichisch-französischen Ver¬
ständigung geführt zu haben, wie in Sachen des Occidents, denn die Nachricht,
daß Frankreich in Stcimbul nicht selbstständig vorgebt, sondern England die
Führung der Verhandlungen überläßt, ist weder durch Worte noch durch Thaten
dementirt worden. Rußland und England ausgenommen, scheint kein europäischer
Staat des Kontinents für die türkischen Dinge Muße zu haben und England hat kein
Interesse, an diesem Zustande etwas zu ändern, so lange das Petersburger Ca-
binet nicht aggressiv vorgeht. In Petersburg aber kann man warten und wird
man warten, denn einen Rückgang des russischen Einflusses am Bosporus hat
man nicht zu fürchten. Die übele Finanzlage des russischen Reichs macht die
Aufrechterhaltung eines Friedens, der die Fortdauer der bisherigen Art der
Eroberung nicht ausschließt, vielmehr im höchsten Grade wünschenswerth.
Auch in Rußland ist die Finanznoth eine chronische. Der Verlauf der
Nikolaibahn hat sich noch immer nicht realisiren lassen und nach den officiel-
len Erklärungen über den Zweck dieser Maßregel (Ausdehnung des russischen
Eisenbahnnetzes) würde auch der Abschluß dieses Geschäfts, für die Staats-
finnnzen ziemlich gleichgiltig sein. Obgleich die Zeitungen noch nicht davon
reden, ist es Thatsache, daß die Geldnoth bereits zu Gedanken an eine radicale Umge¬
staltung der Haupteinnahmequelle des russ. Staats, der Branntweinaccise geführt
hat. Es ist davon die Rede, die Erhebung dieser Steuer für die einzelnen
Gouvernements zu verpachten und den Staat dadurch von den Sorgen und
Ausgaben für den betreffenden Theil der Bureaukratie zu befreien. Die un¬
günstigen Wirkungen, welche Veränderungen des Systems der Steuererhebung
überall auf die Production ausüben, und die besonders schädlich sind, wo es
sich, wie im vorliegenden Fall, um eine Productionssteuer handelt, lassen dieses
Project wenig empfehlenswert!) erscheinen. Nachdem die wiederholte Erhöhung des
Steuersatzes bereits zum Eingehen von nahe zu einem Drittheil aller Braune-
weinbrennercien geführt, und alle Voranschläge des Fiscus zu Schanden ge¬
macht hat, läßt sich von einer Veränderung des Steuersystems ebenso wenig
Nutzen erwarten, wie von der im vorigen Monate proclamirten Absicht.des
Finanzministers, den Zolltarif einer Revision zu unterziehen, den protcctionisti-
schen Grundsätzen desselben aber Nichts zu vergeben. Auf keinem Gebiet des
öffentlichen Lebens ist mit halben Maßregeln so wenig auszurichten. wie auf
dem finanziellen und die russischen Opposilionsblätter haben ganz Recht, wenn
sie behaupten, bevor eine jährliche Nechenschaftsablegung über die Staatsaus¬
gaben eingeführt worden, seien alle Versuche zur Besserung der Neichssinanzen
und des Staatscredits ebenso vergeblich, wie Tarifveränderungen ohne Herab¬
setzung der Zölle, da diese allein den Effect haben würden, die bisherigen Objecte des
Schleichhandels durch neue zu ersetzen. — Aus dem Gebiet der innern russi¬
schen Politik sind verschiedene Maßregeln von Wichtigkeit zu registriren, die in
den abgelaufene» Monat fallen; die im Februar d. I. wegen der oppositionellen
Haltung des Petersburger Landtags für das Gouv. Petersburg außer Kraft gesetzte
Provinzialverfassung ist wieder restituirt, künftigen Ausschreitungen dieser Körper
aber durch die Bestimmung die Spitze abgebrochen worden, daß die Verhand¬
lungen derselben nur noch mit Erlaubniß der Civil-Gouverneure veröffentlicht
werden dürfen. Haben die Organe der moskauer Nationalpanei Recht, so steht
ferner eine Modification der in den nordwestlichen (früher lithauischen) Pro-
vinzen bisher geübten Politik in Aussicht; die vor zwei Jahren begründete Bank
zur Aur'b.euung des russischen Grundbesitzes in den ehemals polnischen Län¬
dern ist aufgehoben worden, der Zuzug russischer Beamten in diese Gouverne¬
ments wirb nicht mehr begünstigt und die Propaganda für Ausbreitung der
griechischen Kirche unter dem katholischen Landvolk ist, zufolge der Abberufung
verschiedener übcreifnger Cvnvertitoren, ins Stocken gerathen. Für diese Be¬
schränkung ihres missionälen Eifers sucht die nationale Demokratie sich an den
Ostseeprovinzen Liv>, Est- und Curland schadlos zu halten, indem sie das Mi߬
trauen der Regierung gegen ti.se unaufhörlich wach ruf!. Es ist den Feinden
des deutschen Elements dieser Provinzen bereits gelungen, das Mlnistercomitv
zu einem Beschluß zu veranlassen, durch welchen die tractatenmäßig herrschende
deutsche Geschäftssprache ans den eigentlichen Staatsbehörden verbannt und auf
die ständischen Gerichte und Verwaltungsstellen beschränkt wird. Man will auf
diese Weise eine vollständigere Russificirung Liv-, Est- und Kurlands vorbereiten
und die Möglichkeit zur Verpflanzung russischer Beamten aus baltischen Boden
gewinnen; auch der deutsche Schulunterricht ist durch eine Verfügung, nach wel¬
cher die Geschichte künftig russisch vorgetragen werden soll, in empfindlichster
Weise angetastet worden. Diese Maßregeln, zu welchen die höchst loyale Hal¬
tung der Bevölkerung absolut keine Veranlassung gegeben hat, werden vou der
moskauer Presse als natürliche Konsequenzen des in Polen und Litthauen an-
'
gewendeten Systems bezeichnet, obgleich dieses System von der Regierung aner¬
kannter maßen nur zur Bekämpfung der Revolution adoptirt wurde, von
der Gefahr einer solchen in den Ostseeprovinzen aber niemals die Rede
gewesen ist. Die Absicht, welche die Nationalpartei bei der Jnscenirung
dieser angeblichen „Reformen" verfolgt, ist sehr viel deutlicher abzusehen,
als die Intention der Negierung, welche auf diese Weise um die feste
Stütze gebracht wird, welche sie an der Zufriedenheit ihrer deutsch-protestantischen
Unterthanen besaß. Das Gespenst, mit welchem die leitenden Staatsmänner
Rußlands von der Presse geängstigt werden, ist die Gefahr der täglich
mächtiger werdenden preußischen Nachbarschaft; die „Most. Zeit." wird nicht
müde vor Preußen zu warnen und hat noch neuerdings eine Reihe fulminanter
Artikel in die Welt gesandt, welche von dem Bau einer Pinsk-Bjaiostvcker Eisen¬
bahn, die einen preußischen Einfall erleichtern könnte, abrathen. Aus einem ähn¬
lichen Grunde wird seit Jahren gegen eine directe Schienenverbindung der Düna-
mündung mit Meine! agitirt. — Während man dem russischen Staat vor einer Schä¬
digung seiner westlichen Grenzen bange zu machen sucht, dehnt derselbe sich unaufhalt¬
sam nach Osten weiter ans. Die petersb. Journale verkünden neue Siege
gegen die Bewohner Bucharas und das ehemalige Chanat von Taschkend ist
vor einigen Wochen in ein Generalgouvernement verwandelt worden, an dessen
Spitze der aus der Zeit seiner Oberverwaltung in Wilna bekannte General¬
adjutant v. Kaufmann steht. Immer näher rückt der Zeitpunkt, in welchem
die russischen und die büttischen Interessen in Asien auseinander stoßen müssen
und es sind nur noch 80 deutsche Meilen, welche die äußersten asiatischen Vorposten
dieser beiden Nationen von einander trennen.
In England ist seit Beendigung der Parlamentssession und eingeholter
königlicher Bestätigung der d'Jsraelyschcn Reformbill ein Ruhepunkt im öffent¬
lichen Leben eingetreten. Die Ausrüstung der gegen Theodoros von Abyssinien
bestimmten Expedition, die voraussichtlichen Folgen des neuen Wahlgesetzes,
das Verhältniß Frankreichs zu Deutschland und der noch immer gährende ame¬
rikanische Verfassungscvnflict sind die Gegenstände, mit welchen die englische
Presse ihre Leser unterhält, bis zu einem neuen parlamentarischen Feldzuge ge¬
rüstet wird. Für diesen aber stehen Entscheidungen von Bedeutung zu erwarten.
Das Ministerium Derby-d'Zsracly. dessen Fortbestehen von dem allgemeinen
Bedürfniß nach Erledigung der Reformangelegenheit getragen worden war,
wird nicht umhin können, sich einem Gesetz über Arbeitcrassociationen zuzu-
wenden, wie es durch die Resultate der in Sheffield vorgenommenen Enquete
dringend verlangt wird. Die während der vorigen Session durch den Staats-
secrctär des Innern, Mr. Hardy von dem Hause eingeholte Genehmigung zu Er¬
hebungen über die Iraäös-unions, verpflichtet die Regierung zu einer eingehen¬
den Umgestaltung der Associations- und Arbcitcrgesetzgebung und führt ganz
direct zur Beschäftigung mit der socialen Frage. Eine Rückwirkung der bezüg¬
lichen Debatten aus Deutschland und die deutschen Arbeiterverhältnisse ist nach
dem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben unvermeidlich, ganz besonders
seit es dem Socialismus gelungen ist. eine, wenn auch vor der Hand noch
ziemlich schwache Vertretung des Socialismus im norddeutschen Parlament zu
finden. — Es wird von hohem Interesse sein, bei dieser Gelegenheit die Stellung
kennen zu lernen, welche die preußische Regierung eigentlich zu der Arbeiterfrage ein¬
nimmt. Noch in den letzten Tagen brachte die „Nordd. Allg. Zeit." an ihrer
Spitze einen — bisher wenig beachteten, aber sicher nicht gleichgiltigen — Artikel,
der an frühere Erörterungen anknüpfend, die Unauskömmlichkeit der Grund¬
sätze des liberalen Oeconomismus nachzuweisen suchte und mit besonderem
Nachdruck hervorhob, die Preisbestimmung der Arbeit durch Angebot und Nach¬
frage sei nicht nur practisch inhuman, sondern auch theoretisch ungenügend, da
sie die übrigen Preisbedingungen, insbesondere die nothwendige Deckung der
Herstellungskosten — zu welchen ausdrücklich die Erhaltung der Familie des
Arbeiters gezählt wird — außer Acht lasse. Es müßte wunderbar zugehen,
wenn diese Sätze nicht demnächst durch den „Socialdemokraten" aufgegriffen
würden, um als neue Argumente für die Nothwendigkeit staatlicher Einwirkung
auf die Lohnbestimmung und staatlicher Sorge für die „Deckung der Herstellungs¬
kosten" der Arbeitenden ins Treffen geführt zu werden. Unter allen Umständen
verdienen das eigenthümliche Verhältniß, welches die socialistische Arbeiterpartei
zu gewissen Factoren der preußischen Bureaukratie steht und die Rolle,
welche dieselbe bei den letzten Wahlen gespielt hat. die öffentliche Aufmerksam¬
keit in größerm Maße, als ihnen bisher zu Theil geworden. Es verlohnte wohl
der Mühe, auf Grund der Abstimmungslisten und des sonst vorhandenen
Materials den Einfluß, welchen diese Partei in den verschiedenen Wahlbezirken
ausgeübt hat, im Einzelnen zu verfolgen und die Eompromisse, welche mit ihr geschlos¬
sen worden, übersichtlich zusammenzustellen und dann ein Facit über ihre Stärke und
ihre Bedeutung für den letzten Wahlkampf zu ziehen. Die Resultate, zu welchen man
gelangen würde, sind vielleicht beträchtlicher als diejenigen meinen, welche den Ernst der
socialen Frage und ihrer Formulirung durch Lassalle herkömmlich mit einigen Phrasen
über Schulze-Delitzsch und dessen Genossenschaften abfertigen. Auch für die
Parteitactik und deren Moral ließe sich aus einer solchen Statistik des sociali-
stischen Einflusses auf die Wahlen manches lernen. Die Kompromisse mit den
Arveitercandidaten sind bisher von allen Parteien gleich leichtsinnig genommen
und nach rein localen Nützlichkeitsrücksichten abgeschlossen worden. Die Wichtig¬
keit der Sache aber fordert, daß man das socialistische Element rechtzeitig in Rech-
nung ziehe und demselben nach festen Grundsätzen begegne.
Von den beiden Abtheilungen dieses historischen Schauspiels vermag nur die
zweite einiges Interesse zu erwecken, freilich nicht für Denjenigen, durch dessen Na¬
men beide umfaßt sind: sie macht den Herzog Ernst von Schwaben zum Helden
und sollte nach ihm benannt sein. Was die erste Abtheilung bezweckt und wie sich
der Verfasser ihre Bühnenwirkung denkt, ist nicht recht abzusehen. Allerdings, sie
soll die Exposition zur Tragödie der zweiten Abtheilung geben; aber sie giebt diese
theils so mangelhaft, daß wir über den obwaltenden Conflict niemals ganz klar,
zum mindesten nie genöthigt werden Partei zu ergreifen, theils so völlig zugedeckt
durch ungehörige Bezüge, daß wir, mit unserm guten Willen ganz rathlos in der
Irre umgetncben, uns oft vergebens nach unserm Helden umsehen. Keine Spur
von dramatischer Concentration, aber eine Allseitigkeit der politischen Erörterung,
welche der Monatsübcrsicht der besten modernen Revüe Ehre machen würde. Da
spielt die deutsche, die polnische, die ungarische, die griechische, die burgundische, die
italienische Fcage, und über jede werden wir durch das ganze Stück hindurch auf
dem Laufenden erhalten. Da werden die pseudo-isidorischcn Dccretalien, da wird die
Stellung der Fürsten erörtert, und es giebt Versammlung über Versammlung — kurz,
wir sind im auswärtigen Amte des Kaisers trotz Schmidt, Bünau und Giesebrecht
zu Hause; aber was soll das, um Gotteswillen? Soll uns das warm machen? Ja
den Kopf macht es uns wirklich warm, und man hat seine liebe Noth, alle die an¬
gedeuteten Beziehungen festzuhalten; aber das Herz bleibt durchaus kühl dabei. Wir
wollen beileibe die politischen sujets nicht von der Bühne ausschließen; aber man
muß sie nur so zuzuspitzen wissen, daß sie uns mitten ins Herz, ins persönlichste
Leben dringen. Da darf kein Ausweichen sein. Auf die Bühne — das sollten die
Kaiscrdramatiker endlich bedenken — gehören Alternativen, die angepackt sein
müssen, mögen sie auch den Helden und uns zerreißen, gehören Conflicte, die
uns im Innersten erschüttern, gehören recht eigentlich Existenzfragen. Oder man
gebe uns wenigstens reiche, farbige, historische Bilder voll individuellen Lebens, das
Wogen und Ringen bedeutsamer Charaktere, eigenartiger Gestalten, wie Shakespeare
gethan hat. Aber hier — und so ist es in fast allen Kaiscrstücken, die wir kennen
— unterscheidet sich der Eine vom Andern nur durch die Partcistellung, nur durch
eine Nuance des politischen Princips; wir sehen Principien vor uns wandeln, keine
Menschen. Selbst die Frauen unterscheiden sich nicht recht von den Männern.
Der Stoff gehört an sich zu jener ersten schwcrtragischen Art. Aus dem Ver¬
hältnisse, wie es zwischen Herzog Ernst, Kaiser Konrad und Gisela besteht, kann sich
sehr wohl eine Existenzfrage erheben; nur muß sie über eine bloße Erbschaftsstreitig-
keit hinaus vertieft werden. Warum hat der Verfasser nicht diesen Stoff, der für
seine Kaiserhistoric dach auch so das Beste hergeben muß, rein für sich herausgeho¬
ben und zu echt dramatischer Energie entwickelt? Wollte er nicht in Uhlands Fuß-
stapfen treten? Oder glaubte er Diesen damit zu übertreffen, daß er quantitativ mehr
gab? Er Hütte vielmehr den gemüthlichen Gehalt des sujets noch reiner, als dieser,
herausarbeiten sollen. In der That ging die ursprüngliche Intention des Verfassers
wohl dahin. Wir wollen auch gern gestehen, daß der erste Entwurf, wie man ihn
duich alle die Uebcrwucherungcn hindurch erkennt, ansprechend berührt. Es war
eine gute Idee, dem blutjungen Herzoge eine ebenso junge phantastische Gemahlin
zu geben und die unergründlich treue, fast väterliche Freundschaft des Kyburg sich
auf Beide beziehen zu lassen, diese Freundcstrins aber in eine poetisch-isolirte Exi¬
stenz zu bringen. Nur Hütte das deutlicher gezeichnet, inniger ausgeführt, nur Hütte
der Gegensatz dieser kindlich-phantastischen Naturen gegen den Egoismus der Politik
stärker hervorgehoben werden sollen; aber so ist Alles verschwommen und verworren,
Vieles völlig unklar, das Beste nur leicht skizzirt. Dem Verfasser verderben seine
Intentionen unter der Hand und seine Feder ist stärker als er- aus jugendlichem
Idealismus wird nur zu oft Kinderei, und die Opposition gegen die herrschenden
Mächte führt hier und da zu Zweideutigkeiten, die uns sehr, sehr kühl machen. Das
Ganze ist verschüttet durch eine Last historischen Materials, die samische Anordnung
unbeholfen, die Katastrophe phantastisch-romanhaft, auf Ueberraschung berechnet.
Endlich thut auch der Vortrag das Seinige. uns zu verstimmen. Was ist dies
für ein greuliches Wildthun und Bramarbasiren, für eine mordmäßigc Reckenhaftig-
kcit! Was für eine wüthende Fröhlichkeit! Durchschnittlich bei jeder zwölften Rede
findet sich noch besonders als Spiclanweisung angemerkt: „lacht, lacht herzlich, lacht
kräftig;" — man kann sich nicht helfen; von der zweiten Handlung an sieht man
die ganze Gesellschaft in beständigem Grinsen vor sich.
Ein gutes, lcsenswerthcs und mehr als leichthin unterhaltendes Buch, von
geschickter Anlage und liebenswürdiger Ausführung. — Am 20. Ang. 1 844 verab¬
reden sich zwölf Jcnaischc Burschenschafter, fünfzehn Jahre später am selbigen Tage
wieder in Jena zusammentreffen zu wollen, und setzen dabei fest, daß alsdann Jeder
von seinen Erlebnissen, besonders in der Liebe, einen wahrheitsgetreuer und unge-
schmückten Bericht geben solle. Zur bestimmten Zeit erscheinen Sechs; von den
Schicksalen der Uebrigen hat aber der Eine und Andere der Erschienenen so weit
Kunde, daß er für sie die versprochene Mittheilung leisten kann. Das ist eine
hübsche, ansprechende Idee, und sie erweist sich als sehr ergiebig. Die Zwölf gehen
Alle von derselben idealistisch angehauchten, von Schwärmerei erfüllten Lebensgemein¬
schaft aus; der Idealismus, dem sie als Studenten huldigen, ist noch so allgemein,
so wenig vertieft und seines Inhaltes bewußt, daß die Verschiedenheit ihrer Indivi¬
dualitäten in dem allgemeinen poetischen Taumel wie ausgeglichen erscheint. Wie
Wird er sich, in Friction mit den realen Mächten des Lebens, bewähren, wie ent¬
wickeln und näher bestimmen? Mit welchen Elementen wird er sich verbinden, welche
wird er ausscheiden? Fünfzehn Jahre Zeit sind diesem Processe gewährt; alsdann
will man sehen, welche Besonderheit des Charakters durch Glück und Unglück, innere
und äußere Erfahrung aus der allgemeinen Anlage geformt .ist. Der Moment dieser
Musterung ist sehr glücklich bestimmt; denn in der Wahl der Lebensgefährtin zeigt
sich der Mann in seinem ganzen Wesen, offenbart er den Erwerb der Vergangenheit
und die Ansprüche seiner Natur, begründet er seine Zukunft. Er begründet sie für
sein inneres, wie für sein äußeres Leben. Denn um diese Zeit findet er sich auch
genöthigt, seine sociale Stellung zu nehmen und der Außenwelt seine Existenz abzu¬
ringen — oder mit tausend Opfern an Leib und Seele abzukaufen. I» diesem
Zeitpunkte nun werden uns die Zwölf wieder vorgeführt, und wir erhalten so eine
äußerst mannichfaltige Folge psychologischer Entwickelungen vor Augen gestellt.
Erschütternde Bilder voll Grauen und Verderbniß, furchtbarer Schuld und schwerer
sühnen, poetische Liebesscenen voll süßen Zaubers, bei denen uns das Herz auf¬
geht, harte, jählings zerstörende oder langsam aufreibende Conflicte mit religiösen,
politischen und socialen Confessionen, wechseln in wohlerwogenen Contraste mit leicht
humoristischen Schilderungen und mit ruhigeren Darstellungen aus dunklen, mehr
alltäglichen Existenzen. Selbst das Burleske ist nicht ausgeschlossen. Das Alles ist
psychologisch wahr und fein durchgeführt und durchweg nach dem Leben gezeichnet.
Reifes Urtheil, gute Beobachtung und ein edler Gcrcchtigkcitsinn bekunden sich überall,
und der Verfasser zeigt sich >n vielen und verschiedenartigen Lebenssphären bewandert.
Besonders Diejenigen, die von den gleichen Ansängen ausgingen wie jene Zwölf,
wird das anspruchslose Buch sehr interessiren.
Bei dem Wiederbeginn der Verhandlungen des norddeutschen Parlaments wird
dieses außerordentlich nützliche kleine Buch gewiß auch in seiner neuen fünften Aus¬
gabe die Verbreitung finden, welche es als parlamentarisches Hilfs- und Nachschlage-
lcxikon verdient. Nach einem „Statistik" überschriebenen 27 Seiten umfassenden
Emgangsvorcapitel, das die nothwendigen Angaben über die Territorial- und Bc-
völterungsvcrhällnisse der Bundesstaaten, ihre Finanzen, das Heerwesen u. s. w.
umfaßt, giebt das zweite Capitel eine mit biographischen Notizen versehene Ueber¬
sicht über sämmtliche Mitglieder des norddeutschen Parlaments, die Kandidaten für
die Nachwahlen, die Bundesraths- und Bureaubeamten u. s. w.; auch die Zusam¬
mensetzung der Fractionen des ersten, constituirenden Reichstags ist ausführlich be¬
rücksichtigt. Der dritte Abschnitt (107 S.) enthält die Verfassung des norddeutschen
Bundes im Wortlaut, sowie zahlreiche auf die Geschichte und Entwickelung derselben
bezügliche Aktenstücke und Erläuterungen. — Die günstige Aufnahme der früheren
Ausgaben dieses Büchleins, das sich durch die Solidität se'mer Arbeit wie durch die
glückliche Auswahl der wichtigsten auf unsere gegenwärtige Nationalvcrtretung bezüg¬
lichen Notizen auszeichnet, läßt voraussehen, daß dasselbe auch in seiner gegenwär¬
tigen Gestalt die verdiente Verbreitung finden wird.
Seit Winckelmann seine begeisterte Beschreibung des Apoll von Velve¬
dere, die wie ein Hymnus auf die wiedererweckte Schönheit die empfänglichen
Gemüther entzündete, zu den Füßen des Götterbildes niederlegte, dessen Haupt
ihm für seine Kränze zu hoch erschien, wurde es ein Glaubenssatz für alle, dei
nur von alter Kunst mitreden wollten, daß der Apoll von Belvedere das Ideal
männlicher Schönheit, die höchste, unübertreffliche Leistung der bildenden Kunst
sei. Seitdem echte Werke der großen und edlen griechischen Kunst bekannt
wurden, war es freilich leicht wahrzunehmen, wie weit gerade der vaticanische
Apoll sich von der erhabenen Ruhe, von der einfachen Größe entfernte, die
Winckelmann selbst als die Merkmale der wahren griechischen Kunst wie ein
Seher gepriesen hatte, dessen Prophezeihungen nun an den Sculpturen des
Phidias in Erfüllung gingen. Aus den Apoll von Belvedere siel aber ein ganz
anderes Licht, Schwächen und Mängel wurden an ihm sichtbar, ihn traf ent¬
schiedene Ungunst, mancher ließ das Kunstwerk jetzt die Uebcrschwänglichkeit seiner
Loder entgelten. Daneben wirkte auch die alte Tradition unbesieglich fort:
das populäre Kunsturtheil sieht noch heute im Apoll von Belvedere das Muster
der Kunstschönheit. Wie man sich aber auch mit der ästhetischen Würdigung
der Statue abfinden mochte, für die wissenschaftliche Archäologie wurde dieselbe
immer mehr ein unbequemes Problem. Denn weder auf die Frage, welcher
Zeit sie angehöre, noch auf die zweite, was sie denn, genau genommen, dar¬
stelle, gab sie befriedigende Antwort.
Daß sie nicht der Blüthezeit der griechischen Kunst, wie früher sum¬
marisch angenommen wurde, angehören könne, war jetzt klar: die virtuose
Technik, die bestechende Eleganz, die theatralische Lebhaftigkeit des Pathos, dieser
überraschende Effect weisen auf viel spätere Zeit hin. Die Hypothese von
einer seit Phidias bis Hadrian im Wesentlichen auf gleicher Hohe gebliebenen
Kunst, welche in der Verzweiflung die hergebrachte Werthschätzung allbewunder-
ter Kunstwerke zu retten, aller gesunden Vorstellung von der naturgemäßen Ent¬
wickelung Hohn sprach, hielt nicht Stich. Allein je näher man die Kunst der
Kaiserzeit kennen lernte und sich überzeugte, wie sehr ihr die eigentliche Kraft
des Erfinders abgebe, wie wenig sie im Stande gewesen sei, wahrhaft Neues
zu schaffen, um so unwahrscheinlicher wurde es, daß eine so eigenthümliche, be¬
deutende Erscheinung, wie der Apoll von Belvedere, die, weil sie ganz für sich
stand, um so berechtigtere Ansprüche auf Originalität machte, der Kaiserzeit an¬
gehöre. Und doch wies so manches, namentlich Technisches, auf die Kaiser¬
zeit hin.
Was stellt denn aber die Statue eigentlich vor? Den Ferntreffer, der
mit seinem Pfeile soeben den Gegner erlegt hat und noch von Zorn erfüllt,
aber seines Sieges froh von ihm wegschreitet, lautet die Antwort, in ihrer
Allgemeinheit für viele befriedigend, sucht man sich aber genauer Rechenschaft
zu geben, Zweifel über Zweifel erregend. Und wer ist der besiegte Gegner?
Die Mythologie nennt nur zu viele, die Apollo besiegt hat, und hier sehen wir
keinen vor uns, man hat daher auf alle gerathen. Der Zufall, der mit den
Archäologen so grausam zu spielen Pflegt, hat auch diesmal, während die Statue
im Wesentlichen bewundernswürdig erhalten ist, den Theil zerstört, welcher
die Deutung sicherstellen würde, die linke Hand, die ohne Frage ein charakte¬
ristisches Attribut hielt. Der Ergänzer Montorsoli hat ihm einen Bogen in
die Hand gegeben; allein rein nach Gutdünken. Daß dieser Apollo den Bogen
gehalten habe, ist ohne alle Gewähr; man muß weiter gehen und sagen, es ist
falsch.
Die lebhafte Wirkung, welche die Statue auf den Beschauer macht, beruht
nicht zum geringsten.Theil darauf, daß der Künstler es verstanden hat, den Uebergangs¬
moment zwischen Nuhe und Bewegung prägnant zur Anschauung zu bringen: der vor¬
gesetzte rechte Fuß tritt fest auf, der linke ist noch zum Schreiten gehoben, der Oberleib
zieht sich zurück, der linke Arm ist erhoben und seiner Bewegung folgt der lebhaft
seitwärts gewendete Kopf, der rechte Arm ist gesenkt. Auch der Ausdruck des
Gesichts theilt diesen Charakter der vorüberziehenden Bewegung. Mund und
Nase drücken Zorn und stolze Verachtung aus, aber wie ein Wolkenschatten
verliert sich dieser Affect, Stirn und Augen sind voll erhabener Ruhe. Analysirt
man die ganze Gestalt, so ergiebt sich, daß sie nicht die des Bogenschützen ist;
sie kommt weder dem zu, der im Begriff ist, den Pfeil zu entsenden, noch dem,
der soeben geschossen hat, unter beiden Voraussetzungen ergeben sich unlösbare
Widersprüche. Man muß sagen: die Handlung des Gottes war von der Art,
daß sie in diesem prägnanten Moment der Bewegung ihren treffenden Ausdruck fand,
das Attribut in der Hand desselben muß Handlung, Bewegung, Gesichtsausdruck
zugleich unmittelbar deutlich gemacht haben. Hätte einer der Erklärer durch glück-
Uche Eingebung das Wahre getroffen, man würde ihm schwerlich Glauben ge-
schenkt haben; es ist aber durch ein unzweifelhaftes Zeugniß c>n den Tag ge¬
kommen.
Aus einer flüchtigen Notiz Pouquevilles war bekannt, daß or. L.Frank,
welcher als Leibarzt Veli Paschas, des Sohnes von A!i Pascha, acht
Jahr in Janina und zwischen 1807 und 1810 mit ihm im Peloponnes war.
von demselben unter anderen Antiken eine Bronzestatue des Apollo zum Ge¬
schenk erhalten hatte. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie einem im Jahr 1792
in Paramythia (unmittelbar bei Janina) gemachten Funde angehörte.
Sechzehn Bronzen waren zum Vorschein gekommen, von denen vierzehn be¬
kannt wurden, zwei verschwanden. Von diesen beiden wird eine der Apollo
des or. Frank gewesen sein, von dem angegeben wird, er sei ein Viertel der
natürlichen Größe und dem Apoll von Belvedere gleich. Diese Statuette ist
nun, vom Grafen Orloff in Italien im Jahr 1813 oder 1819 angekauft,
durch Erbschaft an Fürst Dolgurucki gekommen, in die Sammlung des
Grafen Stroganoff in Petersburg übergegangen. Stephani hat sie
(1860) publicirt und die aus der Vergleichung mit dem vaticanischen Apoll sich
ergebenden wichtigen Resultate gezogen.
Die Uebereinstimmung beider Statuen ist überraschend. Nicht allein
Stellung und Haltung, Bildung und Ausdruck der Gesichts entsprechen ein¬
ander, manche Aeußerlichkeiten, wie die zierlich gearbeiteten Sandalen, die
Falten des auf der Brust liegenden Theils des Chlamys sind so zu sagen
identisch. Auch die Abweichungen sind bezeichnend, insofern sie darauf hinaus¬
kommen, der Bronzestatuette den Charakter größerer Ruhe und Einfachheit
zu geben. Dies gilt nicht blos im Allgemeinen von dem Unterschied einer mit
allem Luxus einer raffinirten Technik gearbeiteten großen Marmorstatue und
einer mit mäßiger Geschicklichkeit und Sorgfalt ausgeführten kleinen Bronze,
sondern es geht auf die Anlage zurück. Besonders auffällig zeigt es sich an
der Chlamys. Beim Apoll von Belvedere ist die über dem linken Arm
herabhängende Chlamys bekanntlich ein vielgepriesenes Wagstück der Marmor-
sculptur, welche man auch als Beweismittel gebraucht hat, daß die Statue einem
Original in Bronze nachgebildet sei, für dessen Technik eine solche Behandlung des
Gewandes angemessen sei. Und nun zeigt das Werk in Bronze gerade dies
Motiv nicht; in der größten Einfachheit fällt die Chlamys über den Rücken
hinab und läßt den linken Arm ganz frei, der dem entsprechend nicht so weit
nach links hin, sondern mehr gerade aus vorgestreckt ist. Als ein technisches Er¬
fordernis) kann man den von der Schlange umwundenen Oelbaum ansehen,
dessen der Marmor als einer Stütze bedürfte, während er neben der Bronze
überflüssig war. Für unwesentlich darf es gelten, daß der Bronzestatue der
Köcher fehlt, da das andeutende über die Brust laufende Tragband vorhanden
ist, und zwar der Bronzetechnik gemäß mit Ornamenten verziert. Bezeichnend
aber ist die Behandlung des Haars, dessen zierlicher, über der Stirn in eine
Schleife zusammengefaßter Lockenbau ein Haupteffectstück der Marmorstatue bildet,
während in der Bronze dieselbe Anlage schlicht und einfach ausgeführt ist. Wenn
man diese Begleichung weiter durchführt, wird man immer wieder zu demselben
Resultat gelangen, daß eine und dieselbe künstlerische Conception beiden zu
Grunde liegt, hier einfacher, dort raffinirter ausgeführt. Da es nun gleich
unwahrscheinlich ist, daß die Bronzestatuette nach der Marmorstatue, als daß diese
nach jener gearbeitet sei, so bleibt nur die durch zahlreiche Analogien unter¬
stützte Annahme übrig, daß beide nach demselben Original gearbeitet sind, wo¬
bei es dahin gestellt bleiben muß, ob und welcherlei Mittelglieder zwischen dem
eigentlichen Original und einer oder beiden davon abgeleiteten Sculpturen
etwa noch gestanden haben. Nur das läßt sich behaupten, daß die
Bronze ihrem ganzen Charakter nach eine ältere Kunstweise wiedergiebt, also
dem Vorbild näher steht als das Marmorwerk. Dadurch sehen wir das kunst¬
historische Räthsel im Wesentlichen gelöst. Der Apoll von Belvedere nimmt
nicht mehr die isolirte Stellung als eine Origiiialschöpfung der Kaiserzeit ein,
er tritt in die lange Reihe plastischer Werke, welche wir als mehr oder
weniger freie Nachbildungen berühmter Schöpfungen früherer Zeiten erkennen.
Auch der Apoll von Belvedere ist eine Conception der frühern griechischen
Kunst, das Raffinement der technischen Ausführung, der gesteigerte Effect des
theatralischen Pathos gehört dem virtuosen Nachbildner der Kaiserzeit an.
Dies Resultat hat neuerdings eine erwünschte Bestätigung gefunden.
Im vorigen Jahre fand der Bildhauer Steinhäuser in Rom bei einem
Steinmetz unter altem Gerümpel einen Marmorkopf, der ihm, wiewohl er ver¬
stümmelt war, wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Apoll von Belvedere auffiel,
und den er deshalb an sich kaufte. Nähere Untersuchung ergab, wiewohl
die Nase fehlt, die Haare und die Oberlippe zum Theil verstoßen sind, eine
so genaue Uebereinstimmung in den Maßen wie im Detail der Formen, daß
ein Gypsabguß des neuen Kopfes ohne Weiteres auf die Büste des vati¬
kanischen Apollo gesetzt werden konnte, daß die Nase und die entsprechenden
Theile des Haars und der Lippe zur Restauration des verstümmelten Kopfes
dienten. Es blieb also kein Zweifel, daß der neu gefundene Kopf einer Statue
angehörte, welche als das dritte Exemplar dasselbe Werk wiedergab, von welchem
der Apollo Stroganoff wie der vaticanische Nachbildungen sind. Hebt sich schon da¬
durch die günstige Vorstellung von dem Ruf und der Bedeutung des Originals
so wird dieselbe noch durch eine genauere Würdigung des neuen Kopfes ge¬
steigert, wie sie von Kekulö umsichtig angestellt ist, dem wir eine photo¬
graphische Abbildung verdanken. Bei der großen Uebereinstimmung geben sich
nämlich auch bedeutsame Verschiedenheiten zu Gunsten des neu aufgefundenen
Kopfes zu erkennen, welcher zu d«in des vaticanischen in einem ähnlichen Ver-
hältniß steht, etwa wie der der melischer Aphrodite zur capuanischen.
Wenn dort Feinheit und Eleganz und eine gewisse Allgemeinheit in der Be¬
handlung der Formen, welche man fälschlich für Idealität ausgegeben hat. den
modernen Beschauer bestechen können, so offenbart sich hier eine Freiheit und
Kräftigkeit der Behandlung, welche eine individuelle Wahrheit, durch seinge¬
fühlte Durchbildung im Einzelnen eine unnachahmlich lebendige Bewegung her¬
vorruft, aber auf raffinirte Effecte der Technik verzichtet, wie die Behandlung
des Haars zeigt, welche mit einem Wort den zarten Hauch der griechischen Kunst be¬
wahrt hat. Dürfen wir daher den Stcinhäuserschcn Kopf auch nicht als das
eigentliche Original der beiden anderen Repliken ansehen, so führt er uns doch
demselben entschieden näher und steigert unsere Vorstellung von dem Werth
desselben um ein Bedeutendes.
Der Apollo Stroganoff giebt uns aber auch für die richtige Deu¬
tung die Hülfsmittel. Seine linke Hand ist wohlerhalten und der Gegenstand,
welchen er in derselben hielt, wenigstens soweit, daß er sich erkennen und be¬
stimmen läßt. Es war ein weicher dehnbarer Gegenstand, den er mit der ge¬
schlossenen Hand zusammenpreßte, von dem ein Theil über dieselbe hervorragte,
während der offenbar nach unten sich erweiternde größere Theil abgebrochen und
verloren ist. Die genaue Untersuchung ergab, daß dieser elastische Stoff eine
zottige Thierhaut ist, und mit Recht schloß Stephani, daß es nur die Aegis
sein könne, welche Apollo gehalten hat. Die willkommene Bestätigung giebt
Pouqueville, welcher neben der Ap-ollostatue als im Besitze Franks ein Gorgo-
nenhaupt nennt. Es ist kaum eine Vermuthung zu nennen, daß damit der
abgebrochene, mit dem Medusenhaupt versehene Theil der Aegis bezeichnet sei,
und daß dieses Stück, wahrscheinlich schon beim Auffinden von der Statuette
getrennt, selbständig gezählt das noch vermißte sechzehnte Fundstück von
Paramythia sei. Wenn also dieser Apollo, wie nicht zu bezweifeln ist, die
Aegis mit dem Gorgoneion in der Linken hielt, so ist für den seiner Anlage
nach durchaus entsprechenden Apoll von Belvedere, dessen Attribut zufällig nicht
erhalten ist, dasselbe vorauszusetzen, da kein Grund dawider spricht, d. h. der
Typus, welcher diesen Wiederholungen zu Grunde lag, stellte Apollo als Ae-
gishalter oder Aegis schütterer dar.
Das scheint allerdings ein neues Räthsel: Apollo mit der Aegis, und mit
der Aegis in der linken Hand.
Zeus, der Wolkenversammler, und seine blauäugige Tochter Athene
sind die Gottheiten, welchen die Aegis eigentlich zukommt, ein Ziegenfell oder
sonst eine Thierhaut, welche mit Troddeln verziert, später von Schlangen ein¬
gefaßt, zottig oder geschuppt, die Brust bedeckt, oder auch über Brust und Rücken
schirmend herabhängt, dann auch über den linken Arm geschlagen, als Schild
Vorgestreckt und dem Feind entgegengehalten wird. An der Aegis befindet sich
das Haupt der Medusa (G orgon eion). das durch seinen Anblick versteinert;
wohin die Aegis gewendet wird, da bringt sie Entsetzen und Vernichtung. Die
eigentliche Waffe des Apollo ist die Aegis nicht. Auch der Gott des heitern
Lichts und der besänftigender Cither kann im Zorn vernichten, dann sind es
seine raschen Pfeile, welche Tod und Verheerung bringen. Aber Apollo, wie
er als Orakelgott nur das ausspricht, was sein Vater Zeus durch ihn verkün¬
det, kann auch im Auftrag des Zeus die Aegis nehmen, um durch sie den
Gegner zu vernichten. So finden wir ihn in der Ilias.
Als Zeus aus dem Schlaf, in den Heres List ihn versenkt hat, erwacht
Hektor verwundet, die Troer hart bedrängt, die Achäer unter Poseidons Beistand
mächtig vordrängend sieht, da läßt er durch die hart bedrohte Here Iris und
Apollo zu sich entbieten. Die leichtbeschwingte Iris sendet er an Poseidon und
zwingt ihn durch sein Machtwort, den Kampf zu verlassen, zu Apollo aber spricht
der Herrscher im Donnergewölk:
Phoebos, geh, Geliebter, zum erzgcpcmzcrten Hektor;
Denn bereits entwich ja der Erderschüttrcr Poseidon.
Auf, du nimm in die Hände die quastumbordete Aegis;
Diese mit Macht her schütternd erschrecke das Heer der Achäer.
Apollo stellt Hektor wieder her und bringt ihn zu den Seinigen in die
Schlacht zurück.
Vor nun drangen die Troer mit Heereskraft; Hektor voranging
Mächtiges Schritts, vor ihm selbst dann wandelte Phöbos Apollo»,
Eingehüllt in Gewölk und trug die stürmische Aegis,
Grauenvoll, rauhumsäumt, hochfcicrlich, welche Hephästos
schmiedet' und Zeus dem Donnerer gab zum Entsetzen der Männer:
Diese trug in den Händen der Gott und führte die Völker.
Die Achäer harren der angreifenden Troer, der Kampf beginnt.
Weil noch still die Aegis cinhcrtrug Phöbos Apollon,
Haftete jegliches Heeres Geschoß und es sanken die Völker.
Aber sobald er sie gegen der reisigen Danaer Antlitz
schüttelte, laut aufschreiend und fürchterlich, jetzo verzagte
Ihnen im Busen das Herz und vergaß des stürmischen Muthes.
Wie die Heerden vor Raubthieren
Also entflohn kraftlos die Danaer, ganz von Apollons
Schrecken betäubt; denn die Troer und Hektor ehrt' er mit Siegsruhm.
Im Homer also fand der Künstler das Bild des Aegisschütterers Apollo,
wie wir uns die vaticanische Statue vorstellen müssen. In die Hand mußte
er ihm die Aegis geben, welche er nicht wie Zeus und Athene aus die ihm
eigenthümliche Weise umgehängt trägt, sondern als eine von Zeus ihm für
einen bestimmten Zweck verliehene Waffe momentan gebraucht. Denkt man
sich den Apoll von Belvedere mit der Aegis in der erhobenen Linken ergänzt.
so bittet zunächst die Statue ein ungleich besser abgeschlossenes Ganze als mit
dem Bogen in der Hand, der wie immer ausgeführt, einen unruhigen und zer¬
streuenden Anblick machen mußte. Vor allem aber gewährt die Aegis das
volle Verständniß des prägnanten Moments, welchen die Statue zur Anschauung
bringt, wie dies vorher verlangt wurde. Die Handlung des Gottes und ihre
Wirkung ist eins, fällt in einen und denselben Moment zusammen, wie in seiner
Haltung und Stellung Ruhe und Bewegung, Zorn und Heiterkeit in seinem
Gesicht im Uebergangsmoment zusammengefaßt erscheinen. Die Aegis ist die
unmittelbar vernichtende göttliche Waffe, sie zeigen und verderben ist eins, eine
Abwehr dagegen ist undenkbar; wer sie in der Hand des Gottes erblickte, hatte
den unmittelbar sinnlichen Eindruck, daß jeder Gegner vor ihm erlegen sein
mußte. Die Frage, ob das Ziel wirklich getroffen sei, ist ebenso müssig, als
die nach dem Gegner, wer er sei und welcher Art, ob einer, ob viele; alles ver¬
schwindet vor der absoluten Gewißheit der Vernichtung, welche der bloße An¬
blick der Aegis bringt. Auch der Gesichtsausdruck erhält durch die Aegis
und das an derselben befindliche Gorgoneion eine eigenthümliche Beleuchtung.
In seiner ursprünglichen Bildung, welche an der rechten Stelle bis in die spä¬
teste Zeit festgehalten wurde, stellt das Gorgoneion die aufs höchste aufgeregten
Leidenschaften der Wuth, des Hasses, des grimmigsten Hohns in der häßlichsten
Verzerrung aus und wurde Feinden jeglicher Art als ein Schreckbild entgegen¬
gehalten, um sie zu verwirren, zu erschüttern und zu lähmen. Nun spricht sich
aber in dem untern Theil des Gesichts Zorn, Wuth und Hohn in wunder¬
barer Mischung aus, dieselben Empfindungen gegen den Feind, welche das
Attribut des Gottes ausdrückt, nehmen wir in seinen Gesichtszügen wahr. Aber
diese verklären sich, je höher unser Blick hinaufsteigt, mehr und mehr zu himm¬
lischer Hohheit und Heiterkeit. Was hier im grassen Ausdruck der entfesselten
Leidenschaft als einer ungebändigten Naturgewalt Schauder und Abscheu erregt,
das strahlt uns aus dem Antlitz des Apollo in der Hoheit des siegesbewußten
Olympiers entgegen. Auch dieser bleibt nicht unberührt von den Schwingungen
leidenschaftlicher Erregung; aber wenn er, der Rächer des Frevels, dem Men¬
schen dadurch näher gerückt und verständlicher wird, so hört er nicht auf, als
göttliches Wesen in übermenschlicher Kraft und Klarheit zu wirken. Derselbe
Apollo, welcher dem Orestes als Erfüllung einer sittlichen Pflicht auferlegt,
den Mord des Vaters auch an der Mutter zu rächen, bekämpft mit Zorn und
Abscheu die Erinnven, welche als dunkle und blinde Naturmächte nur
Blut für Blut heischen, ohne das Sittengesetz, welches die olympischen Götter
der Welt verkünden, gelten zu lassen. So diente die Aegis in der Hand des
Apoll von Belvedere derselben Idee, welche die Statue beseelte und führt das
Kunstwerk auch innerlich zu einem befriedigenden Abschluß.
Wer mit dem Entwicklungsgang der hellenischen Kunst vertraut ist, wird
sich zu der Frage gedrungen fühlen, ob nicht außer dem poetischen Eindruck der
homerischen Schilderung, welche wohl geeignet war einen Künstler anzuregen,
eine bestimmte Veranlassung, ein mächtig wirkendes Ereigniß die sehr eigen¬
thümliche Schöpfung hervorgerufen habe, als welche wir jetzt das Original des
Apoll von Belvedere aufzufassen berechtigt sind. Eine scharfsinnige Vermuthung
Prell ers hat aus diese Frage eine befriedigende Antwort gegeben: er findet
in der Niederlage der Kelten vor Delphi das Ereigniß, welches den Künst¬
ler zu seinem Werke veranlaßte und begeisterte.
Als im Jahre 279 v. Chr. die Kelten unter Brennus vor Delphi
erschienen um den Tempel zu plündern, kamen den zur tapfern Vertheidigung
des schon durch seine Lage wirksam beschützten Heiligthums mit ihren Verbündeten
entschlossenen Delphiern ungewöhnliche Naturereignisse zu Hülse. Furchtbare Ge¬
witterstürme entluden sich unter Donner und Blitz mitSchneeundHagelüber den stür¬
menden Galliernund verbreiteten, einen panischen Schrecken unter ihnen, der die Nie¬
derlage herbeiführen half, welche zwar nicht, wie man nachher erzählte, ihre völlige Ver¬
nichtung zur Folge hatte, aber sie zum Abzug aus Griechenland zwang. Die Ret¬
tung des allgemeinen Heiligthums, die Besiegung und Vertreibung der Barbaren
durch gemeinsame Anstrengungen der verbündeten Hellenen rief in Griechenland,
namentlich in Athen große Begeisterung hervor, man glaubte die Thaten und
die Erfolge der Perserkriege seien wieder gekehrt, man hoffte auf nationale Eini¬
gung und Erhebung zu nationaler Freiheit und Größe. Wie damals schrieb
man den Göttern einen wesentlichen und unmittelbaren Antheil an dem Siege
zu. Ein Dank- und Netlungsfest (Soteria) wurde gestiftet, das in Delphi
noch lange Zeit mit glänzendem Aufwand gymnischer und musischer Wettspiele
zu Ehren Zeus des Erretters und des pythischen Apollo gefeiert
wurde. Es wurde erzählt und geglaubt, als man damit umgegangen sei, mit
den Tempelschätzen zu flüchten, habe ein Orakel das verboten mit der Weisung,
der Gott selbst werde Sorge tragen und die weißen Jungfrauen. Und
als die Kelten zu stürmen begannen, und das furchtbare Unweiter mit Donner
und Blitz, Schnee und Hagel über sie einbrach, als der Sturm entwurzelte
Bäume und losgerissene Felsblöcke über sie herflürzte, da sah man den Gott
selbst in überirdischer Schönheit leuchtend durch die Dachöffnung in seinen Tem¬
pel herabkommen und mit Athene und Artemis, deren Bilder vor dem Tempel
standen, den Feind bekämpfen.
Das war ein Moment und eine Stimmung, welche einen Künstler schöpferisch
anregen konnte, und keinen glücklicheren Ausdruck konnte er für die Vorstellung,
welche es hier galt, finden als das homerische Bild des Apollo mit der Aegis.
Bei wenigen Symbolen hat sich im Cultus und in der Sage die ursprünglich
zu Grunde liegende Naturanschauung so lebendig im Bewußtsein erhalten, als
bei der Aegis und dem Gorgoneion. Daß sie Sturm und Gewitter in den
heftigsten Erscheinungen ausdrücken, ist Wohl nie ganz verkannt worden, und
auch in der homerischen Schilderung klingt der Ton der alten Naturpoesie im
Mythus durch die epische Darstellung hindurch. Im Sturm und Gewitter zeigt
Apollo nicht seine eigentliche Natur und Kraft; wenn man in solchen Er¬
scheinungen unter ganz besonderen Umständen ihn als wirksam betheiligt wahr¬
zunehmen glaubte, so marnsestirte er sich als den von seinem Vater Zeus ge¬
sandten und ausgerüsteten Stellvertreter. Diese Vorstellung sprach sich darin
aus, daß das Rettungssest zuerst dem Zeus als dem Retter und erst meh«-n ihm
dem Apollo gewidmet wurde, der doch der eigentliche Gott des pythischen Hei¬
ligtums war. Leibhaftig aber drückte sie die Statue aus, welche Apollo mit
der von Zeus ihm übergebenen Aegis in der Linken darstellte, wie er über die
im Moment vernichteten Feinde triumphirt. Es ist daher eine durchaus be¬
friedigende Voraussetzung, daß ein Weihgeschenk, welches bestimmt war den Sieg
über die Kelten durch ein Bild des Gottes selbst zu verherrlichen, das Original
der auf uns gekommenen Wiederholungen sei. Sucht man in der Vorstellung
den Apoll von Belvedere aller Zuthaten des Luxus und Raffinements zu
entkleiden und auf die ursprüngliche Reinheit und Simplicität zurückzuführen, so
bleibt ein Gebilde, das nach Auffassung, Anlage und Verhältnissen der Kunst¬
übung dieser Zeit am ehesten entspricht.
So ist durch glückliche Entdeckungen und geistreiche Combination Schritt
vor Schritt die Bedeutung und die kunstgeschichtliche Stellung des Apoll von
Belvedere ins Klare gebracht. Auch das, was noch vermißt wird, ein bestimmtes Zeug¬
niß über die Entstehungszeit und den Namen des Künstlers, der das Original
bildete, beschert vielleicht noch ein günstiger Fund.
Wie kräftig trotz aller Hemmnisse die Fortschritte der Deutschen in Wohlstand,
Bildung und erfreulichem Behagen sind, hat in diesem Frühjahr und Sommer
wieder jeder erfahren, der aus seiner Winterstube eine Fahrt in die blühende
sonnige Landschaft unternahm. Wo der Dampfwagen irgend anhält, stehen
schattige Linden und Kastanien, ragen Fliedergebüsche und Goldregen um die
Stationshäuser, ja die Rebe hüllt bereits in fröhliches Grün die schnell errich¬
teten Häuser, in denen unsere Dampfrosse aufbewahrt werden, oder der Bahn¬
wärter sein enges Lager hat. Auch in kleinen Städten ist der Verschönerungs¬
trieb thätig, die Promenaden um die alte Stadtmauer und den abgetragenen
Wall werden alljährlich verschönert, am Tage machen die Kinder der Bürger
dort ihre ersten Uebungen, und am Abend lagert sich auf den Bänken der müde
Arbeiter und freut sich der Gartenkunst, welche mehr ihm als dem Reichen zu
gute kommt. Auf dem Lande trägt der Postbote mit Briefen, Zeitungen und
Unterhaltungsblättern die Kunde von der großen Welt bis in das ärmste Wald-
dvrf, auch in kleinen Städten sucht man eifrig den Anschluß an die großen Ver¬
kehrsadern, sorgt um Gaslicht, gutes Trinkwasser, sorgfältige Pflasterung. Der
Trieb, die nächste Umgebung zu verschönern, auch das Aeuszere des Ortes heiter
und stattlich darzustellen, wird immer allgemeiner, und das Interesse an der
heimischen Vergangenheit, an alten Baudenkmälern und merkwürdigen Bräuchen
regt sich auch in kleinen Kreisen. Der Deutsche hat wieder den Wunsch und zum
Theil die Fertigkeit gewonnen, sich und seine Umgebung mit Selbstgefühl zu
betrachten. Und das ist viel werth als Bürgschaft und Vermittelung auch anderer
größerer Fortschritte. Seit dreißig Jahren, etwa seit dem Bau der ersten Eisen¬
bahnen, ist das Aussehen der Städte und Landschaften nicht weniger geändert
als das geistige und Verkehrsleben des Volkes, und der in seiner Jugend die
deutsche Heimath verließ und jetzt auf der Höhe des Mannesalters zurückkehrt,
der wird Mühe haben, in den meisten Gegenden die alten Bilder wieder zu
finden, die er bei seiner Abreise mitnahm. Es ist nützlich, immer wieder daran
zu erinnern.
Nicht ebenso bekannt aber ist, daß ein großer Theil Deutschlands schon an
der Scheide des vorigen Jahrhunderts von den letzten Lebensjahren Friedrichs
des Großen bis zu den Napoleonische» Kriegen in ähnlichem Aufblühen war.
Es waren damals die praktischen Folgen der Aufklärung, welche auch der mate¬
riellen Seite des deutschen Lebens zu gute kam. Auch damals, nach langem
kümmerlichen Siechthum der Volkskraft in den protestantischen Landschaften eine
starke Zunahme des Handels, der Industrie, das erste Herauskommen des Bürger-
thums und als Folge davon ein reger Verschönerungstrieb, der nach dem Zeit¬
geschmack Niederes aufbaute und die kahle Umgebung der Städte und Herren¬
sitze mit Anlagen schmückte. Durch die unerhörten Kriegslasten von zehn angst¬
vollen Jahren, durch Gefahr und Noth einer eisernen Zeit wurde Capital. Un¬
ternehmungsgeist und Absatzquellen wieder verringert, und nach dem Frieden
von 181S vergingen 20 Nothjahre, eine stille, schmucklose, an Behagen und
Selbstgefühl sehr arme Zeit. Aber an jenes frühere Aufblühen der Volkskraft
zur Zeit unserer Väter und Großväter sollen wir jetzt noch dankbar denken,
wenn wir die großen schönen Bäume auf den älteren Stadtpromenaden und
die englischen Parkanlage» auf vielen unserer Rittergüter betrachten, welche damals
angelegt wurden.
Ungleich schneller und größer ist die Energie unsres Fortschritts, und sie
hat auch da, wo sie das Vorhandene zu verschönern bemüht ist, einen Vorzug
vor jenem kurzen Vorfrühling einer frühern Generation: daß sie mit größerer
Theilnahme und mit größerer Objectivität auf die erhaltenen Ueberreste einer
ältern Vorzeit blickt. Noch gelingt uns nicht immer, monumentale Bauten
alter Zeit geschickt zu restauriren, und wir leiden wieder zu sehr an dem Be¬
streben, Baustile und Kunstformen aus verschiedenen Perioden der Vergangen¬
heit in die Bedürfnisse unseres Lebens einzufügen. Aber wir wissen doch das
Schöne, das in alter Zeit geschaffen wurde, nach seiner Eigenthümlichkeit zu wür¬
digen, auch dem Fremdartigen lebhaften Antheil zuzuwenden.
In dieser Zeit, wo wir der neuen Kraft uns freudig bewußt werden und
vergangene Eigenthümlichkeiten unseres Volkes gern mit der Gegenwart ver¬
gleichen, wird den Lesern dieses Blattes vielleicht nicht unwillkommen sein, einen
Blick von der großen Strömung des modernen Lebens nach solchen Stellen des
deutschen Bodens zu thun, wo die neue Zeit wenig an alten Verhältnissen
geändert hat, oder wo gegenüber der lebhaften Arbeit unsrer Maschinenzeit sich
ein kleinbürgerliches Stillleben mitten unter uns bewahrt hat. In einer Zeit
wo das allgemeine Reiseintercsse nach einer fremden Hauptstadt zieht, mitten
unter die gehäuften Eisindungen moderner Kunstindustrie, soll hier anstatt Be-
richten von der großen Ausstellung zuweilen Bericht gegeben werden von solchen
Stätten unseres Lebens, welche noch jetzt mehr von der großen Vergangenheit
unseres Volkes erkennen lassen, als von dem großen Kampfe der Gegenwart.
Es ist die Absicht, in einer Reihe von solchen Bildern kleinerer Städte auch
den geschichtlichen Weg deutlich zu machen, auf welchem das städtische Leben
seit dem Mittelalter heraufkam und sich umformte. Die Beschreibungen sind von
verschiedenen Verfassern, die Tendenz soll in allen dieselbe sein.
Den Bürgern seiner getreuen Reichsstadt Rotenburg an der Tauber ge¬
stattete im Jahre 134.0 der Wittelsbacher, welcher damals auf dem deutschen
Throne saß, die von Augsburg nach Würzburg und Frankfurt führende Han¬
delsstraße in ihre Mauern zu verlegen; der königlich bairischen unmittelbaren
Stadt des Regierungsbezirks Mittelfranken dagegen ist es im 7. Decennium
des 19. Jahrhunderts nicht gelungen, auf den Fahrplänen der bairischen Staats-
bahn als Station der Strecke von Würzburg nach Gunzenhausen zu figuriren.
Der Besucher der alterthümlichen Taubcrstadt muß sich in einem Postomnibus
auf üblem Vicinalwege, oft im langsamsten Schritt, von einem Bahnhof, der
nach dem unweit gelegenen Dörfchen Steinach genannt ist, zu dem zwei bis
drei Stunden entfernten Rotenburg befördern lassen. Dasselbe zählt jetzt zu
denjenigen Plätzen, welche nur durch die historischen Erinnerungen, die daran
haften, und deshalb nur für einen kleinen Bruchtheil des reisenden Publicums
bemerkenswerth sind. Daß es von einer befahrenen Touristenstraße abgeschnitten
wird, hat ein völliges Zurücktreten in ein gewisses nebelhaftes Dunkel veran¬
laßt. Erst ein außerordentliches, meist nicht erfreuliches Ereigniß vermag solche
Orte für eine kurze Weile in die Mitte des Tagesgesprächs zu rücken, und so
ist denn auch im Sommer 1866 neben dem Vogelsgebirge und der Rhön we¬
nigstens der untere Theil des Tauberthales vielfach genannt worden, als er von
bewaffneten Touristen, die nicht gerade aus freien Stücken dahin gerathen
waren, durchsucht wurde. Des obern Tauberthales und der Stadt Rotenburg
wurden die feindlichen Heere erst nach Feststellung der Demarcationslinie an¬
sichtig.
Sehr steht Rotenburgs Gegenwart an Glanz und Bedeutung hinter seiner
Vergangenheit zurück, und wenn irgendwo, ist es hier geboten, einen Blick in
die Jahrhunderte zurückzuwerfen, wo in den Mauern, deren Verödung wir
heute constatiren müssen, ein kräftiges, gedeihliches Leben herrschte.
Wie die weit überwiegende Mehrzahl ihrer Schwestern, ist auch diese Stadt
über ihr Alter nicht unterrichtet. Wer den ersten Baum gefällt auf dem Hügel,
welcher kräftig in das schmale Tauberthal vorspringt, das tief in den Keuper-
kalkfelsen eingefressen ist, liegt im Dunkeln. Von einer „Rode" im weiten
Walde nämlich hat die Rotenburg ihren Namen. Jetzt verbindet den Hügel
eine schwache Anschwellung, auf der gegenwärtig die Stadt lagert, mit einer
welligen Hochebene, die im Osten sich anschließt und gegen die Quellen der
Wörnitz, der Altmühl. der Rezat, der Aisch sich hindehnt. Im Dunkeln liegt
auch, wann diese Rodung geschehen; denn die Zeit ist zum Theil vorüber, wo
die Geschichten des Mönches Humbald, den Trithemius erlog und in unsre
Geschichtsliteratur einführte, für jede Stadt der den Trojanern entstammten
Franken eine Erzählung ihres Ursprungs gaben. Eine irgend zusammenhängende
Geschichte der Burg, die aus dem freigemachten Platze angelegt wurde, beginnt
vielmehr mit dem Aussterben ihrer ersten historisch erkennbaren Herren. Es
war ein reichbegütertes Geschlecht gewesen, von den Grafen des Kochergaues
stammend, das bald nach der Komburg im Kocherthale, bald nach der Roten¬
burg sich benannte; die süddeutsche Kunstgeschichte, hat in ihrer romanischen
Epoche mehrere prächtige Stücke aus der Kirche des frühern Klosters aufzuführen,
zu welchem im Jahre 1078 einer der letzten Herren des Hauses das Stamm¬
schloß Komburg bei Hall umgeschaffen. Beim Tode des letzten Grasen fielen
die Besitzungen zum Königsgute heim, und der damalige König Heinrich der
Fünfte übergab sie.als Reichslehen seinem jüngern Schwestersöhne Conrad, der
später als Conrad der Dritte der erste Staufer auf dem Throne deutscher
König wurde. Unter diesem, dann auch unter Friedrich dem Ersten und Hein¬
rich dem Sechsten galt die Rotenburg als Mittelpunkt eines Güter' und Amts¬
sprengels, der mehrmals zur Ausstattung für jüngere Söhne des staufischen
Hauses verwandt wurde. Sie lieh einigemale einem Titelherzogthume den Na¬
men, das für diesen Nachwuchs geschaffen war. Vornehmlich durch jenen Fried-
rich, den Sohn Conrads des Dritten, der im August 1167 auf dem vierten
Welschlandzuge seines kaiserlichen Vetters, jung an Jahren und viel betrauert,
in Etrurien der Pest erlag, hat der Name eines Herzogs von Rotenburg Klang
gewonnen. Er verschwindet nach dem Jahre 1196, wo Herzog Conrad, der
Sohn Friedrichs des Ersten, starb. Der letzte König aus staufischen Geblüt,
Conrad der Vierte, mußte in einer der trübsten Epochen deutscher Geschichte,
im Jahre nach dem Tode Friedrichs des Zweiten, auch Rotenburg veräußern,
nachdem von dem großen territorialen Besitz der staufischen Könige, der aus
Hausgut, herzoglichen Domänen und Reichsgut vereinigt war, schon so manches Stück
in der bittern Noth verschleudert worden, um die gelichtete Partei festzuhalten —
Conrad der Vierte nämlich verpfändete im August 1231 die Stadt Rotenburg
nebst den dortigen Juden und ein nahes Dorf an Gottfried von Hohenlohe,
seinen treuen fränkischen Anhänger um 3000 Mark.
Denn nicht nur war bei der Burg bereits die. Stadt gleiches Namens bis
zu einem gewissen ansehnlichen Umfang erwachsen, der Umstand, daß in der
Urkunde Conrads die Stadt ohne die Burg erwähnt wird, zeigt auch, daß sie
schon als ein selbständiger Theil sich damals von derselben abgelöst haben mußte.
Wahrscheinlich hatte die höhere Bedeutung der Burg, des zeitweiligen Aufent¬
haltes staufischer Prinzen, und der glänzende Hofhalt, der durch einige Genera¬
tionen daselbst stattfand, bewirkt, daß neue Bewohner in größerer Anzahl zu¬
geflossen und eine Ausdehnung der ursprünglichen Ansiedelung verursacht hatten.
Noch heute läßt sich der erste Umfang der Stadt erkennen. Fast kreisförmig
lag sie im Osten der Burg, noch nicht mit ihr zusammenhängend, so daß die
Außenseite der äußersten Häuserreihe zugleich als Ringmauer diente, da wo das
Terrain nach dem Tauberthale sich zu neigen beginnt. In ihrem Umkreise stand
eine Kapelle, die als Filiale der Kirche des nahen Detwang angehörte und
durch diese dem Würzburger Bisthum. Aber schon bis zum Jahre 1204 war
die Erweiterung dieses Kerns so weit gediehen, daß an der Nord- und Nord¬
ostseite der heutige Umfang der Stadt bereits erreicht war. Nur an der Süd¬
seite fehlte dem jetzigen Zuge der Ringmauer gegenüber noch 'ein größeres
Stück, und im Nordwesten und gegen die Burg hin galt es noch, die Befesti-
gungslinie bis ganz an den Thalrand hinauszurücken. — Aber während der-
gestalt die Stadt sich entwickelte, hatten auch die Verhältnisse der Burg sich
verändert. Die Staufer hatten schon im 12. Jahrhundert einen königlichen
Burgvogt eingesetzt, um die Reichsveste zu vertheidigen, das zu ihr gehörige
Reichsgut zu verwalten und die Ansiedelung dabei, welche sich zu einer Stadt
entwickelte. Männer aus dem Hause der Herren von Nortenberg erscheinen
bald im erblichen Besitz dieser Stellung. Schon zur staufischen Zeit umfaßt«
das Plateau des Burghügels ob der Tauber außer der Stätte des kaiserlichen
Landgerichts auch eine besondere Nortenbergische Hintere oder neue Burg neben
der alten Vvrderburg, die auch fortan dem Reiche zustand. Und als über freies
Eigenthum verfügte 12S8 LupoU von Norteaberg, als er einen ausgedehnten
Meierhof nahe am Ausgange der Burg innerhalb der jetzigen Stadt in ein Kloster
der Dominicanerinnen umwandelte, die bis dahin außerhalb der sichernden
Mauer» gewohnt hatten. So schloß auch die Burg der Stadt Nürnberg, das
aus ähnlichen Vorbedingungen wie Rotenburg erwachsen war, neben der Reichs«
veste eine Beste der Burggrafen in sich, seit die Grasen Zollern erbliche Burg¬
grafen geworden Ware».
Nicht lange ist die Stadt in Botmäßigkeit der Hohenlohe geblieben. Ihre
inneren Verhältnisse gestalteten sich im dreizehnten Jahrhundert analog wie in
anderen Reichsstädte», die bei königlichen Burgen erwachsen waren. Schon 1240
mußten die Rotenburger daran denken, nach dem Brande ihres Rathhauses
diesem Gemeindehause eine neue Stätte zu errichten, und schon vom 15. Mai
1274 ist aus Hagenau ein umfassendes Privileg Konig Rudolfs datirt, welches
Rotenburg für eine reichsunmittelbare Stadt erklärt. Wohl schlossen sich hieran
noch mehrfach Verpfändungen durch die Neichshäupter, eines der gewöhnlichsten
Ereignisse für eine Reichsstadt in dieser Periode, aber immer wieder wußte die
Stadt sich auszulösen. Zuletzt noch, als sie 1349 durch Karl den Vierten an
den Würzburger Bischof veräußert worden war, trotz eines feierlichen Versprechens
Ludwigs des Baiern aus dem Jahre 1333.
Das vierzehnte Jahrhundert verging der Stadt in einer Weise, die von
der gleichzeitigen Geschichte anderer ähnlicher Communen Deutschlands wenig
abweicht. Am Ende des dreizehntenJahrhunderts hatten auch in Rotenburg die Mino«
rnen Aufnahme gefunden, damals wurde der Bau eines neuen Spitals begonnen,
nachdem das alte den Johannitern eingeräumt worden. Wie überall, wurden
auch hier in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts die Juden grausam ver¬
folgt, aber sie leisteten in Rotenburg die entschlossenste Gegenwehr, ein Thurm
der Stadtmauer, den sie besetzt hatten, ging in Flammen auf. Und wie in
den meisten lebenskräftigen Städten jener Zeit wuchs auch in Rotenburg das
Gut der Stadtkirche durch Wallfahrten, Ablaßbriefe und reiche Stiftungen in
ansehnlichem Maße — besonders einigen Tropfen heiligen Blutes galt die Ver¬
ehrung — und 1373 konnte ein ansehnlicher Neubau der Kirche angefangen
werden. — Aber in einer wichtigen Richtung hielt sich die Stadt von der Zeit¬
strömung fern. Die „Ehrbaren", wie das Patriciat der regierungsfähigen
Fanulien sich benannte, stammten wohl, wie im nahen Nürnberg, ihrem Kerne
nach von den ritterlichen Burgmänner, denen sich fränkische Reichsministerialen
anschlössen; und diese Patricier behaupteten sich gegen die Bestrebungen der Hand¬
werker und anderer minder berechtigter Kreise in der Leitung der öffentlichen Dinge;
die demokratischen Einrichtungen auf breiter Grundlage einer zünftigen Ver¬
fassung, welche in dieser Zeit fast überall durchgesetzt wurden, blieben von Roten¬
burg fern.
Und aus den Kreisen der Patricier ist denn auch der Mann hervorgegan¬
gen, der an der Scheide des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts Roten-
burg in kurzer Zeit auf den Gipfelpunkt seiner Blüthe emporhob, der Bürger¬
meister Heinrich Tepler. Es war so recht die Glanzzeit der süddeutschen Reichs¬
städte, in welche seine Wirksamkeit siel. Schon das Jahr seines Eintritts in
den.Rath, 1377, ist durch den Beitritt Notendurgs zum Städtebünde bezeichnet;
in dem großen Städtekriege war er nachher einer der Bundeshauptleute. Zwar
hat seine Vaterstadt, wie alle anderen Bundesglieder, nach dem unglücklichen
Ausgange des Jahres 1388 von dieser großen Verbindung ablassen müssen, aber
unter seiner Leitung ist die Stadt dennoch auch serner kräftig fortgeschritten.
Vortrefflich verstand er es, die zerrütteten ökonomischen Verhältnisse des um¬
wohnenden Adels auszunutzen. Dieser sah sich gezwungen, derselben Stadt
welche er so sehr haßte und grimmig genug befehdete, seine Besitzungen zu ver¬
kaufen, während die Stadt durch sparsamen Haushalt und kluge Beobachtung günsti¬
ger Gelegenheiten erstarkte. Schon 1377 war das Kloster der Dominicanerinnen,
eine Versorgungsanstalt adeliger Töchter, die darin nicht immer ein geistliches Leben
führten, bewogen worden, der Stadt die Schirmherrschaft zu übertragen. Lange hatte
das Kloster die Vollendung der städtischen Befestigung an der Nordwestseite
verzögert und in Fehdezeiten durch Kundschaft aus der Stadt den Brüdern und
Vettern ausgeholfen. Dem wrttde jetzt gesteuert. Dann traten 1383 die Herren
von Nortenberg mit ihrer ausgedehnten Herrschaft auch die Hinterburg, welche
ihnen zustand, käuflich an die Stadt ab. Andere Erwerbungen erfolgten
in kurzen Fristen, und so war Rotenburg, das vor Töpler beinahe auf seine
Markung beschränkt gewesen, rasch zu einem ansehnlichen Landgebiete gelangt,
das nachmals nicht mehr sehr vermehrt wurde. Es hatte zur Zeit seiner
größten Ausdehnung 6 Quadratmeilen Flächeninhalt, wohl das größte Terri¬
torium einer süddeutschen Reichsstadt nach den 23 und 17 Quadratmeilen von
Nürnberg und Ulm. Aber noch Weiteres wurde durch Töpler für Rotenvurg
erreicht. Das kaiserliche Landgericht auf der Burg war durch König Wenzel,
der stets in Geldnoth schwebte, verpfändet. Töpler wußte es durch Erlegung
der Pfandsumme an die Stadt zu bringen und durch geschickte Unterhandlungen
und energisches Auftreten auch zu behaupten, besonders dem Bischof von Würz-
burg gegenüber, der die fränkischen Herzogsrechte geltend zu machen suchte.
Hierzu war denn blos eine Ergänzung, daß 1425 König Siegmund den Roten-
bürgern dieRcichsburg zum Abbrüche überließ, die im vierzehnten Jahrhundert
durch ein Erdbeben beschädigt und deren Kapelle auf Wenzels Befehl um 1400
wiederhergestellt worden war. Indeß mit alle dem begnügte sich Töpler noch
nicht. Er dachte auch an eine weitere Ausdehnung der städtischen Anlage
selbst. Schon waren 1404 an der Nordseite der Stadtmauer zwei Thürme als
Schul) für die Neubauten errichtet, und ein Graben ward zwischen ihnen ge¬
zogen, als jener Neid gegen das Ungemeine, der in Republiken so leicht den
Hervorragenden trifft, auch dem Schöpfer der Große Notenburgs jähen Sturz
bereitete. Von einem Ritt nach Onolzbach unerwartet zurückberufen, wurde
Töpler vor den Rath gestellt, der sich ohne sein Wissen versammelt hatte, und
die „Ehrbaren" kannten die Art und Weise, wie dafür gesorgt werden könne,
daß der Genosse ihrer Macht, der über sie hinausgewachsen war, das Rathhaus
nicht mehr lebend verließ. Natürlich hat sich die Sage des lockenden Stoffes
bemächtigt. Töpler soll, ohne es zu wissen, sich selbst das Todesurtheil ge¬
sprochen haben, als er auf die Frage, was dem Hochverräther zukomme, ant¬
wortete: daß er verhungere; und die Sage fügt noch hinzu, zu spät sei das
treue Weib des Mannes durch einen unterirdischen Gang, den sie aus einem
nahen Keller in den schauerlichen Rathhauskerker trieb, zu der furchtbaren Stätte
seines Todes gelangt.
In dieser finstern Weise beginnt für Rotenburg die Geschichte des fünfzehnten
Jahrhunderts, dessen größter Theil durch furchtbar blutige und erbitterte Kämpfe
mit den benachbarten Herren erfüllt wurde. Vornehmlich war die Stadt an den
Städtekriegen der Jahre 1449- und 1430 in hervorragender Weise bethei¬
ligt. Der wilde Markgraf Albrecht Achilles, welcher fand: „der Prant zyre den
Krieg, als das Magnificat die Vesper", war auf langen Strecken ihr Grenz¬
nachbar, und dies läßt schließen, mit welchen Mitteln die gegenseitigen Gebiete
verwüstet wurden. Und dazu noch wurde in denselben Jahren zu Rotenburg ein
innerer Streit durchgefochten. Denn 14S0 machten die vom Regiment ausge¬
schlossenen Theile der Bürgerschaft den gewaltsamen Versuch, eine Zunftverfassung
einzuführen, und fünf Jahre später wurde schriftlich festgesetzt, daß zwar keine
politischen Zünfte bestehen, den Handwerkern aber eine Anzahl Rathsstellen
eingeräumt werden sollte. Allein ti/ Geschlechter wußten sich im Allein¬
besitz der Macht zu erhalten. Die Konstitution trat in Vergessenheit zurück,
und nur noch einmal sollten die Herren vorübergehend, aber um so ernsthafter
daran erinnert werden, daß sie eigentlich nicht mit Recht das Gemeinwesen allein
beherrschten.
Unterdeß hatte die Stadt in diesem Jahrhundert die Vorstadt, welche an
der Südseite um das neue Spital erwachsen war, in die Ringmauern geschlossen
und dadurch den bis heut nicht von ihr überschrittenen Umfang erreicht. Auch
der Kirchenbau schritt fort. Die Notenburger begannen drei Jahre nach dem
Städtekriege, nach Vollendung des östlichen Chors und der Ostseite des Kirchen¬
schiffs von Se. Jacob, die Westhälfte des Gotteshauses; sie wetteiferten darin
mit den benachbarten Reichsstädten ähnlicher Größe. Auch die Dinkelsbühler,
die Nördlinger bauten damals ihre dem Se. Georg geweihten Stadtkirchen, und
die Haller vollendeten das Langhaus ihrer Se. Michaelkirche. Dabei blieben
die Rotenburger nicht zurück in der innern Ausschmückung ihrer Heiligthümer.
Schon 1466 war der großartige Hochaltar mit den geschnitzten und bemalten
Figuren im Mittelstück und den Gemälden auf beiden Seiten der Flügel .ge¬
macht", wie die Aufschrift auf einem der Flügel sich bescheiden ausdrückt.
Die neue Zeit kündete sich für Rotenburg in ungestümer Weise an. Von
drei Seiten her wurde an der öffentlichen Ordnung der Stadt in dem verhäng-
nißvollen Frühjahr 1525 gerüttelt, in welchem eine Zeitlang eine radicale Um¬
wandlung der socialen und politischen Verhältnisse Süd- und Mitteldeutschlands
bevorzustehen schien. Innerhalb der Mauern erinnerte sich die niedere Bürger¬
schaft der Concessionen, welche das Patricia: nicht verwirklicht hatte, und ver¬
langte zugleich eine energische Durchführung der Reformation, zu welcher die
„Ehrbaren" um keinen Preis die Hand reichen wollten, und außerhalb stand
ihnen als kräftige Unterstützung ihrer Begehren die Bauernschaft des rotenburg-
schen Landgebiets zur Seite, welche von dem aus Schwaben auch nach Franken
wehenden revolutionären Geiste erfaßt und durch die langjährigen Kriege der
Stadt zu wohlgerüsteten, trefflich in den Waffen geschulten Streitern herange¬
zogen war. Auch ihre Dörfer, soweit sie zu den größeren zählten, waren durch
die städtische Obrigkeit selbst mit Hecken und Verdauen wohl befestigt und durch
Verstärkung der ummauerten Friedhöfe vielfach mit kleinen sturmfreien Nückzugs-
Punkten versehen worden. Auch die Bauernschaft hatte sich über manches
zu beschweren, und mit der bisherigen Form der Kirche war sie ebenfalls nicht
mehr zufrieden. Bald hatte der Ausschuß der Handwerker dem patricischen
Rathe ohne Mühe die Zügel des Regiments entwunden und sich mit der neuen
Genossenschaft der Bauern verständigt. So war der Boden geschaffen, auf
welchem ein Karlstadt mit Erfolg auftreten konnte. Zwei Tage nachdem er am
Ostermontage auf offenem Markte gepredigt, machten die Weiber in Rotenburg
einen Aufruhr, und eine kleine, erst vor kurzem erbaute zierliche Kirche unten
im Tauberthale wurde von den Müllern gestürmt, ihre schönen Altarbilder
schwammen im Flusse thalabwärts. Aber auch die furchtbare Reaction von
oben, welche nach den Siegen der Fürsten auf die zügellosen Ausschreitungen
von unten folgte, hat in Rotenburg ihre Scenen abgespielt. Als am 30. Juni
der brandenburgische Markgraf Castmir auf dem Markte Blutgericht hielt, soll
es roth wie ein Bach durch die abschüssige Schmidgasse hinuntergeflossen sein.
Gleich nach dem Wegzug Casimirs eröffnete das wiederhergestellte Patricias
durch Fortführung der grausame» Strafprocesse seine Wirksamkeit. Aber die
Kircheneinrichtung wurde doch nach evangelisch-lutherischer Gestalt allmälig um¬
geformt, wenn sie auch durch die tumultuarilchen Scenen des Bauernkriegs ver¬
zögert war, denn ihre gänzliche Durchführung erfolgte noch vor dem schmalkal-
dische Kriege.
Noch wurden in der Mitte und gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts
mehre öffentliche Werke vollendet, zu deren Herstellung später die Kraft nicht
mehr vorhanden gewesen wäre. So war von 1542 an das südliche Thor, das
nach dem nahen Spital genannt wurde und sich über der augsburger Straße
wölbte, durch zwei gewaltige Basteien verstärkt worden. Dann wurde im Jahre
1572 die eine Hälfte des Rathhauses nach dem Markte zu neu begonnen, und
in demselben Decennium erwuchs ein stattlicher Neubau im Spital. Das hoch-
giebelige Gebäude an der Nordseite der Stadtkirche, in welchem eine blühende
lateinische Schule ihren Sitz hatte, stammt aus dem Jahre 1ö89. Erst ganz
am Ausgange des Jahrhunderts entstand auch das künstliche Druckwerk, welches
der wasserarmen Stadt noch heute aus dem tiefen Thale der Tauber Wasser
auf die Höhe des Klingcnthorthurms befördert, zur Speisung mehrerer Brunnen.
Rotenburg war im dreißigjährigen Kriege ein fester, durch die Kunst noch
bedeutend verstärkter Punkt auf der nächsten Straße vom Main nach der stra¬
tegisch wichtigen Ebene des Niesgaues. Es wurde deshalb furchtbar mitge¬
nommen. Mit der Geschichte von der Erstürmung der Stadt durch Tilly 1632
verwebt die Chronik die Erzählung von dem entschlossenen Rathsherrn, der sich
und seinen Collegen das Leben, welches durch den Spruch des feindlichen Feld¬
herrn verwirkt war, dadurch rettete, daß er einen über zwölf Schoppen halten¬
den Pokal in einem Zuge zu leeren vermochte. Im Jahre 1645 war es schon
so weit gekommen, daß Rotenburg, seines sämmtlichen Geschützes beraubt, bei
einer Beschießung durch Turenne nicht antworten konnte. Der orleanssche
Krieg brachte neue Verwüstungen des Gebietes, der spanische Erbfolgekrieg eine
Belagerung und Einnahme der Stadt. Unter den stets erneuten Schlägen war
eine Erhebung unmöglich, und mit der materiellen Kraft sank auch die moralische.
Die Notcnburger des Jahres 1763 sind der passive Theil in einer von den
ebenso traurigen als lächerlichen Scenen, wie sie während der Greisenzeit des
deutschen Reiches in den kleinen staatlichen Gebilden massenhaft vorkamen, die
zum Range von Kuriositäten gesunken waren. Die Nachkommen der Bürger,
welche noch im siebzehnten Jahrhundert einem Tilly mit Heldenmuth den Ein¬
tritt in ihre Stadt zu wehren versucht hatten, öffneten wenige Wochen vor dem
Eintritt des hubcrtsburgcr Friedens einem preußischen Husarenlieutenant mit
35 Mann ihre Thore und zahlten die erzwungene Brandschatzung von 10,000
Gulden.
Endlich wurde die Revolutionszeit der Reichsstadt zum Verhängniß. Schon
vor Beginn der Zeit bis 1784 war die Einwohnerzahl um vier Procent ge-
funkelt. Nach dem lüneviller Frieden am 2. September 18V2 rückte ein bai-
risches Jägerbataillon ein, um von Stadt und Gebiet für den^Kurfürsten
Maximilian Joseph Besitz zu ergreifen. Im Jahr 1810 aber folgte für Roten-
burg noch eine weitere Erniedrigung. Durch den Pariser Vertrag vom 18.
Mai dieses Jahres zwischen Baiern und Württemberg wurde nämlich das rvten-
burgsche Gebiet getheilt. Noch bis zuletzt hatte es wohlgeschlossen eine zusam¬
menhängende Landwehr aus lebendizcn Hecken, aus Gräben und Thürmen
gehabt, die sich mitunter, wo es paßte, auch an Hügel und Wälder lehnten.
18.000 Seelen waren mit diesem Ländchen Baiern zugebracht worden; jetzt
aber wurde dasselbe dergestalt entzwei geschnitten, daß Rotenburg ganz an den
äußersten Rand des bairischen Staatsgebiets gerückt wurde, indem die württem-
bergische Grenze gegenwärtig höchstens eine Viertelstunde nordwestlich von der
Stadt hinstreicht. Das war abermals, wenigstens vorübergehend, ein bedeu¬
tender materieller Nachtheil.
Seit mehr als sechzig Jahren ist nun die Stadt in diese neuen Verhält¬
nisse eingefügt, aber es läßt sich nicht behaupten, daß die Zugehörigkeit zu einem
größern Staatswesen für sie bedeutende Resultate, ein neues Erblühen herbei¬
geführt hätte, wie das z. B. bei Nürnberg der Fall war, das allerdings von
Anfang an größer, aber am Ende des achtzehnten Jahrhunderts verhältni߬
mäßig ebenso tief wie Rotenburg herabgesunken war und jetzt in so erfreulicher
Weise zu neuer Kraft erwachsen ist; denn während Nürnberg von 1806 bis
1861 sich aus einer Bevölkerungszahl von 25,000 bis zu 58,000 Einwohnern
erhob, hatte Rotenburg von 1837 bis 1861 fast 600 Einwohner, das heißt
mehr als zehn Procent seiner Bevölkerung, eingebüßt. Aber auch in anderer
Hinsicht sind die neueren statistischen Nachweise über Rotenburg niederschlagend.
So finden wir im Jahre 1855, und es wird sich seitdem kaum viel gebessert
haben, daß über ein Drittel aller Familien vom Tagelohn lebte, oder zu den
unterstützten Armen zählte, und daß von diesen Tagelöhnern einundsechzig Pro¬
cent durch die Stadt selbst beschäftigt wurden. Diese Ziffern werden faßlicher,
wenn wir sehen, daß nach der Volkszählung von 1861 der hohe Betrag von
275 Gulden Stistungscapital aus den Kopf der Bevölkerung fällt. Rotenburg
ist eine jener Ortschaften, welche an den Folgen des allzu großartigen Wohl,
thätigkeitssinneö früherer Geschlechter krankt; der Einzelne ist der überwiegenden
Zahl nach in beschränkten Umständen, und bei dem Vertrauen auf den Reich¬
thum der Gemeinde fehlt ihm der Trieb, sich daraus emporzuarbeiten.
Es wäre unrichtig anzunehmen, daß Rotenburg in den früheren Zeiten
seines Glanzes etwa eine größere Einwohnerzahl in seinen Mauern umsaßt
hätte. Die örtliche Beschaffenheit, die Betrachtung der Bauart führen unschwer
zur Ueberzeugung, daß wohl niemals viel über 6000 Seelen die Bevölkerung
der Stadt ausgemacht haben können. Aber auch das tiefe Sinken der Stadt
versteht man, wenn man einen Umblick in den Straßen derselben halt. Denn
wer die Stadt aufmerksamen Auges durchwandert, erkennt leicht, und nicht nur
an den ansehnlichen Resten der ältern innern Befestigung, welche Theile der
Stadt er zum Kern, welche er zu den räumlich weitausgedehnter späteren An»
bauten zu rechnen hat. Das lehrt der gewaltige Unterschied zwischen den hoch¬
ragenden massiven Herrenhäusern in der Nähe des Marktes und um denselben,
und zwischen den geringeren meist unansehnlichen und aus leichterm Material
erbauten Häuschen der Handwerker und der Schutzverwandten. Mau sieht, nicht
nur in politischer Berechtigung stand die Bürgerschaft hinter dem Patriciat zu¬
rück, sondern auch in ökonomischer Hinsicht. Und das findet in einer sehr Staats¬
klugen Gewohnheit der „Ehrbaren" ausreichende Erklärung. Zur Zeit, da das
Gebiet der Stadt zusammengebracht wurde, war es Brauch zu Rotenburg, daß
die obrigkeitlichen Rechte zwar der Gemeinde vorbehalten blieben und durch den
Rath als Ganzes geübt wurden, daß es dagegen den Geschlechtern erlaubt war,
für sich die nutzbaren Rechte, die grundherrlichen Einkünfte von diesen Herr¬
schaften käuflich zu erwerben. Die Naturproducte von den Stadtgütern wurden
durch die Familien in gewinnbringender Weise verkauft; Waarenhandel aber
zu betreiben, war allen Rcgimentsfähigen durchaus verboten. So hatten aller¬
dings die „Ehrbaren" von dem Wachsthum der städtischen Macht Nutzen genug
den niedriger stehenden Kreisen der Bürgerschaft jedoch war der Weg zum Reich-
thum verschlossen. In der Gegenwart nun sind die ehemaligen Patricier größ-
tentheils ausgestorben oder weggezogen, während die Classen, denen die niedrigen
Hütten der Außenstraßen genügen, Zuwachs erhalten haben. Gewerbliche An¬
lagen sind nicht geschaffen worden; die Eröffnung der Eisenbahn hat Roten¬
burg mehr geschadet, als genützt; höchstens der Umstand, daß die Stadt in einer
getreidereichen Gegend liegt, — schon ein altes Sprüchwort sagt, zu Roten¬
burg an der Tauber sei Müller- und Bäckerwerk sauber, — sichert ihr eine ge¬
wisse Bedeutung. An den paar Markttagen im Lause des Jahres sehen die
menschenleeren Straßen ein etwas regeres Leben.
Vor zweihundert Jahren nahm ein Zeichner für des Matthäus Merian
loxograxdia ?rMeouiae den Prospect Rotenburgs vom jenseitigen Thalrande
der Tauber auf. Wäre ihm vergönnt, im Jahre 1867 seine Arbeit einer Re¬
vision zu unterwerfen, er dürfte dieselbe recht wohl als noch entsprechend be¬
zeichnen. Denn auch das Fehlende, z. B. der Thurm der Nortenbergschen Hin¬
terburg, die Kirche des Frauenklosters, eine zierlich« spätgothische Kapelle beider
Stadtkirche ist nicht durch Rotcnburgische Schuld gefallen. Bairischen Kommissä¬
ren gefiel es, diese Bauten nach Uebernahme der Stadt durch ihre Regierung
dem Abbrüche preiszugeben, denselben Gesellen, welche auch um ein Spottgeld
werthvolle Gemälde vom Rathhause, unter anderm ein Stück von Dürer, ver¬
schleuderten. Wer Rotenburg durch das doppelthürmige Kupserzeller Thor ver-
läßt, und die steile Straße zur Tauber hinab verfolgt, der schreitet noch auf
der schönen steinernen Brücke mit zwei Bogenreihen über einander, die im Jahre
1330 begonnen wurde, über den Fluß; hat er durch die Weinberge hinauf die
linke westliche Seite des Thales gewonnen und wendet er sich dann zurück, so
erblickt er die Westfront der wohlbewehrten Stadt, wie sie sich an dem Plateau¬
rande über einen gegen 200 Fuß hohen Absturz hinzieht. Am Klingenthore,
ganz zur Linken, steht die spätgothische Wolfgangskapelle mit breiten Fenstern
und einem kleinen spitzen Thurme, vor der Reformation das Heiligthum der
Schuster; sie ist an dem Graben hin außen durch ein starkes Bollwerk gedeckt
und schmiegt sich fast verborgen in einen Winkel des Hofraums, zwischen dem
innern hohen Hofthurm und dem niedrigen Außenpförtchen. Und wieder an
der äußersten Rechten ragt der Wildbaderthurm, er verstärkt die Südwestseite
der Ringmauer, ist durch einen tief in den Felsen eingehauene» Graben von
der Stadtmauer getrennt, aber durch einen steinernen Bogen in der Höhe wieder
mit ihr verbunden. Und gleich vorn streckt sich die Felsenzunge des Burghügels
hervor, wohl 350 Schritt weit in das Thal reicht er und nöthigt die Tauber
zu einem ansehnlichen Umwege; er ist durch die Befestigungen von der Stadt
getrennt, durch das Burgthor aber mit ihr in Verbindung gesetzt. Nur noch
die Kapelle der ehemaligen Reichsburg ragt auf ihm ein wenig aus den grünen
Bäumen hervor, denn die Rotenvurger haben das Burgplateau zu einer reizen¬
den Promenade umgeschaffen. Die Kapelle selbst ist ein niedriges thurmähnliches
Gebäude, ihre gewaltigen Grundmauern aus den Zeiten der ersten Anlage sind
leicht zu unterscheiden von den oberen um 1400 aufgesetzten Theilen, in welche
Fragmente aus älterer Zeit, spätromanische Bauthcile, unter anderm ein hüb¬
scher Kleeblattbogen, wunderlich eingefügt sind. Aber auch der Thalgrund zu
Füßen des Beschauers zeigt bemerkenswerihe Stellen. Ihn durchschlängelt die
junge Tauber, welche mehrfache Mühlwerke treibt. Oberhalb der Brücke liegt
dort das Wildbad, dessen Quelle nach dem Erdbeben von 1356 hervorbrach;
Heinrich Töpler ließ das erste Gebäude darüber setzen. Dann liegt dort die
anmuthige kleine Kobolzeller Kirche, spätgothischen Stils, ein Bau von zierli¬
chen Verhältnissen, der 1804 durch die Summe von 500 Gulden glücklich vom
Abbruch losgekauft wurde. Endlich gerade am Fuße der Burg, wo das Thal
sich wieder verengt, steht ein origineller Bau. Ein thurmartigcr Unterbau steigt
gegen 30 Fuß aus einem Graben empor, der leicht unter Wasser zu setzen ist,
und darüber ein kleines zweistöckiges Wohnhaus, das an allen Vier Seiten etwas
über denselben hervorragt, seine enge Thür hängt durch eine Brücke über den
Graben mit dem Lande zusammen. Dieses kleine feste Wasserhaus hat sich
Töpler erbaut, vielleicht in Voraussicht einer verhängnißvollen Zukunft. Er
hatte sich vom Rath den unwirthbaren wilden Felsgrund 1386 zuweisen lassen
und schuf denselben in kurzer Frist in anmuthigster Weise zu einem „Rosen-
thäte" um, denn schon 1387 ließ sich hier der faule König Wenzel durch den
Bürgermeister glänzend bewirthen.
Das etwa ist das Gesicht, welches Rotenburg dem Westen zukehrt. Anders,
aber nicht weniger großartig ist der architektonische Eindruck, den die Stadt dem
Wanderer darbietet, der sich von der Ostseite naht. Gewiß, ein Architektur¬
maler, dem etwa die Aufgabe würde, für die Scene im Faust „vor dem Thore"
den Hintergrund zu componiren, hätte nur das Bild der Stadt zu fixiren,
sobald er die letzte Welle der Hochfläche überwunden und die erste Aussicht auf
die Stadt gewonnen hat, welche von dieser Seite eine geringe Bodenanschwel¬
lung bekrönt. Nur einen Fluß hätte er sich hier hinzuzudenken, ein paar Schanz¬
werke, welche den Thürmen in der Noth des dreißigjährigen Krieges vorgelegt
wurden, wegzustreichen. Mehr als 30 Thürme zählt die Ringmauer der Stadt,
und reichlich ein Drittel derselben ist dieser Seite zugewendet, die zumeist den
Angriffen ausgesetzt war, hochemporsteigende stattliche Thorthürme auf breiter
rechteckige Grundlage an zwei „hohlen finsteren Thoren", dann Wartthürme
der verschiedensten Form, vor allen der schönste und höchste der ganzen Be¬
festigung, der kreisrunde, kühn emporragende Faulthurm. Wohlerhalten ist hier
die ganze Befestigungslinie, auf langer Strecke zieht hinter der Mauer unter
den Thürmen und über den Thorwölbungen sich der Gang hin für die Schützen,
weiche dem Ansturm über die Gräben zu wehren hatten; auch ist er noch ganz
im alten Zustande, so daß wohl noch heute ein Albrecht Achilles mit seinem
Belagerungsgeschütz unverrichteter Weise hier abziehen müßte.
Doch nicht weniger charakteristisch, als die Außenseiten, ist das Centrum
der Stadt, der Markt mit den Straßen, welche auf ihn einmünden, die Schmid-
gasse in ihren vielfachen Windungen mit ihrer Fortsetzung, eine jener köstlichen
Straßenperspectiven, wie sie nicht mehr erstehen können, seit die gerade Linie
als das alleinige Recept für Neubauten adoptirt worden ist. Dann die Herren¬
gasse, die im Gegensatz zu jener andern sich breit und weit in einer Linie zu
dem Burgthor hinzieht, das von niedrigen Seitenthürmchen flankirt wird. Da
drängen sich nahe an einander die hauptsächlichsten Profanbauten der Stadt
zusammen; vor anderen das Rathhaus, welches seine gothische Hauptseite mit
dem hohen Thurme der Herrengasse zuwendet, dem Markte aber die reiche Front
im Renaissancestil mit einer Bogenreihe von Rusticaarbeit, die als Vorhalle sich
vor das Erdgeschoß lagert, mit einem Eckerker, der durch drei Geschosse reicht,
und dem schönen Gehäuse der reich verzierten Wendeltreppe. An der Nordseite
des Platzes aber steht die Frohnwage, in deren mittleren Stockwerk die Ge¬
schlechter ihre Trinkstube hatten, bis in den Kriegszeiten die silbernen Gefäße
verschwanden. Auf die Ostseite der Renaissance-Fayade eines Herrenhauses mit
menschlichen Figuren aller Art, die das steinerne Gebälk tragen, lebhaft bewegte
Gestalten, wie sie als Karyatiden sonst ungewöhnlich sind. Auf den ersten Blick
erkennt das Auge, daß in dieser Gegend die „Ehrbaren" ihren Sitz um das
Rathhaus gewählt hatten, in dessen großen Saal sie allein die Senatoren ent¬
sendeten. An den Stadtthoren zeigen sich zierlich gemeiselte Bildhauerarbeiten,
noch neben dem Reichsadler das rotenburgische Wappen, ein redendes Wappen:
im weißen Felde eine Burg mit zwei rothen Zinnenthürmen und zwischen die¬
sen ein Dach auf Pfeilern: das Landgericht. Auch an den Wappen der Herren¬
häuser wird ein Heraldikcr leicht die Familien erkennen, welche früher in den¬
selben gewohnt. Jetzt freilich sind manche ihrer Häuser ziemlich dem Verfall
preisgegeben, aber noch stehen diese monumentalen Bauten, meist dem 16. Jahrh,
entstammend, ihre hohen Giebel der Straße zugewandt, mit ihren gewaltigen
Kellern, dem weiten Hausplatze, den geräumigen Gängen und gedehnten Böden,
welche für die Wohngemächer so wenig Platz lassen, als ein auffallendes Ge¬
genstück zu den knappen und beschränkten Räumen moderner Speculationsbau-
ten. Hier zumeist mußte der Verfall der Stadt sich geltend machen.
Zuletzt noch ein paar Worte von dem Stolz der Rotenburger, ihrer Se.
Jakobskirche, welche in diesem Jahrhundert trefflich restaurirt und von all dem
Trödel gereinigt wurde, den die beiden letzten Jahrhunderte darin angehäuft.
Von welcher Seite man sich auch der Stadt nähern mag. überall ragen neben
dem schlanken Rathhausthurm die durchbrochenen pyramidalen Spitzen ihrer
zwei quadratischen Thürme über die Häuser herauf. Sonst bietet das Gebäude
an seiner Außenseite eben nicht viel Bemerkenswetthes, wenn man nicht das
Curiosum dahin rechnen will, welches der Architekt des Is. Jahrhunderts wohl
von der frühromanischen Se. Burchardskirche der unsern gelegenen Bischofs-
stadt Würzburg entlehnte. Der Westchor der Kirche ist nämlich um beinahe
40 Stufen über dem Schiffe erhöht, weil unter ihm eine Straße durch einen
geräumigen Thorweg geführt ist. Um so reicher ist das Innere an Kunst¬
schätzen, die Wohl sämmtlich der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihren
Ursprung verdanken, mit Ausnahme der älteren Glasmalereien im Ostchor.
Der Hochaltar im Ostchor, welcher schon 1819 restaurirt und bereits oben er¬
wähnt wurde, rechtfertigt vollständig die Worte über seinen Urheber Friedrich
Herlen, welche 1467 bei Aufnahme desselben in die Bürgerschaft von Nördlin-
gen in das Bürgcrbuch dieser Stadt eingezeichnet wurden, daß er nämlich ein
Maler sei, „der mit niederländischer Arbeit umgehen könne", denn aufs genaueste,
oft fast sclavisch lehnt sich auch dieses Werk Herlens. wie die Mehrzahl seiner
Leistungen an die realistische Darstellungsweise der van Eyck'schen Schule. Im
Gegensatz zu diesem Hochaltare der Kirche sind die Altäre am Ostende der bei¬
den Seitenschiffe, von denen der schönere, der Altar der heiligen Jungfrau, erst
kürzlich aus der Hospitalkirche hierher gebracht wurde, blos Schnitzwerk, und
zwar unvemaltes. Der eine, der von Alters her zur Se. Jakobskirche gehört
und 1478 gestiftet ist. verherrlicht die Passion Christi als Ausbewah-
rungsort der Tropfen heiligen Blutes, der zweite, neu aufgestellte enthält in
der Mitte die Krönung Mariä, in der Staffel ihren Tod und weitere auf sie
bezügliche Scenen. Unbedingt ist dieses Werk, dessen Meister nicht bekannt ist,
von höchstem Kunstwerthe, und vornehmlich der Tod Maria eine vortreffliche,
plastische Arbeit. In fast runden Figuren sind die Apostel daraus dargestellt,
eifrig besänftigt um das Sterbebette, unter dem die Pantoffel und der Wasser¬
krug nicht fehlen. Einer der Apostel, ein richtiger Mönchskopf, mit dem Weih-
wasserkessel, ein anderer mit der geweihten Kerze, ein dritter der Sterbenden
aus geöffnetem Buche vorlesend, andere eindringlich mit einander redend und
inmitten die Jungfrau selbst, das zarte Köpfchen von einer unvergeßlichen Lieb¬
lichkeit des Ausdrucks und ungemeiner Anmuth der Form. Mehrere andere,
allerdings weniger bedeutende Stücke sind auf Antrieb des jetzigen Kirchners,
eines Mannes, der mit Verständniß für seine Ausgabe erfüllt ist. aus unzuträg¬
lichen Aufbewahrungsorten, z. B. vom Rathhause, in einen Raum ge¬
bracht worden, der an den Thorweg am Westende stößt, darunter steinerne Fi¬
guren von einem Oelberg. Bemerkenswerth, wenn auch mehr für Kunstge¬
schichte, als ästhetisch, sind mehrere Stücke eines Altars, welche die Lebensge¬
schichte eines frommen Bischofs erzählen, Ausläufer des Realismus, wie er
durch Harlem für die Malerei nach Oberdeutschland gedrungen, während er in
der Plastik hier schon längere Zeit geherrscht. Man denke z. B. an die reichen
Portale der Heiligenkreuzkirche zu schwäbisch Gmünd. Unter den erhaltenen
Stücken ist z. B. sehr lebendig aufgefaßt die Scene, wo der Teufel den Gottes¬
mann zwischen zwei Felsen zerquetschen will, der aber die Steinsäule mit aller
Kraft sich vom Leibe wegzustemmcn weiß. —
So etwa sind die Eindrücke beschaffen, welche ein Besuch in der stillen
Tauberstadt hervorruft. Wohl ist in Rotenburg die alte Beste gesunken, wäh-
rend die Burg auf der Felsenkuppe über der Negnitz noch wohl erhalten em¬
porragt. Und allerdings steht Nürnberg in seiner reichen Fülle Von Kunstdenk¬
mälern der viel geringern Nachbarstadt weit voran; ja selbst die beiden Georgs¬
kirchen in den unfern gelegenen alten Reichsstädten Dinkelsbühl und Nöcdlingen
bergen einen quantitativ reichern Schatz von Werken der oberdeutschen Maler
des spätem Mittelalters, als die rotenburger Se. Jakobskirche. Aber vielleicht
giebt es keinen zweiten Platz ans deutschem Boden, etwa eine und die andere
Stadt der Ostseeküste ausgenommen, der in dem Besucher einen so einheitlichen,
in sich abgeschlossenen, durch keine modernen Zuthaten gestörten Totaleindruck
einer mittelalterlichen Stadt zurückläßt, wie Rotenburg. Wir wünschen, daß
dem Deutschen, der dieses Stück Mittelalter theilnehmend betrachtet, auch die
gediegenen Arbeiten des städtischen Historiographen Heinrich Wilhelm Bensen
nicht unbekannt bleiben mögen.
Mit der Erweiterung der preußischen Kriegsmanne zur deutschen Flotte
tritt auch die Nothwendigkeit, kleine Schraubenschiffe für den Küstenschutz zu
bauen, wieder in den Vordergrund. Diesen neuen Schraubensahrzeugen wird
man ol>r Allem größere Dimensionen geben müssen als seither, um die Nach¬
theile der Schraubenkanonenboote früherer Construction nicht von neuem zu er¬
fahren.") Hatte man bisher bet dem Bau dieser Fahrzeuge den größten Nach¬
druck auf Erzielung geringen Tiefgangs gelegt, so muß unsrer Ansicht nach jetzt
Schnelligkeit und Seetüchtigkeit, die Fähigkeit auch bei einigermaßen bewegter
See die Kanonen zu gebrauchen, erste Anforderung sein, während erst in zweiter
Linie nach möglichst geringem Tiefgang zu streben ist. Die deutschen Küsten
haben insofern eine für die Vertheidigung äußerst günstige Gestaltung, als sie
ganz flach in die See verlaufen und größeren Schiffen von einigermaßen be¬
deutendem Tiefgang nur an ganz wenigen Stellen den Zugang gestatten. Wenn
schon die Ostsee nicht viel Punkte dieser Art bietet, so besitzt die Nordsee gar
nur drei: Cuxhaven an der Elvmündung, die Jahde und im Oldenburgischen
Blexen an der Weser, während schon Bremerhaven durch eine Barre für grö¬
ßere Schiff gesperrt ist. so daß Linienschiffe (mit 26—28 oder gar 30 Fuß Tief¬
gang) und große Panzerschiffe (mit 18—26 Fuß Tiefgang) gar nicht, und selbst
größere Corvetten und Fregatten (mit 16—20 Fuß Tiefgang) nur unter günstigen
Verhältnissen von Wind und Wetter zur Fluthzeit eine Annäherung mit Schwie¬
rigkeit bewirken können. Landungen des Feindes nun, die wirklich gefähr¬
lich wären, müßten natürlich durch eine zahlreiche Transportflotte ins Werk ge¬
setzt werden, die aus größeren Schiffen der bezeichneten Arten und aus großen
Transportschiffen von kaum geringerm Tiefgang beständen. (Die 80 Transport¬
dampfer Frankreichs z. B. haben, wie man in den Kriegshcifea recht deutlich
sieht, wo sie Bord an Bord mit Linienschiffen zusammenliegen, zum größten
Theile völlig die Proportionen der letzteren.) An die angegebenen wenigen
Punkte, welche schweren Schiffen eine Annäherung gestatten, würde diese Trans¬
portflotte nicht herankommen können, ohne mit den Strandbatterien und den
Kuppelfahrzeugen von der Classe unseres „Arminius" zu thun zu bekommen.
Sollte sie dagegen diese Schwierigkeit umgehen wollen und sich einem andern
Punkte nähern, in der Absicht, dort ihre großen Schiffe in einiger Entfernung
Von der Küste, wo das Wasser noch tief genug ist, liegen bleiben zu lassen und
die Landungsmannschaften mittelst flachgehender Boote ans Land zu schicken, so
Würde dieser Plan durch die große Ausdehnung der Untiefen und den dadurch
bedingten weiten Weg, den die Landungsboote unter feindlichem Feuer vom
Strande zurückzulegen hätten, bedeutend gefährdet werden, da sie vereinzelt
und nur mit so viel Mannschaft, als die flachen Boote auf einmal fassen,
dem Vertheidiger entgegentreten müßten. Wir nehmen bei dieser Erörterung
über die Eventualitäten eines Angriffs auf unsere Küsten und den Bau unserer
Küstenvcrtheidigungsfahrzeuge selbstverständlich an, daß zugleich mit dem Bau
dieser Flotille eine durchgehende Küsteneiscnbahn mit Telegraphen und die nöthi¬
gen Strandbefestigungen hergestellt werden, die ersteren natürlich zu dem Zweck,
schnell an jeden Punkt der Küste Truppen werfen zu können. Ferner setzen
wir voraus, daß der Vertheidiger leichte fahrende gezogene 4pfünder-Batterien
auf besonderen Lafetten mit breiten Rädern (für den Sand am Strande) besitzt,
um schnell an jedem beliebigen Punkte die heranrudernden Boote mit über¬
wältigenden Feuer empfangen zu können.
Betrachten wir nun die Mittel, mit welchen der Angreifer an der flachen
Küste seine ans Land rudernden Landungsboote zu decken und zu schützen ver¬
mag. Seine großen Kriegsschiffe und die Transportschiffe wären zu entfernt,
um durch ihr Feuer oder durch Mannschaften in den etwa noch disponiblen
Kriegsschiffsbooten die Landungsboote wirksam unterstützen zu können. Alle
armirten Fahrzeuge sodann, die flach genug gingen, um die Landungsboote zu
begleiten, wie etwa die stsam-IaulleliLg, d. h. die mit kleinen Schraubenma¬
schinen von 6 Pferdekraft und mit einer leichten Haubitze im Bug ausgerüsteten
ersten Boote der Kriegsschiffe, wären eben wegen ihres geringen Tiefgangs un¬
fähig, Geschütz von solchem Kaliber zu tragen, daß es gegen die fahrenden
Batterien des Vertheidigers auftreten könnte, vollends bei dem unsichern Schusse
von diesen kurzen stark stampfenden Booten. Es bleiben also einzig und allein Fahr¬
zeuge übrig, die zwar nicht so tief gehen wie die großen Kriegsschiffe, aber doch
bedeutend tiefer als die Landungsboote. Fahrzeuge, deren Tiefgang aber selbst
innerhalb dieses Spielraums noch durch gewisse Bedingungen beschränkt ist. Da
sie nämlich tiefer gehen als die steil-in-l-mncdLS, so können sie nicht wie diese
oder wie die bekannten zerlegbaren französischen Landungsboote an Bord der
großen Schiffe verstaut und mitgeführt werden; sie müssen vielmehr fähig sein,
selbständig Reisen zu machen. Hierdurch aber und durch das Erforderniß, ihr
schweres Geschütz unter gewöhnlichen Umständen stets gebrauchen zu können,
nicht blos in dem Ausnahmefälle ganz glatter See, sind bedeutenderer Tiefgang
und größere Dimension nöthig, als unsere preußischen Kanonenboote haben.
Solche leichte Fahrzeuge des Angreifers mit etwa 8—12 Fuß Tiefgang sind
z. B. die meisten kleineren französischen Avisos. Sie werden dann genügend
schwere Armirung zu tragen und zu gebrauchen im Staude sein, um einige 1000
Schritt von der Küste postirt mit ihren Geschossen den Strand und die Ge¬
schütze des Vertheidigers zu überschütten ohne Gefahr ihrerseits auszulaufen; klei¬
nere, flachergebaute Fahrzeuge aber als diese wird der Angreifer außer den Lan¬
dungsbooten bez. den Ltog,in-Ig,ulletiös aus den angegebenen Gründen gar nicht
verwenden.
Was nun die Mittel anlangt, die wir als Vertheidiger gegen die angege¬
benen Kräfte der Angreifer zu verwenden haben, so sind wir gegen große Kriegs¬
schiffe an den flachen Küstenstellen einer Vertheidigung überhoben. Gegen die
Landungsboote selbst und die ste-M-Iaunelrizs genügt die fahrende Küstenar¬
tillerie, und zwar wird sie weit mehr ausrichten, als etwa armirte Boote von
gleich geringem Tiefgang wie die feindlichen stkalu-lÄUllelres, da sie sicherer
schießt und nie durch Rücksicht auf Untiefen behindert wird. Der einzige TheU
der feindlichen Flotte, gegen den wir mit gleichen Kräften auftreten müssen,
sind die leichten 8—12 Fuß tiefgehenden Fahrzeuge, wie ihre Avisos oder ihre
großen Kanonenboote. Flachere Kanonenboote zu haben als der Feind ist na¬
türlich nicht nöthig; aber es ist auch nicht einmal wünschenswert!), denn der
Vortheil, näher am Strande bez. bei wechselnden Tiefen des Fahrwassers unge-
nirter operiren zu können, würde durch geringere Sicherung der Maschinen er¬
kauft werden müssen, die, wenn sie nicht kleiner sein sollen als die des Gegners, bei
Verminderung des Tiefgangs über die Wasserlinie ragen. Man wäre aber noch
anderweit gegenüber dem Feinde mit flacheren Kanonenbooten im Nachtheil, weil
die Verminderung des Tiefgangs nur auf Kosten der Schnelligkeit, der Seetüch.
tigkeit und der Fähigkeit, die Kanonen bei etwas bewegter See zu gebrauchen,
geschehen könnte. Wir werden also entschieden am besten thun, unserer Küsten-
vertheidigungsflotille, d. h. unseren Kanonenbooten einen Tiefgang von 8—12
Fuß zu geben. Wir meinen hiermit stets nicht den mittlern, sondern den
größten Tiefgang, am Steuer, weil nur dieser für die Manövrirfähigkeit des
Fahrzeugs in flachem Fahrwasser das Bestimmende ist. Doch sollte man we¬
nigstens bei diesen Küstenfahrzeugen von der Steuerlastigkeit. d. h. einer der¬
artigen Gewichtsvertheiiung, wobei das Hinterschiff tiefer im Wasser liegt als
das Vorschiff, gänzlich absehn, weil dadurch der Gesammtlicfgang unVerhältniß,
mäßig gesteigert wird. Man sollte vielmehr den Kiel parallel der Wasserlinie,
horizontal legen und ihm ganz die Tiefe geben, wie jetzt blos seinem hin¬
tern Ende, und die dann entstehende Verminderung der Schnelligkeit durch feinere
Form, die Verminderung der Steuerfähigkeit durch die Zwillingsschraube (vgl.
unten) auszugleichen suchen, wobei noch Volumen gewonnen würde.
Endlich wünschen wir, wie wir schon oben andeuteten, bei allen diesen
neuen Kanonenbooten verschiedener Größe das Zwillingsschraubensystem, auf
das wir sogleich näher eingehen werden, im Interesse größerer Schnellig¬
keit und namentlich größerer Beweglichkeit eingeführt zu sehen. Ebenso
scheint uns behufs Erleichterung des Schiffskörpers und Erzielung der
Möglichkeit, bei gleichem Tiefgang eine stärkere Maschine zu tragen, der
Bau dieser neuen Kanonenboote als eonipositö-slrixs, v. h. der Bau mit
Jnnengerippe aus Eisen und Außenverplantung aus Holz, sehr practisch zu
sein, eine Bauart, die sich ja bei diesen kleinen Fahrzeugen ohne Schwierigkeit
anwenden läßt, etwa nach Maßgabe der Ltoydvorschriften, wie sie gegenwärtig
mit Zeichnungen auf der pariser Ausstellung zu finden sind, und die außerdem
gegenüber ganz eisernen Schiffen den Vortheil bieten, kleine Reparaturen leich¬
ter ausführen und den Boden kupfern zu können, sooaß die Schnelligkeit
wächst. Innerhalb der Grenze des Tiefgangs von etwa 8—12 Fuß hat man
es ja dann immer noch in der Hand, dem einzelnen Fahrzeug nach Belieben
etwas mehr Offensivkraft und Schnelligkeit oder aber die Fähigkeit zu geben,
daß es in etwas flacherm Fahrwass-r operiren kann. Mit Fahrzeugen der
erstem Gattung ist es dann auch möglich, vorkommenden Falls die feindlichen
kleinen Schiffe in die offene See hinein zu verfolgen; auch können sie bei über¬
seeischen Expeditionen zur Begleitung der größeren Schiffe und zum Schutz des
Handels an flachen Küsten wie in China dienen, also Aufgaben lösen, die
sich mit den jetzigen Kanonenbooten durchaus nicht sicher ausführen lassen.
Probeweise Modelle dieser verschiedenen neuen Classen von Kanonenbooten zu
bauen, das ist nach unserer Meinung (abgesehen von der Beschaffung von Pan¬
zerschiffen und Docks), jetzt die nächste, dringendste Aufgabe der preußischen
Marine.
Größe und Ausrüstung dieser neuen leichten Schrauben schiffe
wäre nun nach unserer Ansicht etwa in folgender Weise zu normiren. Die
kleinste Classe derselben bekäme etwa 400 Tons Gehalt, und zwar wäre,
gegenüber den Dimensionen der bisherigen Schraubcnkanonenbvote erster Classe
erstens die Breite etwas zu vermehren (etwa auf 25 Fuß), um die Stabilität
zu heben, und in noch höherm Grade müßte zur Er^ielung größerer Schnellig¬
keit die Länge vermehrt werden, (etwa bis auf 148 Fuß), während der Tief¬
gang ziemlich derselbe wie bei den jetzigen Schraubenkanonenbovten erster Classe
d. h. 8 Fuß bliebe, die Tiefe im Raum aber etwas vermehrt würde, um das
Deck höher über Wasser zu legen und vor dem Ueberspülen der Wellen besser
als bisher zu bewahren. Die Armirung dieser Classe dürfte, damit der fest¬
gesetzte Tiefgang nicht überschritten wird, nicht mehr als 3 schwere Geschütze
(gezogene 24psünder) betragen, die natürlich sämmtlich in der Mittellinie auf
Kreisschienen stehen: die Neilings (Brüstungen) des Decks, sind womöglich 6
Fuß hoch und im obern Theile zum Niederklappen einzurichten, sodaß man
stets in jeder Richtung eine Luke öffnen kann, durch welche die Pivvtgeschütze
Feuer abgeben. Die Stärke der Maschine wird recht gut aus 100 Pferdekraft
normirt werden können, während als Bemastung die Dreimastschoonertakclage
geeignet erscheint.
Vergleichen wir mit den Dimensionen dieses unseres Vorschlags die der
englischen guir-doats und Zuir-vessels, so finden wir, daß erstere, von deren
Bau die Admiralität jetzt zurückgekommen ist, sämmtlich bedeutend kleiner sind
(212—270 Tons) und bei höchstens 120 Fuß 1 Zoll Länge und Maschinen
von höchstens 60 Pferdekraft denn auch niemals eine Schnelligkeit von 8 Knoten
erreicht haben, während, wie das Gefecht von Rügen gezeigt hat, eine Schnelligkeit
von wenigstens 10 Knoten erstrebt werden muß und bei den Fahrzeugen unseres
Vorschlags auch sicher erreicht werden wird. Denn diejenige Classe der engli¬
schen Mir-vessels, welche unserer Idee am nächsten kommt, und zu welcher
z. B, die Fahrzeuge „Ranger" und „Cvgnet" gehören, hat eine Schnelligkeit
von 9,»<>, Knoten erreicht, obwohl die Verhältnisse nicht so günstig sind, als
bei unserm Vorschlage. Die „Ranger"-Classe hat nur 145 statt 148 Fuß Länge
und dabei eine 4V«" größere Breite und einen 4 Fuß größern Tiefgang als
die Schiffe, wie wir sie empfehlen, sodaß den letzteren gegenüber der Widerstand
des Wassers bedeutend wächst, während die Maschine um 20 Pferdekraft schwächer
ist und das Gewicht von 6 statt blos von 3 schweren Geschützen zu tragen ist.
Wenn aber die große Länge, auf welche wir bei unseren Vorschlägen behufs Er¬
zielung hoher Schnelligkeit dringen, die Beweglichkeit und Wendbarkcit des
Fahrzeugs etwas erschwert, so wird dieser Uebelstand durch die Einführung der
Zwillmgsschrauve mehr als ausgeglichen werden. Wir sagten bereits oben, daß
die englische Regierung nur noch guir-vöLSöls baue. Von diesen aber ist die
eben erwähnte „Nanger"-Classe die kleinste (ebenso wie die 400-Tonnenfahrzeuge
unter unseren neuen Kanonenbooten), wenn wir von den 4 grin-vo8L<zIs der
„Algerine"-Classe absehen, welche fast ganz die Dimensionen der preußischen
Schraubenkanonenboote erster Classe haben und auch Maschinen von 80 Pfer¬
dekraft führen, dabei aber nur ein Geschütz tragen. Und wie die englische Ad¬
miralität es als nothwendig erkannt hat, nunmehr nur noch größere Kanonen¬
boote zu bauen, die kleinsten von etwa 400 Tonnen, so hat auch die ameri¬
kanische Regierung, die bei den schmalen Einfahrten in die langen Lagunen
ihrer Küsten doch wahrlich Grund genug hat, möglichst kleine und flachgchende
Kanonenboote zu bauen, dennoch für diese Fahrzeuge die Größe von 447 Tons
(mit Schoonertat'elage) angenommen, weil sie die Seefähigkeit derselben auch
für die offene See mit Recht für durchaus geboten erachtete; auch unsere For¬
derung, die kleinsten der neuen Kanonenboote nicht unter 400 Tons zu bauen,
dürfte daher völlig gerechtfertigt sein.
Als nächst größere Classe möchten wir Schraubenfahrzcuge von etwa 600
Tons und 9—10 Fuß Tiefgang empfehlen, mit 4 gezogenen Pivotgeschützen,
mit Maschinen von ungefähr 150—180 oder noch beträchtlicherer Pferdekraft.
Auch hier wird die Länge ziemlich das Sechsfache der Breite betragen müssen,
um die Schnelligkeit zu heben (etwa 28 Fuß Breite, 172 Fuß Länge), und der
Maschine wird man vielleicht sogar eine Stärke von 200 Pferdekraft geben
können, da auch die englischen Kuu-vesssls von der Classe des „Wanderer" bei
675 Tons Gehalt (180 Fuß 11" Länge. 28 Fuß 6" Breite) eine Maschine
dieser Stärke führen und damit sogar 10,7 Knoten erreicht haben und da auch
der neue „Myrmidon" in England bei 695 Tons >.eine Maschine von 200
Pferdekraft bekommt. Sonst aber kommen den Fahrzeugen dieser Classe unseres
Vorschlags am nächsten die 10 jetzt in England im Bau begriffenen Zwiilings-
schrauben-MA-VWLels von der Art des „Plover", die bei 663 Tonnen Gehalt
(170 Fuß Länge, 29 Fuß Breite, 9V-. Fuß Tiefgang) zwei Maschinen von zu¬
sammen 160 Pferdekraft führen und eine Schnelligkeit von 11 Knoten errei¬
chen sollen. Diese letztere Erwartung scheint uns allerdings zweifelhaft, daß
aber die für Deutschland vorgeschlagenen 600-Tonnenkanonenboote bei ihrer
geringern Breite und ihrer stärkern Maschine wenigstens 10 Knoten machen
können, wird niemand bezweifeln wollen. Als Takelage möchten wir, so para¬
dox es klingt, eine Briggtakelage von wenigstens gleicher Höhe wie bei „Rover"
und „Moskito" vorschlagen, an der im Frieden Schiffsjungen und Cadetten
ausgebildet werden mögen, und die dann im Kriege weniger Mannschaft erfor¬
dert als eine dreimastige Takelage mit Raaen. Im Kriege wäre übrigens stets
mit gestrichenen Bramstengen zu fahren, um die Zielfläche für den Gegner und
den Windfang, die einzigen Nachtheile hoher Bemastung, zu beseitigen; im
Frieden aber, auf Kreuzfahrten, während daran die Schrauben und zur Vermin¬
derung der Decklast ein Theil der Geschütze zurückgelassen würden, böten diese
Schiffe mit ihren 8 Raaen die beste Gelegenheit zu gründlicher Ausbildung in
den Segelmanövern (wozu auch ihre Größe sehr gut paßt), und die Schiffe
wären im Fall eines Krieges immer gut zu verwenden, nicht todtes Capital
in der Weise wie die jetzigen Segelbriggs.
Als größte Klasse endlich denken wir uns Schraubenfahrzeuge von etwa
800 Tons (ca. 184—192 Fuß Länge, 30 Fuß Breite) und 12 Fuß Tiefgang
mit fünf gezogenen Pivotgeschützen und Maschinen von 200—250 oder viel¬
leicht gar 280—300 Pferdekraft: die österreichischen sogenannten Schrauben¬
kanonenboote zweiter Klasse, wie „Seehund" und „Wall", führen auch bei 808
Tons Lästigkeit (160 Fuß Länge und 130 Mann Besatzung) Maschinen von
230 Pferdekraft, und die größten englischen gull-vessels von 871 Tons mit
6 Geschützen, wie der „^IMF-^ist" haben sogar Maschinen von 360 Pferde¬
kraft, mit denen sie 11,, Knoten erreicht haben, allerdings bei einer Breite von
nur 30 Fuß 4V-" gegenüber einer Länge von 200 Fuß und einem Tiefgang
von 12 Fuß 10". Als Takelage empfiehlt sich eine Barktakelage, die weniger
Bemannung in Anspruch nimmt als eine Vollschifftakelage, selbst wenn sie nicht
so ärmlich ist wie bei den österreichischen Kanonenbooten oder den Panzerschiffen,
sondern stolz und hoch wie bei den russischen sogenannten Schraubenkiippern.
Diese „Schraubensloops" oder „Schraubenklipper" kämen dann im Range un¬
mittelbar unter den jetzigen Glattdecks-Corvetten und den neu zu bauenden
Schiffen dieser Art mit 6—10 Pivotgeschützen, deren Construction wir eben
empfahlen.
Auch die jetzt vorhandenen Schraubenkanonenboote erster Classe würden
bessere Dienste als gegenwärtig leisten, wenn man sie erleichterte und da¬
durch seetüchtiger machte. Nähme man diesen Fahrzeugen das mittlere der drei
Geschütze und den Besahnsmast, sodaß sie zu gewöhnlichen Schoonern werden,
wie auch alle französischen Kanonenboote von der Classe des „^sxio", 40 Pferde-
kraft. oder der „V<zeiä6<z", 50 Pferdekraft, 2 Kanonen, als Schooner getakelt sind;
dann würde ein großer Theil der Bemannung überflüssig und der Aufenthalt
in der Kajüte für die Zurückbleibenden gesunder als in dem jetzigen allzuvoll¬
gestopften engen Raum, namentlich wenn die Luken hohen Seegangs wegen
lange geschlossen bleiben müssen; der Wegfall des Maseh. des Geschützes, der
zugehörigen Munition, einer Anzahl Leute und der für diese berechneten Vor¬
räthe giebt dem Schiff mehr Schwimmkraft und bringt sein Deck hoher über
Wasser und mehr außer Bereich der überspülenden Wellen. Vielleicht wäre es
sogar zweckmäßig, nicht blos das platte Wpfündige Bombenkanon (Ur. I) von
diesen Booten wegzunehmen, sondern auch die beiden gezogenen 24pfünder
gegen zwei gezogene I2pfünder umzutauschen, die bedeutend leichter sind, trotz¬
dem aber keine viel geringere Tragweite haben: auch ihre geringere Percussions-
kraft, die Panzerschiffen gegenüber eine bedenkliche Schwäche wäre, schadet hier
nichts, weil Panzerschiffe ihres Tiefgangs halber gar nicht in die flachen Ge¬
wässer dringen, wo diese kleinen Kanonenboote zu operiren hätten. So wäre
denn die jetzige Armirung von zusammen 200 Centnern Gewicht durch eine
Armirung von 2 Geschützen zu 28 Centnern ersetzt, die trotzdem 29pfündige
Vollgeschosse und Granaten auf 4800 Schritt zu schießen im Stande sind, und
dabei nur je^6 Mann Bedienung erfordern. Nach diesen Aenderungen werden
die Geschütze auch bei etwas bewegter See sich besser handhaben lassen, dann wird,
was besonders für diese kleinsten Schraubenfahrzeuge sehr wichtig ist. der Tief¬
gang sich bedeutend vermindern, die Schnelligkeit wachsen und die Fahrzeuge
nicht mehr zu einer Rolle wie im letzten Kriege verurtheilt sein. wo bei dem
gänzlichen Mangel an kriegerischen Erfolgen die Stimmung der Matrosen dieser
Kanonenboote nicht die beste war — vollends da sich die letzteren im Gefecht
bei Jasmund so sehr zurückhielten und sich im Westen von Rügen ebenso wie
die „Grille" auf wenige Schüsse gegen die dänische Fregatte „Tordenskiold"
beschränkten. Sollte es sich dann sogar als wünschenswert!) herausstellen, mehr
von diesen modificirten Kanonenbooten zu besitzen, so würde es sich empfehlen,
bei den neuen Fahrzeugen die Maschinen noch niedriger und länger zu con-
struiren, damit diese trotz des verminderten Tiefgangs stets tief genug unter
Wasser liegen: bei den jetzigen Kanonenbooten aber ließe sich, wenn durch die
Verminderung der Belastung die Maschine über Wasser zu liegen kommen sollte,
diesem Uebelstand recht gut durch eine Vorrichtung zum Einnehmen von Wasser¬
ballast abhelfen, der blos für die Gesechtszeit zu berechnen wäre, für Reisen
aber entweder gänzlich oder, wenn man die' Schraube tiefer arbeiten lassen will,
blos vorn ausgepumpt würde. Diese Schraubenschooner, die jetzigen Schrauben-
canonenboote erster Classe, würden dann die Armirung und den Tiefgang der
jetzigen Schraubentanoncnboote zweiter Classe haben und bei der Küstenverthei¬
digung die Rolle übernehmen, weiche den letzteren zugedacht war.
Selbst die alleikleinsten Fahrzeuge, die jetzigen als dreimostige Lugqer ge¬
takelten Schraubenkanonenboole zweiter Classe, wird man durch eine ähnliche
Erleichterung noch wesentlich verbessern können. Man nehme ihnen eins ihrer
beiden Geschütze, sodaß sie blos einen gezogenen 24vfünder behalten, oder er¬
setze auch diesen durch einen gezogenen 12vfünder. Dann Postire man dieses
Geschütz nicht am Bug. sondern dicht vor dem Schornstein, hinter dem Fockmast,
sodaß es mehr in die Mitte des Schiffs gerückt wird und die Schraube tiefer
im Wasser liegen läßt, endlich richte man. damit dieses Geschütz nach vorn
vollen Spielraum hat und das Fahrzeug beim Angriff dem Gegner stets ganz
den Bug zuwenden kann, den Fockmast zum Niederlegen nach vorn ein, rücke
ihn etwas weiter vor und schaffe dafür das Bugspriet gänzlich ab, indem eine
Stagfock den Klüver ersetzt. — überhaupt wird ja die Takelage dieser Fahrzeuge
nur selten benutzt. Durch eine solche Aenderung würde das Fahrzeug bedeutend
handlicher werden und auch der Tiefgang sich infolge der Entfernung des Ge¬
schützes, seiner Munition und der dafür nöthigen Mannschaft wahrscheinlich bis
auf 6 Fuß vermindern, was um so wichtiger ist, als diese Fahrzeuge eben nur
an der Küste zu brauchen sind.
Was die Stationirung unserer Kanonenboote angeht, so sollen dieselben
nunmehr bei Kappeln an der Schlei ihren dauernden Aufenthaltsort bekommen;
doch vermuthen wir, daß sie auch theils in den nordfriesischen (schleswigschen),
theils in den ostfriesischen (hannöverschen) Inseln disponirt werden, in deren
engem Fahrwasser ihre Kürze und ihr geringer Tiefgang mehr nützt als irgend
wo anders. So viel über die Umwandlung der jetzt vorhandenen Kano¬
nenboote. —
Ueber die neu zu erbauenden Schiffe dieser Art, deren drei Clclssert wir
oben beschrieben haben, läßt sich erwarten, daß sie den englischen Kanonenboö-
ten gleicher Größe überlegen sein werden, weil sie durchweg lauter Pivot¬
geschütze führen. Ueberdies weiden dieselben nicht blos für die Küstenverthei¬
digung im Kriege und als Segelübungsschiffe im Frieden bedeutenden Nutzen
stiften, sondern namentlich auch für den Schutz des Handels in Ostasien sich
bewähren, wo großen Schiffen ihres Tiefgangs wegen der Zugang zu vielen
Ankerplätzen verwehrt ist. Insbesondere gilt dies von den beiden leichteren
der drei Classen, den neuen Schraubendreunastschovnern zu 3 Geschützen und
den Schraubcnbriggs zu 4 Geschützen, die wir für den Küstendienst wie die
Schraubenklipper (Barth, zu 3 Geschützen) mit je einer Lteu.in,-ig,uneK ausge¬
rüstet zu sehen wünschen, wie die englischen großen Schiffe sie haben, d. h. mit
einem Boot mit einer Doppelschraubenmaschine von im Ganzen 6 Pferdekraft
und mit einem gezogenen Gußstahlvlerpfünder im Bug. Dtese Schiffe werden
dann im Stande sein, die chinesischen Malen in ihre Schlupfwinkel, ihre seich¬
ten Buchten hinein und die Ströme hinauf zu verfolgen, ein Dienst, zu dem
man die bisherigen Schraubenkanonenboote nicht benutzen konnte, weil der
innere Raum so beschränkt ist, daß in heißem Kltma die Gesundheit der Mann¬
schaft gefährdet werden würde, und dann auch, weil sie zu klein sind, um mit
Sicherheit eine so weite, oft gefahrvolle Reise zu unternehmen. Unter Um¬
ständen allerdings würden auch die kleinen Kanonenboote, wie wir sie jetzt haben
(erster Classe), die Reise nach China ebenso gut machen können, wie kleine
Schooner der Handelsmarine von 120 Tonnen mit einer Bemannung von nur
9—11 Köpfen sie oft unternehmen; aber sie würden, wie das Beispiel deS
»Frauenlob", allerdings eines Scgelschooners, gezeigt hat, dabei doch nicht sicher
genug sein, und der Staat hat doch die Pflicht, in Friedenszeiten das Leben
seiner Mannschaften nicht ohne Noth auss Spiel zu setzen. Wenn man also
gefordert hat, daß eine Anzahl unserer jetzigen Schraubenkanonenboote zum
Schutz des Handels nach Ostasien gesandt werde, so können wir dieses Verlan¬
gen nicht als berechtigt anerkennen; und gar an eine Vermehrung der Mann¬
schaft auf diesen Fahrzeugen, die kaum für die jetzige Bemannung Platz genug
haben, „um den Asiaten zu imponiren", ist für eine Reise in tropische Gegen¬
den gar nicht zu denken. Auch die Entsendung einer Glattdeckcorvelte wie der
„Nymphe" in jene Gewässer scheint uns unpractisch, da ihr bei dem Mangel
«ner Batterie die Brauchbarkeit als rLeeiving-Sulp, wie die Engländer sagen,
völlig abgeht, ein Zweck, von dem sogleich die Rede sein wird. Uebrigens würde
unseren neuen Schraubendreimastschoonern und Schraubenbriggs der geringe
Tiefgang auch die Möglichkeit gewähren, kleinere Reparaturen fast überall mit
großer Leichtigkeit ausführen zu können, ein Vorzug, der größeren Schiffen
gänzlich abgeht. Der Dienst in jenen Gegenden würde so zu organisiren sein,
daß die Flotille für Ostasien aus einem halben Dutzend dieser leichteren Fahr-
zeuge und einer leichten Fregatte (gedeckten Corvette) als Flaggenschiff des Coa«
mandirenden bestände; das letztere würde dann als reeeiving-snix dienen d. h.
es würde in fortwährender Ablösung einen Theil der Mannschaften der kleineren
Schiffe an Bord nehmen, um durch den Aufenthalt in der hohen luftigen Bat«
terie ihre Gesundheit wieder zu stärken, die durch den anstrengenden Dienst in
den engen Räumlichkeiten der kleinen Fahrzeuge sonst leiden könnte, wenn
auch nicht so sehr und so schnell wie auf den jetzigen kleinen Kanonenbooten.
Die kleinen Schiffe könnten außerdem, um die stürmische Reise zu sparen,
dauernd 10—12 Jahre in jenen Gegenden bleiben und nur ihre Mannschaften
würden in zweijährigen Zeiträumen wechseln und durch die eben so oft wech¬
selnden gedeckten Corvetten dorthin bezüglich zurückbefördcrt werden. —
Obwohl die oben gemachten Vorschläge zur Erbauung neuer Classen von
Kanonenbooten auf genauen Berechnungen beruhen und sich auf das Beispiel
ähnlicher Schiffe andrer Seemächte stützen, würde es doch falsch sein, gleich mit
Erbauung einer ganzen Flotte derartiger Fahrzeuge vorzugehen, wie es beim
Bau unserer jetzigen Kanonenboote geschehen ist; sondern zunächst würden einige
wenige Fahrzeuge jener Art zur Probe zu bauen sein, da die Praxis nur zu oft
andere Resultate ergiebt als die beste Berechnung.
Unser definitiver Vorschlag ginge also etwa dahin: fürs erste von jeder
der drei Classen neuer leichter Schraubenfahrzeuge zweiSchiffe
sofort in Angriff zu nehmen; zwei von jeder Art aus dem Grunde, weil
zuweilen zufällige Einflüsse bei dem Bau eines einzelnen Schiffs trügerische
Resultate ergeben. Befriedigen die neuen Modelle in der Praxis, so wird man
zunächst noch zwei weitere Schraubenbriggs zu 4 Geschützen in Angriff zu
nehmen haben, weil diese Classe für den Schutz des Handels in China und
den Dienst als Segelübungsschiffe am dringendsten nöchig sind, und dann erst
mit weiteren Bauten in allen drei Classen vorzugehen haben.
Außer den Schraubenluggern mit 1 Geschütz, 60 Pferdekraft und 210
Tons (den umgeänderten jetzigen Kanonenbooten zweiter Classe) hätten wir
dann vier Classen von Schraubenkanonenbovten oder leichten Schraubenfahr¬
zeugen, die wirklich seetüchtig wären: Schraubenscho oner zu 2 Geschützen,
300 Tons, 80 Pferdekraft und etwas über 6 Fuß Tiefgang (die umgeänderten
jetzigen Kanonenboote erster Classe); Schraub en drei mastsch vomer zu 3
Geschützen, 400 Tons, 100 Pferdekraft und 8,Fuß Tiefgang; Schrauben¬
briggs zu 4 Geschützen, 600 Tons, 150—180 Pferdekraft und 9—10 Fuß
Tiefgang; endlich Schraub en klipp e r (nach russischer Bezeichnung, oder aber
Schraubcnsloops. d. h. mit Barktakelage) zu 5 Geschützen, 800 Tons. 200—2S0
Pferdekraft und 12 Fuß Tiefgang. Während so der Tiefgang genügend variirt,
um in flachen Gewässern für jede Tiefe genügend schnelle Schiffe zur Verfügung
zu haben, würde diese Flotille außerdem den Vorzug einer ziemlich gleichmäßi¬
gen Durchschnittsgeschwindigkeit von 10 Knoten besitzen, ein Vorzug, den die
Franzosen bei ihrer Panzerflotte erstrebt und wenigstens soweit erreicht haben,
daß sie den Engländern in dieser Beziehung weit überlegen sind, indem ihre
langsameren Fahrzeuge nie weit zurückbleiben werden, sodaß selbst bei sehr schnel¬
ler Fahrt ihre Flotte stets sich zusammenhalten kann.
Bilder aus der neueren Kunstgeschichte von Anton Springer. Bonn, Adolph
Marcus. 1867.
Die kunsthistorischen Aufsätze, welche Anton Springer der Lesewelt dieses
Jahr darbringt, sind zum großen Theil aus Vorträgen vor gebildeten Hörer«
kreisen entstanden; der erste in der Reihe gehörte in der ursprünglichen knap¬
pern Form den Grenzboten an (Jahrg. 1862).
Wenn wir andere der zahlreichen Essay-Sammlungen gleichen Ursprungs
zur Hand nehmen, begegnet uns als leitender Gesichtspunkt der Zusammen¬
stellung meist die Liebhaberei des Autors oder äußerliche Beweggründe; hier
zeigt schon ein Blick auf die Jnhaltörubriken den Historiker. Beginnend mit
Verfolgung der im Mittelalter nachlebenden Antike, die in viel umfassenderer
Weise und weit länger als die landläufigen Kunstansichten glauben wollen, den
Formensinn beherrschte, führt Springer im zweiten Bilde die Entwicklung der
Renaissance in Italien vor Augen, deren ganze Eigenthümlichkeit schon durch
den Inhalt der vorausgehenden Darstellung wesentlich modificirt wird und
zeichnet in Leon Battista Alberti, dem vir ZivirüWimus, den Typus eines jener
Wundermenschen des neuen Geistes, von welchem uns die Kunde am reichlichsten
zufließt. Die Würdigung dieser außerordentlichen Persönlichkeit bringt in ganz
ausdrücklicher Weise zum Bewußtsein, „daß in den bildenden Künsten sich die
herrschende Bildung ebenso deutlich ausspricht wie in der Poesie und im phi¬
losophischen Denken", und so lange uns versagt bleibt, Lionardo da Vinci ganz
erfassen zu können, wird das Studium Albertis in der Erkenntniß solcher Größe
c>in meisten fördern.
Die Betrachtung wendet sich sodann auf Rafael. Den Ausgangspunkt
bietet hier eine interessante Conti overse. welche vor kurzem durch Hermann
Grimm aufgeworfen, die Kunstfreunde und Forscher lebhaft beschäftigte, die
Frage nach dem eigentlichen Sujet der „Disputa" und der „Schule von Athen".
So verkehrt auch die bequemen Verwahrungen gegen Anfechtung der all»
gemein giltigen Tradition erscheinen mußten, welche man dem Grimm'schen Auf¬
satze im Frischer oft entgegnete, so auffällig war doch, daß sich die Künstler
meist entschieden ablehnend verhielten zu dem Versuche, auf Grund der ältesten
mittelbaren Quellen den Darstellungen der Liariwra, äellg, LeZriÄtura neuen
Sinn unterzulegen.
Vielen galt die ganze Frage für so unnöthig und überraschend, wie heut¬
zutage manche politische, die blos erfunden zu werden scheint, damit etwas Harz
Neues oder Fremdes in Gestalt einer Antwort etablirt werden könne; alle
Welt beruhigte sich beim Herkömmlichen. Aber es ist niemals müßig, die
Gründe einer verbreiteten Ansicht aufzusuchen, und der Gewinn muß für ebenso
groß geachtet werden, wenn das Alte befestigt, als wenn es durch Anderes er¬
setzt wird. Jenes nun ist das Resultat der neuen Actcnprüfung. die Springer
vornimmt. Ihm handelt sicks in dieser Angelegenheit nicht allein um Erkennt¬
niß der Absichten und Gedanken Rafaels, sondern auch darum, „ob das Reich
der Kunst mit den Grenzen der Schönheit zusammenfalle, oder ob es noch in
andere bis jetzt fremd geachtete Gebiete hinausrücke." Ist die Frage ein¬
mal so gefaßt, dann ist auch entschieden, daß nur von den unmittelbaren Ur¬
kunden die Lösung geholt werden darf. Und nun ist die Aufgabe, mit den
feinen Organen des Historikers die Originalbildcr betrachten und die An¬
schauungswelt des humanistischen Zeitalters, die ihre geistige Folie und Voraus¬
setzung bildet, - empfinden zu lehren. Darin beruht aber unseres Darstellers
eigentliche Meisterschaft, daß er Gemüth und Urtheil seines Publicums aufs
innigste mit engagirt. Solche Belehrung, der es rein um die Sache zu thun
ist, adelt unser Verhältniß zu derselben. Für diesen pädagogischen Tact, der
das Ja und Amen zu sagen dem Leser und Hörer scheinbar anheim giebt,
um ihm die Freude der Mitarbeit zu lassen, ist dieser Aussatz ein hervorragendes
Specimen. — Und daß die Natur des Gegenstandes daran nichts ändert, zeigt
die Geschichte vom gothtschen Schneider zu Bologna. Nüchterneres ist kaum zu
denken, als ein Jahrhundert langer und schließlich resultatloser Jntriguenkampf
um einen Bauplan. Aber diese dramatische Unterhaltung, deren Kosten leider
des heiligen Petronius noch heute unvollendeter Dom trägt, bringt uns die
Geschicke der Architektur in Italien so lebendig vor die Seele, daß wir nicht
anders können, als principiellen Antheil zu nehmen, eine Wirkung, die nament¬
lich der geschichtlichen und ästhetischen Würdigung der Gothik zu gute kommt.
Noch wirsamer und dankenswerther ist die'Anweisung zum Verständniß der
altdeutschen Holzschnitt- und Kupferstechkunst. Denn daß künftig die Be¬
hauptung von der künstlerischen Ebenbürtigkeit der Stiche und Schnitte
mit farbigen Gemälden nicht mehr paradox erscheinen werde, wie es heute
noch vielfach der Fall ist. dafür bürgt der Abriß von der Geschichte
dieser Kunstgattung, in der das Eigenthümliche des Renaissance-Geistes,
das unwiderstehliche Aufblicken der schaffenden Persönlichkeit sich auf individuell
deutsche Weise offenbart. Und wir stehen nicht an, von dieser Charakteristik, die
von der fälschlich sogenannten Neproductionskunst gilt, für die Darstellungs¬
weise unsers Autors Gebrauch zu machen. Nur solchem Sinne kann gelingen,
in die Geheimnisse der drastischen Wahrhaftigkeit Rembrandts und seiner Ge¬
nossen, in die Stilmetamorphosen des achtzehnten Jahrhunderts, in die Kunst
der Revolution mit hingebender Liebe einzudringen, ohne das harte Auge des
Forschers, das feste Bewußtsein persönlicher Neigung und Empfindung einzu¬
büßen. Denn was diesen Cyklus von Bildern, der in geschichtlicher Folge uns
mit allen großen Angelegenheiten der neuen Kunst vertraut macht, den feinsten
Reiz giebt, ist. daß wir überall die Gegenwart des Darstellers mit der fast
körperlichen Schärfe fühlen, die dem Blicke des Redners eigen ist.
Dies Zeugniß mag für den Ernst und Eifer sprechen, mit welchem wir
dem letzten der vorliegenden Aufsätze Beherzigung wünschen. Indem Springer
über Wege und Ziele der gegenwärtigen Kunst redet, giebt er die Summe von
Einsicht und Urtheil, die der Leser schrittweis hat erwerben sehen, in den Kampf
der Gegenwart. Und hier bewährt sich, daß der Gediegenheit erarbeiteten Wissens
und Verständnisses die Weisheit und Ruhe des practischen Urtheils entspricht.
Wenn wir in diesem Ueberblick über Leistungen und Tendenzen unserer Tage,
zu dem sich der Autor durch eingehende Würdigung Carstens', Thorwaldseus
und Schinkels den überherrschenden Standpunkt gleiä'säen vor unseren Augen erbaut,
manchen Namen ungern vermissen, so drückt sich darin nur der Wunsch aus,
sein Wort über alle Anliegen unseres ästhetischen Gewissens zu vernehmen. Die
Kunst sich selbst zurückzugeben, indem die Formenpoeste als einziger Inhalt
ihrer verschiedenen Gattungen anerkannt, ihr aber inniges Wechs'elvcrhaltnih
zwischen technischem Material. Jdeenkreis und Formengerüste wieder zum Gesetz
gemacht wird, das ist die Aufgabe, die Künstler und Laien gemeinsam zu lösen
gemahnt und vorbereitet werden.
In ebenso schönem als seltenem Sinne gehört dieses neueste Geschenk, das
wir Springer verdanken, zu den doppellebigen Erscheinungen der Literatur.
Wir wüßten nicht, wo innerhalb des Kreises der Gebildeten die Fähigkeit auf¬
hören sollte, es zu lesen, ihm hingebend nachzusinnen, es zu genießen. Und
andrerseits, der Gelehrte, der Forscher, der Künstler dürfen im Gefühl völlig
gleichen Anrechts sich darum streiten, wem es zuerst zugedacht sei. Lebendige,
anlockende Belehrung, streng methodische Arbeit, eindringliche Winke enthalten
diese Essays in einer Fülle, welche wir bei einem solchen Verfasser nicht über¬
raschend nennen dürfen, die aber erst durch Grazie der Technik Unwiderstehlich¬
keit empfängt. Das letzte Geheimniß dieses hervorragenden Buchs ist der classische
Geschmack in Auswahl der Stoffe, Vchandlungsform und Sprache. So kommt
jeder Erfolg des Historikers in zwiefachem Sinne dem Aesihetiker zu statten.
Um deswillen noch ganz besonders müssen wir sein Erscheinen als ein schönes
Geschick der werdenden Wissenschaft moderner Kunstgeschichte verzeichnen.
Der gutmüthige Besucher der Tribünen des Reichstags, ja selbst der Ha-
Vitu6 der Journalistenbänke, der so zu sagen meint, das Gras wachsen zu
hören, wird stets eiwas von der Unruhe mitbringen, die ein vor unseren Augen sich
abspielender Kampf einflößt. Er wird meist überzeugt sein, daß hier in ö ffent¬
licher Sitzung sich die Parteien, Principien und Redner um den Sieg des Tages
streiten, und daß kein Mensch im voraus sagen könne, wie die Schlacht sich
entscheide. Solche Meinung, die überall gehört wird, beweist deutlich die jugend¬
liche Altersstufe unseres politischen und namentlich parlamentarischen Lebens.
Darüber ist sich auch der Laie klar, daß eine Feldschlacht nicht gründlich dar¬
gestellt werden könne durch die dürre Aufzählung der widereinander geführten
Heeresmassen, ihrer Waffenthaten und Erfolge, sondern daß der Plan der
Führer, ihre größere oder geringere Herrschaft über den blinden Zufall das
Schlachtenglück bedinge. Aber in der Politik und in der Tactik der Parteien
sind wir leider noch gewöhnt, in der weitaus größten Zahl unserer Mitbürger
eine unentschiedene, farblose und weit schwieriger als der blinde Zufall zu be¬
herrschende Masse zu sehen, die bei jedem volle. Plan vor Allem berechnet sein will.
Und diese Wahrnehmung des täglichen Lebens überträgt der Laie auch auf
die Debatten des norddeutschen Reichstags. Diesmal jedoch mit Unrecht. Denn
in den meisten Fällen wird hier die Abstimmung und Entscheidung nicht in,
sondern außer der Sitzung bewerkstelligt, nicht im Reichstag, sondern in der
Fraction.
Schon eine flüchtige Zählung ihrer Anhänger belehrte die beiden großen
Fractionen des Hauses/ die Nationalliberalcn und Konservativen, daß eine jede
von ihnen über ein starkes Drittheil sämmtlicher Stimmen verfüge, daß der
Zutritt der Freiconservativen zu der nationalen oder conservativen Fraction die
absolute Majorität im Hause sichere. Dagegen zählen zusammen etwas über
el» Viertel der Stimmen all die contrairem Interessen, die steh unter dem Aus¬
hängeschild der „deutschen Fortschrittspartei." „der Freien Vereinigung," der
„Bundesstaatlich-Constitutionellen" :c. dem nationalen Gedanken gegenüber zu¬
sammenballen d. h. die Polen, die Particularistcn, die Socialisten, die Doctrinäre
des Radicalismus. Bei solcher Lage war es Sache einfacher logischer Noth¬
wendigkeit, wenn die Nationalliberalen gleich zu Anfang der Session — mehr
stillschweigend als förmlich — mit den beiden Fractionen der Rechten ein Schutz-
und Trutzbündniß schlössen für alle Kämpfe, bei denen im deutschen nationalen
Interesse den blos negirenden Elementen des Hauses gegenüber ihr Zusammen¬
gehen irgend möglich wäre. Dieser Compromiß hat bisher zwei nennenswerthe
Resultate hervorgebracht, die compromissarische Besetzung aller Commissionen aus¬
schließlich mit Angehörigen der nationalen Fractionen, und dann die Adresse.
Davon lassen Sie mich einige Einzelheiten erzählen.
nack § 2 der Geschäftsordnung wird das Plenum des Reichstags in sieben
Abtheilungen durch das Loos getheilt. Soll nun eine Commission gewählt
werden zur Vorberathung irgend eines an das Haus gelangenden Gesetzentwurfs,
welche nach §18 der G. O. in der Regel aus vierzehn Mitgliedern besteht, so hat
jede der sieben Abtheilungen je zwei Mitglieder aus ihrer Mitte (nach der Praxis
in geheimer Abstimmung) zu wählen. Diese Mitglieder werden nun zufolge
des oberwähnten Compromisses in den Fractionen auserlesen (je sieben von den
zwei conservativen Parteien und je sieben von den Nationaliberalen) und den
contrahirenden Parteien einfach bezeichnet. Die Nationalliberalen haben sichs dabei
bisher gefallen lassen, die ganze noch linkser sitzende Seite des Hauses mit aus
ihr Conto zu übernehmen, was häusig schon zu den spaßhaftesten Vorkomm¬
nissen und z. B. dahin geführt haben soll, daß die Linke und die Bundesstaat¬
lichen oder die Freie Vereinigung den Nationalliberalen anmutheten, alle von
ihnen zu vergehenden Commissionsstellen mit Männern dieser kleinen sclbststcin-
digen Ueberzeugungen zu besetzen! Diese Ordnung der Dinge hat ohne Zweifel
das Gute, diese kleinen Bruchtheile des Hauses unwiderleglich von ihrer Ohn¬
macht zu überzeugen. Mir wurde von einem Führer der Nationallibcralen die
Aeußerung eines hochgestellten sächsischen „Bundesstaatlich-Constitutionellen" er¬
zählt, welche beweist, daß diese wohlthätige Erkenntniß auch in den Standarten¬
trägern dieser edlen Principien zu tagen beginnt. Der Mann beklagte sich nämlich
bitter, daß er in keine Commission gewählt werde, wohin ihn doch sein Ehrgeiz drängte,
und kam schließlich zu dem selbsterkennenden Worte: „Ja so gehts, wenn man
zwischen zwei Stühlen sitzt."
An dieser Stelle mag erlaubt sein, den kleinen Fractiönchen auf der linken
Seite des Hauses noch einen prüfenden Scheideblick zuzuwerfen. Für eine,
die „Bundesstaatlich - Konstitutionelle Partei" ist dies vermuthlich
die Grabrede, deren Separatabzug die Sachs. Zeitung vielleicht besorgt. Denn
allem Anschein nach ist der kurze Traum bundesstaatl.-conseil. Parteibildung bereits
vorüber, die Partei in völliger Auflösung begriffen. ?uimus Iross! In wich»
tige Commissionen sind sie nicht gewählt; die Wahl des I)r. Schinder (der sich
zu ihnen hielt) in eine Commission, haben sie bitter übel genommen, die
Diätenlosigkeit drückt auf mehr als eine ihrer berechtigten Eigenthümlichkeiten;
am Ende erfüllt sich das geflügelte Wort des Äbg. G., daß sie nächtens Alle
nach Hause reisen würden! Das wäre sehr schade. Denn die dundcstreuen
Sachsen würden dann nur durch die vier reactionären Liberainativnalen (wie die
„Zukunft" sagt) und den !reiconservativcn Herrn von Zehner vertreten sein,
da auch die Bundestreue der Herren Bebel und Schraps jeii bald 8 Tagen dahin
ins „Geschäft" zog. Und dann vor Allem: wer würde sie wieder ausstoßen jene
Beust-Töne heiligen sächsische» Schmerzes über den Verfall deutscher Freiheit und
die unerträgliche Militärwirthschaft, — wer würde noch mir dem Abg. Günther
(in der Adreßdebatte) sich bei jedem nationalen Schritt beklagen über die Auf¬
reißung alter Wunden, wie man die politische Medizin des vorigen Jahres zu
bezeichnen liebt. Es wäre beklagenswerte, wenn der Versuch aufgegeben würde,
das theure Pflänzchen des sächsischen Parlamentarismus ur dem unwirth¬
lichen Sande der Mark zu fristen. Ein nur zu dankbares Volk schaut den Thaten
dieser Selbstüberwindung heute noch zu; aber eine schwarze Ahnung fragt: wird
es auch später der Fall sein, wenn irgend ein Naturereignis) die Physiognomie
des Dresdner Landtags umgestaltet, von dessen gesitteter Höflichkeit die Temva-
ratur des berliner Reichstags so unbehaglich absticht?
Von den Bundesstaatlich-Constitutionellen zu der äußersten Linken ist
nur ein Schritt. Hier sitzen auf dem höchste» Berge die beiden Präsidenten des
Allgem. Deutschen Arbeitervereins, die Apostel der Staatshllse, Finsterling und
v. Schweitzer. Ihr Schisma und ihr heiliger gegenseitiger Zorn ist symbolisch
angedeutet durch einen leeren Sitz zwischen Beiden. Wenn Frauen — wie
billig — passive Wählbarkeit besäßen, könnte die leere Bank passend besetzt
werden. Forsterling hat bisher zweimal gesprochen. Das erste Mal, bei der
Adreßdebatte, erschöpfte er sich in einer mit großer Virtuosität hervorgebrachten
— leider durch obligates Klingeln und Unterbrechen seitens des Präsidenten
und ungeheurer Heiterkeit des Hauses getrübten — Permutation und Combi¬
nation der Worte „Ferdinand Lasalle," „Fichte." „Föderalismus" und „Ar¬
beiter" und gestern bei der Debatte über das Salzgcsetz dcbulirre er mir der
Versicherung, daß er den vierten Stand hier vertrete, was sich die gute Stadt
Chemnitz, die ihn hierher geschickt hat, merken mag. Von Schweitzec werden wir
nächstens bei Berathung über den Lasterschen Antrag auf Aufhebung der Wucher¬
ische zu hören bekommen, die er bei Darlehen bis zu 100 Thlr. beibehalten
wissen will. Wahrend Herr Försterling, seinen politischen Doctrinen zuwider
Persönlich den Eindruck wackerer Einfachheit macht, fällt es dem Hause schwer,
seinen Gegenman» als Kollegen zu respectiren. In Erinnerung gewisser Antece-
dentien vom Frankfurter Schützenfeste her soll man mit der 'Absicht umgehen,
bei seinem Austreten den Sitzungssaal en mssso zu verlassen.
Beim ersten constituircnde» Reichstag waren die Plätze der unerwähnten
Abgeordneten von Bebel und Schraps besessen, die nun zwei Bande weiter
vorn mit den Herren Götz und Liebknecht zusammcnsitze», welche Sachsen ihnen
zum Succurs sandte. Sie bilden eine Fraction für sich, das moderne Geschlecht
des Kleon. Bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit schnarren sie
ihren Wortschatz an Schlagwörtern ab, von' der ZweitheUung Deutschlands,
dem Verrath Preußens an den Völkern Oestreichs und an Luxemburg :c. Das
was ihnen jeweilig durch die Geschäftsordnung und den wachsamen Präsidenten
an ihrer Rede geschenkt wird, ist dann andern Tags in der Sächsischen Zeitung
zu lesen.
Die Bänke vor diesen lustigen Personen, die freilich mürrisch genug drein-
schauen, bis zu den zwei vordersten, auf denen die Polen sitzen, erfüllt die
„deutsche Fortschrittspartei" d. h. die Rudera der alten preußischen Fortschritts¬
partei und von den Sachsen die Herren Schaffrath, Wigard, Männer. Riedel,
Heubner, Schreck, mit Wiggers (Berlin) :c. zusammen etwa zwanzig Köpfe. Im
Ganzen ein wehmüthiger Anblick! Denn das Bewußtsein ihrer antiquirten
Stellung und das noch peinlichere Gefühl, zusammengehen zu müssen mit Män¬
nern, deren Wahl ihnen nicht freistand, kann für Männer wie Schulze-Delitzsch,
Hoverbeck und Löwe-Calbe kein leichtes Geschick sein. Die Macht ober gar der
Terrorismus, den einst diese Partei ausübte, ist von ihr gewichen auf immer
und was mehr sagen will, fast ihre ganze Intelligenz sitzt auf den verhaßten
Banken der nationalen. Hierfür tröstet wenig, daß die «stadt Berlin durch¬
weg „gut" gewählt hat, daß Freund Franz Duncker und Herr Guido Weiß
die Parteiorgane mit einer Tactik redigtren, die sich zur Logik und politischen
Nüchternheit ungefähr so verhält wie geschwungene Stuhlbeine zu einer Wahl¬
rede, und daß endlich das gesegnete Sachsen eine Reihe von Männern sandte,
die sich das Wort Schaffraths zu Nutze machen: „ein Volksmann brauche nichts
zu beweisen." Man sieht unter der „Fortschrittspartei" nicht einen Konw novug.
Ihre Koryphäen hatte die Partei bei den Wahlen an fünf bis sechs Orten
aus einmal aufgestellt, und, da natürlich voraussichtlich die Augen größer wa¬
ren als der Magen, die unhaltbaren Wahlkreise lieber an Konservative verloren
als an Liberal-Nationale.-
Ueberhaupt ist die Verbissenheit auf Seiten aller der genannten Fractionen
groß. Kaum eine Debatte, bei der sie nicht in hellen Flammen ausbricht,
kaum «me, bei der sie nicht, von Parteifanatismus verblendet, gegen das eigene
Fleisch wüthen, gegen die von der nationalen Fraction zum freiheitlichen
Ausbau der Bundesverfassung gestellten Anträge.
Am unverständigsten trat diese Verneinungswuth zu Tage bei der General¬
debatte über das Budget, wo bekanntlich die Nationallibcralen beantragt hatten,
daß in Zukunft das Budget dem Reichstag längstens sechs Monate vor Beginn
des Etatsjahrs zur Beschlußfassung vorgelegt werden möge, nicht minder
außeretatmäßige Ausgaben und Etatsüberschreitungen im Laufe des Jahres
nach dem Etatsjahr, in dem sie erfolgt seien. Hier stimmte die Linke mit
der äußersten Rechten gegen die Anträge und brachte sie so zu Fall. Dann wieder
machten auch die Preußen der „deutschen Fortschrittspartei" eine Parteifrage
aus der Wahlprüfung des Abg. Krieger (Nationalliberaler) aus Posen und se-
cundirten die Tiraden der polnischen Bundesbrüder, die über die Verletzung
ihrer Gleichberechtigung mit den Deutschen :c. schrieen, mit lautem Beifall.
Wahrlich, es dünkt uns der Anfang vom Ende für diese Partei, wenn sie be¬
reits bis zur Verleugnung ihres nationalen Ursprungs gediehen ist, und sich
Herausforderungen erlaubt, wie sie ihr auch in den heißesten Tagen aus der
Zeit des Conflictes nie entschlüpft sind. Auch das wurmende Gefühl, bei Leb¬
zeiten beerbt zu sein, kann solche Manöver nicht entschuldigen. Wer zu starr ist,
sich selbst zu überwinden, den sollte doch die Wahrnehmung wenigstens mäßigen,
wes das Lob ist, das er einerntet.
Ueber das Centrum und die Rechte erzähle ich nächstes Mal.
Wir theilen auf den folgenden Blättern eine Aufzeichnung über den Tod
des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen mit, welche, wie uns scheint,
neben den bisher bekannten Berichten eine besondere Bedeutung beanspruchen
darf. Sie bringt Einzelnheiten bei, die wohl geeignet sind, das absichtlich und
absichtslos nach allen Richtungen gezogene Urtheil über jenes unglückliche Ereig-
niß endlich sicher zu stellen.
Wie sehr die Berichte über das Ende des Prinzen von einander abwi¬
chen, mußte jedem auffallen, der einmal Veranlassung hatte, sich mit der Ka¬
tastrophe von Saalfeld eingehend zu beschäftigen. Weder die Art des Todes,
noch die nächsten Umstände, die ihn herbeiführten, waren zweifellos beglaubigt.
Alsbald nach dem Gefechte verbreitete sich, besonders unter den beteiligten
Sachsen, die Meinung, der Prinz habe den Tod gesucht; specieller erzähl'
ten die ersten preußischen Berichte, der Tod sei ihm durch eine Kugel geworden.
Dann wieder behauptete Massenbach in seinen Denkwürdigkeiten, der Prinz sei
den Tod der Verzweiflung gestorben, und der Verfasser der angeblich aus dem
Französischen übersetzten „Gallerie preußischer Charaktere" findet dies sehr
Wahrscheinlich in der Erwägung, „mit welchen traurigen Gefühlen der Prinz
von seinen vertrautesten Freunden Abschied genommen hatte, und wie sehr er durch
seine ganze Lage im Leben zur Beschleunigung seines Schicksals gedrängt wind.'."
Der nämlichen Behauptung, mehr oder minder aus dem Leben und dem Cha-
rakter des Prinzen motivirt, begegnen wir bei den meisten französischen Schrift¬
stellern (Pascal in seiner Geschichte der französischen Armee spricht von einem
exoös ete tönieritv <ze cle äesospoir) und bei vielen deutschen.
Ganz im Gegensatz dazu kam die Erzählung auf, daß der Prinz, als ihm
mislungen war, seine flüchtigen Schwadronen wieder zum Stehen zu bringen,
selbst sein Heil in der Flucht gesucht habe. Beim Uebersehen über einen Gar-
tenzaun sei dann das Pferd mit einem Fuße hängen geblieben und in diesem
Momente der Prinz durch französische Husaren eingeholt. Hier spaltet sich die
Tradition noch einmal. Von der Marwitz, welcher der Erzählung Massenbachs
mit harten Worten entgegentritt, läßt den Prinzen von hinten erstochen sein,
und so ist das Ereigniß z. B. in Butans „Deutscher Geschichte in Bildern"
dargestellt; der Herausgeber der Denkwürdigkeiten Karls von Nostitz, Adjutan¬
ten Louis Ferdinands, berichtet nach handschriftlichen Quellen, die er nicht näher
bezeichnet — Nostitz' eigener Bericht endet mit dem entscheidenden Tage —
mit folgenden Worten: „Sein vortreffliches Pferd, dessen Nostitz gedenkt, hätte
ihn auch aus der Gefahr gebracht, aber beim Uebersetzen über einen Zaun, un¬
weit des Einganges von Wölsdorf, blieb es mit einem Fuße hängen. Ein
ansprengender französischer Husar versetzte in diesem Augenblicke dem Prinzen
einen tiefen Hieb in den Hinterkopf; zugleich stürzte ein französischer Wacht¬
meister vom zehnten Husarenregiment, Namens Guindö, auf ihn los und rief
ihm zu, sich zu ergeben. Der Prinz antwortete durch einen Säbelhieb, empfing
aber selber einen Stich in die Brust. Noch hielt er sich einige Augenblicke zu
Pferde, geleitet von seinen herbeigeeilten Adjutanten von Valentini und Nostitz,
von denen der letztere auch schon einen Hieb in den Arm erhalten hatte. Der
Feind drängte heftig nach. Der Prinz schwankte, sank; Nostitz sing den Sin¬
kenden in seinen Armen aus, aber schon verhauchte er sein Leben." Ganz
ähnlich Varnhagen in seiner „Gallerte von Bildnissen aus Rahels Umgange".
Dieser Erzählung folgen Höpsner, Häußer und die meisten anderen, auch Grobe
in der Saalfelder Chronik. Ferdinand Schmidt in seiner preußischen Geschichte
erzählt, daß der Prinz beim Ueberspringen des Zaunes zwar verwundet, aber
daß er erst zum Gefecht genöthigt sei, als ihm, eine Strecke weiter, das Pferd
unter dem Leibe erschossen worden. Dieser Erzählung fügt er ein Bild bei^
das nach einer im berliner Kupferstichcabinet befindlichen Radirung vom Jahre
1807 gemacht ist. Auf diesem Bilde erhält der Prinz den Stich in die Brust
aus eine fast unmöglich scheinende Weise, in dem Momente, da er über den
Zaun setzt, von einem Reiter, der ihm folgt.
Nicht einmal über den Platz, wo der Prinz gefallen, sind die Berichte
einig, und jede Seite kann sogar einen steinernen Zeugen für sich aufführen.
An zwei, allerdings nicht gar weit von einander entfernten Punkten des Schlacht¬
feldes stehen Denkmäler, welche mit den nämlichen Worten die Stelle anzu¬
geben behaupten, wo der Prinz gefallen.
Aber wozu diese punctuelle Untersuchung eines Ereignisses, das weder eine
bis zu uns dauernde Schöpfung oder das Wachsthum einer wichtigen Existenz
bezeichnet, noch auch in der abwärts führenden Reihe von Thatsachen, die es
beginnt, die entscheidende Stelle einnimmt? eines Ereignisses, dessen Tragik,
so beweinenswerth sie sein mochte, doch als die eines einzelnen Menschenlebens
in und neben dem jammervollen Sturze verschwindet, den das Haus des Man¬
nes und sein ehedem so ruhmbedecktes Vaterland vier Tage darnach erlitt?
Wozu noch heute, wo. dem Himmel sei Dank, die Tage von Saalfeld und
Jena gesühnt sind, wo wir ihren Lehren gerecht wurden und ihrer zwar ernst,
aber ohne Kummer, als solcher gedenken, die nicht wiederkehren werden?
In der That kann eine solche Untersuchung nichts zu Tage fördern, was
die Ansicht von dem großen Schicksale des Jahres 1806 zu ändern vermöchte.
Aber von einem so ausschließlich persönlichen Belange, wie es auf den ersten
Blick scheinen mag, ist sie gleichwohl nicht. Denn steht fest, daß der Prinz den
Tod gesucht hat, so kann man der Vermuthung nicht wehren, daß er selbst die
Einleitung des Gefechtes als eine That des Leichtsinns angesehen habe, da ihn
der unverschuldete Verlust eines Vortrabgesechtes unmöglich bis zur Verzweiflung
deprimiren konnte und er seines Werthes für die Armee sich wohl bewußt war;
und dieser Umstand würde ein wichtiges Moment für die Beurtheilung des ganzen
Kampfes abgeben. Von noch schwererer Bedeutung wäre es, wenn der Prinz, wie
der Verfasser der „Gallerie preußischer Charaktere" zu verstehen giebt, in dem ve>
girrenden Kriege nur ein heroisches Ende für ein verfehltes Leben gesucht
haben sollte. Immer wird die Ansicht von dem Gefechte durch das Urtheil
über den Tod des Prinzen afficirt werden, wenn dieser als etwas anderes denn
als ein ungesuchtes und zufälliges Kriegsgeschick nachgewiesen würde. Hier,
offenbar. ve>flicht sich das Persönliche mit dem Allgemeinen, und erwägt man
andrerseits, wie sehr geeignet der Name eines nach eigener Wahl gefallenen
Heerführers für andere war, um eigene Sünden darauf abzuwälzen, so erkennt
man wohl, daß es durchaus^ nicht ohne sachlichen Werth ist, genau festzustellen,
ob hier von Verschuldung die Rede sein darf.
Von der höchsten Wichtigkeit aber ist dies jedenfalls für die Beurtheilung
des merkwürdigen Lebens selbst, um dessen Ende es sich hier handelt. Wie
viel ist der Prinz, der so sehr geliebt ward, auch getadelt und geschmäht worden!
Wie sehr ist namentlich die Thatsache seines Todes ausgebeutet, um rückwärts
die Wüstheit und die innere Zerrüttung seines Lebens zu beweisen! Man muß
ja gestehen, daß dieser Existenz, in der altes ungemein und ursprünglich zu sein
scheint und die sich in der menschlichsten und ungebundensten Darlebung über¬
gewaltiger Kräfte erfüllt, die rechte Zusammenfassung und Harmonie noch fehlt,
und daß sie zuweilen wie ein wildes Spiel zerstörender Mächte erscheinen will,
das auf ein schlimmes Ende deuten mag; aber wir kennen siesnoch keineswegs
in alten ihren Motiven und Aeußerungen, und so ist auch, was wir kennen,
noch immer der mannigfachsten Deutung sähig, wie alles Ursprüngliche, das
ohne Moderation auftritt und einer landläufigen Signatur noch entbehrt. Ist
es unter solchen Umständen gleichgiltig, ob die Mittheilungen, die noch aus
ihrem Dunkel herüberkommen sollen — und eben jetzt beginnen die schätzbarsten
hervorzutreten — die Thatsache eines verzweiflungsvollen Todes zu Passiren
haben, um von da sofort eine düstere Beleuchtung zu empfangen? Steht in
Wahrheit diese Thatsache, wohlan, so ziehe man die Schlußfolgerungen, welche
sie zuläßt. Aber einstweilen gilts zu untersuchen, was hier die Wahrheit sei.
Ehe wir unsern Gewährsmann reden lassen, haben wir noch zwei Punkte
zu erörtern, welche man bisher mit dem unglücklichen Ereignisse vom 10. Oct.
in das Verhältniß gegenseitiger Bestätigung zu setzen Pflegte. Zunächst die An¬
nahme, der Prinz sei in den letzten Tagen düster und befangen gewesen und
habe unter den verwirrenden Eindrücken stärkster persönlicher Erlebnisse gestanden.
Man deutet auf sein Liebesverhältniß. Davon sind wir nun durch die Samm¬
lung von Briefen genau unterrichtet, welche Alexander Büchner kürzlich heraus¬
gegeben und die Ludmilla Ussing aus Varnhagens Nachlasse vervollständigt hat.
Mochten andere von dem Verhältnisse zu Pauline Wiesel, das ihnen als un¬
würdig erschien, voraussetzen, daß es den Prinzen zwischen Leidenschaft und
Reue hin und hertreibe; der Prinz jedenfalls empfand nicht so. In der Fülle
der Liebesgluth, mit der Erwartung, für seine Anstrengungen den schönsten Lohn
in seiner Liebe zu finden und diese nach dem Kriege legalisiren lassen zu können, so
ging „er in den Kampf. In dieser Sphäre hatte er nur zu hoffen; hier gab es
für ihn keinen Antrieb, den Tod zu wünschen. Am 7. Sept. hatte er Paulinen
von Zwickau aus bedrängt, sich bald von ihrem Gatten scheiden zu lassen, und
am 2. October schrieb er ihr von Jena aus: „— Daß wir in einer großen
Spannung und Erwartung sind, kannst Du leicht denken. Da der Krieg mehr
oder weniger von unserer ganzen Existenz entscheiden wird, so drängen unwill¬
kürlich sich ernste Gedanken dem Geiste auf; den schönsten Kampf jetzt zu kämpfen,
wo so viel Ruhm zu erwerben, so vielen Uebeln zu steuern, ist wahrlich ein
schönes, wichtiges Loos. auch habe ich von allen Freunden, allen Genüssen Ab¬
schied genommen und lebe nur. um in meinem Geschäftskreise mit der größesten
Energie zu wirken. Meinen süßesten Lohn, meine Pauline, erwarte ich darauf
von Dir; über jede Begebenheit, die mir geschehen, über jeden Succeß. den ich
haben werde, wird Deine Liebe einen sanften Schimmer verbreiten, allem wird
sich dies Gefühl beimischen. Daß Deine Gedanken mich stets begleiten, davon
bin ich überzeugt, gewiß, daß das Glück Deines Lebens nur von mir, durch
mich kommen kann." Pauline schickte ihm darauf, nach seinem Wunsche, ihr
Medaillon, und er trug es am Tage des Gefechtes auf der Brust.
Freilich, was dem Prinzen über die Lethargie des Hauptquartiers mitge¬
theilt worden war, machte ihn zornig und unmuthig. „Er hatte", erzählt Karl
v. Nostitz, „den Glauben an Erfolg ausgeben müssen und stützte sich nur auf
sich selbst. So reich war er an Heldenkraft, daß auch jene verzweiflungsvolle
Zeit ihn nicht beugte, und er, wenn Unverstand und Schwäche in der obern
Leitung ihn niederdrückten, in rühmlicher Selbsttäuschung seine Hoffnung auf
den Muth und die Tapferkeit des Heeres setzte, ja sogar den Kampf ohne Sieg,
wie der bevorstehende zu werden drohte, wenn er nur ehrenvoll war. einem
schmachvollen Nachgeben vorzog." Aber wenn der Prinz auch fest entschlossen
war. wie er oft zu Nadel gesagt hatte, den Sturz seines Vaterlandes nicht zu
überleben, so lag in der hier charakterisirten Stimmung wahrlich nicbt der Ent¬
schluß eines jähen Todes, sondern vielmehr der äußersten eigenen Anstrengung.
War er es doch vor anderen gewesen, der zum Kriege gedrängt hatte! Sicher
ist. daß der Prinz am Abend des 9. October, den er in Rudolstadt zubrachte,
heiter gestimmt war, indem er von dem folgenden Tage offenbar das Beste er¬
wartete. Unwahr ist das Gerede, er habe die Nacht vor dem Gefechte im Ru-
dolstädter Schlosse verschwärmt. Er zog sich früh mit der fürstlichen Familie
in deren Zimmer zurück. Noch lange wußte die Fürstin Caroline von dem
einzigen Clavierspiel zu erzählen, in>t dem er sie dort entzückt und in welchem
eine Ahnung des nachfolgenden Jammers ausgedrückt war.
Hier bietet sich ferner die Frage zur Erörterung dar, ob der Prinz am
folgenden Tage im guten Glauben an seine Pflicht und an sein Recht gehandelt
habe oder ob in seinem Verfahren eine Schuld entstand, die ihn in den Tob
treiben mochte. Von Seiten derer, welche für Hohenlohe und Massenbach ein¬
zustehen ein Interesse hatten, ist dies behauptet worden. Aber man erwäge
folgende Thatsachen. Alle Maßregeln Hohenlohcs gingen dahin, die Armee,
welche hinter dem Thüringer Walde eine zwecklose Aufstellung genommen hatte,
auf dqs rechte Saalufer hinüberzuziehen, mindestens sich mit dem eigenen Corps
von der Haupiaimee zu emancipiren. Der Herzog von Braunschweig war
diesen Bestrebungen zuerst principiell entgegengetreten, in der Ueberzeugung, daß,
wenn er selbst nicht angreife, er auch nicht angegriffen werde und der Krieg,
den er nicht wünschte, so noch vermieden werden würde; dann, als der
Plan Napoleons sich unzweideutig zu erkennen gegeben, hatte er erklärt, daß
die ganze Armee die Saale repassiren solle, daß aber der Fürst nicht eher hin¬
übergehen dürfe, als bis das Ganze an den Uebergangspunkten versammelt
sei. Trotz dieser zu wiederholten Malen deutlich ausgesprochenen Bestimmungen
hatte der Fürst, überzeugt, daß sein Plan als der vernünftigste im erfurter
Hauptquartier anerkannt werden müsse, bereits etwa die Hälfte seiner Armee
über die Saale in die Stellung von Mittel-Pöllnitz vorgeschoben und die Di-
Visions-Commandeurs von seiner Absicht unterrichtet, am 10. Oct. über die
Saale zu gehen und nach Neustadt und Mittel-Pöllnitz zu marschiren. Dem
Prinzen Louis Ferdinand wurde in der Nacht auf den 9. Oct. nach Stadt-Ilm
der Befehl gesandt: „mit der bei Rudolstadt zu versammelnden Avantgarde die
Posten von Rudolstadt und Blankenburg bis zur Ankunft der Avantgarde der
Hauptarmxe z« vertheidigen, si-b sodann über die Salate in die Gegend von
Rahnis und Pösneck abzuziehen, wo er, in Gemeinschaft mit dem General
Graf Tauentzien. die Avantgarde der sich bei Mittel-Pöllnitz sammelnden linken
Flügelarmee bilden solle; der Fürst beabsichtige nicht, sich in der am 9. zu
nehmenden Aufstellung zu schlagen, sondern nur in 4 Colonnen an der Saale
bereit zu stehen, um am 10. nach Mittel-Pöllnitz zu marschiren." Dieser Be¬
fehl beruhte auf der Annahme, daß mein die Armee bei Kasta, Orlamünde und
Rudolstadt über die Saale nach Neustadt und Mittel Pöllnitz führen könne.
Der Prinz erfuhr aber in Rudolstadt, daß an den genannten Punkten, wegen
der steilen und schlechten Gebirgswege auf der rechten Seite der Saale, die
Passage für Artillerie und Train nicht stattfinden könne, und daß für diesen
Zweck nur der Weg über Lvbcda und der über Saalfeld zu benutzen sei. Er
sah also, wie Höpsner ausführt, daß wenn der Feind sich des Punktes von
Saalfeld bemächtigte, der eigenen Avantgarde nicht alium der Uebergang über
die Saale verwehrt und dieselbe dadurch vom Gros des Corps abgeschnitten
werden könnte, sondern der Feind auch in den Stand gesetzt würde, sich der
Brücke bei Saalfeld zu bedienen, um auf dem guten Wege nach Neustadt zu
marschiren, dem aus schlechten Gebirgswegen dcfilirenden Corps in die Flanken
zu fallen und vor demselben Neustadt zu erreichen. Seine rechte Flanke sah
der Prinz bei Blankenburg durch den General Pelee, die linke bei Pösneck
durch den General Schimmelpfennig gedeckt, und so beschloß er Saalfeld zu
halten. „Er schrieb deshalb um 9 Uhr Abends an den König, meldete die
empfangenen Nachüchten vom Feinde, daß er in der Nacht die Avantgarde bei
Rudolstadt concentriren werde, um nach Neustadt a. O. zu marschiren und
daher bitte, von der am folgenden Tage nach der Gegend von Blankenhayn
rückender Hauptarmee einen Theil in das Saalthal zu werfen und gegen Grä-
fenlhai vorrücken zu lassen, um dadurch dem nach Neustadt rückender Hohen-
loheschcn Corps gegen den auf Saalfeld vordringenden Feind die rechte Flanke
und den Vorgang im Sacillhal selbst zu decke». Abschrift dieses Schreibens
sandte er dem Fürsten Hohenlohe durch den sächsischen Lieutenant Egidi nach Jena."
Der Fürst hatte sich seinerseits erst nach jenem Befehle an den Prinzen ent¬
schlossen, seine Truppen von Mittel-Pöllnitz zurückzunehmen; ein Umstand, wel¬
cher der Stellung von Saatfeld einstweilen nichts von ihrer Wichtigkeit benahm.
Nun will Rüste von Lilienstern (mit seinem Meister Massenbach) von einem
Befehle wissen, der in der Nacht vom 9. auf den 10. dem Prinzen zugeschickt
sei: „sich nicht von Rudolstadt zu entfernen, und den Feind nicht anzugreifen,
sondern sich im Gegentheil, falls er mit Uebermacht angegriffen werden sollte,
auf den Generallieutenant v. Grawert nach Orlamünde zurückzuziehen. Das
Weitere werde ihm der Fürst morgen mündlich mittheilen." Es ist durchaus
zu bezweifeln, ob dieser Befehl überhaupt ertheilt worden ist. Aeußerlich ist
er gar nicht beglaubigt. Es ist nicht gesagt, in welcher Form noch durch wen
er vermittelt sein soll, und ohnehin ist der so ohne alle Motivirung und Ori-
entirung erfolgende Erlaß einer Ordre an den Avantgardensührer, der den
Fühler der Armee abgeben soll, geradezu unglaublich, besonders wenn das
Hauptquartier seine eigenen Pläne völlig verändert hat. Auch von einer Ant-
wort des Prinzen ist nicht die Rede. Er hätte doch wohl noch einmal seine
Ansicht vertheidigen oder seine Zustimmung zu erkennen geben müssen. Statt
dessen schrieb er von Saatfeld aus am Morgen des 10. an den Fürsten im
Sinne seiner letzten Benachrichtigung, daß das Gefecht begonnen habe, und
beglaubigt ist, daß er, als er dann die Nothwendigkeit des Rückzuges einsah,
gegen den Hauptmann von Valentini äußerte: „Ich verlasse Saalfeld ungern.
Wenn wir uns nur so lange behaupten könnten, bis ich noch eine Nachricht
vom Fürsten erhalten hätte, oder bis die Avantgarde der Hauptarmee heran
wäre, um diesen Posten zu übernehmen, und ich über die Saale gehen könnte,
um mich mit Tauentzien zu vereinigen." Und ferner, wie der Befehl da ver¬
zeichnet steht, kann er. seinem Inhalte nach, nicht gegeben sein: ein Blick auf
die Karte genügt, dies zu erkennen. Denn gesetzt, der Fürst hätte die Wichtig¬
keit Saalfelds ignorirt und er wäre der Meinung gewesen, für die Sicherung
seiner eigenen Stellung (die er aber am 10. erst noch suchte) nur Orlamünde
halten zu müssen: so mußte er doch sehen, daß Rudolstadt preisgeben die Haupt¬
armee preisgeben hieß, welche am 10. in die Stellung von Hochdorf, vor der
Linie Blankenhayn-Stadt-Ilm, einrücken wollte. Jedenfalls aber, wenn irgend
ein ähnlich gefaßter Befehl in der Nacht an den Prinzen abging, so konnte er.
der Zeit nach, nicht die Antwort auf des Prinzen Schreiben von 9 Uhr Abends
sein, und der Prinz durfte, wenn er irgend im allgemeinen Sinne seiner Sen¬
dung handeln wollte, den Posten von Saalfeld nicht eher verlassen, als bis er
durch eine stärkere Macht abgelöst wurde, oder bis er erfahren hatte, daß der
Fürst wisse, um was es sich bei diesem Posten handle.
Denn nun überlege man, was eingetreten sein würde, wenn der Prinz
bei Rudolstadt stehen geblieben wäre. Diese Erörterung ist noch nirgends aus¬
drücklich angestellt worden; man hat sich damit begnügt, das Unglück von Saal¬
feld als die Hauptursache der nun folgenden Katastrophe zu bezeichnen, statt
zu untersuchen, ob sie nicht vielmehr die erste Folge der Unthätigkeit des Haupt¬
quartiers, der allgemeinen Verwirrung und der unter den Oberfeldherren be¬
stehenden Spannung war; ob dasselbe, wenn es nicht in Saalfeld eintrat, an
irgend einem andern Punkte und in weit größeren Umfange, eintreten mußte.
Die Armeen, welche hinter dem Prinzen standen, waren im Marsche begriffen,
die zunächst hinter ihm stehende Flügelarmee durch die erhaltenen Contreordres
sogar in ziemlicher Confusion und durch die Saale in zwei Theile getrennt.
Blieb der Prinz bei Rudolstadt stehen, so war für den Marschall Laur.es der
Weg auf Pösneck und Neustadt frei, und er hätte von da aus nicht nur die
Avantgarde selbst abgeschnitten, sondern wäre auch den von Mittel-Pöllnitz
sich nach der Saale zurückziehenden Sachsen in die Flanke gekommen. Wenn
also wirklich der Befehl ertheilt wurde, Saalfeld (das man doch gleich zu An¬
fang durch ein Bataillon Müffling besetzt gehabt hatte), ganz aufzugeben, so
kann er nur daraus erklärt werden, daß Hohenlohe die Bedeutung des Punktes
nicht erkannt hatte oder daß er an die Schnelligkeit des Feindes nicht hatte
glauben wollen. Allein dieser war nun heran, und man darf sagen, daß der
Entschluß des Prinzen das Unheil, welches nothwendig eintreten mußte, so
weit möglich gemindert hat. Man braucht hier gar nicht zu theorelisireu; man
darf nur den Feind über die Bedeutung von Saalfeld vernehmen. um zu be¬
messen, welchen Werth der Besitz dieses Punktes auch für die Preußen haben
mußte. Ganz bestimmt erwartet Napoleon dort auf Widerstand zu treffen,
und er giebt den Marschällen Lannes und Augereau in dieser Voraussetzung
die vorsichtigsten Jnstructionen; jedenfalls soll Saalfeld genommen werden, und
zum allermindesten rechnet er darauf, dort ein Corps von 15,000—18.000
Preußen zu finden. Sollte er es nicht am Ende lieber ohne Schwertstreich
genommen haben, als gegen die sehr beträchtlichen Verluste, die ihm der Prinz
beibrachte? Nicht also daß dieser das dem Feinde so wichtige Saalfeld zu
halten suchte — mochte er sich doch auch erinnern, daß man im siebenjährigen
Kriege zweimal von da aus einen überlegenen Feind in die Berge zurückge¬
trieben — nicht dies also war der Fehler, sondern daß es der Fürst nicht mit
allen Kräften hielt. Der Prinz hat sich für die Armee geopfert, ja. er ist
geopfert worden.
Denn warum — fragen wir nun — sind seitens des jenaischen Haupt¬
quartiers die Maßregeln nicht ergriffen worden, die das Verderben des Tages
wenden konnten? Warum benachrichtigte man den Prinzen nicht bei Zeiten,
daß die Hauptarmee, auf welche er rechnete, nicht sobald heran sein könne, als
er nach den erst empfangenen Nachrichten voraussetzen mußte? Warum kam
ihm Grawcrt, der bei Orlamünde hielt, nicht zu Hilfe? Warum ging er ihm
nicht einmal entgegen, wenn sich doch der Prinz auf ihn zurückziehen sollte?
Warum schickte der Fürst nicht selbst Truppen vor. da er doch, neben Grawert
stehend, die Kanonade von Saalfeld hörte? Vielleicht, weil man in Orlamünde
ohne alle Reiterei, weil die schlechtverpslegte Armee durch confuse Eilmärsche
erschöpft war? Wohl, aber so waren dies Fehler des Fürsten, nicht des Prin¬
zen. Dieser konnte kein anderes Bewußtsein als das strenger Pflichterfüllung
haben, wenn er Saalfeld zu halten versuchte.
Er leitete, auf Unterstützung wartend, sein Gefecht mit der größten Be¬
sonnenheit und Kaltblütigkeit. Leider kannte er das Terrain nicht genau; aber
daß er es nicht hatte kennen lernen können, war wieder die Schuld Hohenlvbcs.
der ihn vor dem 8. Octover Abends nicht hatte zu seinen Truppen abgehen
lassen wollen. Es war wohl ein Fehler, daß der Prinz im kritischen Momente
noch zu künsteln versuchte. Als er sah. daß sein rechter Flügel umgangen zu
werden drohte und der Gegner Streitkräfte entwickelte, die den seinigen weit
überlegen waren, mußte er wohl, statt noch durch eine Centralaction den Links-
abmarsch des Feindes aufhalten zu wollen, den einfachen Rückzug auf Rudol-
stadt anordnen. Aber als er diesen, den er eventuell vorbereitet hatte, nun
wirklich befahl (auf eigenes Ermessen, und nicht durch Hohenlohes Botschaft
bestimmt, die er persönlich nie erhielt); auch da war es noch nicht zu spät.
Mancherlei Unglück mußte jetzt zusammentreffen, um das Centrum durchbrechen
zu machen. Die Unbeweglichkeit der sächsischen Regimenter, die mit äußerster
Bravour fochten, aber nur geschlossen vorzugehen verstanden; der regellose frei¬
willige Angriff der sächsischen Schwadronen auf die französischen; der Wahnsinn
eines Batterieführers — er mußte während des Gefechtes den Verstand ver¬
loren haben —, der durch nichts zu bewegen war. auf die deployirenden Husaren¬
regimenter mit Kartätschen zu schießen; diese Umstände wirkten zusammen, um
die Deroute von Wölsdorf herbeizuführen. Die schlimmen Folgen derselben
vervollständigte der Fall des Führers. Ohne dies unglückliche Ereigniß wären
die rechts von Wölsdorf stehenden Truppen wahrscheinlich in Ordnung über
die Schwarza zurückgeführt worden.
Wenn hier — das wird man erkennen — ein Leichtsinn begangen wurde,
so liegt er nicht dem Prinzen zur Last, und wäre dieser am Leben geblieben,
man würde ihn ebenso wenig zu beschuldigen gewagt haben wie Tauentzien,
der ebenfalls mit zu schwachen Kräften an einen wichtigen Punkt gestellt war.
Der Bericht, den wir nun folgen lassen, ist von dem ehrwürdigen Justiz¬
rath Windorf zu Saalfeld aufgezeichnet, der als zwanzigjähriger Jüngling
den Tag des Gefechtes erlebte. Er erzählt zunächst von dem. was man am
10. und 11. October in der Stadt selbst vom Prinzen Louis Ferdinand sah.
.Am Morgen des 10. October 1806 hörte man in Saalfeld das Klein-
gewehrfeuer, womit das Vorpostengefecht am Fuße der oberen Berge zwischen
den Franzosen und Deutschen eröffnet worden war. Zwischen acht und neun
Uhr kam der Prinz Louis Ferdinand von Preußen von Rudolstadt, wo er
einem Hofbälle beigewohnt, mit 2 Adjutanten, von Nosiitz und Friedrich
von Klitzing, durch das Blankenburger Thor in die Stadt geritten und stieg
vor dem Kaufmann Lairijzschen Hause, dem Eckhause links am Markte und der
obern Gasse, worin eine seine Restauration sich befand, mit seinen Adjutanten
ab. nahm darin Champagnerpunsch zu sich und ritt nach kurzem Aufenthalt zum
obern Thor hinaus. Das kräftige Ebenmaaß seiner Gestalt, der seine lebhafte
Ausdruck seines Gesichts, sein herrliches Auge — Alles an ihm war schön. An
demselben Nachmittage wurde er todt hi«her gebracht. Er lag auf einer von
rohen Weidenästen zusammengebauten Trage unter einer wollenen Pferdedecke.
Französische Soldaten trugen ihn, unter Tanzmusik,*) in den innern Schloß-
Hof. Per im Schlosse einquartierte Marschall Lannes kam herunter in den
Schloßhof, betrachtete den Prinzen lange stillschweigend und ging dann wieder
hinauf in sein Zimmer, Per Prinz wurde desselben Tags aus Verwendung
des Herzogs in die Se. Johanniskirche Kier gebracht."
„In diese hatte ich als Sohn des Predigers beliebigen Zutritt. Ich wohnte
der Leichenschau, der Section und der Einbalsamirung des Prinzen vom An¬
fang bis zu Ende mit Aufmerksamkeit bei. Der Feind hatte dem Prinzen nur
ein Hemd und ein Paar wattirte Unterbeinkleider gelassen. Die Leichenschau
zeigte fünf Wunden**): einen leichten Hieb über die Wange, einen Ritzen mit dem
Federmesser ähnlich (man vermuthete, um das Sturmband des Hutes zu lösen
und diesen vom Haupte zu entfernen); einen Säbelhieb auf der linken Seite
des Hinterkopfes; einen Säbelhieb auf der rechten Seite des Hinterkopfes —
beide Hiebe kreuzten sich unten nach dem Halse zu, ohne in diesen eingedrungen
zu sein —; einen ganz eigenthümlichen Hieb in den Ellenbogen des rechten
Armes, einer Auslösung der Pfanne von der Kugel, mit dem Messer, ähnlich;
einen Stich tief in die Brust mit einem breiten Säbel beigebracht. Das aus
der Feder des or. Wagner geflossene Visum rexertum der Aerzte, das nach
Berlin gesendet wurde, lautete dahin: daß die Wunde auf der Wange nur
eine leichte, oberflächliche Hautverletzung von geringer Bedeutung sei; daß die
Wunden des Hinterkopfes wohl hätten geeignet sein können, eine momentane
Betäubung zu erzeugen, aber nicht gefährlich, bald zu heilen gewesen seien;
daß die Wunde im Ellenbogen wichtiger gewesen sei als die vorbenannten,
Weil sie, obschon ebenfalls bald heilbar, doch einen steifen, völlig unbrauchbaren
Arm hinterlassen haben müßte; daß aber die letzte Wunde, welche mit einem
geraden Säbel von oben nach unten beigebracht, absolut letal und daß zu
vermuthen sei, sie sei dem Prinzen in dem Augenblicke, wo er in Folge he,r
Kopfwunden vom Pferde gesunken, oben vom Pferde des Feindes herab bei-
gebracht worden."
„Der Prinz wurde in der fürstlichen Gast der Se. Johanniskirche hier bei-
gesetzt und erst im Jahre 1811 nach Berlin gebracht."
Ueber das Ende des Prinzen selbst hat Hr. Windorf folgende Aufzeich¬
nung gemacht:
„Das zunächst an der Straße von hier nach Rudolstadt links gelegene
letzte Wohnhaus in Wölsdorf wurde von seinem Eigenthümer Georg Heinrich
Bock (gestorben im Juli dieses Jahres) und dessen bejahrten Vater 1806 be-
wohnt. Es liegt in dem dazu gehörigen geräumigen Garten, der heraus an
die Straße stößt. Die mir schon Vorher bekannte Familie Bock sah von den
Fenstern ihrer Wohnung aus in deren Nähe in dem Garten den Prinzen mit
seinen Adjutanten halten und hörte ihn von dort aus Befehle geben. Dort
wurde ihm das Pferd, auf dem er saß, todt geschossen. Schnell bestieg er ein
anderes Pferd; aber der ihn immer näher und stärker umgebende Druck des
Feindes nöthigte ihn, den Garten zu verlassen und über die Straße in den
Hohlweg zu reiten, der rechts ab, nach den Haidenbergen zu, an die Saale und
über diese nach Prcilipp führt. Rechts in jener Hohle befindet sich eine an den
Meisten Stellen senkrechte Lehmwand. Auf dieser stand unten, nahe am Aus¬
gangs der Hohle, ein verwitterter EichenstumMel, von welchem einige Wurzeln
an der Wand herunter, halb von dieser eingehüllt, halb zu Tage liegend, unten
in die Erde gewachsen waren. Die Höhe der Lehmwand beträgt dort 8 Fuß
Auf jenem Punkte sah sich der Prinz rechts von der Lehmwand, von links und
von vorn von mehreren andrängenden französischen Reitern umschlossen und
zum Gefecht genöthigt. Sein Adjutant von Klitzing war in jenem Ge>
dränge von dem Prinzen abgesperrt und auf den herandrängenden Feind ge¬
worfen worden. Nur seine Tapferkeit und sein gutes Pferd konnten ihn von
Gefangenschaft oder eigenem Tode retten".
„Am Morgen des 11. October, wo die Plünderung noch in den Straßen
der Stadt wüthete und kein Dienstmädchen über die Straße geschickt werden
konnte, erhielt ich von meinem Vater die Ordre, das nöthige Salz in unsere
Küche zu schaffen. Sofort begab ich mich in das Haus des Salzkrämers
Peter Franke in der Schloßgasse. In der Frankeschen Wohnstube traf ich den
Franke und dessen Einquartierung, einen französischen Reiter, der zu den leich¬
ten Dragonern gehörte. Corporal war und einen geraden Säbel trug. Franke
sagte mir: „Das ist der, welcher gestern den Prinzen erstochen hat; er will mir
etwas sagen oder von mir etwas haben, aber er kann kein deutsches Wort
reden." Ich fragte ihn in seiner Sprache, was ihm gefällig sei. Hierüber
hoch erfreut, sagte er mir, daß er die Stelle, auf welcher er gestern mit dem
Prinzen gekämpft, näher zu betrachten wünsche, doch befürchte er ohne Führer
den Weg zu verfehlen. Dankbar nahm er mein Anerbieten, ihn zu begleiten,
an, und ich ging nun mit ihm, nachdem Franke die Beförderung meines Salzes
übernommen hatte, auf dem nächsten Wege über Graba nach Wölsdorf zu.
Er erzählte mir von der gestrigen Affaire, von der Tapferkeit und Unbesiegbar¬
keit der großen Nation und dergl. in. Als wir an den Bockschen Garten
kamen, betrachtete er denselben aufmerksam. Er ging in den Hohlweg. Nahe
an dessen Ausgange bei dem auf der Lehmwand rechts stehenden Eichstummel
blieb er stehen. „Hier," sagte er, indem er auf seinen Säbel schlug, „hier ist
der Prinz gefallen." Er zeigte dabei auf den Boden an der Lehmwand unter
den heruntergelaufenen Wurzeln. Der Boden war stark mit Blut bedeckt.
„Der Prinz," sagte er, „war von mir und meinen Kameraden eingeschlossen,
nur von der Lehmwand nach einer Seite hin geschützt. Er hieb und stach wie
verzweifelt um sich, wies den ihm offerirten Pardon mit Wort und Degen zu¬
rück und drang vorzüglich aus mich ein. Nun mühte ich von meiner Waffe
ernstlichen Gebrauch machen." Er ging, den Blick fest auf die Erde gerichtet,
um die blutgetränkte Stelle und in immer weiteren Kreisen um sie herum hin
und her. Es war nicht zu verkennen, daß er dort irgend etwas suche. Auf
meine Frage, ob er etwas verloren habe, antwortete er: „Ach nein, ich be¬
trachte blos das Terrain näher." Noch einigemal sah er sich aufmerksam um,
dann ging er mit mir hierher zurück. Er blieb noch mehrere Tage hier; ich
sprach ihn öfter. Seinen Namen, den ich so oft genannt, hat mein altes Ge¬
dächtniß verloren, und ich kann daher nicht sagen, ob der von Dr. Grobe be¬
zeichnete Name „Grundel" richtig ist".
„Vor dem Bockschen Garten in Wölsdorf hinunterwärts, links an der
Straße steht unter einer Linde ein Steinwürfel mit der Aufschrift: „Hier fiel
kämpfend für sein dankbares Vaterland Prinz Louis Ferdinand von Preußen
am 10. October 1806." Dieser Stein wurde 1807 von einigen preußischen
Offizieren gesetzt. Weiter hinunter, rechts an der Straße aus einer Feldspitze,
links über dem gedachten Hohlweg, jenem unglücklichen Punkte viel näher, steht
das von des Prinzen Schwester, der Fürstin Louise Radziwill später gesetzte
gußeiserne Monument. Es trägt dieselbe Aufschrift wie der Stein von 1807,
nur mit Hinweglassung des dort gebrauchten Wortes „dankbares". Der aus
dem Monument in meisterhaften Guß dargestellte Genius winkt mit dem rech¬
ten Zeigefinger links nach der Hohle hinunter. Folgt man diesem Wink und
ziehet nach seiner Richtung eine gerade Linie über die Feldspitze und den Hohl¬
weg hinunterwärts bis an die Abscheidung der Hohle durch die senkrechte Lehm¬
wand rechts, dann befindet man sich gerade auf dem Punkte, auf welchem der
Prinz gefallen ist."
Wir heben aus dieser schlichten Erzählung die entscheidenden Momente hervor.
Zunächst entnehmen wir derselben, daß der Prinz nicht an der Melöe der
Cavallerie Theil nahm, sondern in einem gegen Reiter gedeckten Obstgarten
ohne Zweifel hinter den Schützen des Regiments Kurfürst sich aufhielt und Be¬
fehle ertheilte. Als er sah, daß die Reiterei an dem Garten vorbeistürmte, ritt
er hinaus und quer über die Straße auf die dahinterliegende Wiese zu. Wo¬
hin? In denjenigen Darstellungen, welche den Prinzen flüchten lassen, scheint
ohne weiteres vorausgesetzt, daß mit der Deroute der Reiterei der Tag ent¬
schieden gewesen sei. Nun war er es zwar insoweit, als Saalfeld von diesem
Momente an nicht mehr zu halten war; aber so vernichtend wurde er nicht,
wenn der Prinz am Leben blieb; wenn es ihm gelang den rechten Flügel zu
erreichen, der zwischen Ane, Wirbach, dem Sandberge und Schwarz« eben eine
Rückzugsstellung einnahm. Es befanden sich hier unter dem General Pelee
1 Füsilierbataillon, 1 Compagnie Jäger. 3 Eskadronen sächsischer Husaren
V, berittene Batterie Gänse; unter dem General Bevilaqua das Regiment Cle¬
mens, das Regiment Müffling, die vierpfündige Batterie Hoher und wahr¬
scheinlich ein Bataillon Kurfürst. Daß auch diese Truppen zersprengt wurden,
war erst eine Folge von dem Tode des Prinzen. Lediglich der Mangel an be¬
sonnener Oberleitung war es, der sie dem Verderben preisgab. Ohne allen
Zweifel war die Absicht des Prinzen, sich zu diesen Truppen zu begeben,
als er die Stellung bei Wölsdorf durchbrochen sah. Der sehr kurze Hohlweg
bei Wölsdorf führt unmittelbar auf die Wiesen, die sich nach Schwarz» längs
der Saale hinziehen und auf denen sich mehrere Jnsanterietrupps des abge¬
schnittenen linken Flügels zum rechten retteten. Der Prinz faßte seinen Ent¬
schluß wenige Augenblicke zu spät; in den Hohlweg hineinreitend hatte er nicht
gesehen, daß dessen Ausgang schon nicht mehr frei war. Ueber die Wurzeln
des Eichstumpfs mochte obenein sein Pferd straucheln, und der entstehende Zeit¬
verlust ließ nun auch die Verfolger*) so nahe herankommen, daß er völlig ein¬
geschlossen war. Jetzt gab es für den Prinzen keine Wahl mehr; er zuletzt
konnte dem Heere, das bewundernd auf ihn blickte, das Beispiel geben, dem
Nach Besprechung der Schiffe, welche die Gefechtsstärke der Flotte hauptsäch¬
lich ausmachen, gehen wir. indem wir die Betrachtung der preußischen Panzer,
fahrzeuge dem nächsten Artikel aufbewahren, zu den beiden Classen über, welche
nicht zum Kampf bestimmt sind: den Avisos und den Transportschiffen.
Von Transportschiffen hat man im wesentlichen zwei Arten zu unter,
scheiden: die eigentlichen wie Passagierdampfer gebauten Fahrzeuge für den
Transport von Mannschaften und Pferden, im Kriege auch für den Transport
von Material bestimmt, große Schiffe, deren Dimensionen in der englischen und
der französischen Marine oft die der Linienschiffe übertreffen, und dann Trans¬
portschiffe für Material wie Kohlen, Munition. Geschütze u. s. w. im Frieden.
Fahrzeuge, die besonders in der französischen und der östreichischen Marine
beliebt und ganz wie gewöhnliche Schooner und Briggs der Handelsmarine ge¬
baut und getakelt sind, von denen sie sich im Aeußern gar nicht unterscheiden.
Fahrzeuge der letztern Classe fehlen in Preußen ganz, und wir halten sie auch
nicht für nöthig, da es besser ist, wenn der Staat den Verdienst solcher Material-
Transporte den Privaten zuwendet und seine Fahrzeuge nicht von Zeit zu Zeit
müßig liegen hat. Braucht er im Kriegsfall Fahrzeuge dieser Art, so stehen,
namentlich bei einer so bedeutenden Handelsmarine wie Deutschland sie hat, wegen der
Stockung des Handels stets mehr Schiffe zu Gebote als man verwenden kann. Was
dagegen die Truppentransportschiffe anlangt, so besitzt Preußen zwar auch noch kein
fertig ausgerüstetes Fahrzeug dieser Art; aber es ist ein solches, der „Rhein", bei der
Maschinenbauanstalt „Vulkan" (am linken Oderuser unterhalb Stettin gelegen)
bereits vom Stapel gelaufen, und der in unserm frühern Artikel mehrfach er¬
wähnte Gründungsplan hatte für die preußische Flotte, selbst ehe sie Aufsicht
hatte, sich zur deutschen Flotte zu erweitern, doch den Bau von vier solcher
Schiffe in Aussicht genommen. Daß man dafür die Eiscnconstruction wählte,
um die Schiffe leichter und billiger zu machen, und daß man sie als Schrauben¬
schiffe mit hoher Takellage zu bauen beschloß, damit sie auf ihren Fahrten mög¬
lichst viel die Segel gebrauchen können, das kann nur gebilligt werden. Doch
möchten wir uns gegen die Anwendung des gewöhnlichen Schraubenbrunnens
aussprechen, in welchem bei den gewöhnlichen Schraubenschiffen während des
Segelns die Schraube in die Höhe gewunden wird, und der natürlich ein sehr
breites und überhängendes Hinterschiff erfordert, in dem die aufgewundene Schraube
sich birgt. Wir möchten statt dessen lieber die Construction mit einziehbarer
Schraube (IMiee reutrimt,) empfehlen, wie sie auf der pariser Ausstellung an
einem niederländischen Model! zu sehen ist. Die Schraube ist von der Form
der zweiflügeliger französischen Kriegsschiffsschraube, d. h. genau von der Form
zweier überall gleich breiter Windmühlflügel, und außerdem so eingerichtet, daß
sie, wenn ihre Flügel in senkrechte Lage gebracht sind, auf der Schraubenachse
selbst nach der Mitte des Schiffs zu sich schieben läßt. Die senkrechte Wand,
welche von dem breiten mittlern Theile des Schiffs, der sich allmälig nach hinten
verengert, unter dem Hinterschiff bis zum Ruderpfosten geht und bei Holzschiffen
durch das Hintere Schlempknie gebildet wird, ist dann hohl construirt, ihre beiden
Seitenwände stehen etwas mehr auseinander als die Breite der Schraubenflügel
beträgt, und die Schraube birgt sich so, wenn sie nach vorn gezogen wird, in
diesem Theil, welchen bei Holzschiffen die Schlempkniee einnehmen. (Uebrigens
können natürlich eben so gut die beiden Flügel der Schraube doppelt sein, d. h.
aus zwei ganz gleichen, parallel hintereinander auf der Axe stehenden Platten
bestehen, wie aus allen neuerdings erbauten französischen Kriegsschiffen z. B. der
„Alma".) — Bei dieser Construction ist die horizontale Bewegung der
Schraube weit leichter zu bewerkstelligen als ein senkrechtes Heben derselben; ihr
Gewicht kommt mehr nach der Mitte des Schiffs und bleibt unter Wasser als
Balance gegen den Scgeldruck; das Hinterschiff braucht nicht mehr über¬
hängend gebaut zu werden, — Deckung des Ruders und der Schraube durch
diese Bauart wie bei Panzerschiffen gegen Anrennen ist hier beim Transport¬
schiff nicht nöthig — und man kann dann dem Hinterschiff die scharfkantige, dem
Bug ähnliche Gestalt geben, wie bei den französischen Panzerschiffen, wo sie
dem Fahrzeug gegen Wellen, die von hinten kommen, so enorme Stärke und
Sicherheit verleiht.
Die Zahl der neu zu erbauenden Transportschiffe hat man, wie gesagt, mit
Rücksicht auf Heranziehung von Schiffen der Kauffarteimarine auf vier nor-
mirt, eine Zahl, die auch für die Verbindung der einzelnen Häfen im Frieden,
die Zuführung von Munition und Proviant für die auf hoher See stationirten
Geschwader im Kriege durchaus wünschenswert!) ist. Diese Transportschiffe
sollen durchschnittlich 800 Tonnen Lästigkeit und eine Schraubenmaschine von
200 Pferdekraft neben einer Armirnng von 4 leichten Geschützen führen. Doch
erscheint uns ein größeres Fassungsvermögen (Tragfähigkeit mit Einrichtungen
für den Transport von Truppen) wünschenswert!), und wenn Deutschland auch
jetzt noch keine so großen Transportdampfer braucht wie die englischen „Serapis"
und „Euphrates" von 4000 Tons oder die großen mit zwei weißen Batterie-
streifen geschilderten Transportdampfer Frankreichs von der Länge der Linien¬
schiffe (z. B. „Niövre," „Durance," „Calvados"), so halten wir doch eine Größe
von 1200 Tons mit Maschinen von etwa 240 Pferdekraft für geboten, ohne
daß jedoch durch diese Vergrößerung 5er Tiefgang wachsen darf. Diese Dampfer
sollen nun nach den Bestimmungen des Flottengründungsplanes sehr zweckmä¬
ßiger Weise neben ihrer Maschine eine hohe volle Takellage bekommen, um bei
günstigem Winde immer segeln und Kohlen sparen zu können. Die Wahl der
Construction als Schraubenschiffe hat übrigens nicht blos den Vortheil, das
Segeln und die Anwendung der „einziehbaren Schraube" zu gestatten, sondern
von gleichem oder noch größerm Werth ist hierbei die Sicherheit vor Beschä¬
digungen der Maschinerie durch feindliche Schüsse, da solche Transportschiffe,
selbst wenn sie von Kriegsschiffen escortirt werden, doch immer noch in die Lage
kommen können, vom Feinde beschossen zu werden. Aus Gründen der Öko¬
nomie will der Flottengründungsplan diese Transportschiffe aus Eisen erbauen;
doch ist hierbei wohl zu erwägen, ob nicht die Construction als Compositions-
schiffe, mit eisernem Gerippe und hölzerner Beplankung nebst Kupferung unter
der Wasserlinie bei diesen Fahrzeugen außer gleicher Leichtigkeit des Schiffskör¬
pers noch sonst größere Vortheile gewähren würde, namentlich mit Rücksicht
auf die Gesundheit der Truppen, welche transportirt werden sollen, vollends
wenn man etwa später Truppen nach tropischen Kolonien übeizuführen hätte,
und serner auch hinsichtlich der Schnelligkeit, die bei eisernen Schiffen durch das
Bewachsen des Bodens mit Muscheln und Seegras oft erheblich abgeschwächt wird.
Eins dieser Transportschiffe ist. wie erwähnt, gegenwärtig en der Maschinen- und
Schiffsbauanstalt „Vulcan" bei Stettin bereits vollendet worden; es ist hiermit
der so viel ersehnte Anfang gemacht, auch die einheimische Eisenindustrie zum
Bau von Schiffen heranzuziehen, während der Bau von Panzerschiffen im In¬
lands allerdings, allen entgegenstehenden Behauptungen zum Trotz, noch nicht
möglich ist, da die deutschen Walzwerke bis jetzt noch nicht im Stande sind
4'/,—8 Zoll dicke Panzerplatten herzustellen. Hoffentlich wird dies aber binnen
einigen Jahren der neuen Gesellschaft gelingen, welche sich vor kurzem, vor¬
läufig mit einer Million Thaler Actiencapital, constituirt hat und ihre Etablisse¬
ments in Gaarden bei Kiel zu erbauen im Begriff steht, wobei der innere
Theil der Föhrde, des langen schmalen Meerbusens, der sehr flach ist, abge¬
dämmt, trocken gelegt und als nutzbares Areal verwandt werden soll.
Von Avisos besitzt Preußen außer den beiden früher besprochenen, für
den Dienst im Gefecht nicht verwendbaren Naddampfern „Preußischer Adler"
und „Lorelei" streng genommen kein specifisches Exemplar.
Aushilfsweise indessen ward im dänischen Kriege die Königliche Schrauben-
Dampf-Yacht „Grille", 160 Pferdekraft, als Aviso benutzt, welche zu diesem
Zweck mit zwei gezogenen 12Pfündern aus Deck armirt war. Die „Grille"
von Normandin in Havre gebaut und von König Friedrich Wilhelm IV., wie
man sagt, nach deranmuthigen Figur des gleichnamigen Schauspiels genannt, mit einer
niedrigen Takellage von drei Masten mit einem Gaffelsegel an jedem, und kur¬
zem Bugspriet ist ein Schiff von solcher Vorzüglickkeit des Baues, daß sie über¬
all, wohin sie kam, angenehm auffiel. Schon ihre Plankenverkleidung war, nament¬
lich als sie neu ankam, so vorzüglich gezimmert und zusammengefugt, daß man
die Nähte zwischen den Planken in einiger Entfernung kaum bemerken konnte
und geneigt war, die Dacht für ein eisernes Schiff zu halten; auch das ele¬
gante Oberdeck mit seinen Mahagonyeinlagen und den glänzenden Messing-Ven¬
tilatoren, sowie die ausgesuchte Pracht ihrer Kajüten überstrahlt selbst die glän¬
zenden ersten Salons transatlantischer Dampfer. Was aber gar die Formen
des schwarzen Rumpfs betrifft, so sind dieselben ganz bewundernswürdig ge¬
wählt, wie man dies auf der diesjährigen pariser Ausstellung an dem von der
Firma Normandin ausgestellten Holzmodell auch hinsichtlich des Theils unter
Wasser zu sehen Gelegenheit hatte, und man fängt an zu begreifen, wie dieses
kleine Schiff mit einer so schwachen Maschine und noch nicht 181 Fuß Länge
die enorme Schnelligkeit hat erreichen können, die es auszeichnet, indem
es die contractlichen Bedingungen um fast zwei Knoten überbot. Mit freudigem
Stolze bemerkte dem Verfasser in Havre der Erbauer des Schiffs, Herr Nor¬
mandin, wie sein lieber „Llrillou" auch den schnellsten englischen Avisos, den
äisxatek'vessels „Salamis" u. „Helicon" überlegen sei, die beide von ganz
gleichen Dimensionen und mit ganz gleichen Maschinen ausgerüstet, vor einiger
Zeit den Wettstreit zwischen der alten und der neuen Form des Bugs der Schiffe
zu einem gewissen Abschluß gebracht hatten. Und zwar hatte dabei der „Heiicon"
mit dem „Pflugschaar">Bug, der unter Wasser vorspringt wie bei den Panzer¬
schiffen, und hier allerdings das Fahrzeug 8 Fuß länger machte, eine Schnellig¬
keit von 14,» Knoten erreicht, während der „Salamis" mit dem gewöhnlichen
über Wasser aufschießenden Bug nur 13,» Knoten erreichte. Beide Schiffe
trugen aber Maschinen von 250 Pferdekraft und zwar Radmaschinen mit
Patentschaufeln, die stets normal ins Wasser eingreifen und hatten außer¬
dem eine Länge von 220 Fuß (bei 28'/. Fuß Breite und 10V-. Fuß
Mittlerin Tiefgang), während die Grille eben nur eine Schraubcnmaschine von
160 Pferdekraft und nur 180.» Fuß Länge (zwischen den Perpendikeln) hatte
bei 24 Fuß Breite (11'/« Fuß Tiefe >im Raum zwischen Unterkante Kiel und
Oberkante Deckbalken). Allerdings war so das Verhältniß zwischen Länge und
Breite der „Grille" fast dasselbe (1:7'/,) wie bei den englischen Schiffen (sonst
ist 1:4 oder 5 das gewöhnliche bei Kriegsschiffen) — aber die absolute Länge und
Schwimmkraft der englischen Avisos war doch bei weitem nicht erreicht und die
Maschinenstärke war kaum mehr als die Hälfte der englischen, und doch erlangte
sie gleiche Resultate, 13—14 Knoten und nach Herrn Normandins Mittheilung
unter Umständen sogar gegen 18 Knoten. Aus diesen Gründen möchten wir,
obgleich es bekanntlich keineswegs sicher ist, daß Schiffe die ganz nach denselben
Linien ober blos in größerm Maaßstabe gebaut werden wie anerkannt vorzüg¬
liche Läufer, dasselbe leisten, dennoch vorschlagen, beim Neubau von Avisos
einmal eine solch« Probe zu machen, d. h. ein Schiff dieser Art nach den
auf 225 Fuß Länge vergrößerten resp, nach neuen von Nonnandin zu modifi-
cirenden Rissen der Grille zu bauen und ihm Zwillingsschraubenmaschinen von
zusammen 250 Pferdekraft zu geben. Erreicht dieses Schiff keine größere Ge¬
schwindigkeit als die Grille, so kann man ja immer noch die anderen Avisos
genau so wie die „Grille" als deren schwefle»schiffe construiren.
Es war nämlich schon vor der Erweiterung der preußischen zur norddeut¬
schen Bundesflotte durch den Flottengründungsplan in Aussicht genommen.
6 Avisos mit je 2 Geschützen und Maschinen von etwa 250 Pferdekraft zu er-
bauen, wobei die Kosten für jedes Schiff auf 225.000 Thlr. veranschlagt wa¬
ren. Daß der Neubau solcher Avisos nöthig ist, wird niemand leugnen, und
auch daß die Zahl derselben auf sechs beschränkt wurde, in Rücksicht auf Be¬
nutzung von Dampfern der Handelsmarine im Kriegsfalle sowie daß sie 2 Ge¬
schütze statt des einen der englischen Schiffe bekommen und der Leichtigkeit hal-
ber von Eisen gebaut werden sollten, wird man nur loben können. Natürlich
sollen sie nicht gepanzert werden, wie einige Blätter das „eisern" aufgefaßt
hatten, sondern sie werden aus dünnen '/«zölligen Platten wie Passagierdampfer
gebaut. Dagegen scheint uns ihre Größe d. h. der Tonnengehalt etwas dürf¬
tig bemessen; die Schiffe müßten doch, so gut wie die englischen, ca. 800 Ton¬
nen erhalten, und hinsichtlich der Form sagten wir schon, daß wir die Formen
der Grille wünschten, keineswegs aber den Reedschen Pflugschaarvug. wie beim
Helicon, der nothwendig große Bugwellen aufwirft. Am wenigsten gefällt uns
aber, daß man die Idee nicht ganz von der Hand gewiesen hat, eventuell diese
Avisos als Raddampfer zu bauen, wie die englischen „Helicon" und „Salamis."
Schon oben haben wir die Gründe auseinander gesetzt, weshalb die Con-
struction der Raddampfer bei Schiffen, die für den Kampf selbst bestimmt sind,
durchaus unzweckmäßig ist; aber nicht minder unzweckmäßig erscheint sie uns
für die Avisos. Der Uebelstand allerdings, daß ein Raddampfer keine reiche
und schwere Geschützausrüstung tragen kann, fällt für Avisos nicht sonderlich
ins Gewicht, da dieselben nicht zum Fechten bestimmt sind, sondern nur ein
paar leichte Geschütze zum signalisiren und zur Vertheidigung im äußersten
Nothfall führen und im übrigen sich auf das Entkommen vermöge ihrer Schnel¬
ligkeit und der Stärke ihrer Maschinen verlassen müssen; desto gefährlicher aber
ist für sie die fehlende Sicherung der Maschinerie gegen feindliche Kugeln. Die
Avisodampfer haben durchaus nicht immer außer Schußweite des Feindes zu
agiren: sie müssen unter Umständen den im Gefecht befindlichen Schiffen Be¬
fehle überbringen oder beschädigte Schiffe aus dem Gefecht schleppen; sie können
bei ihren Recognoscirungen sehr leicht in den Fall kommen, mit feindlichen,
gleich schnellen Schiffen einige Schüsse zu wechseln; sie können, mit Ueberbnn-
gung einer Nachricht beauftragt, auf einen einzelnen feindlichen Kreuzer stoßen,
oder sogar, wie die „Lorelei" bei Rügen, aus besonderen Gründen in das
Gefecht gezogen werden — und in allen diesen Fällen liegt die Gefahr nahe,
daß ein einziger glücklicher Schuß des Feindes den Aviso sofort in dessen Hände
liefert. Gegen diese Gefahr können nach unsrer Meinung die Vortheile nicht
in Betracht kommen, die dem Nadaviso eigen sind, die eines geringern
Tiefgangs und einer unter Umständen etwas großem Schnelligkeit. Es hat
sich nämlich allerdings in der Praxis der Ocean-Dampferlinien herausgestellt,
daß im ganzen die Raddampfer, welche Patent-Schaufelräder (keirtruzriug vueöls)
haben, ein wenig schneller sind als die Schraubendampser, wenn nämlich die
See nicht so bewegt ist, daß immer das Rad der einen Seite zu tief eintaucht,
das der andern dagegen in der Luft arbeitet. Der Grund davon liegt natür¬
lich darin, daß die Schaufeln directer, rechtwinklig gegen das Wasser wirken,
während im Wesen der Schraube die indirectere, so zu sagen schräge Bewegung
liegt. Außerdem aber lassen sich kleine Raddampfer mit geringerm Tiefgang
bauen, als Schraubendampfer: denn die Räder der ersteren bedürfen nur einer
Eintauchung von kaum mehr als 2 Fuß. um ihre volle Kraft entwickeln zu
können, und über diese Grenze hinaus ist sonst der Tiefgang des Schiffes da¬
von gänzlich unabhängig; bei Schraubenschiffen dagegen von der Größe, wie die
Avisos projectut sind, hat man wenigstens 10 Fuß Tiefgang nöthig, um der
Schraube einen genügend großen Durchmesser und genügende Flächenwirkung
zu geben. Der geringe Tiefgang ist aber allerdings insofern sehr wichtig, als
er den Fahrzeugen an der Küste erlaubt, über Untiefen weg zu fahren, welche
andere Schiffe mit großen Umwegen vermeiden müssen. Doch auch um dieses
Vortheils willen darf man die Sicherung der Maschinen vor feindlichen Schüssen
nicht beeinträchtigen.
Nun giebt es aber eine andere Construction, welche die Sicherheit der ge¬
wöhnlichen Schraube vor Verletzung durch feindliche Kugeln mit der Möglich¬
keit eines nicht unbedeutend geringern Tiefgangs vereinigt, eine Construction,
die erst vor wenigen Jahren von der englischen Firma Dudgeon zur Anwen¬
dung gebracht Worden ist, seitdem aber sich vielfach bewährt hat: die der Zwil¬
lingsschraube. Der preußische Flottengründungsplan faßt die Adoptirung
dieser Construction für die Avisos auch ins Auge, doch nur als ferner liegende
Eventualität. Nun hat aber jene Construction seit Aufstellung des Plans in
anderen Mariner immer mehr Eingang gefunden, namentlich für Panzerschiffe,
bei denen die größere Leichtigkeit der Evolutionen so sehr in das Gewicht fällt,
z. B. bei dem amerikanischen Doppelthurmschiff „Miantonomoh." das wir schon
vor einiger Zeit in diesen Blättern beschrieben, bei den französischen viel¬
genannten Thurmwidderschiffen „Le Taureau" und „BÄier" und auch bei dem
unten näher zu besprechenden ehemaligen „Cheops"*). Man wird also jetzt
wohl kein Bedenken mehr haben können, das erwähnte neue System bei den
Avisos zur Anwendung zu bringen. Bei den Zwillingsschraubenschiffen sind
statt der einen liegenden Schraubenwelle in der Mitte des Schiffs zwei vor¬
handen, die parallel in der rechten und in der linken Hälfte des unter Wasser
befindlichen Schiffskörpers liegen und von zwei verschiedenen Maschinen bewegt
werden. Auf jeder Seite der schmalen senkrechten Holzwand, in welche der
Schiffskörper unter Wasser hinten ausläuft und an deren Ende das Steuer¬
ruder in Angeln hängt, tritt eine Welle aus der Schiffswand heraus, geht mit
ihrem hintersten Ende durch einen Eisenring, der nach oben und nach innen
mit der Schiffswand durch je einen starken Eisenbügel verbunden ist, und trägt
dicht hinter diesem Ringe die frei im Wasser schwebende Schraube.
Die Vortheile des Zwillingsschraubensystems sind - nun sehr bedeutend.
Erstens vermag das Schiff, weil die stoßende Kraft auf der Seite liegt, wenn
es blos eine Schraube wirken, die anderen aber stehen oder sogar rückwärts ar¬
beiten läßt, in einem viel kürzern Kreise zu wenden, als Schiffe mit Einer
Schraube, was namentlich in engem Fahrwasser von höchster Bedeutung ist.
Sodann haben Schrauben von nur halb so großer Fläche als gewöhnliche
Schiffsschrauben natürlich einen weit kleinern Durchmesser. Sie gestatten also
dem Schiffe entweder geringern Tiefgang oder lassen sich, wenn der Tiefgang
ebenso groß bleiben soll als beim Einschraubenschiff, viel tiefer unter dem Was¬
serspiegel anbringen, sodaß die Schnelligkeit vermöge des Gegendruckes, der so¬
gar noch kräftiger ist als bei Naddampfern, außerordentlich wächst. Schließlich sind
natürlich Maschinen und Schrauben dieser Construction vor feindlichen Schüssen
ebenso sicher oder eigentlich noch sicherer als bei gewöhnlichen; derNachtheil aber, daß
die Schraube und der Schraubenschaft etwas mehr der See exponirt ist, als beim
Einschraubensystem — was man dem Zwillingsschraubensystem vorgeworfen hat
— dürfte gerade bei den Avisos, die ja außerdem kleinere Schiffe sind, weniger
ins Gewicht fallen. Wir würden es also entschieden für das beste halten,
die neuen Avisos als eiserne, (b. h. natürlich nicht gepanzerte) Zwillingsschrau-
bendampfcr nach dem oben erörterten modificirten Modell der „Grille" mit
einer Armirung von 2 gezogenen Zwölf- oder Vierundzwanzigpfündern zu
bauen. Sollten sich bei der Probefahrt des ersten noch besondere Nachtheile
herausstellen, dann bleibt immer die Möglichkeit, die anderen mit einer gewöhn¬
lichen Schraube zu versehen.
Wenn England die obengenannten neueren Avisos oder cüsMelr-VWSLls,
„Salamis" und „Hclicon" als Raddampfer gebaut hat, so kann dieses Bei-
spiel gegenüber den oben hervorgehobenen Nachtheilen doch nicht maßgebend
sein, besonders da jene Schiffe hauptsächlich zum Dienst im Frieden bestimmt,
(wie überhaupt sclavische Nachahmung der englischen Einrichtungen zu vermeiden
ist) und außerdem als Experiment gebaut worden sind > und da ferner der eng¬
lischen Admiralität viele kleineren, als Avisos verwendbare Schraubendampfer
zur Verfügung stehen, sodaß sie. wo der Aviso irgend Gefahr läuft, auf feind¬
liche Schiffe zu stoßen, ein andres vor Schüssen gesichertes Schiff zu verwenden
vermag. Bei der preußischen Marine dagegen, mit ihrer beschränkten Auswahl,
müssen alle Avisos im Stande sein, ohne allzugroße Gefährdung auch da ihre
Fahrten zu machen, wo ein Zusammenstoß mit feindlichen Kriegsschiffen möglich
ist. Da man sicher darauf rechnen darf, daß im Kriege, wo ja aller Ver¬
kehr stockt, eine genügende Anzahl Dampfer der Handelsmarine zum Avisodienst
zu erlangen sein wird (die allerdings in der allerersten Zeit während ihrer Ar-
nmung noch nicht disponibel sein würden), so mag, wie schon oben gesagt, auch
für die erweiterte preußische Flotte die Zahl von v Avisos vorläufig genügen
und die pecuniären Mittel lieber auf Beschaffung von mehr Gefechtsschiffen
verwandt werden. —
Ueberblicken wir nun den gegenwärtigen Bestand der preußischen Kriegs¬
flotte an »«gepanzerten Schiffen im Vergleich mit der Stärke, weiche die preu¬
ßische Marine noch vor 12 Jahre» hatte, — 1 Segelfregatte. 1 Segelcorvctte,
3 kleinere Segelschiffe, S Raddampfer und die schon damals halb unbrauchbaren
Ruderkanonenboote, aber kein einziges Schraubenschiff — so ist ein bedeutender
Fortschritt zu constatiren. Und für den Fall, daß in nächster Zeit ein Krieg
ausbrechen sollte, ist noch der Umstand nicht zu übersehen, daß sämmtliche
Schiffe, mit Ausnahme der noch im Bau befindlichen „Elisabeth" und der nach
Ostasien detachirten „Vineta" in heimischen Häfen sind und sofort zur Dispo¬
sition stehen. Allerdings kann man bei dieser Betrachtung das Bedauern nicht
unterdrücken, daß wir gerade eins der allerstärksten und besten Schiffe wie die
„Vineta" im Kriegsfall entbehren müßten, und es wird dabei aufs neue der
Wunsch in uns rege, daß man doch statt der betreffenden gedeckten Korvette,
die dann recht gut als Artillcrieschiff zu verwenden wäre, lieber abwechselnd die
beiden größeren Segelregatten „Gesion" und „Thetis" in Ostasien stationiren
Möge, entweder als Segelschiffe wie sie jetzt sind, oder aber besser, wenn es ir¬
gend ausführbar ist. mit eingesetzter Hilfsschraube von 200—250 Pferdekraft.
Zwar ist. wie wir bereits oben bemerkten, das Einsetzen einer Hilfsschraube
gewöhnlich nicht von dem Erfolge begleitet, daß man ein sehr schnelles, neuen
Schiffen ebenbürtiges Schlachtschiff gewinnt; aber für den Handelsschutz auch
im fernsten Osten wird es immerhin mehr als genügen, und der Vortheil, ein
Schiff mehr von der Vortrefflichkeit unserer „Vineta" zu Hause zur Verfügung
ZU habe», würde die Kosten der Einsetzung einer Hilfsmaschine reichlich aufwie-
gen, um so mehr da die Abwesenheit des Stationsschiffes für China bei der
weiten Reise nicht gut auf kürzere Zeit als drei Jahre bemessen werden kann.
Wenn man übrigens schon den Borschlag gemacht hat, statt der großen gedeckten
Corvette lieber eine kleinere Corvette von der Classe der „Nymphe" in Ostasien
zu stationiren, so müssen wir uns entschieden dagegen erklären. Denn einmal
sind diese Schiffe trotz ihrer hohen eleganten Takellage im Aeußern nicht an¬
sehnlich genug, um die Chinesen und Japanesen, die hierin gerade Schlauheit
genug besitzen, über die effective Stärke unserer Fahrzeuge zu täuschen, und
dann würden ja auch diese Glattdeckcvrdetten wirklich zu den kleinsten europäi¬
schen Kriegsschiffen gehören, welche (abgesehen von den Kanonenbooten) jene
Gewässer besuchen. Noch wichtiger aber ist der Umstand, daß diese Fahrzeuge
in Ermangelung einer Batterie (welche die Segelfregatten besitzen) nicht als
reotzivivg-skipz für die Mannschaften der neuen Kanonenboote dienen können,
ein Moment, auf das wir schon im Vongen Artikel aufmerksam gemacht
haben. Beträchtliche Verstärkung der Besatzung aber ist aus den dort ebenfalls
angeführten Gründen weder für die „Nymphe" noch für die Kanonenboote
räihlich. !
Wenn wir also von den blos für den innern Hafendienst bestimmten Fahr¬
zeuge» *) und den kleinen, in den westschleswigschen Inseln erbeuteten ehemals
dänischen Dampfern „Lymfjord" und „Augusta" absehen, welche jetzt ohne Ar-
mirung zu Vermessungen in den friesischen Inseln benutzt werden, so haben
wir hiermit unsern Schiffskatalog beendet bis auf die neue Gattung der Pan¬
zerfahrzeuge, deren Schilderung wir erst nächstens folgen lassen, damit wir zu¬
gleich über die neuen Erwerbungen reden können, die geeignet sind, die Be¬
deutung unserer gesammten Marine wesentlich zu erhöhen. —
Der Nationalverein steht im Begriff, seine Laufbahn zu beschließen. Zwar
ist das Ziel, welches er sich bei seiner Entstehung vor nunmehr acht Jahren
steckte, nicht völlig erreicht; indessen er muß und kann es anderen Organen des
Nationalwillens überlassen, den Rest des Weges zurückzulegen. Seine eigene
Lebenskraft ist erschöpft. Es ist heilsam und lehrreich, in kurzen Zügen seine
Geschichte zu betrachten.
Die geistige-Erschütterung, welche der lombardische Krieg von 1869 nach
Deutschland herüber erstreckte, weckte hier in zahlreichen Gemüthern aufs neue
die Einheits- und Freiheits-Jdeen, welche 1848 und 49 eine ephemere Gewalt
ausgeübt hatten. Da jedoch zu einer zweiten allgemeinen Revolution im Volke
nicht Kraft und Zorn genug, zur Berufung eines zweiten nationalen Parla¬
ments bei den nur leicht bedrohten Regierungen keine Willigkeit vorhanden
war, so mühten jene Ideen sich einstweilen mit dem Gefäß eines bloßen Ver¬
eins begnügen. Auch dieses schien eine Zeitlang durch den herrschenden Poli¬
zeigeist gefährdet. Der Nationalverein, am Sitze des Bundestags ins Leben
gerufen, konnte doch nicht daran denken, dort fortzubestehen, sondern hatte sich
noch glücklich zu preisen, daß der einzige seinen Bestrebungen sofort geneigte
deutsche Souverain ihm in dem abgelegenen Koburg eine Freistatt eröffnete.
Von dieser Ebernburg aus rief der neue collective Sickingen oder Hütten die
Nation zur Wiederaufnahme des Kampfes für ihre politische Verjüngung auf,
den sie neun Jahre früher nothgedrungen, besiegt von Particularismus und
Reaction, hatte fallen lassen.
Die Fehler des ersten vergeblichen Feldzuges schienen diesmal glücklich ver¬
mieden werden zu sollen. Die Differenz zwischen Konstitutionellen und Demo¬
kraten wurde nicht anerkannt als eine, welche auf das Verhältniß zur deutschen
Verfassungsfrage entscheidenden Einfluß hätte, und welche folglich verhindern
müßte, daß alle liberalen Kräfte sich zur Erzwingung einer radicalen Vunbes-
reform zusammenschaarten. Ohne eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen den höheren
oder niedrigeren Grad von Liberalismus, zu welchem die einzelnen Bestand¬
theile des Vereins sich bekennen mochten, wäre eine allgemein deutsche Partei¬
bildung damals auch kaum möglich gewesen. In der einen Gegend walteten
die Demokraten vor und trugen die nationale Fahne, in der andern die Kon¬
stitutionellen. In einigen Ländern, Hannover z. B.. war der alte Unterschied
zwischen gemäßigten und entschiednen Liberalen sogar schon völlig begraben.
Entsprechend dieser Mischung, ohne welche ein die Mehrheit der Nation umsah-
sauber politischer Verein nicht herzustellen gewesen wäre, konnte man nicht um¬
hin, auch in das Programm die Fordeiung der Freiheit gleichberechtigt neben
die der Einheit zu stellen; erstere mehr zur Befriedigung der an der Einheit
nicht direct genug interessirten Massen, letztere als das eigentliche Ziel der
Führer.
Es war ohne Zweifel, mit dem Maßstab der fünfziger Jahre gemessen,
eine äußerst stattliche Versammlung, die sich im September 1859 zu Frank¬
furt am Main zusammenfand, um den Nationalverein zu constituiren. Das
gesammte liberale Deutschland aber umfaßte sie doch nicht. Auf der einen Seite
hielten die Nachwirkungen des im Frühjahr geführten leidenschaftlichen Zeitungs-
kampses über Deutschlands Stellung zu dem französisch-italienischen Angriffs-
kriege gegen Oesterreich selbst solche süddeutsche Politiker, die im Herzen dem
voraufgegangenen sogenannten Eisenacher Programm, dem ideellen Keime des
Nationalvereins, d. h. der preußischen Führung zugethan waren, von dem Er.
scheinen in Frankfurt und dem Veitritt zu dem dort gestifteten Verein zurück,
weil sie sonst fürchteten, ihren Halt im Volke zu verlieren. Auf der andern
Seite gelang es nicht, die in Preußen regierenden Altliberalen völlig in den
Verein hineinzuziehen. Theils ließen diese sich durch ministerielle Aengstlichkeit,
aristokratisch-borussische Vornehmheit, altliberale Scheu vor näherer Berührung
mit den Demokraten abhalten, theils mag auch nicht genug geschehen sein, die Haupr-
Persönlichkeit, den damals in Berlin beinahe allmächtigen — wenn auch unbe¬
wußt und jedenfalls ungenutzt allmächtigen — Georg v. Vincke zu gewinnen.
Nur ein paar preußische AltUberale zweiten Ranges wie Bräuer, v. Sänger,
Veit traten dem Vereine und dem Ausschusse bei. und diese auch nur, um bald
wieder einer nach dem andern aus den Vorderreihen zu verschwinden. Von
den bayrischen Gesinnungsgenossen schlössen sich Brater und Cramer öffentlich
an, Barth und Volk blieben draußen. In Würtemberg gewann man brei¬
teren Boden und namhaftere Repräsentanten — die Gebrüder Adolf und Lud¬
wig Seeger — erst einige Zeit später. Im übrigen aber bewährte sich am
Nationalverein durchaus das allgemeine Gesetz, daß derartige Schöpfungen nicht
leicht über die Basis hinauswachsen, auf welcher sie uisprünglich angelegt wor¬
den sind.
Der eigentliche Herd des Vereins waren demnach jene Mittel- und nord¬
deutschen Gebiete, die ein geistreicher Mann einmal treffend die Büsser ge¬
nannt hat, welche durch ihre glückliche Mittelstellung verhüten, daß der Nord¬
osten und der Südwesten, Preußen und Süddeutschland, zu heftig gegeneinan¬
der stoßen, um hinterdrein dann desto weiter auseinanderzufahren. Hannover.
Thüringen, Hessen, Nassau, einigermaßen auch Sachsen. Baden und die Hanse¬
städte führten dem Nationalverein die stärksten und ansehnlichsten Contingente
zu. In Bayern und Würtemberg würde er aus die Dauer nie recht Volks-
thunlich; in Preußen könnte man sagen, wurde er es zu sehr, d. h. dort be¬
nutzten ihn zu ausschließlich die zurückgedrängten, von oben her ohne Noth
verpöntem Demokraten als eine Staffel ihres Wiederemporkommens. Dies
hatte sein Gutes hinsichtlich der Verdeutschung der Massen des preußischen
Volkes, seiner Abstreifung falscher und gefährlicher Selbstgenügsamkeit, allein es
erweiterte die aus den beiderseitigen Programmen nicht folgende Kluft zwischen
dem Nativnalverein und den preußischen Altliberalen, seinen natürlichen Brü¬
dern, zu Regierung und Hof in Berlin.
Damit war das Schicksal des Nationalvereins im Grunde schon entschie¬
den. Er wurde in den ausbrechenden preußischen Verfassungsconflict unlöslich
verflochten, — getrieben auf einen Umsturz in demselben Staate hinzuarbeiten,
von welchem er in Gegenwart und Zukunft das Heil der Nation erwartete.
Da er bald wahrnehmen mußte, daß alle seine Arbeit zur Bekehrung der Mas¬
sen, zumal in Norddeutschland, zum Glauben an Preußens nationalen Beruf
schlechterdings eitel sei, so lange in Berlin weder eine active und positive deut¬
sche Politik noch ein ehrlich konstitutionelles und liberal reformistisches Regi¬
ment aufkomme, so ließ er natürlich immer mehr ab, eine für den Moment ver¬
gebliche Predigt fortzusetzen, und gesellte seine Anstrengungen zu denen der
preußischen Opposition, um das hauptsächliche Hinderniß alles Fortschritts, das
herrschende System in Berlin zu stürzen. Seine Organe in der Presse, Wo¬
chenschrift und^Süddeutsche Zeitung, forderten seit Ende 1862 das preußische
Volk so deutlich zu einer rücksichtslos durchbrechenden Erhebung auf, wie,sich mitten
in Deutschland nur immer thun ließ. Wenn Graf Eulenburg beide daher im
März oder April 1863 verbot, so that er als einer der Träger des angegriffe¬
nen Systems nichts so ganz Ungereimtes; wenn es auch freilich von höchst un¬
gesunden Zuständen Zeugniß ablegte, daß ein preußischer Minister Blätter ver¬
folgen zu müssen glaubte, deren politische Tendenz vor allem aus Preußens
alleinige Führung in Deutschland hinauslief. Zu diesem Aeußersten waren die
Dinge gediehen, als Oesterreich seinerseits mit dem frankfurter Fürstentage die
Initiative zu einer Bundesreform ergriff, wie es sie allenfalls ertragen konnte,
und selbstverständlich zu dem Zwecke, eine wahrhaft befriedigende Umgestaltung
desto sicherer zu hintertreiben. Es wird den leitenden Köpfen des National¬
vereins zum Ruhme angerechnet werden müssen, daß sie selbst in ihrer tiefsten
Verzweiflung an Preußen auf diesen wiener Köder nicht aubissen. Ebensowe-
nig vermochten sie freilich in der damaligen theoretischen Appellation des Herrn
v. Bismarck an ein deutsches Parlament mehr als eine Phrase zu erblicken.
Da zerriß mit dem Tode Friedrich des Siebenten von Dänemark das
staatsrechtliche Band, welches allein nach deutscher AuffassungSchleswig-Holstein
an die dänische Krone knüpfte. Der Nationalverein, der die Schleswig-holstei-
nische Frage von jeher ernst genommen hatte und den holsteinischen Patrioten
Th. Lehmann und dessen Freunden, die erste Stütze geboten hatte, zögerte nicht,
seine Stimme für die volle Durchsetzung jenes Rechtsanspruches zu erheben.
Sein Vorstand unternahm es. die nationale Agitation für diesen großen prac-
tischen Zweck in einem Ausschuß zu concentriren, der in Göttingen seinen Sitz
aufschlug. Die beiden besten agitatorischen Kräfte der Partei. Brater und Mi-
quöl. nahmen die Sache in die Hand. Doch allerdings nur für einige Wochen.
An der Gluth der brennend gewordenen Schleswig-holsteinschen Frage hatten
auch andere Parteien ihr weniger leicht entzündbares nationales Pathos ent¬
flammt und verlangten an der Leitung und Fortpflanzung der Agitation be¬
theiligt zu werden. Es wurde ihnen zugestanden; auf der Versammlung deut¬
scher Landtagsmitglieder zu Frankfurt am Main am 23. December 1863 setzte
man den sogenannten Sechsunddreißigcr-Ausschuß zur Befreiung Schleswig-
Holsteins von den Dänen ein, dessen Geschäftsführung neben Brater und eini¬
gen Gesinnungsgenossen desselben auch Großdeutsche und Radicale mitüber¬
nahmen. Für den vorliegenden nächsten Zweck bedeutete dies natürlich eine
Verstärkung und Ausdehnung. Für den Nationalverein aber wurde die Weise
verhängnißvoll, in welcher nun das das Wort des Spiritus reotor der kieler
Politik, „die Augustenburgische Sache sei auf den Frieden der Parteien gestellt"
sich bewährte.
Um den einmal geschlossenen Bund verschiedener Parteien zu Gunsten
Schleswig-Holsteins nicht zu gefährden, mußte die eigentliche Parteipolitik zu¬
nächst natürlich ruhen. Sie ruhte ziemlich ein Jahr lang. Als nach der Er¬
mannung Preußens auf den londoner Conferenzen und im schleswigschen Feld¬
zug, mit dem wiener Frieden der Augenblick erschien, sie wieder aufzunehmen,
fand er die Führer theils des bestimmenden Eingreifens und der Beschäftigung
mit nationalen Fragen einigermaßen entwöhnt, theils in der Klarheit der An¬
schauung getrübt durch längeres thatsächliches Zusammengehen mit früheren
Gegnern auf der einen, und tiefe innere Abgeneigtheit gegen Zusammengehen
mit der preußischen Negierung auf der andern Seite. Zum ersten Mal blieb
der Nationalverein handgreiflich hinter seiner Aufgabe zurück, indem er im Ok¬
tober 1864 zu Eisenach nichts als den maritimen Anschluß Schleswig-Holsteins
an das siegreiche Preußen Votiren wollte. Der Staat Preußen sing an sich
auf sich selbst zu besinnen; der Nationalverein begann sich zu verlieren. Der
Stern des Herrn v. Bismarck war im Aufgehen, der Stern der populären
Propaganda für allgemeine patriotische Zwecke sank am Horizont hinab.
Von da an geht es mit der Kraft und dem Einfluß des Vereins schnell
abwärts. Wie zwischen der Regierung und der Opposition in Preußen nach kurzer
Waffenruhe der Streit von neuem so heftig wie je losbrach, vermochte er seine Sache
weder von der letztern unzweideutig zu trennen, noch absolut mit ihr zu iden-
tificiren. Die Fniheits- und die Einheits-Jnteressen, so lange denselben Weg
weisend, begannen sich nun je länger desto schroffer zu trennen. Im Namen
der Freiheit glaubte man das Ministerium Bismarck um jeden Preis stürzen
zu müssen, im Namen der Einheit fingen einzelne besser von ihm zu sprechen
oder wenigstens zu denken an. Der Zankapfel des Tages blieb Schleswig-Hol.
steins dauerndes Verhältniß zu Preußen, an dessen Gestaltung sich noch im
Frühjahr 186S zwei der Hauptführer des Nationalvereins, v. Benningsen und
Metz, durch einen Kompromiß zwischen den sogenannten Februar-Forderungen
Preußens und der Sprödigkeit des Schleswig-holsteinischen Particularismus zu
betheiligen versuchten, aber ohne jeden durchgreifenden Erfolg. Sie sahen
sich durch den Kampf der Extreme nur immer weiter bei Seite ge¬
schoben und mußten sich in einer zunehmend passiven und secundären Rolle
resigniren.
Der feindselige Gegensatz zu der preußischen Regierung, der dem National¬
verein erst durch die flaue und impotente nationale Politik derselben, dann durch
ihren materiellen Verfassungsbruch aufgenöthigt worden war, hatte ihn in dem
Bestreben, sein Terrain nach Süden hin nicht gänzlich einzubüßen, schon länger
verleitet, die preußische Spitze mit dem Flor trauernden Zweifels und Mi߬
trauens in seine eigene alte Predigt zu umhüllen. Genöthigt wie er war oder sich
glaubte, alle Jahre mindestens einmal ein Glaubensbekenntnis; von sich zu
geben, konnte er nicht umhin, von Preußens Verdiensten und Ansprüchen immer
weniger, von seinen Pflichten und Sünden immer mehr zu reden. So gelangte
er fast dahin, das Gegentheil dessen in den Geistern hcrvorzuru en. was eigent-
lich sein Wunsch und sein Interesse war. Nicht jedes Ohr hört es Ausbrüchen
des Zornes und Hasses an, ob sie lediglich versetzte Liebe oder etwas anderes
sind. Nicht jeder Politiker steht auch fest genug, um nicht ins Gleiten zu ge¬
rathen, wenn er sich einmal aus die schiefe Ebene leidenschaftlichen öffentlichen
Ankämpfens gegen vermeintlich oder wirklich irrgehende Bundesgenossen begiebt.
Genug, als Preußen sich zum Entscheidungskampfe mit Oesterreich um
die Herrschaft in Deutschland anschickte, konnte es den Nationalverein nicht zu
seinen activen Freunden rechnen. Das Höchste was sich von ihm erwarten ließ,
war, daß er neutral blieb, wie er im Sommer 1863 spröde und kühl geblieben
war gegen die Bundesreformvcrsuche Oesterreichs und der Mittelstaaten. Dies
wenigstens leistete er dann auch. Seine Führer bedienten sich ihrer Neben¬
schöpfung von 1862, des Abgeordnetentags mit dem gleichen nationalen Pro¬
gramm, um auf dem vorgeschobenen und bloßgestellten Posten Frankfurt am
Main — man denke an die dort gelegten Kanonenschläge — noch im Angelo
blick vor Ausbruch des Kriegs die kleineren deutschen Staaten feierlich zur Neu¬
tralität aufzufordern. Da niemand die meisten und die größeren unter diesen
Staaten im Verdacht hatte, für Preußen das Schwert ziehen zu wollen, so war
das in der That ein Preußen geleisteter, wenn auch nicht sehr freudiger Bei-
stand. Aber es war auch das Aeußerste, dessen seine Führer den gegebenen
Umständen nach fähig waren. Sie vermochten später nicht einmal alle, diesen
Standpunkt unerschüttert innezuhalten.
Nun kam der Krieg. Wider alle Erwartung zeigte sich die entschiedenste
Ueberlegenheit auf Preußens Seite, war der Sieg ebenso rasch errungen wie
definitiv und folgenreich. Die Politik des Grafen Bismarck, eben noch Gegen¬
stand des tiefsten und allgemeinsten Mißtrauens als eine abenteuerlich-unheil¬
volle, offenbarte plötzlich ihre zutreffende Berechnung, ausharrende Konsequenz
und kühne Energie. Ja sie streifte in den Augen der bewundernden Nation
nicht blos den Charakter des Tollverwegcnen ab, sondern nahm gleichzeitig ein
edles nationales Gepräge an. Ein Umschwung der Ansichten und Gefühle
vollzog sich, wie er vielleicht in unsrer Geschichte so jäh und vollständig nie
vorgekommen ist.
Die Männer des Nationalvereins blieben von dieser allgemeinen Umstim-
mung der Geister natürlich nicht unberührt. Allein vermöge ihrer Vergangen¬
heit und öffentlichen Stellung vermochten sie sich ihr auch nicht mit der Unbe¬
fangenheit zu überlassen, wie Hinz oder Kunz aus dem Volke. Sie mußten
die keimende neue Haltung mit der unmöglich gewordenen alten in einen ge¬
wissen Einklang zu bringen suchen, und darüber konnte im Fluge der sich über¬
stürzenden Ereignisse leicht die Zeit vergehen, in welcher ein erfolgreiches Ein¬
greifen, eine Wiedergewinnung der frühern moralischen Macht für den Natio¬
nalverein noch möglich erschien. In der That verging diese Zeit ungenutzt.
Das ergab sich schon, als einen Monat nach der Schlacht bei Königgrätz die
Führer des Nationalvereins gleichzeitig mit denen des volkswirtschaftlichen
Congresses in Braunschweig tagten. Die letzteren, durch keine politischen An-
tecedentien gehindert, freudig auf die veränderte Gestaltung der Dinge einzu¬
gehen, thaten es mit dem guten Erfolg, daß ihre Vorschläge für die neue
Bundesverfassung größtenteils schon von der preußischen Regierung adoptirt
wurden; die ersteren brachten nichts zu Stande als eine Erklärung, aus wel¬
cher hervorging, daß der unter ihnen herrschende Gemüthszustand der zum Han¬
deln und Schaffen ungeeignete der Resignation war.
Es rächte sich jetzt am Nationalverein, daß die ihm angehangen preußi¬
schen Politiker von Einfluß fast ausschließlich Demokraten von 1848 oder Ihres¬
gleichen waren. Dadurch wurde er mit Unfruchtbarkeit geschlagen, sobald die
außerordentliche Diversion, welche im Sommer 1866 den Verfassungskamps
abschnitt, die Hoffnungen der Schulze, Löwe, Duncker, v. Hoverbeck u. f. f. auf
schließliche Ueberwindung ihrer inneren Gegner zerstörte und sie, alt wie sie
als Politiker geworden waren, in stumpfe Negation zurückwarf. Zwar gehör¬
ten dem Ausschuß des Nationalvereins auch ein paar preußische Politiker jenes
andern Schlages an, die nachher die nationalliberale Partei begründen halfen:
v. Forckenbeck. v. Unruh und Lüning. Allein diese einsichtigen Männer hatten
sich theils an den Arbeiten des Ausschusses von jeher schwächer betheiligt, theils
besaßen sie nicht die Popularität eines Löwe oder Schulze. Ihr Wille allein
vermochte den Nationalverein nicht über die Sandbank, auf die er gerathen
war, hinauszuheben.
Vielleicht aber hätten das im Verein mit ihnen die Politiker der neuen
Provinzen und der anderen deutschen Staaten vermocht, wenn diesen wenigstens
nichts im Wege gewesen wäre. Allein hier trafen wieder andere eigenthümliche
Hindernisse mit jenen preußischen Störungen verba'ngnißvoll zusammen. Was
vor allem die Hauptpersönlichkeit betrifft, den Präsidenten und obersten Führer
des Nationalvereins v. Benningsen, so scheint ihm der plötzliche, gänzliche
Untergang des Staates Hannover, den er bis dahin nicht für eine
nothwendige Bedingung der Einheit angesehen hatte, doch ziemlich desappointirt
und vorübergehend in der Fähigkeit zu frischem Handeln gelähmt zu haben. Einer
altadeligen Familie des Landes entsprossen, die namentlich mit dem früher er¬
worbenen Ruhme der Armee verwachsen war, konnte er es wohl nicht ohne
Schmerz und zeitweilige Verstimmung ertragen, dieses Gemeinwesen, dem er
selbst schon so viel Kraft und Zeit gewidmet hatte, auf immer zusammenbrechen
zu sehen. Ob eine ähnliche augenblickliche Trübung auch in Miquöls klarer
und energischer Seele vor sich gegangen ist, wissen wahrscheinlich wenige; ge¬
wiß aber ist, daß es lange dauerte, daß Weihnachten fast herankam, bevor die
hannöverschen Liberalen unter dem Vortritt ihrer beiden ausgezeichneten Füh¬
rer eine offene und entschiedene Erklärung zu Gunsten des neuen Zustandes
der Dinge von sich gaben. Den Präsidenten des Nationalvereins zu gewinnen,
ihn mindestens von der Loyalität seines Vorgehens in Bezug auf die Interessen
und Ideale der Nation zu überzeugen, hatte Graf Bismarck sich bekanntlich
schon einige Wochen vor dem Kriege angelegen sein lassen. Aber erst im Reichs¬
tag eigentlich trug der Same ihm Frucht, den er da ausgestreut hatte. Der
Nationalverein wurde dadurch nicht in ein Werkzeug seiner nationalen Politik
umgewandelt.
Der hierzu erforderlichen raschen Besinnung widerstrebte auch die Lage,
in welcher sich die namhafterer süddeutschen Mitglieder befanden. In Bayern,
wo von bekannten politischen Namen Brater allein ihm treu geblieben war,
hatte der Nationalverein ohnehin — wie in Würtemberg — keinen Boden
mehr. Das badische Ausschußmitglied v. Rochau hatte bis zum letzten Augenblick in
der von ihm herausgegebenen Wochenschrift des Vereins alle Kraft und Lei¬
denschaft seines Geistes an den Sturz des Bismarckschen Systems gesetzt und
konnte weniger als jeder andere schnell umlenken. Metz in Darmstadt hatte
sich sogar einen Augenblick lang von der Linie der Neutralität verdrängen lassen;
für ihn verbot es sich daher von selbst, bei dem Marsche ins preußische Lager
voranzugehen. Alle diese persönlichen Schwierigkeiten vermochten nickt, einen
dieser Männer von dem innern und äußern Anschluß an Preußens nun ent¬
hüllte nationale Politik abzuhalten; sie traten weder zu den süddeutschen Radi-
> eater noch zu dem Rumpfe der preußischen Fortschrittspartei. Allein sie fühl¬
ten sich doch auch sehr begreiflicher Weise außer Stande, im rechten Augenblick,
d. h. unmittelbar nach dem prager Friedensschluß, im Namen des National»
Vereins von neuem Anspruch auf die Führung der Nation zu erheben, und
diesen Anspruch damit zu legitimiren, daß sie sich alsbald frischweg eines mit¬
bestimmenden Einflusses auf die Formen und Methoden der Neugestaltung be¬
mächtigten.
Inzwischen war es im preußischen Abgeordnetenhause zur äußerlichen Schei¬
dung der practischen Politiker von den absoluten Oppositionellen gekommen,
der Nationalliberalen von dem Neste der Fortschrittspartei. Da jene im Natio¬
nalvereins-Ausschuß unzweifelhaft die Stärkeren waren, so schieden Schulze-De>
litzsch, v. Hoverbeck und Duncker aus diesem aus. Ihr Anhang folgte natür¬
lich, so weit es bei der längst eingerissenen Erschlaffung der Organisation und
dadurch bedingten unregelmäßigen Einziehung der Mitgliederbeilräge durch viele
Agenten dessen noch formell bedürfte. Nur Moritz Wiggers. der in Berlin ge¬
wählte und der R«ichstags-Linken beigctretene Mecklenburger, blieb thätiges
Mitglied. Die Uebrigen hatten sich danach im Grunde nur noch die Frage
vorzulegen, ob sie den Verein einfach auflösen oder als Organ der neuen natio¬
nalliberalen Partei reconstruiren wollten. Sie haben sich im augenscheinlichen
Interesse der Klarheit und Ehrlichkeit für erstere Alternative entschieden. Es
ist nicht gut. daß die nationalliberale Partei Mittel irgendwelcher Art erde,
welche außer ihren Anhängern auch viele der heutigen Radicalen zusammenge¬
bracht haben. Und es ist auch nicht gut. daß der Nationalverein seine einmal
feststehende politische und historische Signatur durch die Aufnahme eines wesent¬
lich neuen Inhalts verwische. Ja könnte er jetzt wenigstens ungehindert nach
Süddeutschland hinüberwirke»! Aber das ist heute so hoffnungslos wie früher;
die Süddeutschen müssen sich selbst helfen, wenn ihnen geholfen werden soll;
und es ist obendrein gegen die gute Politik, sich in dieser Weise auch nur über¬
haupt zu bemühen. Die Aufgabe des Nationalvereins ist zu Ende, mag sein
Programm bereits vollständig erfüllt sein oder nicht.
So wird er sich denn also auflösen. Indem dies geschieht, mag ihm im¬
merhin von denen, welche den Herzschlag ihrer Nation mitempfinden, ein
öffentlicher Dank bezeugt werden. Wenn er in seiner einmal gegebenen Kom¬
position nicht vermochte, sich gegen die starken Reagentien der neusten großen
Vorgänge in Deutschland frisch, kräftig und schöpferisch aufrechtzuerhalten, so
hat er dafür in einer viel trüberen, viel schwierigeren Epoche als der gegen¬
wärtigen die Rechtsansprüche des deutschen Volks eben so nachdrücklich wie
wirksam verfochten, er allein, und es wäre unserer nicht würdig, über uner¬
füllbaren Erwartungen rühmlich erfüllter zu vergessen.
Mit einiger Verschämtheit werden wir Schwaben gewahr, wie zur Zeit alle
Welt auf unsern Fleck Erde blickt. Selten sind wir in der Lage, so viel über
uns selbst in auswärtigen Zeitungen zu lesen; ganz neu ist, daß die bescheide¬
nen Leitartikel unserer Presse in fremde Sprachen übersehe und zur Grund¬
lage politischer Reflexionen gemacht werden. Solche Aufmerksamkeit, die von
allen Himmelsgegenden uns umgiebt, hat etwas Beunruhigendes; wir empfin¬
den, daß es seine zwei Seiten hat, so schonungslos der Oeffentlichkeit exponirt
zu sein. Die Fernröhre, die jetzt von allen Seiten auf uns gerichtet sind,
mögen allerlei entdecken was vielleicht nicht ganz zu unserm Ruhme ist. Zum
mindesten muß uns selbst die bedenkliche Frage aufsteigen, ob unser Gewissen
so fleckenlos rein ist, und ob wir beim Schlüsse des kleinen Dramas, das wir
demnächst aufführen sollen, des Beifalls der Kenner so sicher sind. Noch läßt
sich nicht mit Gewißheit prophezeien, wie das Stück ausfallen wird. Indessen
sind die Rollen ausgetheilt und die Proben ernstlich im Gang.
Fast könnte es scheinen, wenn man die eifrigen Zurüstungen in unserm
Lande erblickt, als ob die deutsche Frage in allem Ernste noch einmal gelöst
werden müßte. Als ob die Hauptentscheidung erst im Herzen von Schwaben
erfolgen könnte und die Ereignisse des vorigen Jahres noch nichts bedeuteten,
so lange sie der Legitimation durch die schwäbische Kammer entbehren. Als ob
Preußen nachträglich noch von uns die Erlaubniß zur Schlacht von Sadowa
einzuholen hätte. Hört man die Advocaten der würtembergischen Selbständig¬
st, so wird unser Halbmondsaal alle Anstrengung machen, sich als den Senat
constituiren, der die weltgeschichtlichen Dinge, die geschehen sind und noch
eschchen werden, vor sein Forum ziehen wird, und wehe den Ereignissen, die ohne
Genehmigung dieses Areopags oder gar ihm zum Trotz sich zu vollziehen wa¬
gen! Leider ist schon der Umstand, daß wir factisch die letzten sind, denen über
das Geschehene das Wort vergönnt ist. geeignet, die Illusion einigermaßen zu
stören. Ja vielleicht liegt etwas Beschämendes allein darin, daß man über¬
haupt mit einiger Spannung dem Ausspruch unserer Volksvertretung entgegen¬
sieht. Mit Ruhe darf man die Entscheidung in Baden, ja in Bayern erwar-
ten. Daß wir allein das Privilegium haben, mit Neugierde unsere Schritte
verfolgt zu sehen, daß bei uns allein die Frage ist, ob nicht das Undenkbare
doch noch möglich sei, darauf brauchen wir nicht eben stolz zu sein. In Wor¬
ten allerdings wird auf unserm Boden noch einmal die ganze deutsche Frage
durchgekämpft werden, aber zum Glück sind es Worte. Sollen wir als die
letzten das komische Satyrspiel liefern zu dem großen Drama der deutschen
Erhebung? — das allein ist die Frage.
Der Gegensatz, der jetzt unser Land in zwei Lager theilt, hat seinen schärf-
sten Ausdruck in den beiden Schriften von R. Römer und M. Mohl gefun¬
den, die wie die Feldzeichen den feindlichen Heeren voranflattern. Beide lassen
an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, beider Schlußfolgerungen sind so be¬
stimmt wie möglich, nur daß der eine weiß was er will, der andere was er
nicht will, und dies ist überhaupt der bezeichnendste Unterschied der beiden Par¬
teien, die jetzt in geschlossenen Reihen einander gegenüberstehn. Dort die Lan¬
desversammlung der Volkspartei mit ihrem Anathema gegen die Verpreußung
des Landes, hier die Landesversammlung der deutschen Partei mit ihrer For¬
derung des Eintritts in den norddeutschen Bund; dort die berühmten 43.000
Unterschriften dunkler Männer, die schon der Verfasser der vier süddeutschen
Briefe zu verdienter Würdigung gebracht hat, hier die täglich sich mehrenden
Erklärungen und Adressen der competenten Vertreter des Handels- und Gewerbe¬
standes, die nicht länger durch kleinliche Rechthaberei einiger Parteihäupter die
Grundlage ihres Wohlstandes in Frage gestellt sehen wollen; dort die Hul¬
digungen, die dem nach Salzburg durchreisenden Kaiser der Franzosen vom
Stuttgarter Pöbel gebracht werden, hier die Huldigungen, die der nach seiner
Stammburg reisende König von Preußen von der Bürgerschaft der Städte
Geislingen und Tübingen erfährt. — hie Wels, hie Waldungen, so tönt wie
in alten Zeiten der Schlachtruf durch unsere Thäler.
Zum Glück ist es mit dem Schlachtruf nicht so gefährlich gemeint. Man
würde irren, unser Land als von wilden, kriegerischen Leidenschaften erhitzt sich
vorzustellen. Wirft die Oberfläche einiges Gewelle auf. so ist doch in der Tiefe
wenig von dieser Bewegung zu spüren. Die große Masse hat sich weder auf
die eine noch auf die andere Seite der geschlossenen Parteien gestellt. Daß auf den
beiden Landesversammlungen je etwa 300 bis 400 Männer erschienen sind, ist
ein Beweis, daß das politische Interesse auch in der jetzigen Krisis nicht seh^'
tiefgehend. nicht sehr lebhaft erweckt ist. Dies soll nun gar nicht zum Lob,
unseres Volkes gesagt sein, aber es ist ein Zeugniß, daß die große Mehrzahl
der unwiderruflichen Entwicklung der deutschen Dinge mit Gleichmuth und Er-
gebung zusieht. Sie kümmert sich um die Zukunft eben deshalb wenig, weil
sie über das schließlich« Resultat nicht mehr im Zweifel ist. Sie wirkt nicht
dazu mit, aber sie sperrt sich auch nicht dagegen; sie hat nicht eben Sympathien
mit dem Gang der Dinge, der das kleine Gemeinwesen unaufhaltsam an das
große Ganze bindet, allein sie hat auch keine Lust zum Widerstand, eben weil
sie dessen Vergeblichkeit fühlt, ja sie ist gegen die Versuche des Widerstandes,
weil dadurch ohne irgend eine andere Wirkung nur der peinliche Zustand der
Ungewißheit erhalten wird. Schon vor einem Jahr, als die Agitation der
deutschen Partei begann, war der Einwand der trägen Menge, den man am
häufigsten hörte, der: wozu das unnöthige Agitiren, da jetzt doch alles ent.
schieden ist und das weitere vollends von selbst kommt?
Nimmt man an, daß die beiden organisirten Parteien an Kräften einan¬
der ziemlich gleich sind, — und die Volkspartei kann sich jedenfalls über diese
Schätzung nicht beklagen, — so liegt die Entscheidung überhaupt nicht bei die¬
sen Parteien, sondern bei der schwer beweglichen Masse, die dazwischen liegt.
Diese aber wird so lange durch Sympathien und Antipathien bestimmt, als
nicht materielle Interessen mit ins Spiel kommen, die schließlich doch stärker
sind als jene. Seitdem nun die Frage des Zollvereins ernstlich in den Vor¬
dergrund gerückt ist, sind die Aussichten der deutschen Partei entschieden im
Steigen. Die politischen Gründe derselben erhalten ihren wirksamsten Bundes¬
genossen an den materiellen Gründen, für die auch die große Menge empfäng¬
lich ist. Die öffentliche Meinung steht so ungefähr auf derselben Linie wie
das Ministerium. Wie dieses sich ernstlich um die Annahme der Verträge be-
müht, aber für jetzt jede weitergehende Einigung, zumal den Eintritt in den
norddeutschen Bund zurückweist, so ist die große Mehrzahl zwar noch keines¬
wegs reif für den freiwilligen Eintritt in den Bund, — man wird erst fühlen
müssen, was der Ausschluß vom deutschen Reich bedeutet, —aber die Annahme
jener Verträge, durch welche die jetzt herrschende Ungewißheit beseitigt, ein
näheres Verhältniß zum Nordbund hergestellt wird und doch die Souveränität
des eigenen Staats erhalten bleibt, entspricht entschieden der Durchschniltsmei-
nung des Landes.
Und damit ist auch die Annahme jener Verträge von feiten der Kammer
wahrscheinlich, deren gegenwärtige Zusammensetzung ziemlich genau die Durch,
schnittsmeinung des Landes repräsentirt. Auch in der Kammer gehört nur die
Minderzahl den beiden organisirten Parteien an. die Mehrheit fluctuirt unent¬
schieden zwischen beiden, läßt sich von der allgemeinen Strömung tragen und
ist nicht unempfänglich für die jeweilige Haltung des Ministeriums. Sie wird
wie sie im vergangenen October auf Seite der Volkspartei sich stellte, als Hr.
v. Varnbüler noch jede Spur seiner Bekehrung verbarg, aller Voraussicht nach
diesmal mit der deutschen Partei für die Verträge stimmen, die vom Mini¬
sterium mit sehr überzeugenden, sachgemäßen Motivirungen vorgelegt wor¬
den sind.
Daß die Volkspartei nicht mehr im Ernst an einen Sieg ihrer Sache
glaubt, ist bei ihrer Landesversammlung am 29. Sptb. deutlich zu Tage getre¬
ten. Bisher galt die unbedingte Verwerfung der bewußten Verträge als selbst¬
verständliches Dogma dieser Partei. Sie waren ja für „dieses schöne Süd¬
deutschland", wie Herr Mohl sagt, der Anfang der Mediatisirung, der Verpreu-
szung, sie begründeten ein unwürdiges Helotenthum, führten unfehlbar den
Ruin des Landes und die Erdrückung desselben in den Armen des Cäsarismus
herbei, und wie sonst die alberne Phraseologie lautete. Der Beobachter füllte
lange Spalten mit Auszügen aus der Mohl'schen Schrift, und noch jetzt agitirt
er für die Verwerfung mit jenen Gründen, die schon zur Zeit des französischen
Handelsvertrags hervorgesucht wurden und bereits damals sich als eitle Täu¬
schung erwiesen haben: daß nämlich Preußen mit der Kündigung des Zollver¬
eins nicht Ernst machen werde; Norddeutschland habe ein viel größeres Inter¬
esse an der Zollcinigung mit dem Süden als dieser, der nötigenfalls auf eige¬
nen Füßen stehen könne; würden also die Verträge verworfen, so werde Preußen
sich beeilen, günstigere Bedingungen anzubieten u. dergl.
Danach also mußte man annehmen, die Bundesversammlung der Volks¬
partei werde in einer energischen Resolution die Verwerfung der Verträge ver¬
langen. Merkwürdigerweise aber war auf dieser Versammlung die officielle
Sprache ungleich gemäßigter, und man hatte guten Grund dazu. Es drohte
wegen der Zollvereinsfrage eine bedenkliche Desorganisation in der Partei ein¬
zureihen. Die alten bequemen Phrasen hielten doch nur so lange vor, als
man noch nicht an den Ernst der Wirklichkeit dachte. Jetzt aber begann die
Sache doch über den Spaß zu gehen, aus dem Lande mehrten sich die Symp¬
tome des Abfalls, und so war man, um die Reihen der Partei leidlich zusam¬
menzuhalten, genöthigt, ein laxeres Programm aufzustellen, das zwar den Füh¬
rern erlaubte, im bisherigen Sinne weiter zu agitiren, aber doch die Menge der
Disscntirenden nicht zurückstieß. Man gab die Parole aus. der Zollvereinsver¬
trag sei für die Volkspartei eine offene Frage, und in den Resolutionen
half man sich mit dem völlig nichtssagenden Satze: die würtembergischen Ab¬
geordneten sollten sich womöglich mit den übrigen süddeutschen Abgeordneten
verständigen, um die Gefahren, die aus dem Schutz- und Trutzbündniß und aus
der bedingungslosen Annahme des Zollvereins drohen, abzuwenden. Dies
war ein einfacher Rückzug; denn an die Möglichkeit jener Verständigung mit
den badischen und bayrischen Abgeordneten denkt natürlich Niemand. Die Re¬
solution enthält das Eingeständniß, daß man zwar gegen die Verträge agitire,
daß dies aber weiter keinen Zweck hat.
Sonst war aus den Verhandlungen der Particularisten nur noch die Offen¬
heit bemerkenswerth, mit welcher jetzt in der nationalen Sache vollends jede
Maske verschmäht wird. Wiederholt war von dem Schlupfloch die Rede, das
den freien Schwaben noch nach der Schweiz hin offen stehe, und Herr Oesterlen
wies den Gedanken an einen republikanischen Südbund im Anschluß an die
Schweiz blos mit der allerdings triftigen Erwägung ab, daß der Wille und
die Energie, diesen Weg zu betreten, nicht vorhanden sei. „von den Gefahren
einer preußischen Intervention ganz abgesehen". Das Höchste aber leistete Herr
Mayer, indem er auf den Hoffnungsstern hinwies, der seit Salzburg für die
süddeutsche Freiheit aufgegangen sei. Sie hätten, sagte er, die französische Ein¬
mischung nicht verlangt, vielmehr trage Preußen die Schuld daran, aber da
einmal der französische Einfluß für ihre Sache thätig sei. seien sie nicht so blöde
.Narren, von dieser günstigen Position keinen Gebrauch zu,machen; die franzö¬
sische Unterstützung lassen sie sich gefallen, und die östreichische seien sie sogar
berechtigt zu verlangen.
Ueberhaupt setzt die Partei etwas darein, nicht eben wählerisch in ihren
Mitteln und Bundesgenossenschaften zu sein. Wie das Organ des Herrn Mayer
legitimistischen Korrespondenzen aus Hannover oder Hietzing seine gastlichen
Spalten zur Verfügung stellt, so macht es auch zuweilen Versuche, königlicher
zu sein als unser König, und am Geburtstag des verstorbenen König Wilhelm
am 27. Sept. citirte es den Geist des „alten Herrn" und legte ihm nach der
Melodie: „wenn heut ein Geist herniederstiege" eine bewegliche Jeremiade in
den Mund über das „vom nationalen Raubgesindel verrathene und verkaufte
Land". Natürlich ist man auch der ultramontanen Freundschaft gegenüber kein
Kostverächter. Mit Wohlgefallen wird die Pfäfsische Agitation in Bayern gegen
die dortige zweite Kammer begrüßt: „wir sind nicht so zimperlich, daß wir an
einer guten Salve, die aus den gemeinschaftlichen Gegner abgeschossen wird,
nicht unsere Freude hätten, weil der Schuß mit anderm Pulver geladen war
als mit dem unsrigen, und von einem Kanonier abgeschossen wurde, welcher die
demokratische Uniform nicht trägt. Wenn er nur sitzt!"
So findet sich denn auf dem Boden der „Volkepartn" die ganze Gesell
schaft einträchtig zusammen: Radicale, Legitimisten und Ultramontane, mit dem
ehnsüchtigcn Aueblick nach der französisch-östreichischen Einmischung. Daß der¬
selbe Herr Mayer, der in Salzburg das einzige Neltungemittel sieht, am Abend
nach der Landesversammlung seinen Toast der Stadt Berlin brachte, „der
Stadt der Intelligenz und des Charakters," — diese Ehre zu würdigen, muß der
Wählerschaft der Reichshauptstadt überlassen bleiben, die wenigstens nicht im
Zweifel darüber sein kann, in welchen Lagern sie ihre Freunde besitzt.
Sie haben mir gestattet, Ihnen zuweilen aus dem Frieden der tiroler
Berge zu berichten. Heute unter dem Eindruck der wiener Bischofsadresse,
deren Behandlung uns mit ungewöhnlichen Erwartungen erfüllt, kann ich nicht
unterlassen, an die Katholikenversammlung zu erinnern, die vor drei Wochen
hier tagte. Solche Zusammenkünfte waren Modeartikel der letzten Saison.
Auch in Belgien gabs heilige Weisheit in barocker Form genug zu hören.
Aber bei uns mußten sich die Herren wenigstens ganz unter sich behelfen. In
der Fest-Stadt keine Spur von Sympathie, keine einzige nennenswerthe Kund¬
gebung. Freilich, ein Volk bildeten sie selber: man zählte 1036 Seelen, dar¬
unter nur 470 Nichttiroler. — Auf alle Gefahr gebe ich ihnen einige kleine
Porträts, denn solche Ergebnisse aufzubewahren, ist doch von einigem Werth,
zumal da wir uns schuldig sind, zu hoffen, daß unseren Enkeln nicht zugemu-
thet wird, an die Wahrheit solcher Curiosa zu glauben.
Abends am 8. September wurden die Fremden im Landhause begrüßt.
Herr Simon Moriggl, Professor am Gymnasium zu Innsbruck und thätiges
Mitglied der geheimen ultramontanen Polizei, gab in seiner Anrede die Parole
des Tages: „Ja, die Arbeit und die Schule und die Presse muß getauft werden.
Wenn ich da von Christen rede, so meine ich immer katholische, denn ich kenne
kein Christenthum als dasjenige, das von Gott gegeben und in der heiligen
katholischen Kirche deponirt ist." Daß dies Wort aus dem Munde Sanct-
Moriggl's kam, wundert uns nicht, aber daß es die Ohren der Versammelten
willig aufnahmen, würde den Geist des Convents charakterisiren, wenn hier
überhaupt von Geist zu reden wäre.
Tags darauf war Hochamt in der Jesuitenkirche. dann zögen die Herren
Katholiken paarweise in die Reitschule, welche der Volkswitz als „Circus Hast-
wander" bezeichnet. Im öden Raum derselben verschwanden einige Fähnchen
und Wappen, die zum Aufputz. — welchen übrigens nicht die Stadt Innsbruck,
sondern das Comilv aus den gelösten Eintrittskarten bestritt, — dienen sollten.
An der Seitenwand erhob sich das Bild der unbefleckten Empfängnis;, gegenüber
das Herz Jesu mit einer alten Schützensahne, rückwärts eine Gallerte für neu¬
gierige Frauen und Betschwestern. An der östlichen Seite prangte zwischen
Blumen mit rothem Tuch behängt die Tribüne. Hier sah der Präsident Lagers.
Advocat aus Achen. neben ihm der greise Andlaw, hier leuchtete aus dem
breiten vierkantigen Gesicht Ehren-Haslwanters geheiligte Kraft. Zur Linken
stand die Rednerbühne; an der Rückwand hing ein großes Crucifix, neben
demselben rechts das lebensgroße Bild des Papstes, links das des Kaisers von
Oestreich. Warum ich das beschreibe, sollen Sie gleich hören.
Den Reigen der Redner eröffnete süß lächelnd der Bischof von Brixen.
Er schimpfte was Zeug hielt über die Judenblätter und ließ ahnen, er werde,
wenn ihm einmal das Ministerium anvertraut würde, Oestreich regeneriren trotz
der berühmten Nonne Patrocinia von Spanien. Präsident Lingens erzählte dann,
daß die preußischen Krieger von Rheinland und Westphalen,'echte Kinder der
Kirche, in der Mehrzahl geschmückt gewesen sind mit dem Scapulier der selig¬
sten Jungfrau! Das bat jedenfalls mehr zum Sieg geholfen als Intelligenz
un-d Zündnadelgervehre!" Becker aus Speher sagt: .Im Herzen der Kirche ist
und bleibt die Einheit unseres nationalen Lebens ungebrochen."
Bei der zweiten öffentlichen Sitzung sprach Baron Andlaw. der bekannte
badische Ultramontane über die verschiedenen Sorten von Freiheit, bie natürlich
alle aufs beste unter dem Banner des Ultramontanismus gedeihen.
Der Metzger Falk aus Mainz hatte für diesen Abend die Rolle des Ba¬
jazzo übernommen und spielte sie unter allgemeinem Gelächter. Unter anderm
sagte er: „Wenn in Mainz die Lustigkeit ihren höchsten Grad erreicht hat. dann
singen wir: „Gott erhalte Franz den Kaiser!" Das können unsere Kinder schon
singen, nicht allein wir. manche sogar ehe sie das Vaterunser gelernt haben".
Dann richtete Herr Falk Grüße von Mainz aus. Das rührte unsern Hasl-
wanter so. daß er aufsprang, den Metzger an seinen dicken Bauch drückte und
ihm einen ungeheuern Schmatz gab.
Bedeutungsvoll war die Rede des Herrn Regens Moufcmg aus Regens-
burg. Er gab eine «Skizze der Schicksale des Kacholicismus in Deutschland von
1817 bis ' 1867, beleuchtet vom bengalischen Feuer rhetorischer Phra¬
sen. Eine Hauptepoche bildete natürlich die Ausstellung der heiligen Garderobe
zu Trier. Aber dann kam der Redner auf die Kirchenstaalsfrage: „Man sagt
der Papst braucht den Staat, das ist gewiß wahr, aber die Kirche braucht, es
sei denn, daß Gott Wunder thue, die weltliche Hilfe. Und dafür giebt e>5 jetzt
noch zwei große Nationen und das ist Frankreich und Oestreich. Und darum
glaube ich.'wenn Gott will, daß die Wogen der Revolution uns bedecken wie
eine Sündfluth. dann wird die Arche Noahs aus östreichischen Holze gebaut."
Die dritte Sitzung eröffnete der Schweizer Sigwart Müller, kläglichen An¬
denkens aus dem Sonderbundskriege, mit der Geschichte seiner Verfolgungen
und wie warm man ihn zu Oestreich aufgenommen. Der auf ewigem Urlaub
befindliche Professor Phillips gab an den Dombrand in Frankfurt anknüpfend
einen Ueberblick über deutsche Geschichte nach der Melodie: „die Grundfeste
aller Wissenschaft ist der römische Katechismus".
Am besten sprach der bekannte ultramontan-feudale Graf Thun. Der
rotbbefrackte Hochtory erging sich über die Stellung des Adels, cunose Weis¬
heit freilich für ein unbewaffnetes Ohr; aber es war doch wenigstens Ra?e in
seinem Auftreten. In der Reitschule waren wir einmal, da leistete denn.
nach der rhetorischen Schulreiterei Herr Zander, der Redacteur des Volksboden
aus München das Seinige als Clown. Sechs Orden vertraten die Schellen der
Kappe. Er sprach von dem traurigen Zustande der katholischen Kirche in
Bayern, Es waren viel bajuwarische Pfarrer da, sie lachten, daß ihnen Thrä¬
nen über die feisten Wangen kollerten.
Was das Brüllen anlangt, so war Greuter jedenfalls der Löwe des Abends.
Mit was soll man seine Art von Beredsamkeit vergleichen? Am besten mit
einem Feuerwerk. Wie das zischt, kracht, knallt, lodert und sprüht, alles be¬
leuchtend, ohne daß man auch nur das Geringste erkennen kann. Der Mann
ist in der Thüre zwischen Declamations- und Fechtkunst stecken geblieben, eine
vollendete Kapuzinernatur, die überall da Leidenschaft hat, wo anderen Leuten
der Verstand sitzt. Den lehrreichsten Passus seiner Rede müssen Sie wohl oder
übel mit anhören. Er bezog sich auf das decorative Arrangement des Saales:
„An der Stelle, wo sonst die Schmerzensmutter steht, steht der heilige Vater,
an jener Stelle aber, wo Johannes der Verbannte aus Pathmos stand. —
Franz Joseph, der gesalbte apostolische König; und wenn Christus heute seinen
Mund öffnet und herabruft zum Repräsentanten der Kirche, so haden wir an
unserm Kaiser keinen schlechten Stellvertreter und Christus kann heute noch zum
Repräsentanten der Kirche sagen, was er einstens gesprochen hat: „Weib siehe
deinen Sohn!" Und ich bin der festen Ueberzeugung, daß die gekreuzigte un¬
sterbliche Liel'e zum gekrönten König (nämlich von Ungarn) sagen würde: „Sohn
siehe deine Mutter!" Aber auch Euch deutschen Brüdern ist unsterbliche Hoffnung
in eueren Herzen. O, es kann einmal die Zeit kommen, wo sich der Adler
von Pathmos einmal erbeben wird und unter seinem Flügelschlage entsteht die
Freiheit dem deutschen Reich!"
Nun, vielleicht giebt diese apokalyptische Auffassung der Dinge den Schlüssel
zur Lösung der östreichischen Frage, die den ordinären Weisen soviel Kopfzer¬
brechen macht. —
Bismarck hat einmal gesagt, wir hätten zuviel Intelligenzen in Deutsch¬
land, und deshalb kämen wir nickt vorwärts. Die Wahrheit dieses Ausspruchs
fiel mir schwer auf die Seele, als ich mein erstes Briefchen und damit die
linke Seite des Hauses besorgt und aufgehoben glaubte, und nun plötzlich die
„freie Vereinigung" ais unvesprochene Intelligenz leibhaftig vor mir
auf den Bänken des linken Centrums sitzen sah. Nur reumütkiger eiliger Nach¬
trag kann hier helfen. ."s
Die „freie Vereinigung ist jedenfals ein Unicum rin Hause. Al
ihre berechtigte Eigenthümlichkeit kann gelten: sie ist so frei, daß sie aushört
eine Vereinigung zu sein. Sie ist in ihren Tendenzen, ihren Abstimmungen
ganz unberechenbar, so auch fast jedes ihrer Mitglieder, v. Carlowitz und
v. Bockum - Dolffs vielleicht ausgenommen. Sie hat bei der wichtigsten Ab¬
stimmung des constituirenden Reichstags, über die Annahme oder Äblednung
der!Bundesverfassung. so zu sagen paritätisch gestimmt! Sie bietet einigen Ka¬
tholiken von stark confcssioneller Färbung, wie Kratz/gleich liebreich Zuflucht
wie den aus dem preußischen Conflict in die neue Zeit geretteten Liebhabereien
des Abgeordneten Zur Megede. Man kann auch nach den bisherigen Ver¬
handlungen des Reichstags nicht behaupten, die freie Vereinigung haveso
oder so gestimmt, sondern man müßte sich, wenn deutsche Gewissenhaftigkeit je
diese wichtige Frage gründlich zu untersuchen trachten sollte, die Mühe nicht
verdrießen lassen, die widersprechenden Abstimmungen ihrer Mitglieder zusammen¬
zusuchen. Der Tadel kann ihr nicht erspart werden, daß ihre Leiter, so erprobte
Männer wie v. Carlowitz und Bockum-Dolffs. es duldeten, daß aus ihrem
Kreise der confessionelle Hader durch den Kratz'schen Antrag auf Anstellung ka¬
tholischer Seelsorger in der norddeutschen Kriegsmarine ins Haus geschleudert
ward.
In wenigen Köpfen nur noch ist sodann die Partei vertreten, die sich
schlechtweg als „Centrum" bezeichnet, sie die^einstmals die höchste Staffel macht¬
voller politischer Weisheit bedeutete und Preußen mehr als einen Minister ge¬
geben, die Fraction der Altliberalen. Dort finden sich Namen von
dauerndem Klang: v. Bernutb. v. Bethmann-Hollweg und Freiherr v. Ravenau,
der die ganze Fülle des Hasses, zu der das mittelstaatliche Herz des großen
Dalwigk fähig ist. durch seine nationale Haltung im hessischen Pnrshause reichlich
verdient bat; derselbe, der jüngst bei der Adreßdebatte Bismarck interpellirte.
ob wirklich Preußen Dalwigk 'einen Anlaß zu dessen in der ersten hessischen
Kammer gethanen Versicherung gegeben habe, daß die hessische Regierung durch
ihren Antrag auf Beitritt zum norddeutschen Bunde Preußen in Verlegenheit
setzen werde, und der dadurch das zornige Wort Bismarcks provocirte: wenn
uns die Aeußerung des aroßherzoglicb hessischen Staatsministers nicht entgangen
wäre" (welche Beleidigung für den Staat Hessen!) „würde ich Gelegenheit ge¬
nommen haben, auf diplomatischem Wege die Ansicht zu berichtigen. (!) die
sie ausspricht." Unter den Altliberalen sieht man auch den jugendlich energischen
Kopf des wackern Vertreters für Sigmaringen, Evelt, eines Sohnes der rothen
Erde. Daß sich die kleine Fraction als solche formell abschließt von ihren
nächsten Gesinnungsverwandten, mag ihrer reichen politischen Verganaenheit zu
gute gerechnet werden. Als conservative Partei im maßvollsten Sinne des
Wortes könnte sie der frei-conservativen Vereinigung ebensowohl als
Vorbild dienen als durch ihre untadelhafte nationale Gesinnung. Aber zu be¬
dauern bleibt immerhin, daß diese beiden Fraktionen sich nicht diesmal dauernd
verschmolzen haben. Die Hauptschuld daran trägt ein Mann, der in fast sym¬
bolischer Weise die Bedingungen in sich vereinigte, diese dankenswerthe Aufgabe
zu vollführen: Professor Ang'ibi. Seine Laufbahn, seine Thätigkeit als preußi¬
scher Ministerialsccrctär unter dem Märzministerium 1848 als fruchtbarer Jour¬
nalist, namentlich als Mitarbeiter und Parlaments-Berichterstatter der Deut¬
schen Zeitung in den Jahren 1848 und 1849. dann als tüchtiger nationalge¬
sinnter Historiker machten ihn beidenFractionen werth, und seine Vereinignngs-Be-
strebungen schienen>umso versprechender, als seineEnergie von jedem gekonnt ist.
Aegidi'hatte überdies von seinem Kreise Wanzleben' ausdrücklich das Mandat
erhalten und angenommen, nach besten Kräften diese Vereinigung zu Stande
zu bringen. Sobald er in Berlin ankam, ließ er sich aber einfach bei den Frei-
Cvnserv'ativen einschreiben. Schwer zwingt man sich zu der Meinung, daß der
tüchtige Politiker und Gelehrte, der sich neben Planck bei der Adreßdebatte am
meisten auszeichnete, nur aus persönlichem Ehrgeiz so gehandelt habe. Einen
gewissen Neiz mag es freilich haben, unter schweigsamen Fürsten, Herzögen und
Grafen der einzige Redner und leitende Denker zu sein.
Das tiefe chronische Schweigen auf den Bänken der Conservativen
fallt jedem Besucher des Reichstags auf als ihr hervorragendes Kennzeichen.
Es liegt etwas von ahnungsreicher Beziehungen und Traditionen, etwas von
dem heiligen Geiste ödes Herrenhauses auf ihr und schwebt über diesen vor¬
zugsweise „erlauchten" Herren des Reichstags wie der Geist Gottes über den
Wassern, ehe er sprach, es werde Licht! Den Tribünenkampf für die nationa¬
len Interessen des jungen deutschen Großstaats überlassen sie vorzugsweise den
NaNonalliberalen, am liebsten Braun aus Wiesbaden, und sind in der That
wegen dieses Geschmackes nicht zu schelten. Nur dann, wenn gelegentlich ein¬
mal ein recht böser unvorsichtiger Landrath sich Wahlbeeinflussungen hat zu
Schulden kommen lassen, (z. B. die Stimmzettel und Empfehlungscirculare für
seinen Kandidaten als königl. Dienstsache portofrei versandte) und nun gegen
den gemeinen Menschenverstand der Wahlprüfungsabtheilungen des Hauses in
Schutz zu nehmen ist, dann sieht man den einen oder andern der Herren das
Wort verlangen, und hört dann Theorien über Amtsmißbrauch und Wahlbe¬
einflussung entwickeln, über die die Marmorbüste Stahls rechts vom Präsiden¬
tenstuhl selig herablächelt, und bei denen Laster mit Recht die Bitte an die
Conservativen richtet: ihm doch einmal eine Schablone eines landräthl. Wahl-
circulars zu zeigen, welches auch nach der Ansicht dieser Seite des Hau¬
ses einen strafbaren Amtsmißbrauch enthalte. Der Redner der conservativen
Interessen par exeellsnee, der scharfe sophistische Kopf mit seiner so zu sagen
empörend kühnen und schlagfertigen Dialectik, der Mann mit dem grobknochi-
ger markirten Gesicht, den geistvollen unruhigen Augen und dem stereotypen
halb vergnügten, halb herausfordernden Lächeln. Wagen er, erscheint nur
dann, wenn es gilt, irgend welchen gefährlichen modernen Anschauungen gegen¬
über die ganze Schroffheit und Nacktheit des v. Haller>Stahl'schen Staats als
Parteiideal vorzuführen oder dessen Consequenzen herauszutifteln. Er hat das
deutsche Staatsrecht schon in dieser Session um eine Theorie über die Publi¬
cation von Gesetzen bereichert, der mehr das Prädicat der Originalität als
wissenschaftlicher Tiefe und Richtigkeit beizumessen ist. Doch darüber ein
ander mal.
Es soll mit dem Obigen keineswegs behauptet werden, daß es den Con¬
servativen an Talenten mangele. Sitzen doch auf den Bänken die leitenden
Kräfte des preußischen Generalstabs, die ruhmbedeckten Helden des Kriegs von
1866, Moltke und Steinmetz, und Herr v. Savigny, der seinem Unmuth über
die Erfahrungen des letzten Halbjahrs gelegentlich dadurch Ausdruck verleiht,
daß er in Freiheitsprincipfragen mit den Nationalliberalen stimmt. Wir sind über¬
zeugt, daß die Verhandlungen im Innern letzterer Fraction am interessantesten und
lebendigsten'find, daß die dem Hause vorliegenden Gesetzentwürfe und Anträge dort
eine sachkundige Erörterung finden. Mindestens bürgt dafür die vortreffliche
Parteitactik und Geschlossenheit, die dieser Fraction vor allen anderen nachge¬
rühmt werden muß. —
Die officiellen Zeitungen haben vor einigen Monaten ein Gesetz über die
Staatsdomänen, ein Gesetz über den Wakuf und ein Gesetz über den Grund¬
besitz der Fremden veröffentlicht und gleichzeitig in verschiedenen Leitartikeln
diese Publicationen als Schöpfungen gepriesen, die von neuem eine Wieder¬
geburt der Türkei mit sich bringen sollen. Man ist hier zu sehr an diese
Sprache gewöhnt, als daß man ihr einen großen Watts beilegt; nichts
destoweniger läßt es sich nicht leugnen, daß der Gegenstand jener Gesetze die
Aufmerksamkeit eines jeden, der die Verhältnisse in der Türkei auch nur einiger¬
maßen kennt, in hohem Grade erweckt. Kaum etwas anderes ist in den letzten
Jahren soviel erörtert, als die Regulirung des Wakuf und die Frage über den
Grundbesitz der Fremden. Weder die candiotischc Frage, die die Türkei so sehr
bewegt hat, noch alle anderen politischen Fragen, an denen man hier bekanntlich
nie Mangel leidet, haben das Interesse an diesen Problemen dauernd verdrän¬
gen können, die in das innerste Leben fast jeder hiesigen Familie tief ein-
schneiden.
Wollen wir aber die Bedeutung der Gesetze würdigen, so müssen wir noth¬
wendig einen Rückblick aus die geschichtliche Entwickelung der Grundeigenthums-
frage in der Türkei werfen, da die Verhältnisse, welche durch die neuen Gesetze
umgestaltet werden, auf das allercngste mit den Anfängen des türkischen Rei¬
ches und den Grundprincipien des islamischen Staates zusammenhängen.
Fast alle islamischen Staaten sind durch Eroberungen entstanden, die die
Früchte des heiligen Kampfes waren, den der Islam gegen die Ungläubigen
predigt. Alles eroberte Land wurde als Beute angesehen und demgemäß ver¬
theilt. Die mohamcdainschen Staatsrechtslehrer statuiren daher als vorzüglichste
Quelle des Eigenthums die Eroberung,
Bei der Vertheilung des eroberten Landes ist von den mohamedanischen
Fürsten in sehr verschiedener Weise verfahren worden. Die Grundstücke sind
entweder zu Staatsdomänen erklärt oder zu frommen Stiftungen verwendet
oder endlich als freies Eigenthum unter die Sieger und die Besiegten vertheilt
worden. Auf diese von den ersten Begründern der mohamedanischen Staaten
befolgte Praxis führt sich die Dreitheilung alles Grundeigenthums zurück, die
in der türkischen Gesetzgebung eine so große Rolle spielt. Wir werden in dem
folgenden die besonderen Eigenthümlichkeiten dieser Kategorien erörtern und be¬
merken zum bessern Verständnisse, daß im Türkischen
1) das freie Eigenthum Unita,
2) die Staatsdomäne Nirio,
3) die zu frommen Stiftungen geweihten Güter ^VaKuk
genannt werden.
Nulla ist dasjenige Recht, da» fast in allen Punkten unserm Eigenthum?
gleichsteht. Bon demselben ist etwas Besonderes nicht zu bemerken; dagegen
muß näher auf die Staatsdomäne und auf den Wakuf eingegangen werden, da
hier viele Eigenthümlichkeiten sich zeigen.
Der bei weitem größte Theil des Grund und Bodens im türkischen Reiche
ist Staatsdomäne. Wie oben ernährt, war die Verwandlung eines Theils des
eroberten Gebietes in Staatseigenthum der ältesten Praxis der islamischen
Eroberer entsprechend. Die osmanischen Stämme haben von dieser Praxis
einen weit umfassenderen Gebrauch gemacht, einestheils wohl, weil die ihnen
zufallenden, sehr ausgedehnten Territorien von zahlreichen nicht mohamedani¬
schen Völkerschaften bewohnt waren, und dann, weil die Türken im Besitz eines
ausgebildeten Lehnssystems sich befanden, das sich auf diese Weise am leichtesten
in den neuen Ländern einführen ließ.
Diese Domänen wurden nun zu verschiedenen Zwecken verwendet. Ein
Theil blieb Domäne in dem uns geläufigen Sinne, ein anderer wurde
zu Apanagegütern der Prinzen und der Sultanin Valide bestimmt, ein dritter
Theil wurde anstatt der Besoldung einzelnen hohen Aemtern überwiesen, der
größte Theil endlich wurde als Lehen vergeben.
Bei der Belehnung übertrug der Sultan seine Rechte an den Domanial-
gütern einzelnen seiner Soldaten, den Sipahis und deren Offizieren, in der
Weise, daß sie einen Antheil an den eingehenden Gefallen hatten. Der Sipahi
wurde durch die Belehnung Herr der Erde, der Grund und Boden selbst wurde
aber entweder dem bisherigen Besitzer oder einem Dritten überlassen. Diese
Personen erwarben den Besitz auf Grund einer Verleihung (tapu) gegen Zab/
lung eines Preises. Den Preis erhielt der Sipahi, der ihn gewöhnlich, wie
auch die anderen Gefälle, mit seinen Oberen theilen mußte.
Dem Sipahi wurde, wie es scheint, in der Regel ein Bezirk angewiesen,
in dem er wohnen mußte und den er theils als Grundherr, theils als Staats¬
beamter zu verwalten hatte. Auch von den in seinem Bezirk liegenden Grund¬
stücken, die nicht Domäne waren, und mit denen er daher nicht belehnt sein
konnte, zog er die. aufgelegten Steuern und Abgaben ein und behielt davon
einen Theil als Belohnung. Der Sipahi war also gleichzeitig Gouverneur
seines Bezirks und hatte als solcher auch eine Art Jurisdiction. Diese Rechte
wurden anfänglich von den Sultanen nur auf wenige Jahre verliehen, später
auf Lebenszeit und endlich vielfach sogar erblich. Im letztern Falle siel das
Recht des Sipahis, wenn keine Söhne da waren, an den Staat zurück.
Die Detentoren — die Bauern — vererbten den Besitz der Domäne nur
auf die Kinder. In Ermangelung von solchen hatte der Bruder des Erblassers
das Borrecht, das Gut gegen Zahlung des neu festzusetzenden taxu zu erwerben.
War kein Bruder vorhanden oder wollte ein solcher von seinem Rechte keinen
Gebrauch machen, so wurde das Gut von dem Sipahi öffentlich meistbietend
verkauft. Hierzu war er verpflichtet; auf keinen Fall durfte er das van.int
gewordene Gut behalten und es etwa zum Kaf schlagen d. h. zu dem Güter-
complex, der ihm an Stelle der Besoldung übergeben war.
Kein Domanialgrundstück konnte ohne Zustimmung des Sipahis verkauft
werden; die Erlaubniß wurde indessen gewöhnlich gegen eine Abgabe ertheilt.
Ebensowenig war die Verpfändung des Grundstücks gestattet.
Der Detentor hatte an den Sipahi den Zehnt zu zahlen, er musitc eine
Reihe Frohndienste leisten und war endlich auch verpflichtet, bei gewissen Gele¬
genheiten z. B. bei Verlobungen, besondere Abgaben zu geben.
Die Lehne wurden timar oder siamet genannt, je nachdem sie unter oder
über 20.000 Piaster Einkünfte ergaben. Nach der Größe der Revenuen wurde
die Zahl der Leute berechnet, mit denen der Sipahi in den Krieg dem Sultan
folgen mußte. Unter Soliman ergab diese Einrichtung noch ein Cavallerie-
Corpö von 200.000 Mann, später verfiel die Wehrverfassung immer mehr und
mehr. Die Mehrzahl der Grundherren zog vor. sich nicht zu gestellen und die
Regierung war zu schwach, sie hierzu anzuhalten.
Diese Zustände im ältern türkischen Reiche erinnern, wie wohl jedem
Leser aufgefallen sein wird, im höchsten Grade an die Zustände des übrigen
Europas im Mittelalter. Ja, die Ähnlichkeiten sind so groß, daß man fast
die Unterschiede aufsuchen muß. Das Obereigenthum des Fürsten ist i» der
Türkei in Betreff der Domanialaüter klar ausgesprochen; der Sipahi ist der
Lehnsvasall, der dem Lehnsherrn mit einer Zahl Truppen in den Krieg folgen
muß, und der Detentor endlich ist unser Bauer; er muß, wie dieser dem Gulf-
Herrn Zehnt zahlen, Frohndienste leisten und untersteht seiner Gerichtsbarkeit.
Diese Ähnlichkeiten treten noch mehr hervor, wenn man die Detailvorschriften
sich ansieht, die die älteren Gesetze in ziemlicher Ausführlichkeit enthalten. Uns
interessirt ein weiteres Eingehen auf diese Punkte aber nicht, für den vorlie¬
genden Zweck genügt die Skizzirung des Verhältnisses.
Wakuf bezeichnet ursprünglich die feierliche Weihung einer Sache zu einem
vom Stifter bestimmten frommen Zwecke. Später wurde darunter auch der
Complex der Vermögensobjecte verstanden, die zu dem frommen Zwecke bestimmt
waren. Die zu Wakuf geweihten Grundstücke werden dadurch dem Verkehr
gänzlich entzogen. Ausschließlicher Eigenthümer wird die Gottheit. Selbst der
Staat verliert an diesen Grundstücken alle seine sonstigen Befugnisse und na¬
mentlich das Recht der Besteuerung.
Die Stiftungen sind durch den Koran empfohlen und wurden bald üblich.
Dadurch vermehrten sich schnell die Wakufgüter, die schon durch die Antheile
an der Beute nicht unbeträchtlich waren. In späterer Zeit wurden die Stif¬
tungen förmlich zur Modesache und nicht nur Privatpersonen betheiligten sich
daran, sondern namentlich auch die Sultane, die oft große Theile der Doma-
nialgüter den Wakufsverwaltungen überwiesen. Diese Güter, die man später
mevkuttt nannte, blieben in den Händen der Detentoren, der Wakuf erhielt
aber daran ungefähr die Rechte, die sonst der Sipahi ausgeübt hätte, wenn
die Güter in Lehen vergeben wären.
Dem analog vergaben die Wakufsverwaltungen andere Besitzungen in Erb¬
pacht (iüM-6.) Dabei wurde gewöhnlich ein System einer doppelten Miethe
angewendet, das ichareteiir genannt wurde. Der Erwerber zahlte sofort ein
größeres Pauschquantum (muaäsekelo), gleichsam ein Aversionalquantum auf
die Miethe, und später nur noch eine sehr geringe jährliche Miethe (muöäsekölö)
Der Wakuf hatte bei einer solchen Erbpacht das Recht, eine Erbschaftssteuer
zu erheben, wenn ein Descendent das Gut nach dem Tode des Vaters über¬
nahm. In Ermangelung von Descendenten wurde das Grundstück mMu!
d. h. es siel an den Wakuf zurück. Verlaufe durste das Grundstück nicht ohne
Genehmigung des Wakuf werden, der sich dafür eine Abgabe zahlen ließ; es
durfte selbstredend nicht verpfändet werden, unterlag dafür aber auch weder
einer Besteuerung vom Staate, noch auch der Confiscation.
Die Confiscationen spielten im ottomanischen Reiche bekanntlich eine nicht
unbedeutende Rolle. Sie waren eine beliebte Finanzquelle des Staates und
daher war großer Reichthum große Gefahr. Noch heute findet man in¬
folge dessen bei den Orientalen das gewohnheitsmäßige Bestreben, sein Vermö¬
gen zu verbergen. Da Grundbesitz schwer zu verheimlichen war, so kam man
auf einen andern Ausweg. Man übertrug das Grundeigenthum an den Wa-
kuf und nahm es von ihm in Erbpacht. Der Eigenthümer wurde dadurch
zwar Detentor, mußte Erbpacht zahlen und konnte sein Grundstück nur an die
Kinder vererben; dafür war er aber von der Gefahr der Confiscation befreit,
haftete mit dem Gute nicht für Schulden und brauchte für dasselbe keine
Steuer zu zahlen. Die Vortheile wogen die Nachtheile also reichlich aus und
daher kam es, daß zahllose Übertragungen von freiem Eigenthum an den Wa-
kuf erfolgten.
Die Verwaltung der Walufgüter war früher sehr confus. Gewöhnlich
stand sie der vom Stifter eingesetzten Person (mutevelli) zu. Starb diese, so
ernannten die e^i-aLkc-r (die Präsidenten der beiden obersten Gerichtshöfe) einen
Stellvertreter. Die umtevöllis standen unter ria-iirs oder Inspektoren, die oft
sehr bedeutende Revenuen aus diesem Amte zogen. Daher ließen sich hohe
Staatsbeamte zu oaüirs ernennen und beispielsweise wurde es zur Gewohnheit,
daß der erste Eunuch rmiiii- der Wakufs der heiligen Orte und der Großvezir
rin2ir von den Moscheen Muhamed II., Selim und Suleiman wurde. Einzelne
Moscheen hatten bedeutendes Vermögen. Von der Achmedi6 wird gesagt, daß
sie 200,000 Piaster Einkünfte hatte, und die Revenuen der Aja Sophia wer¬
den sogar auf 1,000,000 Piaster angegeben.
Schlechte Verwaltung. Coursverluste (der Piaster galt im vorigen Jahr¬
hundert noch 1 Thlr. 12 Sgr., jetzt gilt er nicht ganz 2 Sgr.), Verschwen¬
dung :c. haben die Vermögen sehr ruinirt. Gerade deshalb sind auf diesem
Gebiete viele Reformen versucht und noch weit mehr angestrebt worden.
Die Reformen haben während der Negierung des Sultans Mahmud be¬
gonnen und sind unter seinen beiden Nachfolgern fortgesetzt worden. Sie haben
die Verhältnisse des Grundeigenthums sehr erheblich verändert, aber dieselben
noch nicht auf den Standpunkt gebracht, den eine gesunde Politik erfordert.
Wie sich erwarten ließ, hat sich die Reform gegen die Lehnsverfassung und
gegen die'Wakufs gerichtet, sie war und ist indessen überaus schwierig, weil
nicht allein die mannigfachsten Privatrechte ihr entgegenstanden, sondern na¬
mentlich weil beide Institute sich auf das geistliche Recht stützen. Die Herren
der Wakufs, die Ulemas, und die Herren der Lehne, die Sipahis, standen nicht
allein unter einander in enger Verbindung, sie hatten auch mit der berühmten
Miliz der Janitscharen dasselbe Interesse und bildeten mit diesen die Haupt¬
stützen des Alttürkenthums.
Der erste gewichtige Schritt des Sultans, der allerdings mit dem Grund-
eigenthum nichts direct zu thun hatte, der aber die Basis der ganzen Reform
bildete.'war die bekannte Vernichtung der Janitscharen. Als dies Werk gelun¬
gen war. richtete sich Mahmud gegen die Verbündeten Sipahis. Er hob die
alte Wehrverfassung und infolge davon die Lehne sammt und sonders auf und
übertrug die Rechte der Sipahis an das Aerar (bgit, ulwal). Eine andere
Wehrverfassung wurde eingeführt und den früheren Lehnsbesitzern für ihre Ver¬
lornen Rechte nur eine Entschädigung gezahlt, die ungefähr die Hälfte ihrer
früheren Einkünfte betruq. Die Ausführung dieser Bestimmungen erfolgte
allerdings erst unter dem Nachfolger, die Reorganisation wurde aber zu Anfang
der vierziger Jahre vollendet und seit dieser Zeit erinnern an die früheren Zu¬
stände nur noch die oben erwähnten Entschädigungen, die mit der Zeit aller¬
dings gänzlich wegfallen werden, die bisher aber noch ziemlich beträchtlich sind. Im
Jahre 1850 zahlte der Staat noch als Entschädigung an ehemalige Lehns-
bksitzcr und an einige andere Personen, denen früher Einkünfte als Privi¬
legien überlassen waren.40 Millionen Piaster. Im Jahre 1860 hatte sich diese
Summe bis auf 24'/« Millionen ermäßigt.
Bereits am 30. Juni 1826. Is Tage nach der Vernichtung der Janit¬
scharen. hob Sultan Mahmud das Bureau der Confiscationen auf. Dadurch be¬
wirkte er. daß das Hauptmotiv der Errichtung von Wakufs fortfiel. In der
That hat die Erfahrung gelehrt, daß von diesem Augenblicke an das nulle
den Vorzug vor dem Wakusbesitze erhielt^ und daß die Stiftung von Wakufs
sehr abnahm.
Am 30. Mai 1833 sprach Sultan Mahmud endlich den Grundsatz aus.
daß der Staat der oberste Inspektor aller Wakufgüter sei; er ernannte demge¬
mäß einen Director des Wakufs mit dem Range eines Ministers und legte die¬
sem die Befugniß bei, die Mutevellis zu bestellen. Man erzählt, daß Mahmud
schon bereit gewesen sei. die Wakufgüter ganz zu Staatsgütern zu erklären, daß
er dies aber aus Besorgniß vor der Macht der Ulemas unterlassen habe. Der
Sultan Abdul Medschid hat die letzte Reform seines Vaters noch vervoll¬
ständigt, indem er ein förmliches .LvKak-Ministerium eingeführt hat.
Diese Maßregeln waren alle im Princip vortrefflich, verursachten aber dem
Staate viele Kosten. Die Wakufverwaltung war so heruntergekommen, daß sie
nur 20 Millionen einbrachte und daß der Staat 12V- Millionen jährlich zu¬
schießen mußte, um nur die Balance der Einnahmen und Ausgaben herzustellen.
Diese Summe zahlte der Staat allerdings als Entschädigung für gewisse Ein¬
nahmequellen, die er, wie den Hafenzoll in Smyrna, dem Wakuf abgenommen
hatte und die ihm jetzt weit mehr einbringen; trotzdem ist die Beihilfe unver-
hältnißmäßig. wenn man die große Ausdehnung und den innern Werth der
Wakufgüter berücksichtigt. ' Uebertrieben ist zwar, daß der Wakuf V« des ganzen
Landes besitzt, immerhin ist aber sein Besitzthum sehr groß und seine Netto-
Einnahme unverhältnißmäßig niedrig.
Dies ist der Zustand des Grundeigenthums in den vierziger und fünfziger
Jahren. Eine weitere Reform ist damals nicht erfolgt. Selbst der berühmte
ÜMi Huma^oum vom 18. Februar 1856 hat keine Aenderung herbeige¬
führt. Dieses Grundgesetz hat zwar den Fremden im Princip das ihnen bis¬
her bestrittene Recht beigelegt, Grundeigenthum zu erwerben, es waren im Ge¬
setz aber Bedingungen beigefügt, die die Ausführung der Bestimmungen suspen-
dirten.
Wichtige Reformen enthielt erst das Gesetz vom 21. April 18S8, das die
Verhältnisse des Grundeigenthums wenigstens in zwei Richtungen anders
regelte. Wie bereits oben auseinandergesetzt wurde, war in den ersten Jahr¬
hunderten nach der Eroberung das Lehnswesen in Verfall gerathen und gleich-
zeitig damit ein großer Theil der Staatsdomänen in willkürlicher Weise seiner
ursprünglichen Bestimmung entfremdet und von Sultanen, ja mitunter sogar
von Privatpersonen in Wakufgüter verwandelt worden. Das neue Gesetz gab
die der Domäne entzogenen Güter, die jetzt den großem Theil des Wakuf-
eigenthums ausmachten, ihrer allen Bestimmung zurück und gewährte den Be¬
sitzern sämmtlicher. Domanialgüter durch eine Ausdehnung der Successionsrechte
bedeutende Vortheile.
Mit Rücksicht auf die ebenerwähnten Mißbräuche unterscheidet das Gesetz
die eigentlichen Wakufgüter von dem wevIcutL-Gütern d. h. den Domanlal-
gütern, die später dem Wakuf übertragen waren, bestimmt, daß die letzteren ihrer
ursprünglichen Natur gemäß unter das Staatsärar gestellt und in Zukunft nach
den gewöhnlichen Gesetzen und nicht -nach den speciellen Gesetzen des Wakuss
beurtheilt werden. Einzig und allein die Verkaufssteuer, die Erbschaftssteuer und
der Erwerb durch den Heimfall soll bei den movKut'6-Gütern dem Wakuf ver¬
bleiben.
Für die sämmtlichen Domanialgrundstücke (all-16 und inevkute) stellt das
Gesetz eine Menge Detailvorschriften auf, von denen wir als wesentlich folgen¬
des hervorheben.
Der eg,M ist, wie früher, der Titel, der das Besitzrecht begründet. Der
Verkauf des Domanialgutes ist dem Detentor gestattet, die Erlauvniß des Staa¬
tes muß aber bei Strafe der Nichtigkeit eingeholt werden und wird nur gegen
Zahlung einer Abgabe gewährt. Die Kinder erben, wie im frühern Rechte,
frei, außerdem soll aber auch dem Vater und eventuell der Mutter dasselbe
Recht ohne Zahlung des tapu zustehen. Die weiteren Verwandten müssen den
wxu zahlen, der durch Conventionen festgesetzt werden soll. In Betreff dieser
Personen sind eine Menge Verkaussrechte eingeführt, die nach der Classe wäh¬
rend 10 Jahr, 6 Jahr und 1 Jahr Gültigkeit siben. Diese Bestimmungen
sind überaus complicirt und haben zu vielen Streitigkeiten Veranlassung
gegeben.
Dies die hauptsächlichsten Vorschriften des Gesetzes. Nur ein in ihm
erwähntes charakteristisches Institut ist noch hervorzuheben, da es wahrscheinlich
sür die Zukunft von Bedeutung sein wird. Es ist dies eine Art Verpfän¬
dung, die an die üäueia des ältern römischen Rechts erinnert. Zwar wurde
der Grundsatz aufrecht erhalten, daß die Domanialgüter weder verpfändet wer¬
den können, noch für die Schulden des Besitzers haften; da dies aber mit dem
täglichen Leben und den Bedürfnissen in zu grellem Widerspruch stand, so hatte
man schon früher einen Ausweg gesunden, der nun gesetzlich gebilligt wurde.
Der Besitzer des Domanialgrundstückes kann sein Gut mit Genehmigung der
Obrigkeit d. h. gegen Zahlung der Verkaufssteuer, an den Gläubiger mit der
Bedingung verkaufen, daß es gegen Zahlung der Schuld zurückoerkaust werden
muß. Ein solcher Verkauf mit dem Vorbehalt des Rückkaufes wird LraZIü bei
vota genannt. —
Wir haben nunmehr den Zustand geschildert, in dem sich der Grundbesitz
in der Türkei unmittelbar vor Erlaß der neusten Resormgesetze befand. Er war
gewiß erheblich verbessert, aber immerhin noch unbefriedigend. Namentlich die
Zustände des Wakufs, in denen wenig geändert war, gaben zu vielen Be¬
schwerden Veranlassung. Die beschränkte Erbfolge räumte dem Heimfallsrechte
den weitesten Spielraum ein; kaum war ein größeres Besitzthum zu finden,
von dem nicht die Wakusbehörden eine oder die andere Parcelle beanspruchten.
Fast jede Familie besaß Grundstücke, die verfallen waren; sie verbarg dies,
ängstlich, um den Besitz nicht zu verlieren. Scheinkäufe waren an der Tages¬
ordnung, dann kamen Veruntreuungen durch den Käufer vor, der durch Besitz
des Hodjets — der Besttzurkunde — frei über das Grundstück verfügen konnte.
Nimmt man noch hinzu, daß die Grundstücke gewöhnlich sehr klein waren, daß
einzelne Häuser oft aus 20 Grundstücke erbaut sind, von denen die einen Ma¬
lus, die anderen Müll, nach verschiedenen Erbrechten behandelt werden, so kann
man sich vorstellen, zu welchen unangenehmen Streitigkeiten dies Veranlassung
gab. Was wollte ein Erbe beispielsweise mit einem sonst auf müII: erbauten
Hause machen, wenn der Hausflur und die Treppe aus einem verfallenen
Wakufgrundstücke sich befand und dieses reclamirt wurde? Kurz die Verhält¬
nisse lagen sehr im Argen.
Die beiden kleinen Gesetze vom 21. Mai und 18. Juni haben einige Ver¬
besserungen eingeführt.
Das erste Gesetz bezieht sich auf die miri6- und inevKrM-Güter d. h.
also auf die Domanialgüter. deren Abgaben theils an den Fiscus, theils an
den Malus fließen. Die Hauptbestimmung ist die Erweiterung des Erbrechts.
Während früher nur die Kinder und Eltern das Recht hatten, ohne Zahlung
des tapu das Grundstück durch Erbgang zu erwerben, wird dies unbeschränkte
Erbrecht nunmehr auf die Enkel, die Geschwister und den überlebenden Ehe¬
gatten ausgedehnt. Außerdem ist im Gesetze nur noch bestimmt, daß das In¬
stitut des til-Agdi dit veta, das wir oben kennen gelernt haben, durch Special-
rcglements weiter ausgebildet und daß auch die Modalität, wie die Do-
manialgrundstücke durch anderweitige Schulden der Besitzer haftbar gemacht
werden können, in ähnlicher Weise regulirt werden soll. In einem beigefügten
Reglement ist endlich vorgeschrieben, daß die Besitzer für die eingeräumten
Rechte außer dem gewöhnlichen Zehnt noch den Betrag von 1'/-Zehnt zuzäh¬
len haben. Diese Abgabe soll aber auf Erfordern auf 3 Jahre vertheilt werden.
Die Entschädigung, die das Reglement auflegt, ist im Ganzen mäßig, der
durch das Gesetz gemachte Fortschritt dagegen recht bedeutend. Das freie Erb¬
recht bis zum zweiten römischen Grade in absteigender Linie und in der Seiten¬
linie beseitigt die meisten Fälle des mMuls (Heimfall). Dadurch wird die
Sicherheit des Grundbesitzes verstärkt und die versprochene Erweiterung und
Verbesserung des Instituts der LraZIii dit vota wird, wenn sie nicht ein leeres
Versprechen bleibt, sicherlich dazu dienen, den Realcredit zu heben.
Das Ziel, das zu erstreben ist, kann wohl niemandem unklar sein. Die
Güter müssen müIK der jetzigen Detentoren werden und die Rechte des Staa¬
tes auf wpu, auf Verkaufssteuer ?c. müssen wegfallen und durch rationelle
Steuern ersetzt werden. Das einzige Hinderniß, das der Erreichung des ge¬
nannten Zieles momentan noch entgegensteht, ist das fiscalische Interesse. Das
Recht des taxu hat im Jahre 1860 dem Staate 14'/, Millionen Piaster ein¬
gebracht. Die Türkei ist gegenwärtig nicht in der Lage, auf eine solche Ein¬
nahme zu verzichten und deswegen ist auch jedenfalls die gegenwärtige Reform
nicht so umfassend, als man bei diesem Gegenstände hätte erwarten können.
Die Verbesserungen müssen also zunächst auf dem Gebiete der sehr- im Argen
liegenden und den Grundbesitz zu sehr drückenden Finanzverwaltung erfolgen.
Aber schon eine rationell auferlegte Grundsteuer, die gleichmäßig allen Grund
und Boden träfe, würde dem Staate hinreichende Einnahmequellen öffnen, um
auf die jetzigen Domanialeinkünfte verzichten zu können.
Während die obenerwähnten Bestimmungen sich auf Ruralgüter beziehen, be-
trifft das Gesetz über den Wakuf mehr die städtischen Grundstücke.*) Damit
dessen Bestimmungen zur Anwendung kommen, müssen drei vorgeschriebene Be¬
dingungen eintreten:
Trotz dieser Beschränkungen soll das Gesetz aus die meisten Wakufgüter
anwendbar sein ; man hat mir von glaubwürdiger Seite versichert, daß bei 73°/«
der Wakufgüter die obigen Bedingungen eintreten.
Auch dies Gesetz hat nun bei den Wakufs der beschriebenen Art das Erb¬
recht der Verwandten des Detentors erheblich ausgedehnt. Wahren' früher
nur den Kindern ein Erbrecht zustand, so soll jetzt auch den Enkeln, den El¬
tern, den Geschwistern und dem überlebenden Ehegatten ein gleiches Recht ein¬
geräumt sein. Als Entschädigung soll die jährlich zu zahlende Miethe sirmeä-
Lenels) in entsprechender Weise durch ein noch zu erlassendes Specialreglement
vermehrt wenden. Die Berkaufssteuer (3°/<>) bleibt bestehen und die Erbschafts¬
steuer, die 1V«°/» beim ersten Grade betrug, wird bei den weiteren Graden eben¬
falls durch Svecialreglements erweitert werden.
Das Institut der üraKlri dit vetÄ wird auch bei den Wakufgütern aner¬
kannt, dagegen wird in diesem Gesetze nicht gesagt, ob die Wakufgrundstücke
auch für andere Schulden der Besitzer haftbar gemacht werden können.
Die Vergünstigungen des Gesetzes sind facultaliv. Nur der erwirbt sie,
der seinen Titel in der vorgeschriebenen Form mit dem Wakuf erneuert.
Dies sind die hauptsächlichsten Bestimmungen des Wakufgesetzcs. Dasselbe
ist nicht so befriedigend ausgefallen, wie das andere Gesetz. Der Hauptfehler
liegt in der facultativen Anwendung desselben. Wer das Verfahren in der
Türkei kennt, der wird leicht begreifen, daß die meisten Besitzer vorziehen wer¬
den, es beim Alten zu belassen. Die Verhandlungen beim Wakuf sind zu weit¬
läufig, die erforderlichen Trinkgelder zu groß, als daß die Besitzer ihre Nei¬
gung zur Ruhe überwinden sollten. Außerdem hängt aber die Ausführung des
Gesetzes auch noch von dem Erlaß einer Reihe von Reglements ab. Wenn diese
erscheinen werden, ist fraglich, und leicht ist es möglich, daß wie in vielen an
deren Fällen, das ganze Gesetz durch das Ausbleiben dieser nothwendigen Er¬
gänzungen illusorisch wird.
Auch in Betreff der Wakusgüter kann über das schließlich? Ziel der Gesetz¬
gebung ein Zweifel nicht obwalten. Die Moscheen können zwar Privateigen-
thum besitzen, sie können dasselbe auch nutzen, wie sie wollen, der jetzige Zu¬
stand kann aber von dem Staate nicht geduldet werden. Die Erbpachtverhält¬
nisse, die, wie wir gesehen haben, über die ganze Türkei verbreitet sind, sind
für die Entwickelung des Landes entschieden nachtheilig und deshalb müssen sie
in der Weise ausgehoben werben, daß die Erbpächter Eigenthümer werden. Der
Wakuf kann vom Staate, der dadurch das Recht der Besteuerung erhält, ent¬
schädigt werden und dies kann um so leichter geschehen, als das ganze Insti¬
tut verhältnißmäßig so wenig einbringt. Erwägt man dies, so wird man
staunen, daß in dieser Beziehung die Reform sich nicht durchgreifender gestaltet
hat. Das Haupthinderniß, das sich einer sofortigen radicalen Umgestaltung
entgegenstellt, ist ohne Zweifel noch immer der Widerstand der Ulemas. Der
Watus ist ein religiöses Institut und daher würde seine Aufhebung namentlich
von den Alttürken als ein Act gegen die Religion angesehen werden. Dieser
religiöse Widerstand hat ja auch in vielen christlichen Staaten ähnliche Wirkun¬
gen hervorgebracht und daher wird man es verstehen, daß die Türkei bei dieser
Reform so behutsam zu Werke geht.
Wir gehen zum letzten Theil unseres Berichts über: zum Gesetz über den
Grundbesitz der Fremden im linkischer Reiche.
Der Fremde — wustcxzmLQ genannt — konnte sich ursprünglich in die
Türkei nur unter dem Schutze des amar d. h. des sichern Geleites begeben.
Der amau wurde entweder speciell verliehen oder beruhte aus einer diploma¬
tischen Uebereinkunft. Grundsätzlich wurde der Fremde, wenn er ein Jahr in
der Türkei gelebt hatte, als Raja angesehen und der Kopfsteuer unterworfen.
Namentlich trat dies ein, wenn er Land erwarb und dies bearbeitete. Später
sind diese Grundsätze durch Kapitulationen modificirt, es blieb aber das Prin¬
cip bestehen, daß die Fremden nicht Immobilien besitzen dürfen.
Die Fremde, die einen Raja heirathete, wurde türkische Unterthanin. Das
Umgekehrte trat aber nicht ein; die Raja, die einen Fremden heirathete,
behielt ihr Staatsbürgerrecht. Diesen Grundsatz hat die Pforte stets aufrecht
erhalten; sie hat sogar die Konsequenz dieses Princips unumwunden anerkannt
und der Frau des Fremden mit Rücksicht auf das ursprüngliche Unterthanen¬
verhältniß das Recht zugestanden, nicht allein ererbten Grundbesitz zu behalten,
sondern auch neuen zu erwerben. Dieses Recht wurde im Laufe der Zeiten
auf alle Frauen der Europäer ausgedehnt und es wurde nur verlangt, daß sich
dieselben in die Register der Rajas eintragen ließen. Hierdurch und durch
Scheinverkäufe d. h. durch Käufe mittelst eines vorgeschobenen türkischen Un¬
terthans, wurde bewirkt, daß nach und nach tausende von Europäern Besitze
von Grundstücken, namentlich in Constantinopel und Smyrna geworden sind.
Diese Fictionen waren aber immer precär und deshalb war es von jeher ein
Bestreben der fremden Gesandtschaften, den in der Türkei angesiedelten Unter¬
thanen das Recht zu verschaffen, Grundbesitz auf den eigenen Namen zu er¬
werben. Die langen Bemühungen schienen endlich mit Erfolg gekrönt zu wer¬
den,, als im Halt! Huma^our vom 18. Februar 18S6 bestimmt wurde:
„Da die Gesetze, die den Kauf, den Verkauf und den Besitz von Immo¬
bilien regeln, allen türkischen Unterthanen gemeinsam sind, so ist es auch
„den Fremden erlaubt. Immobilien zu besitzen, wenn sie sich den Landes-
„gesetzen und den Localpolizeivorschristen fügen und dieselben Abgaben,
„wie die Eingeborenen, zahlen. Dies soll jedoch erst dann eintreten, wenn
„Vereinbarungen zwischen dem Gouvernement und den fremden Mächten
„stattgefunden haben."
Dies Gesetz blieb indessen 11 Jahre lang unausgeführt. Die Vereinba¬
rungen kamen nicht zu Stande, da die Pforte das Verlangen stellte, die Kapi¬
tulationen aufzuheben oder wenigstens erheblich zu modificiren. Es hätten auch
leicht noch Jahrzehnte vergehen können, ohne daß es zur Ausführung gekommen
wäre, wenn nicht die politischen Verhältnisse des letzten Sommers die Einführung
von Reformen wünschenswerth gemacht hätte.
Ehe wir indessen zur Prüfung des Gesetzes vom 18. Juni 1867 über¬
gehen, ist es nothwendig, mit zwei Worten auf die Stellung zurückzugehen, die
die Europäer in der Türkei in Folge der Capitulationen haben.
Das eigentliche türkische Recht, das Scheriat, fand ursprünglich nur auf
die Muselmänner Anwendung. Den anderen der Pforte unterworfenen Na¬
tionen ist ihr früheres Recht gelassen und es ist namentlich in älterer Zeit
stets der Grundsatz aufgestellt, daß diese Nationen sich durch ihre Nationalbe¬
hörden und nach ihrem eigenen Rechte zu verwalten haben. Später ist dies
Princip mehrfach durchbrochen, aber auch noch heute finden wir es in vielen
Beziehungen gewahrt. Nur in einem Falle trat immereine Ausnahme ein; wenn
ein Muselmann in dieser oder jener Hinsicht bei der Angelegenheit betheiligt
war, so wurde die Sache vor die türkische Behörde gezogen und diese kümmerte
sich um das fremde Recht in keiner Weise.
Dies der türkischen Staatsverfassung eigenthümliche Princip der Nationa¬
lität des Rechts ist auch den Fremden gegenüber in den zwischen der Pforte
und den europäischen Mächten abgeschlossenen Capitulationen anerkannt. Die
wesentlichen Rechte, die den Fremden hiernach zustehen, sind die folgenden:
Diese Bestimmungen, die anfangs dazu dienten, die Fremden vor Eigen¬
mächtigkeiten der türkischen Behörden zu schützen, sind allmählig, bedeutende
Vorrechte geworden. Die Privilegien sind theilweise sogar, namentlich was die
Abgabensreiheit betrifft, für das türkische Reich drückend, und deswegen wird
man bald nicht ablehnen können, in dieser oder jener Hinsicht Modifikationen
der Kapitulationen eintreten zu lassen.
Wie der Grundsatz der Persönlichkeit des Rechts in der Türkei bei der
Menge der vorhandenen Nationen sich hat durchführen lassen, wird in Europa
schwer zu begreifen sein. Darauf näher einzugehen, würde aber hier zu weit
führen und deswegen bemerke ich nur, daß die dem Orient eigenthümliche und
auch in dem Quartiergesetz sich äußerlich darstellende Ra^entrennung die Be¬
rührungspunkte der einzelnen nationalen auf wenige Gebiete beschränkt.
Daß nun die Mobilien als zur Sphäre des Besitzers gehörig nach dessen
Recht beurtheilt werden, ist einleuchtend. Die Anwendung dieses Princips aber
auf Immobilien ist eine Unmöglichkeit.
Solange die Unterthanen des Sultans allein Grundbesitzer waren, machte
die Sache keine Schwierigkeit. Da jede Angelegenheit, die vor türkische Ge¬
richte kam. nach türkischem Recht beurtheilt wurde, und da die Einmischung
dieser Gerichte gesetzlich fast bei jeder Veränderung in Betreff der Immobilien
stattfand, so kam das Scheriat in dieser Beziehung beinahe ausschließlich in
Anwendung. Anders würde die Sache sich aber gestalten, wenn den Fremden der
Besitz der Immobilien mit dem Recht zugestanden würde, auf düselben die Privile¬
gien der Kapitulationen anzuwenden. In diesem Falle würde eine Beseitigung der
fremden Gesetze und namentlich der darauf sich gründenden Rechte dritter Personen
unmöglich sein. Selbst wenn die türkischen Gerichte in diesem oder jenem Specialfalle
bei einem Processe, in dem ein Türke betheiligt wäre, nach dem Scheriat er-
kennen wollten, so würde dies doch wenig helfen, dy.die Execution in das Grund¬
stück und die Subhastation dem fremden Gerichte zusteht und dies dadurch in
die Lage käme, die Rechte der dritten Personen zu schützen. Da nun aber die
fremden Gesetze nicht nur vom Scheriat, sondern auch unter sich erheblich ab¬
weichen, so müßte die Anwendung der Kapitulationen, namentlich bei einem
starken Wechsel des Eigenthums, die ungeheuerlichsten Konsequenzen nach sich
ziehen. Man denke nur, daß ein Grundstück in wenigen Jahren in den Hän¬
den eines Türken, eines Preußen und eines Engländers war, daß während der
Besitzzeit eines jeden Eigenthümers Verpfändungen vorgekommen sind, und man wird
sich ohne Mühe ausmalen können, welche heillose Confusion daraus entstehen
müßte.
Die Türkei hatte schon deswegen vollkommen Recht, den Erwerb des Grund¬
eigenthums nicht freizugeben. Abgesehen von diesen Zweckmäßigkeitsgründen
verbietet aber auch das staatliche Interesse die Anwendung der Kapitulationen
auf den Grundbesitz. Ein Staat kann Wohl einzelne Personen von der Gerichts¬
barkeit eximiren, er kann diese Privilegien allenfalls einer ganzen Classe von
Einwohnern verleihen, er kann aber niemals dies auf alle Grundstücke aus¬
dehnen, die von jener Classe erworben werden. Dadur h würde die Exemtion
jede Grenze verlieren und es könnte kommen, daß in Folge jener Privilegien
ein großer Theil des Staates in fremde Hände überginge und dadurch aus
dem staatlichen Nexus ausschiede. Der Widerstand der Türkei ist daher als voll¬
kommen begründet anzuerkennen.
Sehen wir nun, wie das neue Gesetz sich diesen Schwierigkeiten gegen¬
über verhält.
Dasselbe bestimmt, daß die Fremden berechtigt seien, im ganzen türkischen
Reiche mit Ausnahme des als heiliges Gebiet betrachteten llechar ländliche
und städtische Grundstücke zu erwerben, es fügt aber die Bedingung hinzu, daß
sie sich den für türkische Unterthanen geltenden Gesetzen unterordnen. Dies
wird speciell dahin interpretirt:
Dann folgen Vorschriften über das Verfahren bei Concursen der Fremden,
bei Executionen gegen dieselben :c., Vorschriften, die ganz sachgemäß sind und
bei denen nichts zu erinnern ist. Bemerkenswerth ist dagegen die nächste Be-
Stimmung. Es wird gesagt, daß der Fremde unter Lebenden und von Todes-
wegen über diejenigen Immobilien disponiren darf, bei denen es nach ottoma¬
nischen Rechte statthaft ist, und daß, wenn er nicht disponirt hat. oder nicht
hat disponiren können, die Erbschaft nach ottomanischen Rechte regulirt wird.
Der letzte Paragraph macht die Geltung des Gesetzes davon abhängig, daß
die betreffende Macht, zu der der Fremde gehört, das Gesetz acceptirt hat.
Kein einsichtiger Beurtheiler wird leugnen, daß die hauptsächlichsten Be¬
stimmungen dieses Gesetzes der Natur der Sache entsprechen. Es ist vollkommen
in der Ordnung, daß die den Grundbesitz regelnden Gesetze, die Polizeivor¬
schriften :c. von den zukünftigen Eigenthümern, mögen sie Fremde oder Ein¬
heimische sein, befolgt werden müssen, und es ist ebenso gerechtfertigt, daß alle
Besitzer die gleichen Abgaben zahlen und daß die Processe, die den Grundbesitz
betreffen, von einheimischen Gerichten entschieden werden. Dagegen entstehen
aber die folgenden Bedenken:
1. Das erste untergeordnete Bedenken betrifft die Steuer. Die Türken
kennen den scharfen Unterschied, den wir zwischen Grundsteuer und anderen
Steuern machen, nicht. Sie legen eine Grundsteuer auf. wollen diese aber
gleichzeitig nach der Industrie und dem Handwerk berechnen, das auf dem
Grundstück betrieben wird. Diese Umstände sind schon bei Gelegenheit der
Catastrirungen, die in den letzten Jahren vorgenommen sind, vielfach zur Sprache
gekommen und werden auch bei Durchführung des Gesetzes viele Schwierig¬
keiten bereiten. Man kann indessen zugeben, daß dadurch die Einführung des
Gesetzes nicht unmöglich gemacht wird. Gerade in Betreff der Steuern genie-
ßen die Fremden solche Privilegien, daß sie sehr gut selbst eine etwas hohe
Grundsteuer zahlen können.
2. Viel wichtiger ist das zweite Bedenken, das die hinsichtlich des Erb¬
rechts erlassene Bestimmung betrifft. Nach dem Gesetz soll in Ermangelung
eines Testaments das ottomanische Erbrecht entscheiden und hierunter kann nur
das Erbrecht des geistlichen Rechts, des Scheriats, verstanden werden.
Wenn man auf die bisherigen Verhältnisse zurückblickt, so findet man aller¬
dings so naive Zustände, daß sie einem Europäer kaum begreiflich sind. Bisher
war der Regel nach stets das Erbrecht maßgebend, das der Nation des Erb¬
lassers eigenthümlich war. Gerade die Erbregulirungen wurden fast ausschließlich
von den Gerichten der Nationen bearbeitet und daher kam es, daß in allen
diesen Fällen die Grundsätze des Scheriats nicht angewendet wurden. Gelang
es aber einem der Betheiligten, die Sache vor ein türkisches Gericht zu bringen,
so änderte sich der Fall. Dieses wendete ohne weiteres das ihm allein be¬
kannte Recht, den Scheriat, an und warf die entworfene Regulirung über den
Haufen. Die Anwendung des einen oder des andern Rechtes war mithin eine
Frage der Macht. Es gehörte ein ziemlich großer Einfluß dazu, die Sache vor
das türkische Gericht zu bringen, da es nicht nur galt, dessen Trägheit zu
brechen, sondern auch den Einfluß zu überwinden, den der Vorstand der Nation
besaß. Daß der letztere gewöhnlich alles anwendete, um eine derartige Inter¬
vention zu hindern, lag auf der Hand.
Daß nun die complicirten Bestimmungen des Scheriats für die Fremden
unanwendbar sind, wird jeder begreifen, der sich mit jenen Vorschriften auch
nur ganz oberflächlich beschäftigt. Dies Erbrecht ist nicht nur überaus kontro¬
vers, sondern enthält auch eine Menge Vorschriften, die für die Gegenwart ab¬
solut nicht passen.
Zwei Auswege sind möglich. Entweder bestätigt die Türkei das bisher
geltende! Princip, daß jeder im Reiche verstorbene Erblasser nach dem Recht
seiner Nationalität beerbt wird, und bestimmt, daß die türkischen Gerichte, die
die Jurisdiction über die Grundstücke haben, diese Rechte berücksichtigen, oder
sie muß sich zu einer Revision des bisherigen Rechts entschließen und ein zeit¬
gemäßes Erbrecht einführen. Der letzte Weg wäre entschieden der bessere, da
er die Sache vereinfacht.
3. Das schwerste Bedenken betrifft die Justiz.
Die Justiz ist in der Türkei merkwürdiger Weise ein geistliches Institut.
Der oberste Chef ist der SelroieK ni Islam und die sämmtlichen Richter sind
Geistliche. Das einzige Gesetz, nach welchem gerichtet wird, ist der Koran mit
seinen Auslegungen. Neue Gesetze gelten nur insofern, als sie ihn ergänzen.
Eine Abänderung ist unmöglich. Der Proceß vor seinen Gerichten ist überaus
einfach und naturwüchsig. Das Verfahren ist streng mündlich und dies wird
bis dahin ausgedehnt, daß schriftliche Beweise nicht zugelassen werden. Selbst
eine Proceßvollmacht kann nicht durch Urkunden dargethan werden, es müssen
zwei Zeugen producirt werden, die die Ertheilung der Vollmacht bekunden und
beschwören. Ueberhaupt ist nur der Zeugenbeweis gültig und dabei wird noch
heute streng der Grundsatz festgehalten, daß das Zeugniß des Ungläubigen dem
Gläubigen gegenüber keine beweisende Kraft hat.
Wenn man bedenkt, daß die in jenen Gerichten sitzenden Richter zu den
strengsten Alttürken gehören, so wird man zugestehen, daß es für die Fremden
Äußerst bedenklich ist, diese Gerichtsverfassung unterworfen zu sein.
Jene geistlichen Gerichte waren übrigens stets ein Stein des Anstoßes.
Die fremden Mächte waren immer darauf bedacht, ihre Unterthanen von ihnen
frei zu machen. Dies ist durch die Einsetzung der weltlichen Gerichte, nämlich
der Handelsgerichte und der Polizeigerichte, bewirkt, vor denen gegenwärtig alle
Klagen verhandelt werden, bei denen Fremde betheiligt sind. Diese Gerichte
haben eine durchaus abweichende Gerichtsverfassung, sie entscheiden nach neuen,
dem eoäe Napoleon entlehnten Gesetzen und stehen unter der Controle der
weltlichen Behörden. Auch sie geben zu vielen Klagen Veranlassung, im all-
gemeinen sind sie aber ebenso gut, wie die Gerichte vieler anderer halbcivüisirter
Staaten. Hätte man nun ähnliche Gerichtshöfe für die Jmmobiliarstreitigkeiten
eingesetzt und für dieselben eine besondere Gesetzgebung erlassen, so würde man
dagegen nichts einwenden können. Die Kompetenz der geistlichen Gerichte da¬
gegen und die Anwendung des Scheriats ist ein Unding, das die fremden Re¬
gierungen unmöglich anerkennen können. Diese Gerichtsbarkeit bewirkt in der
That keineswegs die in dem neuen Gesetz als Hauptmotiv angegebene Gleich¬
stellung der Fremden mit den türkischen Unterthanen, sondern sanctionirt die
rechtliche Ungleichheit, in die die Natur des geistlichen Rechts die Fremden
versetzt.
Dies sind die Bedenken, welche das neue Gesetz hervorruft. Sie beweisen,
daß die Principien, von denen die Reform ausgeht, im allgemeinen richtig sind.
Die Letztere bewirkt nur, das? andere Gebrechen, die schon jetzt vorhanden und
fühlbar sind, noch mehr an den Tag treten. Wie in vielen anderen Fällen,
zeigt sich auch hier die Erscheinung, dah es mit einer Reform nicht abgemacht
ist, sondern daß die Verbesserung eines Institutes sofort die Verbesserung einer
Reihe damit im Zusammenhange stehender Institute nothwendig macht.
Der beträchtliche Stimmenzuwachs, den der „Allgemeine deutsche Arbeiter-
Verein" seit dem Frühjahr gewonnen und der ihm ermöglicht hat, mehrere Ab¬
geordnete (wie z. B. sür Elberfeld-Barmer den Herrn I. B. von Schweitzer
und für Lennep-Meldunum den Herrn Dr. irrvä. Reineke) in den Reichstag des
norddeutschen Bundes zusenden, läßt sich durch innerliche und äußerliche Gründe
erklären. Wochenlang andauernder Aufenthalt des Herrn von sa'weitzer in
dem betreffenden Wahlkreis, sein persönliches Auftreten in allen Arbeiterver¬
sammlungen, die Möglichkeit ununterbrochener Communication mit seinen rüh¬
rigen und geschickten Agenten, und die Konsequenz, mit welcher er in allen
Wahlen dieses Jahres unabänderlich der Kandidat derselben Partei war.
wodurch sein Name fast instinctiv das Losungswort der Arbeiter wurde, alles
das.gab dieser Partei bedeutenden Vorsprung. Aber das entschied nicht allein
Die Anhänger des Herrn v. Schweißer gingen mit ganz anderm Pathos ins
Feuer als die Liberalen; handelte sechs für sie lediglich darum, einen Abge¬
ordneten ins Parlament zu senden, von dem sie die Ueberzeugung besaßen,
daß er mit allen Kräften dahin wirken werde, die Rechte und Freiheiten des
Volkes zu wahren und zu befestigen, so versprachen sich die Arbeiter ova der
Wahl ihres Kandidaten ganz andere directe und greifbare Förderung ihrer In¬
teressen, und das sind Zugmittel, die ungleich wirksamer sind, als alle politi¬
sche Ideale. Sie sahen in dieser Wahl die Möglichkeit und den Anfang der
practischen Besserung ihrer socialen Lage, und der mächtige Agitator „Magen
frage" genannt, trieb sie schaarenweise an die Urnen. „Gerechtigkeit für die
große enterbte Masse des Volkes" schloß ein früher zu Gunsten des Herrn
v. Schweißer verbreitetes Flugblatt, — „aller Reichthum, welcher sich in den
Händen der Kapitalisten anhäuft, gehört vom Standpunkt des natürlichen Rech¬
tes den Arbeitern" — schloß eine den Arbeitern des Wahlkreises Elberfeld-
Barmen gewidmete Broschüre, die jenes nunmehrige Mitglied des Reichstags
selbst zum Verfasser hat, — was vermögen die aufrichtigsten Bestrebungen, was
vermögen die herrlichsten Reden für Volksfreiheit dagegen auszurichten?
Das Streben des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins" beruft sich auf
die bekannten Lasalleschen Theorien.
Wenn die herrschende Politik das allgemeine Stimmrecht, das ja
neben den Productiv-Associationen und der Staatshilfe auch unter den Theo¬
rien Lasalles mit fignnrt, als einen gefährlichen Gegner ansah, so mochte sie ihre
guten Gründe dazu haben. Zu diesen guten Gründen aber gehörtnichtdiegewöhnlich
vorangestellte Behauptung: daß das allgemeine Stimmrecht mit der monar¬
chischen Ordnung unvereinbar sei. Das allgemeine Stimmrecht verträgt
sich in der That mit jeder Regierungsform, sogar mit dem baaren Despo¬
tismus, wie das Beispiel des heutigen Frankreich zeigt. Der Aberglaube,
welcher aus dem allgemeinen Stimmrecht einen unantastbaren Götzen macht,
verfällt von Rechtswegen der blutigen Geißel, welche schon der radicale
Proudhon über denselben mit den Worten schwingt: „den König entthront,
haben wir den Plebs auf den Thron gesetzt. Kaum von einem Götzen be¬
freit, trachten wir nur darnach, uns einen andern zu bilden. Wir sind den
Soldaten des Titus ähnlich, welche nach der Einnahme des Tempels nicht von
ihrem Erstaunen zurückkommen konnten, da sie in dem Heiligthum der Juden
weder Statuen noch Ochsen, weder Esel noch Phallus noch Courtisanen fanden!"
Und haben nicht die Wahlen zum deutschen constituirenden Parlamente
gezeigt, wie wenig ohne weiteres im socialistischen Sinne mit dem allgemeinen
directen Wahlrecht durchzusetzen ist? Wie viele deutsche Arbeiter werden denn
aus den Reichstagen und im Zollparlamente sein? In Preußen fällt beim
directen Wahlrecht die ungeheure Mehrheit der Stimmen dem leicht bestimm¬
baren und immer abhängigen ländlichen Proletariat zu, welche sie ohne Be¬
denken im konservativen, ja feudalen Sinne abgeben würde. Es müßte noch
viel Wasser die preußischen Flüsse herunter fließen, bis die Stimmen der städti¬
schen Arbeiter, selbst wenn sie alle unter Lassalles Fahnen ständen, den Ausschlag
geben. Nehmen wir aber einmal an, es hätte sich ein Abgeordnetenhaus ge¬
bildet, dessen Vertreter in großer Majorität von Lasalleschen Principien durch¬
drungen wären und als ihre Hauptaufgabe anerkennten, durch Productivasso-
ciationen der Arbeiter den Unternehmergewinn des Capitals zu beseitigen, so
würde noch immer die Frage sein, ob die Abstimmungen und Entscheidungen die¬
ses Abgeordnetenhauses auch eine auf die Executive wirkende Gewalt aus¬
übten, oder ob die Staatsmacht sich nicht vielmehr start genug und verpflichtet
fühlen würde, diesen Beschlüssen die Wirkung zu versagen. Die Abgeordneten
würden zuerst und ausschließlich für die Geltung ihres verfassungsmäßigen
Rechtes zu kämpfen haben und in dieselben Bahnen gedrängt werden, auf
denen sich die Fortschrittspartei bewegte. Die durch directes Wahlrecht herauf¬
beschworene etwaige „Sta atshilfe" wäre also nichts weniger als ein beque¬
mes oder nur sicheres Mittel zur Reorganisation der Arbeiterverhältnisse.
Sie setzt einen Staat voraus, der geneigt ist, die in Anspruch genommene
Hilfe zu gewähren; ein solcher aber wird durch das allgemeine directe Wahl¬
recht an sich noch keineswegs geschaffen.
Was nun die „Staatshilfe" selbst betrifft, so hatte Herr Lasalle voll¬
kommen Recht, wenn er den Staat die größte Genossenschaft nennt. Der
Staat ist die Association aller seiner Angehörigen und alle haben Rechte und
Pflichten in demselben. Die Pflichten müssen sich nothwendig nach den Rech¬
ten bemessen, welche den Staatsangehörigen zu Theil werden; je größer die
Rechte, desto größer natürlich auch die Pflichten, so will es die Gerechtigkeit.
Weshalb ist nun aber diese große Association da? Soll von Staats¬
wegen jedem Staatsbürger sein Mittagsbrod gekocht und jeder von Staats¬
wegen gefüttert werden, ohne eine Hand oder einen Fuß regen zu müssen?
Ein solcher Gedanke wäre ausführbar, wenn eine gehölige Anzahl Staatsköche
angestellt würde und die nöthige Zahl der Staatsfütterer jeder mit einem
Staatsteller und einem Staatslöffel. In Staatsküchen würde gekocht, das
Feuermatenal würde durch Staatsleute herbeigeschafft werden. Staatsmaurer,
Staatszimmerleute und Staatsdachdecker hätten die nöthigen Gebäude gebaut,
Staatslandwirthe, Staatsgärtner, Staatsfleischer, Staatsbäcker ze. die nöthigen
Fütterungsbedürfnisse besorgt. Bei der Unvermeidlichkeit durststillender Mittel
sind auch Staatsbierbrauer. Staatswinzer nöthig; es dürfen überhaupt in kei-
nem Fache die Staatsbeamten fehlen, also auch keine Staatsschneider noch
Staatsschuhmachcr. keine StaMpntzmacherinnen noch Staatsnäherinnen:c. :c.
Doch wo sind nun endlich die Menschen, denen alle diese Staatsdienst¬
leistungen geschehen sollen? Der Staat besteht ja nur eben aus seinen eige¬
nen Angehörigen; es gibt also nur zwei Möglichkeiten: entweder ein Theil
dieser Staatsangehörigen We sich auf Staatskosten von dem andern Theile be¬
dienen; in diesem Falle, da der Staat so viele Obliegenheiten übernimmt und
für die Dienste Löhne zahlen muß, muß dieser bediente Theil den gesamm-
ten Lohn aufbringen, d, h. er muß in der Form von Steuern so viele
Staatskosten tragen, als zur Bestreitung jener Löhne nöthig sind; — oder es
ist nur die andere Möglichkeit vorhanden, daß jeder Einzelne auf diese
Staatshilfe so weit verzichtet, als er alle Dienste, welche er sich selbst
zu leisten vermag, selbst leistet. Da nun gewiß jeder viel besser selbst weiß,
welche Bedürfnisse und Wünsche er hat und diese individuell so sehr verschieden
sind, so thut jeder zweifelsohne am bester., vom Staate so wenig wie mög¬
lich zu fordern; dann braucht er ihm auch viel weniger zu zahlen, als
im andern Falle.
Betrachten wir aber einmal die practischen Versuche mit Lassalleschen Theo¬
rien. Das classische Land der socialen Experimente ist Frankreich. Nicht erst
seit dem zweiten Kaiserreich, welches das allgemeine directe Wahlrecht schon
lange in Uebung gebracht hat. sodaß die Stimme eines jeden Arbeiters, der
über 21 Jahr alt ist. ebenso viel gilt, wie die eines Fould oder jPereire, ohne
daß darum der französische Arbeiter materiell oder social besser daran wäre,
als der deutsche und ohne daß der gesetzgebende Körper zu Paris den Ange¬
legenheiten und Interessen des Arbeiterstandes eine besondere Aufmerksamkeit
widmete, — schon in den vierziger Jahren hat man dort angefangen, den
„alttestamentlichen Organismus" zu ändern. Louis Bla ne machte den Vor¬
schlag: der Staat solle die großen Industriellen alle expropriiren um ihre Fa¬
briken den vereinigten Arbeitern zur Ausbeutung zu überlassen, und auf diese
Weise nach und nach die ganze Production in seine Hände zu nehmen und
sociale Werkstätten in sämmtlichen Hauptbranchen der Fabrication zu errichten,
in die alle Arbeiter mit gleichem Lohne aufgenommen werben sollten. —
Ebenso wollte Lasalle mit einem Sprunge den Arbeiter am Untcrnehmungs-
lohne theilnehmen lassen. Von den Zwischenstationen, welche das Genossen¬
schaftswesen bietet, mochte er nichts wissen und forderte vom Staate die Ini¬
tiative, daß er wenigstens indireci durch Zinscngarantie den Arbeitern die Ca¬
pitalien und Arbeitsinstrumente zur selbständigen Production schaffe. Das sind
also keineswegs neue Erfindungen; in den National Werkstätten, Lohn-
taxen, Maximalpreisen für Leben funkel, Zinstaxen :c. sind alle
diese Gedanken bereits verwirklicht worden. Denn alle diese Herrlichkeiten haben
den nämlichen theoretischen Ausgangspunkt: verkehrte unnatürliche Zustände
und Verhältnisse durch willkürliche also eben so unnatürliche Einrichtungen zu
ändern, künstlich zu organisiren, wo eine natürliche Organisation bereits vor.
Handen ist, welche aber durch unnatürliches Eingreifen, durch absolutistische
Maßregeln gestört wurde. Gewissermaßen verlangte die französische Februar-
Revolution die Garantie der Arbeit. Der Staat kann aber nur für das Er¬
arbeitete einen bestimmten Schutz leisten, nie aber die Pflicht übernehmen, jeder
Arbeitskraft in der Gesellschaft den entsprechenden Antheil zu verschaffen. Eine
solche der Befugniß und dem Zwecke des Staates widersprechende Verpflichtung
würde die größten Störungen des persönlichen und staatlichen Rechtes nach
sich ziehen, welches das ganze Leben des Menschen, seine geistigen und mate¬
riellen, socialen und individuellen Beziehungen zu seines Gleichen umfaßt, und
deshalb nicht absoluter, sondern bedingter Natur ist. Das materielle und
das geistige Gebiet der Arbeit ergänzen sich gegenseitig, keines kann ohne
das andere bestehen, sie bilden, „ökonomisch betrachtet" die Einheit der Arbeit,
und das Recht des einen ist deshalb auch das Recht des andern. Wenn also
eine Garantie der Arbeit geleistet werden könnte, so müßte sich dieselbe aus
die geistige wie auf die materielle Arbeit erstrecken. Es ist bis jetzt aber z. B.
noch keinem Naturforscher eingefallen, für seine Fähigkeit, gute naturwissenschaft¬
liche Bücher zu schreiben, vom Staate eine Garantie in Anspruch zu nehmen.
Er schreibt sie und das Geschriebene wird vom Staate beschützt, nicht aber das
Talent zum Schreiben. Ebenso wenig hat die ackerbautreibende Classe Garantie
für ihre Arbeit auf dem Felde und in der Tenne gefordert, denn sie weih, daß
diese Arbeit abhängig ist vom Regen und Sonnenschein, vom Wind und
Wetter, über die der Staat das Recht der freien Verfügung zur Zeit noch nicht
besitzt. Nicht also die Arbeit an sich oder die subjective Anlage und Fähigkeit
zur Arbeit, sondern nur die Arbeit als ökonomisches Object von reellem Werth
kann ein Recht auf Schutz und Garantie beanspruchen.
Wenn in der französischen Revolutionszeit und auch neuerlich wieder durch
den Kaiser Napoleon vorgeschrieben wird, daß die Bäcker das Brod nicht
über einen bestimmten Preis hinaus verkaufen dürfen, was ist das anders als
eine Bestimmung: daß der Lohn der Bäcker zu Gunsten der Brodverbraucher ernie¬
drigt werden soll, während die Erfahrung hundertfältig gelehrt hat, daß nur der
freie Verkehr, also das ungehinderte Schwanken durch Nachfrage und Angebot
das allein Nichtige ist.
Wie fast immer Erfahrung und Geschichte geräusch- und oft Nachdrucks-
voller, aber auch weit empfindlicher als alle Theorie die Irrthümer der Men¬
schen an den Pranger stellt, so hat sie auch die unheilvollen Phrasen vom Ga¬
rantierecht in jenem Sinne vor den Blicken der Gegenwart entlarvt. Wie
kläglich ist die practische Consequenz der Garantie der Arbeit, die hochgeprie¬
senen Nationalwerkstätten, dieses kostspielige Experiment unseres Jahrhunderts
gescheitert! Und ist es Zufall oder hat es nicht vielmehr Sinn genug, daß ge-
rate da, wo am Ende des vorigen Jahrhunderts jede von den arbeitenden
Classen geschlossene organische Verbindung als Rest des mittelalterlichen Mo¬
nopolismus ausgehoben und die bürgerliche Gesellschaft in ihre Atome zerlegt
wurde, daß gerade in Frankreich solche verderbliche Wege betreten wurden?
Und haben solche Attentate auf den bestehenden Organismus der Gesellschaft,
wie diese Vermeintlichen Ansprüche der Arbeit an das Recht oder dessen Träger,
den Staat, in ihren Bestrebungen nach Gleichheit bisher zu anderm Ende ge¬
führt als, zum absoluten Regiment? Als die Sorbonne dem Ludwig sagte:
Recht sei alles was von und für den Monarchen geschehe; als der Convent
noch absoluter herrschte als die Ludwige; als Napoleon der Erste unumschränk¬
tester Cäsar wurde, als Louis Philipp Regent ward und die Republikaner die
Macht erhielten, bis endlich Louis Napoleon wieder den Absolutismus auf dem
Scheine des Volkswillens herstellte,--waren es nicht immer dieselben Ten¬
denzen nach gesellschaftlichen Ausgleichungen solcher Art, welche zur Despotie
führten?
Das Capital kann übrigens der Staat nicht hergeben, denn er hat keins;
die Zinsgarantie kann er aber auch nicht geben, denn die Zubuße müßte aus
der Staatskasse erfolgen und diese wird durch die Steuerzahler gefüllt. „Aber
der Staat giebt Zinsgarantie bei Eisenbahnanlagen," sagt Herr Lasalle. Wenn
aber eine Eisenbahn gebaut wird, so geschieht es im Interesse des ganzen
Staates und nicht im Interesse der Kapitalisten. Was übrigens Herr Lasalle
verlangt, ist ebenfalls in Frankreich bereits versucht worden und hat durch das
Ergebniß der dortigen Versuche nicht minder seine vollständige Widerlegung
gefunden. Das Decret der constituirenden Versammlung vom 3. Juli 1848.
wonach ein Credit von drei Millionen Franken eröffnet werden sollte, um die
productiven Associationen zu unterstützen, ist nichts anderes als die
Verwirklichung der Lasalleschen Forderungen! Was waren die Folgen dieses
Decrets? Man kann im voraus nicht wissen, wie hoch bei Associationen der
Unternehmellohn ist. Man kann den Lohn, den wir gewöhnlich Arbeitslohn
nennen, berechnen; der Arbeiter weiß, welche Arbeit er zu leisten hat und ebenso
weiß der Unternehmer, was er zu leisten hat und was ihm das von anderen
Geleistete werth ist, aber er weiß nicht, ob er für seine Producte auch Käufer
findet, ob er sie gleich oder später absetzen wird; er kann nicht wissen, ob nicht
Geschäftsstockungen eintreten, ob nicht ein neuer Artikel, eine neue Erfindung,
eine neue Mode den Werth seiner Producte verringern: ob die Käufer derselben
auch zahlungsfähig bleiben :c., kurz der Unternehmungslohn läßt sich nicht
ausbedingen, er ist der Ueberschuß, der sich zuletzt findet, wenn die Waare ver¬
kauft und das Geld dafür in die Hände des Unternehmers gelangt ist; dann
erst weiß er, was er verdient hat, dann erst kennt er den Lohn seiner Arbeit,
dann erst hört sein Risico auf.
Die,' große Mehrzahl der Gesellschaften, welche einen Antheil an diesem,
dem erwähnten französischen Staatscredit erlangten, sind rasch wieder unter¬
gegangen, nur zwei erfreuten sich eines glücklichen Gedeihens. Sehr viele
aber von den Associationen, welche eben zu jener Zeit entstanden und die gerade
keine Unterstützung vom Staate erhielten, entwickelten sich fort und in schönster
Blüthe. Das ist ein practischer Beweis, daß es nicht die Staatssubvention
ist. welche beim Gelingen der produktiven Associationen entscheidet. Mag auch
zugegeben werden, daß in Frankreich bei der Vertheilung jener drei Millionen
nicht immer die beste Wahl getroffen wurde; allein wo sollen Garantien her¬
genommen werden, daß anderwärts und zu anderen Zeiten glücklicher gewählt
Wird? Und ausgewählt muß werden, denn es ist gar nicht denkbar, daß der
Staat alle an ihn kommende Arbeitergesuche berücksichtigen könnte.
Nun lassen sich andrerseits allerdings Mittel finden, um eine Ausbeutung
des Staates durch unsinnige Anforderungen Einzelner zu verhindern. Aber
schon durch die Entscheidung über zur Unterstützung empfohlene Projecte wäre
den Bevorzugungen und dem Protectionssystem Thür und Thor geöffnet, und
außerdem müßte der Staat auch die Operationen und Geschäfte der einzelnen
Genossenschaften überwachen; er müßte sich vielfach in ihre Organisation, in
ihre innersten Verhältnisse mischen, wenn er vor Mißbräuchen sicher sein wollte.
Denken wir uns nun solche Arbeiter-Associationen allgemein verbreitet, so
hätte schließlich der Staat die ganze Production zu überwachen und zu leiten.
Hiermit ständen wir aber mitten im Socialismus mit seiner Uniformität,
mit seiner Aufhebung der freien individuellen Thätigkeit. Alles müßte nun den
von der höchsten staatlichen Weisheit festgesetzten Regeln unterworfen werden,
alles müßte sich in die von ihr bestimmten Formen zwingen lassen, die er¬
strebte Freiheit für alle wäre in eine Vielregiererei umgewandelt, mit welcher
verglichen die schlimmsten Polizeieinrichtungen unserer Tage wahres Amüsement
wären.
Dies war nun freilich nicht die Absicht Lasalle's; er verlangte ausdrücklich,
daß die arbeitenden Classen alle ihre individuellen Freiheiten bewahren und
zum Staate in keiner andern Beziehung stehen sollten, als daß ihnen
das erforderliche Capital resp, der erforderliche Credit zu ihrer Association ver¬
mittelt werde. Wie dies mit der nothwendigen Oberaufsicht des Staates bei
der Gründung dieser Vereine und mit der nöthigsten Controle ihrer Geschäfts¬
führung zu vereinbaren wäre, bleibt indeß Räthsel.
Zur Kurzweil werfen wir noch einen Blick auf den Begriff der Concurrenz
in dem so geordneten Staate. Wie soll es mit ihr, der Triebfeder alles Er¬
werbs und Fortschritts gehalten werden, wenn die Production in die Hände
von Arbeiter-Associationen gegeben ist, die durch Staats-Jnterven-
tionen die nöthigen Gelder zu ihrer Unternehmung erhalten haben? Soll der
Staat die Concunenz dulden? Soll er einer zweiten Association, die sich
meldet, die Mittel versagen? Darf und kann er aber mehrere sich gegenseitig
bekämpfende Etablissements zugleich unterstützen?
Mit welchem Rechte und nach welcher Norm soll er dem einen verwei¬
gern, was er dem andern gestattet? Dieser Staat, der sich die Aufgabe ge¬
stellt hat. unsere heutigen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten abzuhalten, kann
doch seine Thätigkeit nicht damit beginnen, neue Ungerechtigkeiten zu begehen,
neue Ungleichheiten zu schaffen? Nun denke man sich diese Fabriken, die ein¬
ander gegenseitig Concurrenz machen, von denen aber keine mit ihrem eige¬
nen Gelde wirthschaftet! — Was liegt den Arbeitern an den Capitalien des
Staates und an denen, welche er garantirt hat? Was wir heute so häusig
sehen, wenn zwei Etablissements einander Concurrenz machen, — daß sie
einander gegenseitig so lange unterbieten, bis der schwächere oder gar jeder der
beiden Theile seine Capitalien aufgezehrt hat — das würde und müßte
sich täglich wiederholen. Denn es wäre nicht mehr das eigene Capital,
welches Gefahr läuft, sondern wenn die eine der Gesellschaften unterliegen sollte,
so ist ja immer wieder der Staat da, der einer wieder neu sich bildenden Asso¬
ciation neue Capitalien liefert! Offenbar hat man es hier mit einer Schraube
ohne Ende zu thun. Ein solcher Zustand wäre auf die Dauer vollkommen
unerträglich.
Man sieht also der Staat dürfte die freie Concurrenz der Genossenschaften
nicht dulden. Trotz der Ungerechtigkeit, die der Staat begeht, wenn er nicht
jedem Arbeiter gleiche Rechte einräumt, — trotz der Erleichterung für die Will¬
kür, die dadurch geschaffen wird, daß ein Gesuch von Arbeitern abgewiesen
werden kann, nur weil es vielleicht ein paar Tage später kommt, als das eini¬
ger anderer, — trotz der ^idersinnigkeit, die darin liegt, die Staatsunterstützung
von der Schnelligkeit abhängig zu machen, mit der sie verlangt wurde,---
wird doch der Staat durch die Macht d er V ers ältnisse darauf hingeführt,
in jedem besondern Felde der Production eines jeden Artikels immer nur eine
Fabrik und eine Association mit ihren nöthigen Verzweigungen zu unterstützen.
Dieses bevorzugte Unternehmen würde dann leicht jede Privatconcurrenz besie¬
gen und beseitigen können. Dabei wären wir wieder bei Louis Blanc angelangt,
bei der Vernichtung jeder Concurrenz, bei dem Monopol, dem chinesischen Still¬
stand und der universalen Faulenzerei, aus der höchstens die Wahrnehmung auf¬
rütteln würde, daß eines schönen Morgens alle unsere Märkte von fremden
Fabricaten überschwemmt wären, was zur Pflicht machen würde, zum grasse-
sten Prohibilivsvstem zurückzukehren.
Die Aufhebung der Concurrenz so gut wie die Gestattung derselben würde
also in dem Lasalleschen Staate in gleicher Weise den Ruin des Landes
nach sich ziehen. Wenn ein System aber weder mit Beibehaltung der Cor-
currenz noch ohne dieselbe functioniren kann, so beweist dies eben aufs neue
daß es überhaupt unausfühbar ist.
Das ist nun freilich nichts weniger als eine Neuigkeit, und ich würde An-
stand genommen haben, mich in Ihrem Blatte scheinbar auf Gemeinplätzen zu
tummeln, fehlte nicht so Vielen, denen diese Fragen jeden Tag practisch an
den Leib treten, der Muth, die Konsequenzen zu ziehen. Bei uns am Rheine
empfindet man den Ernst der Arbeiterfrage vielleicht am stärksten. Umsomehr fühlen
wir uns aufgefordert, dazu beizutragen, daß aus der Reihe von Lösungsvorschlägen
wenigstens das ausgeschlossen werde, was mit dem Zauber des innern Wider¬
spruchs begabt in unreifen Köpfen spukt. Man sollte sich gewöhnen, Apostel
und Agitatoren der oveuveleuchteten Doctrinen vom pathologischen Gesichts¬
punkte zu betrachten.
Durch das Rundschreiben Bismarcks vom 7. Septbr. sind die Südstaa¬
ten in eine neue Lage gebracht; in die Freiheit ihres Entschlusses ist ihr
eigenes wie das Schicksal Deutschlands gegeben. So offen als es nur jemals
Cavour gethan, hat Bismarck den Grundsatz der Nationalität aufgestellt. Die
Constituirung eines Volkes ist seine eigene Sache; will das deutsche nur ein¬
mal eins sein, so findet sich auch der Staatsmann, der die Hand dazu bietet,
alles ist hinfort in den Willen der Nation selbst gestellt. Süddeutschland ins- ,
besondere ist gesagt, daß es nur von ihm selbst abhänge, an dem Neubau des
deutschen Staats theilzunehmen, und Frankreich ist der verständliche Wink er¬
theilt, daß Deutschland sich in seiner Constituirung durch keinen Versuch frem¬
der Einmischung stören lassen werde.
Das Rundschreiben war die Erwiederung auf die Salzburgische Zusam¬
menkunft. Diese Provocation, — die stärkste aller bisherigen Provocationen.
mag auch die praktische Folge Null sein, — forderte eine Aeußerung der preußi¬
schen Regierung heraus, die nach beiden Seiten kein Mißverständnis; ließ, we¬
der der Nation noch dem Ausland gegenüber. Es war die Frage, wie sie von
beiden Seiten aufgenommen und beantwortet wurde.
Jeder Tag verstärkt für Frankreich die Nöthigung, endlich aus seinem bis¬
herigen schwanke» zwischen Kriegs- und Friedensschlüssen herauszutreten. Es
kann ihm nicht entgehen, daß durch die Fortdauer der bisherigen Zweideutig¬
keit sein Prästige viel sicherer untergraben wird, als durch rückhaltlose Aner¬
kennung der Thatsachen. Denn wenn es das Rundschreiben von 7. September,
die officiellen Kundgebungen aus Baden, die Adresse des norddeutschen Reichs¬
tags ruhig hinnimmt, ohne doch seine halbdrohende Haltung aufzugeben, so ist
nur die eine Deutung möglich, daß es wohl der Entwicklung der deutschen
Dinge entgegentreten möchte, aber, für den Augenblick wenigstens, doch vor dem
Aeußersten zurückschreckt. Die klare Sprache Bismarcks nicht minder als die
Lage der Geschäfte in Frankreich drängen zu einer Entscheidung. Noch scheint
dieselbe zu dieser Stunde nicht erfolgt. In der That wurde sie erschwert durch
die gleichzeitigen Verwicklungen, die von Rom her sich erhoben.
Es ist ein eigenes Zusammentreffen, daß auch in diesem Augenblick wie¬
der die Bahnen der deutschen und der italienischen Einheitsbewegung aufs
innigste sich berühren und zusammenlaufen. Hier wie dort ein Volk, das vor
dem letzten Ziele seiner staatlichen Entwicklung steche, hier wie dort der dro¬
hende Einspruch einer Macht, die auf zweideutige Verträge gestützt das neue Recht
der Völker nicht anerkennen will, hier wie dort das entschiedene Verlangen, die¬
ser unberechtigten Bevormundung ein für allemal sich zu entziehen. Noch ein¬
mal tritt an Frankreich die Versuchung heran, nach beiden Seiten seine illegi¬
timen Ansprüche aufrecht zu erhalten. Näher noch muß ihm der Gedanke liegen,
durch Nachgiebigkeit nach der einen Seite sich eine starke Position nach der an¬
dern zu verschaffen. Aber auch der dritte, eines großen sich selbst achtenden
Volks allein würdige Weg steht ihm noch offen, der Entschluß, andere Völker
nach ihrem freien Willen ihre inneren Angelegenheiten ordnen zu lassen.
Mit weit größerm Gleichmuth könnte man den Entschließungen Frankreichs
entgegensehen, w.um das Bismcncksche Rundschreiben sofort im Süden den ent¬
sprechenden Wiederhall gefunden hätte. Aber es scheint fast in Frankreich besser
verstanden und gewürdigt worden zu sein, als bei uns. Man hätte denken
sollen, nachdem das nationale Ziel von Preußen so unumwunden aufgestellt
und die Vollendung des Einheitswerkes einzig vom freiwilligen Entgegenkom¬
men des Südens abhängig gemacht ist, müßte die Bewegung vollends unauf¬
haltsam dem Ziele zueilen, jede Drohung ignorirend, jeden Widerstand zermal¬
mend. Allein gerade die Freiheit der Wahl, die dem Süden zugestanden ist,
kommt zunächst den Widerstandsmächten zu gute. Ohne auf die Bevölkerun¬
gen die elektrische Wirkung hervorzubringen, die bei einem Volke andern Tem¬
peraments oder minder entwickelten Localgeists nicht ausgeblieben wäre, ge¬
währt sie den Regierungen die erwünschte Frist, »».belästigt sich in den Rechten
ihrer Souveränität wohnlich einzurichten.
Das scheint, von Baden abgesehen, die Stellung, welche die süddeutschen
Regierungen der neuen Lage gegenüber eingenommen haben. Herr v. Dalwigk,
der schlimmste unter seinen Kollegen, bleibt unbeanstandet auf seinem Posten,
trotzdem der Gras Bismarck schonungslos ihm eine Lection ertheilt hat, die
nicht jeder auf sich sitzen läßt. Fürst Hohenlohe edirt eine neue Auflage sei¬
nes alten Programms, an der wiederum nichts verständlich ist, als der nega¬
tive Theil, und nichts verständlicher, als die Weigerung, in den norddeutschen
Bund zu treten, und die polemische Spitze, die gegen die Tendenzen dieses
Bundes und gegen ein einseitiges Vorgehen Badens gerichtet ist. Daß Herr
v. Varnbüler auf derselben Linie steht, darf man aus guten Gründen annehmen
wenn auch seine Beredtsamkeit vor den Kammern in ein weniger kunstvolles
und weitfaltiges Gewand sich hüllen wird. Die allerhöchste Aeußerung, das
Schutz- und Trutzbündniß und der neue Zollvcreinsvertrag seien das letzte
äußerste Zugeständniß an Preußen, mag authentisch sein oder nicht, die Meinung
der regierenden Kreise dürfte sie ziemlich genau auedrücken. So antworten denn
die süddeutschen Regierungen auf die Einladung, daß ihnen die Pforten des
neuen deutschen Reichs offen stehen, mit einem runden: Wir wollen nicht.
Unter diesen Umständen wäre in der Bevölkerung selbst die Aufbietung
aller Kräfte nöthig, um Preußen, den eigenen Regierungen wie Frankreich gegen¬
über, den festen Willen zu bekunden, vom neuen deutschen Reich nicht aus¬
geschlossen zu sein. Aber zu einer so einmüthigen geschlossenen Gesinnung fehlt
noch viel. Wir stehen hier vor einem Proceß, der erst begonnen hat und der
noch lange nicht erlaubt, reife Früchte zu schütteln. Die Organisation einer
nationalen Partei, die Kundgebungen in Stuttgart, Nürnberg, in Augsburg,
auch der Empfang, der dem König von Preußen in verschiedenen Orten Wür-
tembergs und Bayerns zu Theil geworden ist, das Alles sind Symptome, daß
die Stimmung seit einem Jahr wesentlich zum Bessern sich gewendet hat.
Allein es sind Anfänge. An die Initiative der würtembergischen und auch
der bayrischen Stände zur Forderung des Eintritts in den Bund ist nicht zu
denken. Man muß schon froh sein, wenn die bewußten Verträge die Geneh¬
migung der Kammern erhalten. Noch sind die Intriguen, die namentlich
gegen die Genehmigung des Schutz- und Trutzbündnisses in Würtemberg an¬
gezettelt worden, nicht völlig aussichtslos. Der Gedanke einer Einmischung des
Auslandes, anstatt als eine mit allen Mitteln abzuwendende Schmach in den
Gemüthern zu brennen, läßt die Menge theilnahmlos und erfüllt Radicale und
Ultramontane mit Sehnsucht und Hoffnung.
So steht denn der Süden mit einem Wort noch lange nicht auf der Höhe
des ihm vom Nordbund gemachten Anerbietens. Allerdings darf man ver«
trauen auf die mit der fortschreitenden Befestigung der norddeutschen Bundes¬
einrichtungen wachsende Anziehungskraft des constituirten Staatsorganismus
auf die noch fehlenden atomistisch zersplitterten Theile. Wird durch die Wieder¬
herstellung des Zollvereins und insbesondere durch die Institution des Zoll-
Parlaments für das Bewußtsein der gemeinsamen Interessen ein stetig wirkendes
Organ geschaffen, so werden andrerseits die Früchte der einheitlichen Gesetzgebung
im Nordbund das Volk im Süden zu Parallelen einladen, die für die Vereini¬
gung nur günstig sein können. Schon jetzt fällt der Vergleich der ökonomischen
Verhältnisse entschieden zu Ungunsten des Südens aus. Die nächste Zollvereins-
zählung wird wieder Resultate bringen, die schlecht zu der Mohl'schen Verherr¬
lichung des süddeutschen Eldorado stimmen. In der Folge wird sich noch viel
deutlicher herausstellen, wie es mit den Früchten der norddeutschen Knechtschaft
und der süddeutschen Freiheit beschaffen ist. Die Fortschritte der norddeutschen
Gesetzgebung müssen als eben so viele Schrauben wirken, die an die Autonomie
des Südens angesetzt werden. Es wird auch in Süddeutschland die Erkenntniß
aufdämmern, daß für das wirthschaftliche Wohlergehen und selbst für die po¬
litischen Rechte der Nordbund ganz andere Garantien bietet, als die Selbständig¬
keit des Südens, d. h. sein Ausschluß von dem lebendigen Spiel der wirth¬
schaftlichen und politischen Kräfte der Nation.
Dies Alles wird seine Wirkung ausüben. Aber man wird nicht erwarten
können, daß die Wirkung sich rasch zeige. In der That müssen wir, so lange
das Programm: „Warten bis der Süden freiwillig kommt." stritt ausgeführt
werden soll, uns auf eine lange Uebergangszeit gefaßt machen. Niemand ver¬
mag vorauszusehen, wann — normale Zeitumstände vorausgesetzt einmal der
Zeitpunkt kommen wird, da die süddeutschen Bevölkerungen mit der Wucht ein¬
stimmigen Willens und Entschlusses den Eintritt begehren. Und wer sie darum
gar zu hart beurtheilen wollte, den darf man doch daran erinnern, daß auch
im Norden die bundesstaatliche Einigung nicht durch Uebenedcn oder freiwilliges
Entgegenkommen zu Stande gebracht worden ist. Preußens bundesstaatliches
Programm vom 10. Juni 1866 wäre noch heute ein Programm wie andere,
ohne die darauf gefolgte Action, ohne die Einverleibung der einen und ohne
den mehr oder weniger sanften Druck auf die anderen.
Und wenn man nur sicher wäre, daß dieser Proceß, wenn auch langsam,
doch stetig und ohne Störungen sich vollzieht! Aber der Ukbergangszustcmd ist
nicht nur von unabsehbarer Dauer, er ist auch nicht ohne Gefahren. Eine aus¬
wärtige Verwicklung mag Norden und Süden rascher zusammenschmelzen, aber
in.in gebe sich keiner Täuschung hin, auch das ist bei der geographischen Lage
der Südstaaten noch immer denkbar, daß der Versuch einer Trennung, gemacht
würde. Schon einmal haben zum Theil dieselben Minister, die heute noch re¬
gieren, die freundlichen Dienste Frankreichs angerufen, und noch heute sieht die
würtenbergische Regierung in der preußischen Partei des Landes ihren eigent¬
lichen Feind. Verbissene Demokraten träumen von der Vereinigung mit der
Schweiz und begrüßen im Bund mit den Ultramontanen die französisch-östrei¬
chische Allianz als Rettungsanker für die süddeutsche Freiheit. Ungescheut wird
das Schutz- und Trutzbündniß im Süden als ein werthloses Stück Papier be¬
zeichnet und allgemein ist das Gefühl, daß dieses Band allerdings für sick
allein nicht stark genug ist, die Wiederkehr der Schmach früherer Zeiten un¬
möglich zu machen. Nickt einmal dazu hat es überall 'hingereicht, ungesäumt
die preußische Wehrverfassung einzuführen, wozu es wenigstens die moralische
Verpflichtung insofern enthielt, als seine legale Ausführung ohne diese Vor¬
bedingung gar nicht möglich ist. Und wo denn doch mit der Erhöhung der
Kriegstüchtigkeit Ernst gemacht wurde, hat es nicht an Stimmen gefehlt, welche
öffentlich als den eigentlichen Gegner, gegen welchen Süddeutschland „bis an
die Zähne" sich waffnen müsse, Preußen bezeichneten, und welche die Anspan¬
nung der militärischen Kräfte ausdrücklich nicht mit der Nothwendigkeit des
Zusammenstehens nach außen motivirten. sondern mit der Gefahr einer „uns
etwa nach den Erfahrungen von 186K, wenn auch nur möglicherweise drohenden
Vergewaltigung".
Dies sind nun ^freilich Verirrungen Einzelner, welche die Entwicklung im
ganzen und großen nicht aufhalten können. Allein so lange jene Frist der
freien Wahl dauert, ist doch auch den Agitationen dieser Art Freiheit gesichert
und nicht jegliche Aussicht auf Erfolg abgeschnitten. Für das Ausland zumal
sind sie ein beständiger Vorwand, sich der bedrohten süddeutschen Freiheit anzu¬
nehmen und ehrgeizige Gelüste in das Gewand tugendhafter Entrüstung
zu kleiden. Das Gefühl der Unsicherheit zum mindesten ist unzertrennlich von
dem Wohnen in einem umgebauten Haus. Und wer sich erinnert, wie die süd¬
deutsche Bevölkerung im vorigen J.ihr durch nichtswürdige Verführungskünste
ihre Vernunft gefangen nehmen ließ, muh wünschen, daß die Zeit abgekürzt
werde, innerhalb deren die Wiederkehr ähnlicher Erfahrungen wenigstens mög¬
lich ist. Es liegt im Interesse des Südens wie des Nordens, im Interesse des
allgemeinen Friedens, daß die Zeit der freien Wahl ihr Ende finde.
Und es ist ein Mittel diese Frist abzukürzen. Erwartungsvoll sind in
diesem Moment die Blicke auf Baden gerichtet. Der Norden ist bereit zu
empfangen, Baden ist bereit zu kommen — welche Gründe sind vorhanden, den
entscheidenden Schritt zu verzögern? Der Schlußparagraph der Bundesver¬
fassung erlaubt den Zutritt auch eines einzelnen der Südstaaten; Bismarcks
Rundschreiben und die Adresse des Reichstags erklären einen solchen Schritt
für eine lediglich innere Angelegenheit der deutschen Nation; der unberechtigte
Versuch des bayrischen Veto fordert eine unzweideutige Antwort.
Nach der französischen Seite würde der Zutritt Badens vollends die er-
wünschte Klarheit bringen. Die Ausdehnung des norddeutschen Bundes längs
des Rheins bis an die Schweizergrenze würde Frankreich einen letzten Entschluß
kosten, es wäre die letzte Möglichkeit eines Versuchs, die deutsche Einheit zu
hindern. Die letzte, aber nicht eben die günstigste. Gerade bei Baden wäre
der Vorwand für eine Einmischung schwerer zu finden als bei der Aufnahme
des ganzen Südens. Auch in Frankreich weiß man, daß man Baden gegen¬
über von preußischen Uebergriffen und Eroberungsgelüsten am wenigsten reden
kann. Nicht einmal eine nennenswerthe Minderheit gilt es zu schützen gegen
die Krallen des preußischen Adlers. Es ist der freieste Entschluß, der reine
Ausfluß der Selbstbestimmung, wenn in Baden Fürst. Regierung und Volk in
die dargebotene Rechte einschlägt. Soll uns dann der Handschuh entgegenge¬
schleudert werden, unter günstigeren Umständen und mit besserm Gewissen könn¬
ten wir ihn nicht aufnehmen. Allein, täuscht nicht alles, so ist durch das Bis-
marcksche Rundschreiben, wenn es auch anfangs die Empfindlichkeit unsrer Nach¬
barn reizte, die öffentliche Meinung in Frankreich eher in friedlichem Sinn be¬
stärkt worden. Mit größerm Nachdruck als zur Zeit des Luxemburger Conflicts
hat sich das Friedensbedürfniß und der Friedenswille ausgesprochen. Aus dem
einfachen Ernste der Bismarckschen Worte hat man die Unmöglichkeit heraus¬
gelesen, die Einheit Deutschlands überhaupt noch verhindern zu wollen, und
überrascht wäre man nur dann, wenn diesen Worten die erwartete That nicht
folgte.
Hat aber Frankreich auch diesen weitern Schritt hingenommen wie es die
Ankündigung desselben in den badischen Kundgebungen im Rundschreiben Bis-
marcks und in den berliner Adreßdebatten hingenommen hat, so brauchte uns
wegen der Jsolirung Würtembergs nicht mehr bange zu sein. Es wäre für
die Widerstandskräfte ein Schlag, von dem sie sich nicht mehr erholten. Und
wenn der Fürst Hohenlohe Baden vor einseitigem Vorgehen warnte, so that er
es in dem ganz richtigen Gefühl, daß damit auch sein künstliches Anschlußpro¬
gramm über den Haufen geworfen wäre und der Einheitsproceß unaufhaltsam
vollends die beiden letzten widerstrebenden Staaten anfallen würde.
Die preußische Negierung wird keinen Schritt thun, dessen Tragweite nicht
vorher genau bemessen ist, sie wird auch für den Eintritt Badens umsichtig den
Moment wählen, sie wünscht, daß der Ausbau des deutschen Staats sich im
Frieden vollziehe. Aber am sichersten werden wir dann für den Frieden sorgen,
wenn man uns entschlossen unsere Straße weiter ziehen und furchtlos die Main¬
„Wir wissen selbst nicht, was wir mit uns anfangen sollen." Mit diesem
wunderlichen Bekenntniß beginnt die October-Rundschau der Revue ach äeux
irwirÄes ihre Besprechung der gegenwärtigen europäischen Situation. Wer nur
einige Tage lang französische Octoberluft vom Jahre 1867 einzuathmen Ge¬
legenheit gehabt hat, wird einräumen, daß dieser Ausspruch in der That das
Geheimniß der gegenwärtigen Lage Frankreichs mit merkwürdiger Prägnanz
zusammenfaßt, und daß die Rathlosigkeit, von welcher derselbe Zeugniß ablegt,
dem aufmerksamen wie dem unaufmerksamer Beobachter französischer Zustände
der Gegenwart auf Schritt und Tritt begegnet. Das Verhältniß Frankreichs
zu Deutschland ist begreiflicher Weise der Hauptgegenstand der pariser Berchte,
welche unsere deutschen Zeitungen ausfüllen, und wer ein Journal der Haupt¬
stadt des Westens zur Hand nimmt, sieht dasselbe zunächst darauf an, ob es
freundlich oder feindlich über die Dinge urtheilt, welche sich diesseit des Rheins
vollziehen, ob Krieg oder Frieden die Losung des nächsten Frühjahrs sein werbe.
Und dennoch scheint uns, als habe die Frage nach der Stimmung, welche Frank¬
reich seinen Nachbarn gegenüber hegt, ein blos untergeordnetes Interesse im
Vergleich zu der Frage nach dem Verhältniß der französischen Nation zu sich
selbst. Wohl versteht es sich von selbst, daß dem deutschen Patrioten an Frank¬
reich für den Augenblick nichts wichtiger ist, als sein Verhältniß zu Deutsch
land; die Zeiten sind vorüber, in denen der Deutsche als philosophirender Aller-
weltsmann die Dinge „rein objectiv", von einem „höhern Standpunkt" ansah
und weil er daheim nichts zu verlieren hatte, nicht darnach zu fragen brauchte,
welche seiner eigenen Interessen bei einer Veränderung der Weltlage ins Spiel
kommen könnten. Nichts desto weniger glauben wir, daß die Frage nach Frank¬
reichs nächster Zukunft falsch gestellt ist, wenn man sie in die Alternative:
- »Krieg oder Frieden mit Deutschland" zusammenfaßt. Ein mal läßt sich für
uns von den französischen Zuständen der Gegenwart, auch abgesehen von des
dritten Napoleon nächsten Entschließungen, außerordentlich viel lernen und zwei-
tens wird die Frage, ob Frankreich mit sich selbst Frieden schließen und zur
Ruhe kommen wnd, zugleich dafür entscheidend sein, ob die Adler des zweiten
Kaiserreichs über den Rhein getragen werden oder zu Hause bleiben.
Die Phrase „auswärtiger Krieg oder innere Freiheit" ist unzählige
Male wiederholt worden. Daß diese Alternative so frech und offen aufgestellt
werden konnte, wie es seit den letzten sieben Monaten geschehen, darin liegt
der eigentliche Jammer der gegenwärtigen Lage des französischen Volks. Es
ist wohl auch sonst vorgekommen, daß ein ehrgeiziger Staatsmann die Blicke
seiner Nation von inneren aus äußere Händel abzulenken versuchte, daß er nur
seinen Vertrauten darüber rathschlagte, welcher der genannten beiden Wege am
schnellsten und sichersten zu dem Ziel der Wiederherstellung erschütterter Macht¬
stellung führen werbe: Dafür, daß ein großes Culmrvolk bei Hellem, Achten
Tage darüber discutut, ob es sich durch den Ueberfall eines Nachbarn für den
Maugel eigenen Behagens schadlos hallen solle oder nicht, — dafür wird
schwerlich ern Beispiel aus der neuern ober ältern Geschichte herangezogen
werden können. Die Voraussetzung von Erwägungen dieser Art ist nicht nur
ein tiefer sittlicher Verfall, sondern auch die Etkenntuiß desselben und zugleich die
Einsicht in die Unmöglichkeit einer Wiedergeburt aus eigener Kraft. Sehen
wir näher zu, so werben wir finden, daß die Verzweiflung oder doch
der Zweifel an der eigenen Fähigkeit, ein aus politische Freiheit
gegründetes Staatswesen dauernd zu ertragen, der eigentliche
Grund des tiefen Unbehagens ist, das seit Jahresfrist an dem Mark der fran-
zöfijchen Nation zehrt. Dieser Satz wird sich bestätigen, mag man behufs
einer Orientirung über die gegenwärtige Volksstimmung bei Blättern des Empire
oder der Opposition, bei der l^rauoe, dem lüoustitutioutü und der?atnL oder
bei den Oedirts und dem lewxs anfragen; bekommt man überhaupt eine Ant¬
wort, jo wird diejUbe wenig von dem Forcadeschen Wort verschieden sein, das
wir an die Spitze dieser Betrachtung stellten: ?oliticzMweut, vorig sommss
un xeur/L Hui ne sait xomt pu'it a s, taire.
Fangen wir mit unserer Rundfrage bei den wirtlichen Politikern und zwar
bei den Imperialisten der jlriegspcutei an. Diese, so hat es den Anschein, wissen
allerdings was zu thun ist: sie wollen losschlagen und glauben dadurch alle
inneren Schwierigkeiten zum Schweigen zu bringen. Aus diese Partei wird
aber, wie uns scheint, sehr wenig ankommen. Einmal ist die Menge Derer,
die einen Krieg wollen, durchaus nicht mit der Zahl Jener identisch, die nur
Krieg wollen, und zweitens sind die Knegssrcunde ä Wut xrix die Leute, welche
d>e gegenwärtige Regierung am wenigsten fürchtet. Wer den Kiieg nur will,
um die Schleier im Lande zur Ruhe zu bringen, der beweist dadurch, daß ihm
die Erhaltung des zweiten Empire der letzte Zweck ist, daß er für seine Person
allenfalls auch ohne Krieg mit dem gegenwärtigen Stande der öffentlichen An¬
gelegenheiten zufrieden ist. Die Besorgniß wegen der wachsenden Verstimmung
des Vols gegen die Regierung ist neben der nationalen Eitelkeit das Haupt
motiv zu dem soldatischen Lärm, der in der 6g,2öttL alö I^auee und in Blät¬
tern ähnlicher Farbe geschlagen wird. Die besseren Köpfe unter den Gliedern
der Kriegspartei sehen eine auswärtige Verwickelung blos als Palliativ an
und wollen zu diesem greifen, weil sie sich von anderen Mitteln noch weniger
Effect versprechen und weil sie aus Erfahrung wissen, daß der Ruhm einiger
gewonnenen Schlachten ihre Existenz mindestens auf ein halbes Jahrzehnt weiter
fristet. Die friedlich-liberalen Imperialisten der dynastischen Opposition sehen
weiter; sie verlangen eine Erweiterung der Volksfreiheit, weil sie von dieser
eine dauerndere Unterstützung des herrschenden Systems hoffen, als von einem
Kriege und weil sie den Wankelmuth der Schlachtengöttin fürchten.
Mit dem Glauben an die Möglichkeit einer freiheitlichen Entwickelung ist
es aber auch in diesen Kreisen nicht weit her. Sie erstreben die Freiheit nur
als Mittel zum Zweck. Sie wissen so genau, daß ein wahrhaft parlamentarisches
Regiment über kurz oder lang zu einem Umsturz der bestehenden Ordnung führen
würde, daß ihre Wünsche sich auf das bescheidenste Maß des Erreichbaren be¬
schränken und sich im wesentlichen zufrieden geben, wenn der Volksvertretung
die Möglichkeit geboten wird, künftig compromittirende Mißgriffe von der Art
der mexikanischen Expedition und der Experimente mit dem Oeäit mobilier
zu verhüten. In der Wahl ihrer Mittel von den Männern der Kriegs¬
partei verschieden, sind diese Politiker bezüglich ihrer letzten Zwecke
mit Jenen im Großen und Ganzen einig; auch ihre Politik lebt von der
Hand in den Mund und sieht wenig über den kommenden Morgen hinaus.
Einen wahrhaft gesunden Volkszustand herbeizuführen sind beide Fractionen der
kaiserlichen Anhängerschaft außer Stande, ja sie sehen es auf einen solchen nicht
einmal ab. In ihren Augen ist das Volk eben nichts mehr als ein vielköpfi¬
ges Ungeheuer, das aus irgend welchem Wege zur Ruhe gebracht werden muß,
mit dem sich auf die Dauer aber nichts anfangen läßt und das eigentlich nur
dazu da ist, das herrschende System und das Behagen derer, die sich auf dieses
System gestützt haben, zu erhalten. Der gemeinsame Familienzug beider
Gattungen von „öffentlichen Charakteren" ist eine kalte egoistische Blasirtheit,
die mit allem politischen Idealismus, mit allem Glauben an zu erreichende
sittliche Zwecke längst abgeschlossen hat; die einzelnen Schwärmer, die sich unter
ihnen finden, fühlen entweder das Bedürfniß der Aufregung durch Krieg, Kriegs¬
geschrei und kriegerisch-patriotische Phrasen, oder sie glauben, das Quentchen
Freiheit, das mit dem Imperialismus verträglich ist, werde dazu hinreichen,
em Leben der Nation eine edlere Richtung zu geben und von! den herrschenden
Classen den Koth abzustreifen, der an denselben klebt. Ist in !diesen Kreisen
davon die Rede, „was mit dem französischen Volk anzufangen sei", so lautet
der selbständige Nachsatz „damit das Kaiserthum und seine Freunde im Regiment
bleiben." Davon, mit dem Volk etwas um des Volkes willen anzufangen, denken
beide Fractionen nicht. Ganz anders sieht es bei der Opposition, bei den
Männern aus, welche den gegenwärtigen Zustand als einen Schaden, als ein
sittliches Uebel empfinden. Man hat sich bei uns seit den letzten Debatten im
Oorxs ISgisIaM daran gewöhnt, in den Stimmführern dieser Opposition die
eigentlichen Feinde der deutschen Sache zu sehen und sie als solche zu verurteilen.
Wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß die Verzweifelung an einem fried¬
lichen Ausweg aus dem bestehenden Zustande in Orleanistischen Kreisen vielfach
zu kriegerischen Gelüsten geführt hat. so thäte man doch Unrecht, wollte man
die IKiei'ö, ?avrs und deren auswärtige Politik allein nach ihren Reden
über die deutsche Frage beurtheilen. Man darf nicht vergessen, daß es sich in
diesen Reden nicht sowohl um die deutschen Dinge selbst, als um deren Be¬
handlung durch die französische Negierung handelte, und daß es den Oppositions¬
männern darauf ankam, die Angriffspunkte, welche diese Negierung ihnen ge¬
boten, mochten dieselben diesseit oder jenseit des Rheines liegen, um jeden
Preis auszunutzen. Die Spitze ihrer Angriffe war nicht gegen Preußen, son¬
dern gegen die französischen Förderer der preußischen Sache gerichtet. Während
es sich im imperialistischen Lager bei den Fragen der innern und äußern Po¬
litik mögen sie kriegerisch oder friedlich beleuchtet werden, immer uni darum
handelt, was der gegenwärtigen Regierung frommen könne, während die Aus¬
drücke Frankreich und die französische Nation hier nichts weiter sind, als Euphe¬
mismen für „den Kaiser" und „das Kaiserreich", glauben die Männer der re-
publicanischen und orleanistischen Opposition wirklich noch an das Volk, wel¬
ches sie vertreten, ist es ihnen ernsthaft um Vaterland und Mitbürger zu thun.
Freilich reicht auch dieser Glaube nicht weit. Beide Fractionen, die orleani-
stische wie die republikanische vertreten im Grunde ein und dieselbe Schichte
der Gesellschaft: Die Bourgeoisie. Die eigentliche Demokratie hat sich so voll¬
ständig .ausgewirthschastet, daß hon ihr als einer Partei der Freiheit
kaum mehr die Rede sein kann; in der Gefolgschaft des kaiserl. Vetters ziemlich
zahlreich vertreten, repräsentirt sie eine besondere Spielart des Imperialismus.
Der Bund, den das Kaiserthum mit dem vierten Stande geschlossen und dessen
Unkosten die Bourgeoisie getragen, hat die Franzosen längst darüber belehrt,
was es mit dem souveränen Volk eigentlich auf sich habe. Im Namen der
Masse und des Massenwillens, im Namen der sogenannten arbeitenden Classen
kann die Fahne der Freiheit heute nicht mehr erhoben werden; mag auch hie
und da bis in die Kreise der Ouvriers und ihrer uniformirten Brüder Unzu¬
friedenheit mit einer Negierung gedrungen sein, die sich von Herrn v. Bismarck
übertölpeln ließ und die Schmach der mexicanischen Tragödie herbeiführte
so lange der Baron Hausmann noch abtragen und bauen läßt, wird der Blou¬
senmann schwerlich zur Flinte greifen und bis all die endlosen Häuserreihen,
die abgebrochen werden sollen, durch neue ersetzt sind, kann noch manches Jahr
vergehen. Nicht im Namen der souveränen Masse, die man bisher das Volk
von Paris nannte, wird dem Kaiserthum der Krieg erklärt, sondern im Namen
einer höhern Souveränität, der des Sittengesetzes und der wirklichen frau-
zösischen Volksehre. Das alte Frankreich der fleißigen und ehrbaren Bürger
ist noch nicht ganz untergegangen und was von diesem übriggeblieben, strömt
in immer wachsender Fluth in das Lager der Opposition. Die Unzufrieden¬
heit, welche heute die französischen Staatsmänner aus ihrer Ruhe aufstört und
in ihren weiteren Wirkungen den Frieden des Welttheils gefährdet, ist wesent¬
lich verschieden von jener krampfhaften einer fliegenden Fieberhitze vergleichbaren
Unruhe, welche dem Verbote der Neformbankette folgte; sie ist ihrem Wesen
nach ein tiefgewurzelter sittlicher Unwille über eine Negierung, die von der De¬
moralisation des Volkes lebt. Der angebliche Verlust der europäischen Macht¬
stellung Frankreichs zufolge der preußischen Siege vom Sommer 1866 ist aller¬
dings die Veranlassung zu dem Erwachen des französischen Selbstgefühls gewe¬
sen; fällt aber nicht mit dem Aerger um den Verlust dieses Selbstgefühls
und mit der bloßen Nationaleitelkeit zusammen. — Hat man Gelegen¬
heit mit wirklich gebildeten, sittlich ernsten Franzosen in Berührung zu
kommen, so wird man sich leicht davon überzeugen, daß die glorreiche Erhe¬
bung des deutschen und preußischen Nationalgefühls, das Bild der Con-
centration Deutschlands um eine große, würdige Aufgabe nicht sowohl die fran¬
zösische Eigenliebe und Eitelkeit, als das französische Gewissen ge¬
troffen und die Erinnerung an die besseren Tage wachgerufen hat, deren
dieses Volk sich wohl rühmen darf. Jede Parallele zwischen den Zuständen
diesseit und denen jenseit des Rheins färbt die Stirn des französischen Pa¬
trioten, der sein besseres Theil aus dem Sumpf der neuesten Aera gerettet hat,
mit einer Schamröthe, die auf bloße Eitelkeit zurückzuführen wir nicht den
Muth haben, und an dem Schmerz, mit dem ein namhafter übrigens arti-bis-
marckischer Publicisi der französischen Hauptstadt dem Schreiber dieser Zeilen
dazu Glück wünschte, heute kein Pariser, sondern ein Bewohner norddeutschen
Bundeslandes zu sein, hat sicher ein größerer Theil der Nation Antheil, als
man hüben annimmt und drüben eingesteht. Die Fesselung des Volkswillens
durch eine Staatsform, die nur dem Namen nach vom Absolutismus verschieden
ist, die Vergeudung des Staatsvermögens in nutzlosen Prachtbauten und kost¬
spieligen Expeditionen, die Erstickung aller edleren Regungen des nationalen
Geistes in dem Taumel entwürdigender Orgien, vor allem der Verfall der öf¬
fentlichen Sittlichkeit und die Zerrüttung des Familienlebens sind Schäden,
die in den mittleren Schichten der Gesellschaft seit lange schmerzlich empfunden
wurden: seit der Mantel der französischen Machtstellung von ihnen abgerissen
ist, werden sie öffentlich eingestanden und die oberflächlichste Berührung mit
Pariser Bürgern von altem Schlage oder mit Leuten aus der Provinz reicht
dazu hin, den Fremden, der durch die Straßen von Paris gegangen, mit der
Ueberzeugung zu erfüllen, daß es so nicht mehr lange fortgehen kann, daß ein
Umschwung der Verhältnisse unausbleiblich bevorsteht. Was irgend Empfindung
für die Würdelostgkeit der Gegenwart hat, steuert ius Lager der parlamentari¬
schen Opposition unter die Fahnen der Führer der alt «liberalen Bourgeoisie,
zum guten Theil allerdings weil andere Banner noch nicht aufgepflanzt sind.
Dieser Unwille über die öffentlichen Zuständnisse ist, wie wir gesehen haben, ebenso
moralischer, wie politischer Natur, er erstreckt sich darum bis in Kreise, die sich
sonst um Politik wenig oder gar nicht kümmern.
Wie sich am kaiserlichen Hos und in der imperialistischen Partei der poli¬
tischen Körperschaften zwei Fractionen entgegenstehen, deren eine den Krieg
als geeignetestes Mittel zur Rettung der gegenwärtigen Staatsform empfiehlt,
während die Andere einen von liberalen Concessionen begleiteten Frieden au¬
räth, so geschieht es auch im Heerlager der Opposition, nur zu durchaus an¬
deren Zwecken und in entgegengesetztem Sinn. Daß in diesen Kreisen von
Krieg und Kriegswünschen überhaupt die Rede sein könne, ist aber, wie,uns
scheint, der vollgiltigste Beweis für die Nichtigkeit unseres Satzes, daß die
Franzosen in der That nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Davon,
daß Furcht vor Gefährdung der Grenzen des Reichs oder daß Sympathie für
den deutschen Föderalismus unsere Nachbarn unter die Waffen riefen, davon
kann im Ernst nicht die Rede sein; wo von Freunden oder Feinden des Gou¬
vernements Krieg gewünscht wird, geschieht es ausschließlich aus Gründen der
innern Politik. Der laute Beifall, der die Thiers'schen Kammerreden über die
Verrückung des europäischen Gleichgewichts lohnte, galt nicht sowohl der diplo¬
matischen Weisheit dieses Staatsmanns, dessen altbackene Anschauungen über
auswärtige Politik wesentlich auf eine Verherrlichung des Programms hinaus¬
liefen, mit dem er es vor dreißig Jahren selbst versuchte — als den Stacheln,
welche für die Herren Lavalette und de Moustier eingestreut waren.
Was hat nun der Zustand des französischen Volks- und Staatswesens von
einem Kriege zu gewinnen?
Auf eine französische Niederlage und deren Rückwirkung auf den Volksgeist
zu spekuliren, kommt sicher den wenigsten in den Sinn. Politiker, die die
Niederlage ihrer nächsten Gegner selbst mit dem Preise nationaler Demüthigung
zu erkaufen bereit sind, werden in Deutschland leider vielleicht in größerer Anzahl
vorhanden sein als in Frankreich. Von einem Siege der französischen Waffen
hat Frankreichs Freiheit aber sicher nichts zu gewinnen. Es bleibt mithin nur
die Annahme übrig, die liberalen Kriegsfreunde jenseit des Rheins wollten um
jeden Preis aus der Entwürdigung herauskommen, deren durch Verlust des
äußern Ansehens bewirkte Erkenntniß sie zu Boden drückt, sie hofften durch
Wiederherstellung der nationalen Selbstachtung den Grund zu einem gesundem
bessern Volkszustande zu legen. Nun, der Weg. den sie zu diesem Ziele ein¬
schlagen wollen, ist sicher der kürzeste nicht. Aber es sprechen viele Gründe für
die Annahme, daß Denen, welche auf eine Umgestaltung der französischen Zu-
stände hinarbeiten, an dem kürzesten Wege zu derselben wenig gelegen ist, weil
sie sich die Fähigkeit, ihrerseits das Regiment zu übernehmen, wenigstens für
den Augenblick nicht zuschreiben. So lange es sich um eine Kritik des be¬
stehenden Systems und der Fehler und Mißgriffe desselben handelt, kann die
Opposition der Bourgeoisie aus eine ziemlich allgemeine Unterstützung und auf
einen noch allgemeinern Beifall rechnen; die Fähigkeit, selbst an die Spitze der
Geschäfte zu treten, spricht sie sich weder selbst zu, noch wird sie ihr von anderen
zugesprochen. Die Verantwortung für die Folgen eines Umsturzes der be¬
stehenden Staatsgewalt wird schwerlich auch nur einer der Männer übernehmen
wollen, die heute das Mögliche thun, um Ansehen und Einfluß derselben zu
untergraben. Sieht man sich in den Kreisen derjenigen Franzosen um, die es
mit ihrem Vaterlande und dessen politischer Zukunft ernst nehmen, so wird man
bei aller Verstimmtheit über die Vorgänge in Deutschland nicht viele finden,
die ernsthaft den Krieg wünschen; interpellirt man sie darüber, ob die selbstän¬
dige Constituirung eines großen Volks wirklich seinen Nachbarn für einen
(Zx>,su8 belli gelten könne, so wird man in den meisten Fällen ausweichende
Antworten in der Form allgemeiner Sätze erhalten. Aber noch beschränkter als
die Zahl der Kriegsfreunde ist der Kreis derer, welche sich von der Fortdauer
des Friedens eine wirkliche Wiederherstellung und Begründung der Volksfrei-
heit versprechen.
Die Erinnerungen an das, was man seit den letzten fünfundzwanzig Jahren
erlebt hat, sind noch zu frisch, als daß in dem Lager der Opposition irgend
jemand da wäre, der sich über die Möglichkeit eines freien Staatswesens Illu¬
sionen machen könnte. Neue Talente von wirklicher Bedeutung hat die Bour-
geoiste — und in dieser wurzelt die Opposition — keine aufzuweisen und das
Gewicht der alten Namen, deren sie sich rühmen darf, ist nicht schwer genug,
als daß sich auf diese eine Regierung gründen ließe. Es giebt kein System,
dessen rettende Heilkraft sich auf einen starken Glauben stützen könnte: der
Legitimismus ist ausgelebt und vergessen, und wenn er von dem französischen
Bürgerthum heute anders beurtheilt wird, wie vor vierzig Jahren, so hat er
dennoch keine nennenswerthe Partei hinter sich, die Republik auf volksthümlicher
Grundlage hat zu jenem Bunde des Absolutismus mit den unteren Classen
gefü hre, unter dessen Joch heute die gebildete und anständige Gesellschaft schmachtet
und darf der großen Masse der Bevölkerung nicht ein mal mit Namen genannt
werden. — Es bleibt mithin nur die Möglichkeit des constitutionellen Bürger-
thums übrig. Dieses zählt allerdings eine Anhängerschaft, die in täglichem
Zunehmen begriffen ist und in deren Reihen man die Besten derer findet, die
ein aus Sittlichkeit und Bildung gegründetes Staatsleben für die allein menschen¬
würdige Form politischer Existenz halten; in ihre Lager sammelt sich Alles, was
noch Sinn für Zucht und Ehre übrig hat und den Traditionen jener seins-
lieben und bürgerlichen Tugend und Tüchtigkeit treu geblieben ist, deren sich der
französische Mittelstand einst mit Recht rühmen durfte und deren Vorbilder er
in den Gliedern der Dynastie Louis Philipp's verehrte und zum guten Theil
noch heute verehrt. Daß es mit dem Glauben an die Lebensfähigkeit eines
auf diese Schicht der Gesellschaft gegründeten Systems aber immer noch sehr
schwach bestellt ist, das hat seinen guten Grund. Ihr Sturz steht aus den letzten
Blättern der französischen Volksgeschichte geschrieben, und die zwanzig Jahre,
die seit demselben verstrichen sind, haben die öffentliche Sittlichkeit so tief her¬
untergebracht, den Volksgeist so vollständig von Maß und Selbstbescheidung
entwöhnt, daß eine aus Compromisse gegründete Regierungsform kaum irgendwo
in Europa so geringe Chancen zu haben scheint, als in dem Frankreich des
zweiten December. Zieht man in Erwägung, daß auch das letzte Mittel, um
eine Nation zur Kundgebung ihres Willens und zur Besinnung auf sich selbst
zu bestimmen, jenes Lutkrage umvorsel, welches den Radicalen alter Schule
für das allein zulässige Fundament freiheitlicher Zustände galt, daß auch dieses
verbraucht ist und daß die Freunde der Freiheit und eines auf die Principien
des Rechts und der Moral gegründeten Staatswesens auf niemand weniger
rechnen dürfen, als auf den gemeinen Mann, der längst gelernt hat, daß Brod
und Spiele besser schmecken und ergötzlicher sind, als politische Versammlungen,
— so wird man es durchaus erklärlich finden, wenn der Frage nach dem, was
zunächst aus Frankreich werden soll, starres Schweigen begegnet, mag sie gerichtet
sein an.wen sie wolle. Jenen selbstvertrauenden Leichtsinn, mit welchem man
früher händereibend zuschaute, wenn eine verhaßte Regierung sich zu Grunde
richtete, man findet ihn in dem heutigen Frankreich nicht mehr.
Diese Unsicherheit über die Zukunft ist es, die ein wirklich energisches
Eintreten derOpposition gegen den Krieg und dieKriegsagitation hemmt und lähmt.
Unter dem gegenwärtigen Regime in wahrhaft liberalem Sinne zu reformiren und
das Volk um große erhabene Ziele zu versammeln, hält die Bourgeoisie für unmög¬
lich; mit dem Tage des Sturzes dieses Regimes sieht sie sich aber am Ende ihrer
eignen Weisheit; möge sie greifen, wozu sie wolle, jede Staatsform ist schon
einmal dagewesen und hat sich abgenutzt und zwar bevor die Gesellschaft in
den Zustand ihrer heutigen Zerrüttung gerathen war! Das Geschlecht, welches
sie vorfindet, scheint zu nichts zu brauchen zu sein, die freiheitlichen Institutio¬
nen, welche demselben als Aequivalent für den vermißten Kriegsruhm geboten
werden sollen, haben darum auch für diejenigen, welche sie für sich selbst wohl
zu -benutzen wüßten, wenig Reiz. Anders steht es mit dem Kriege; gerade daß
die Chancen eines solchen sich minder genau berechnen lassen, als die des Frie¬
dens, hat sür diejenigen, welche über den gegenwärtigen Volkszustand nur all'
zu klar sind, etwas Verlockendes. Der Donner der Schlachten kann die gist-
erfüllie Atmosphäre, welche über der Nation liegt, reinigen, unberechenbare
Wandelungen herbeiführen, bessere Elemente innerhalb des gegenwärtigen Sy¬
stems zur Geltung bringen. die Bedrängniß des Vaterlandes kann die ge¬
sunden Kräfte die gegenwärtig schlummern, durch sein Drohen wachrufen — wäh¬
rend die Fortdauer des augenblicklichen Zustandes bietet keinerlei Aussicht auf
Impulse, die zum Umschwung des französischen Lebens führen können.
Eine klare Vorstellung von den Vortheilen, welche ein Krieg der Volksgesundung
bringen soll, findet sich freilich auch in diesen Schichten seiner Anhängerschaft
nicht. Das Hauptargument ist die Ueberzeugung, daß der Frieden noch weniger
zu diesem Ziele führen kann. Wäre die liberale Opposition des Volks und
seiner Fähigkeit zu richtigem Gebrauch der Freiheit und zur Selbstregierung
einigermaßen sicher, sie wollte gewiß von einem Kriege nichts wissen, — die¬
jenigen Glieder, welche einen solchen dennoch Wünschen, — und es sind ihrer
wenige — werden zu diesem Wunsche von der Ueberzeugung gedrängt, daß
unter den gegebenen Verhältnissen mit dem Volk nichts anzufangen sei, auch
wenn ihm ein größeres Maß von Freiheit geboten werde.
Es wird übrig bleiben, nach Stimmung und Willen der zahlreichen Classe
von Leuten zu fragen, welche außerhalb der Parteien und außerhalb aller Be¬
theiligung an den Angelegenheiten des französischen Staats stehend die Dinge
ausschließlich nach ihrer Einwirkung aus ihre persönlichen Interessen beurtheilt.
Hier liegt die Sache ziemlich einfach. Direct gewünscht wird der Krieg von
dem rohen, urtheilslosen Haufen, von den Leuten, die nichts oder wenig zu
verlieren und — wie sie meinen — viel zu gewinnen haben, von den zahl¬
reichen Berufssoldaten der Armee und dem jugendlichen Proletariat und Halb¬
proletariat, an welchem die großen französischen Städte so reich sind. Diese bei
gutem Muth und günstiger Stimmung für das Empire zu erhalten, ist das
Hauptbestreben der Regierung, und fängt diese Krieg an, so geschieht es haupt¬
sächlich diesen Leuten zu Liebe. Die Classe der besitzenden und producirenden
Bürger ist an und für sich friedlich; wenn sie für den Krieg stimmt, so geschieht
es nur, weil sie glaubt, es stehe ihr bloß die Wahl zwischen diesem und einem
gewaltsamen, anarchischen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse offen. Die
bessere Hälfte dieses Theiles der Gesellschaft wird mehr oder weniger mit der
Opposition sympathistrcn und die friedliche Schattirung derselben unterstützen.
Noch hat die Opposition, noch hat der bessere Theil des französischen
Volks sein letztes Wort nicht gesprochen. Faßt dieser zu sich selbst Vertrauen,
nimmt sein Einfluß aus die Massen zu, gewinnen die Versuche zu einer innern
Regeneration der Nation an Intensität und Nachdruck, läßt sich hoffen, daß der
Mittelstand die Macht wieder gewinnt, welche ihm die letzten Jahrzehnte aus
den Händen genommen haben, wissen die Führer Frankreichs wieder, „was sie
mit diesem Volk anfangen sollen", daS zu viel tüchtige Elemente enthält, um
in dem Jammer seines gegenwärtigen Zustandes zu verharren und dessen sitt-
liebe Auferstehung heute noch nicht möglich erscheint — dann wird, wie wir
die Dinge ansehen, der Frieden aufrecht erhalten bleiben. Im entgegengesetzten
Falle kann es den Franzosen nicht erspart bleiben, durch einen blutigen Bankerott
der überkommenen Zustände hindurchzugehen, ehe sie an das andere User, und die
Segnungen eines auf sittlicher Grundlage ruhenden freien Staatswesens ge¬
langen und durch die Waffen des von ihnen angegriffenen deutschen Volks dar¬
über belehrt werden „was sie mit sich selbst anzufangen haben." Für Deutsch¬
land würde diese Eventualität die beschleunigte Erreichung des Ziels bedeuten,
aus welches unsere Nation ein mal unaufhaltsam lossteuert.
Gegen achtzig Männer nennt die Fraction der Nationalliberalen
die Ihren. Von der ersten Bank des linken Centrums nach der Tiefe des
Hauses gerechnet füllt ihre compacte Phalanx das ganze linke Centrum bis
an das sächsische Idiom der Bundesstaatl.-Constitutionellen und der up ewig un-
gedeckten Augustenburgerei der Schleswig-Holsteiner. Und da sich weiter vorn
schon die zersträuten Häupter der freien! Vereinigung zwischen die Nationallibe¬
ralen schieben, wie in einer ordentlichen Gebirgslandschaft die starren freien
Gletscher in das wechselnde Grün, so haben sich dafür die Nationalliberalen
auch auf dem rechten Centrum noch ungefähr zwanzig Sitze vorbehalten. Es
ist ein wohlthuendes und sun unsere parlamentarische Zukunft beruhigendes
Gefühl, sich sagen zu können, daß hier ausnahmsweise die der Anzahl nach
weitaus stärkste Partei nicht die Vertreterin behäbiger Mittelmäßigkeit ist, son¬
dern eine sehr große Zahl bedeutender Talente, mächtiger Redner, staatsmännisch-
klarblickender und durch jahrelangen parlamentarischen Kampf in allen Theilen
Norddeutschlands geschulter Köpfe besitzt. — Gewiß haben Sie oft schon die
alten guten Schlachtenbilder Merians in seinen Chroniken gesehen, wo die
Mannen des Schwedenkrieges in viereckigen Haufen um ihr Fähnlein stehn
und todesmuthig den kaiserlichen Kanonen ins Auge schauen, die der Griffel
des Künstlers unperspectivisch vor ihrer Nase aufgefahren hat. Da stehen die
Führer stets mit schwerer Schärpe und mächtigen stülpen an der Kante des
viereckigen Schlachthaufens. So auch die nationailiberalen Rufer im Streit.
Auf den rechten Eckplätzen des linken Centrums sitzen hintereinander Gras
Schwerin. Forkenbeck, Laster, v. Hennig. v. Unruh, v. Bennigsen. Nebelthau,
Weigel; von ihnen durch den Mittelgang getrennt auf den linken Eckplätzen
des rechten Centrums Rcdecker, Miquöl. Planck, Gmmbrecht, Becker (Oldenburg)
und die beiden Puttkammer, während Braun (Wiesbaden) die scharfe Ecke nach
der äußersten Linken der Partei hin hütet, neben sich Dr. Stephani und
Mofig v. Aehrenfeld. — Dringt man ein in die Vergangenheit der Männer,
so ist das Urtheil nicht übertrieben, daß in dieser Fraction alle politischen, frei¬
heitlichen und nationalen Kämpfe der letzten vierzig Jahre Form und Gestalt
finden. Wie sie die Koryphäen, die jene bewegte Vergangenheit über¬
dauert, in sich vereinigt, so kann als ihr Parteiprincip bezeichnet werden: die
große Les>e dieser Zeiten, die Resultate, die sie erarbeitet, im nationalen Staate
zur Wahrheit zu machen.
Die bekannte Thatsache, daß in den Kleinstaaten unseres Vaterlandes zuerst
und schon bald nach den Freiheitskriegen der Kampf um konstitutionelle Frei¬
heiten entbrannte, findet auch in der Fraction ihren Ausdruck. Die ältesten
unter unseren Liberal-nationalen stritten in jenen Tagen zuerst gegen die dyna¬
stischen Interessen ihrer kleinen Tyrannen und die Fremdherrschaft des deutschen
Bundestags. Voran der alte wackre Bernhardt aus Cassel, der die Bur¬
schenschaft als Marburger Student unbegründete und dann als Erzieher in
Belgien an den gewaltigen Gestalten der Wassergeusen und der reinen Größe
Wilhelms des Schweigers, der glühenden Freiheitsliebe und den weitschauenden
Planen niederländischer Staatsmänner sein politisches Urtheil gebildet hat.
Bei ita und seinen kurhessischen Mitstreitern „Oetker und Nebel¬
thau ist die nationale Gesinnung am höchsten zu achten. Denn wenn irgend
ein „Staat" des norddeutschen Bundes das segensreiche Abhandenkommen eines
widerlichen Kleinfürsten theuer bezahlen müssen, und den Verzicht wirklich be¬
rechtigter Stammeseigcnthümlichkeiten, anerkannter und in schwerem Kampfe
behaupteter Freiheiten der norddeutschen Bundesgemeinschaft bringen, dann ist
es Kurhessen. Und diesen drei Braven, und dem reichgebildctcn, in Handels-
fragcn als erste Autorität geachteten Weigel aus Cassel ist es zu danken, daß
die große Mehrheit des kurhcssischcn Volkes sich durch die trügerischen Stimmen
der Traben und Genossen im Unmuth über die preußische Gleichmacherei nicht
ablocken ließ von dem alten kerndentschen Wesen dieses tapfern Stammes.
Während die drei alten Kämpen gegen die Mißregicrung der entarteten Species
Kurfürst selten das Wort ergreifen, soll Weigel namentlich in den Fractions-
versammlungen sich lebhaft und in durchaus selbständiger klarer Weise an den
Debatten betheiligen. Im Reichstag hat auch er erst wenig gesprochen.
Als Gegenstück dieser Neigung zu dem goldenen Spruche Davids kann
unter den Liberal-nationalen der Bürgermeister der Stadt Harburg, Grun¬
drecht, bezeichnet werden. Er spricht zum Unterschiede von Bismarck auch
wenn er nicht gereizt wird. Die Sprechstatistik dieser Session ist natürlich noch
nicht geschloffen/ aber die des constituirenden Reichstags soll die Thatsache ergeben
haben, daß er und Vincke (zum Unterschied von dem nunmehr endlich'noch
gewählten „Onkel" Vincke) den häusigsten Gebrauch von ihren Stimmmitteln
gemacht haben. Unleugbar steckt noch etwas von der Gemeinschaft mit dem
organischen Professor Ahrens und dem revolutionären Urthum des D. Rauschen¬
blatt in ihm, mit denen gemeinsam er die Göttinger Revolution 1833 in
Scene setzte. Während man im Ganzen von der Partei sagen kann, daß sie
nicht mehr wie beim constituirenden Reichstag an einer Ueberproduction von
Amendements laborire, so sind in dieser Hinsicht die Grundrecht'schen Produc-
tionskräfte noch durchaus im Fluß und machen leider öfters unproductive Kon¬
sumtion von Zeit erforderlich. — Wir sind bei dieser Gelegenheit unmerklich
unter die Vertreter des vormaligen Königreichs Hannover gerathen, dessen
Besitzübergang an die Krone Preußen nun technisch (nach Delbrück) „Erwer¬
bung" genannt wird. Hier müssen wir nun vor anderen die wackeren Kämpfer
gegen das Borries'sche Mißregiment, den Rechtsanwalt Weber von Stade und
Senator Schläger aus Hannover anführen. Der Letztere hat noch nicht im
Haus gesprochen, und selbst nicht, wie ich höre, in der Fraction. Sein Lands¬
mann Weber ist daheim berühmt als Vertheidiger und verdient diesen Ruhm
gewiß, denn er hat sich gegen eine Anklage auf Beleidigung des hannöver'schen
Ministeriums Borries selbst vertheidigt und wurde freigesprochen. Er spricht heftig
und erregt, nicht selten provokatorisch gegen die Linke,' z. B. bei der Debatte über
das Salz'gesctz. Er gilt deshalb bei denen, die noch viel Pietät für die Linke haben,
als kutaur, tsrriblo. Durchaus hervorragend unter den Hannoveranern und der
Partei nickt nur, sondern im ganzen Hause sind Planck, Miguel, Bennigsen; die
Letzteren durch ihre jahrelange systematische Opposition gegen den undeutschen Par-
ticularismus der Welsen so berühmt, daß kein Wort zu ihrem Lobe nöthig
scheint. Leider sind Beide diesmal durch den am 18. September erfolgten
und bis Anfang October ausgedehnten Zusammentritt der hannöver'schen
Provinzialstände den Debatten des Reichstags in diesen Tagen entzogen
gewesen, und Miqusl liegt leider noch jetzt an schwerer Krankheit darnieder.
Bennigsen ist der konstante Fractionsvorsitzende der Partei, Planck zählt zu
den klarsten, ruhigsten und überzeugendsten Rednern des Hauses. Dieselbe
schlagende sachliche Behandlung, die seine Schriften gegen die hannöver'sche
Octroyirungspolitik charakterisirt, getragen von tiefer, wahrer sittlicher Ueber¬
zeugung, tritt in seinen Reden zu Tage. Ihm gebührt das Verdienst, sowohl
bei der Adreßdebatte, als in jener denkwürdigen Sitzung über die Matrikular-
beiträge, wo die nationale Partei die Vorlegung der von der Bundesregierung
mit den kleinen Staaten geschlossenen Nachverträge forderte, weil sonst die zu
deren Gültigkeit nothwendige Beschlußfassung des Reichstags verfassungswidrig
umgangen würde, die Sachlage am erschöpfendsten und klarsten gezeichnet zu
haben. — Die lockende oratorische Gestalt Grundrecht's hat mich zu früh von den
Kurhessen entfernt, von denen noch Dr. Harnier, Obergerichtsanwalt in
Cassel, rühmend zu erwähnen ist wegen seiner ruhigen, beweiskräftigen, wie
mir versichert wird in den Fractionssitzungen, wie in den Commissionen und
Abtheilungen, denen er angehört, hochgeschätzten Klarheit der Rede. Hier soll
er häusig die Ansicht der Majorität bestimmen. Im Reichstag hat er selten
oder nie' gesprochen — ein Beweis mehr für die Wahrheit des Gedanken«,
mit dem wir diese Briefe eröffneten. Wie alle seine Landsleute hat Harnier
den cynischen Despotismus seines Landesherrn am eigenen Leben erfahren.
Als das Ministerium Hassenpflug die Reaction in Kurhessen einleitete, verließ
er freiwillig seinen hohen Posten als Mitglied der Gesetzgebungscommission
und außerordentlicher Referent im Ministerium des Innern, wohin er 1848
berufen worden.
Doch wer hat der Reaction, der von ganz Deutschland in Mecklenburg
bis heutigen Tag ungestörtesten und gewissenlosesten, größere Opfer gebracht
als die beiden Brüder Julius und Moritz Wiggers! Von ihnen gehört
der Aeltere und Erstere zu den Nationalliberalen. Auch er spricht selten im
Reichstag; doch zeugt das ernste, früh gealterte, scharfgeschnittene Gesicht von
dem reichen innern Geistesleben des Mannes. Auch seine Landsleute v. Thüren,
Prosch u. der Nationalökonom Wachenhusen gehören fest zur Fraction. Meistschweig¬
sam sind die Thüringer Gemahl, Fries und der Reuße Bürgermeister Jäger.
Selbst seinem MitreußenSalzmann, dem Humoristen des consti'tuirenden Reichs¬
tags, scheint mit der Regierung der Fürstin Karoline der Gegenstand seiner
Laune heimgegangen. Doch Einen hat uns Thüringen gestellt, der spricht und
schreibt, was Hand und Fuß hat, der auch in dem konstitutionellen Musterstaat
Weimar den sichern Glauben an die Zukunft Deutschlands als Einheits¬
staat sich erworben und in seinen vorjährigen Flugschriften dargelegt hat:
den ordentlichen Professor zu Jena und Oberappellationsgerichtsrath Ende-
mann. Ein noch jugendfrischer Mann, durch vielseitige Beamten- und Ver-
waltungszweige des Staates Kurhessen von 1847—4856. durch die er gegangen,
reich erfahren, als juristischer und nationalökonomischer Schriftsteller und Praktiker
nicht minder geschätzt wie als academischer Lehrer (seit 1862). bekundet er in seiner
Rede zugleich natürlichen Schwung und wissenschaftliche Tiefe. Im Reichstag
hat er sich bei der Debatte über den Laster'schen Antrag auf Aushebung der
Wuchergesetze ausgezeichnet.
Die Hansestädter sitzen, mit einziger Ausnahme des radicalen Tischler¬
meisters Richter aus Hamburg, alle auf den Bänken der nationalen. Das
sind sie auch, so lange man hübsch bei Deutschland im Großen bleibt; aber
bei Gelegenheit der Fractionsdebatten über die Aversa von Hamburg und Bremen
sollen die Vertreter dieser edlen Städte, auch Meyer von Bremen nicht aus¬
genommen, eine gute Portion von dem entfaltet haben, was wir Landratten
mit dem Namen Kirchthurmspolitik bezeichnen. Im Aeußern sind die Hanseaten
feine Leute, Meier aus Bremen die gentlemanlikeste Erscheinung des Hauses,
groß, schlank, mit freundlich lächelndem Angesicht. Sein Feld ist die See, und
wenn ihn sein rastloser Geist auch zum Hütten- und Bergwerksbesitzer gemacht
hat, — vermuthlich unter Gottes sichtlichem, Beistand, so zeigt seine Rede
ihre Force doch nur an solchen Stoffen, wo der Kiel den Pflug vertritt. Da
ist er zu Hause, da eröffnet er mit Klarheit und Wärme uns 'Binnenländlern
den weiten Horizont und die unbemessene Bahn, die der kräftige junge Staat
der deutschen Schifffahrt im Krieg und Frieden gefahrlos und ehrenvoll ge¬
ebnet hat.
Warmen Heilgruß aber schulden diese Blätter den vier Nationalliberalen,
durch deren Wahl Sachsen sich selbst überrascht und geehrt hat. Die Thatsache
ihrer Gegenwart im Reichstage legt heilsame Bresche in die Sonderthümelci
ihrer Laiidöleute, die während der 'ersten Session so auffällig alle Gegensätze
Polnischer Parteistellung in der Nothwehr gegen den großen Staat vereinigte,
Ist in Stephani der stolzen Arbeit eine gediegene hervorragende Kraft gewon¬
nen, in Leistner und Mosig wackere und ernsthafte Strcbcnsgenossen, so hat
der jüngste unter ihnen, Blum, zuerst den Muth bewiesen, deutschen Dcrbsinn
über sächsische Höflichkeit zu stellen.
Geschlossen aber sei diese Reihe außerpreußischer nationaler mit dem flüch¬
tigen Bilde desjenigen unter ihnen, dessen reichbegabtcr Meist und unverwüst¬
liche Arbeitskraft, dessen mächtige Redegabe und Schlagfertigkeit von den Freunden
hochgeschäht, von den Gegnern arg gefürchtet wird: Braun aus Wiesbaden. Er
bat vom Jahre 49 ab seinem Herzog die Reaction herzlich sauer gemacht, von
39 ab wurde die Kammer unter Braun's Führung und Präsidium der Krone
geradezu unausstehlich. Diese tapfere Führerschaft und der lebhafte Antheil,
den Braun seit 1859 an dem Zustandekommen und an der Leitung des voll's-
wirthschaftlichen Congresses halte, verschafften seinem Namen guten Klang durch
ganz Deutschland. Dieses Ansehen ward zugleich mit Recht gegründet auf seine
schriftstellerische Thätigkeit in volkswirtschaftlicher Richtung.' So war er in
allen liberalen Zeitungen Deutschlands gefeiert. Zwiespältig aber ward dies
Urtheil, als Braun im Jahre 1866 unter denen stand, die unverholen die
Annexion an Preußen als das einzige Rettungsmittel für das Herzogthum Nassau
verkündigten, und als diese erfolgt war. die Partei in seinem engern Vater¬
lande führte, welche mit aller Kraft und vollem Herzen sich und ihre Hcimaths-
genossen einzuleben strebte in den neuen großen Staat. Da ward in sämmtlichen
Zeitungen und Zeitschriften, die über die Gewaltherrschaft Preußens und die
Dreitheilung Deutschlands ihren heiligen Zorn ausschütteten und für das „reine
Deutschland" Ströme von Tinte fließen ließen, Braun's Name vor allen anderen
mit radicalen Koth beworfen. Er hat sich seitdem dieser Auszeichnung voll¬
kommen würdig gemacht. Er hat im constituirenden Reichstage wohl von allen
die größten Rcdnertriumphe gefeiert. Er spricht ruhig, langsam, die tiefen
Brusttöne seiner Stimme schwingen sich leicht und ungezwungen in die äußersten
Tiefen des Hauses, durchbrechen mühelos den häusig herausgeforderten Wider¬
spruch der äußersten Rechten und Linken. Wenn Braun spricht, wird man un¬
willkürlich die Enge des Hauses gewahr. Er hat alle Mittel überzeugender
Rhetorik in seiner Gewalt; aber eine seltene Gabe besitzt er obendrein in hohem
Grade, diese, die Lacher auf seine Seite zu ziehen. Sein Witz ist zündend und
scharf, und wehe dem Gegner, den Braun am Schlüsse einer Debatte noch zum
Gegenstand persönlicher Bemerkung macht. Das haben in dieser Session
Reichensperger und Dr. Götz und' neuerlichst Wagener empfindlich erfahren.
Größere Reden hat Braun in dieser Session bei der Adrcßdcbatte und bei der
Verhandlung über die Aushebung der Zinsbeschränkungen unter großem Beifall
gehalten. Seine neueste Flugschrift, die vier Briefe an Jakoby, die zuerst in
diesen Blättern gestanden, wird von den Mitgliedern aller Parteien im Lese¬
zimmer eifrig begehrt. — wenn nur auch ebenso beherzigt!
Gleichsam die Grenzscheide zwischen den Machtgebietcn occidentalen und
slavisch-orientalischen Völkerlebens bildend, zieht sich entlang dem 43° östlicher
Länge ein schmaler Länderstrich, der von Völkersplittern der verschiedensten Art
bewohnt und größtentheils dem russischen Scepter unterworfen, eine eigene Welt
ausmacht, deren vielfach abnorme Verhältnisse in der westlichen Hälfte Europas
fast eben so wenig bekannt sind, als in der östlichen. Den gemeinsamen Fa¬
milienzug dieser Gruppe bildet der aristokratische Charakter ihrer Cultur, der
auf dem Grunde unausgeglichener ethnographischer Gegensätze ruhend, in jeder
der einzelnen Landschaften, die dieses Grenzland bilden, anders geartet und doch
allenthalben derselbe ist. Während wir östlich und westlich von diesem Complex
compacte Völkermassen finden, die zu großen Staaten zusammengeballt das
Bild geschlossener Nationalitäten bieten, tritt uns innerhalb dieses Gebiets der
unausgeglichene Dualismus herrschender und unterworfener Rachen entgegen,
die der Macht eines dritten Volkes unterstellt, der Allwissenheit der Anhänger des
Nationalitätsprincips, Probleme schwierigster, fast unlösbarer Art entgegenstellen.
Im Norden vom weißen Meer, im Süden von den transsylvanischen Alpen
begrenzt, zwischen dem 47 und 39 » östlicher Länge liegend, scheint dieser schmale,
langgestreckte Länderstrich dazu ausersehen, das Schlachtfeld für die Kämpfe zu
bilden, in welchen germanisch-romanisches Culturleben mit slavischem um
die Herrschaft des Wcltihcils ringt, von den einen für das Bollwerk des
Occidentalismus, von den anderen für den Vortrab des zur Weltherrschaft be¬
stimmten Slavenstamms ausgegeben. Drei verschiedene Culturgebiete sind es,
die sich unter diesem Längengrade zu einer Kette zusammenschließen: ein schwe¬
disches, ein deutsches und ein polnisch-litthauischcs, die gemeinsam die West¬
grenze des russischen Reiches bildend unter sich eben so fremd, wie sie durch
historische und ethnographische Eigenthümlichkeiten von dem Stamme ge¬
schieden sind, der sie seinem Staate einverleibt hat. In allen dreien, in
Finnland, wie in Liv-, Est-, Kurland und in Litthauen und Galizien
entbrennt heute ein leidenschaftlich bewegter und doch von dem übrigen Europa
kaum beachteter Streit darüber, ob die Herrschaft dem das Culturelement reprä-
sentirenden, numerisch schwächern Herrscherstamm oder der plebejen Majorität
gebührt, die von jenem empfangen, was sie an Schätzen sittlicher und geistiger
Cultur besitzt. Noch läßt sich nicht absehen, wann die Lösung dieses Streits
eintreten, wem der Sieg zufallen wird, — ja, es darf zweifelhaft erscheinen, wer
den entscheidenden Wahrspruch fällen wird, seit der berufene Richter so entschieden
für den einen der Kämpfer Partei genommen, daß die Appellation an ein hö¬
heres Forum auf die Dauer nicht ausbleiben kann.
Jedes der drei Culturgebiete, von denen hier die Rede ist, hat sein eigenes
Hinterland, auf welches es sich, wenn nicht politisch, so doch geistig und mo¬
ralisch stützt; wie Finnland eine skandinavische, ist Litthauen eine polnische, Liv-
Est-Kurland eine deutsche Colonie. Aber die Beziehungen zwischen Vorposten
und Hauptarmee sind nicht überall die gleichen. Während die Wechselwirkungen
zwischen Mutterland und Colonie, nördlich vom finnischen Meerbusen und süd¬
lich vom Njemen außerordentlich lebhafte sind, die Theilnahme für die Vor¬
gänge in Finnland im Leben Schwedens eine mindestens ebenso große Rolle
spielt, wie das Interesse an Dänemark, während Polen und polnische Litthauer
sich seit Jahrhunderten als ein auf ewig verbundenes Brudervolk ansehen, ist
das alte livländische Ordensland, der Boden, auf dem vier Jahrhunderte lang
deutsches Blut geflossen, um dem heiligen Reiche einen wichtigen Vorposten für
seine nordöstlichen Marken zu erhalten, im Gedächtniß des deutschen Volkes
erloschen, die Erinnerung an die einstige Verbindung der Fürsten dieses Landes
mit den Gcbietigern von Marienburg und den deutschen Kaisern zum Mythus
eingeschrumpft, über welchen wohl noch einzelne Schriftgelehrte Bescheid
wissen, mit dem das Bewußtsein der Nation aber längst nichts mehr zu schaf¬
fen hat. Für den Elsasser, der vergessen hat, daß er jemals etwas anderes als
Franzose gewesen, steigen periodisch noch immer patriotische Phrasen zum Him¬
mel, die „meerumschlungenen" Herzogtümer an der Elbe sind durch Jahrzehnte
Gegenstand eines nationalen Cultus gewesen, das Land, das zwischen der Na-
rowa und dem Njeman liegt und an Sprache, Recht und Glauben seiner Väter
trotz dreihundertjähriger Trennung noch heute mit unerschütterlicher, kampser¬
probter Treue festhält, es ist aus den Reihen des Lebens gestrichen und wird
wenn überhaupt nur noch als „Prügelknabe" berücksichtigt, an welchem der
deutsche Liberalismus gelegentlich seine Fechterkünste übt. — Allerdings haben
die Bewohner der baltischen Küste mit dem Gedanken an eine Wiederherstellung
der seit drei Jahrhunderten zerrissenen Bande, welche sie an das römische Reich
deutscher Nation fesselten, seit unvordenklicher Zeit abgeschlossen, wollen sie heute
nichts anderes sein als treue Bürger des Staates, dem ihre Heimath eingefügt
ist — auf den deutschen Charakter ihres Landes, auf die deutsche Mission, zu
deren Erfüllung sie ausgezogen, haben sie darum nicht verzichtet. Wissen sie
es auch aus tausendfältiger Erfahrung, daß man ihrer im Stammlande ver-
gessen, daß man für ihren Anspruch, Theil zu haben an der Ehre und Bildung
des deutschen Volks kaum ein Lächeln übrig hat, — sie lassen sich nicht irren
und schöpfen aus dem thörichten Glauben an einen historischen Beruf, den man
ihnen längst abgesprochen, auf eine Blutsverwandtschaft, die täglich verleugnet
wird, bis auf diese Stunde das beste Theil der Kraft und Zähigkeit, mit wel¬
chem sie im Kampfe gegen widrige Verhältnisse ausdauern. Die jüngsten Ge¬
schicke, welche das baltische Küstenland erfahren, zählen zu den ernstesten, die
überhaupt an demselben vorübergegangen; vielleicht, daß sie dem „verlorenen
Posten" das verwirkte Anrecht auf die Theilnahme der Stammesgenossen wie¬
dergeben, die eben jetzt der stolzesten Zukunft freudig entgegengehen und von
denen nichts weiter verlangt wird, als daß sie ein ermuthigendes Wort, eine
flüchtige Erinnerung übrig haben, für die versprengten Brüder, deren Thorheit
auf diese Zeugnisse einstiger Zusammengehörigkeit ein Gewicht legt, das außer
Verhältniß zu dem wirklichen Werth derselben steht.
Die Liv-, Est- und Kurländer sind bekanntlich nicht identisch mit den
Deutschen, welche das russische Reich bewohnen, ob sie sichs gleich gefallen lassen
müssen, mit diesen identificirt oder doch zusammengeworfen zu werden. Wenn
sie von ihrem Existenzrecht reden, so geschieht es auch in Deutschland häusig
genug, daß dieses für einen Anspruch auf die deutsche Herrschaft in Rußland
gehalten wird. Und doch ist in Wahrheit von einem solchen ebenso wenig die
Rede, wie von schwedischen oder polnischen Prätensionen auf das Regiment im
weiten Slavenreich. Um festzustellen, worum es sich eigentlich in jenem Kampf
zwischen dem baltischen Deutschthum und der russischen Democratie handelt,
dessen Gerücht in den letzten Tagen über das Meer gedrungen ist, sei ein flüch¬
tiger Abriß der siebenhundertjährigen Geschichte des Ostseelandes an den Ein¬
gang dieser Blätter gestellt, die ein Bild aufrollen sollen von dem deutschen
Colonialleben an den Usern der Dura, des Einband und der Narova.
Die baltischen Provinzen des russischen Reichs, Liv-, Est- und Kurland,
Während des Mittelalters gewöhnlich mit dem Collectivnamen Livland bezeich¬
net, bildeten vom dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhundert einen Föderativstaat
der den römisch-deutschen Kaiser und den Papst als seine höchsten Oberherren
anerkannte. Im Jahre 1159 durch Bremer Kaufleute für den Westen Europas
neu entdeckt, wurde die baltische Küste bald der Sammelplatz deutsche;' Ritter,
Priester und Kaufleute, deren Zahl zufolge des religiösen Eifers, mit welchem
ihre Erobcrungs- und Missionspläne in Deutschland unterstützt wurden, so
rasch zunahm, daß die Ureinwohner dieses Landes, Ehlen, Letten, Kuren und
Liven,, die Fremdlinge bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts als Landes-
Herren anerkennen mußten. Der eigentliche Gründer dieses jungen, rasch empor¬
wachsenden Staats, war der Bischof Albrecht von Buxhövdcn, der Gründer
Rigas (1202), ein Kirchenfürst von hoher Weisheit, starkem Willen und sittlich¬
ernstem Streben, der die verstreuten, fast zusammenhangslosen Einwanderer¬
gruppen zuerst in ein Ganzes zusammenzufügen wußte. Fünf Bisthümer, Riga.
Dorpat, Oesel, Kurland und Semgallen und der Orden der livländischen
Schwertbrüder theilen sich in die Herrschaft des Landes, dessen Besitz sie in
schweren, beinahe ununterbrochenen Kämpfen mit den Urbewohnern, mit Russen,
Litthauern und an der Südküste des finnischen Meerbusens gekanteten Dänen
nur mühsam behaupten. Zugleich dem Christenthum und dem Joch harter
Leibeigenschaft unterworfen, sind die Letten und Ehlen bemüht, durch immer
neue blutige Aufstände die verlorene Freiheit wieder zu erringen, aber ihre
wilde Tapferkeit vermag nichts gegen die geregelte Kriegskunst der eisengepan¬
zerten Sachsen (so werden, die Einwanderer von den Besiegten genannt) aus¬
zurichten und das Ende jedes dieser Versuche ist die Verstärkung des Drucks,
der nach den Anschauungen der Zeit, das gute Recht der Sieger ist. Aber
schon während der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts hören die Zuzüge
aus dem Stammlande aus und als die Macht der kratermtg.8 wilitiae Olrristi
durch eine gegen die von Süden andrängenden Litthauer verlorene Schlacht
gebrochen ist, sehen die Ueberbleibsel derselben sich gezwungen, den auf Veran¬
lassung des Herzogs Conrad von Masovien nach Ostpreußen gezogenen Orden
der deutschen Herren zu Hilfe zu rufen. Nach langwierigen Verhandlungen
kommt unter Mitwirkung Gregors IX. die gewünschte Vereinigung beider Or¬
den im Jahre 1237 zu Viterbo zu Stande; ein neuer livländischer Zweig des
deutschen Ordens wird begründet, über welchem ein Magister xi-ovineialis, den
anfangs die gesammte Brüderschaft, später das livländische Provinzialcapitel
wählt, — das Regiment führt. Die deutsche Kolonie am rigaschen Meerbusen
ist von dem ihr drohenden Untergang gerettet, aber nur um den Preis eines
verhängnißvollen politischen Fehlers, der die Saat unauslöschlicher Zwietracht
und schließlichen Verderbens in die Furchen der jungen Pflanzung streut. Der
deutsche Hochmeister (so wurde 1237 festgestellt) nahm als Erbe des Kreuzritter-
ordens die livländischen Ordenslande von dem (1233 zum Erzbischof erhobenen)
Bischof von Riga zum Lehen — ein Verhältniß dessen Unnatürlichkeit aufs
schroffste ins Auge fällt, wenn man die gewaltige Macht des Ordens und die
Schwäche des Bischofs und seiner Brüder, der Bischöfe von Oesel, Dorpat,
Kurland, später auch Reval in Betracht zieht, die sich ausschließlich auf ihre
wenig zahlreichen und dazu ungefügigen Vasallen stützten. In der preußischen
Provinz desselben Ordens fand das umgekehrte Verhältniß zwischen den Macht¬
habern statt, denn die Bischöfe von Kulm, Samland und Ermeland standen in
Abhängigkeit vom Orden und besaßen nur ein Drittheil des Landes; bis zu
Vollkommenster Widersinnigkeit mußten sich die Beziehungen zwischen Orden
und Bischöfen endlich steigern, als Preußen und Livland zu einer Eparchie
verbunden und dem rigaschen Erzbischof unterstellt wurden, der auf diese Weise
in Livland der Lehnsherr, in Preußen der Vasall des Ordens war.
In dem ersten Jahrhundert livländischen Lebens ruhte die Gewalt fast
ausschließlich in den Händen der Landesherren; bald aber und ganz besonders
wegen der Händel, in welchen diese ihre Macht aufrieben, erwuchs der adelige
Vasallenstand und neben diesem das Bürgerthum der größeren Städte zu einer
Macht, die nicht länger von der Mitregierung ausgeschlossen werden konnte.
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts schlossen sich die Vasallen der einzelnen
Territorien genossenschaftlich aneinander und kurze Zeit darauf sind sie Land¬
stände und beschicken die Landtage, auf welchen die Bischöfe und Ordensgebie-
tiger, ihre Lehnsherren, die gemeinsamen Angelegenheiten des Bundesstaats
berathen. Dieser genossenschaftliche Geist war ein Erbtheildas die Eroberer
Livlands aus der Heimath mitgebracht hatten und dessen gewaltige inner«
Kraft alle gleichzeitigen staatlichen Bildungen überleben sollte, um noch heute
die Grundlage des baltischen öffentlichen Lebens zu bilden. Zuerst in Estland,
der vom Orden im Jahre 1347 angekauften Kolonie Dänemarks, gelangte der
Vasallenstand zu Macht und Einfluß, den er dem ohnmächtigen, mit steten Ver¬
legenheiten kämpfenden dänischen Königthum abzuringen wußte, seinem Beispiel
folgten die Ritterschaften der bischöflichen Lande, der geistliche Regenten zur
Aussechtung ihrer Händel mit dem Orden dringend der Vasallenhilfe bedürftig
waren, der Orden selbst war mächtig und kriegerisch genug, um seine Lehns¬
leute entbehren zu können, die erst später der Privilegien theilhaftig wurden,
deren sich ihre Mitbrüder in den bischöflichen Landen schon seit Jahrzehnten er¬
freut hatten.
Auf eine Darstellung der unseligen brudermörderischer Kämpfe, in welchen
Bisthümer und Orden ihr Herzblut und ihre beste Kraft ausströmten, können
wir hier ebenso wenig eingehen, wie auf die Frage, auf welcher Seite das
Recht gestanden; berührt sei nur, daß das baltische Bürgerthum sich noch heute
als den Erben des episcopalen Princips ansteht, während die Ritterschaften für
die Repräsentanten der Ideen des Ordens gelten, dem nicht abgesprochen wer¬
den kann, daß er an einem wichtigen politischen Gedanken, zu allen Zeiten
unbeugsam festgehalten hat, —- dem der nothwendigen Einheit der baltischen
Territorien und der Solidarität ihrer Interessen. Seinem Wesen nach war
dieser Bürgerkrieg, der die entfernteste Colonie des deutschen Reichs Jahrhun¬
derte lang verwüstete, ein Wiederspiel des Niesenkampfes, der um dieselbe Zeit
am Fuß der Alpen die Welt erschütterte — die Gegensätze zwischen Kaiser und
Papstthum wurden unter anderen Namen auch an den Niederungen der Dura,
des Einband und der heiligen Aa ausgefochten. Kann der Orden auch nicht
als direkter Repräsentant des Kaisertums angesehen werden, so ist er in Liv-
land doch der Vertreter der weltlichen Macht gewesen, sein Ansehen stützte sich
vorzüglich auf den Kaiser, von diesem stammten seine Privilegien, von diesem
die reichsfürstliche Würde des Hochmeisters — auf den Kaiser beriefen sich die
deutschen Herren, wenn der Erzbischof mit päpstlichen Bullen drohte. Das
schließliche Resultat siel zu Gunsten des Ordens aus; seine Landmeister (so hießen
die livl. Provincialstatthalter des Großmeisters) warfen sich allmählich zu Herren
des gesammten Landes auf, nachdem mehrere der ausgezeichnetsten unter ihnen,
wie Eberhard v. Monheim, Conrad v. Vietinghof, Berndt v. d. Borch den
Erzbischof und seine Bundesgenossin, das stolze Riga gedemüthigt hatten. Von
einer Oberherrlichkeit des Erzbischofs über den Orden, war schon am Ende des
14. Jahrhunderts kaum mehr die Rede, 1431 mußte die crzstiftische Geistlichkeit-
das Habit des Ordens anlegen, 1462 wurde der Heermeister (äomirius maZi-
Lter) als Mitregent von Riga anerkannt, 1481 sogar aä interim mit dem Erzstift
belehnt und als der große Walter von Plettenberg, der dem Lande nach glänt
zarten Siegen über den „Erbfeind", den „Muslowiter" die bis dazu unbekannten
Segnungen eines 60jährigen Friedens schenkte und vom Kaiser zum Reichsfürsten
ernannt wurde, war er der anerkannte Schirmherr und Regent des gesammten
Landes, xrineexs et. xroteewi- I^ivomatz; die Kämpfe die unter ihm beschlossen
wurden, hatten dazu geführt, in Bezug auf die Centralregierung die Macht des
Ordens, in Bezug auf die Territorialverhältnisse den Einfluß der Vasallen zu
Vergrößern.
Dieser Sieg den der Orden erfochten, war aber nicht vollständig genug
gewesen, um die Gegensätze, welche den Kampf hervorgerufen hatten, auszu¬
söhnen, oder in einer höhern Einheit auszulösen. Unter der Asche glimmte
der alte Hader weiter und das Bild der Zerrissenheit, welches Gesammtlivland
am Eingang des 16. Jahrhunderts bot, fand sich getreulich in jedem der ein¬
zelnen Territorien wieder. Der Bischof haderte mit seinem Capitel, dieses mit
den Vasallen; dem Meister machten der Trotz, die Unbändigkeit und Sitten-
losigkeit der durch stete Kämpfe verwilderten Ordensritter Noth, die Städte ins¬
besondere Dorpat und das stolz aufstrebende Riga suchten von den Händeln
ihrer Beherrscher für die eigene Selbständigkeit möglichsten Vortheil zu ziehen
und hätten am liebsten keine andere Oberherrlichkeit anerkannt, als die des
Hansabundes, dem sie längst beigetreten waren. Allenthalben überwucherte der
ständische oder territoriale Particularismus, das Bewußtsein der Interessensoli-
darität, dieselbe deutsche Krankheit, welche die Macht und Größe des Mutter¬
landes zerstört hatte, wüthete in den Eingeweiden der nordischen Colonie. Bei
der ungeheuern Entfernung von den Mittelpunkten der Cultur und der Ohn¬
macht des Reichsregiments konnte von einem sittigenden Einfluß dieses, nicht
die Rede sein. Wohl erwuchsen die Städte, deren man in dem eigentlichen
Livland allein sechzig zählte, unter Wellenbergs Friedensscepter zu üppiger
Blüthe, wohl tobte die unbändige Lebenslust und sinnliche Frische der Coloni-
sten in endlosen Festen, deren Wüstheit alles überbot, was die wilde Genu߬
sucht der damaligen Zeit kannte, aber das Herz des Landes war todtirank. Zu
vollster Schroffheit ausgebildet, verhinderte das Feudalsystem jode gesunde staat¬
liche Entwickelung; indessen Russen, Schweden, Polen und Litthauer kampfge¬
rüstet und eroberungslustig vor den Thoren des Landes standen, vcrbrauste die
Kraft der Söhne desselben in wüstem Genuß und endlosem Hader; jedes Mannes
Hand war gegen die des Nachbarn und allein die mächtige Heldengestalt des
Meisters bildete einen Mittelpunkt für die widerstreitenden Interessen. Mit ihm
sank auch der alte, innerlich ausgehöhlte Bundesstaat ins Grab. Als die durch
Tegetmeyer und Knöpken rasch verbreitete Reformation siegreich ins Land ge¬
drungen war und den Fortbestand der alten Lebensformen unmöglich gemacht
hatte, war es allein Plettenberg gewesen, der ihre zerstörende Kraft zu bän¬
digenvermochte, über seinem Grabe aberbrach das morsche Gebäude krachend zu¬
sammen. Ihre wichtigste Aufgabe hatte die hcermeisterliche Zeit (mit diesem
Ausdrucke wird in Livland herkömmlich die Unabhängigkeitsperiode bezeichnet)
ungelöst gelassen; der Stolz der Kolonisten, der sich an dem thörichten Bewußt¬
sein sonnte, daß auf baltischer Erde die Begriffe „Herr" und „Deutscher" iden¬
tisch seien, hatte vor der Germanisation der Ureinwohner des Landes zurückge¬
scheut, diese ihrer alten Barbarei überlassen und auf die tiefste Stufe mensch¬
lichen Daseins herabgedrückt. In dumpfer Verzweiflung trug der träge, apa¬
thische Leite das Joch strenger Leibeigenschaft, das ihm die Eroberer, päpstlichen
Bullen und kaiserlichen Decreten zum Trotz aufgebürdet hatten, während der
störrische Trotz des Ehlen zähneknirschend an den Ketten rüttelte, in welche 'ihn
der Sieger geschlagen. Das stolze Gebäude an der Ostsee war auf schwanken¬
den Grund gebaut, und was die Ahnherren zu thun unterlassen, konnten die
Enkel nicht mehr oder doch nicht rechtzeitig nachholen.
Neben der Reformation war der Einfall eines von Iwan dem Schrecklichen
nach Livland gesandten russisch-tartarischen Heeres die äußere Veranlassung zum
Zusammensturz der alten Verhältnisse. Bald war die gesammte nördliche Hälfte
des Landes in den Händen des furchtbaren Feindes. Es war kein gewöhnlicher
Krieg den die Livländer gegen die Tatarenhorden zu führen hatten, welche der
furchtbare Zcrar zur Unterwerfung des wehrlosen Landes ausgesandt hatte; nicht
dem 30jährigen Kriege, allein jenen Mongolenüberschwemmungen kann er ver¬
glichen werden, welche unter Tschinginschan die uralte Cultur blühender mittel¬
asiatischer Länder bis auf die Spur ausgerottet, und so furchtbar gehaust hatten,
daß ein Menschenalter lang nur Trümmer und Leichenhaufen den Weg bezeich¬
nen, welchen die Barbaren genommen. Bis heute hat die Bevölkerungsziffer
Livland nicht wieder die Höhe erreicht, welche sie vor jenem Einfall besessen.
von den sechzig Städten des Landes, war am Ausgang des 16. Jahrhunderts
kaum ein Dutzend übrig geblieben, das in der Folge bis aus neun herabsanf.
Gegen die Uebermacht dieses Feindes wäre kein Widerstand möglich gewesen,
auch wenn dieser nicht schon von vornherein durch die Ueppigkeit und Entsitt¬
lichung der zur Vertheidigung Berufenen gebrochen worden wäre. Gleichzeitig
mit den Russen drangen schwedische und Polnische Heere über die Grenzen des
alten Ordenslandes, es fragte sich nur noch, welchem der Eindringlinge man
sich unterwerfen sollte. Vergebens wandten die schwerbcdrohtcn Landesherren
sich mit verzweifelten Bitten an das Reich, Kaiser Ferdinand I., zugleich von
widerspenstigen Reichsfürsten und eroberungslustigen Türken bedrängt, war taub
für den Hilferuf der Livländer; das Schreiben, mit welchem er auf Andringen
des Reichstags von Augsburg einen „Hatschier" an den Zaaren absandte (1559)
blieb ebenso wirkungslos, wie eine später angeordnete nicht einmal in Angriff
genommene „Neichsexecution" — es schien, man wollte den Livländern den Ab¬
schied vom Reiche nicht all zu schwer machen. In dieser Noth und von aller
Welt verlassen wandten der Ordensmeister Gotthard Kettler und der Erzbischof
von Riga ihre Blicke auf den König Sigismund August von Polen; sie ver¬
pfändeten ihm gegen die Summe von 160,000 Gulden einen bedeutenden Theil
ihrer Territorien; der Herzog Magnus von Holstein, der sich in der Folge als
livländischer Schattenkönig unter russischen Schutz stellte, kaufte gleichzeitig die
Stifte Oesel, Kurland und Neval. Da er aber außer Stande war, dem durch
die Russen hartbedrängten Estland irgend welche Hilfe zu gewähren, unterwarf
die Stadt Reval sich am 4. Juli 1561 dem König Erich von Schweden; ihrem
Beispiele folgten wenig später die vereinigten cstländischen Ritterschaften von
Harnen, Wierland, Jerwen und Allentaken. Diese Unterwerfung Estlands
unter ein fremdes Scepter war das Signal zu einer vollständigen Zerstückelung
des livländischen Staatenbundes. König Sigismund August von Polen unter¬
warf sich im November 1561 das südliche Livland, (Dorpat blieb bis 1582 in
russischen Händen) Kurland wurde unter Kettler ein polnisches Lehnsherzogthum,
nur die Stadt Riga wahrte noch zwanzig Jahre lang ihre Selbständigkeit, bis
auch sie sich im Januar 1582 der Krone Polen unterwerfen mußte. Ein feier¬
licher Staatsvertrag, jenes ?rivi1vL^ni LiMmunäi ^ugusti, clawin keria
sextg, xost echon Ltae. virtliarinao, das noch heute die wichtigste Rechtsgrund¬
lage des öffentlichen Zustandes in Livland bildet, sollte den lutherischen Glau¬
ben, die deutsche Sprache, das ererbte Recht und die Selbstverwaltung für alle
Zeit sicher stellen und vor Gefährdung schützen, nebenbei freilich auch die feu¬
dale Herrlichkeit des Adels und dessen unbeschränktes Dispositionsrecht über
die Bauern aufrecht erhalten. Mit einer Treue, welche ihnen das Stammland
niemals gedankt hat, aus deren schwerfälligen Ausdrücken der Patriot aber noch
heute den tiefen Schmerz der preisgegebenen Colonie nicht ohne Bewegung
herauslesen wird, bedangen die Livländer sich ganz besonders (P. XI.) aus:
„Weil wir Jhro Majestät aus unvermeidlicher und hoher, unumbgänglicher Noth
in diesen unsern Trcmgsalen und Beklemmungen, wodurch wir, nebst unsern
Fürsten, wegen des barbarischen Feindes Uebermuth in die äußerste Noth ge¬
bracht und vom römischen Reich verlassen, unser Leben, Weib und Kind nicht
beschützen können ......... uns unterwürfig gemacht haben: Als wolle
Ew. Königl. Majestät es dergestalt vermitteln, das wegen dieser unsres Fürsten
Ergebung und auch uns als Unterthanen bey dem unüberwindlichsten Kayser,
den Churfürsten, Fürsten und Ständen des römischen Reichs, unser Ehre und
Gut vertreten und gehandhabet werde, damit wir nicht etwa in öffentliche Reichs-
acht erkläret oder sonst mit andern Ehrenmakeln beschmitzet oder schädlich be¬
fählet, sondern vielmehr allerdings schadlos gehalten und erhalten werden."
Das Reich, das seine Ehre längst verloren/ sollte nicht übel von denen denken,
die von ihrem unüberwindlichen Kayser und denen Herren Churfürsten und
Ständen kampflos preisgegeben, von ihm gelassen hatten in der Stunde tödt-
licher Gefahr! Den Enkel, der diese Zeugnisse trotz bitteren Erfahrungen un-
beirrter Treue erröthend liest, will es bedeuten, nicht diese, sondern die Ironie
über den Jammer der Zustände, denen sie entronnen, habe den Livländcrn ein¬
gegeben, scheidend dem Reiche gegenüber ihre Ehre sicher zu stellen!
Wenn die Livländer sich von der Unterwerfung unter die pnlnisch-litthau-
ische Krone das Ende ihrer Leiden, Schutz vor dem"äußern Feinde und
Wahrung der Heiligthümer ihrer Vergangenheit versprochen hatten, so sollten sie
arg getäuscht werden. Mehr als die Hälfte des LOjährigen Abschnitts der
Polnischen Negierung verging unter blutigen Kriegen mit Russen und Schwe¬
den, die fast ausnahmslos auf livländischer Erde ausgefochten wurden und das
Land noch tiefer herabdrückten, als es bereits durch den russisch-tatarischen
Einfall geschehen war. Von einer Beobachtung der durch das Privilegium
König Sigismund Augusts verhießenen Rechte und Vorzüge war unter dem
recht- und gesetzlosen, wüsten Polenregiment vollends nicht die Rede. Der Con-
versionseifer fanatischer Jesuiten setzte es durch, daß ein katholischer Bischof
über Livland eingesetzt wurde, daß zu Riga, Werden und Dorpat lutherische
Kirchen in katholische verwandelt wurden und daß das Lutherthum zu der Rolle
einer bloß geduldeten Ketzerei herabsank. Allen Stipulationen zum Trotz, wurde das
Land unter polnische und lithauische Kastellane vertheilt, die garantirte Ver¬
fassung durch wiederholte Octroyimngen unkenntlich verändert, Recht und Her¬
kommen mit Füßen getreten und ernstliche Miene gemacht „die Transmariner
über das Meer zu jagen, von dannen sie gekommen". Unrettbar schien das
unglückliche, der Cultur nur zur Hälfte gewonnene Land in die Nacht alter
Barbarei zurückzusinken; elender denn je war der Zustand des von feindlichen
Soldaten und polnischen Beamten ausgesogenen Bauernstandes, auf dem, der
Verarmung und Verwilderung des Adels wegen, das Joch der Leibeigenschaft
mit doppelter Schwere lastete, die Kirchen und Schulen verfielen, keiner der
wenigen übrig gebliebenen protestantischen Geistlichen war seines Lebens sicher,
die Städte waren durch die Noth immer wiederkehrender Belagerungen verwü¬
stet und verarmt, Handel und Gewerbe stockten, die von den Landmeistern sorg¬
fältig angelegten Wege und Heerstraßen verfielen — ein Zustand allgemeiner
Auflösung trat an die Stelle der bis dazu wenigstens äußerlich geordneten Ver¬
hältnisse. Erst durch die Leiden eines neuen, fast dreißigjährigen Krieges sollte
die Wandlung zu einem erträglichem Zustande ermöglicht werden. — Sigismund lit
von Polen und Schweden wurde wegen seines Uebertntts zur katholischen
Kirche im Jahre 1600 durch die schwedischen Stände für der Krone verlustig
erklärt, sein Oheim Karl IX., zum Reichsverweser, später zum Könige gewählt.
Der schwedisch-polnische Erbfolgekrieg, den erst Gustav Adolf siegreich zu Ende
führte, und der zum größten Theil in Livland ausgekämpft wurde, war die
Folge dieser Staatsveränderung. Schon 1602 mußte der größte Theil des
livländischen Adels Karl IX., der seine Privilegien bestätigte, huldigen, 1629
war Livland eine schwedische Provinz; nur die südöstlichen Kreise des Landes
mit den Vogteyen Dünaburg, Roitten, Lützen und Marienhausen verblieben
den Polen: diese haben dieselben so vollständig zu assimiliren gewußt, daß die¬
ser Landstrich in welchem man sich vergeblich nach Spuren deutsch-protestanti¬
schen Lebens umsieht, noch heute „Polnisch-Livland" heißt. Dafür wurde
die Insel Oisel, die bei der Auflösung des alten Bundes an die Dänen ver¬
loren gegangen war, mit Livland wieder vereinigt. — Estland war, wie wir
wissen, schon früher schwedisch geworden und hatte sich unter dem humanen
Scepter der protestantischen Fürsten dieses Reichs, das die Rechte und die
Nationalität seiner neuen Unterthanen sorgfältig schonte, ungleich besser befun¬
den, als die südlichere Schwesterprovinz, mit welcher es nun wieder vereinigt
wurde. Das günstigste Loos war aber dem Herzogthum Kurland zugefallen,
dessen weiser Fürst Gotthard Kettler seine Unterthanen mit seltenem Geschick vor
polnischen Eingriffen zu schützen und von den Kriegshändeln in den Nachbar¬
ländern fern zu halten gewußt hatte. Mit Hilfe feines verdienstvollen Kanz¬
lers Salomon Henning reorganiflrte der Herzog Rechtspflege und Verwaltung
seines Ländchens und entwarf er eine Kirchenordnung, die zu den besten ihrer
Zeit gehörte. Hier war der Bauer ungleich günstiger gestellt als nördlich^ von
der Dura; eine zahlreiche, gebildete Geistlichkeit legte die Grundlagen echter
Gesittung, die Wohlhabenheit des Adels, die Gunst eines mildern Klimas und
die größere Fruchtbarkeit des Landes, vor allem das gute Beispiel, welches
der Herzog auf seinen zahlreichen Domänen gab, gestalteten die bäuerlichen
Verhältnisse trotz der Fortdauer der Leibeigenschaft zu einem mindestens ertrag'
lichen Zustande. Dazu kam, daß die 1861 begründeten Zustände 134 Jahre
dieselben blieben und Kurlands Selbständigkeit erst im Jahre 1795 aufhörte.
Ein selten unterbrochener Frieden förderte Ackerbau und Viehzucht und begrün¬
dete einen Wohlstand, der mit der Zeit so beträchtlich wurde, daß (nach dem
Ausdruck eines Historikers) im 17.'und 18. Jahrhundert selbst die tucischen
Bettler zweispännig fuhren. Aber ein Uebelstand ernstester Art stellte Dauer
und Zukunft der Zustände Kurlands doch wieder in Frage: der Mangel eines
tüchtigen, selbständigen Bürgerstandes, eines ausgebildeten Städtewesens. Der
Adel herrschte aus allen Gebieten des öffentlichen Lebens so unumschränkt, daß
die Herzoge mit ihm rechnen und auf die Entwickelung eines wirklichen Staats¬
lebens verzichten mußten. Die verhältnißmäßig zahlreichen Städte waren klein
und bedeutungslos, ihren Bewohnern mangelte jener tüchtige, auf das Bewußt¬
sein des eigenen Werths gegründete Bürgersinn, den manschen jenseit der Dünn
ebenso entwickelt fand, wie in Deutschland, sie kamen niemals über die Sorge
für ihre nächsten Interessen hinaus. Der Handel war höchst unbedeutend, das
Gewerbe nährte sich von den Bedürfnissen der Barone, die Stelle des Bürger-
thums vertrat (vom 17. Jahrhundert ab) eine Classe, die der „Literaten",
d. h. gelehrter Bürgerlicher, die als Prediger, Aerzte, Juristen u. s. w. einen
besondern Stand, nach Hippels geistreichem Ausdruck den „Rinnstein" zwischen
Edelmann und Bauer, bildeten. Kein Wunder, baß die Selbstherrlichkeit des
Adels, dem jedes Gegengewicht mangelte, maßlos aufschoß, und daß das Bür-
gerthum Kurlands noch heute nicht dazu gelangt ist, sich die Grundlagen einer
ebenbürtigen und selbständigen Existenz zu begründen.
Doch wir müssen zu Livland, dem Herzen und Schmerzensträgcr der drei¬
einigen deutschen Eolonie zurückkehren. Die. fast hundertjährige schwedische
Herrschaft in diesem Lande zerfällt in zwei durch den Regierungsantritt Karls IX.
scharf von einander geschiedene Hälften — eine in vielfacher Beziehung segens¬
reiche und eine unglückliche, leidensvolle Periode, wie sie kaum zu polnischer
Zeit hätte schlimmer sein können. Zunächst war des Jubels darüber, daß
Man der argen Polenwirthschaft entronnen und in einen protestantischen Staats¬
verband getreten war, kein Ende. Gustav Adolf hatte Livland in der That
ZU danken, daß es Cultureinflüssen gerettet und dem Zustande der Barbarei
entrissen war. Die erste Sorge des weisen, großherzigen Fürsten war die Wie¬
derherstellung des am Rande des Abgrundes stehenden lutherischen Kirchenwesens.
Eine allgemeine Kirchenvisitation stellte die Nothwendigkeit eines Neubaus von
Grund aus, fest; die Gotteshäuser lagen in Trümmern, die Schulen auf dem
stachen Lande waren sein Menschengedenken geschlossen; da es allenthalben an
Geistlichen mangelte, wurde Kenntniß der reinen Lehre bei den Bauern ebenso
wenig gefunden, wie Zucht und Sitte. Hier griff der große König mit der
Vollen Energie seines mächtigen Willens ein. Zum Segen des Landes führte
^ die schwedische Kirchenordnung ein, deren Grundprincipien bis auf die Ge-
genwart in Geltung sind und der lutherischen Kirche Livlands für alle Zeit
eine feste materielle Basis gesichert haben. Dann wandte der König seine Auf¬
merksamkeit der Justiz und Verwaltung zu, die gleichfalls von Grund aus neu
gestaltet und in eine feste Ordnung gebracht wurde; aus Grund der Privilegiert
Sigismund Augusts sollte der Adel seine und der Lauern Richter und Ver-
waltungsbeamte wählen, der Bürger städtischen Magistraten unterstellt sein — aber
über beiden stand eine Staatsgewalt, die das öffentliche Interesse wahrnahm
und über der Gesetzlichkeit der Erwählten des Landes wachte. Seine größten
Verdienste erwarb das schwedische Königthum sich aber durch die Begründung
einer protestantischen Hochschule zu Dorpat und zweier Gymnasien (1632) und
durch eine eingreifende Umgestaltung der tief im Argen liegenden bäuerlichen
Verhältnisse. Gustav Adolf und seine Nachfolger haben es mit keiner der
staatlichen Aufgaben, an welchen sie in Liv- und Estland arbeiteten, so ernst
genommen, als mit der Beschränkung der Leibeigenschaft und mitjder Begründung
würdigerer agrarischer Zustände. Der Bauernstand, so wollten die Enkel Wasa's,
sollte auch in Livland die Grundlage ihrer Macht und gemeinsam mit den Städten
ein Gegengewicht gegen den Adel bilden. Zum ersten male wurden sämmtliche
Rittergüter Liv- und Estlands genau vermessen und catastrirt, aus Grund dieser
(gleichfalls noch heute geltenden) Catastrirung, Arbeitsregulative sogen. Wacken-
bücher entworfen, welche die Leistungen der Bauern in ein festes Verhältniß zu
dem ihnen zur Nutzung übergebenen Grund und Boden setzten, und als Maxi-
mum der dem Herrn zustehenden Forderungen, unter keinen Umständen über¬
schritten werden durften. In heilsamer Weise wurde zugleich die Patrimonilge-
richtobarkeit der Gutsbesitzer abgegrenzt und die Freiheit über Leben und Tod
der Erbleuie «uf das Recht zur Ausübung der Hauszucht beschränkt. Die
weitergehenden Pläne, mit welchen die schwedischen Könige sich trugen, um die
Leibeigenschaft stufenweise und allmählich abzuschaffen kamen zufolge des nordischen
Krieges nicht mehr zur Ausführung. Leider war diese Periode segensreicher
Einwirkung der Staatsgewalt auf die feudalistisch verrotteten Zustände Livlands
von blos beschränkter Dauer; die stete Finanznoth der schwedischen Krone ver¬
anlaßte Karl XI. zu einem Staatsstreich, dessen Schändlichkeit die Segnungen,
welche Livland den Ahnherren dieses eigenmächtigen, brutalen Fürsten verdankte,
nahezu aufwog — zu jener Reduction, welche unter dem Vorwande mangel¬
hafter Bcsitztitel der Grundherren, fast V» aller livländischen Rittergüter zum Be¬
sten des Fiscus einzog und Hunderte adeliger Familien an den Bettelstab brachte.
Schon die Anwendung des vom Stockholmer Reichstage beschlossenen Neductiorrs-
gesetzcs auf die Provinzen jenseit der Ostsee involoirte eine schwere Rechtsver¬
letzung. Da die »isländischen Stände niemals Neichsstanbschaft in Schweden
genossen hatten, die Theilnahme an dieser aber die Grundbedingung der Ange¬
hörigkeit zum schwedischen Staatsverbande bildete, war die Anwendung schrvedi-
scher Ständebeschlüsse auf das baltische Land juristisch unmöglich. Nichts desto-
weniger schälkelen des Königs Reductionscommisfionen in Livland rücksichtsloser
und eigenmächtiger, als in ihrem Vaterlande. Vergebens sandte die Ritter¬
schaft Deputationen über Deputationen nach Stockholm, um die Abwendung
des Aeußersten zu erflehen, vergebens beriefen sie sich auf ihre verbrieften Rechte
und Privilegien. Des Königs Antwort auf die Vorstellungen, die ihm gemacht
wurden, war die Aufhebung des Landesstaats (der ritterschaftlichen Verfassung)
und die Einkerkerung Johann Reinhold Patkuls, dessen kühnsten der mann¬
haften Sprecher, welche dem Throne Karls genaht waren. In Riga hauste unterdes¬
sen der schwedische General-Gouverneur Graf Hastfer als erbitterter Feind des
Adels und unbeschränkter Günstling seines Fürsten. Mehr und mehr traten
schwedische Ordnungen und Gesetze an Stelle der deutschen, drangen Fremdlinge
in die Aemter und Richterstühle, wurden die Söhne des Landes zurückgedrängt
und des Einflusses beraubt, der ihnen nach dem Recht der Geschichte und nach
den Satzungen der Väter zukam. Aber die Wahrheit des Wortes: „zu drücken
sind sie, doch zu unterdrücken nicht", sollte sich noch einmal glänzend bewähren.
Der zähe Widerstand auf den die feindliche Politik Schwedens allenthalben
stieß, wußte die Fortschritte derselben bis zum Wendepunkt des Jahrhunderts
aufzuhalten — dann aber brach der nordische Krieg aus, um die Machtverhältnisse
des Ostseegebiets noch einmal vollständig zu verändern. Von den Schweden
aufs äußerste bedrängt und an der Rettung seines Vaterlandes durch fried¬
liche und legale Mittel verzweifelnd, wandte Patkuls düstere Heldengestalt sich
der von Osten aufgehenden Sonne Peters des Großen zu; sein Werk war es,
daß der Zaar, (der diesen in seine Dienste getretenen Fremdling mit einer Rück¬
sicht behandelte, die ihm sonst nicht eigen war) sein Auge auf die Ostseeländer
richtete und das Verhängnis;, in welches Schweden durch Karls XII. Eisenkopf
gerissen wurde, dazu benutzte, die Grenzen seines Reichs bis an das baltische
Meer zu erweitern. Wiederum wurde das Land zwischen Dura und Einband der
Kampfplatz der streitenden Mächte, wiederum verwüstete die Kriegsfurie fast
zwei Jahrzehnte lang die weiten livländischen Ebenen, sank der Bauer zu bettel¬
hafter Armuth und Verwilderung herab, wurden Städte angezündet und Burgen
geschleift. Trotz des harten Unrechts, das sie erfahren, schlugen die Livländer
sich tapfer für die Sache ihres Fürsten und erst nach hartem Kampfe und ver¬
zweifelter Gegenwehr wurde der Zaar des Küstenstrichs Meister. Erst nachdem
er Ritterschaft und Städten ihre alten Privilegien bestätigt hatte, huldigten
diese dem neuen Landesherrn; durch Konfirmation der sog. Accordpunkte, später
durch die Bestimmungen des Nystädter Friedens wurde Peter für sich und seine
Nachkommen verpflichtet, die Herrschaft der lutherischen Kirche, des deutschen
Rechts, der deutschen Sprache und der angestammten Verfassung in seinen neuen
Provinzen Liv- und Estland anzuerkennen und für alle Zeit sicher zu stellen,
der Livländer Privilegien auch eher zu „augmentiren" als zu „diminuiren".
Noch ein Mal war der „verlorene Posten" deutscher Cultur an der Ost¬
see gerettet — aber um einen hohen Preis. Aus tausend Wunden blutend
lag das Land in dem Zustande einer Erschöpfung und Apathie da, die ein
halbes Jahrhundert dauerte. Erst zehn Jahre nach Abschluß der Accordpunkte
schloß Peter mit den Schweden Frieden, bis dazu dauerten die Pressungen, zu
welchen er durch die Kriegsnoth gezwungen war, ununterbrochen fort. Aus
Furcht, die Schweden möchten während seines Feldzuges in Kleinrußland lan¬
den und sich in der Gegend Dorpats, das für besonders unrussisch gesinnt galt,
festsetzen, ließ der Zaar diese Stadt vollständig zerstören und die Einwohner
derselben in das Innere des Reichs schleppen. Die russische Regierung kannte
ihre neuen Unterthanen noch zu wenig, um sich in die eigenthümlichen Bedürf¬
nisse und Anschauungen derselben hineinfinden zu können und trotz des unleugba¬
ren Wohlwollens, das Peter seinen deutschen Provinzen bewies, konnten Fehl¬
griffe, Mißverständnisse und Rechtsverletzungen der peinlichsten Art nicht aus¬
bleiben — es verging ein Menschenalter, ehe man sich verständigen lernte und
ehe die Regierung etwas thun konnte, um den dringendsten Nöthen abzuhelfen.
Sich in wirksamer Weise selbst zu helfen war die verarmte Landschaft aber
völlig außer Stande. Auf dem livländischen Landtage von 1714 wurde nicht
nur constatirt, daß es den meisten Kirchspielen an Kirchenvorstehern fehle, es
stellte sich zugleich heraus, daß auf je fünf bis sechs Kirchspiele nur ein Predi¬
ger kam, so furchtbar hatten der Krieg und seine grimmen Begleiter, die Pest
und die Hungersnoth gehaust! Wohl wurde beschlossen, nach Kräften für
„fromme und geschickte Subjecte" Sorge zu tragen und durch den Generalsupe¬
rintendenten und die Pröpste „öftere Visitationes" vornehmen zu lassen, aber
woher sollten die Leute zur Besetzung der Vacanzen, die Mittel zum Wieder¬
aufbau der niedergebrannten und verfallenen Kirchen und Pfarrhäuser herge¬
nommen werden? War die Noth doch so groß, daß die Nitterschaftseinnahmen
nur 200 Thaler betrugen und daß die Abgabe von einem L^rvlin xer privaten
Haken (einer schwedischen Catasterbezeichnung, die ursprünglich einen Boden¬
werth von 80 Thalern repräsentirte, aber schon Vor 1S0 Jahren den dreifachen
Werth bedeutete) nicht mehr aufgebracht werden konnte, daß die Glieder der
Ritterschaft die Herren Landräthe um Verzicht auf ihre blos 15 Thaler betra¬
gende Remuneration bitten, die Hofgerichtsglieder mit dem Versprechen trösten
mußten, in Zukunft einen Fonds zu derer Herren Glieder Gagirung zu „inten-
diren". Im Konsistorium war nur der Generalsuperintendent auf dem Platz,
der Director lag an schwerer Krankheit darnieder, ein Assessor hatte sich
seines Amtes „entäußert", der andere wurde vom Hofgericht in Anspruch
genommen und von geistlichen Beisitzern war nicht einmal die Rede. Die
Armuth war so allgemein, daß der Adel auf demselben Landtage beschloß. De-
putirte zur Vermeidung öfterer allgemeinerer Versammlungen zu wählen, „dieses
Mal sei die Ritter- und Landschaft um des armen Vaterlandes Noth gern ge¬
kommen." Wie es unter solchen Umständen um den gemeinen Mann, zumal
um den Bauern'beschaffen sein mußte, braucht nicht weiter ausgeführt zu wer¬
den, das entsetzliche Bild der livländischen Bauerncxistenz in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts zu entwerfen, sträubt sich die Feder des Enkels. In
elende Erdhütten mit Kühen und Schweinen zusammengepfercht, fristete der
Bauer ein Dasein, das längst aufgehört hatte, auf Menschenwürde Anspruch
zu machen. Regelmäßig trat im Herbst Völlerei. im Frühjahr Hungersnoth ein,
zu den Leistungen, welche er dem Herrn schuldete, mußte der Sclave mit der
Peitsche des Frohnvogts getrieben werden, Branntweinpest und Ruthenstrafe,
die schrecklichen „Geschwister der Leibeigenschaft", waren die Pole, zwischen denen
sich die Axe seines Lebens drehte. Dazu kamen die Schwierigkeiten eines un¬
holden Klima's, das nur vier Sommermonate kennt, dessen endlose Winter das
Wetterglas gefrieren machen, das rings die weiten Ebenen mit fußhohen Schnee¬
massen überzieht, die zuweilen undurchdringlich werden und den Bewohner der
ländlichen Einöde zu tagelangem Müßiggang, dämmernden Halbschlaf in rau¬
chige Hütter verurtheilen. Zuständen dieser Art anders als allmählich abzu¬
helfen, lag außer dem Bereiche des Möglichen. Fromme Wünsche für öftere
Visitationen, fleißigere Kirchenvorsteher, geordnetere Schulverhältnisse begegnen
uns in den Landtagsactcn des gesammten Vierteljahrhundcrts, welches der
„LoruMts" folgte, während es mit der Verwirklichung derselben nicht vorwärts
ging. Selbst mit dem Zusammentritt der Landtage, der rechtlichen Organe der
Landeswünsche, welche regelmäßig zu Berathungen des Landrathscollegiums mei
dem Generalsuperintendenten und demgemäß zu Versuchen einer Abhilfe führten,
hatte es in jener Zeit große Schwierigkeiten. Im Jahre 1726 war die Land¬
tagsversammlung ausgesetzt worden, weil Mcnschikow eine solche ohne Befra¬
gung des geheimen Conseils nicht zulassen zu können glaubte, von 1730 bis
1740 fand gleichfalls eine Art Interregnum statt, weil das Reichsjustizcollegium
sich erst darüber unterrichten wollte, welche die gesetzlichen Gründe zur Einbe¬
rufung solcher Versammlungen seien, wem die Initiative zu denselben gebühre
u. s. w. 1734 erhielt der General-Directeur Völkersahm den Auftrag zu „son-
diren" ob ein Landtag „nachgegeben" werden würde, erst 173S kommt die Ant¬
wort, man müßte erst „an Hof" berichten; aus ähnlichen Gründen trat die
Ritterschaft von 1750—67 kein einziges Mal zusammen, denn es verlautete im
Jahre 17S4 etwas von „bedenklichen Umständen, welche den größten Vorrechten
Gefahr bringen könnten." Neben diesen äußeren Verhältnissen, die hemmend
einwirkten, war die materielle Noth, welche auf allen Ständen lastete, der Haupt-
grünt der Stagnation, welche jede Entwickelung und Neugestaltung, die kirch¬
liche wie die politische, niederhielt. Siebzehn Jahre dauerte es, bis an die
Restauration der einzigen Lehranstalt, welche der Adel zur Bildung seiner Söhne
besaß, des Lyceums zu Riga, ernstlich gedacht werden konnte und ein halbes
Jahrhundert verging, bis für eine materielle Basis dieses Instituts auskömmlich
gesorgt wurde! Wen konnte es da Wunder nehmen, wenn für den Volksunter¬
richt so gut wie nichts geschah und die vom Generalsuperintendenten beantrag¬
ten, oft „mianimitizr'' gefaßten',Schlüsse zur Einrichtung von Dorf- und Gebiets¬
schulen auf dem Papier blieben. Kriegsnoth und exorbitante Abgabenleistungen
verschlangen alles, was der Fleiß des Landmannes und die Sparsamkeit der
Herren erübrigte und noch im Jahre 1737 mußte der in Riga versammelte
Adel eine Collecte eröffnen, um einen verarmten Mitbruder, den Major V.
Nehbinder neu zu kleiden, damit der Herr Vicegouverneur wegen des „Hahns"
dieses in äußerste Armuth gerathenen Mannes, keine „ungleichen Gedanken"
bekomme!
Nicht minder traurig sah es in den Städten aus: Handel und Gewerbe
konnten sich nur mühsam von den Schlägen erholen, die das Kriegselend ihnen
gebracht, der verderbliche Zunftzwang und eine thörichte Nationalökonomie, die
durch ewig wechselnde Verbote der Aus- und Einfuhr jede gesunde Speculation
unmöglich machte, thaten das ihre, um das verrottete Spießvürgerthum, das
namentlich in den kleineren Städten wucherte, zu verewigen und jede freie Ent¬
wickelung abzuschneiden. Von Nußland, das damals mit schweren inneren Krisen
zu kämpfen hatte, waren keine bildenden Einflüsse zu erwarten; daß es in die¬
sem Staat keinen Mittelstand sondern nur Edelleute und leibeigene Bauern
gab, machte sich vielmehr in Liv- und Estland in nachtheiligster Weise fühlbar.
Die maßlosen Ansprüche des Adels dieser Provinzen hielt man in Rußland
für ebenso selbstverständlich, wie die Sclaverei der Bauern; für die Rechte und
Bedürfnisse des Bür^erthums hatte man kein Verständniß, weil man zu Hause
keins kannte. Die Privilegien, welche die Livländer mit Recht als die Heilig-
thümer ihres öffentlichen Lebens hoch hielten, waren zugleich die Ursachen der
Stagnation und Armuth, in welche das Land versank und aus der es sich erst
in der zweiten Hälfte des philosophischen Jahrhunderts mühsam emporarbeitete;
zugleich mit der Herrschaft der lutherischen Kirche und der deutschen Sprache
hatte der Adel sich das Recht zu ausschließlichem Güterbesitz gesichert, hatten
die Städte sich den Fortbestand uralter Zunftordnungen und schrägen ausbe¬
dungen, welche die wirthschaftliche Entwickelung ihrer Bewohner niederhielten.
Müßige Händel zwischen Edelleuten und Landsassen, (Gutsbesitzern, welche nicht
zur Ritterschaft gehörten) zwischen Zunftmeistern und Bönhasen, (unzünftigen
Handwerkern) Eifersüchteleien zwischen städtischen und ritterschaftlichen Behörden
und Autoritäten, absorbirten die übrig gebliebenen Kräfte, zerstörten jedes ge-
deihliche Zusammenwirken der verschiedenen Elemente und brachten die baltischen
Deutschen um die Achtung ihrer neuen Beherrscher. Das Bollwerk des deut¬
schen Elements drohte zugleich die Zwingburg desselben zu werden, zumal so
lange der Adel nicht in die geistige Bewegung gezogen wurde, die sich in
Deutschland um die Mitte des Jahrhunderts zu regen begann und so lange
der Sohn aus adligen Hause keine andere Laufbahn für angemessen hielt als
die kriegerische. In den Jahren 1700—1747 gab es kaum eine europäische
Armee, in welcher nicht Livländer ihr Heil versucht hätten; während dieses
kurzen Zeitraums hat das kleine Land an der Ostsee nicht weniger als dreiund¬
zwanzig Feldmarschälle, zehn Generals en edel', siebenundzwanzig Generallieu-
tenants. vierunddreißig Generalmajors und dreiundfünfzig Obristen hervorge¬
bracht; die Namen einzelner derselben, wie des edlen Loudon, der die östreichi¬
sche Armee zu manchem Siege gegen den großen König ins Feld führte und
jenes Conrad Rosen, der unter Ludwig XIV. gegen den großen Oranier nach
Irland gesandt wurde, sind mit Ehren auf die Nachwelt gekommen.
? Erst in den sechziger Jahren machte sich ein entschiedener Umschwung zum
Bessern geltend, wurden ernsthafte Versuche zur Lösung der Aufgaben gemacht,
die seit Jahrzehnten auf ihre allendliche Lösung harrten. — Nachdem der Ge¬
rechtigkeitssinn Peters des Großen das Unrecht der schwedischen Reduction
ausgeglichen und den Adel wieder in den Besitz seiner Güter gesetzt, desselben
Monarchen Einsicht die Richterstühle und Verwaltungsstellen auf den alten
Fuß gebracht hatte, zum erstenmale PostVerbindungen zwischen den einzelnen
Städten hergestellt waren, ein fünfzigjähriger Frieden den Sinn der Menschen
gemildert und daran gewöhnt hatte, über des kommenden Morgens gemeine
Sorgen hinauszusehen — erwachte in den Enkeln der Letten- und Estenbezwin¬
ger das Bewußtsein der schweren Schuld, welche sie gegen diese Völker abzu¬
tragen hatten. Der Landrath Karl Friedrich Scholz, Freiherr v. Ascheladen
war es, der zuerst für das Recht des Bauernstandes eintrat und ^.rav 1763
im Namen der „retablirten Menschenrechte" eine freiwillige Beschränkung der
Leibeigenschaft vom livländischen Adel forderte; seine Mahnungen wurden freilich
mit Erbitterung zurückgew lesen, der Funken aber, den er in die Herzen der stol¬
zen Barone geworfen, war nicht mehr zu ersticken, zumal die Regierung Calha-
nnas II. sich der Sache annahm, und durch stets erneute Anträge auf Ver¬
minderung der bäuerlichen Lasten, das Gewissen des Adels wach erhielt. Der
Kampf um die Aushebung der Leibeigenschaft und die Emancipation des
Bauernstandes ist fortan der rothe Faden, der sich durch die Geschichte der
letzten hundert Jahre baltischen Lebens zieht. Nicht nur an der Staatsregierung
gewann die Sache der bäuerlichen Freiheit während der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts ni>im mächtigen Rückhalt, das Bürgerthum und die Geist-
Uchkeit nahmen energischen Antheil an denselben. Zumal in Riga, wo um jene
Zeit Männer wie Herder und Hamann wirkten, wo einer der größten Wohlthäter
des Landes, der Buchhändler und Buchdrucker Hartknoch für die Sache der Auf¬
klärung thätig war, das neugegründete Theater einen Kreis strebsamer Schrift¬
steller um höhere Interessen sammelte, die Anfänge einer provinziellen Presse
unter dem Schutz edler Patricier (Schwach, Behrens) und aufgeklärter Geist¬
licher (Sonntag, Hupel) aufschössen, fanden-die freisinnigen und humanen Ideen
der Zeit begeisterte Aufnahme und fruchtbaren Boden; in Riga hatte Gartieb
Merkel, der 17S6 mit seiner leidenschaftlichen Anklageschrift „die Letten" gegen
die Zwingherrschaft des Adels auftrat, die erste Anregung zu dem Gedanken
der Rettung des Lettenvolks empfangen. Die Geistlichkeit des flachen Landes,
bis dazu in starrer Orthodoxie verknöchert und ohne Verständniß für ihre civi-
lisatonsche Aufgabe, wurde um dieselbe Zeit durch die Einflüsse des halleschen
Pietismus, später des Rationalismus in neue Bahnen gedrängt und nahm sich
der Sache der Volksbildung mit Aufopferung und Thatkraft an — überall
regten sich Bildung und Streben, und die Ueberzeugung, daß es anders und
besser werden müsse, bemächtigte sich bald aller Gebildeten des Landes.
Aber auch den Irrthümern des philosophischen Jahrhunderts mußte das
Ostseeland seinen Tribut zahlen; 1783 hob Catharina II. die alte Verfassung
auf, um sie durch neue bureaucratische Ordnungen zu ersetzen, die unter dem
Namen der „Statthalterschaftsverfassung" den Gang der historischen Entwicke¬
lung zu durchbrechen und fremden Elementen, die kein Verständniß für die be¬
sonderen Bedürfnisse des Landes hatten, Thor und Thür zu öffnen drohten —
wiederum war der Fortbestand des deutschen Colonialstaats gefährdet und in Frage
gestellt. Der Gerechtigkeitssinn Kaiser Pauls, gab den getreuen Liv- und Est-
tändcrn indessen ^rav 1796 wieder, „was ihnen mit Unrecht genommen war."
Am Eingang des 19. Jahrhunderts finden wir die drei Provinzen, welche
1S61 auseinandergerissen worden waren, unter dem russischen Scepter vereinigt
wieder; nach der letzten Theilung Polens war die Aufrechterhaltung der Selb¬
ständigkeit Kurlands unmöglich geworden und hatte dieses polnische Lchns-
herzogthum sich Catharinen II. unterworfen (1795). Sieben Jahre später
erfüllte sich einer der heißesten Wünsche, mit denen die Bewohner der drei
Lande sich seit neunzig Jahren getragen hatten; im December 1802 stellte
Alexander I., getreu der Verheißung die sein großer Ahnherr Peter in den
„Accordpunktcn" von 1710 niedergelegt hatte, die Universität Dorpat wieder
her und mit der Eröffnung dieser segensreichen Pflanzstätte deutscher Wissen¬
schaft beginnt die neueste Epoche der baltischen Provinzialgcschichte.
Von dieser soll das nächste Mal berichtet werden. Die Aufgabe welche
wir dem „Prolog" zu künftigen Schilderungen des Ostseelandes stellten, beschränkte
sich darauf, die Erinnerung an den einstigen Zusammenhang Deutschlands mit
dem baltischen Norden wach zu rufen und ein Bild der Leidensgeschichte zu
entwerfen, durch welche die Versprengte Colonie gegangen, seit sie vom Mutter¬
lande abgerissen worden. Aber es galt noch einen andern Zweck zu erreichen:
die keine anderen Empfindungen für ihre lip-, est-, kurländischen Stammesge¬
nossen übrig haben, als Ausdrücke herben Tadels und unnachsichtiger Verur-
theilung der Sünden, welche jenes Land auf sich geladen, die sich lossagen von
dem „entarteten" Geschlecht, das nicht hauszuhalten gewußt hat mit dem Erbe
der Väter, das über dem Hochgefühl des Herrscherrechts, die Pflichten gegen die
Beherrschten vergessen hat — diese sollten gefragt werden, ob die Geschicke,
durch welche der verworfene und verleugnete Bruderstamm gegangen, wirklich
dazu angethan gewesen sei, eine glücklichere Entwickelung zu fördern und ob die
Zähigkeit, welche trotz allem dem und allem dem ein Stück deutschen Lebens
an der Ostsee erhalten hat, aller und jeder Anerkennung derer unwürdig ist,
die überhaupt eine Empfindung für deutsche Ehre und Tüchtigkeit übrig haben.
Die heurige Zusammenkunft dieser ältesten deutschen Wanderversammlung
scheint uns aus manchen Rücksichten eine Besprechung auch in nicht naturwissen¬
schaftlichen Blättern zu verdienen. Nicht die politische, nicht die sociale Bedeu¬
tung dieser Versammlung wollen wir berühren, so sehr es uns auch gefreut
hat, zu sehen, daß die Frankfurter sich wieder einmal zu einer That ermannt
haben, zur frischen Vorbereitung, zur kräftigen Durchführung dieser wissenschaft¬
lichen Versammlung, zu welcher sich Männer der Wissenschaft aus allen Thei-
len des Vaterlandes friedlich zusammengefunden hatten. In welchem Sinne
die Frankfurter ihren Gästen entgegentraten, in welchem Sinne alle Theilneh.
wer. von dem Gefühle der Zusammengehörigkeit in bestimmt nationaler Ent¬
wickelung der Wissenschaft getragen, einträchtig zusammen zu wirken berufen
waren, fand trefflichen Ausdruck in der Eröffnungs- und der Schlußrede des
Geschäftsführers, Dr. Spieß, und in manchen Trinksprüchen. Wir wollen nur
^e innere Entwicklung der Versammlung näher ins Auge fassen, denn hier
haben wir einige wesentliche Fortschritte zu constatiren, welche, wenn auch in
den nächsten Jahren sorgsam und richtig cultivirt, den Naiurforscherversamm-
lungen immer größere Wirksamkeit in sich wie in weiteren Kreisen in Aus¬
sicht stellen.
Als solche Fortschritte bezeichnen wir folgende: Die Versammlung ist
wieder auf eigene Füße gestellt, es ist mehr und anhaltender als in den letzten
Jahren gearbeitet worden; eine neue Section, für das ganze Volk von Wich¬
tigkeit, ist den anderen zugefügt worden, jene für öffentliche Gesundheitspflege;
die allgemeinen Sitzungen haben wieder erhöhte Bedeutung erhalten.
Die sehr gerechtfertigte Gastfreundschaft.welche sich in den ersten Jahren
auf freundliche Aufnahme der Gäste in Haus und Familie beschränkt hatte,
war allmählich in ein Ueberbieten durch Luftfahrten und sonstige Festlichkeiten
ausgeartet, welche zumal in Wien und Bonn ihren Höhepunkt erreichten. Sie
wurden nur durch reiche Zuschüsse aus Staats- oder städtischen Cassen ermög¬
licht. Unsere frankfurter Collegen sprachen schon in Hannover ihre Absicht
aus, die Versammlung wieder auf einfachern Fuß zu setzen; was damals gute
Absicl-t war, ist mittlerweile eine Nothwendigkeit für sie geworden. Es wurden
statt der üblichen 3 Thlr. Beitrag diesmal 4 Thlr. von jedem Teilnehmer er¬
Hoden; ein städtischer Zuschuß ward nicht geleistet. Die Einnahme von 283
frankfurter und 623 auswärtigen Theilnehmern reichte, wie wir hören, zur
Deckung aller Kosten hin; es wird somit künftig die Wahl der Versammlungs¬
orte viel weniger beschränkt sein, mit der Wahl wird nicht zugleich dem ge¬
wählten Orte eine finanzielle Last aufgebürdet. Abendvergnügungen, wie die
uns in Frankfurt gebotenen (Concert, Fcflopcr, Liederkrcmzabcnd u. der^l.) wer¬
den dankbar angenommen werden; sie greifen nicht wie die Lustfahrten und
große Essereien störend in die Sitzungen ein.
Diese Beschränkungen sowie die Verlegung des Mittagessens auf 4V, Uhr
und die durch den Saalbau und das polytechnische Institut gegebene Möglich¬
keit, alle Räume für Sitzungen, Demonstrationen, Restauration und Unterhal¬
tung in demselben Gebäude dicht neben einander zu vereinen, waren die wesent¬
lichsten Ursachen, daß dieses Jahr mehr und eifriger besuchte Sectionssitzungcn
stattfanden als Wohl bei irgend einer frühern Natulforscherversammlung. Mit
den Sectionsverhandlungen konnte man im allgemeinen wohl zufrieden sein,
wenngleich auch nicht zu leugnen ist, daß namentlich der Eifer der Mit¬
theilung in einigen der Sectionen für practische Disciplinen nicht selten die
gebotene Bescheidung überwog. Wir können hier nicht einmal auf die wichtigsten
dieser Mittheilungen aufmerksam machen; die meisten haben doch nur für die Fant,"
genossen ein wirkliches Interesse und wo dieses überschritten wird (wie z. B-
bei Meyers Mittheilung über die gewölbte Blättchenlagerung in der Knochcn-
spongioW, so daß die verschiedenen als Zug- und Druckcurven wirken, bei
Jürgensens, Ziemssens und Licbermeisters Empfehlung der Behandlung des
Typhus durch Wärmeentziehung mittelst kühler Bäder, bei Schaaffhausens Dar¬
legung der Bildung des Eiterkörpcrchens aus der rothen Blutscheibe, bei den
Mittheilungen über locale Anästhesirung, über losen einfachsten Wundvcrband
u. s. w.) würde ausführlicheres Eingehen nöthig sein.
Lobend ist auch der rasche Druck des Tageblattes anzuerkennen, welches
uns regelmäßig morgens früh die Protokolle aus den am vorhergehenden Mor¬
gen und Nachmittag stattgehabten 12 Sectionssitzungen lieferte. Diese Berichte
wurden hauptsächlich deshalb so rasch zum Druck eingeliefert, weil für alle
Sectionen Localschriftführer im voraus bestellt waren, welche ihrer Aufgabe mit
großem Eifer oblagen. Wird diese Einrichtung auch künftig beibehalten, so
muß unschwer erzielt werden können, daß die Protokolle über die einzelnen
Sectionen gleichmäßiger, und daß einige unter ihnen eingehender geführt werden,
als dies in Frankfurt der Fall war. Unter dieser Voraussetzung rechtfertigt
es sich gewiß sehr, an die Stelle des'frühern sehr kostspieligen ausführlichen
Berichtes, der manchmal erst nach Jahren erschien, und ausnahmslos lange, nie
gehaltene aber verhaltene Reden lieferte, durch ein rasch erscheinendes Tageblatt
zu ersetzen, zumal wenn demselben, wie uns in Frankfurt versprochen wurde,
die in den allgemeinen Sitzungen gehaltenen Vorträge einverleibt und baldigst
den Theilnehmern zugesandt werden.
An der diesjährigen Versammlung nahmen verhältnißmäßig viele Schul¬
lehrer Theil. Mehrfach war die Wichtigkeit eines richtig verstandenen natur¬
geschichtlichen Unterrichts in den Schulen hervorgehoben worden, Virchow hatte
in seinem Vortrage in der allgemeinen Sitzung vom 20. besonders betont, wie
es verhältnißmäßig wenig fruchte, den Kopf der Kinder mit botanischen Syste¬
men anzufüllen, daß es vielmehr darauf ankomme, sie schon frühe physikalisch
denken zu lehren. Die anwesenden Lehrer haben sich demnach in einer am
23. Sept. abgehaltenen besondern Sitzung für die nächste Versammlung in
Dresden zu folgenden Beschlüssen vereinigt: 1) die bei der Naturforscher-Ver¬
sammlung anwesenden Lehrer treten während der Dauer derselben zu besonderen
Berathungen zusammen. 2) Zweck dieser Versammlung ist Besprechung über
die Nutzbarmachung der Fortschritte der Naturwissenschaften für den naturwissen¬
schaftlichen Unterricht, so wie die Pflege dieses Unterrichts in der Schule
überhaupt.
Auf Betreiben des unermüdlichen Prof. H. E. Richter aus Dresden war
schon 1865 in Hannover eine Commission zusammengetreten, um für die dies¬
jährige Versammlung Vorschläge in Betreff einer Medicinalreform in
Deutschland, insbesondere der Organisation des ärztlichen Standes
auszuarbeiten. Es wurden von dieser Commission folgende allgemeine Sätze
vorgeschlagen: „Es ist wünschenswert!) und für die Folgezeit vielleicht unent¬
behrlich, daß in allen deutschen Ländern die wissenschaftlich ausgebildeten und
geprüften Aerzte zu einer Körperschaft zusammentreten, welche berechtigt sei:
1) ihre Berufsangelegenheiten selbst zu verwalten. 2) ihre Standesinteressen zu
wahren. 3) Gegenstände der öffentlichen Gesundheitspflege zu berathen, 4) in diesen
Hinsichten an obere und untere Behörde« Anträge zu stellen und deren Beant¬
wortung bezüglich Erledigung zu erhalten, S) zu diesem Endzweck größere und
kleinere Vereine zu bilden, 6) mittelst selbstgcwählter Abgeordneter (ärztlicher
Kammern nach Analogie der Advocaten-, Handels- und Gewerbelammern) bei
ihren betreffenden Regierungen vertreten zu sein." Nach weiterer Motivirung
wurden als Mittel zur Ausführung dieser und späterer Medicinalreformen in
Deutschland bezeichnet: „1) Bildung ärztlicher Local- und Bezirksvereine in allen
Theilen Deutschlands, 2) Gründung eines den Interessen des ärztlichen (wohl
auch pharmaceutischen) Standes gewidmeten Correspondenzblattes in jedem ein¬
zelnen deutschen Lande oder Regierungsbezirke." Der Vorsitzende Cohen und
einige andere Mitglieder stimmten diesen Anträgen im allgemeinen zu, indem
sie anerkannten, die Mcdicinalreform habe den Zweck, für die ärztliche Wirk¬
samkeit den günstigen Boden zu bereiten; viele andere, namentlich Kirchhofs,
Varrentrapp, Wasscrfuhr traten den Anträgen entgegen, sie wollten kein Ein¬
mischen des Staates in die öffentlichen Verhältnisse und keine Anlehnung an
den Staat, nur das ärztliche Wohl, keine Standesinteressen seien zu beachten,
möglichst freie Bewegung aller Berufsclassen sei im Auge zu behalten. Dr. Wasser¬
fuhr beantragte speciell auszusprechen, daß die Aerzte zur Wahrung ihrer'In¬
teressen mehr Gebrauch von dem Vereins- und Petitionsrecht machen möchten,
sowie daß im Interesse der öffentlichen Gesundheit den Physikern eine erwei¬
terte Initiative und Executive, sowie eine gesicherte unabhängigere Stellung
zuzugestehen sei. Allseits ward empfunden, daß die angeregten Fragen noch
lange nicht spruchreif, weil noch nicht unter allgemeinen Gesichtspunkt gebracht
seien. Schließlich ward beschlossen, diese Frage einstweilen aus der Tagesord¬
nung zu belassen, die Nothwendigkeit einer Mcdicinalreform sowie eines gründ¬
lichern Studiums derselben aber principiell anzuerkennen. Ein mageres Re¬
sultat, weil man, großentheils von Standesinteressen befangen, nicht erkannte,
daß es gilt, dem ärztlichen Wissen den gebührenden Einfluß gegenüber der
Bureaucratie zu verschaffen und dem entsprechend die Stellung der Aerzte
zu einer freiern zu machen, nicht aber dem ärztlichen Stande eine angenehmere
oder würdigere Stellung zu geben.
Der geneigte Leser möge uns
gestatten, bei dieser Section etwas länger zu verweilen, nicht nur weil sie nicht
ausschließlich den Fachmann, sondern jeden Gebildeten interessirt, oder weil
sie zum erstenmal in Deutschland derartig in öffentliche Verhandlung tritt, son¬
dern ganz besonders deshalb, weil es nach unserer Ansicht sehr darauf ankommt,
in welcher Weise darin die vorkommenden Fragen vorbereitet und verhandelt
werden. Hiervon hängt sicher nicht nur der wünschenswerthe Einfluß dieser
neuen Section auf die öffentliche Meinung, aus Behörden und Vertretungen
ab, sondern sogar ihre Existenz. Denn können die Aerzte bei dieser Section
nicht aus der bisherigen Routine der deutschen Naturforscherversammlung her¬
austreten und der hohen practischen Bedeutung der Sache entsprechend practisch
vorgehen, so werden sich sicherlich diejenigen, welchen es mit der öffentlichen
Gesundheitspflege Ernst ist und welche in derselben gearbeitet haben, von der
Versammlung loslösen; es wird dies nicht zum Vortheil der Naturforscherver¬
sammlung gereichen.
Dr. Varrentrapp und mit ihm als zweiter Geschäftsführer Dr. Spieß er¬
ließen im August ein Rundschreiben, in welchem sie zur Bildung einer Section
für Gesundheitspflege aufforderten, im wesentlichen mit folgender MotiVirung:
»Die Erkenntniß seitens der Aerzte, daß ihre Ausgabe eben so gut ist, die
äußeren Ursachen der Krankheiten zu ergründen und diese selbst zu verhüten, als
ihr Wesen zu erkennen und sie zu heilen, bricht sich immer mehr Bahn. Der
Practischen Thätigkeit nach dieser Seite, von erleuchteten Staatsmännern unter¬
stützt und gefördert und bereits von nicht unbedeutenden Erfolgen gekrönt, hat
sich eine ernste rein wissenschaftliche Bearbeitung der mannigfachsten Vorfragen
angeschlossen. Es scheint daher geboten, daß eine Versammlung von Aerzten
und Naturforschern diesen Fragen nicht ferner fremd bleibe. Manche Gründe
scheinen allerdings dafür zu sprechen, für die öffentliche Gesundheitspflege lieber
ganz getrennte Versammlungen zu veranlassen. Zur Bearbeitung der hier in
betracht kommenden Fragen sind nämlich die geeigneten Kräfte aus einem wei¬
tern Kreise von Männern herbeizuziehen, als wir gewöhnlich bei den deutschen
Naturforscherversammlungen zusammentreten sehen. Nicht nur Aerzte, Chemiker,
Meteorologen, auch Ingenieure, Verwaltungsbeamte, Staatsrechtslehrer sind bei
verschiedenen Fragen dieses Feldes betheiligt. Diese Fragen verlangen ferner
weistentheils eine andere Art der Behandlung. Die Forschung des Einzelnen
tritt hier sehr in den Hintergrund; selbst wo dieser auf diesem Felde analytisch
°der synthetisch wirkend schafft, fußt er größtentheils auf Grundlagen, welche
ihm nicht von einzelnen, sondern von vielen, namentlich von amtlichen Orga¬
nen, deren Mitwirkung nicht zu entbehren ist, gesammelt und übermittelt wor¬
den sind. Wir meinen hier zunächst und im weitesten Umfange die medicinische
Statistik."
Es wird sodann weiter ausgeführt, daß das vorhandene statistische Mate¬
rial nicht nur vervollständigt werden, sondern daß die Section auch angeben
Müsse, in welcher Richtung für ihre Zwecke die Aufnahmen vorzunehmen seien.
»Die Erforschung des Bodens, des Grundwassers u. s. w. eines einzelnen Or¬
tes durch einen Einzelnen fördert uns noch wenig; nach gleichen Normen an
vielen Orten von vielen thut sie uns noth. Handelt es sich um Entwässerung,
Wasserversorgung der Städte u. tgi. fragen, so bedürfen wir des Beirathes
der Ingenieure, welche diese einzelnen Zweige ihrer Kunst zu besonderer techni¬
scher Ausbildung gebracht haben, wir bedürfen der Bau- und anderer Behör¬
den, um die erlangten Resultate derartiger Reformen zuverlässig zu erfahren
u. s. w. Demnach möchte manches dafür sprechen, alljährlich in Deutschland
einen Congreß für öffentliche Gesundheitspflege und zeitweise derartige inter¬
nationale Congresse zu hallen."
„Dagegen aber lasse sich einwenden, daß ohne Noth die Zahl der wissen¬
schaftlichen Jahresversammlungen nicht vermehrt werden solle u. f. w. Vor
allem aber scheint folgende Betrachtung für diesen Anschluß zu sprechen. Die
öffentliche Gesundheitspflege, welche, in der Regel als untergeordneter Theil der
gerichtlichen Medicin behandelt, bisher in Deutschland gegen Frankreich und
namentlich gegen England im Vergleich zu anderen Zweigen zurückgeblieben ist,
kann in ihrer wissenschaftlichen Ausbildung wie in ihren practischen Leistungen
nur dann gedeihen, wenn ihre Bedeutung in immer weiteren Kreisen, zunächst
der Aerzte und sodann des gesammten Publikums und der Behörden erkannt
wird. Wer hierin fördern will, wird einsehen, daß es gilt, den Aerzten diese
Fragen erst nahe zu bringen; die Hygienisten müssen deshalb die Aerzte aus¬
suchen; dies geschieht am besten auf unserer jährlichen Wanderversammlung.
Allerdings wird die Behandlung der einzelnen zur Discussion kommenden Ge¬
genstände großentheils verschieden sein müssen von derjenigen in anderen Sec-
tionen. Es wird namentlich sehr geeignet sein, in der Versammlung des einen
Jahres mehrere Fragen im voraus für die Tagesordnung des folgenden Jah¬
res zu bestimmen und vorzubereiten." Zur Verhandlung werden sodann vorge¬
schlagen die Fragen 1) der Aetiologie des Thphus, 2) der Entwässerung der
Städte, 3) der Ursachen der hohen Kinder-Sterblichkeit.
Nach Aufforderung des Vorsitzenden Prof. Griesinger entwickelte Dr. Var-
rentrapp die Ansichten weiter und führte namentlich aus, daß die hygienische
Section sich entschließen müsse, das Ergebniß ihrer jeweiligen Berathungen in
gewissen bestimmten Thesen auszusprechen. Dieselben, ob mit Mehrheit oder
Einstimmigkeit angenommen, könnten keineswegs beabsichtigen, in der Wissen¬
schaft irgend etwas als absolut und bleibend richtig zu octroyiren. sondern nur
der jeweiligen herrschenden Ansicht der Sachverständigen bestimmten Ausdruck
zu geben. In Betreff der Entwässerung, Canalisirung und Abfuhr z. B. ver¬
langten Ingenieure wie Magistrate von den Hygienisten eine bestimmte Mei'
nungsäußerung darüber, was die öffentliche Gesundheit als gut bezeichne, wo
sie Gefahren oder Mißstände fürchte. Es komme bei solchen Verhandlungen
keineswegs, wie in den anderen Sectionen, zumeist darauf an, daß die Anwe¬
senden sich gegenseitig belehrten, sondern sie müßten Aussprüche feststellen, welche
die Wahl anderer leiten, oder deren technische Ausführung zur Grundlage
dienen könnten.*) Er berief sich hierbei auf den eifolgreichcn Vorgang der
internationalen Congresse für Gefängnißrcform, öffentliche Gesundheitspflege ze.
Die erste behandelte Frage war die der Aetiologie des Typhus. Es
wurde sehr vag darüber hin und her geredet, in welcher Jahreszeit der Typhus
an einzelnen Orten vorherrsche, ob Feuchtigkeit auf die Verbreitung dieser
Krankheit von Einfluß sei u. tgi., alles ohne hinreichende Grundlage. Griesin-
ger legte dar, wie bei dieser Nachforschung die heftigeren Epidemien von den
mehr sporadischen Fällen getrennt ins Auge gefaßt werden müßten. Virchow
meinte, nicht sowohl der Stand des Grundwassers sei von Wichtigkeit, als
vielmehr der Stoff der es verunreinige; er betonte die locale Contactinfection.
das Ende des Dünndarms werde vorzugsweise ergriffen, weil hier der krank
machende Stoff am längsten verweile. Höchst beachtenswert!) war die von P> of.
Buhl aus München eingesandte Zeichnung der Schwankungen des dortigen
Grundwassers und der Zahl der Typhusfälle während 12 Jahren. Absolut
entspricht jedesmal dem Fallen des Grundwassers ein Steigen des Typhus.
Seid! hat auf mathematischem Wege durch Anwendung der Wahischcinlichkeits-
rechnung die Behauptung, daß dies Verhältniß ein blos zufälliges sei, vollstän¬
dig entkräftet. In dem beigefügten Briefe legte Buhl sehr schön dar, wie un¬
gerechtfertigt es bei unserer totalen Unkenntniß des Typhusgiftes sei, letzteres
w Wirkung aus Verbreitung u. s. w. dem Choleragifte in den Cholerastühlen
gleich zu stellen. Der Pilz, der bei dem Typhus Wohl anzunehmen, ist nicht
^e specifische Ursache der Krankheit sondern nur das nothwendige Vorkommnis;
bei der Gälirung und Fäulniß der durch die Krankheit außer Verband mit den
physiologischen Thätigkeiten getretenen Flüssigkeiten und Körpertheilchen. —
P ettenkofer hält den Flortyphus für eine specifische Infectionskrankheit, er tritt
an gewissen Orten häufiger und heftiger auf als an anderen. Locale und zeitliche
Momente hierfür sind aufzusuchen. Unreinlichkeit in den Häusern und deren
nächster Umgebung reichen nicht hin, epidemisches Auftreten zu erklären; solche
Unreinlichkeit würde dauerndes und überall wo sie angetroffen wird, gleich¬
mäßiges Auftreten bedingen. Höchst wahrscheinlich sind auf die örtliche und
Zeitliche Entwicklung des uns noch unbekannten Typhusinfectivnsstoffcs gewisse
Boden- und Wasscrverhältnisse von Einfluß, erstere für die örtliche, letztere für
die zeitliche Entwicklung. Sie wird begünstigt durch porösen Boden und fällt
wie dem niedergehenden Wassergehalt des Bodens zusammen. Ob die Luft
oder das Wasser im Boden die Typhusursache abgebe, sei zu untersuchen.
Gegen Virchow hebt er hervor, daß der Mensch nur 1—2 Liter Flüssigkeit,
aber etwa 8640 Liter Luft in 24 Stunden in sich ausnehme, wahrlich genug
für in uns zu übertragende Krankheitskeime. Die Untersuchung der Boden¬
beschaffenheit habe sich zu erstrecken auf Configuration der Oberfläche, geogno-
stischen Bestand und physikalische Agregation, Grad der Porosität, Wasser,
bindung der einzelnen Bodenschichten, Gehalt an organischen (organisirten und
nicht organisirten) Substanzen. Für Untersuchung der Bodenfeuchtigkeit werden
meist Grundwasserbeobachtungen ausreichen. Grundwasser nennt man jenen
Grad von Wassergehalt (in den Boden gedrungenes atmosphärisches Wasser)
einer porösen Bodenschicht, bei welchem die Luft aus den Poren gänzlich verdrängt
ist und zwar durch Wasser. Das Auf- und Absteigen dieses fixen Feuchtig¬
keitspunktes ist Grundwasserbeobachtung. —- Die hier abgebrochene Verhandlung
wird hoffentlich zur Folge haben, daß diese nothwendigen Beobachtungen end¬
lich an vielen Orten vorgenommen werden.
Thesen über die 2. und 3. Frage des Programms hatte Dr. Varrentrapp
aufgestellt und zu motiviren übernommen. — Diejenigen in Betreff der Ent¬
wässerung der Städte lauteten folgendermaßen:
Zu einer gesundheitsgemäßen Herstellung und Erhaltung unserer Wohnun¬
gen ist nothwendig, daß der Untergrund derselben rein und trocken erhalten
werde. — Hierzu muß eine stete Correction des Grundwassers eingerichtet
werden, d. h. das Grundwasser muß, a,) wo es bis über die Keilerboden steigt
tiefer gelegt, b) auf diesem niedern Standpunkt gleichmäßig und e) überhaupt
rein erhalten werden.
Dies wird erzielt durch ein systematisches Netz von tiefer als die Keller¬
boden gelegten Canälen. — Ihre Größe berechnet sich nach der Menge des
wegzuführenden Meteorwassers, zu welcher Aufgabe außerdem Ueberflußröhren
für außerordentliche Fälle mitwirken. Form und innere Wand müssen schleu¬
nigsten Fluß und innere Reibung im Auge haben. Die Canalwand muß der
Kosten und des Drainirens halber möglichst dünn und porös (außer den Haupt«
canalem nur in der Stärke eines Backsteines), aber möglichst fest (mit gutem
Cement) hergestellt werden.
Diese Canäle sind zur Aufnahme des durchsickernden Grundwassers, so wie
des Meteorwassers, der Haushaltungs-, Wahns- und Badewasser, der flüssigen
Jndustrieabfälle (mit ganz speciellen sehr seltenen Beschränkungen) und allen
flüssigen Straßen- und sonstigen Unrathes bestimmt. Alle diese flüssigen Stoffe
sind möglichst rasch in gehöriger Entfernung unterhalb der Städte zu führen.
Handelt es sich um kleine oder mittlere Städte, welche an großen Wasserläufen
liegen, so kann diesen jener flüssige Unrath getrost überliefert werden; handelt
es sich dagegen um große an kleinen Wasserläufen liegende Städte, so wird
möglicherweise eine bemerkbare Verunreinigung des Wassers entstehen, und diese
ist zu verhüten. Die durch Abfuhr .dieses Mssigen Unrathes entstehenden
enormen Kosten zwingen sich seiner durch Berieselung von Land zu entledigen.
Diese wird jedoch, außer wo magere, trockene Sandfelder zu Gebote stehen,
nur dann lohnend sein, wenn durch ein vollständiges Wasscrclosettsystem auch
die menschlichen Ausleerungsstoffe, jenem flüssigen Unrathe zugemischt, ihm
eine hinreichend düngende Kraft gewähren.
Die Frage der Wafserclosette kann getrost späterer Entscheidung vorbehal¬
ten bleiben, zunächst handelt es sich im Interesse der Gesundheit für alle Städte
nur um Austrocknung des Bodens (in den meisten Fällen Tieferlegung des
Grundwasserspiegels) und um Reinerhaltung desselben. Dies wird erzielt einer¬
seits durch absolute Verbannung aller Arten von Gruben ohne Ausnahme,
sowie durch Verbot jeder Aufspeicherung von Unrath und andererseits durch
Anlegung eines tiefen Entwässcrungssystemcs.
Dr. Varrentrapp hob motivirenb hervor, daß unsere Häuser und Städte
durch Quantität und Qualität des Wassers des Erdreichs leiden können,
quantitativ namentlich durch den wechselnden Stand des Grundwassers, durch
welchen die Zersetzung der im Boden befindlichen organischen Substanzen we¬
sentlich befördert werde. Sodann schildert er alle die vielen Quellen der Ver¬
unreinigung des Bodens durch Verbrauchswasser und Abfälle, welche direct
oder durch Versitzgruben u. tgi. in den Boden gelangen; er fuhrt verschiedene
Städte als Beispiel an. Man habe fast allerwärts nur die Entfernung der
unreinen Flüssigkeiten und nicht die Entwässerung im Auge gehabt, daher die
oberflächlichen Canäle, statt Canäle tiefer gelegen als alle Kellerboden. Unsere
Aufgabe heiße aber: Correction des Grundwassers und zwar müssen
wir es 1) wo erforderlich niedriger legen als die Kellervoden, 2) diesen niedern
Stand dauernd erhalten und 3) es rein erhalten vor jeder Verunreinigung.
Er geht sodann in die Details der Canalanlagen ein (wie sie auch jetzt in
Frankfurt durch Lindley und Gordon meisterhaft ausgeführt werden). Er bittet
die Frage der Abfuhr der unreinen Stoffe, namentlich der Excremente nicht mit
in die Berathung zu ziehen, um Verwirrung zu vermeiden und zur Annahme
bestimmter Beschlüsse in betreff der Entwässerung zu gelangen; denn diese letztere
sei unter allen Umständen nothwendig, die anderen Fragen möchten erledigt
werden, wie sie wollten.
or. Wasserfuhr, Delbrück und Hobrecht (sämmtlich aus Stettin) sind mit
den Anträgen des Dr. Varrentrapp im ganzen einverstanden, halten aber die
Entfernung der unreinen Stoffe für wichtiger als die des überflüssigen Grund¬
wassers, wünschen Weglassung der technischen Details, zumal die Betonung der
Durchlässigkeit der Canäle, ob diese nur geduldet werden dürfe, wo, wie in
Frankfurt die Kanäle allerwärts in das Grundwasser zu liegen kämen. Das
System der Schwemmcanäle habe sich seit zum Theil 30 Jahren in England und
neuerdings rü Hamburg bewährt; Frankfurt sei die zweite Continentstadt,
welche sie zur Ausführung bringe. Die Canäle von Wien, Berlin, München,
Köln, Stettin u. s. w. seien nur dem Namen nach Canäle, in der That aber
nichts als große Kloaken, Mist- und Abtnttsgruben, sie dürften nicht mit dur
nach richtigen Grundsätzen erbauten Canälen Hamburgs und Frankfurts ver¬
wechselt werden, man dürfe letztere nicht für die Mängel jener verantwortlich
machen. Das englische Canalsystem habe in allen Städten Minderung der
Sterblichkeit im Gefolge gehabt. Diesem Resultate gegenüber sei die Verwen¬
dung der abgeführten Stoffe Nebenfrage. Sie stelle» daher folgenden Antrag:
„Die Section für öffentliche Gesundheitspflege wolle erklären: I. Im In¬
teresse der öffentlichen Gesundheitspflege der Städte ist die Aufspeicherung der
Fäulniß ausgesetzter organischer Abgänge in oder neben den Wohnungen für
verwerflich zu erachten, und die Beseitigung aller Arten von Gruben oder
Sammlern zur Aufnahme derselben zu fordern. — II. Systeme unterirdischer
Abzüge (Lvvei's), welche die erwähnten Abgänge durch Spülung aus dem Be¬
reiche der Wohnung ableiten, sind das bewährteste Mittel, die s,ä I erwähnten
Gesundheits-Schädlichkeiten zu beseitigen. — Derartige Abzugs-Systeme werden
in der Rege! auch eine bessere Trockenlegung des bebauten Terrains erreichen
lassen."
Pettenkofer stimmt dem Varrentravpschen Antrag zu, doch wünscht er
statt des letzten Alinea folgenden Satz: „Die beste Methode für Entfernung
der menschlichen ELcremente soll aus der nächsten Versammlung zur Berathung
kommen."
Geh. Baurath Wiebe, mit Barrentrapp und Hobrecht einverstanden, stellt
folgenden Antrag:
Die Section für öffentliche Gesundheitspflege wolle erklären: Zur Herstel¬
lung und Erhaltung eines normalen Gesundheitszustandes in Städten erachtet
sie folgende Mittel für wesentlich: 1. Versorgung der Wohnhäuser mit frischem,
reinem Wasser, und zwar am besten durch alle Stockwerke. 2. Leichte und
schnelle Abführung des durch den Gebrauch verunreinigten Wassers durch gut
eingerichtete, gehörig gespülte und ventilirte unterirdische Abzüge, dergestalt, daß
jeder Fäulniß der flüssigen organischen Abgänge nicht nur im Bereiche des
Hauses, sondern auch im Bereiche der ganzen Stadt unbedingt vorgebeugt
wird. 3. Diese Abzüge sind mit Vorrichtungen zu versehen, die jedes .Austreten
von Luft aus denselben in die Häuser wirksam verhindern. 4. Die Abzüge
müssen tiefer als die Kellersohleu liegen und sind so anzulegen, daß sie die
Keller von etwaigem Grundwasser befreien, überhaupt die Keller vor dem Ein-
treten von Wasser ir. dieselben völlig schützen. 6. Die Abzüge müssen auch
menschliche Abgänge unschädlich aufnehmen und abführen können, sofern sie
ihnen frisch, das heißt ohne jeden Aufenthalt, gleich nach ihrem Entstehen zu-
geführt werden und so weit mit Wasser verdünnt sind, daß sie eben so leicht
wie das sonstige unreine Hauswasser abfließen. 6. Um solche Abflüsse auch
außerhalb der Städte unschädlich zu machen und zugleich die in ihnen enthal¬
tenen Düngstoffe für den Landbau zu verwerthen, sind dieselben, sei es durch
Verwendung zur Berieselung, sei es durch andere gleich bewährte Methoden,
so weit zu reinigen, daß sie ohne Nachtheil für die Gesundheit in öffentliche
Wasserläufe geleitet werden können.
MoUve: Es kann hier nicht Absicht sein, dem Ingenieur für alle, so
vielfach verschiedenen Fälle specielle Anweisung zur Ausführung der für die
öffentliche Gesundheitspflege erforderlichen Anlagen zu ertheilen. Wir erachten
es vielmehr als Aufgabe dieser Versammlung, diejenigen Zwecke vom ärztlichen
Standpunkte klar und bestimmt anzugeben, welche durch solche Anlagen erfüllt
werden sollen.
Dr. Thut i es um (Professor der pathologischen Chemie am Thomashospital
in London und seit langen Jahren mit hygienisch-chemischen Arbeiten beschäftigt)
hält die Frage über Abfuhr der Excremente nach den Ersahrungen der englischen
Städte mit Wasserclosetten und Schwemmcanälen für vollständig erledigt, dies
sei auch die Meinung in ganz England. Selbst Child. der zufolge eines
vor zwei Jahren erschienenen Schriftchens a-is Gegner derselben ciiirt werde,
und der nach dessen Veröffentlichung zum Gesundheitsbeamten von Oxford er¬
nannt worden war. habe danach die Frage wirklich studirt und sei nunmehr in
einer jetzt erschienenen Schrift ebenfalls für Wasserclosctte und Schwemmcanäle.
Er erwähnt sodann den durch Berieselung mit Canaljauche enorm gesteigerten
Vvdenwerth und giebt schließlich Kenntniß von der durch Simon officiell ver¬
öffentlichten Ausnahme der Sterblichkeit in 24 englischen Städten, in welchen
seit längerer Zeit bauliche Verbesserungen, namentlich Wasserclosette und
Schwemmcanäle, durchgeführt worden seien. Es sind für alle Städte die
Jahre vor und die Jahre nach jenen Verbesserungen einander gegenüber¬
gestellt; allerwärts ist Verminderung der Sterblichkeit überhaupt, so wie an
Typhus und Tuberculose insbesondere eingetreten (obgleich England im
ganzen genommen in den Jahren 1861—63 eine etwas höhere Sterblich¬
keit als von 1851—60 liefert).
Baurath Hennicke bestätigt nach eigener Anschauung jene Fortschritte in
England.
Herr Krepp verliest eine Lobrede auf das Liernur'sehe System, auf pneu¬
matischen Wege die Excremente täglich aus den Städten zu entfernen. Für Frank¬
furt werde die Anlage hierzu „nur 2'/, Millionen Gulden" kosten (daneben aber
noch enorme jährliche Kosten für einen äußerst umständlichen Betrieb). Die
Form der Mittheilung rief lauten Widerwillen hervor, auf die Sache ging nie¬
mand ein; eine zur Prüfung des projectirten Systems ernannte Commission
erklärte auf Abgabe eines Gutachtens'verzichten zu müssen, weil ein solches
Mißdeutungen erfahren könne u. s. w.^)
Dr. Varrentrapp hebt einige sachlichen Irrthümer des Herrn Krepp
hervor und ergänzt Dr. Thudichum's Mittheilung noch dadurch, daß Städte,
welche für treffliches Wasser gesorgt, aber Wasserclosette nur in geringer Zahl
und ein Schweinmcanalsystem überhaupt nicht eingeführt hätten, noch keine
merkliche Besserung der Gesundheit nachweisen könnten, woraus sich ergebe, daß
Wasserclosette und Schwemmcanäle allerdings der wichtigste Theil.jener bau¬
lichen Veränderungen sei, wie auch Farr u. a. annehmen. Weitere Ausführung
dieser Sätze finde sich in seinem so eben erschienen Werke „über Entwässerung
der Städte", wo er alles Material in Betreff der gesundheitlichen Seite dieser
Frage gesammelt habe. Er giebt Kenntniß von neuen Briefen, die er darüber
von Liebig, Simon, Farr u. a. erhalten hat.
Es hatten sich somit alle diejenigen Aerzte und Baumeister, welche die Ca-
nalisationsfrage sowohl theoretisch als in England und Hamburg praktisch stu-
dirt hatten, einstimmig, unbedingt und ohne Rückhalt für Wasserclosette. Schwemm¬
canäle und Entwässerung ausgesprochen. Dagegen war nichts anderes vorge¬
bracht worden, als die Ansicht, daß eine bewährte Methode deshalb andere
noch nicht ausschließe, daß die Fragen, zumal die der Berieselung, noch nicht
spruchreif seien, daß man sich noch nicht hinreichend instruirt habe; daß Ab¬
stimmung und Resolutionen der Sectionen ganz gegen den Gebrauch der Natur¬
forscherversammlung, ja undeutsch seien! Hiergegen konnten die erwähnten
Aerzte und Ingenieure, welche sich sämmtlich auf den Wiebe'schen Antrag ver¬
einigt hatten, nicht durchdringen mit ihrem Verlangen, die Versammlung solle
ihre Ansicht über die vorliegende Frage aussprechen. Dr. Wasserfuhr betonte,
daß diese Section sich nicht mit abstracten Dingen zu beschäftigen, nicht über
wissenschaftliche Wahrheiten abzustimmen habe, sie müsse ein practisches Resultat
liefern; die Gemeindevertreter verlangten von ihr einen Ausspruch, an welchen
sie sich halten könnten. Dr. Varrentrapp erwähnte noch, daß es ihm auf einen
Ausspruch vorzugsweise über Entwässerung u. tgi. ankomme, Sätze, die man
für selbstverständlich erkläre, gegen welche aber in allen deutschen Städten, mit
Ausnahme von Hamburg und Frankfurt, gehandelt und gesündigt werde. Auf
die angeblich strittigste Frage, Wasserclosette oder nicht, lege er practisch gar
keinen Werth, denn wo den Einwohnern reichliches Wasser geliefert werde,
kämen die Wasserclosette von selbst, gleichgültig ob man sie fördere, verbiete
oder selbst mit Strafen belege; so sei es in Brüssel gegangen, Berlin zähle jetzt
etwa 13000 Wasserclosette, auch in Frankfurt bürgerten sie sich ein und nun,
nachdem Paris seit IV, Jahren die reichliche Wasserversorgung aus der Dhuis
habe, streiche auch der allmächtige Seinepräfect Hausmann die Segel seines fast
zwanzigjährigen Widerstandes.
Die Versammlung beschloß mit etwa V» der Stimmen von 1S0—180 An¬
wesenden, principiell sich jeder Abstimmung zu enthalten.
Die Zeit war erschöpft; die Frage der Kindersterblichkeit, für welche
Dr. Varrentrapp eine Reihe von Thesen aufgestellt und eine statistische Arbeit
über Kindersterblichkeit Frankfurts im Vergleich mit anderen Städten und Län¬
dern hatte vertheilen lassen, kam nicht mehr zur Verhandlung. Es ward statt
dessen folgender Antrag von Dr. Varrentrapp angenommen.
In Erwägung: 1) daß es für die Ersprießlichkeit der Verhandlungen der
Section für öffentliche Gesundheitspflege von entscheidenden Einfluß sein wird,
daß es nicht von dem Zufalle abhänge, welche Frage gerade von einem der
Erscheinenden vorgebracht werden wird, daß diese Fragen vielmehr, sowohl
längere Zeit zuvor bekannt gemacht, als in der Regel auch zuvor durch Aus¬
schüsse geprüft und bearbeitet worden seien, — 2) daß die Bedingungen und
Ursachen der in den einzelnen Staaten und Städten höchst verschiedenen, immer¬
hin aber sehr hohen und sicherlich vielfach verminderbaren Kindersterblichkeit
nicht genügend erforscht sind, — daß zu dieser Erforschung gleichmäßige und
wiederholte Erhebungen erforderlich sind, — beschließt die Section für öffent¬
liche Gesundheitspflege:
die Geschäftsführer der diesjährigen Versammlung zu ersuchen.
Die Thesen über Kindersterblichkeit hatten sich vorzugsweise auf die Punkte
statistischer Erhebung und sonstiger Erforschung bezogen und die Einsetzung
einer Commission beantragt, welche sich (etliche Jahre wiederholt) mit der Ein-
sammlung der statistischen Nachweise und deren Bearbeitung beschäftigen und
mit den Behörden in Verbindung setzen sollte.
Die hygienische Section hat sich sonach mit sehr wichtigen Fragen beschäf¬
tigt, keine aber zu einem Abschluß oder demselben nur viel näher gebracht. Die
Mittheilungen in Betreff des Typhus beruhten meist auf Beobachtungen, welche
über das Gewöhnliche (Jahreszeit, Temperatur u. tgi.) nicht hinausgingen.
Die Verhandlung über Entwässerung ließ diese specielle Frage ganz außer. Acht,
stellte aber wenigstens das Ergebniß fest, daß sich alle Aerzte und Ingenieure,
welche sick theoretisch und practisch mit der Canalisationsfrage beschäftigt hatten,
ohne Ausnahme und unbedingt für Wasserclosctte und Schwemmcanäle aus-
sprachen. Will die Section eine wahrhaft segensreiche Wirkung ausüben (und
diese ist ihr sehr nahe gelegt), so muß sie sich aus allen den oben angegebenen
Gründen entschließen, zu Beschlüssen, zu Aussprüchen ihrer Ansicht gelangen.
Diese müssen aber eingehender sein, als die dieses Jahr von Dr. Varrentrapp
vorgelegten. Die Wicbeschen über Canalisation waren richtiger geordnet, aber
nicht so klug und vorsichtig in der Beschränkung. Man studire doch gefälligst
die Thesen des Brüsseler Congresses für Gesundheitspflege (1832) und nehme
sie zum Muster. Vor allem aber muß der Vorsitzende fest daran halten, daß
die Fragen möglichst scharf begrenzt und einzeln zur Verhandlung und Abstim¬
mung gelangen. Wir beglückwünschen die frankfurter Versammlung zu der
Bildung dieser sicherlich vom größten Einfluß auf tre Gesundheitszustande in
Deutschland begleiteten Section; mögen die Versammlungen der nächsten Jahre
ihre Schuldigkeit in richtiger Ausbildung dieser Section thun.
Eine sehr große Verbesserung lag ferner in der Hebung der allgemeinen
Versammlungen zu der Höhe, die sie nur in den ersten Jahren gehabt
hatte». In den zwei letzten Jahrzehnten lag alles Interesse nur in den Sec-
tionssitzungen, zu Vorträgen in den allgemeinen Sitzungen drängten sich meist
Redelustige ohne Bedeutung. Vor zwei Jahren in Hannover beschloß die Ver¬
sammlung aus Virchows Antrag, daß in den allgemeinen Sitzungen Bericht
über die Fortschritte in den einzelnen Zweigen der Naturwissenschaften in einer
für jeden Naturforscher geeigneten und lehrreichen Weise erstattet würde. Die
frankfurter Geschäftsführer haben diesem Auftrage bestens entsprochen und eine
ausgezeichnete Wahl getroffen. Nicht minder glücklich lösten die 9 gewählten
Redner ihre Aufgabe. Gleich der alte Staatsrath Mädler, der den Reigen
eröffnete, lieferte einen auch in der Form meisterhaften Ueberblick der Leistungen
der Astronomie während der letzten 8 Jahre. Pettenkofer legte die Bedeu¬
tung der öffentlichen Gesundheitspflege dar und betonte die Nothwendigkeit
selbständiger Lehrstühle an allen Universitäten für dieses Fach, bis jetzt besäßen
nur die drei bayrischen Universitäten solche Professuren. Wundt sprach über
die Physik der Zelle in ihrer Beziehung zu den allgemeinen Principien der
Naturforschung, Ball über Mykologie, Virchow über die Fortschritte der Pa-
thologie, Clausius über den zweiten Lehrsatz der mechanischen Wärmetheorie,
Schaaffhauscn über die anthropologischen Fragen der Gegenwart, Geiger
über den Farbensinn der Urzeit und seine Entwickelung, v. Kittlitz schließlich
über die practische Wichtigkeit der psychologischen Selbsterkenntniß. Derartige
Vollendete, in sich abgerundete Ueberblicke lassen sich nicht in Auszügen von
wenigen Sätzen kennzeichnen, wir können darauf um so eher verzichten, als uns
zugesagt ward, daß ein jeder Theilnehmer der Versammlung noch im October
einen vollständigen Abdruck aller dieser Vorträge als Anhang zum Tageblatt
in seine Heimath nachgeschickt erhalten solle.
Im vorjährigen Kriege war nach der preußischen Armee im ganzen Bun¬
desgebiet keins der kleineren Contingente schlagfertiger als das sächsische; keins
schlug sich besser und kein anderes wurde nach dem Frieden -rascher und gründ¬
licher reorganisier. Noch ist nicht ein Jahr vorüber und die tief eingreifendsten
Umwandlungen sind bewirkt. Es ist eine brave und intelligente Truppe, welche
jetzt der deutschen Armee fest eingefügt ist, und bei einem neuen Kampf an der
Seite ihrer deutschen Kameraden unter dem Oberbefehl des Bundesfeldherrn
die alte Tüchtigkeit und Tapferkeit für Deutschland bewähren soll.
Ihre Geschichte aber ist so abweichend von der anderer Contingente des
Bundesstaats und so reich an Unglück, an Opferung für die Polttik ihres
Kriegsherrn und an dem furchtbaren Conflict hoher Pflichten, daß wir uns nicht
Versagen, dem Glückwunsch, welchen wir für ihre gegenwärtige Stellung zur
Nation haben, und einer kurzen Aufzählung ihrer Schicksale, welche wir nach
Mittheilungen eines geehrten Mitarbeiters geben, in der nächsten Nummer einige
Bemerkungen über ihre und der übrigen Contingente Stellung in der Bundes¬
armee folgen zu lassen.
Nach dem dreißigjährigen Krieg wurden infolge der allgemeinen Er¬
schöpfung die Streitkräfte allenthalben in Deutschland sehr reducirt und so
Zählte denn die sächsische bewaffnete Macht im Jahre 1673 unter Johann
Georg II. etwa 6500 Mann unter dem Kommando des Churprinzen, dem
nachmaligen Johann Georg III., der sie der kaiserl. Armee am Rhein zu¬
führte. Als dieser 1680 zur Negierung gelangte, that er vieles für das Heer¬
wesen und man kann ihn als den eigentlichen Begründer derselben annehmen.
1683 eilte er mit 12 000 Sachsen zum Entsatz Wiens. Als Generale werden
dabei genannt: Fcldmcn schall v. d> Goltz, Fe!dmarschallieut. v. Flemming,
die G.nerale Prinz Christian zu S. Weißenfels, Graf D autmannsdors,
Graf Reuß. v. Neid schütz.
Im Jahre 1683 gingen 3 Regimenter nach Venedig gegen die Türken,
1686 weitere 6000 Mann noch Ungarn ab und 1688 führte der Churfürst dem
Kaiser 15.000 Mann an den Rhein zu.
Beim Entsatz zu Wien bestand die sächsische Armee aus- dem Leibgarde-
Trabanten-Regiment, später Karcis an. Loi'pZ, dem Kürassier-Leibregiment, den
Regimenter» 'Trautmannsdorf-, Goltz- und Ploth-Kürasstere, Gras Neuß-Drago-
ner; an Infanterie: dem Leibregimcut, Regiment Go!dz, Flemming, Prinz
Christian, Kupfer, Löwen und einer Grenadier-Compagnie.
Unter Johann Georg IV. (1- 1694) wurden die Grand-Musketäre unter
Oberst v. Massenbach errichtet, die aber bald nach seinem Tode unter seinem
Nachfolger Friedrich August I. (der Starke) wieder aufgelöst und unter die
Dragoner-Regimenter v. Schöning und v, Clamm vertheilt wurden. 1692
wurde das Kadettencorps errichtet und im folgenden Jahre gingen 12,000 Sachsen
als N.ichscontingent gegen die Franzosen.
Unter dem prachtliebenden und kriegerischen August dem Starken er¬
litt auch die Armee manche Umgestaltung. 1697 wurde ein Generalstab und
eine Compagnie Pontoniers errichtet. Schon 1703 bestand die Armee aus
8 Garde-, 8 Kürassier- und 8 Dragoner-Regimentern, jedes zu 4 Schwadronen,
12 Infanterie-Regimentern zu je 2 Bataillonen, 1 Artillerie-Corps, 6 Regi¬
menter Defensioner (Milizen, die aber bereits 1716 wieder aufgehoben wurden),
2 Regimenter Ritterpferde und den Festungsgarnisonen. 1712 wurde das In-
genieurcorps errichtet und 1725 die Nitier-Militair-Academie (adeliges Kadetten¬
corps). 1729 die Leibgrenadier-Garde. Im Jahre 1731 wurden noch 6 Küras.
hier-Regimenter errichtet. Bekannt sind die großen und kostspieligen Lustlager
zu dieser Zeit, darunter das bei Zeithain 1730, wo 30,000 Mann zusammen
gezogen waren. Unter Augusts I. Regierung fochten die Sachsen: 1694—96
ein Corps von 12,300 Marin gegen die Türken, von 1700—1706 verschiedene
Corps gegen Karl XII.' von Schweden. 1702—1709 4 Kürassier- und 6 In¬
fanterie-Regimenter als Soldtruppen und 9000 Mann als Neichscontingent
mit den Kaiserlichen gegen die Franzosen, von 1709—1713 ein 15,000 Mann
starkes Corps abermals gegen die Schweden und 1715—1717 gegen die aus¬
ständischen Polen.
Ais 1733 August II. dem verstorbenen Vater in der Negierung folgte,
errichtete er von da'bis 1745 die 4 Regimenter Chevaux-Legers und 1742 noch
4 Regimenter Infanterie. Er stiftete 1736 den Militair-Se.-Heinrichs-Orden.
und 1738 errichtete er die Erziehungsanstalt für Soldatenknaben in Anna¬
burg, sowie 1742 eine Ingenieur-Academie. Unter diesem Kriegsherrn fochten
die Sachsen 1733—1735 gegen die Conföderirten in Polen, 1735 als Neichs-
contingent gegen Frankreich, 1737—39 in Ungarn gegen die Türken, 1741—42
im ersten schlesischen Kriege gegen Preußen. ' Ebenso auch im zweiten schiefe'
sehen Kriege von 1744—45. Dle Armee war damals 51,780 Mann stark, wurde
aber in Folge der großen Verluste bis auf 16,000 Mann vermindert.
Beim Ausbruch des 7jährigen Krieges 1756 wurde die Armee, 12.000 Mann
stark, beiPirna gefangen genommen und unter die preußische gesteck!; doch verließ
der größere Theil durch Desertion und Uebergang die preußischen Reihen. Schon
im nächsten Jahre ist wieder ein Corps von 10.000 Mann unter dem Prinzen
Xaver errichtet, das zu den Franzosen stößt und hier bis zum Friedensschluß
(1763) verbleibt. Die in Polen gestandenen Regimenter stießen zur kaiserlichen
Armee und zeichneten sich da mannigfach, namentlich in der Schlacht bei
Coll in aus.
Während der Unmündigkeit Friedrich Augusts III. that Prinz Xaver
als Administrator nach dem Hubertsburger Frieden viel für die Reorganisation
der Armee und errichtete 1766 die Artillerie-Academie in Dresden. Als Fried¬
rich August 1768 die Regierung übernommen hatte, kam 1775 ein neues
Exercir-Reglement heraus und 1776—77 wurde ein großes Lager bezogen.
1778 wurde eine Unisormirung vorgenommen, in dem alle Infanterie Regimen¬
ter von 3 Bataillonen und 14 Compagnien auf 2 Bataillone und 10 Com-
pagnien, sowie die Vertheilung der 4 Kürassier-Regimenter unter die andere
Cavallerie angeordnet wurde.
Bon 1778—79 nahm die Armee, mit Preußen alliirt, Antheil am bay¬
rischen Erbfolgekriege gegen Oesterreich, wobei es jedoch bekanntlich zu keiner
eigentlichen Action kam. 1791 wurde ein Husaren-Regiment errichtet. In den
Kriegen von 1793—96 fochten verschiedene Corps in der Starke von 3200,
6000 und 10,000 Mann als Reichscontingcnt gegen die Franzosnr am Rhein,
1794 hatte die ganze Kavallerie stehende weiße Federbüsche erhalten. Im
Jahre darauf wurde jedes Infanterie-Regiment um 100, das Artillericcorps
um 300 Mann verstärkt. In den Jahren 1802 und 1803 wurden große Lager bei
Mühlberg und Dresden, gegen 30,000 Mann stark zu Uebungen bezogen.
Im erster» Jahre wurden bei dieser Gelegenheit an alle Regimenter neue
Fahnen vertheilt. Abermals erschien 1804 ein neues verbessertes Exercir-
reglement.
In dem für Deuschland so verhängnißvollen Jahre 1806 wurden Flügel-
adjutantcn ernannt, eine Militär-Plankammer eingerichtet und eine reitende
Batterie formirt. Unter dem General v. Zezsck'witz nahm die Armee an der
unglücklichen Schlacht bei Jena 22,000 Mann stark, mit Theil, während die
bei der Avantgarde unter Prinz Louis Ferdinand von Preußen befindliche
Truppenabtheilung im Gefecht bei Saalfeld eine Niederlage erlitt.
Nach dem Friedensschluß zu Posen vereinigte sich ein 6000 Mann starkes
Corps unter Generallieutenant v. Potenz in Folge des Rheinbundes mit
den Franzosen und stieß zum Corps des General Leföbre.
Beim Ausbruche des Krieges zwischen Frankreich und Oesterreich mußte
Sachsen für ersteres 19,000 Mann stellen, die abermals General v. Zezschwitz
führte und die zum Corps des Marschalls Bernadotte gehörten. Die Sachsen
fochten mit in der Schlacht bei Wagram und sonst mit besonderer Auszeich¬
nung. Es waren in diesem Jahre ein Jägcrbataillon und 2 Sehühenbataillone
«richtet worden.
Mit dem Jahre 1810 traten abermals durchgreifende Veränderungen in
Formation und "Ausrüstung ein, wovon auch die eben errichteten 2 Schützen¬
bataillone mit berührt wurden, indem sie zu zwei Regimentern leichter Infan¬
terie den Stamm gaben. Auch die Uniform wurde umgeändert.
Beim Ausbruche des Kriegs mit Nußland mußte Sachsen ein Corps Von
20,000 Mann stellen, über das der Generallieutenant v. Le Coq das Kom¬
mando übernahm. Auch auf diesem schrecklichen Zuge, der in -er Kriegs¬
geschichte seines Gleichen sucht, fochten die Sachsen mit aller Bravour und
zeigten bei allem Misöre eine seltene Disciplin.
Im Mai 1813 vereinigte sich nach der Schlacht bei Lützen ein neugebil-
det-s und 10,000 Mann starkes Corps mit der französischen Armee und stieß
zum Corps des General Reynier. Die Kürassierbrigade und später ein
Bataillon Fußgarde kamen zur Hauptarmee. Die Sachsen fochten mit ge-
wohnter Tapferkeit in den mörderischen Schlachten bei Bautzen, Dresden,
Groß-Beeren, Dennewitz und Leipzig. Nach letzterer verließen sie die
französischen Fahnen und traten zu den Alliirten über. Hatten sie bisher ihr
edles Blut für eine fremde Sache und zum Nachtheil des Vaterlandes fließen
lassen müssen, so standen sie nun in den Reihen ihrer Stammesbrüder.
Die gewaltigen Verluste machten abermals eine Reorganisation nöthig.
Die Armee bestand von neuem aus 3 Regimentern und 1 Schwadron Reiterei.
1 Grenadier-Regiment, 3 Linien-Regimentern, jedes zu 3 Bataillonen. 2 Regi¬
menter leichter Infanterie zu je 2 Bataillonen, 1 Jägcrbataillon und 7 Bat¬
terien. Zugleich wurden über 20,000 Rekruten ausgehoben, daraus zunächst
6 Landwehr-Regimenter formut und überdies noch ein 3000 Mann starkes
Corps Freiwilliger, die „Banner" genannt, errichtet.
Auf diese Weise wurde die Wehrkraft Sachsens bis auf circa 40.000 Mann
gebracht, die großentheils als drittes deutsches Armeecorps unter dem Herzog
von Weimar nach den Niederlanden zogen und dort mit operirten. Die Land¬
wehr und die Banner, letztere unter dem Herzog von Coburg, hatten während¬
dem bei Mainz gestanden.
Nach dem pariser Frieden marschirten diese letzteren Truppen wieder nach
dem Lande zurück, während die der Linie, etwa 16,000 Mann stark, bis zum
Frühling 1813 am Niederrhein stehen blieben, wo sie mit unter des Marschalls
Blücher Oberbefehl standen und dann ins Osnabrückische marschirten. Hier
fand bei dem Anfall eines Theils der sächsischen Lande an Preußen auch die
Theilung der Truppen statt, wodurch eine abermalige neue Hormirung der
Armee bedingt wurde, die jetzt auf die Stärke von 16,000 Mann reducirt
wurde. Diese nahm bald darauf an dem wieder begonnenen Kriege mit
Frankreich Theil und vereinigte sich unter Generallieutenant Le Coq und unter
dem Oberbefehl des Herzogs von Coburg mit der österreichischen Armee im
Elsaß. Nach dem Friedensschlüsse 1815 blieb ein Corps von 5000 Mann
unter Generallieutenant v. Gablenz mit der Occupations-Armee in Frankreich
zurück, das erst 1818 wieder heimkehrte.
Im Jahre 1820 erhielt die Armee abermals eine neue, den Bundes¬
bestimmungen mehr entsprechende Organisation. 1836 und 1838 wurde sie
mit Percussionsgewehren versehen.
Die Vorgänge des Jahres 1848 waren auch auf Sachsen tief einwirkend.
Im October mußte auf Anordnung der Reichs-Centralgewalt ein 6000 Mann
starkes mobiles Corps unter Generalmajor Graf Holtzendors als Neichs-
truppe Altenburg und einen Theil Thüringens zur Erhaltung der Ordnung
besetzen, die dann später in die Elbherzogthümer gegen die Dänen abgingen.
Anfanas Ayrt 1849 zogen abermals Truppen nach Schleswig, bestehend aus
dem Gardereiter-Regiment, einer 12- und einer 6pfündiger Batterie, dem 2.
und 3. Infanterie-Regiment, einem Schützenbataillon und einer Pionnier-Ab-
theilung und abermals 6000 Mann stark, unter Generalmajor V.Heinz dahin
ab. Sie kamen unter den Oberbefehl des preußischen Generallieutenants
v. Prittwitz. Die Sachsen zeichneten sich auch hier, namentlich am 13. April,
bei dem Stürmen der Düppeler Schanzen aus, wobei ihr Thronerbe. Kron»
Prinz Albrecht. Augenzeuge war. Dieses Contingent kehrte nach dem Waffen«
stillstand im September wieder in die Heimath zurück.¬
Eine schwierigere und peinlichere Aufgabe hatten die im Lande zurück
gebliebenen Truppen bei Niederwerfung des Mai-Aufstandes in Dresden zu
lösen, die nur unter dem Beistande preußischer Regimenter gelang. Danach
trat abermals eine neue Organisation ein, wobei die Stärke der Armee aus
25,000 Mann gebracht wurde.
Das Jahr 1853 brachte wieder ein neues Exercier-Reglement für Infanterie
und Reiterei und 1856 ein neues Militär-Strafgesetzbuch, und 1857 erhielt
die Artillerie ein anderes Reglement.
Beim Ausbruch des Krieges in Italien im Jahre 1859 wurde in Folge
Bundesbeschlusses durch Cabinetsordre die Kriegsbereitschaft der Armee an¬
geordnet, aber bald wieder ausgehoben.'
1861 erhielt die Artilleriegezogene Geschütze und ein Jahr darauf wurde
die Infanterie mit gezogenen Gewehren versehen. Gleichzeitig erhielt dieselbe
andere Uniformirung.'
Als im Jahre1863 abermals der deutsch-dänische Krieg ausbrach, wurde
Sachsen vom deutschen Bunde angewiesen, ein Corps von 6000 Mann als
Executionstruppen nach Holstein zu senden, über welches der Generalmajor
v. Schimpfs das Commando erhielt. Zu gleichem Zwecke sollten auch mehrere
andere Bundesstaaten Truppen stellen, und über das Ganze sollte der sächsische
Generallieutenant v. Hake den Oberbefehl erhalten. Doch bald entstanden
Differenzen zwischen den beiden deutschen Großmächten und den anderen Bundes-
truppen und so sah sich der Commandirende nun nur auf sein sächsisches und
ein hannvversches Corps von gleicher Stärke beschränkt. Nachdem das Corps
ein Jahr in Holstein gestanden hatte, kehrte es im December 1867 wieder nach
dem Lande zurück. Es war für die braven Sachsen mehr ein Kampf mit den
Gefühlen als mit den Waffen gewesen. —
Als in dem ereignißvollen Jahre 1866 der längst befürchtete Zasammen-
stoß der beiden deutschen Großmächte erfolgte, schlug sich Sachsen auf Oestreichs
Seite und theilte von nun an dessen Geschicke.
Wo die Sachsen sich am Kampfe betheiligten, zeigten sie die alte Bra-
bour, ihre.Führer Umsicht und Sicherheit. Davon gaben sie schon Beweise in
dem heißen Treffen bei Giczin (29.) Juni, wo sie dem Corps des Grasen
Clam-Gallas zugetheilt waren. (Doch alle ihre Tapferkeit, die sie hier be¬
wiesen, konnte die Mängel nicht compensiren, die vom Obercommando ausgingen.)
Rühmlichen Antheil nahmen auch die Sachsen an der Entscheibunass i lacht
bei Königsgrätz; sie hielten sich im allgemeinen Wirrwarr des Rückzugs in
möglichster Ordnung zusammen und leisteten dadurch ihren Bundesgenossen eine
nicht geringe Hilfe.'
Eine harte Prüfung wurde den braven Kriegern noch nach den Kämpfen
und dem Friedensschlüsse. So lange die diplomatischen Unterhandlungen noch
über diesen hinauswährten, mußten sie in der Fremde weilen und wurden da
auch mehr und mehr als lästige Fremdlinge angesehen. Nach der endlichen Rückkehr
rvurde zu den bisherigen Decorationen. dem Verdienst- und Albrechtvrdcn. noch
eine neue für die ?trace gestiftet, welche Dank der seitdem erfolgten Aende¬
rung der Dinge hoffentlich'die letzte ist. die erfolglose Tapferkeit schmückt.
Schon am 1. April dieses Jahres war die neue Organisation der Armee
und ihre nunmehrige Stellung zum deutschen Bund ausgearbeitet, ein Beweis,
daß man mit Aufrichtigkeit 'und Ernst an die Sache'ging. Die sächsische
Armee besteht von nun an aus 8 Linien-Jnfanterie-Regimentern und 1 Schützen¬
regiment, jedes zu 3 Bataillonen. 2 Jägevbataillonen, 6 Regimenter Reitern, dar¬
unter die wegen der conform der preußischen Armee zu errichtende Landwehr¬
reiterei menge'stifteten Ulanen). 1 Feldartillerie-Regiment zu 16 Batterien, 1 Fe-
stungsartillerie-Regiment mit einer Festungsabtheilung von 4 Compaanien und
1 Pionnier- und 1' Train-Bataillon, im Ganzen 35.460 Mann. Die Landwehr
ist in 12 Bataillonsbezirkc eingetheilt. Selbstverständlich ist auch hier alles
Möglichst nach preußischem Muster organisirt. Mit Vertrauen blickt das Vater-
land aus die nunmehr als 12. Bundesarmee-Corps organisirte Truppe, zu deren
Bestem wir möglichst baldige Beseitigung aller noch vorhandenen Abweichungen
von der norddeutschen Militärverfassung wünschen.
W. A. Mozart von Otto Jahr. Zweite durchaus umgearbeitete Auflage.
In 2 Theilen. -- Erster Theil, mit drei Bildnissen und vier Facsimiles.
Leipzig. Bleitkopf und Härtel, 1867.
Weinr der verehrte Verfasser S. XXVIII. ausspricht, daß ihn selbst
der Erfolg seiner großen bändigen Mozartbiographie und die immer deutlicher
werdende Nothwendigkeit einer neuen Auflage überrascht habe, so werden sich
die zahlreichen warmen Freunde seines Werkes auch hierin in Einklang mit
ihm finden. Schriftsteller wie Verleger sind heutzutage nur zu sehr daran ge¬
wöhnt, bedeutendere Bücher, welche einen gewissen Umfang und Preis über¬
steigen, als einen eisernen Bestand des Lagers ansehen zu lernen, und zumal
das Publikum der Künstler und Kunstfreunde unseres deutschen Vaterlandes
se.de im Bücherkaufen hinter den Engländern. Franzosen und Italienern empfind¬
lich zurück. Desto lebhafter begrüßen wir es, daß dem obengenannten Buche
ein besseres Schicksal zu theil geworden, und um so zuverlässiger prophezeien
wir der vorliegenden neuen Bearbeitung, das was sie beabsichtigt und verdient:
Verbreitung in weitesten Kreisen. Interesse bei allen Verehrern Mozart's und
bei allen denen, welche, überzeugt, daß Kunstgenuß und Kunstverständniß
nur ein Resultat ernster Arbeit sein können, sich hierbei einem bewährten Füh¬
rer anvertrauen wollen.
Das Wer? ist in seiner neuen Gestalt erheblich gefördert worden. Erstlich
haben alle gesicherten Resultate der fortgesetzten Studien des Verfassers und der
durch die erste Auflage angeregten kunstwissenschaftlicher und historischen Arbei¬
ten Anderer Aufnahme darin gefunden (Vorrede S. XXX. ff.) Insbesondere
verdankt der Verfasser Ludwig von Köckels chronologisch-thematischem Verzeich¬
nis; sämmtlicher Tonwerke Mozart's (Leipzig, 1862) vielseitige Unterstützung
und die Möglichkeit, seine neue Bearbeitung durch Streichung aller Notizen und
Voruiitelsucbungm zu erleichtern, welche in der frühern Auflage als vorläufige
Beiträge zu einem solchen Werke mitgetheilt werden mußten, nun aber durch
einfache Verweisungen vus Köcbels Buch erledigt werden konnten. Dankbar
gedenkt der Verfasser auch der Beihilfe von Sonnleithner. Karajan. Pohl. Jul.
And>6. Wie sorgfältig aber vor allem er selbst auf vollständige Beherrschung
des sehr verstreuten Materials bedacht gewesen ist. erhellt daraus, daß er bei
der neuen Auflage die gesammte Korrespondenz Mozarts und seines Vaters,
sowie sämmtliche Kompositionen Mozarts in Abschriften oder auch im Original
zur Verfügung hatte. Dadurch hat die stoffliche Seite der Biographie noch
manche mehr oder minder bedeutende Erweiterungen erfahren. Allein weit ein¬
greifender sind die Veränderungen in formaler Hinsicht. Kleine Unebenheiten der
Darstellung, wie sie bei dem successiven Erscheinen der früheren 4 Bände kaum zu
vermeiden waren, erscheinen als beseitigt. Als den wesentlichsten Fortschritt aber
muß man es bezeichnen, daß die zuweilen sehr ausführlichen Anmerkungen.
Beilagen und l5xcurse der ersten Auflage theils einfach entfernt, theils in den
lebendigen Zusammenhang der Darstellung hineingearbeitet worden sind. Nun
fließt die Erzählung in klarer ununterbrochener Folge dahin, die Hauptpartie
der Biographie treten deutlicher vor als früher, wo sie von dem überreichen
Detail der Untersuchungen umgeben und nicht selten verdeckt wurden. Vieles
was bei der ersten Auslage, getreu der historischen Gewissenhaftigkeit, nur als
Vermuthung oder in der Form der Untersuchung mitgetheilt werden durfte, ist
mittlerweile gesichertes Resultat geworden, wirkt bereits als feststehende That¬
sache in^weiteren Kreisen der Fachgenossen. ja selbst des Publikums und durfte
somit weit knapper und einer ästhetisch abgerundeten Darstellung entsprechender
vorgetragen werden. Ebenso sind durch k'öchcls Eatalog manche in der ersten
Auflage mitgetheilten Verbesserungen von Fehlern in den gedruckten Partituren
überflüssig geworden, auch die auf die großen Ovirn bezüglichen Emendationen
sind weggeblieben, da sie in einer aus der Hand von Inuus Rich zu erwar¬
tenden neuen Partiturausgabe praktische Würdigung und Verwendung finden
Werden.
Auf diese Weise ist es möglich geworden, den frühern Umfang des Buches
ohne irgendwelche Beeinträchtigung der Vollständigkeit und Sicherheit sehr er¬
heblich zu verringern. Der vorliegende erste Band enthält von der frühern
Auflage die beiden ersten Bände und den halben dritten Band (bis zu S. 2S3).
Auch gliedert sich das Ganze vortheilhafter, ganz ungezwungen sind diesem ersten
Bande die Jugend-, Lehr- und Wanderjahre anheimgefallen, welche ihren sym¬
bolischen Abschluß in der Gründung des eignen Hausstandes finden, während dem
Zweiten Bande die kurzen inhaltreichen Jahre der vollen Meisterschaft vorbehalten
bleiben.
Die erste Auflage von Jcchn's Mozart ist rasch zu einem Grund- und
Eckstein unsrer musikalisch-historischen und ästhetischen Wissenschaft geworden. We¬
nigen Schriftstellern ist es, wie dem Verfasser vergönnt, in einem kurzen Jahrzehend
so eingreifende und ausgebreitete Wirkungen eines Werkes zu erleben, die Re¬
sultate einer großen und mühevollen Arbeit, umsichtiger und gewissenhafter
Untersuchung und Forschung, gerichtet vorzugsweise an einen Leserkreis von
Fachmännern deren Zahl eine sehr beschränkte war, in wenigen Jahren zum
Gemeingut der Wissenschaft, ja fast zur alleinigen Basis aller verwandten Ar¬
beiten werden zu sehen. Aber den wenigsten sicherlich ist die Freude beschieden.
d>e schönste Frucht selbst zu ernten, zum Lohn ibler frühern Arbeit sich selbst
^n den großen Kreis der Gebildeten wenden, und ihnen in Acht populärer
Darstellung die Resultate vorausgegangener sachgemäs-er Studien bieten zu
tonnen. So verhält sich die vorliegende neue Bearbeitung wie der Genuß
^r Arbeit, und in seiner neuen Gestalt wird das Buch sich auch in noch
heiterm Kreise Freunde zu erwerben wissen. Es sei empfohlen als ein ernstes
-Vorbild für die Stellung unsres Volkes zur Kunst und ihren Vertretern; durch¬
gebildeten Kunstinteresse'wird es Stärkung und vielseitige Bereicherung, heran¬
wachsender tüchtiger Jugend wird es Lehre und Unterweisung bringen und ein
Neuer Führer zur ächten Kunst werden. Hierfür bürgt nicht nur die historisch-
'"lische auf anderen Gebieten gleich bewährte Meisterschaft des Verfassers, nicht
nur die Gewissenhaftigkeit und Treue seiner Erzählung, die Reinheit und der
«del seiner Darstellung, sondern auch und in vorzüglichem Maße die Gesundheit
und Tüchtigkeit seiner Kunstvctrachtung. In Bezug auf ästhetische und wissenschaft-
liche Betrachtung und Würdigung ist aus leicht ersichtlichen Gründen die Musik lange
poder die übrigen Künsten zurückgesetzt worden. Auch auf diesem Gebiete bezeichnet
o>e Mozartbiographie einen großen Fortschritt. Wir kennen bis jetzt kein zweites
^und verwandten Inhalts, welches auch in den ästhetischen Analysen der musi¬
kalischen Kunstwerke so energisch und erfolgreich von dem ausginge, woraus
pas Specifische eines jeden Kunstwerkes beruht, von der Form, und welches
glücklich die Aufgabe löste „nachzuweisen, wie die allgemeinen Gesetze der
Kunst unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen durch die Indivi¬
dualität des Künstlers in dieser ganz concreten Gestalt zur Anwendung gebracht
sind." -—
Wir vernehmen, daß der Biograph Mozart's in kurzer Frist nach
dem Süden wandern wird, welcher ihm, dem Manne der Kunst wie der
Wissenschaft, eine doppelte Heimath ist. So haben wir in diesen Tagen noch
einmal seinen Mozart durchgelesen, als ein Abschiedswort von ihm und zugleich
eine Verheißung künftiger segensvoller Tage. Ihm als dem langjährigen be¬
währten Freunde und Mitarbeiter der grünen Blätter senden wir unsern herz¬
lichsten Neiscgruß.
Von Herrn Dr. Aegidi ist der Redaction die nachstehende
Berichtigung
zu einer in der Ur. 42 dieser Zeitschrift enthaltenen Notiz zugegangen, welche
dieselbe bereitwillig der Oeffentlichkeit übergibt.
Der „Brief aus dem Reichstag" in Ur. 42 des Grenzboten, vom 11. On«
tober d. I., enthält Angaben, die mich betreffen. Gestatten Sie mir, dieselben
zu berichtigen.
Es heißt darin: „Aegidi hatte überdies von seinem Kreise Wanzleben aus¬
drücklich das Mandat erhalten und angenommen, nach besten Kräften diese
Vereinigung (der Freiconservativcn und Ältliberalen) zu Stande zu bringen."
Ein solches Mandat habe ich weder erhalten noch angenommen.
Ferner: „Sobald er in Berlin ankam, ließ er sich aber einfach bei den
Freiconscrvativen einschreiben." Ich trat in die Fraction der Freiconservativcn
ein, nachdem ich einige Tage an den Berathungen derselben als Gast theil¬
genommen und die Ueberzeugung gewonnen, hier meine politischen Gesinnungs¬
genossen zu finden. —
Mein Eintritt, den ich von keinem äußern Umstand abhängig machen wollte
und konnte, verzögerte sich mit Rücksicht aus Verhandlungen, die ich zwischen
Alillberalen und Freiconservativen einzuleiten die Ehre hatte. Diese Verhand¬
lungen führten zu keiner Verschmelzung, doch zu der naturgemäßen und wirk¬
samen Verbindung der beiden Fractionen. Hier ist von keinem Verdienste die
Rede; noch weniger aber von einer „Hauptschuld", wie sie mir von dem Ver¬
sasser des Briefes beigemessen wird. —
Möge derselbe nun erkennen, daß er von irrigen Voraussetzungen ausge¬
gangen ist. So braucht er sich nicht zu der Meinung zu „zwingen", daß meine
Beweggründe andere sind, als die jedes ehrlichen Mannes. Berühre ich noch
die „reizende" Stellung, die er mir andichtet? Nur mit einer Andeutung! Aus
den wahren „Reiz", der darin besteht, im Umgang mit gebildeten Männern,
bald gebend bald empfangend, Gedanken auszutauschen, verzichtet in Deutsch'
land keine Schicht der Gesellschaft. Ich möchte dies auch von „Fürsten, Her¬
zögen und Grafen" behaupten.
Die drei Ostseeprovinzen Liv-, Est- und Kurland bilden sammt den zu
ihnen gehörigen Inseln Oesel, Moon, Runo, Dagden und Worms ein Terri¬
torium von 1784 Quadrat-Meilen, das etwa 1,830,000 Bewohner zählt.? Das
im Herzen Livlands liegende Städtchen Wall, gleich weit entfernt von der
Nord-, wie von der Südgrenze des deutscher Cultur gewonnenen Landes, be¬
zeichnet die Grenze zwischen den beiden UrVölkern, welche nach wie vor die
überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung repräsentiren; nach Norden hin, bis
an die felsige Südküste des finnischen Meerbusens dehnen sich die Side des
Estenvolks aus, südlich, von Wall bis an die flachen Ufer des Njeman, wird
der Boden Liv- und Kurlands von Letten bearbeitet, einem litthauischen Stamm,
dessen Sprache von allen in Europa gesprochenen Idiomen dem Sanskrit am
nächsten stehen soll. Zwischen beiden Völkern verstreut, bald in Städten und
Flecken zu compacten Massen an einander geschlossen, bald aus einsamen Edel-
höfen und Pfarrhäusern, Krüger, Mühlen und Schulmeistereien angesiedelt,
leben und herrschen etwa 200,000 Deutsche, zum Theil Nachkommen der tapferen
Eroberer dieses Küstenlandes, zum größten Theil neuere Einwanderer der ver¬
schiedensten Berufsarten; alles was nicht zum Bauernstande gehört, ist deutsch
tMrtet. Mit Genauigkeit festzustellen, wer der deutschen, wer der lettisch-
estnischen Bevölkerung angehört, hat noch niemand unternommen, und wird
^um jemandem gelingen, denn jährlich nimmt die Zahl derer zu, die aus
dem unterworfenen in den herrschenden Stamm übergehen. Der Schulmeister,
der in einem der Seminare Liv- oder Kurlands seine Bildung empfangen hat,
der jüngere Sohn des behäbigen Bauerwirths, der in die Stadt gezogen ist,
um ein Handwerk zu lernen oder Handlungslehrling zu werden, der talentvolle
Bauerknabe, dem die Gunst des Gutsherrn oder die Freundschaft des benach¬
barten Pastors eine gelehrte Laufbahn erschlossen, der umsichtige Wirthschafts¬
aufseher, der es zum Amtmann oder Verwalter gebracht, die Knechtstochter
endlich, die als Dienstmagd in die Stadt gewandert oder als dienende Spiel¬
gefährtin mit den Töchtern des Barons aufgezogen worden ist — sie alle
ändern mit dem Beruf zugleich die Nationalität und werden binnen Jahr und
Tag zu Deutschen; selbst der reiche lettische Hofbesitzer, der seinen Pachthof
zum freien Eigenthum erworben hat und sich mit Stolz einen Bauern nennt,
der absichtlich keine andere Sprache als die seines Volks redet, sieht es gern,
wenn seine Kinder deutsch lernen. Er läßt sich's ein Stück Geld kosten,
damit seine Söhne bei dem Schulmeister deutschen Privatunterricht erhalten,
oder er entschließt sich, eine „Gouvernante" ins Haus zu nehmen und dieser
das Werk der Germanisirung seiner Töchter zu übertragen. Die Begriffe „Herr"
und „Deutscher" sind in diesem Lande so vollständig identificirt, daß die Sprache
des Ehlen nur einen Ausdruck für beide (Saxa) hat und daß die Germanisation
für den einzigen Weg gilt, der zu wahrer Bildung und höherer Stellung in
der Gesellschaft führt. „Rustios tu von eilf Kio rox" (Bauer, du wirst hier
niemals König sein) rief im Jahre 1343 ahnungsvoll ein Litthauerfürsi dem letti¬
schen Heerführer zu, der ihn zu einem gemeinsamen Vernichtungskriege gegen
die Deutschen einlud — und dieses Wort hat sich im eminenten Sinne erfüllt;
Nicht-Deutscher und Bauer sind Bezeichnungen, die'bis heute einander decken und selbst
um Bauer im modernen Sinne des Worts zu werden, muß der Urbewohner
des baltischen Landes zum Deutschen werden. Wohl nennt der auf seinen
„Culturberuf" stolze ländliche Müller deutschen Geschlechts oder der städtische
Handwerksmeister, der seinen Stammbaum aus einem Hinterhause des Berliner
Vogtlandes ableitet, das Geschlecht derer, die im Umwandlungsproceß begriffen
sind und ihre lettischen Namen noch nicht gehörig germanisirt haben, spöttisch
Halb- oder Wachholderdeutsche, wohl geschieht es zuweilen, daß der alte Baron
seinem jungen Verwalter, dessen hochmüthige Halbbildung den Ursprung aus
einem ehrlichen Bauernhause verleugnen will, durch eine lettische Anrede „den
Standpunkt klar macht" — im großen und ganzen thut der baltische Deutsche
aber das Mögliche, um die Verschmelzung mit den beiden UrVölkern, auf die
er angewiesen ist, zu fördern. Heute feststellen zu wollen, wie viele Deutsche
in den drei Provinzen lettischen oder chemischen Ursprungs sind, und welche
Letten und Ehlen bereits die deutsche Sprache angenommen haben, wäre ein
unmögliches und — wie uns scheint — überflüssiges Unternehmen. „Die
Sprache", so heißt es in einer geistreichen Abhandlung über die Nationalitäten¬
frage in den Ostseeprovinzen, welche die baltische Monatsschrift im Mai 1864
veröffentlichte, „die Sprache ist nur eines der die Nationalität constituirenden
Elemente; zwar ein sehr wichtiges, aber nicht das an und für sich entscheidende.
Hier ist es die Religion, dort der Staatszusammenhang, anderwärts noch an¬
deres, was die gegebenen sprachlichen Differenzen überwiegt und als unwesent¬
lich zurücktreten läßt. Wie ein Volk seine Sprache behalten und zugleich in
fast allen übrigen Beziehungen jedes eigenthümliche Gepräge einbüßen kann,
davon sind gerade die Letten und Ehlen ein treffendes Beispiel. Durch Luther-
thum und Herrenhutismusist die Substanz ihrer geistigen Bedürfnisse in
deutsche Form gegossen, in deutsche Rechtsbegriffe haben sie sich seit Jahr¬
hunderten hineingelebt, ihre ganze Literatur besteht aus Nachbildungen und
Uebersetzungen deutscher Producte. Was bleibt übrig? — etwa noch Volks¬
lieder, Hochzeitsgebräuche, ein eigenthümlicher Umspann, Pflug oder Dreschflegel?
Aber alle diese Ueberreste aus dem Kindheitsleben der Völker schwinden von
Tag zu Tage und man könnte behaupten: die Germanisimng der Letten und
Wen, weit davon entfernt ein Problem zu sein, sei längst schon vollendete
Thatsache. Zwar die Sprachen sind noch übrig; aber selbst diese würden das
einheitliche Bewußtsein der verschiedenen Bevölkerungsschichtcn, das Gefühl
ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit kaum beeinträchtigen können, wenn
nicht ein anderes hindernd dazwischen träte — etwas, das nicht nationaler,
sondern socialer Natur ist. Die Kluft zwischen dem leibeigenen Bauern und
den übrigen Ständen des Landes war einst schauerlich tief und breit aus¬
griffen; sie hat durch die Arbeit eines ganzen Jahrhunderts noch immer nicht
in genügender Weise ausgefüllt werden können; je mehr dies geschieht, desto
ohnmächtiger werden alle bisherigen Gegensähe, auch der Sprachen, werden."
Auf das Verhältniß der verschiedenen, Liv-, Est-, Kurland bewohnenden Na¬
tionalitäten und die Versuche zu einheitlicher Verschmelzung aller derselben, wer¬
den wir in der Folge näher einzugehen mannigfache Gelegenheit haben. Hier
kommt es nur daraus an, dasselbe in so weit zu berühren, als zur Charakteri¬
stik der Physiognomie von Land und Leuten an der Ostsee nothwendig ist. Um
das Land und seine Bewohner wirklich kennen zu lernen, dürfen wir aber nicht
bei dem allgemeinen Begriffe „die Ostseeprovinzen" stehen bleiben, ist es viel¬
mehr nothwendig, daß wir in die einzelnen Landschaften und Kreise einkehren.
Der Particularismus, den die Einwanderer des 12. und 13. Jahrhunderts in
die neue Heimath mit hinüber nahmen, hat sich in der Colonie ebenso erhalten,
une im Mutterlande, ja er ist durch die Verschiedenheit der Geschicke, durch welche
die einzelnen Theile des Landes im Lauf der Jahrhunderte gegangen sind, in
gewissem Sinne schärfer ausgebildet worden als in Deutschland. Im Norden
haben schwedische, im Süden polnische Einflüsse prävalirt; hier hat die Rauheit
des Klimas, dort die größere Fruchtbarkeit des Bodens entscheidend auf den Cha¬
rakter der Bewohner und die Physiognomie der Landschaft eingewirkt. In Est¬
land haben die Schweden sechzig Jahre länger geherrscht wie in Livland, die
Insel Oesel war durch ein halbes Jahrhundert in dänischen Händen, das liv-
ländische Festland hat lange Zeit hindurch polnisches Regiment erdulden müssen,
Kurland endlich ist nie schwedisch und nie polnisch gewesen und hat seine Selb¬
ständigkeit achtzig Jahre später in russische Hände niedergelegt als das Land
nördlich von der Dura — kein Wunder, daß von einer streng geschlossenen,
einheitlichen Entwickelung nicht die Rede sein konnte, daß die verschiedenen ge¬
schichtlichen Factoren, welche in den einzelnen Territorien zur Geltung kamen,
nachhaltige Spuren hinterließen, — daß die Menschen verschieden geartet sind und
erst allmählich die Solidarität ihrer Interessen verstehen und die Unterschiede aus¬
gleichen lernen, durch welche sie getrennt und auseinandergerissen worden sind.
Beginnen wir mit dem südlichsten der drei Lande, mit Kurland, dem
schmalen langgestreckten alten Herzogthum, das im Westen die äußerste Spitze
Ostpreußens berührt und im Osten einem Keil gleich, zwischen Litthauen und Pol-
nisch-Livland eingeklemmt ist. Durch keine Bergwand, keinen Höhenzug zer¬
rissen, nur von zahlreichen kleinen Flüssen durchzogen, sorgfältig bebaut und ihre
fleißigen Bewohner reichlich nährend, dehnen sich die weiten fruchtbaren Ebenen
von der südlichen Abdachung der Dura bis an die morastigen Ufer des Nje-
man, der die Grenze Litthauens und die Herrschaft eines andern Culturgediets
bezeichnet. Daß die Ansiedlung eine nach Jahrhunderten zählende ist, und daß
tiefer Frieden seit Generationen geherrscht hat, sieht der kundige Reisende auf
den ersten Blick; die Nordspitze des Landes und den schmalen östlichen Aus¬
läufer abgerechnet, der sich der Dura entlang zum bloßen Streifen zuspitzt,
herrscht allenthalben das Kornfeld vor, die ungeheuren Tannenwälder, die der
Landschaft Liv- und Estlands ihr melancholisch-düsteres Gepräge geben, sie sind
hier längst verschwunden oder doch zu beschränkten, sorgfältig gepflegten Forsten
und Gehegen zusammengeschrumpft, die Wohl noch dem flüchtigen Hasen und dem
scheuen Reh eine Zuflucht gewähren, aus denen der zottige Bär und der hung¬
rige Wolf aber seit Menschengedenken gewichen sind. Endlose Roggen-, Wei¬
zen- und Gerstenfelder wechseln mit fetten Wiesen, nur ausnahmsweise steckt
ein wüst gebliebener Moorhügel sein moosbedecktes Haupt empor, um den
ewig jagdlustigen Sohn des Landes zu einer „Skrauja" einzuladen. Rechts
und links von der breiten Heerstraße, die die alte Residenzstadt Mitau mit den
Häfen der Westküste (Libau und Windau) und den zahlreichen kleinen Städten
und Flecken des Unterlandes (so heißt dieser gesegnete Landstrich, zwischen dem
39° und 43° östlicher Länge) verbindet, sehen spitze, meist grün angestrichene
Kirchthürme, stolze Edelhofe, behäbige Pastoratswidmen und zahlreiche Bauer¬
häuser, meist von wohlgepflegten Obstgärten umgeben, über den wellenförmigen
Boden, der den ursprünglich maritimen Charakter der weiten Ebene bezeichnet,
freundlich ins Land. Alles athmet Behagen und aufstrebenden Wohlstand; die
Wirthshäuser (Krüge), in welchen der Wanderer einkehrt, sind sauber und den
Ansprüchen civilisirter Menschen entsprechend eingerichtet, in der „deutschen
Stube" wird der Gast von einer freundlichen, das Deutsche geläufig redenden
lettischen oder halblettischen Wirthin empfangen und wenn er in die nebenan
liegende Schenkstube tritt, kann er in den meisten Fällen darauf rechnen, von
den jungen Bauerburschen, die hier beim Glase beisammensitzen, verstanden zu
werden. In keinem Theil des baltischen Landes ist der deutsch-protestantische
Charakter der Cultur so deutlich ausgeprägt, wie in diesem, nirgend ist die
Germanisation so weit vorgedrungen wie hier, nirgend von fremden Elemen¬
ten so wenig zu spüren wie in Unter-Kurland. Eigentliche Städte werden in
blos geringer Anzahl gefunden, dagegen ist die Zahl der Flecken und Hakelwerke,
die der Verbreitung des deutschen Elements Vorschub leisten und von Leuten
bewohnt werden, die die natürliche Vermittelung zwischen beiden Nationalitäten
bilden, — ziemlich bedeutend. Dörfer fehlen dagegen vollständig; in Kurland
und in dem lettischen Theil Livlands sitzt der Bauer einsam auf der Scholle,
die er als Pächter oder Grundeigenthümer erworben, oft eine halbe Meile vom
nächsten Nachbarn entfernt.
Während der Schornstein noch manchem Bauernhause der (innern Gegend
Liv- und Estlands fehlt, wird er in Unterkurland seit einem halben Menschen¬
alter allenthalben angetroffen, häufig auf ein Steingebäude herabsehend, das
sammt den weitläufigen Nebengebäuden, dank den Vauverbändcn, welche auf
Zahlreichen Gütern des Landes bestehen, mit verhältnißmäßig geringen Kosten
hergerichtet ist. Das gesammte Gehöft zeichnet sich durch Ordnung und Rein¬
lichkeit aus, zweien Tugenden, welche der kurische Leite rasch angenommen hat,
und ist häusig durch eure wohigepflanzte Allee schlanker Birken oder knorriger
Ahornbäume mit der Landstraße verbunden. Nach jahrhundertelanger Stag¬
nation ist es mit der agrarischen Entwickelung des „Gottesländchcns" (mit
diesem Ausdruck ihres Nationalheiden des Herzog Gotthard, Pflegen die Kur¬
länder ihre Heimath zu bezeichnen) merkwürdig rasch vorwärts gegangen. Erst
1817 wurde die Leibeigenschaft aufgehoben und das Agrargesetz, welches
die neuen Beziehungen zwischen Herren und Bauern regelte, beging den Feh¬
ler, sich auf den Boden der freien Contracte zu stellen d. h. allen Grund und
Boden dem Gutsbesitzer zuzusprechen, die Bedingungen der Verpachtung dem
Übereinkommen zwischen diesem und dem bäuerlichen Pachter zu überlassen,
und diesen von der Erwerbung eigenthümlichen Grundbesitzes auszuschließen.
Bis zum Anfang der dreißiger Jahre war die Arbeitspacht die einzige übliche
Form der bäuerlichen Existenz und einzig der traditionellen Humanität der
Gutsbesitzer, denen die harte Behandlung ihrer Leute für „unkmisch" und
unanstocratisch galt, war es zuzuschreiben, daß der Bauer nicht elend verküm¬
merte; von diesem Zeitpunkt (den dreißiger Jahren) ab, begann die Conversion
der Arbeitspacht oder Frohne in die Geldpacht, und zwar ohne jede Mitwirkung
der Gesetzgebung, allein durch die Macht des guten Beispiels und des großen
persönlichen Einflusses, den der damalige Landcsbcvollmächtigte (diesen Titel
führt das Haupt der lurlänluschen Ritterschaft) Baron Hahn ausübte. Ziemlich
gleichzeitig trat die Mehlfelderwirthschaft an die Stelle des alten Dreifeldersystems.
Die Art und Weise ihrer Verbreitung ist so charakteristisch für die Art des
kurischen Adels, daß ihrer in Kürze Erwähnung geschehen mag. Die Gutsbe¬
sitzer suchten durch Ueberredung auf ihre Pächter zu wirken und wo diese nicht
half, ließ der Herr das vierte Feld eigenmächtig durch seine eigenen Knechte
aufreißen; natürlicher Weise säete der Bauer auf diesen neuen Acker, an dem
die Hauptarbeit einmal geschehen war und auf diese Weise wurde die Adop¬
tion des neuen Systems gleichsam mit Gewalt und doch ohne Verletzung des
bäuerlichen Interesses durchgesetzt. Während in Liv- und Estland unauf¬
hörlich mit Agrargesetzen experimentirt wurde, vollzog sich die Conversion der
Frohn in die Geldpacht bei den Kurländcrn von selbst. Nachdem auf diese
Weise der legislatorische Fortschritt vorbereitet worden war, drang die Staats-
regierung im Anfang der 60er Jahre auf Freigebung des bäuerlichen Grund¬
besitzes und auf Beschränkung des bis dazu unbegrenzten Emziehungsrechts der
Herren. Dank der Thätigkeit der freisinnigen Adelspartei, welche der gegenwär¬
tige Landesbevollmächtigte v. d. Recke führte, wurden beide Negierungsanträge
im Sommer 1863 angenommen; schon vier Jahre später war nahezu ein Drit-
theil derer Bauerhöfe in das Eigenthum der Pächter übergegangen und die
glückliche materielle Lage des Bauernstandes gesetzlich garantirt. Im Juni 1865
ging der kurländische Adel einen neuen bedeutsamen Schritt auf der Bahn libe¬
raler Reformen weiter; er verzichtete freiwillig aus sein uraltes Recht zum aus¬
schließlichen Besitz von Rittergütern und gab den Erwerb derselben der Con-
currenz aller Stände frei. — Dringen wir durch das reiche, weizenbebaute
kurische Unterland weiter nach Osten vor, so gelangen wir jenseit des an der
Dura gelegenen Städtchens Friedrichsstadt in das sogenannte Oberland, einen
Winkel, der ein durchaus eigenthümliches, von den übrigen Theilen des Her¬
zogtums verschiedenes Gepräge trägt. Hier machen sich bereits die Einflüsse
der polnisch-litthauischen Nachbarschaft geltend. Landschaftlich herrscht der Walo
vor, der sich in ursprünglicher Wildheit.längs der Dura meilenweit in das
Land zieht und die Wohnsitze der Menschen und die Kornfelder als Ausnahmen
erscheinen läßt; die Bevölkerung ist eine gemischte, stark mit litthauischen und
polnischen Elementen versetzte und steht in sittlicher und intellectueller Beziehung
tief unter dem Bildungsniveau des größeren, rein lettischen Landcstheils. Während
im übrigen Kurland feine anderen als lutherische Landkirchen zu finden sind,
zählt das Oberland zahlreiche Katholiken, Arkaden, Bekenner der griech.-orthod.
Konfession und russische Aligläubige, die aus dem benachbarten Witepsk und
aus Polnisch.Livland eingewandert und zu einem verwilderten Mischvolk ver¬
schmolzen sind, das das lettische Element überwuchert hat und dem nachgesagt
Wird, daß es Pferdediebstahl, Straßenrand und Branntwcinschmuggcl allen
übrigen Beschäftigungen vorziehe. Geschäftsleben und Handel sind hier fast
ausschließlich in Händen von Juden.") die zu polnischer Zeit nach Kurland
eingewandert, die Mehrzahl der Städte des Landes übervölkert und — dank
der Armuth, Rohheit und Unbildung, die sie aus Polen mitbrachten — demo-
ralisirt haben. Nirgend aber werden sie zahlreicher vorgefunden als im Ober¬
lands, dessen wilder, sitten- und gesetzloser Charakter ihrer Betriebsamkeit und
Geschmeidigkeit nicht entbehren kann und in welchem sie als Händler, Makler,
Hehler, Factoren, Branntweinbrenner u. s. w. eine wichtige, in alle Lebens-
verhältnisse eingreifende Rolle spielen. Der abweichende Charakter dieses ver¬
kommenen Winkels theilt sich zuweilen selbst dem Adel mit, der sonst ein rein deut¬
sches Gepräge trägt, der oberländischc Baron hat in vielen Fällen etwas
von der Wüstheit und Willkürlichkeit des polnischen Pan mit dem er stete Berüh¬
rungen nicht vermeiden kann und die Frische und Derbheit der kurischen
Natur artet hier häusig zu Rohheit und ungezähmter Wildheit aus.
Die Stammeseigenthümlichkcitcn der baltischen Deutschen haben sich nirgend
so scharf ausgebildet, in keiner der anderen Provinzen so charakteristische Formen
""genommen Wie in Kurland und ganz besonders bei dem kurischen Adel. Es
'se ein wunderliches Geschlecht, das die stolzen und doch so einfachen Barone
dieses Landes repräsentiren. Während der Einfluß des reicher und stärker ent¬
wickelten Städtelebens und das frühere Erlöschen der politischen Selbständigkeit
den Livländer mehr und mehr mit des Gedankens Blässe angekränkelt und zum
Durchschnittsdeutschen gemacht haben, circulirt das frische, heiße Blut, das die
ursprünglichen Colonisten dieses Landes mitbrachten, in den Adern des Kur-
länders noch heute mit ungebändigter' Kraft und Wärme. Unversiegbare
Genußsucht und mächtige Arbeitskraft wohnen hier noch dicht neben einander
und hindern die ruhige, normal- philiströse Entwickelung, die sonst die Stärke
des Deutschen ausmaclt — das Leben verbraust zwischen gewaltsamer,
sprunghaft gesteigerter Anstrengung und frischem, häusig üppigem Genuß. Die
Gewohnheit jahrhundertlanger Herrschaft und unbestrittener Oberherrlichkeit
ivcbt dem kurländischen Edelmann ein Gefühl der eigenen Würde und Bedeutung,
das jede äußere Beschränkung wie ein Unrecht empfindet und doch wieder
grundverschieden ist von der anmaßenden Junkerhoffahrt des märkischen „Herrn
von" oder des ärmern livländischen Edelmanns, dessen jüngere Söhne jenem
häusig nachahmen. Aus den Kreisen der Ritterschaft „von Kurland und Pillen"
ist von vornherein jede Ostentation und Großthuerei verbannt, — die Vor¬
nehmheit thut sich in knappen, derben, häufig schlichten, immer sicheren und selbst¬
bewußten Lebens- und Umgangsformen kiznd, — charakteristisch genug werden
im gewöhnlichen Leben keine Titel gebraucht, heißt der Edelmann, mag er
simpler Baron sein oder es zum Kanzler- und Oberburggrafenamt gebracht
haben, immer nur „Herr von". Dem Bürgerlichen begegnet man höflich und
ungebunden — da man sich nie vergeben zu können glaubt, hat man es nicht
nöthig anspruchsvoll aufzutreten oder sein Uebergewicht äußerlich fühlbar zu
machen; den hochgestellten Beamten läßt man gern fühlen, daß es für den kurländi-
schen Edelmann keine vornehmen Leute giebt, und daß die Zugehörigkeit zur Ritter¬
schaft der höchste Rang ist, zudem es der Sterbliche überhaupt bringen kann—mit dem
Bauern endlich wird in derber oft herrischer, in der Regel aber väterlich-herzlicher
Weise verkehrt. Die geniale Charakteristik, welche Hippel in den beiden ersten Bänden
seiner „Lebensläufe" von der Art des kurischen Edelmanns entwirft,- ist der
Hauptsache nach heute so zutreffend, wie vor hundert Jahren. Der Kurländer
ist allen Fragen des Lebens gegenüber, in erster Reihe, Practiker und Naturalist,
nichts ist seiner Natur so fremd und antipathisch, wie die graue Theorie —
aber er besitzt in der That ein practisches Geschick, das den Nagel auf den
Kopf trifft, ohne lange an der Wand herumgchämmert zu haben. In der
freien Natur aufgewachsen, von bequemen Verhältnissen getragen, bis in das
späteste Alter unermüdlicher Jäger und Reiter, mit unverwüstlichem Humor
und gesunder Laune begabt, giebt er sich gern das Ansehen des leichtsinnigen,
breitspurigen Lebemanns; hinter dieser derben Schale birgt sich aber öfter als
der Fremde glauben möchte, ein tüchtiger edler Kern. Mancher rauhe Waid¬
mann, von dem man annehmen möchte, er habe nie über seine nächste Um¬
gebung hinausgedacht, entpuppt sich bei näherer Bekanntschaft als tüchtiger
Jurist, scharfsichtiger Politiker oder belesener Kenner historischer und literarischer
Dinge. Das „Ms Lire yue Mi'trttrv" ist in diesem Lande so alt hergebracht,
gilt so allgemein für das Merkmal wahrer Aristocratie, daß jeder sich scheut,
mehr sein zu wollen, als simpler Kurländer, daß die feineren Züge des Charakters
und der Bildung gleichsam absichtlich zurückgedrängt werden, um ihren Inhaber
nicht dem Verdacht der Pedanterie oder Sentimentalität auszusetzen.
Wesentlich dem Edelmann gleich geartet, wenn auch äußerlich von dem¬
selben verschieden, ist der bürgerliche Kurländer, mag er praktischer Jurist, Ge¬
lehrter oder Geistlicher sein. Selbst der ehrsame, streng orthodoxe Landpastor,
der für die sittliche und religiöse Bildung seiner Bauern mit unermüdlichem
Eifer thätig ist, verleugnet die Eigenthümlichkeiten der kurischen Natur nur selten;
er hat einen lebhast entwickelten Sinn für alles, was das Leben an Lust und
Freude bietet, er verschmäht es nicht, in die Besprechung der ernstesten Lebens¬
fragen gelegentlich eine derb-humoristische Wendung einzuführen, er weiß häusig
mit der Jagdflinte eben so gut umzugehen wie mit Postille, Heuchelei und
Scheinthuerei sind ihm ebenso zuwider, wie unfruchtbare theoretische Erörterun¬
gen und er macht kein Geheimniß daraus, daß ihm „Probiren über studiren
geht". Wer die urkräftiger, derben Gestalten dieser Prediger zum erstenmale
steht, wird meinen, in eine Gesellschaft lebenslustiger Bischöfe des Mittelalters
gerathen zu sein und kaum glauben wollen, daß diese Männer an sittlichem
Ernst, energischer Arbeitskraft und Treue des Bcrufscisers ihren gravitätisch¬
salbungsvollen Amtsbrüdern in Deutschland schlechterdings nichts nachgeben, ja
an Unabhängigkeit der Gesinnung häufig über denselben stehen und in sehr
dielen Fällen ungleich glücklichere Seelsorger sind als jene. Die kurländischen
Geistlichen sind Volkslehrer im besten Sinne des Worts und halten die Erfül¬
lung der Pflicht der Volksbildung für wichtiger als alle Beschäftigung mit
dogmatischen Spitzfindigkeiten. Die Zeiten in denen sie blos gute Cumpcme und
Jagdgenossen ihrer adligen Nachbarn waren„sind längst vorüber. Die Förde¬
rung der Volksbildung wird in neuerer Zeit von Adel und Geistlichkeit als
Ehrensache des gcsaMmtcn Landes angesehen und der Gutsbesitzer, der irgend
darauf Anspruch machen will, für einen guten Patrioten zu gelten, kann nicht
umhin, den Gehalt des Gemeindeschulmeisters mindestens zur Hälfte aus dem
eigenen Säckel zu bereiten. Aus Kosten der Ritterschaft besteht seit nunmehr
^7 Jahren ein Volkslehrerseminar zu Jrmelau, das unter der Leitung des Ge-
neralsuperintendenten und seines Directors, eines aus Preußen berufenen aus¬
gezeichneten Schulmanns, reichen Segen gestiftet und dafür gesorgt hat, daß
es in Kurland kaum einen jüngern Bauern giebt, der außer Lesen, Schreiben
und Katechismus nicht auch die Anfangsgründe der Arithmetik, Geographie
und Geschichte kennen gelernt hätte. Man wird es in Deutschland für eine
Fabel halten, wenn wir auf eigene Erlebnisse gestützt, berichten, daß die zahl¬
reichen pommerischen und mecklenburgischen Bauerknechte, welche während der
letzten Decennien nach Liv« und Kurland gezogen worden sind, den Letten häufig
durch ihre Roheit und Unwissenheit Anstoß gegeben haben!
Es ist bereits in dem ersten der vorliegenden Beiträge zur Kenntniß von
Land und Leuten an der Ostsee hervorgehoben worden, daß der Mangel eines
selbständigen Bürgerthums in Kurland von Alters her der Krebsschaden ist, an
dem diese sonst so begünstigte Landschaft krankt. In neuerer Zeit hat derselbe
einen besonders bedrohlichen Charakter angenommen, und zu einer ständischen
Spaltung geführt, deren Gefahren in der That ernstester Art sind. Bei der
Unbedeutendheit und Armuth der meist von Juden überfüllten Landstädte ent¬
behrt das Bürgerthum der natürlichen Wurzeln seiner Existenz und des Ein-
flusses, den auszuüben ihm das Jahrhundert längst ein Recht gegeben bat.
Kaufleute und Handwerker werden durch die Concurrenz des jüdischen Elements
zu Boden gehalten und an jeder Kraftentfaltung gehindert, der Gelehrtenstand
oder — um den landesüblichen Ausdruck zu gebrauchen — die „Literaten" bil¬
den eine besondere Kaste, die sich in begreiflichen Unmuth über ihre Jsolirung
und Bedeutungslosigkeit verzehrt und oft in ihren hervorragendsten Ver¬
tretern eine rein negative Stellung zu den gegebenen Zuständen einnimmt. In
der That sind alle politische Macht und aller politische Einfluß in den Händen
der Ritterschaft; ihre Delegirten bilden den Landtag und vertreten einseitig das
Provinzialintcresse, in ihre Hände ist die Wahl der Hauptleute. Oberhauptleute,
Assessoren und Oberhosgerichtsräthe gelegt, welche die Richter und ländlichen
Verwaltungsbeamten der Provinz sind — der bürgerliche Jurist ist darauf be¬
schränkt, in den Dienst einer der städtischen Communen zu treten, Advocat zu
werden oder den einträglichen, aber jede Beförderung ausschließenden Posten
des Secretärs bei einer adligen Behörde zu übernehmen. Justiz und locale
Kreisverwaltnng sind in allen drei Ostsee-Provinzen rein ständischer Natur, nur
die Glieder der provinziellen Aufsichts- und Finanzbehörden werden vom Staat
ernannt. Während das stärker entwickelte Städteleben den Bürgerlichen Liv-
und Estlands eine selbständige Laufbahn ermöglicht, bleibt dem bürgerlichen
Juristen Kurlands, dem das Secretariat bei einer adligen Landesbehörde nicht
ansteht, nur ein Ausweg übrig, der Eintritt in den Staatsdienst, die Annahme
eines Postens in der Mitauer Gouvernements-Regierung (Aufsichtsbehörde für
Polizei und Verwaltung), im Kameralhof (Steueramt) oder im Forst- und Do-
mainenwesen, das wegen des großen Umfangs der Domainen, welche der Staat
in Kurland besitzt, eine gewisse Rolle spielt. Die Staatsbehörden Liv- und
Estlands setzen in der Regel ihre Ehre darein, mit den ständischen Autoritä¬
ten Hand in Hand zu gehen und das deutsch-protestantische Element nach Kräf¬
ten zu fördern; in Kurland dagegen fällt die Bnreaucratie nicht selten in die
Rolle der blinden Opponentin gegen Adel und Ständewesen. Der Haß gegen
die Allmacht der Ritterschaft wird zum Freibrief für die Entfremdung von den
heimischen, specifisch kurischen Interessen, die wie die Dinge einmal liegen, mit
dem der Stände zusammenfallen. .In einem Staat, dessen Hauptgcbrechen der
Mangel fester Rechtsformen ist, der keine andere Autorität als die unumschränkte
monarchische Gewalt kennt, dessen Kernbevölkcrung einem andern Stamme an¬
gehört, als dem der Träger der Cultur in unserer versprengten Colonie ist,
unter Verhältnissen, in denen die überkommene nationale Tradition in den stän¬
dischen Formen die einzige rechtliche Garantie ihrer Existenz besitzt, in einem
Lande wo der Kampf gegen den Eindruck feindlicher Elemente heiß genug tobt,
um die Wahl der Mittel zur Abwehr desselben unmöglich zu machen — wo es
sich mit einem Worte gesagt — um einen Nothstand handelt, wie der ist,
in welchen die baltischen Provinzen Rußlands, seit der Herrschaft der russisch,
democratischen Nationalpartei gerathen sind, da werden ständisch-aristocratische
Formen der Natur der Sache nach anders beurtheilt werden müssen wie in Deutsch¬
land oder sonst in Westeuropa. Daß es abnorm ist, wenn ein einziger Stand
im Besitz der politischen Repräsentation, des Rechts zur Wahl der meisten Be¬
amten, der Ausübung der ländlichen Justiz u. s. w. ist, braucht nicht erst gesagt
zu werden — die Frage nach der rechtlichen und moralischen Zulässtgkeit eines
solchen Zustandes wird aber erst beantwortet werden können, wenn man weiß,
was für den Fall seiner Aufhebung an die Stelle treten würde. Auf diese Frage
werden wir einzugehen haben, wenn wir die gegenwärtige politische Situation
des gesammten.Ostseclandes näher ins Auge fassen — warnen aber müssen wir
den Leser schon hier, ein vorschnelles Urtheil über Verhältnisse zu fällen, die
dick zu complicirt sind, als daß ihre Lösung durch die bloße Anwendung der
liberalen Schablone möglich wäre. —
Den Eigenthümlichkeiten Kurlands und des kurischen Wesens näher zu
treten ist uns durch den beschränkten Raum dieser Blätter versagt. Es wird
vielmehr nothwendig sein, daß wir uns weiter nach Norden wenden, um einen
^kick in die Beschaffenheit von Land und Leuten in den beiden Nachbarprovin-
zen zu werfen. — Das breite Bett der majestätischen Dura bildet die
Grenze zwischen Kur- und Livland; hat man bei Olay die Provwzialgrcnze
überschritten und über Riga seinen Weg in das Herz Livlanbs genommen, so
befindet man sich in einer Welt, die trotz vielfacher Aehnlichkeiten mit der kuri¬
schen, doch eine andere, von jener verschiedene ist. Schon das veränderte Bild
der Landschaft erinnert den Wandrer daran, daß er weiter nach Norden vorge¬
rückt ist. Der düstere; tief-melancholische Tannenwald, der allenthalben den Ho¬
rizont umgrenzt, läßt errathen, daß der Kampf mit der Natur hier ungleich schwerer
gewesen als auf den Ebenen Kurlands, daß die Menschen zwischen Riga und
Pernau entfernter von einander wohnen und ein größeres Stuck Kulturarbeit vor
sich haben, als ihre Brüder jenseit des prächtigen Stromes, von dessen Wogen
ersten deutschen Colonisten an das baltische User getragen wurden. Umspann
Und Gefährte der Bauern, die uns begegnen, lassen auch in Livland auf einen
^wissen Wohlstand schließen — aber dem kundigen Auge verräth der man-
lUlhafte Eiscnbcschlag der Räder bald, daß diese Wohlhabenheit eine junge, noch
werdende ist. Auch die bäuerlichen Gehöfte, die aus dem Birkengehege sichtbar
Werben, das das eintönige Dunkel der Tannen und Föhren hin und wieder
unterbricht, nehmen sich minder stattlich aus, wie in Kurland, das Strohdach
herrscht noch ziemlich allgemein vor und die frische Tünche des Schornsteins
läßt errathen, daß der gegenwärtige Inhaber des Hoff sich der altherkömm¬
lichen Nauchstube noch lebhaft erinnern kann. Statt der endlosen, nur von Bächen
durchschnittenen Ebenen, die wir drüben fanden, tritt uns hier das Bild eines
Hügellandes entgegen, das von einzelnen Höhenzügen, selbst von zwei beträcht¬
lichen Plateaus gekrönt ist. Die Flüsse sind breiter und zahlreicher und nur
dem harten Geschick des Landes, von welchem zahlreiche Burg-Ruinen ein
lebendiges Zeugniß ablegen, ist es zuzuschreiben, daß ihre Schiffbarmachung erst
heute in der Entstehung begriffen ist. — Etwa 12 deutsche Meilen nördlich von Riga
ändert sich die Scene, wir gelangen in die reiche Flachsregion Livlands. Hier
sind die Waldungen schon zum größten Theil gelichtet, und in Aecker Ver¬
wandelt, Steingebäude mit rothen Ziegeldächern werden vorherrschend, und das
wohlhäbige stolze Aussehen des Bauern läßt errathen, daß er vom Pächter zum
Grundbesitzer geworden. Bei Wall verschwindet der blaue Rock, an welchem
der Leite erkennbar ist, an seine Stelle tritt das lange schwarze Gewand des
langhaarigen Ehlen, dem sich allerdings größere Energie und Charakterkraft
nachrühmen läßt, der sich aber gegen die Einflüsse der Cultur entschiedener ab¬
schließt als der lettische Bewohner Kurlands und des südlichen Livlands. Hier
begegnen uns die ersten Dörfer d. h. Komplexe von S bis 10 Bauernhöfen,
wie sie der geselligem Natur des Ehlen Bedürfniß sind. Immer dichter und
finsterer werden die Wälder, immer unansehnlicher und schmutziger die Bauern-
Häuser, denn obgleich der nordwestliche Theil Livlands, dank der ergiebigen
Flachscultur, zu den wohlhabendsten Gegenden des Ostseelandes zählt, stehen
seine Bewohner in Bezug auf ihre Ansprüche an Comfort und Reinlichkeit hin¬
ter den Letten zurück, wird hier noch manches Haus ohne Schornstein und mit
niedrigen, schmutzigen Fenstern gesunden, dessen Besitzer sein Vermögen nach
Tausenden zählt. Im äußersten Norden Livlands und in Estland treten Un-
reinlichkeit und Armuth immer widriger in den Vordergrund. Hier ist die
Frohne noch vor wenigen Jahren, vielleicht Monaten herrschend gewesen, das
Pachtsystem eine neue Errungenschaft, der bäuerliche Grundbesitz eine seltene
Ausnahme.
Nächst der größern Ungunst des Klimas und den undankbareren Boden¬
verhältnissen tragen der geringere Wohlstand des Adels und die Irrthümer einer
Vielgewundenen Legislation die Schuld an den noch nicht völlig überwundenen
Mängeln des agrarischen Zustandes. Betrachtet man den äußern Gang der
livländischen Agrar-Gesetzgebung, so läßt sich freilich nicht leugnen, daß dieser
vor Kurland manches voraus hat. Während dort das alte Baucrgcsetzbuch
von 1817, welches den Landmann seine persönliche Freiheit mit einer voll¬
ständigen Loslösung vom Grund und Boden und mit der Adoption des Princips
der „freien Contracte" bezahlen ließ, bis zum Eingang der sechziger Jahre in
Kraft blieb, hat es in Livland binnen neunundfünfzig Jahren nicht weniger als
vier verschiedene Gesetzbücher gegeben, welche die Beziehungen zwischen Herren
und Bauern zu regeln versuchten. Nachdem die Aufhebung der Leibeigenschaft
eine Vogelfreiheit der jeder Existenzbasis beraubten Bauern herbeigeführt und
dasMaß der „contractlich übernommenen" Frohnleistungen exorbitant gesteigert
hatte, wurde schon 1849 principiell die Verwerflichkeit der Arbeitspacht anerkannt
Und eine Bank gegründet, mit deren Hilfe der Fröhner zum Grundeigenthümer
werden sollte: 1856 trat ein unseliger Rückschlag in den Ansichten des Avels
ein, der von den Principien seines eben verstorbenen liberalen Führers Hamilcar
v. Foelkersahm abweichend, die Zugeständnisse von I. 1849 zurückzunehmen
Miene machte. Dieses Beginnen, das inmitten der gleichzeitigen russischen
Reformbestrebungen besonders thöricht und für den moralischen Credit des
deutschen Elements verderblich erscheinen mußte, fand bei der Staatsregierung
so entschiedene Mißbilligung, daß man in dem Agrargesetz von 1863 zu den
früheren Principien zurückkehren und einen Compromiß mit denselben schließen
Mußte. Das Schwanken der Legislation, begleitet von erbitterten Kämpfen im
Schooße der Ritterschaft, wirkte in peinlichster Weise auf die Beziehungen zwischen
Gutsbesitzern und Bauern und erschwerte den Uebergang von der Frohne zum
Pachtsystem und zur Befestigung des bäuerlichen Grundbesitzes, der erst seit
den letzten fünf Jahren namhafte Fortschritte gemacht hatte, in nachtheiligster
Weise. Noch ungünstiger haben sich die Verhältnisse Estlands gestaltet, das
durch einen Bauernaufstand von 1859 durchgehen mußte, um zu der gegen¬
wärtigen Ordnung der Dinge durchzuringen. — Heute kann die Agrarfrage in
den Ostseeprovinzen allerdings als im wesentlichen gelöst angesehen werden und nur
die Scheelsucht der moskauer Democratie träumt noch von der Nothwendigkeit einer
radicalen Umgestaltung, die, weit davon entfernt eine Wohlthat zu sein, viel¬
mehr mit einem Bankerott des gesammten Landes identisch wäre. Die noch
ducht zu Eigenthümern gewordenen Pächter ohne weiteres zu Grundbesitzern
Machen, hieße die Gutsbesitzer und ihre zahlreichen Gläubiger an den Bettelstab
Gingen. Die Frohne ist gegenwärtig in allen drei Provinzen vollständig beseitigt,
der von den Bauern pachtweise besessene Boden gegen Einziehungen vollständig
^schützt, die VerWandelung des bäuerlichen Pachtbcsttzes in Grundeigenthum
Seht mit Riesenschritten vorwärts, eine Gemeindeordnung vom 19. Febr. 1866
hat endlich jede Spur einer Abhängigkeit der Gemeinden von den Gutsbesitzern
aufgehoben und jene durchaus selbständig constituirt. Die Körperstrafe existirt
gleichfalls nicht mehr und der Gutsbesitzer, der disziplinarisch gegen seine
Hossknechte vorgehen will, darf sich nicht mehr selbst helfen, sondern muß den
bon der Bauerjchast gewählten Gemeindevorsteher oder das Gemeindegericht, zu
Hilfe rufen. Binnen weniger Jahre hat die Wohlhabenheit der Bauern so
^sah zugenommen, daß die in den Händen derselben befindlichen kleinen Capi¬
talien bereits Millionen ausmachen und die materielle Lage der kleinen Grund-
besitzer imj ganzen befriedigender ist als die der Rittergutsbesitzer, namentlich
^plants, wo adlige Bankerotte immer häusiger vorkommen.
Größere Wohlhabenheit ist indessen nicht das einzige Merkmal, durch wat-
ches der kurländische Edelmann (man zählt allein 77 Majoratsbesitzer in Kur¬
land) von dem livländischen verschieden ist. Obgleich der Adel auch in Livlcind
den herrschenden Stand bildet, neben der Stadt Riga allein auf den Landtagen
vertreten ist, obgleich er das ausschließliche Recht zur Besetzung der ländlichen
Richter- und Verwaltungsstellen besitzt und sich einer großen Anzahl anderer
wichtiger Privilegien, z. B. eines privilegirten Gerichtsstandes erfreut, spielt
das Bürgerthum von Alters her in Liv- und Estland eine ungleich größere Rolle
als in dem Herzogthum jenseit der Dura. Der häufigere Wechsel der Herr¬
schaft, die Leiden zahlreicher Kriege, die Einschränkung der adligen Selbstherr-
Uchkcit durch das schwedische Königthum, endlich die Existenz größerer unabhän¬
giger Städte, mit deren Machtstellung gerechnet werden mußte, haben den liv¬
ländischen Adel daran gewöhnt, sich nicht als den einzigen herrschenden Stand
anzusehen. Der Anspruch auf diese Rolle ist zwar niemals völlig aufgegeben
worden, er hat reichlich dazu beigetragen, den ständischen Hader zu schüren —
mit seiner Erfüllung hat es aber immer Schwierigkeiten gehabt. Ein ausschlie߬
liches Recht auf den Besitz von Rittergütern haben die Glieder der livl. Ritter¬
schaft niemals besessen; obgleich es ihnen schon 1710 gelungen war die bezüg¬
lichen Privilegien der Nigaschen Bürger in Frage zu stellen, kostete es einen
jahrzehntlangen harten Kampf, ehe das Bürgerthum völlig ausgeschlossen
wurde und diese Ausschließung mußte mit der Zulassung aller Edelleute zum
Grundbesitz bezahlt werden, d. h. auch solche Personen, welche den Erbadel
im Staatsdienst erworben hallen, aber außerhalb der Ritterschaft standen, durs¬
ten Rittergutsbesitzer werden. Erst 184S bei Gelegenheit der Codchcation des
Provinzialrechts war diese Ordnung der Dinge in Kraft getreten — schon 1866
leistete die livl. Ritterschaft auf dieselbe Verzicht, indem sie dem Beispiel des
kurländischen Adels folgend den Grundbesitz allen Ständen freigab. Seitdem
hat sich das Verhältniß des Bürgerstandes zum Adel wesentlich gebessert; auf
einen tüchtigen an politische Wirksamkeit und Selbstverwaltung gewöhnten Hand¬
werker- und Kausmannstand gestützt, in seinen Städten völlig unabhängig, durch
den Besitz der Landesumversitat Dorpat zu dem vollen Gefühl seiner
Bedeutung erhoben, durch das mächtige Riga auf den Landtagen reprä-
sentirt, war das livländische Bürgerthum niemals in die isolirte, verbitterte
Stellung deS kurläud>scheu gerathen, ist es ihm in der Neuzeit leicht geworden,
die Nothwendigkeit einer Verständigung mit dem Adel zu begreifen und diesen
in der Vertheidigung der Landesrechte zu unterstützen. Freilich fehlt Edelleuten
und Bürgern dieser Provinz die frische, ursprüngliche Kraft des kurischen We¬
sens, zeigt vor allem der Adel mehr Prätension und weniger aristocratischen
Freisinn als in Kurland — dieser Mangel wird aber aufgewogen durch eine be¬
wußtere Bildung, durch ein sichereres Verständniß sür die Ansprüche der Zeit,
durch die gereiftere Einsicht in die Nothwendigkeit, an der modernen Eultur
und ihrem Entwickelungsgang Theil zu haben. Durch den Reichthum seiner
Städte, den Besitz der Universität, einer polytechnischen Schule, einer aufstie¬
benden politischen Presse, der ersten baltischen Eisenbahn, endlich dadurch, daß
Riga der Sitz des General-Gouverneurs und der baltischen Centralverwal-
tung ist, hat Livland ein gewisses geistiges Uebergewicht über die Nachbarpro¬
vinzen gewonnen; Estland, das nur eine bedeutende Stadt, das alte Neval
auszuweisen hat und wegen der Ungunst seiner Bodenverhältnisse die ärmste
der drei Provinzen ist. erscheint minder begünstigt. Dazu kommt, daß dieses
Land zufolge der nahen Nachbarschaft Petersburgs fremden Einflüssen am mei¬
sten ausgesetzt ist. —In einer Beziehung ist Livland freilich schlimmer daran,
als die beiden Schwesterprovinzen — in kirchlicher. Etwa 100.000 der ärmsten
Letten und Ehlen traten während einer Hungersnot!) der vierziger Jahre, ver¬
führt durch die trügerischen Versprechungen russischer Wanderprediger zur griech.-
orth. Kirche über und in den meisten Kirchspielen des Landes ist noch gegen¬
wärtig neben der lutherischen eine russische Kirche zu finden. Die Geschichte
dieser Konversionen bildet einen der traurigsten Abschnitte in der Vergangenheit
Livlands, sie fällt in eine Zeit kirchlicher und politischer Verkommenheit, aus
welcher das Land sich nur miihsam herausgearbeitet hat. Die Herrschaft der
Frohne. die Theilnahmslosigkeit der deutschen Bevölkerung an dem Geschick der
UrVölker, zum Theil auch die Trägheit des geistlichen Standes hatten es ver¬
schuldet, daß Tausende ihrer bäuerlichen Landsleute durch den Abfall von der
Kirche ihrer Väter eine bessere Zukunft zu erkaufen versucht hatten. Die armen
Vcthörten sollten ihre Untreue hart genug büßen. Nachdem den agrarischen
Schäden nach Kräften abgeholfen, ein neuer Geist in die Prediger des Landes gefahren
War. die Volksbildung, dank den zu Dorpat und Wall errichteten Schulmeister-
Seminaren beträchtliche Fortschritte gemacht hatte, wurden die convertirten
Letten und Ehlen (nahezu zehn Procent der ländlichen Bevölkerung) gewahr,
daß die neue Kirche, mit welcher sie es versucht halten, nicht im Stande sei.
ihren geistigen und geistlichen Bedürfnissen zu entsprechen, daß sie von den Bil¬
dungsfortschritten ihrer lutherisch gebliebenen Brüder ausgeschlossen blieben, daß
zu der deutschen Bevölkerung des Landes, von der alle Bildung und aller
Tortschritt ausging, die jetzt unermüdlich für Schulen, Bücher und Zeitungen sorgte,
^"daß sie zu dieser in einen nahezu feindlichen Gegensatz getreten seien. Ihr Zu¬
stand drohte ein unhaltbarer zu werden; mitten in einem protestantischen Lande
Gehend, waren sie durch ihre Sprache, ihre Bildung und den Gang ihrer Ent¬
wickelung von dem russischen Volke geschieden, dessen religiöser Cultus ihnen
etwas Fremdes. Aeußerliches blieb. Ein mächtiger Rückschlag trat ein — schaaren-
^else strömten die Convertiten zu den weltlichen und geistlichen Autoritäten
des Landes, um die Wiederaufnahme in die lutherische Kirche zu erbitten, aber
hartes unerbittliches Gesetz, das trotz der durch die Landcsprivilcgien gesicherten
Glaubensfreiheit factische Geltung erlangt hatte, stand ihnen drohend gegenüber;
wer der griech.-orth. Kirche angehört, kann dieselbe nicht wieder verlassen, selbst die
Kinder aus gemischten Ehen gehören unwiderruflich dieser Kirche an. Nachdem alle
Bitten undVorstellungen der inihrenGewissenGeängstetenkeinGehör gefunden hatten,
organisirte sich ein passiver Widerstand, dessen Gewalt noch heute nicht ge¬
brochen ist. Zehntausende von Männern, Weibern und Kindern erklärten feierlich,
keine Gewalt der Erde werde sie jemals dazu zwingen, eine griechische Kirche zu
besuchen oder an den Amtshandlungen derselben Theil zunehmen: sie besuchten
fortan nur noch lutherische Gottesdienste, und da kein lutherischer Prediger bei
schwerer Strafe sacramcntale Handlungen an Gliedern der griechischen Kirche
vornehmen darf, drängten sie sich heimlich oder unter falschen Namen zum
Abendmahl; die Taufen an ihren Kindern vollzogen sie selbst nach lutherischem
Ritus, ihre Ehen wurden durch keinen Geistlichen eingesegnet, sondern einfach durch
gegenseitiges Gelöbniß der Treue vor Zeugen abgeschlossen. Alle Mittel der Ge¬
walt und der Ueberredung haben sich vergeblich erwiesen und die Negierung
hat schließlich auch davon Abstand nehmen müssen Personen, die zuwider den
Vorschriften der griechischen Kirche jahrlang nicht zum Abendmahl gehen, mit
Criminalstrafen zu belegen. Was aus diesen Ausgestoßenen werden soll, weiß
Niemand im Lande zu sagen; der Freisinn der Regierung welche die Confession
der in gemischten Ehen erzeugten Kinder neuerdings (1868) der Entscheidung
der Aeltern überlassen und den Taufzwang für außer der Ehe geborene Kinder
aufgehoben hat, — findet an der Eifersucht der griechisch-orthoxen Kirche,
welche von ihrem „Eigenthum" nicht lassen will, eine unüberspringliche Schranke
und die ihres angeblichen Liberalismus wegen vielgerühmte moskauer Demo-
cratie, entblödet sich nicht, die Regierung wegen der ihrer Concessionen an
die vom Zeitgeist geforderte Gewissensfreiheit zu verlästern und den Fanatismus
des griechisch-russischen Klerus immer wieder anzufachen. Wie ein Alp ruht
dieser entsetzliche Zustand der Dinge auf dem Gewissen des Landes — da sich
alle Versuche des Adels und der Geistlichkeit zur Retablirung der traktaten-
mäßigen Gewissensfreiheit als vergeblich erwiesen haben und jedes Kind im
Lande weiß, daß der Glaubensdruck der auf die Konvertiten ausgeübt wird,
nicht von dem Kaiser und nicht von der Negierung ausgeht, sondern eine
Forderung des russischen Volkswillens ist, ist nichts übriggeblieben, als die
Unterwerfung unter den Druck eines unabänderlichen Verhängnisses, das schwei¬
gend getragen werden muß.
Ueber die äußeren Zustände des baltischen Festlandes haben wir uns der
Hauptsache nach orientirt; von dem geistigen Leben und seinen Hauptträgern,
der Universität Dorpat und dem Bürgerthum der Städte, wird in einem
folgenden Abschnitt ausführlich die Rede sein. Es bleibt übrig der Inseln
des rigaschen Meerbusens zu gedenken, die in den Kreis baltisch-deutschen Cultur-
lebens mit hineingezogen worden sind. Drei derselben Oesel, Nuno und Moon
gehören zu Livland, die übrigen, von denen nur Dcigo und Worms genannt
zu werden verdienen, bilden Theile Estlands und gehorchen dem chemischen Land-
«recht/) Begreiflicher Weise ist das deutsche Element hier schwächer vertreten
als auf dem Festlande: nur auf Oesel giebt es eine kleine Stadt, den Hafenort
Arensburg, auf den übrigen Eilanden besteht die deutsche Bevölkerung beinahe
ausschließlich aus adligen Gutsbesitzern und Predigern. Trotz seiner Zugehörig¬
keit zu Livland besitzt Oesel eine eigene, unabhängige Ritterschaft und ein
eignes Baucrngesetzbuch. Von Bildungseinflüssen durch das Meer abgeschnitten,
Von einem Adel beherrscht, der sich nur mühsam zum Verständniß der Neuzeit
durcharbeitet hat und dessen meist das Fischer- und Seefahrergewerbe betreibende
Bauern ärmer und verkommener sind, als die des Festlandes, bildet diese Insel
den mindest erfreulichen Theil des baltischen Landes: das Bürgerthum kommt hier
kaum in Betracht, die weniger zahlreichen Juristen, Lehrer, Kaufleute und Hand¬
werker Ahrensburgs sind von der Culturwelt so gut wie abgeschnitten. Aber
noch sehr viel isolirter sind die beiden kleinen Inseln Nuno und Moon, jene
von Schweden, diese von Ehlen bewohnt, unter denen der Pastor der einzige
Repräsentant deutscher Cultur ist. Da das Meer im Winter zufriert, oft
wochenlang kein Boot den „Sund" passiren kann und die Bewohner während dieser
Zeit von allem Verkehr mit dem Festlande und den größeren Nachbarinseln ab¬
geschnitten sind, kann der Prediger, zu Moon (auf Nuno ist der Geistliche
Schwede) Wohl der veisprengtcste Apostel deutschen Geisteslebens und deutscher
Bildung in Europa genannt werden. Nur während der kurzen Sommermonate
kommt er mit Männern seines Volks in Berührung, dringen Bücher und
Zeitungen in seine wogenumspühlte Wildniß. Und doch sind Schiller und
^v'the, Lessing und Humboldt in dem schlichten Pfarrhof dieser Insel ebenso
heimisch, wie im Herzen des reichen Mutterlandes, und doch wirkt der Greis,
der an diesen einsamen Vorposten gestellt ist, seit einen halben Jahrhundert in
bischer Kraft und freudigem Muth, für die civilisatorische Aufgabe, welche der
deutsche Stamm an der Ostsee übernommen hat und an der er sich nicht beirren
läßt, weder durch eine feindliche Natur, die den Menschen wie einen unberech¬
tigten Fremdling zurückzuscheuchen bestrebt ist, noch die Ungunst politischer Ver¬
hältnisse, die das 700jährige Herrscherrecht der Einwanderer immer wieder in
Trage stellen. „Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen" ist die Antwort welche
die baltischen Deutschen seit einem halben Jahrtausend denen geben, die sie
von einem Boden zu verdrängen streben, den sie mit ihrem Blut theuer genug
erkauft haben.
Kein Theil Norddeutschlands wird von den großen staatsrechtlichen Verän¬
derungen der jüngsten Zeit in dem Maße betroffen, wie die Hansestädte. In
den monarchischen Kleinstaaten empfinden vorzugsweise die Dynastien, die Höfe
und die Regierungsbehörden unmittelbare Verluste an Macht und Einfluß, in
den Hansestädten trägt die ganze Bürgerschaft an diesen Einbußen mit. Das
ist die Folge der hanseatischen Selbstverwaltung. Nicht blos die Senatoren,
auch die bürgerschaftlichen Mitglieder der Verwaltungs-Deputationen sehen ihren
Wirkungskreis plötzlich eingeschränkt, sich die wichtigsten und vielfach auch die
interessantesten Geschäfte abgenommen, um
„Einen zu bereichern unter Allen",
d. h. je nach Umständen das preußische Kriegsministerium, das Bundeskanzler-
Amt, irgend einen ständigen Ausschuß des Bundesraths oder wie sonst die neuen
Organe der Ccntralregierung heißen mögen. Nicht alles freilich wird man un¬
gern abgeben. Was z. B. das Militärwesen anbelangt, so ist es spätestens
im vorigen Sommer, als auf gute und schlechte Armeeverwaltung die entschei¬
dende praktische Probe gemacht wurde, den ehrbaren bürgerlichen Collectiv-
Kriegsministern der Hansestädte klar geworden, daß man sich je eher desto lieber,
dieser unpassenden Beschäftigung zu entäußern habe. Ihre Verwaltung mag,
zumal was die materiellen Mittel betrifft, in noch so guter Ordnung gewesen
sein, so werden sie sich nichts destoweniger herzlich freuen, in Herrn v. Roon
und seinen Gehilfen jetzt sachverständige Nachfolger erhalten zu haben. Anders
aber steht es z. B. schon mit der Rechtspflege. Haben die hanseatischen Juri¬
sten auch selbstverständlich, und trotz des hohen Rufes den ihr Oberappellations¬
gericht besitzt, nicht die Anmaßung, sich in aller und jeder Rechtsgesetzgebung
besser selbst helfen zu können, als durch den Eintritt in ein allgemeines natio¬
nales Nechssystem, zu dessen stückweiser Schaffung die tüchtigsten und erprobte-
sten Kräfte von ganz Deutschland aufgewendet werden; sind sie vielmehr umge¬
kehrt der Mehrzahl nach schon seit Jahren zu der Ueberzeugung gekommen
daß ihre Bedürfnisse in den meisten Materien entschieden auf eine Anlehnung
an größere Kreise hinweisen; so gibt es doch auch einige, und zwar praktisch
sehr bedeutende Theile des Rechts, in denen sie sich vermöge der Natur ihrer
täglichen Aufgabe eine durchschnittliche Ueberlegenheit über den binnenländischen
Juristenstand zutrauen dürfen. Zum Glück ist gerade das Handelsrecht schon
länger unificirt worden und folglich kein Gegenstand des Streits und Zweifels
mehr. Nicht dasselbe jedoch gilt von der Handelspolitik; und diese an die
Centralgewalt zu verlieren, ist in der That für die Hansestädte keine Kleinigkeit.
Man stelle sich nur vor, welche ununterbrochen fließende Quelle der werth¬
vollsten Vortheile es für einen weitverzweigten Handelsverkehr sein mußte, daß
ihm alle Mittel eines unabhängigen souveränen Staats — mit alleiniger Aus¬
nahme eigentlicher militärischer Macht — zu Gebote standen; die Schließung
von Verträgen, die Aussendung von Gesandten, die Ernennung von Consuln,
die Gesetzgebung, das Recht Steuern aufzuerlegen und abzuschaffen, die Verwal¬
tung aller öffentlichen Anstalten, die Polizei. Alle diese Hebel menschlicher Ge-
sammtthätigkeit waren in Hamburg, Bremen und Lübeck unausgesetzt und aner¬
kanntermaßen vor allem zu dem einen Zwecke thätig, den Handel der Stadt
auf den erreichbar höchsten Grad von Ausdehnung, Sicherheit und Einträglich¬
keit zu bringen.. Jetzt kommt ihnen die wirksamere Hälfte derselben abhanden,
und zum Ersatz erhalten sie nur die gleiche Anwartschaft, wie alle anderen
norddeutschen Handelsplätze auf die allgemeine Fürsorge der Bundesgewalt.
Diese hat freilich einen Vorzug vor der selbständigen hanseatischen Politik; sie
ist die Trägerin großer materieller Macht, und vermag ihrem einmal ausge¬
sprochenen Willen einen nicht leicht zu entkräftenden Nachdruck zu geben. Aber
dieser ihr Wille gerade immer den besonderen Interessen der Hansestädte,
oder deren aus langer Praxis fließenden Ansichten von den commerciellen In¬
teressen Deutschlands entspreche, dafür gibt es bei weitem weniger Bürgschaft,
als sie der hanseatische Handel bisher dafür besaß, daß die Politik seine Sache
"es ein guter und getreuer Anwalt führen werde. Wo sonst die Handelskammer,
in der die Gesammt-Erfahrung und Einsicht des Kaufmannsstandes sich sammelt,
"ur einfach an den Senat oder dessen Commission für auswärtige Angelegen¬
heiten zu berichten hatte, und der Anwendung der freilich viel bescheidneren, aber
gewöhnlich doch ausreichenden staatlichen Mittel in der ihr erwünschten Rich¬
tung ziemlich gewiß sein konnte, da hat sie jetzt kaum einen andern Weg, auf den
handelnden Arm zu wirken, als denjenigen schriftlicher Berichterstattung an ein
einzelnes Mitglied des Bundesraths oder mündlichen Vortrags im Reichstag
durch einen oder zwei ihr näherstehende Volksvertreter. Um die Executive wirk¬
lich in Bewegung zu setzen, muß schon eine Anzahl günstiger Verhältnisse
zusammenwirken; es darf weder ein wirkliches oder vermeintliches binnenländi-
schts Interesse im Wege sein, noch eine Tradition der preußischen Bureaucratie n.;
— endlich muß die Begründung des einzelne,, Wunsches gewichtig genug sein,
um im Nothfall eines hinzukommenden guten Willens entbehren zu können.
Und wie in der Verwaltung, ist es in der Gesetzgebung. Es ist eine beson-
dere Gunst des Schicksals, daß der Sieg Preußens über Oestreich in dem lan¬
gen Kampfe um die Führung Deutschlands mit dem Triumph der Freihcmdels-
Jvec in der öffentlichen Meinung zusammengefallen ist, sonst hätten die Hanse¬
städte den Uebergang der volkswirtschaftlichen Gesetzgebung auf den Bund
bitter genug zu beklagen gehabt. Eine exceptionelle Rücksicht, auf ihre örtlichen
Bedürfnisse tonnen sie natürlich ebensowenig in Anspruch nehmen als Irgend ein
anderer kleiner Theil des Ganzen. In dem Maße aber, als die Volkswirth-
schaftliche Gesetzgebung auf ihren gesteigerten und vervielfältigten Verkehr ein¬
schneidender wirkt als auf die größtentheils minder entwickelten Verkehrszustände
des Binnenlandes, müssen sie auch diesen Wechsel stärker empfinden —- wohl¬
thätig auf der ^me» Seite, nicht ohne vorübergehenden Nachtheil auf der
andern.
Indessen, das ist nun einmal die unwiderruflich gegebene Lage. Mehr als
das; es ist die nothwendige Konsequenz einer Reform unserer nationalen Ver¬
fassung, deren großen, überwältigenden Segen die Bürger der Hansestädte am
wenigsten gemeint sein können, abzuleugnen, weil sie durch ihre laufenden Be¬
ziehungen zum Auelande ihn am handgreiflichsten erfahren müssen. Es fällt
ihnen denn auch längst nicht mehr ein, sich grundsätzlich gegen die neue Ord¬
nung der Dinge zu sträuben. Bremen und Lübeck haben das überhaupt nicht
gethan; in Hamburg schrumpfen die conservativen und radicalen Extreme, die
mit den particularistischen Bestrebungen übereinstimmen, zusehends mehr aus
einige abgelebte Greise hier, einige unreife junge Demagogen dort, zusammen.
Im allgemeinen läßt sich behaupten, daß die Hansestädte sich in ihre veränderte
Stellung gefunden haben, einschließlich des Verlusts ihrer so kostbaren handels¬
politischen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Ja, dieser ist seltsamer Weise
von der Masse ihrer Bewohner weniger schmerzlich vermerkt worden, als der
Verlust der gleichgiltigen und übelangebrachten Militärhohcit. Allein was sich
darum noch nicht behaupten läßt, ist, daß man sich allerseits rüstig anschicke,
der veränderten Lage gemäß neue angemessene Einrichtungen zu treffen. Man
lebt vor der Hand noch fort in einer gewissen Lethargie, als wäre man zu be¬
täubt durch den Kanonendonner des vorigen Jahres oder durch die folgenrei¬
chen Reden im norddeutschen Reichstag, um sich sobald völlig fassen, an seine
Geschäfte und namentlich an bedeutungsvolle Neuerungen gehen zu können.
Die Seele des hanseatischen Politikers ist offenbar für seine eigentliche gegen¬
wärtige Aufgabe noch nicht frei genug. Hanseatische Patrioten im Sinne
des alten Smidt oder der Sieveking und Abendroth gibt es im Grunde nichl
mehr; die es sein könnten, haben ihr Herz an Deutschland gehängt und fühlen
für die Republik nicht viel mehr als jeder sinnige Mensch für seine Vaterstadt.
Man liebt es in Hamburg noch immer, mit Emphase von „der Vaterstadt" zu
reden, und officielle Redner gestatten es sich nach wie vor. Hamburgs vor
Deutschland zu gedenken; allein auch an der untern Elbe ist das vaterstädtisch
Gemeingefühl keine so wirksame Potenz mehr wie das vaterländische.
So erklärt es sich durch einen Fortschritt der politischen Entwickelung,
der aber zugleich eine Mschwächung nach einer andern Seite hin einschließt,
Wenn in den Hansestädten der schöpferisch patriotische Geist für den Augenblick
beinahe erloschen scheint. Dazu kommt noch, daß ihre republicanische Selbst-
Verwaltung und wesentlich demokratische Verfassung jede große organische Reform
erschwert. Es genügt nicht, daß wenige erleuchtete Köpfe die Nothwendigkeit ?
des Aendcrns und die Zweckmäßigkeit einer bestimmten Aenderung einsehen;
die herrschende Meinung muß für beides gewonnen werden.
Wie weit jedoch der Weg immer sein möge, er muß betreten werden,
wenn die Hansestädte in der neuen Epoche des Vaterlandes für lebendige, frisch
und freudig mit emporwachsende Glieder gelten wollen, nicht für abgestorbene
und nur zwangsmäßig mitgeschleppte. Der Umgestaltung Deutschlands muß
die innere Umgestaltung Hamburgs, Biemens und Lübecks auf dem Fuße fol¬
gen, ihr entsprechend und zugleich von ihr bedingt.
Die Centralisation einer Reihe von staatlichen Aufgaben im norddeutschen
Bunde nimmt den hanseatischen Staaten und Bürgerschaften den praktisch wich¬
tigsten Theil ihrer politischen Thätigkeit ab. Die natürliche Folge ist. daß ihre
specifisch connnunalc Wnksamkeit verhältnißmäßig an Werth und Wichtigkeit zu¬
nimmt. Für communalc Thätigkeit aber sind jene Körperschaften, die cxecutiven
sowohl wie die repräsentativen und controlirenden. recht mangelhaft organisirt.
Sie sind vor allem zu zahlreich. Nahe an zwanzig Mitglieder, sind zu viel für
^n Magistrat einer Stadt von dreißig- oder sechzigtausend, ja selbst wohl von
Zweiinalhnuderttausend Einwohnern; hundert bis zweihundert Mitglieder zuviel
sür ihre Stadtverordneten-Versammlungen. Die Verantwortlichkeit zerstreut sich
bei einer solchen Menge von Köpfen zu sehr. In der verwaltenden Behörde
sammelt sich zuviel untergeordnete Detail-Arbeit, die besser technischen und sub¬
alternen Kräften überlassen bliebe; in der bürgerlichen Vertretung keimt ein
sehr überflüssiger Parteigeist, wuchert die Rhetorik, und verflüchtigt sich aller
nöthige Ernst für zweckmäßige Behandlung der öffentlichen Geschäfte. Ein
Senat von zehn oder zwölf, eine Bürgerschaft von höchstens fünfzig Mitgliedern
würde die eigentlichen Gemeinde-Angelegenheiten ohne Zweifel bei weitem besser
verwalten; und da diese jetzt in den Vordergrund treten, so sollte ihr Interesse
der Hauptsache auch über die Organisation der Behörden entscheiden. Die
Abnahme der mehr politischen Geschäfte drängt ohnehin daraus hin. Insofern
aber doch ein Nest politischer Action zurückbleibt, wird es angemessen sein, diesen
wenigstens in der repräsentative» Sphäre für eine besondere, das ganze Staats-
wesen umfassende Körperschaft abzuscheiden, d. h. mit anderen Worten die
längst beabsichtigte Trennung der Hauptgemeinde des Staats von diesem selbst
endlich einmal auszuführen.
Erst wenn dieser die Energie und die Verantwortlichkeit conccntrirende
Proceß vollzogen sein wird, kann man hoffen, die Hansestädte ihre Rolle als
bevorzugte städtische Gemeinden, die ihnen auch in Zukunft ungeschmälert blei¬
ben wird, mit vollem Bewußtsein ergreifen und ausfüllen zu sehen. Dann
erst werden sie im Stande sein. Muster einer allseitig entwickelten und mit der
Cultur der Zeit ununterbrochen fortschreitenden Gemeindeverwaltung abzu¬
geben. Sie gehören zu den reichsten unter ihresgleichen, sowohl was unmittel¬
baren Besitz der Gesammtheit als was die durchschnittliche Steuerfähigkeit ihrer
Bewohner anlangt; sie sind durch die Ueberlieferungen einer strengen und weitaus-
gedehnter Bürgerpflicht, eines regen, durchgängigen, opferfähiger Gemeinsinnes
moralisch stärker als die meisten anderen deutschen Städte, wenn es freiwillige
Leistungen oder Steuern zu gemeinnützigen Zwecken gilt; und endlich besitzen
sie, was außer ihnen jetzt keine deutsche Stadt mehr, die innere Souveränität,
das Vermögen der Gesetzgebung, wenn Geld und uncrzwungene Thätigkeit für irgend
einen wichtigen öffentlichen Zweck nicht ausreichen. Bisher hat viel daran gefehlt,
daß die Hansestädte von diesen Vorzügen ihrer Stellung als Gemeinden, anderen
Städten gegenüber, rechten und vollen Gebrauch gemacht hätten. Politische
Beschäftigungen und deren unvermeidliche Folge, Parteikämpfe, hinderten sie
daran. Jetzt aber ist das Feld ziemlich frei; wenn sie sich noch ferner vor
ihresgleichen hervorthun und ihres Vorrechts innerer Unumschränkheit würdig
beweisen wollen, muß es aus dem Gebiet der communalen Thätigkeit geschehen.
Dies ist wahrhaftig keine verächtliche Sphäre. Mit dem rapiden Wachs¬
thum der Städte häufen, vervielfältigen und erschweren sich die Aufgaben der
Städteverwaltung dermaßen, daß nur die volle Hingabe vorzüglicher Kräfte sie
befriedigend lösen kann. Welche Probleme stellt ihr nicht allein nicht die öffent¬
liche Gesundheitspflege, die sich seit kurzem so mächtig in den Vordergrund
drängt! Entwässerung und Wasscrzuführung, Wegräumung der Auswurfsstoffe
durch unterirdische Canäle oder durch Abfuhr, Entgiftung der Häuser in Zeiten
größerer Epidemien — alle diese selbst der Wissenschaft zum Theil noch so neuen
und räthselreichen Fragen gehören heutzutage zu dem Beruf eines Stadtraths
oder der Stadtverordneten in größeren Städten. Wir werden bald sehen, daß den
Cholera-Conferenzen der Aerzte und Botaniker, die Bildung einer hygienischen
Section auf dem Congreß deutscher Naturforscher und Aerzte, freier und jeder'
manu zugänglicher, hauptsächlich aber von Gemeinde-Beamten und -Vertretern be>
suchter Versammlungen für Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege auf dem
Fuße folgen. Dann denke man an die im Schlendrian vorkommenen Zustände
des Armenwesens. Was läßt uns dem Pauperismus gegenüber machtlos dastehen,
als die Thatsache, daß zu seiner Bekämpfung fast aller Orten nur die stumpfste Routine
aufgewendet wird? Weil der Geist fehlt, der doch allein lebendig macht, schüttet
man Geld, Geld und immer mehr Geld in.den Abgrund der Massenverarmnug,
— das sicherste Mittel ihn unaufhörlich zu erweitern und auszuticfen. Eine
frische Zufuhr geistiger Kraft wird hier nicht allein viel Geld, d. h. Steuern
ersparen, sondern auch dem Ziele aller Armenpflege in starken Schritten näher¬
führen. Dazu nehme man endlich das Bauwesen in seinen tausend Verzwei¬
gungen, sowohl was die sicherheitspolizeiliche Ueberwachung des Privatbaues,
als den öffentlichen Bau betrifft. Beinahe alle unsere rasch angeschwollenen
Großstädte seufzen nach einem Haußmann. Es kommt ihnen natürlich nicht
auf die politischen Hintergedanken oder den finanziellen Leichtsinn des Seine-
Prcifecten an, wohl aber auf jene Mischung von Kühnheit und Geschick, Geschmack
und Unternehmungsgeist, welche jene Errichtung des neuen Paris aus den Trüm¬
mern des alten unbestritten auszeichnet.
Kurz, im Innern unserer deutschen Städte ist eine Fülle bedeutungsvoller
Aufgaben zu lösen, und es könnte wahrlich nicht schaden, wenn diejenigen unter
ihnen mit beredtem, verführerischen Beispiel vorangingen, welche durch ihre freiere
Stellung augenscheinlich dazu berufen sind. Der sittliche und geistige Fonds
ist in ihrem Schoße vorhanden, der materiellen Mittel gar nicht zu gedenken.
Sie haben eine verhältnißmäßig große Zahl von Bürgern, welche sich bereits
im Dienste des öffentlichen Lebens erprobt haben; daneben nicht weniger zahl¬
reiche andere, denen Gelegenheit geboten worden ist, die musterhaftesten Ein¬
richtungen fremder Weltstädte im jahrelangen täglichen Verkehr kennen und be¬
urtheilen zu lernen. Sie erfreuen sich seit manchem Jahr einer vollkommen
freien rcichentwickelten Ortspresse, die sich mit einer in Deutschland seltenen
Vorliebe auf die inneren städtischen Angelegenheiten wirft. Der sie durchdringende
Gemeingeist wird von keiner andern deutschen Stadt überboten. Es ist eigent¬
lich nichts weiter mehr nöthig, als daß eine den neuen Aufgaben entsprechende
Reorganisation der Kräfte vor sich gehe. Insbesondere muß man grundsätzlich
und für eine ganze Reihe von Thätigkeiten mit dem Deputationswesen brechen,
diesem reinen Nothbehelf einer nun zur Vergangenheit gewordenen Zeit, in
welcher eine einzelne Stadt alle Geschäfte der innern und auswärtigen Staatskunst
gleichmäßig auf ihre Schultern zu nehmen hatte. Da war es freilich von
nöthen, daß man sich, um nicht unerschwingliche Besolbungsbudgets zu be¬
kommen, an den Gemeinsinn der Bürger auch für reine Vcrwaltungsthätigkeiten
sandte; und da niemand im Stande oder Willens ist, dem Staate seine ganze
Arbeitszeit unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, so feste man aus den Muße-
stunden mehrerer, den Ersatz für jeden fehlenden Mann von Fach zusammen.
Wie schwerfällig, geistlos und unverantwortlich (das Wort im eigentlichen Be¬
griffe gebraucht) dadurch die hansestädtische Verwaltung dem Durchschnitt nach
geworden ist, weiß jeder Kundige. In Handelssachen war es leicht für sie,
den Ruf der Meisterschaft zu wahren; aber dieser eine Tugendmantel hatte
viele und arge Blößen zu bedecken. Darum darf nun auch jetzt, wo das Be¬
dürfniß hinweggcfallen ist, um Gotteswillen aus dem Nothbehelf nicht ein Bor¬
zug gemacht werden, am wenigsten im Namen der Selbstverwaltung oder der
Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Es ist keine Sparsamkeit, sondern die
ärgste Verschwendung, wenn die kostbare Zeit und Kraft intelligenter Männer
so in Masse vergeudet wird, wie irr den bestehenden Deputationen meistentheils
geschieht. Sie werden dem Gemeinwesen darum nicht verloren gehen, wenn
man die Deputationsarbeit, wo es irgend geht, auf eigentliche Beamte abwälzt.
Wird auf diese Weise nicht ohne große Schwierigkeit eine Musterverwaitung
herzustellen sein? — musterhaft auch darin, daß sie dem Zwangsverfahren der
Behörden nicht mehr überläßt, als was durch freie Vereinigungen schlechter¬
dings nicht zu leisten ist? Daß sie, anders ausgedrückt, das höchste Maß com-
munaler Leistungen mit dem relativ niedrigsten Grade communaler Steuer¬
anspannung verbindet? Und wenn so dereinst die Kräfte vor aller Welt den
Baum loben, wird dann nicht das Streben der deutschen Gemeinden nach
Unabhängigkeit von den Staatsbehörden, nach freier Selbstbestimmung in allen
ihnen eigenthümlichen Angelegenheiten die fühlbarste Ermuthigung, die mächtigste
Unterstützung gegen den Widerstand der alten Lehre und Praxis empfangen?
Das vermögen die drei Hansestädte ihren Schwestern zu leisten, wenn sie sich
rechtzeitig auf eine neue Rolle bescheiden und einrichten. Ihre specifisch politische
Aufgabe, Deutschlands Antheil am Welthandel mit Staatsmitteln zu behaupten
und unablässig auszudehnen, ist auf einen andern, stärkern, und schließlich
doch auch geschicktem Träger übergegangen; aber ihr gesammter Lebens-
beruf ist damit noch keineswegs erschöpft, sondern es öffnet sich ihrem Ehrgeiz
auf der Stelle ein neues weites Feld, geräumig genug zum Sammelplatz edler
Kräfte. Wenn sie es verstehen, von der ihnen gebliebenen innern Souveränität
einem allgemein einleuchtenden, reichen und nützlichen Gebrauch zu machen, so
wird die Zukunft sie nicht etwa auf das rechtliche Niveau der übrigen deutschen
Städte hinabzudrücken, sondern umgekehrt die letzteren auf das rechtliche Niveau
der Hansestädte zu erheben trachten. Warum, in der That, sollte eine moderne
Großstadt nicht im Bereich ihrer besonderen Aufgaben völlig selbständig sein?
Welche Art von Weisheit und Tugend ist es denn, die das preußische
Ministerium des Innern z. B. vor der Stadtverwaltung von Berlin oder
Breslau voraus hat, wenn es sich um communale Angelegenheiten handelt?
Es fehlt nur an Beispielen zum Vergleich, um die Abgeschmacktheit des über-
lieferten Grades von Unterordnung handgreiflich darzuthun; und diese werth-
vollen Beispiele können die Hansestädte liefern, — das zu thun ist die Mission,
welche ihnen nach so viel anderen großen historischen Leistungen noch vor-
behalten zu sein scheint.
Höher hinaus strebende Geister in ihrer Mitte brauchen darum nicht zu
befürchten, daß sie nur die Wahl hätten zwischen der Einlassung auf Gesund¬
heitspflege, Armenwesen und Bausachen oder vollständigem Verzicht aus die bisher
geübte gemeinnützige Wirksamkeit. Auch ihnen im Gegentheil erweitert sich der
Spielraum. Die bisher gewohnte politische und sociale Abgeschlossenheit macht
es den Hanseaten vorläufig noch einigermaßen schwer, zu ihren örtlichen Um¬
gebungen sowohl wie zu den mancherlei nationalen Vereinigungen der Gegen¬
wart in das rechte Verhältniß zu kommen. Auf die Länge aber wird indivi¬
duelles Bedürfniß mit dem Interesse der Gesammtheit zusammenwirken, um
ihnen einen gewissen politischen Einfluß aus den Kreis, dessen großstädtischer
Mittelpunkt sie sind, und eine angemessene mitleidende Rolle auf Congressen,
Kreistagen und Wanderversammlungen zu verschaffen. Dann wird ihre alt-
erworbene Sachkunde in Fragen der Handelspolitik, des Handels- und See¬
rechts, der Schiffahrt u. s. f. zu derjenigen Geltung gelangen —, die man ihr
im allgemeinen patriotischen Interesse wünschen muß. Ihre Theilnahme am
Reichstage und am Zollparlament wird nicht nothwendig auf die paar Ab¬
geordneten der Hansestädte selbst beschränkt sein, sondern sich durch das frei¬
willige Entgegenkommen benachbarter ländlich-kleinstädtischer Wahlbezirke mehren.
Organe wie der Juristentag, der deutsche Handelstag, die in der Gründung
begriffene deutsche nautische Gesellschaft werden eine reichere Fülle hanseatischer
Elemente in den unmittelbaren, agitatorischen Dienst des nationalen öffentlichen
Lebens ziehen.
Alles die wird aber nur unter der Bedingung geschehen,, daß ein frischer,
schöpferischer Geist in die Hansestädte einziehe und sich die rechten Gefäße schaffe.
Ohne das volle Bewußtsein des Umschwungs, der in ihrer gesammten Stellung ein¬
getreten ist, und ohne den tapfern Entschluß, sich auch unter den so gründlich
veränderten Verhältnissen an der Spitze der Fortschrittsbewegung der Zeit zu
behaupten, sich die noch gebliebenen Vorrechte dadurch zu verdienen, daß sie
durch die Art ihrer Benutzung den segensreichen Inhalt derselben mit der Zeit
zum Gemeingut machen, werden die Hansestädte ihre innere Selbständigkeit nicht
dauernd retten.
Seit einem Monat stehen die Ereignisse, welche die Grundvesten des jun¬
gen Königreichs Italien erschüttern und die Dynastie Carignan-Savoyen unter-
einer revolutionären Hochfluth zu begraben drohen, im Mittelpunkt der euro¬
päischen Interessen. Victor Emanuel sollte noch einmal wählen, ob der Ehre
der italienischen Monarchie durch ihre eigene Regierung ein tödtlicher Stoß er¬
theilt werden oder ob dieselbe gewaltsam zu einer Präfectur des kaiserlichen
Frankreich herabgedrückt werden sollte. Während der König noch zweifelnd vor
dieser entsetzlichen Alternative stand, hat es sich entschieden, daß Italien zu einer
doppelten Schmach verurtheilt worden ist. Die Regierung hat die Partei dcs-
avouiren müssen, welche die Lösung der römischen Frage unternommen und
Napoleon hat, um keinen Zweifel darüber übrig zu lassen, daß das italienische
Königthum in seinen Augen bankerott sei, dennoch den Schutz Roms einem fran¬
zösischen Armeecorps, das bereits auf italienischer Erde gelandet ist, übertragen.
Seit der große Staatsmann im Grabe ruht, der es allein verstand, die
Geister, welche er gerufen, zu beschwören, stürzt ein Ministerium nach dem an¬
dern über dem Versuch zusammen, die römische Frage zu lösen und dadurch den
Italienern vor sich selbst und ihren Regenten Respect einzuflößen. Nicasoli und
Natazzi, Cialdini und Mcnabrea, sie sind erfahrungsmäßig alle davon überzeugt
worden, daß der Fortbestand der weltlichen Macht des Papstes unvereinbar ist
mit der Consolidation der italienischen Zustände, daß nur der Staatsmann
daraus rechnen könne, die Volksmeinung dauernd für sich zu gewinnen und eine
festes Bollwerk des Königthums gegen die Mazzinistiiche Republik zu errichten,
der das Kreuz von Savoyen auf die Zinnen der Engelsburg Pflanzt. Die
Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, allem zuvor in den Besitz Roms treten zu
müssen, und von der eigenen Unfähigkeit, diese Ausgabe zu lösen, hat jedes der Mi¬
nisterien, welche Cavours Erbschaft übernahmen, von vorn herein um das gute Ge¬
wissen und darum zugleich um die Fähigkeit energischen Auftretens gebracht. Der
Umsturz des päpstlichen üomimum temporale; ist seit lange identisch mit der Befrei¬
ung von der französischen Vormundschaft und diese, nicht der Besitz des beschränkten
Territoriums, welches die ewige Stadt umgiebt, ist es, welcher das italienische
Volk dringend bedarf, um zu Ruhe zu kommen und wieder an die Arbeit seiner
sittlichen Wiedergeburt zurückzukehren. Nicht um das Geschenk der Freiheit,
um das Bewußtsein, dieselbe selbst verdienen und dauernd ertragen zu können,
handelt sich's in dem Proceß, den die Italiener begonnen haben, als sie sich
gegen die kleinen und großen souveraine auflehnten, die von der Entwürdigung
ihrer Unterthanen lebten — und dieser Proceß ist wieder einmal verloren ge-
gangen. Das Forum, vor welchem er zum Austrag gebracht wurde, war die
Regierung Victor Emanuels und die Richter, welche es nicht über sich gewinnen
konnten, noch einmal gegen ihre Ueberzeugung zu urtheilen und dem Staat
die Pflicht der Selbstschwächung zu Gunsten eines feindlichen Gegners aufzu¬
erlegen — diese haben weichen müssen, um Männern Platz zu machen, die
trotz der Verschiedenheit ihrer Parteifarbe genau ebenso denken Wie ihre Vor¬
gänger, einstweilen aber darein gewilligt haben, ihre Ueberzeugung zu verleugnen.
Es kann für die Dringlichkeit einer Lösung der römischen Frage im natio¬
nalen Sinne kein schlagenderer Beweis beigebracht werden, als der Rücktritt
Ratazzis, und die Weigerung Cialdinis, derselben Staatsmänner, die das Werk
von Aspramonte fertig gebracht hatten. Das neue Cabinet Menabrca will es
versuchen, trotz der bessern Erkenntniß seiner Glieder, (deren Abneigung gegen
die Radikalen die Forderung der Occupations Roms durch die Regierung selbst
zur nothwendigen Consequenz hat) die Zügel der Regierung zu übernehmen; daß
es ihnen nicht gelingen werde, das Ansehen der Monarchie wieder herzustellen
und die Grundlagen einer friedlichen, wahrhaft konstitutionellen Entwickelung
zu legen, wissen diese konservativen Politiker ebenso gut, wie ihre liberalen
Gegner. Der Schlüssel zur Achtung des italienischen Volks ist weder in einer
radicalen noch in einer konservativen Schmiede, sondern allein an den Thüren
des Sanct Peter zu finden und auf ihn verzichtet zu haben, bildet das Ver¬
dienst, welchem die neuen Minister ihre Portefeuilles verdanken. So lange die
Italiener das schmähliche Bewußtsein, nicht loswerden, vor dem ersehnten Hasen
der Ruhe stillstehen zu müssen, ist ihnen wenig daran gelegen, ob sie nach
konservativen, liberalen oder democratischen Grundsätzen regiert werden; instinctiv
fühlt das Volk, daß die einzige Politik, welche ihm frommt, die eines guten
Gewissens ist und dieses muß italienischen Ministern fehlen, welche für die
Aufrechterhaltung eines guten Vernehmens mit Frankreich den Preis der Selbst¬
schwächung des jungen Staats, und der Entwürdigung seiner Dynastie nicht zu
hoch finden.
Noch einmal ist es die Negierung des dritten Napoleon gewesen, welche
es auf sich genommen, die Italiener vor den Thoren Roms aufzuhalten. Daß
die Ausübung dieses Zwangs dem Kaiser eine persönliche Genugthuung, die
Aufrechterhaltung des Papstthums ein Herzenswunsch gewesen, ist ebenso wenig
anzunehmen, wie daß Victor Emanuel Natazzi mit leichtem Herzen entlassen
habe. Beide, der französische Kaiser, wie der italienische König machen kein
Geheimniß daraus, daß sie einer peinlichen Nothwendigkeit das Opfer ihrer
Neigungen gebracht, jener indem er eine Expedition absandte, die Frank-
reich noch einmal in auswärtige Händel verwickeln kann, dieser indem er sich
selbst die Brücke zur Rettung seiner Monarchie versperrte.
Der französische Herrscher glaubt es seinem stark erschütterten Credit schuldig
zu sein, einen von ihm unterzeichneten Vertrag unter allen Umständen aufrecht
zu erhalten, — der König von Italien fürchtet die Feindschaft Frankreichs
mehr, wie die Verachtung seiner Unterthanen. Die Verlegenheiten, in
welche sie gerathen, ist für beide Monarchen gleich groß. Napoleons Bereitwilligkeit,
die Entscheidung über die römische Frage in die Hände einer europäischen Conferenz
niederzulegen und dadurch Frankreich vor dem Odium einer absichtlichen Erniedrigung
des italienischen Königthums zu entlasten, ändert die Lage Victor Emanuels
nicht um ein Haarbreit. Den Beweis dafür, daß sie ihr Möglichstes gethan,
um das durch die September-Convention geschaffene Interim aufrecht zu er¬
halten, hat die italienische Regierung längst geführt — der gegenwärtige Zu¬
stand der Monarchie bildet das Beweismittel. Daß Victor Emanuel sich Europa
gegenüber verpflichten werde, die Bürgschaft für die Sicherstellung des päpst¬
lichen Territoriums vor dem italienischen Volkswillen aufs neue zu übernehmen,
liegt außerhalb der Grenzen aller Wahrscheinlichkeit — daß die Großmächte
Frankreich zum Protector Mei bestellen werden, ist ebensowenig anzunehmen.
England hat seine Unzufriedenheit mit der Absenkung der französischen Expe¬
dition bereits deutlich ausgesprochen, Preußens König die Solidarität der ita¬
lienischen und der deutschen Interessen in seiner Thronrede aufs schärfste her¬
vorgehoben, Nußland, der geschworene Feind der Curie, fühlt sicher keinen Beruf,
den Anwalt derselben zu machen.*) Es bleibt Oesterreich allein übrig. Ganz
abgesehen davon, daß die liberalen wiener Blätter (z, B. die Neue freie Presse)
sich gegen Menabrea und Napoleon aussprechen, und daß die Partei, auf
welche Herr v. Beust sich stützt, das lebhafteste Interesse daran hat, daß keine
neuen Bande zwischen Wien und Rom geknüpft werden — erscheint eine öster¬
reichische Intervention zu Gunsten des Papstes undenkbar; Frankreich hat einen
blutigen Krieg geführt, um diese Macht aus Italien zu verdrängen, niemals
kann es darein willigen, sein eigenes Werk selbst zu zerstören und die weißen
Uniformen in die Campagne zurückzuführen. So bleibt, falls keine kriegerische
Action Preußen noch einmal an die Seite Italiens stellt und damit die Lage
unkenntlich verändert, nichts übrig, als daß Napoleon die Ausgabe, welche er
einem europäischen Congreß zuschieben will, selbst übernimmt. Ein französisches
Occupationsheer in Rom ist aber mit der Konsolidation der italienischen Monarchie
unverträglich und macht diese Monarchie zum Opfer mazzinistischer Umtriebe,
das hat eine vieljährige Erfahrung bewiesen. Die italienische Revolution
in Permanenz zu erklären, ist für Frankreich mehr wie unrathscim.
Im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehre dieses Staates hat die französische
Gesellschaft oder doch ein bedeutender Bruchtheil derselben die Expedition Civita-
Vecchias allerdings gebilligt, diese Billigung ist aber wesentlich verschieden
Von einer Zufriedenheit mit den Folgen dieses Unternehmens. Verharrt das
italienische Cabinet in seinem Gehorsam gegen den Kaiser, so steht das Schreck¬
bild der Anarchie Italiens und endloser mazzinistis.l er Verschwörungen vor ihm
und den pariser Bourgois. Rafft Italien sich auf. stellt Victor Emanuel sich
an die Seite Garibcildi's. so ist ein Krieg unvermeidlich. Ein Feldzug für die
weltliche Macht Pius IX. und gegen das Nationaliiätsprincip, für welches
das zweite Kaisertum seit acht Jahren Blut und Ehre einsetzt, aber wird sicher
noch weniger Anhänger finden, als ein Krieg gegen Deutschland. Die Einberufung
der französischen Kammern bekundet deutlich genug, daß die Regierung das Be-
dürfniß einer moralischen Unterstützung ihrer Politik durch die Volksvertretung
empfindet. Bis diese zusammengetreten ist, können sich die Dinge und die fran¬
zösischen Anschauungen über dieselben leicht geändert haben.
Indessen Frankreich mit der Frage beschäftigt war, bis zu welcher Grenze
eS der Erhaltung des Papstthums Opfer zu bringen habe, hat Oestreichs
Kaiser zum erstenmale deutlich ausgesprochen, daß sein Eifer für die
Herrschaft der katholischen Kirche an dem Interesse des Staats eine
natürliche Schranke habe. Die Wirkung dieses kaiserlichen Worts ist nicht nur
in Oestreich selbst eine außerordentlich nachhaltige gewesen, sie hat dazu beige¬
tragen, Franz Josef in Paris einen freundlichen Empfang zu bereiten und den
Glauben der Franzosen an die Zukunft der Habsburgischen Monarchie zu ihrem
Beruf für ein freisinniges Regiment zu stärken. Wider Erwarten ist das Echo
der den östreichischen Bischöfen ertheilten Antwort in Süddeutschland ziemlich
rasch verhallt, rascher als ihrer Zeit die Reden, in denen Herr v. Beust dem
wiener Reichsrath sein liberales Programm vorlegte oder der Jubel über das
noch liberalere Ministerverantwortlichkeits-Gesetz. welches derselbe Staatsmann dem
jungen östreichischen Parlamentarismus zum Hochzeitsgeschenk machte. Die süd¬
deutschen Kammern und die Organe der süddeutschen Presse sind ausschließlich
Mit der Entscheidung über die Alliance-Verträge beschäftigt, deren Annahme
Preußen zur Bedingung des Fortbestandes des Zollvereins gemacht hat. Noch
ist das entscheidende Wort weder in Bayern noch in Würtemberg gesprochen
Worden; in dem Staat der Wittelsbacher hat die Herrenkammer ihre Zustim-
wung indessen an Bedingungen geknüpft, auf die man sich in Berlin schwerlich
einlassen wird, in Stuttgart macht das Abgeordnetenhaus ernstliche Miene mit
dem einen Vertrage auch den andern direct abzulehnen. Wie uns scheint, könnte
der Sache Preußens kaum ein größerer Dienst erwiesen werden, als wenn die Alli-
ance-Verträge und dasZollbündniß zunächst wirklich an dem Eigensinn der süddeut¬
schen Particularisteuscheitertcn; die wi thschaftliche Weisheit und Umsicht dieser Leute
hätte Gelegenheit, in dasselbe helle Licht gesetzt zu werden, das ihr politisches
Gebühren bereits seit Jahresfrist erröthend bescheint. Die unleugbaren momentanen
Verlegenheiten, welche aus einer Entscheidung dieser Art für uns erwüchsen, würden
reichlich aufgewogen durch den vollständigen Bankerott der directen Gegner
eines Anschlusses an den Norden, der die nächste Folge dieses thörichten
Beginnens wäre und durch die Nöthigung zu einem energischen Entschluß, welche für
die halben Freunde einträte. Mit der wankelmüthigen Haltung des Cabinets
Hohenlohe, das schlechterdings zu keinem Entschluß und zu keiner Klarheit darüber
gelangen kann, wohin es seine Anker zu werfen hat, wäre es solchen Falls vor¬
über und die große Majorität derer, welche sich in richtiger Erkenntniß der
wirthschaftlichen Nothwendigkeit in der zweiten bayrischen Kammer für Annahme
des Zollvertrages ausgesprochen hatten, wäre in die Lage versetzt den Wider¬
stand der Herren um jeden Preis, auch um den der Schmälerung bayrischer
Souveränität zu brechen oder die Führer derselben an das Staatsruder zu
bringen. Jener Partei, welche in ihren Reden gegen den Anschluß an
Preußen kein durchschlagenderes Argument geltend zu machen wußte, als
den Glanz und die Herrlichkeit der bayrischen Krone, den Männern, welche
die Mediatisirung derselben als das größte Unheil bezeichneten, das Deutschland
überhaupt treffen könnte, wäre nichts heilsamer, als wenn sie bei den Konse¬
quenzen ihrer eigenen Politik anlangten und Gelegenheit gewännen, sich selbst
vollständig und für immer auszuleben. — Als Preußen den süddeutschen
Staaten durch den prager Frieden die volle Freiheit des Handels wieder¬
gab, hatte es seine Rechnung nicht auf den guten Willen der Deutschen
jenseit des Main fondern auf eine Nothwendigkeit gestellt, die den Bethei¬
ligten durch eigene Erfahrung klar werden sollte. Die Weisen von Würz¬
burg und was ihnen anhing, sollten in die Lage versetzt werden, die Freuden
einer Jsolirung durchzukosten, nach denen sie sich so häufig gesehnt hatten, die
süddeutschen Souveränitäten sollten auf eigenen Füßen zu stehen versuchen; das
war das sicherste Mittel sie zu dem Bekenntniß zu führen: ohne Preußen und
Norddeutschland geht es nicht! Diesen Cursus praktischer Politik haben die
Süddeutschen wie es scheint, erst zur Hälfte durchgemacht, — bis zum Un¬
behagen in der eigenen Haut haben sie es gebracht, — gönne man ihnen die
Gelegenheit von der Erkenntniß ihrer bisherigen Irrthümer zum Bekenntniß
der richtigen Lehre zu gelangen. Wie ungeheuerlich die Vorstellungen sind,
welche man sich in den ultramontanen und particularistischen Kreisen Süd¬
deutschlands noch immer von der eigenen Größe und Herrlichkeit macht, hat sich
bei Gelegenheit der Gerüchte über den bevorstehenden Anschluß Badens an den
Norden in merkwürdigster Weise offenbart; „Baden" — so hieß es in gewissen
Journalen — „würde durch seine Trennung von Würtemberg und Bayern im
Falle eines französischen Krieges in eine militärisch unhaltbare Position ge¬
rathen". Nach den Erfahrungen des vorigen Jahres noch von der Möglichkeit
träumen, Frankreichs Waffen mit bayrischen und würtembergischen Kräften
Widerstand zu leisten, vermag nur der baare Unverstand. Außer dem Bereich
des Möglichen liegt es übrigens nicht daß die Leute, welche dergl. Phrasen in
die Welt schicken, andeuten wollen, Würtemberg und Bayern könnten auch mit
Frankreich gegen Baden und den Norden gemeinschaftliche Sache machen! Ist
man im Stande die militärische Alliance mit Preußen abzulehnen und hat man
den Muth der Konsequenz seiner eigenen Gedenken, so muß man dabei an¬
langen, das Verhältniß des Südens zu Frankreich für eine „offene Frage" zu
halten, deren definitive Beantwortung erst nach der Klärung der französisch-
östreichischen Beziehungen möglich sein werde. Je weiter der Particulcmsmus
in dieser Richtung war — desto schneller wird es sich auswirthschaften. Kann
der Anschluß an den Norden nicht mit Hilfe der denkenden Politiker durchgesetzt
werden, — nun die gedankenlosen werden ihn sicher fertig bringen, biete man
ihnen nur die Gelegenheit, an die Stelle der Männer zu treten, welche sich
bisher mit Versuchen zur Vermittelung zwischen Verstand und Unverstand ver¬
geblich abmühten. Ihre Gesichtspunkte für das, was heute „süddeutsche Frage"
heißt, werden sich wesentlich ändern, wenn Baden in den Nordbund gedrängt,
Darmstadt aus seiner halben in die ganze Zugehörigkeit zum norddeutschen
Staat gebracht worden ist; dieses Werk zu vollbringen hat niemand einen
natürlichern Beruf, als die Partei, welche gegen das Bündniß mit Preußen
agitirt. Ist aus der „süddeutschen" eine bayrisch-schwäbische Frage geworden,
die zugleich politische und wirthschaftliche Interessen berührt, so wird die Noth
dazu zwingen die Hand zu ergreisen, welche man heute in thörichter Verblendung
wegstoßen zu können meint.
Daß Graf Bismarck offen erklärt hat, an einer halb widerwilligen An¬
nahme des Zollbündnisses sei ihm nichts gelegen, er werde von derselben nur
Gebrauch machen, wenn sie rückhaltslos und in Verbindung mit der Alliance
ausgesprochen werde, mag für die süddeutschen Anhänger der natio¬
nalen Sache höchst unbequem sein, im Interesse der Sache kann dieses Vor¬
gehen nicht genug gepriesen werden und der Takt, mit welchem die national-
liberale Partei diese Erklärung veranlaßt und das „Odium" derselben von
den Schultern der preußischen Regierung auf die des norddeutschen Volks ge¬
laden haben, macht ihrem Patriotismus ebenso viel Ehre, wie ihrer Einsicht.
Gegenüber einer Opposition von der politischen Beschränktheit der bayrischen
Kavaliere und dem verbohrten Eigensinn der schwäbischen Rundköpfe wäre eine
entgegenkommende Nachgiebigkeit Preußens geradezu ein Unrecht gewesen. Sie
hätte die principielle Entscheidung darüber, was aus dem Süden werden soll
doch nur hinausgeschoben, die anspruchsvolle Hoffarth der Particularisten ma߬
los gesteigert, die Begriffe über das künftige Verhältniß des Südens zum Norden
ein für allemal verwirrt. Aus diesen Gründen müssen wir die entschiedene
Hoffnung aussprechen, Preußen werde das Ansinnen der bayrischen Pairskam-
mer kurzweg ablehnen und dadurch eine Krisis in München herbeiführen, wie
sie seit lange an der Zeit ist.
Unsere bereits angedeutete Meinung, eine Ablehnung der Zoll- und Alli-
ance-Verträge, werde aus der süddeutschen eine bloße „bayrisch-würtenbergische"
Frage machen, möchte der Ausführung nicht weiter bedürfen, denn es kann für
selbstverständlich gelten, daß Baden vor den Folgen der Verblendung seiner
Nachbarn sicher gestellt werden muß. Als einziges außerhalb des norddeutschen
Staats stehendes Glied des Zollbundes (die übrig gebliebene Hälfte Darm-
stadts käme nicht in Betracht), von Staaten umgeben, die ihre Feindschaft
gegen Preußen offen documentirt haben, würde dieser Staat aber in eine un¬
haltbare Stellung gerathen. Die vollständige Aufnahme in den norddeutschen
Bund zu fordern, ist er solchen Falls berechtigt und verpflichtet, und daß Preu¬
ßen diese Forderung nicht zurückweisen würde, kann nach dem letzten Circulair
des Grasen Bismarck für ausgemacht gelten. Wie Frankreich einen solchen Schritt
auffassen würde, bleibt allerdings eine offene Frage; seine Stellung zu diesem
Staat hat Preußen aber durch die vorletzte Alinea der Thronrede, welche den
Reichstag beschloß, so deutlich bezeichnet, daß wir Rücksichten aus die Regierung,
welche in Italien intervenirte, nicht zu fürchten brauchen. Dank dem glück¬
lichen Verlauf der letzten Versammlung der norddeutschen Volksvertreter
steht der preußisch-deutsche Staat so mächtig und schlagfertig da, daß Frank¬
reich sich zur Einmischung in seine Angelegenheiten schwerlich so leicht ent¬
schließen wird, wie zu einer italienischen Expedition. Wäre der Reichstag
ein nach dem Herzen unserer Radicalen zusammengesetzter gewesen, es stände
wesentlich anders. Auf die lange Reihe der wirthschaftlichen Reformen, welche
zum Austrag kamen, werden wir noch ausführlich zurückzukommen Gelegenheit
haben — wie die Dinge im Augenblick liegen und angesichts der Ereignisse
in Italien, haben wir allen Grund, das glückliche Zustandekommen des Gesetzes
über die Verpflichtung zum Kriegsdienst als das Hauptresultat der letzten Ver-
sammlung des Reichstags zu bezeichnen.
Auch in seiner Mitte haben die Gegner der nationalen Sache ein Erklecb
liebes für die Förderung derselben gethan. Der Widerstand, welcher den Be¬
mühungen zur Herstellung eines vom Auslande geachteten und gefürchteten deutschen
Staats und der Entwickelung der wirthschaftlichen Freiheit geleistet wurde, ging
dieses mal nicht sowohl von den Veteranen der altpreußischen Opposition als von
jenen Radicalen aus, welche für die Entschiedensten der Entschiedener gelten wollen
— und von den Socialisten. Preußen — so wurde von den Rednern der äußersten
Linken verlangt — sollte wegen Luxemburg mit Frankreich, wegen der dänischen
Kreise Schleswig mit Dänemark, endlich wegen der Ostseeprovinzen mit Rußland
Krieg anfangen und gleichzeitig um die Steuerlast zu vermindern, seine reguläre
Armee auflösen und mit bewaffneten Turnern ins Feld ziehen! — Gegenüber
der Entschiedenheit dieser Forderungen kam kaum in Betracht wai die berliner
Democratie gegen das Militärgesetz vorbrachten und damit war die Entscheidung
über dasselbe ausgesprochen. Dieser Entscheidung haben wir es zu danken, daß
der Verlauf der Verwickelung in Italien wesentlich von der Stellung abhängen
wird, die Preußen zu derselben einnimmt; entgegengesetzten Falls hätte die
Sache leicht umgekehrt stehen und Deutschland in das Geschick seines südlichen
Nachbarn mit hineinziehen können. Wie wir die Dinge ansehen, wäre das
Scheitern der Alliance mit dem Süden identisch mit der Überschreitung der
Mainlinie. Bei dem ungeheuren moralischen Eindruck, den dieser Schritt in
Italien machen würde und dem ausgesprochenen Bestreben Frankreichs, die süd¬
deutsche Frage mit der römischen auf eine Linie zu stellen, ließen sich die Folgen
desselben nicht absehen. Gestützt auf eine militärische Organisation, die ihresgleichen
in Europa sucht, hat der norddeutsche Staat nicht nöthig, diese Folgen ängstlich
im voraus zu erwägen. Ihm ist es beschicken gewesen, aus dem Zustand
kleinstaatlicher Zerfahrenheit direct in die Reihe der mächtigsten Staaten des
Welttheils überzugehen, und während Italien, dessen Geschicke den deutschen
vielfach ähnlich waren, noch um die Grundlagen seiner Existenz kämpft,
liegt es in der Hand Deutschlands, durch die Bethätigung des eigenen Rechts
freier Selbstbestimmung zugleich das Geschick des italienischen Volks zu ent¬
scheiden!
Betrachtungen darüber anzustellen, ob und wie weit eine directe Betheili¬
gung Preußens am Austrag der italienischen Frage wahrscheinlich ist, überlassen
wir denen, die den Beruf der Presse in Beschäftigung mit Dingen sehen, auf
welche diese keinen Einfluß hat. Wichtiger als die Beschäftigung mit einer
Zukunft, die sich doch nicht absehen läßt, ist für die deutschen Zeugen der ita¬
lienischen Ereignisse die Betrachtung der Vergangenheit. Für die Segnungen
dieser sollte das Auge Jedes offen sein, der die Folgen freiheitlicher Zustände ohne
entsprechende Macht in Italien vor sich und ein Gedächtniß für die Tage hat.
in denen die Bekämpfung des preußischen ..Großmachtkitzels" für den directesten
Weg zu deutscher Freiheit und Einheit galt.
Es ist ohne alle Erörterung einleuchtend daß ein so bedeutender Antheil
an dem letzten Lustrum der preußischen Verfassungsgeschichte, eine parlamentarische
Thätigkeit, die bei Simson, Stavenhagen und Graf Schwerin bis in die Tage
des frankfurter Parlamentes zurückreicht, den außerpreußischen Parteigenossen
reichste Anregung und Belehrung, den preußischen Nationalliberalen aber einen
natürlichen Vorsprung, eine historische Ueberlegenheit gewährt, die nur durch
das nun gemeinsame Wirken im Reichstag sich allmählich ausgleichen wird.
Namentlich wenn es gilt, „die Schlingen der Geschäftsordnung" zu umgehen,
oder mit diplomatischer Feinheit ein Zusammenwirken mehrerer Fractionen zu
ermöglichen, oder muthmaßliche Gegner durch die Taetik eingebrachter Anträge
oder die Debatte in eine Sackgasse und zu einem gezwungenen Matt zu treiben,
da sind die preußischen. Nationalliberalen ihren College» unentbehrlich, da sie
auch hier in Äezug auf die Geschäftsordnung die Material-, in Betreff der
Fractionen die Personalkenntniß voraus haben.
Wohl ziemt es, bei einer nähern Charakteristik der einzelnen hervorragenden
Nationalliberalen aus Preußen den Mann an die Spitze zu stellen, den die
frankfurter Nationalversammlung, das erfurter Parlament und wieder der con-
stürmende norddeutsche Reichstag aus den Präsidentenstuhl erhob, den auch
dieser Reichstag nach Ablauf der ersten 4wöchentlichen Amtsperiode mit ab¬
soluter Einstimmigkeit in seinem Ehrenamt durch Acclamation wiederwählte:
Dr. Simson. Hier sei nur eine flüchtige Skizze mit Liebe gezeichnet. — Noch
heute erzählen alte Männer in Königsberg mit Rührung von dem Tage, als
der junge Simson in einem Alter, wo andere ihre Gymnasialstudien beginnen,
als xrimus oirmium nach einer glänzenden Rede vor der überfüllten Aula das
Reifezeugniß erlangte. Seit Menschengedenken waren solche Leistungen bei
solcher Jugend nicht erlebt worden, sind auch bis heute vereinzelt geblieben.
Augenzeugen ist, wie gesagt, jener Moment unvergeßlich. Die classischen Gesichts¬
linien des schönen Jünglings standen vortrefflich in Einklang mit dem tiefen Sinn
und der runden Form seiner Rede. Dann bezog er die Universität seiner Vater¬
stadt, Bonn, Berlin und Paris, und habilitirte sich bereits im 21. Jahre (1831)
als Privatdocent in Königsberg, wo er 1833 zum außerordentlichen, 1836 bereits,
also mit 26 Jahren zum ordentlichen Professor ernannt ward. In dieselbe
Zeit fällt seine Heirath mit der Tochter des großen Bankiers Warschauer einer
seines hohen Werthes in jeder Hinsicht würdigen Dame, die deshalb wohl hier
eine Erwähnung verdient, da sie dereinst in Frankfurt a. M. die Dcchlmann
und Albrecht und Riesser an ihrem und ihres Gatten Theetisch vereinte und
mit geistvoller Liebenswürdigkeit ihnen Erholung bot nach ernsten Stunden
Parlamentarischer Kämpfe. Nicht lange ist Simson «endemischer Lehrer geblieben.
Schon seit 1834 gleichzeitig mit seiner academischen Wirksamkeit zum Mitglied
des königsberger „Tribunals" (ostpreuß. Appellationsgericht), ernannt, widmete
er sich bald ganz dem richterlichen Berufe, ward 1846 Rath des königsberger
Tribunals und ist bis jetzt zum Vicepräsidenten des Appellationsgerichts in
Frankfurt a. O. gestiegen, allgemein geschätzt wegen der Tiefe seines Wissens
und der Klarheit seiner Auffassung. An sein Wirken in Frankfurt knüpft sich
die Erinnerung weltgeschichtlicher Ereignisse. Er übernimmt das Präsidium des
Parlamentes, als Gagern nach dem Rücktritt Schmerlings Ministerpräsident
ward, und nun nach Klarlegung der Nothwendigkeit vom Ausschluß Oestreichs
endlich das deutsche Einigungswerk auf das allein richtige Ziel, die preußische
Kaiserkrone hingeführt ward. Er steht dann an der Spitze der Deputation, die
hoffnungsreichen Herzens dem vierten Friedrich Wilhelm die Kaiserkrone ent-
gegentrug, und nach Frankfurt zurückkehrte mit dem großen Schmerz, daß die
Hoffnungen der deutschen Revolution zu Grabe zu tragen seien. Dann legte
er wenige Tage später zugleich mit Dahlmann, Arndt, Bernhardt sein Mandat
nieder, und verließ die Paulskirche. Nachdem er in Erfurt noch einmal mit
den Genossen von Gotha und noch einmal vergeblich für die Gründung des
deutschen Staates unter Preußen gekämpft hatte, zog er sich bis 1858 zurück vom
großen politischen Leben, trat aber in diesem Jahr ins preußische Abgeordneten¬
haus ein, und gehörte hier auch dann, wenn seine ruhige kraftvolle Stimme
warnend der übermächtigen Fortschrittspartei Einhalt gebot auf der abschüssigen
Bahn des Conflicts zu den geachtetsten stets mit reichem Beifall gelohnten
Rednern des Hauses.
Als Redner verdient aber Simson auch wärmstes Lob. Der vollendetste
sprachliche Ausdruck, ein Periodenbau der in kunstvollem Umfang bald an die
reichsten Gedankenwerke unserer Classiker erinnert, bald in taciteischer Gedrungen¬
heit und plastischer Kürze die Resultate seines Denkens zeichnet, ist ihm gleich
sehr eigen. Und wenn die würdevolle Ruhe des großen Redners jedes seiner
Worte weiht, so ist auch jedes beseelt von dem wohlthuenden Hauch innerster
Bewegung und Ueberzeugung. Als angeborne höchste Gabe des seltsamen
Mannes aber muß bezeichnet werden der wunderbare Tact und die meisterhafte
Geschicklichkeit große parlamentarische Debatten zu leiten, die verwickeltste Sach¬
lage mit klarem Blick zu beherrschen, durch einfache Fragstellung zur Befriedi-
gung aller Parteien zu Ende zu führen und die heftigsten Leidenschaften zu
ebnen durch ein Wort seines Mundes. Wehe dem Mann, dem abschweifenden,
den die stets bereit gehaltene Glocke im Flusse der Rede hemmt, und die hei¬
tere Sicherheit Simsons an die eiserne Ordnung des Tages erinnert; dreifach
wehe aber dem. dessen Platten Gemeinplätzen die Ungeduld des Hauses entge¬
gentritt. Denn in unendlicher Heiterkeit erstickt fortan seine Stimme, wenn
der Präsident sich väterlich von seinem hohen Sitze über ihn herabbeugt, ihn
symbolisch umrahmt mit der Rechten, welche das metallne Ordnungsorgan um¬
faßt und ihm vertraulich zuruft: „Lassen Sie sich nicht stören!" oder wenn er
dem Hause zuruft: „Der Redner hat seine Gedanken für sich, widerlegen Sie
ihn nachher!" —
Häufig genannt und besprochen sind Simsons Parteigenossen aus der alt¬
liberalen Fraction des preußischen Abgeordnetenhauses, Graf Schwerin und
Generalmajor a. D. Stavenhagen. Von beiden mag daher nur so viel
hier erwähnt sein, daß sie jetzt eifrige Nationalliberale, selten fehlen sollen in
der Fraction. In allen militärischen Fragen gilt Stavenhagen bei der Rechten
und Linken als trefflicher Sachkenner. Er ist in dieser Session Vorsitzender
der Commission gewesen, die das Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegs¬
dienste berieth. Gras Schwerin dagegen hat mit seiner ehrlichen warmen Ueber¬
zeugung auch in dieser Session häufig in zweifelhaften Fragen das richtige Wort
gesprochen.
Vor wenigen Monaten wurde in dieser Zeitschrift in kurzem Abriß das Leben
und die Wirksamkeit eines der hervorragendsten Meister der classischen Archäologie
geschildert und als ein Hauptverdienst des entschlafenen E. Gerhard seine Mitarbeit
an der Gründung des römischen archäologischen Instituts bezeichnet. Es ist be¬
kannt, welchen erfreulichen Aufschwung dieses vorzügliche wissenschaftliche Institut
genommen hat, und insbesondre in der Leitung von Ausgrabungen, Publication
ncugcfundcner Denkmäler und in wissenschaftlicher Bearbeitung des bereits vorhandenen
Monumentcnschatzcs hat dasselbe den erfolgreichsten Einfluß auf die Weiterentwicke-
lung der archäologischen Wissenschaft ausgeübt.
In dem Kreise des römischen Instituts ist auch das vorliegende Werk ent¬
standen, verfaßt von zwei Archäologen, welche in jeder Weise trefflich ausgerüstet für
ihre Aufgabe erscheinen. Es ist ein raisonnircndcr Catalog der erst in den letzten
Jahrzehnten zu Rom entstandenen Antikensammlung des Lateran, welche vorzüglich
reich an Grabmonumenten ist, bei denen das sachwissenschaftlichc Interesse überwiegt,
welche aber auch Kunstwerke ersten Ranges enthält die, wie die berühmte Sophokles-
Statue, die Aufmerksamkeit der Fachmänner und des kunstliebenden Publikums gleicher¬
maßen auf sich zu ziehen geeignet sind. Eine vorzügliche Zeichnung dieser Statue
schmückt das Werk; außerdem aber enthält es noch auf 23 Tafeln Abbildungen
von meist !unedirten interessanten Stücken der Sammlung, bei denen die Bescheiden¬
heit ihres Urhebers nur den Vorzug der gewissenhaften Nichtigkeit in Anspruch
nimmt (Vorrede S. VIII), während auch die Einfachheit und Schönheit der Darstel¬
lung alles Lob verdient.
Ueber die Principien, welche sie bei ihrer Arbeit geleitet haben, geben die
Verfasser in der Vorrede S. VII selbst Rechenschaft. Wie ihr Hauptaugen¬
merk, dem Zwecke eines Catalogs entsprechend, vor allem auf die Fest¬
stellung des Thatsächlichen gerichtet war, so geht der Beschreibung eines jeden Bild¬
werkes die Angabe des Materials, der Ergänzungen und der Maße voraus, welche
letztere erst seit einiger Zeit in ihrer Wichtigkeit für archäologische Untersuchungen
erkannt worden sind. Mit besonderer Sorgfalt ist dann noch hinzugefügt, was sich
von einschlägiger Literatur vorfand, sowie was sich, oft durch nur mühsame und weit¬
läufige Untersuchung, über Ort und Zeit der Aufsindung des betreffenden Kunst¬
werks sicherstellen ließ. Die Bibliothek und die Sammlungen des Instituts haben
hierbei gute Dienste geleistet. Die Beschreibung der Kunstwerke, oft eine schwerere
Aufgabe als der Laie gemeinhin meint, beabsichtigt ein möglichst klares und an¬
schauliche« Bild zu geben, und vereint mit den daran sich knüpfenden erläuternden
und kritischen Auseinandersetzungen, eine genaue Kenntniß sowie antiquarisches und
künstlerisches Verständniß der Kunstwerke zu vermitteln. Als besonders gelungen in dieser
Beziehung kann beispielsweise die Behandlung der Marsstatue Ur. 127, des Satyr
Ur. 225 und des Sophokles Ur. 237 hervorgehoben werden. Bei der großen An¬
zahl der besprochenen Bildwerke (der Catalog umfaßt 668 Nummern) können und
werden nicht alle Deutungen, Erklärungen und Erläuterungen gleich gesichert und
überzeugend erscheinen. Allein das Ganze zeichnet sich aus durch die überlegte und
Methodische Art der Kunstbetrachtung und muß eine sehr werthvolle Bereicherung
des archäologischen Materials genannt werden. Auch bringt er sür eine Reihe wich¬
tiger Probleme theils Förderung theils endgültige Lösung, und so stellt es sich den
verwandten Arbeiten von Jahr, Gerhard und Hühner würdig zur Seite.
Einen Wunsch können wir hierbei nicht unterdrücken. Das römische Institut,
für dessen Wirksamkeit auch das vorliegende Buch als ein Zeugniß betrachtet werden
darf, hat sich in den beinahe 40 Jahren seines Bestehens trefflich bewährt. Gewiß
würde es mit allseitiger Freude begrüßt werden, wenn es möglich wäre, auch nach der
Zweiten Heimathsstätte der Altertumswissenschaft, nach Athen eine Colonie zu ent¬
senden. Die Gefahr, hierbei mit der französischen sools et'^ttwuizs zu collidiren.
würde unschwer zu vermeiden sein. Welche großartigen Erfolge aber eine mit leid¬
lich genügenden Mitteln ausgerüstete ständige Niederlassung Von deutschen Archäolo¬
gen in Griechenland zu erwarten hätte, das ist zwar den Fachgenossen längst bekannt,
kann dagegen dem großen Kreise von Kunstfreunden nicht oft und eindringlich ge¬
nug wiederholt werden. Vielleicht daß die preußische Regierung, der frühere
Expeditionen nach Athen und die dauernde Anstellung eines Archäologen in der
Gesandtschaft daselbst schon so vielfache und günstige Resultate ergeben haben, Mittel
und Wege zu finden weiß, um den obengcmachtcn Vorschlag zu realisiren.
„Daß mehr als eine Wahrheit, die anderwärts sür selbstverständlich gilt,
auf kirchlichem Gebiet sich ihre Anerkennung erst noch zu erkämpfen hat", zeigt
diese kleine Broschüre in einer Frage, die grelles Schlaglicht auf den Zustand der
Gewissensfreiheit in Sachsen wirst. Schon bevor der Dualismus alter und neuer
Kirche durch den Ucbcrtntt Kurfürst August's im Stammlande des Protestantismus
den Cardinalverschiedenhciten gegenüber Duldsamkeit gebot, war der Kampf der
beiden evangelischen Confessionen hier mit Ungestüm entbrannt. Zu den letzten
heute noch glimmenden Schciterstücken dieser Intoleranz der herrschenden lutherischen
Kircke gegen die reformirte gehört der sächsische Neligionseid. Daß von Geistlichen
bei ihrer Anstellung Verpflichtung auf ein Symbolum verlangt wird, hat Sinn,
daß man sie aber schwören läßt, bei der ersten umgeänderten augsburgischen Kon¬
fession und den übrigen symbolischen Büchern der evangelisch-lutherischen Kirche zu
beharren und im Falle überkommener Zweifel sich selbst zu denunciren,'ist eine säch¬
sische Specialität, die nicht verfehlen kann und nicht verfehlt hat, gewissenhafte Ge¬
müther irre zu machen. Noch empfindlicher ist die Uebertragung des Eides auf die
Lehrer, gegen den sich unsere Schrift hauptsächlich wendet. Alle von Staatswegen
an Schulen Anzustellende müssen fast dasselbe geloben, ausgenommen sind neuer¬
dings die Lehrer sür Künste und körperliche Fertigkeiten, da man die Erfahrung
gemacht zu haben scheint, daß die Augustana und der Catechismus Lutheri an der
Kalligraphie und dem geschmackvollen Gebrauch der Gliedmaßen nichts Wesent¬
liches ändert. In der Praxis ist hin und wieder löbliche Milde geübt und vom
Dispcnsationsrccht Gebrauch gemacht worden, aber schon dazu hat es starker Hebel
in Gestalt von Remonstrationcn der reformirten Gemeinden Sachsens und landtäg¬
licher Interventionen bedurft. — Die gründliche sachliche und leidenschaftslose Kri¬
tik, welche der Verfasser übt, muß auch die letzten Vertheidiger dieses Anachronismus
überzeugen; aber von der Einsicht bi« zur thatsächlichen Reform ist auch in dem
gesegneten Sachsen ein großer Schritt. Wir können daher nicht laut genug mit-
protestircn gegen eine Einrichtung, welche schwere sittliche Bedenken macht, unnöthig
ist und ihre Bestimmung gar nicht erfüllt; diesen Thesen, mit welchen der Verfasser
aus die Abschaffung dringt, schließen wir uns um so entschiedener an, als gegen¬
wärtig infolge des in Aussicht gestellten neuen Wahlgesetzes sür den sächsischen Land¬
tag die Hoffnung wächst, daß die Kirchenordnung«- und Kirchenpolizcifragen energi¬
schere liberale Behandlung finden werden als bisher durch unsere reactionären Stände.
Schon seit mehreren Jahren wußte man von dem bevorstehenden Erscheinen
einer neuen Bearbeitung des Catull durch Herrn Westphal. Das endlich hervorge-
tretene Buch hat die Erwartungen, die man davon hegte, im großen und ganzen
vollkommen gerechtfertigt, wenn man es auch beklagen muß, daß dasselbe nicht so
vollendet und nach allen Seiten hin ausgearbeitet erscheint, als es die Bedeutung
seines Helden und der darin niedergelegten Untersuchungen forderte. Das Buch ist
in der That als eine der fördernden Leistungen, welche die neuere Wissenschaft für
die Geschicht« der römischen Poesie und ihren genialsten, wenn auch ungezogensten
Liebling hervorgebracht hat, anzusehen. Aus seinen losen und zerstreuten Gedichten,
welchen zugleich eine vollkommene kritische Musterung und Bearbeitung zu theil
wird, ist die Biographie des Dichters entwickelt; sehr anmuthige und angenehm zu
lesende Uebersetzungen sind eingewoben, die aber freilich mehr den Eindruck von Be¬
arbeitungen machen, da das antike Metrum aufgegeben ist und an seine Stelle
moderne Rcimformcn getreten sind, deren Wahl der Verfasser im Vorwort S. VI
zu rechtfertigen sucht.
Auf einzelnes einzugehen müssen wir uns hier versagen, wir begnügen uns auf
die meisterhafte Rcconstruction der Seiten- und Zeilcnverhältnisse in der unsrer Ueber¬
lieferung zu Grunde liegenden UrHandschrift und aus den in vielen Gedichten voll¬
kommen glücklichen Nachweis strophischer Gliederung aufmerksam zu machen. Auf¬
gefallen ist uns die Bemerkung S. 45: „Catull... ist bekannt mit dem Historiker Cor¬
nelius Nepos, der schon früh den jungen Dichter anerkennt und lange vor der
Herausgabe seiner Gedichte die hohe Bedeutung desselben in seinen Geschichtsbüchern
hervorhebt. — Auch nicht streng philologische Freunde der Antike und ihrer Poesie
dürfen sich von dem Buche Freude und Belehrung versprechen. Leider ist die Cor-
rectur nicht genügend sorgfältig; wem dies zur Last fällt, wissen wir nicht. —
Von der Schrift des Plutarch, welche vor kaum 10 Jahren durch N. Volk¬
mann eine ausführliche Bearbeitung erfahren hatte, bringt Westphal, ohne Zweifel
einer der scharfsinnigsten und gelehrtesten Philologen und der unbestrittene Meister
antiker Rhythmik und Musik, eine neue Ausgabe, welche zum erstenmale die Schätze
hebt, die bisher unerkannt in dem Schachte plutarchischer Compilirungsschriftstellcrei
geschlummert hatten. Die Schrift wendet sich natürlich vorzüglich an Philologen
und Kenner der antiken Musik und zeichnet sich aus durch alle Vorzüge, die man
an den Arbeiten des Verfassers zu finden gewöhnt ist. Durch mehrere Anstellungen,
Auslassungen und Zusätze wird der Zusammenhang glänzend restituirt, zahlreiche
treffliche Emendationen machen den Text lesbar, und eine scharfsinnige Untersuchung
weist nach, daß das Ganze fast ausschließlich aus Excerpten besteht, die der Viel¬
schreiber Plutarch den Schriften des AristoxenoS, Heraklcides von Pvntos und an¬
deren entnommen hat. Dieses Resultat ist von doppeltem Interesse; einmal für die
Beurtheilung und Würdigung des Inhalts von Plutarchs Werk, sodann aber gibt
es einen wichtigen Beitrag zur Beurtheilung von Plutarchs schriftstellerischer Me¬
thode, über welche die neuere Zeit allmählich Anschauungen gewinnt, die sehr erheb¬
lich zu Ungunsten des berühmten Mannes von den bisherigen abweichen.
Der Druck des griechischen Textes wie der deutschen Anmerkungen ist von Feh¬
lern nicht frei.
Von Herrn Abg. Grundrecht ist uns nachstehende
Erklärung
zum Abdruck zugegangen.
In dem letzten Hefte Ihrer Zeitschrift ist ein Brief aus Berlin enthalten,
welcher über mich einige unrichtige Angaben macht und' darf ich daher von
Ihrer Unparteiligkeit die Aufnahme folgender Berichtigung erwarten.
„Nach jenem Briefe in dem letzten Hefte der Grenzboten soll ich
1) nebst Herrn von Vincke im ersten constituirenden Reichstage am mei¬
sten gesprochen haben, während nach dem Sprechregister hinter den
stenographischen Berichten gesprochen haben: v. Vincke (Hagen) 60,
Laster 40, Graf Schwerin 31 mal und viele andere, darunter Tochter
und Miquöl mehremale als ich, der 16 mal das Wort genommen.
Sodann soll ich
2) in dieser Sitzung des Reichstags der Versammlung durch Stellung
vieler Anträge Zeitverlust verursacht haben.
Ich habe aber bis zu dem Tage, von welchem Tage der Brief datirt
ist. nur drei Anträge gestellt, welche sämmtlich angenommen sind,
also unmöglich als solche, die Zeitverlust zur Folge gehabt, bezeichnet
werden können.
Eine Beschreibung der jetzt unter norddeutscher Flagge fahrenden und der
neuerlich unter ihr vom Stapel gelaufenen preußischen Panzerschiffe, welche den
Leser nicht blos über Aeußerlichkeiten, sondern über Bedeutung und Werth
dieser Fahrzeuge hinreichend orientiren soll, läßt sich, wie wir schon in einem
frühern Artikel bemerkten, eigentlich nur in der Weise geben, daß zuerst die
Panzerfrage überhaupt betrachtet wird und daß außerdem die Stärke der
Panzerflotten andrer Seemächte, welche möglicher Weise der unsrigen entgegen¬
treten oder mit ihr zusammen operiren würden, ebenfalls geschildert wird.
Letzteres behalten wir einer spätern Abhandlung vor und erörtern heute zu¬
nächst die Entstehungs« und Entwickelungsgeschichte des Schiffbausystems, welches
eine so jähe Revolution im gesammten Marinewesen hervorgerufen hat.
Wie die Einführung der gezogenen Geschütze, so haben wir auch die der
Panzerschiffe bekanntlich auf den gegenwärtigen Kaiser der Franzosen zurück¬
zuführen, der die Idee des Obersten Paixhans, eines durch Erfindung der
Bombenkanonen berühmt gewordenen Artilleristen, zuerst zur praktischen Aus¬
führung brachte. Zwar kommen einzelne Beispiele von Bekleidung der Schiffe
mit Metallplatten schon in früherer Zeit vor — so kannte das Mittelalter eine
blcigevanzerte Galeere, und auch die schwimmenden Batterien, welche bei der
berühmten Belagerung gegen Gibraltar gebraucht wurden, sollen nach einigen
Quellen zum Theil durch Metall geschützt gewesen sein. Aber die allgemeine
Einführung des Eiscnpanzers für die gewöhnlichen Kriegsfahrzeuge und zwar
nicht blos für schwimmende Batterien, sondern auch für seefähige Schiffe
(sea-MinA sluxs) ist neuesten Datums.
Das Bedürfniß, Kriegsschiffe zu panzern, hat sich überhaupt erst im zweiten
Drittel dieses Jahrhunderts geltend gemacht. Es würde nämlich ein Irrthum
sein, zu glauben, daß man auf die Idee der Panzerung gekommen sei. um
die Schiffe gegen Schüsse schlechthin zu sichern. Das Werfen von Bomben
oder Granaten aus Mörsern oder Haubitzen hat Schiffen gegenüber zu wenig
Chancen für Treffen des Ziels, als daß man es überhaupt in Anwendung
brächte, und das Einschlagen einer Vvllkugel, das im schlimmsten Fall nur
wenig Leute von der Besatzung kampfunfähig machen kann, schadet, selbst wenn
es in der gefährlichsten Gegend, zwischen Wind und Wasser d. h. in der
Wasserlinie selbst erfolgt, dem Schiffe im Grunde nicht übermäßig viel. Bekanntlich
ist das Loch, welches die Kugel hinterläßt, bedeutend kleiner als ihr Querschnitt,
weil das zähe Eichenholz sofort nach dem Schusse sich wieder zusammenzieht —
wir haben selbst auf der „Nymphe" nach dem Gefecht bei Jasmund ein Loch
in den Neilings gesehn, das obgleich durch eine ZOPfündige Kanonenkugel
gerissen, dennoch nicht größer war als ein Thaler. Hat nun die Schiffswand
eine solche Wunde durch eine Vollkugel in der Nähe der Wasserlinie erhalten,
so wird einfach durch Mannschaften, die in einem Gange stationirt sind, welcher
innen längs der Schiffswand ringsherum in der Höhe der Wasserlinie frei ge¬
lassen ist, ein bereit gehaltener Pfropfen in dieselbe geschlagen und von innen
festgemacht, wodurch das Schiff vollkommen fähig ist, behufs gründlicher Re¬
paratur den nächsten Hafen zu erreichen. In dieser Weise ist man ohne jeden
Nachtheil Jahrhunderte lang Verfahren, und haben die Holzschiffe oft „durch¬
löchert wie ein Sieb" Schlachten wie bei Abukir, Trafalgar und Navarin
geschlagen. Selbst die glühend gemachten Kugeln, wie sie bei der denkwür¬
digen Belagerung Gibraltars zur Anwendung gebracht und später u. a. dem
dänischen Linienschiff Christian VIII. bei Eckernförde verderblich wurden, änder¬
ten dieses Verfahren nicht. Wenn fortan die Kriegsschiffe auch Landbatterien
gegenüber sich mehr in Acht zu nehmen hatten, so waren sie doch in ihren
Actionen gegen eine andre Flotte durchaus nicht behindert, da die Anstalten
zum Glühendmachen ganzer Eisenkugeln sich nicht ohne Gefahr auf Schiffen
anbringen ließen.
Eine ganz andre Wichtigkeit aber erhielt die Deckung des Schiffs mit der
Erfindung der Bomben- oder Granatkanoncn (Paixhans). d. h. Geschützen, die
nicht wie die bisherigen die Hohlgeschosse blos im hohen Bogen zu werfen,
sondern dieselben in ziemlich gerader Linie mit voller Percussionskraft auf das
feindliche Schiff zu schießen vermochten, was früher nur mit Vollkugeln mög¬
lich war. Von jetzt ab war man im Stande, Hohlgeschosse, die nicht selbst
glühend, aber mit flüssigem Eisen gefüllt waren, dem feindlichen Schiffe so zu
appliciren, daß sie gerade in der Schiffswand zersprangen und ihren glühenden
Inhalt zwischen die Rippen desselben ergossen, wodurch es rettungslos dem
Untergang durch Feuersbrunst übnliefert ward. Und auch wenn man von diesen
Kugeln mit Füllung von geschmolzenem Metall, als nur in einzelnen Fällen
anwendbar, vollkommen absieht, blieb immer noch eine andere nicht weniger
furchtbare Gefahr übrig. Die gewöhnlichen Geschosse der Bombenkanonen und
aller gezogenen Kanonen nämlich, welche nur mit einer Sprengladung von
Pulver gefüllt sind, haben die Eigenthümlichkeit, daß sie gerade während sie
die Schiffswand durchbohren auch zerspringen, und dadurch nicht blos gewöhn¬
lich eine sehr große Anzahl von Leuten kampfunfähig machen, sondern auch,
wenn der Einschlagspunkt nahe der Wasserlinie des Schiffs ist, ein so furchtbar
großes Leck reißen, daß das Wasser stromweise hereinschießt und das Schiff
unter Wasser drückt. In dieser Weise wurde der Conföderationskaper „Ala¬
bama" durch ein Sprenggeschoß der Unions-Schraubensloop „Kearsarge" in
den Grund gebohrt, und die dänische Schraubenfregatte „Ricks Incl" erhielt
im Seegefecht bei Helgoland von einem preußischen Schraubenkanonenboot erster
Classe ein Sprenggeschoß, das ein Leck von 17 Quadratfuß gerissen haben soll
und das Schiff dem Untergange ganz nahe brachte. Die Sprenggeschosse der
Bombenkanonen und der gezogenen Geschütze bedrohten also auf einmal das
ganze Fahrzeug mit allem was darauf war. Gegen diese unerhörte Gefahr
mußte man die Schiffe um jeden Preis, selbst auf Kosten ihrer Seefähigkeit
zu schützen suchen; und so entstand der Gedanke der Panzerung, der zunächst
an Belagerungsfahrzeugen zur Ausführung gebracht werden sollte.
Es war in der Zeit des Krimkrieges, als die französische Regierung drei
schwimmende Batterien nach dem schwarzen Meere sandte, die sich zunächst ge¬
gen die kleine russische Festung Kinburn erproben sollten. Da man stark daran
zweifelte, daß Fahrzeuge von feinem, scharfen Bau die nöthige Tragfähigkeit
für einen schweren Eisenpanzer haben würden, hatte man denselben eine sehr
bauchige und volle Form gegeben, die namentlich vorn und hinten nicht spitz,
sondern ganz rundlich zulief und die es so allerdings ermöglichte, daß die Fahr¬
zeuge den aus 3V2--4zölligen Eisenplatten und einer 26zottige>i Holzhinterlage
bestehenden Panzer nebst der Armirung von 16 schweren Geschützen nut Be¬
quemlichkeit trugen, wenn sich auch dadurch die Schnelligkeit auf ein Minimum
(4—5 Knoten wenn wir nicht irren) reducirte, sodaß sie trotz ihrer Schrauben¬
maschine von 130 Pferdekraft und ihrer Takelage fast immer geschleppt werden
mußten; das Takelwerk bestand nur aus einem einzigen schwachen Mast mit
einem Gaffelsegel, da man das Obergewicht, das durch den Panzer schon sehr
gesteigert war, nicht durch Maste und Segel noch vermehren wollte. Der
Erfolg nun, den diese Batterien bei der Beschießung von Kinburn erreichten,
übertraf selbst die kühnsten Erwartungen. Noch ein Jahr vorher, am 17. Ok¬
tober 1854, war vor Sebastopol eine Flotte von 14 französischen, 12 englischen
und 2 türkischen, zusammen 28 Linienschiffen nebst 9 Fregatten und 18
Dampfcorvetten, also im Ganzen 56 großen Holzschiffen mit 2398 Geschützen
nicht im Stande gewesen, trotz der größten Aufopferung, namentlich von eng¬
lischer Seite, die russischen Forts zu zerstören oder eine irgend nennenswerthe
Zahl von Geschützen zu demontiren. Im Gegentheil, die Flotte hatte dabei
trotz des schweren Kalibers ihrer Geschütze (meist 32Pfünder, ein Drittel 68Pfün-
der) den russischen 24Pfündern gegenüber große Verluste erlitten: 3 Linienschiffe
und eine Fregatte, also ein ganzes Geschwader mit über 3000 Mann Besatzung
war kampfunfähig gemacht worden, das englische Linienschiff „Agamemnon"
hatte sogar nicht weniger als 240 Kugeln erhalten und war dabei mehrmals
in Brand geschossen worden, und die ganze Flotte hatte in dem fünfstündigen
Gefechte 823 Mann verloren. Während so ein für damalige Verhältnisse ganz
sormidables Geschwader von Hvlzschiffen trotz großer Verluste auf Distanzen von
3000—1500 Schritt eigentlich nichts erreichte, vollbrachten die schwimmenden
Batterien vor Kinburn eine ähnliche Aufgabe mit größter Leichtigkeit und fast
ohne alle Opfer. Trotz tapferer Gegenwehr der russischen 24- und 32Pfünder
die sich anfangs unter Hohngelächter der gegen solchen Hagel sicher geborgenen
Angreifer der Kartätschen bedienten, wurden auf 2S00 Schritt Mauern, Wälle
und Kasematten der Festung gänzlich eingeschossen; von 29 russischen Geschützen
wurden 26 demontirt, d. l). durch Schüsse von ihren Lafetten herabgeworfen
und kampfunfähig gemacht, und dennoch hatte die erste schwimmende Batterie,
obwohl 66 mal getroffen, nur 9 Kampfunfähige, die zweite, obwohl 64 mal
getroffen, nur 13 und die dritte, 17 mal getroffen, gar keine. Ueberdies waren
die Verluste der Panzerbaitericn nur solchen Schüssen zuzuschreiben, welche in
die offenen Stückpforien eingedrungen waren; die Eiscnwand war nirgends
durchgeschlagen worden, und ein 7'/--zolliger Panzer erwies sich damals als ab¬
solut schußfest, selbst gegen Vollkugeln, die naturgemäß eine weit größere Durch¬
schlagskraft haben als Sprenggeschosse.
Diese Erfolge ermuthigter begreiflicherweise zu dem Versuch, die Eisen¬
panzerung auch auf wirkliche Seeschiffe zu übertragen, auf Schiffe von so schar¬
fer und feiner Form, daß sie die Eigenschaften der Seefähigkcit und der Schnel¬
ligkeit in gleichem Maße wie die bisherigen Holzschiffe erhalten konnten. In¬
dessen legte naturgemäß dabei die große absolute Beschwerung des Schiffs durch
die Eisenpanzcrung die Schranke auf, daß man demselben behufs Erlangung
großer Tragfähigkeit stets verhältnißmäßig großes Volumen und somit auch
große Dimensionen geben mußte; die Panzerschiffe der ersten Zeit hatten des¬
halb sämmtlich wenigstens die Größe der früheren Linienschiffe.
Es war Dupuis de Lune, der geistvolle und überaus gewandte Chef-Con-
structeur der französischen Marine, der zuerst das Problem zu lösen verstand,
ein seesähiges Panzerschiff zu bauen, indem er die Nisse zu seiner berühmten
Panzerfregatte „Gloire" entwarf. Dieses erste wirkliche Panzerschiff, welches
die Welt gesehen, ist ein Holzschiff, das, nach dem Brcitseitensystem construirt,
außer seiner Bekleidung mit 4V-zölligen Eisenplatten nur geringe Abweichungen
des Baues von den bisherigen hölzernen Schiffen zeigt. — Die Thatsache, daß
der Bau eines seefähigen Panzerschiffes im ganzen wohl gelungen war, erregte
namentlich in England ungeheures Aufsehe»; das starke Albion fühlte sich mit
seinen bisherigen Holzfcchrzeugen den französischen Kriegsschiffen gegenüber nicht
mehr sicher, und begann nun aus allen Kräften auch seinerseits Panzerschiffe
zu bauen. Als erstes lies die mächtige Panzerfregatte „Warrior" vom Stapel,
gleich der französischen „Gloirt" ein Schiff nach dem Breitseitensystem, aber
ganz aus Eisen und von solchen Dimensionen, daß es eine bis dahin unerreichte
Schnelligkeit erzielte, während allerdings die Steuerfähigkcit und der Schutz der
Panzerung weniger vollkommen war als bei der „Gloire." In rascher Folge
wurden nun sowohl in Frankreich wie in England weitere Panzerschiffe gebaut,
und zwar in Frankreich meist wesentlich nach dem Muster der „Gloire", das
nur in Einzelheiten modificirt wurde; in England dagegen baute man nach
gänzlich verschiedenen, immer neuen Systemen, da man hier auf Erreichung
eines absolut guten Modells mehr Werth legte als auf Erzielung möglichster
Gleichmäßigkeit der Eigenschaften der einzelnen Schiffe.
Während so England und Frankreich in stetem Weiteifer die Zahl und die
Vollkommenheit ihrer Panzerschisse vergrößerten und fast alle anderen Seemächte
ihnen hierin nachzufolgen begannen, bildete sich auf der andern Seite ein Factor
aus, welcher der gefährlichste Gegner der Panzerschiffe zu werden versprach.
Wie die Erfahrungen von Kinburn zeigten, waren die gewöhnlichen Kaliber
der Positionsbaltericn, die 24> und 30Pfünder, der Panzerung gegenüber gänzlich
ohnmächtig; weitere Versuche machten klar, daß auch das allerschwerste damals
in der Marine gebräuchliche Kaliber, der glatte 68Pfünder (95 Ctr. Rohrgewicht)
nicht blos mit seinem Hohlgeschoß, sondern sogar mit seinen Vollkugeln aus
ganz nahe Distanzen die Panzerung der Schiffe nicht zu schädigen vermochte.
Die umfassendsten Experimente in dieser Beziehung stellte England an, diejenige
Macht, deren Bedeutung am meisten von ihrer Flotte abhängt; von den frau.
zösischen Versuchen drang einmal, wie ja überhaupt in Frankreich alles Unkunde
nach Möglichkeit mit dem Schleier des Geheimnisses umgeben wird, weniger in
die Oeffentlichkeit, und dann hat sich auch in der Folge praktisch gezeigt, daß
die französischen Versuche nicht gründlich und umfassend genug gewesen waren,
da man ihr Resultat, die Beibehaltung kleiner Kaliber, nach dem Kampfe der
Unionsschraubcnsloop „Kearsarge" mit der Conföderirten „Alabama" gänzlich
zu verwerfen genöthigt wurde. Die englischen Versuche dagegen, die seit Jahren
in Shoeburyneß nahe der Themscmündung im Gange sind, wurden einerseits
in kolossalen Umfange in allen nur erdenklichen Formen angestellt, und andrer¬
seits wurde über ihre Resultate das Publikum durch genaue Berichte in den
Zeitungen stets auf das ausführlichste unterrichtet — auf die in der englischen
Presse (z. B. ^rmx ara Mo? v-ri-ete«, limos, IIIustratLÜ Konclon News)
angegebenen Zahlen kann man sich meist unbedingt verlassen, wenn auch die
Gruppirung der Ziffern oft so gestellt wird, daß die Tüchtigkeit der Fabrikation
möglichst in den Vordergrund tritt, daß man also in gewisser Beziehung doch
immer noch genöthigt ist, zwischen den Zeilen zu lesen. Ueberhaupt ist bei
allen Mittheilungen der englischen Presse über Schiffe, über Panzer und Geschütze
stets festzuhalten, daß häufig die betreffenden Fabrikanten ihre Hand dabei im
Spiele haben; die Inhaber der bedeutendsten Schiffsbausirmen z. B. Laird aus
Birkenhead. Samuda aus Poplar bei London u. s. w. haben selbst Sitze im
Parlament, wo sie bei den Marinedebatten natürlich nicht gerade zum Schaden
ihres Fabrikationszweiges sprechen. Dieses Verhältniß hat sich natürlich auch
gelegentlich des großen Wettkampfes in der Vervollkommnung von Panzer und
Geschütz sehr geltend gemacht.
Das erste auffallende Ergebniß dieser Schießversuche der englischen Abini»
ralität. welche Platten aus den verschiedensten Fabriken (besonders Brown in
Sheffield) und Geschütze theils aus den Rcgicrungöwerkflätten, theils aus Privat¬
etablissements zur Prüfung brachte, war nun, daß die schweren gezogenen Ka¬
liber, die man einführte, um den Widerstand der Panzerplatten zu überwinden,
die 70Pfünder und IIOPfünder Armstrongs*) auf nahe Distanzen nicht einmal
so viel aufrichteten wie der alte glatte 68Pfünder. Der Giund liegt in der
größern Anfangsgeschwindigkeit des Geschosses beim glatten Geschütz. Auf eine
gewisse fernere Distanz gleicht sich die Schnelligkeit des Geschosses der gezogenen
und der glatten Geschütze natürlich aus, und auf noch weitere Entfernung hat
die Percussionskraft des gezogenen Geschützes ein ganz gewaltiges Uebergewicht,
da das gezogene längliche Geschoß bei der Rotation um die Längenaxe nicht
blos die Richtung genauer einhält, sondern auch den Luftwiderstand weit besser
überwindet, als das runde Geschoß des glatten Geschützes.
Nun werden aber in England alle Versuche (jede Art Geschoß gegen jede
Art Panzer) zunächst auf 200 Aards — etwa 300 Schritt angestellt, da man
von der richtigen Ansicht ausgeht, daß eine Panzerung auch auf diese ganz nahe
Distanz schützen muß, wenn auch das heutige Fcuergefecht von Kriegsschiffen
sich gewöhnlich auf 1500—3000 Schritte halten wird; Ausnahmen können in¬
dessen immer vorkommen, wie z. B. die Seeschlacht bei Lissa gezeigt hat, und
deshalb müssen die Panzer auch für Schüsse aus größter Nähe genügen. Um
recht sicher zu gehen, hatte man übrigens nicht blos einzelne Panzerplatten den
Schüssen ausgesetzt, sondern vollständige „Sections" der einzelnen Panzerschiffe,
zunächst des „Warttor", construirt, d. h. gleichsam Stücke der Schiffswand mit
der Panzerplatte, der Theta- (klint) Holzfütterung (welcing) dahinter, mit der
hinter letzterer folgenden eisernen Plankenhaut (imrvr stilt) des Schiffs, die
ihrerseits auch in der Section von den Eisenspanten (trainos, Nippen) wie beim
wirklichen Schiffe gestützt und getragen wurde». Ja man ging sogar später
noch weiter: um den Umstand nicht außer Acht zu lassen, daß das Stuss im
Wasser dem Anprall des Geschosses ein wenig nachgiebt, daß also durch die
Elasticität die Widerstandsfähigkeit des Panzers gesteigert wird, hatte man eine
alte außer Dienst gestellte schwimmende Batterie, die „Trusty", an einzelnen
Stellen mit der Panzerung der neuen Fregatten versehen und hiergegen ge¬
feuert; zuletzt hatte man sogar, um den Widerstand der Thürme zu erproben,
ein im Dienst befindliches Kuppelschiff, den „Royal Sovereign", den Schüssen
der stärksten Panzerfregatte, des „Bellerophon" ausgesetzt, wobei die Reparatur
der Beschädigungen des Thurmes auch nicht viel mehr kostete als die Herstellung
von Probeplatten und section« der betreffenden Schiffe.
Die „Warnor"'Section war nun durch 4V-zölligen Eisenpanzer auf 18 zol¬
liger Fütterung von Thekaholz glücklich so stark gemacht worden, daß sie für
den glatten 68Pfünder und die kleineren gezogenen Kaliber als undurchdringlich
galt. Die Artilleristen aber ruhten nicht: sie construirten gezogene 180 Pfündcr.
endlich sogar SOOPfünder für die englischen Panzerfregatten. — Die beiden 600-
Pfünder Armstrongs, welche man zuletzt in England herstellte, und von denen
der erste sprang, der zweite aber auf der pariser Ausstellung paradirte, waren
zu schwer, um von irgend einem der bisher gebräuchlichen Schisse getragen zu
werden; indessen sollen sie auf den neuesten jetzt im Bau befindlichen Kuppcl-
schiffen „Captain" und „Monarch" zur Verwendung kommen. Aber auch diese
Steigerung des Kalibers bis zu einem Grade, daß die größten Geschütze nur
für Strandbatterien, nicht aber für die damaligen Schiffe sich eigneten, hals den
Gegnern des Panzers nur wenig. Denn jeder Verstärkung der Artillerie trat die
Panzerfabrikation mit neuer Steigerung der Panzerdicken, traten die Schiffs¬
baumeister mit neuen Nissen, welche dieses größere Panzergewicht zu tragen
vermochten, gegenüber. War der erste Panzer, der des „Warrior". 4'/» Zoll
stark gewesen (also 20'/« mal so stark als eine einzöllige Platte, da die Stärke
bei massiven Panzerplatten im Quadrat der Dicke wächst), so bekamen die näch¬
sten Panzerriesen von der Classe des „Minotaur" und „Northumberland" S'/,
Zoll Eisen (30'/«mal so stark als einzöllige Platten). Der „Bellerophon" stieg
bis zu 6 Zoll Eisenstärke ans (Mache Stärke der einfachen Platte), und der
jetzt im Bau befindliche „Herkules" wird in der Wasserlinie sogar 9 Zoll Eisen
haben, wie denn auch der preußische „Wilhelm" einen Szölligen Eisenpanzer
hat (64sache Stärke der einzölligen Platte), also mehr als dreimal so stark, als
der Panzer bei sämmtlichen englischen Panzerschiffen, die durchgängig nur 4V-
zölligen Panzer haben, wenn wir von den fünf stärksten absehen, und wenigstens
doppelt so stark als der Panzer der allerstärksten französischen Schiffe.
Dieser kolossalen Steigerung der Vertheidigungskraft vermochte die Artil¬
lerie durch Vergrößerung ihrer Kaliber nicht mehr zu folgen. Aber bald fand
man eine Verstärkung anderer Art: man behielt zwar die bisherigen Geschosse
bei, aber verstärkte die Pulverladung, um die Percussionskraft zu erhöhen,
wobei man natürlich auch das Geschützrohr und namentlich die Lafette des
Rückstoßes wegen stärker construiren mußte. Auf diesem Wege kam man in
England sogar dahin, bis zu 60 Pfund Pulver auf einen einzigen Schuß auf¬
zuwenden und erreichte damit unerwartet günstige Erfolgt. Aber bei der weiter¬
gehenden Verstärkung der Panzer genügten bald auch diese nicht mehr; es
mußten abermals neue Mittel gesunden werden. Die früheren Geschosse waren
sämmtlich von Gußeisen gewesen; jetzt suchte man durch größere Härte des
Geschosses zu wirken; man nahm Stahlgeschosse. Es gelang zuerst, mit
stählernen Vollkugeln (steck slrod), sodann auch mit Hohlgeschossen, welche
Sprengladung enthalten (steczl Smelts), sogar 6zottige Panzer auf mittlere Di¬
stanzen zu durchschießen, und wenn der allgemeinern Einführung von Stahl¬
geschossen ihr enormer Preis im Wege stand, so ward auch diesem Uebelstand
durch eine neue Erfindung abgeholfen. Gerade auf dem Gebiete der Panzer-
schifffrage haben sogenannte Dilettanten am meisten ausgerichtet — wir erin¬
nern blos an den genialen Capitain Koles. der ohne Schiffbauer zu sein, doch
der Erfinder der panzergcdeckten Drehscheibe, d. b. des Kuppelsystems geworden
ist. So war es auch hier in der Geschoßfrage kein Artillerist, sondern ein
englischer Husarenmajor, Palliser, der die unendlich wichtige Erfindung des „ab¬
gekühlten Geschosses" (okilleä slrot) machte und mit diesen Gußcisengcschossen,
die rothglühend einer plötzlichen starken Abkühlung unterzogen worden waren,
ebensoviel und mehr zu erreichen wußte, als die ganze Admiralität mit den
theuren Stahlgeschossen. Doch müssen wir hier beifügen, daß man, noch ehe
Palliser seine Erfindung gemacht hatte, bei den preußischen Schießversuchen auf
dem Schießplatz von Tegel bei Berlin bereits derartige Hartgußgeschosse ange¬
wandt hatte, und daß hauptsächlich dieser geheimgehaltenen Erfindung die gün¬
stigen Resultate der schwachen Kaliber der preußischen Artillerie gegen Panzer¬
platten zu danken waren, die im Aueland als undurchdringlich gegolten halten.
Es ist dies wieder einmal ein recht handgreiflicher Beweis dafür, daß, wenn
auch die Erfindungen des Auslandes vielfach als Muster genommen zu werden
verdienen, wir dennoch durchaus nicht daran verzweifeln dürfen, auch bei uns
Vervollkommnungen zu erzielen, welche denen des Auslandes ebenso überlegen
sind wie unser Zündnadelgewehr und unser gezogenes Geschlitzsystem mit Keil¬
verschluß.
Trotz der Verwendung von Hartgußgeschossen ist man indessen gezwungen
worden, gegen die starken neueren Panzerplatten dennoch schwerere Kaliber an¬
zuwenden, als man früher für nöthig gehalten hatte. Die Behauptung, der
preußische gezogene 48Pfünder (mit etwa 130 Pfund effektiven Geschoßgewicht)
und selbst der 72Pfünder (mit über 200 effectivem Geschoßgewicht) werde nicht
genügen, ist zwar stets ungläubig aufgenommen worden, aber schon jetzt sind
gezogene WPfünder in Construction, und mit der Zeit werden sich noch stärkere
Kaliber als nothwendig herausstellen.
Ein Abschluß des Wettkampfes zwischen Panzer und Kanone oder wenig¬
stens die näheren Details desselben lassen sich gegenwärtig noch nicht voraus¬
sehen; durch neue Erfindungen im Gebiet der Schiffsconstruction und der Pan-
zersabrikation wird man die Panzerstärke noch immer weiter vermehren und die
Artillerie wird diese Resultate immer noch zu Paralysiren vermögen. Eine an¬
dere Frage aber ist, ob man für die größten Geschütze auch Schiffe wird bauen
können, welche, ohne durch übermäßige Dimensionen unhandlich zu werden,
diese zu tragen und ihren Rückprall auszuhalten im Stande sind; den Küsten¬
batterien, wenn dieselben mit diesem stärksten Geschütz armirt sind, wird dann
allerdings der Panzer nicht mehr gewachsen sein, wenn er auch zum Kampf
gegen andere Schiffe vollständig ausreicht, die eigentliche Seeschlacht also wird
noch aus lange hin durch Panzer regulirt und beherrscht werden.
Selbst angenommen indessen, daß der stärkste Panzer späterer Zeiten, der
sich überhaupt einmal construiren lassen wird, den Voll geschossen der vervoll-
kommnetsten Schiffsgeschütze nicht mehr widerstehen könnte, so läßt sich dies doch
billigerweise bei den Hohlgeschosscn bezweifelnalso gerade bei denjenigen Ge¬
schossen, die durch das gewaltige Leck, das sie verursachen, allein einen Panzer
nöthig machen. Denn das Loch, das eine durchschlagende Vollkugcl hinterläßt,
wird sich immer so weit verstopfen lassen, daß das Schiff vor dem Untergange
sicher ist, und ebenso wird sich, wo einmal eine Platte in der Wasserlinie ge¬
sprengt sein sollte, das durch die schmalen Risse eindringende Wasser durch ein
improvisirtes (oder besser für diesen Fall bereit gehaltenes) Wiederlager fern¬
halten oder schlimmsten Falls durch Dampfpumpen unschädlich machen lassen,
sodaß der Hauptzweck der Panzerung erreicht ist.
AIs weiteres günstiges Moment für die Panzerung kommt aber dann noch
ein andrer Umstand hinzu, der von den Laien gewöhnlich ganz übersehen wird:
das Verhältniß der Distanz. Selbst das schwerste Geschütz, das im Stande
ist, nicht blos mit Vvllkugeln, sondern sogar mit Hohlgeschossen die Flanken des
Panzerschiffs auf 200 Yards ZU durchbohren, vermag auf 800 U'"'dö nicht das
Geringste mehr auszurichten. Immer wird es dein Panzerschiffe möglich sein,
sich vom Feinde in einer Distanz zu halten, die es selber unverwundbar macht,
die ihm aber dennoch gestattet, feindliche Holzschiffe durch Sprenggeschosse in
den Grund zu bohren und selbst starke Batterien, die nicht gerade durch Eisen-
pcinzer geschützt und mit allerschwerstem Kaliber armirt sind, gänzlich zu zer¬
stören. Das Panzerschiff wird nämlich keineswegs durch die schwere Last seiner
Hülle gehindert, eben so schwere Kaliber zu tragen wie das stärkste Holzschiff,
wenn es auch vielleicht seiner sonstigen Beschwerung halber eine geringere An¬
zahl von Geschützen zu führen gezwungen ist. Denn es ist nicht so sehr die
absolute Schwere des Geschützes, als vielmehr der gewaltige Rückprall und die
Rücksicht auf die Stabilität, was die Schwierigkeit bei Führung großer Kaliber
auf Schiffen bildet. Und dieser Rückstoß erfordert mehr eine starke locale Sub-
struction als eine im allgemeinen viel größere Tragfähigkeit. Aus eine gewisse
Distanz also, und dies ist vor allem festzuhalten, wird das Panzerschiff immer
unverwundbar sein, und diese kann es sich selbst wählen; von der Fähigkeit,
Distanz zu halten, hängt dann natürlich der Werth des Panzerschiffs vorzugs¬
weise ab. Deshalb empfehlen wir unseren Lesern bei allen Notizen über Schie߬
versuche gegen Panzerplatten, die ihnen zu Gesicht kommen, vor allem auf
diesen Punkt zu achten. Aus jenen Gründen aber glauben wir entschieden an
den endlichen Sieg der Panzerschiffe über die Artillerie. — Eingehende Schilde¬
rung des norddeutschen Panzergcschwaders lassen wir im nächsten Hefte folgen.
Mehr als 2000 Jahre sind verflossen, seit König Maussollos von Karien
starb und seine Gattin Artemisia über seinem Grabe jenes prachtvolle Denkmal
errichten ließ, welches als Maussolleion zu den sieben Wundern der Welt ge¬
zählt wurde. Der König Maussollos war längst vergessen, aber das Wort
Mausoleum hatte sich hindurch gerettet durch die Jahrtausende. Wer von allen
denen, die jährlich zu dem stillen Grabtempel der Königin Louise in Charlotten¬
burg pilgern, denkt wohl daran, daß auch dieses Denkmal seinen Namen von
dem Könige altheidnischer Vorzeit entlehnt hat.
Und doch hat das alte Mausoleum selber den Untergang der antiken Welt
um viele Jahrhunderte überdauert. Als der olympische Zeus längst in Staub
zerfallen, die hängenden Gärten der Semiramis verschüttet, die Trümmer des
Koloß von Rhodos eingeschmolzen, als Rom bereits ein Steinhaufen und Grie¬
chenland eine Einöde, als Kleinasien und mit ihm Halikarnass bereits seit Jahr¬
hunderten in den Händen der Moslemin war, noch im 11. Jahrhundert stand
das Mausoleum unversehrt in alter Pracht, und erst im Anfang des 15. Jahr¬
hunderts war es die Hand christlicher Johanniter, welche sich an diesem Wun¬
derwerk vergriff, um es als Steinbruch für ihre Festungsbauten auszunutzen.
Als in neuerer Zeit der Orient sich wieder den europäischen Reisenden
öffnete, war keine Spur des Baues wiederaufzusinden. Die Neconstruction nach
alten Beschreibungen wurde zwar ein Lieblingsthema der Künstler, in den Wahl-
verwcmdschaften läßt es Luciane vom Architecten entwerfen und Schinkels Zeich¬
nung zu dem Diorama der sieben Weltwunder wurde ein Grundstein seines
Ruhmes, aber allen Versuchen fehlte der sichere Anhalt und selbst der Ort, wo
es gestanden, war unter den Gelehrten streitig. Endlich im Jahre 1856 ge¬
lang es Mr. Charles Newton, dem jetzigen Director der Antiken des LritisK
Nuseum, durch Nachgrabungen in umfassendsten Maßstabe die Fundamente des¬
selben aufzudecken, eine große Anzahl der wertvollsten Fragmente, unter diesen
die Kolossalstatue des Maussvllvs selbst, die durch einen wunderbaren Zufall
fast ganz erhalten geblieben, aus dem Schutt hervorzuziehen und sie in den
sichern Hasen des londoner Museums überzuführen. Das altberühmte Denk¬
mal hat in seiner Erbauung, seiner Zerstörung und seiner Wicderentdeckung so
wunderbare Schicksale erlebt, daß diese auch abgesehen von ihrer Bedeutung
für die Geschichte der alten Kunst das Interesse weiterer Kreise sür sich in An¬
spruch nehmen dürfen.
Die Landschaft Karten, an der Westküste Kleinasiens gelegen, war von einer
gemischten Bevölkerung bewohnt, von der wir nur sehr dürftige Nachrichten
haben. Wahrscheinlich ist, daß der unterworfene Stamm der Leleger zu den
Indogermanen, der herrschende der Karer dagegen zu den Semiten gehörte.
Zu diesen beiden kam dann das geistig weit überwiegende Element der griechi¬
schen Kolonisation, welches sich auf den Inseln des Archivelagos und der West¬
küste Kleinasiens immer mehr ausdehnte. In Karten war die griechische Be¬
völkerung aus Dorern und Jonern gemischt, der ionische Dialect ward jedoch
der herrschende und entfaltete sich besonders in Haliüarnass, dem Hauptort
jener Gegend, zu reichster Blüthe. Hier wurde Wissenschaft und Poesie ge¬
pflegt, hier Herodot geboren und erzogen. Das politische Leben jener Gegen¬
den bewegte sich in fortwährenden Kämpfen. Die kleinen Tyrannen, welche
über die halbbarbarischen Völker herrschten, suchten sich die griechischen Colonien
zu unterwerfen, während sie sich andrerseits gegen die Eroberungslust der
Perser zu wehren hatten. In den meisten Fällen überließen die Perser den¬
selben die Herrschaft, sobald sie sich als tributpflichtige Vasallen des Reiches
bekannten; daher war ihre Stellung je nach dem Druck, welchen der Großkönig
auszuüben vermochte und die Widerstandskraft der bedrängten Griechen sehr verschie¬
den. Eine hervorragende Rolle unter diesen Dynastcngeschlechtern spielte die Familie
des Lygdamis zu Halikarnass. Eine Tochter und Nachfolgerin dieses Lygdamis
war die bekannte Königin Artemisia, welche als Vasallin des Königs Xerxes in
der Schlacht bei Salamis sich so tapfer benahm, daß sie nach des Königs Aus¬
spruch der einzige Mann schien, während die Männer zu Weibern geworden.
Ihr Enkel Lygdamis wurde 447 vor Chr. von Herodot aus Halikarnass der-
trieben.
Vierzig Jahre nachher wurden durch den Frieden des Antalkidas die Grie¬
chen Kleinasiens den Persern überliefert. Damals herrschte in Karten Heka-
tomnos, dessen Verhältniß zu der frühern Herrscherfamilie nicht fest bestimmbar
ist. Ihm folgt 377 sein ältester Sohn Maussollos, der den Sitz der Herr¬
schaft von Mylasa nach Halikarnass verlegte und seine Macht mit großer Kühn¬
heit und glänzendem Erfolge über die benachbarten Städte und Inseln aus¬
dehnte, seine Flotte allein zählte 100 Schiffe. Das persische Reich befand sich
damals in solchem Zustand innerer Auflösung, daß es einem Manne wie Maus¬
sollos, der keinen Verrath und keine Gewaltthat scheute, leicht wurde, die Va¬
sallenschaft so gut wie ganz abzuschütteln und sich ans Kosten seiner Nachbarn
zu bereichern. Die Mittel, welche er anwendete, hatten nicht selten einen hu¬
moristischen Auflug. So fälschte,er ein Decret, wonach er vom Perserkönig
bevollmächtigt war, den Lykiern, die sehr viel auf ihr langes Haar hielten,
dasselbe abzuschneiden und zur Anfertigung von Perücken für den persischen
Hof nach Susa zu schicken und erpreßte von dem geängstigten Volke eine sehr
bedeutende Summe für die Nichtausführung dieses Befehls. Benachbarte Städte,
denen sein Schutz zu Theil wurde, mußten ihm goldene Ehrenkronen von aus¬
bedungenen Gewicht überreichen, seine eigene Hauptstadt Mylasa prellte er,
indem er sich eine große Summe zur Befestigung der Stadt auszahlen ließ, dann
plötzlich erklärte, daß eine Gottheit dies Unternehmen gemißbilligt habe, und ver¬
wandte das Geld zur Verschönerung seiner neugewählten Hauptstadt Halikaniaß.
Die Wahl dieses Platzes war jedenfalls eine sehr glückliche. Das alte
Mylasa lag am Fuße eines Hügels, von dem aus es beherrscht werden konnte,
Halikarnass dagegen an einem vorzüglich geschützten Hafen, der die Ver¬
bindung mit den Inseln und Griechenland ermöglichte und das übrige Karten
als Hinterland in der Gewalt hatte. Die Küste ist dort hufeisenförmig aus¬
gebuchtet, in der Mitte der Krümmung nahe dem Lande liegt ein kleines felsiges
Eiland, das jetzt vom Castell Se. Peter eingenommen wird. Diese Insel, welche
als natürliche Festung dienen konnte, war von den ersten griechischen Ansied¬
lern besetzt worden, Maussollos machte ein Fort daraus, verband sie durch
eine Brücke mit dem Festlande und verlegte die eigentliche Stadt an den von
der Natur reichausgestatteten Küstensaum, der vorn vom Meer und im Rücken
von einer stattlichen Bergkette begrenzt sich amphitheatralisch um die Bucht hin¬
zieht. Eine mächtige Mauer, deren Fundamente noch vorhanden sind, sicherte
mit Benutzung aller durch das Terrain gegebener Befestigungspunkte die Stadt
nach dem Lande hin; durch die vorspringende Insel wurde ein Stück der Bucht
abgeschnitten, welches als geheimer Hafen gute Dienste leistete. Die Gesammt-
cmlage der Stadt wird von Vitruv als vorzüglich gerühmt. Der Königspalast,
der zugleich als Festungswerk diente, lag der Jnselcitadelle gegenüber, im
Mittelpunkte der Stadt, in directer Verbindung mit dem Castell und dem ge-
Heimen Hafen. Der Palast war von Ziegeln gebaut, mit spiegelglattem Stücke
überzogen und reich mit Marmorarbeiten geschmückt. Als Hauptgebäude der
neuen Stadt werden die Tempel des Mars und der Venus erwähnt, dazu kam
die Agora, ein von Säulenhallen eingeschlossener großartiger Versammlungsplatz.
Es ist anzunehmen, daß auch der hervorragende Platz, welchen das Grabmal
des Königs in der Stadtanlage einnimmt, schon von ihm selbst gewählt wor¬
den ist, wie ja die würdige Ausstattung des Grabes im Orient stets schon bei
Lebzeiten der Fürsten betrieben wurde. Um die neue Hauptstadt zu bevölkern,
wurden die Einwohner von 8 Städten der Leleger hineinversetzt und dadurch
das selbständige Fortbestehen dieses Stammes vernichtet.
Maussollos war ein energischer und schlauer Despot; unumschränkt herrschte
er über sein ausgedehntes Reich und erhob Tribut von den Nachbarvölkern, es
gelang ihm die wichtigsten Staaten der attischen Bundesgenossenschaft Byzanz,
Chios, Kos und Rhodos von Athen abzuziehen, mit ihnen vereint die Athener
gänzlich zu schlagen und die 4 Staaten für einen Bund mit sich zu gewinnen.
Nach asiatischer Sitte war er mit seiner Schwester Artemisia vermählt und
als er im Jahre 3S3 starb, übernahm diese ihm geistig ebenbürtige Frau die
Regierung. Obgleich sie nur 2 Jahre herrschte, wußte sie doch die Macht ihres
Hauses ansehnlich zu vermehren. Hier sei nur ein Zug von ihr erzählt. Die
Insel Rhodos meinte die Herrschaft eines Weibes leicht abschütteln zu können
und schickte eine übermächtige Flotte gegen Halikarnass. Artemisia sammelte ihr
Heer auf ihren Schiffen in dem geheimen Hafen und ließ nur wenige Männer
in der Stadt zurück, welche den Rhodiern mit Fricdensgrüßcn entgegenkamen
und sie als Freunde in die Stadt hineinführten. Unterdeß fuhr Artemisia durch
einen Canal in den Hasen, bemächtigte sich der unbesetzten rhodischen Flotte
und machte das Heer, welches in der Stadt wie in einer Falle gefangen war, bis
auf den letzten Mann nieder. Dann bemannte sie die rhodischen Schiffe mit
ihren eigenen Leuten, schmückte die Maste mit Lorbeern und Trophäen und fuhr
so in den Hasen von Rhodos ein, wo sie von der getäuschten Bevölkerung, welche
ihre siegreich zurückkehrende Flotte zu sehen glaubte, mit Jubel empfangen
wurde. Die Ueberrumpelung der Insel gelang vollständig; Altcmifia ließ alle
hervorragenden Bürger hinrichten und stellte auf dem Markt ihr Erzbildniß aus.
Als aber diese und ähnliche Kriegsthaten längst vergessen waren, lebte doch
Artemisia's Namen fort verbunden mit dem des Mausoleums, welches sie ihrem
verstorbenen Gatten errichten ließ. Von ihrer ausschweifenden Trauer um diesen
Verlust wußte man im Alterthum die seltsamsten Geschichten zu erzählen und
"und diese Anekdoten sind bis in die neueste Zeit hinein lebendig geblieben; in
der Renaissance wurde Artemisia mit der Aschenurne ihres Gatten gemalt,
Lucicme in den Wahlverwandtschaften spielt sie als Paraderolle und auch Platen
erzählt von . . .
Artemisia, welche mit der Asche
Des Ehemahls sich ihren Wein verdorben.
Zur Leichenfeier des Verstorbenen wurde ein Wettkampf von Dichtern und
Rednern zu seiner Verherrlichung ausgeschrieben, an welchem sich die berühm¬
testen Männer Griechenlands betheiligten. Auch zu dem Ban und der Aus¬
schmückung des Grabmals wurden die ersten Künstler Griechenlands nach Ha-
likarnaß gezogen. Satyros und Pythios waren die Architecten, Skopas,
Leochares, welche schon für Maussollos selber das Tcmpelbild des Ares aus¬
geführt, Bryaxis und Timotheus übernahmen die Bildhauerarbeiten und zwar
jeder eine Seite des Baus; Pythios, vielleicht derselbe, welcher auch als Archi-
tect genannt wird, bildete die kolossale Gmppe auf dem Gipfel des Grabes.
Artemisia erlebte die Vollendung des Wunderbaucs nicht, man erzählt, daß
nach ihrem Tode die Künstler auch ohne Bezahlung des Ruhmes wegen das
Werk fortgesetzt hätten. Die Selbständigkeit des karischen Reiches war nicht
von langem Bestand, es bildete einen Theil des Weltreichs Alexander des
Großen, ging in der Diadochenzeit aus einer Hand in die andere über, bis
es im Jahr 129 zu der römischen Provinz Asien geschlagen wurde. Als Theil
des oströmischen Reichs siel es in die Hände der Osmanen und ist seitdem fast
gcschichtölos geworden.
Im Alterthum wird das Mausoleum außerordentlich häufig erwähnt; eine
Beschreibung desselben giebt Plinius, von der einstweilen so viel erwähnt sein
mag, daß sich auf dem rechteckigen Grabtempel, der von 36 Säulen umgeben
war, eine Pyramide von 24 Stufen erhob, die den Maussollos auf einem
Viergespann trug; die Gesammthöhe war 140 Fuß, der Umfang 411 Fuß.
Die Pyramide über dem Grabe ist dem orientalischen Brauche entlehnt, die
Vereinigung derselben mit der griechischen Tempelanlage ist für das halbbar¬
barische Fürstenhaus charakteristisch. — Noch im 12. Jahrhundert wird das
Grabmal als unversehrt von Eustathios erwähnt.
Im Jahr 1402 besetzten die Johanniter-Ritter, die sich in dem
nahen Rhodos angesiedelt hatten, die Stätte des alten Halitarnass, welches
damals Mesy, späterhin Budrum hieß. Auch für sie war die kleine Insel,
welche von den ersten griechischen Kolonisten und dann von Maussollos be¬
festigt worden, der gebotene Platz zur Anlegung eines Castells, welches den
Namen Se. Peter erhielt. Den Bau leitete ein deutscher Ritter Heinrich
Schlcgelholt, das Material gab das Mausoleum her. Ob dasselbe kurz
vorher durch ein Erdbeben bereits einen Theil seines Oberbaus eingebüßt hatte,
läßt sich nicht mehr feststellen; es ist dies eine Vermuthung, die in der Lage,
in welcher Newton die Kvlossalgruppe vom Gipfel der Pyramide fand, eine
Stütze findet. Im Jahre 1472 sah der Venetianer Cepio noch die „vestigi^
desselben unter den Ruinen der alten Stadt. Wieviel unter diesen „Spuren" ge-
meint ist, läßt sich nicht bestimmen. Dagegen besitzen wir einen sehr ausführ¬
lichen Bericht aus dem Jahre 1532. In diesem Jahre beschlossen die Ritter
zu Rhodos, das Castell Se. Peter gegen die herannahende Macht Solimans zu
verstärken und schickten eine Expedition dorthin ab. Zu ihr gehörte auch der
Commandeur de la Tourette aus Lyon, welcher späterhin dem gelehrten Fran¬
zosen d'Alechamp Folgendes erzählte: „Als die Ritter in Mesy angelangt waren,
begannen sie sogleich an der Befestigung des Castells zu arbeiten und als sie
Kalk brauchten, fanden sie in der Umgegend kein geeigneteres und leichter zu¬
gängliches Material um solchen daraus zu brennen, als gewisse Stufen von
weißem Marmor, welche sich in Form einer Freitreppe ixeri-oil) erhoben, in¬
mitten eines Feldes nach dem Hafen, do.t wo einstmals der große Platz Hatt-
karnassus sich befand; sie ließen dieselben herunterschlagen und für ihren Zweck
verwendend) Da man diese Steine brauchen konnte, so schlug man das wenige
Mauerwerk, welches sich über der Erde befand, fort und ließ in der Hoffnung,
noch mehr Marmor zu finden, weiter graben. Dies hatte sehr glücklichen Er¬
folg, denn sie erkannten bald, daß je tiefer sie gruben, desto mehr die Con-
structionen sich nach unten hin erweiterten, und fanden so viel Steine, daß
sie nicht nur zum Kalkbrennen, sondern auch zum Bauen genug hatten. Nach
Verlauf von 4—6 Tagen, nachdem schon viel freigelegt war, zeigte sich eines
Nachmittags eine Oeffnung, die wie in einen Keller führte. Sie nahmen
Lichter und ließen sich hinab, wo sie einen schönen großen viereckigen Saal
fanden, rings herum mit Marmorsäulen geschmückt, deren Basen, Capitäle,
Architrave, Friese und Gesimse ausgehauen und mit Sculpturen in Las-rvZivt'
versehen waren. Die Räume zwischen den Säulen waren mit Streifen und
Platten von verschiedenfarbigem Marmor bekleidet und verziert mit Ornamenten
und Sculpturen, welche mit den übrigen Theilen des Werkes im Einklang
standen und sauber auf den weißen Grund der Mauer aufgesetzt waren, wo
man lauter in Stein gehauene Historien und verschiedene Schlachten in Flachrelief
erblickte. Nachdem sie dies zuerst bewundert und ihre Phantasie an der Be¬
sonderheit der Arbeit ergötzt, rissen sie es zuletzt herunter, zerschlugen und zer¬
brachen es und benutzten es in derselben Weise wie das frühere. Außer diesem
Saale fanden sie nachher eine sehr niedrige Thür, welche zu einem andern
vorzimmerartigen Raume führte, wo ein Grabmal stand mit seinem Gefäß und
Helmschmuck (sexuler« avoo son pass et son t/indi-e), sehr schön und in wun¬
derbarem Glanz aus weißem Marmor gearbeitet. Dasselbe zu öffnen fehlte es
an Zeit, sie mußten forteilen, da es schon zum Rückweg geläutet hatte. Als
sie am nächste» Tage zurückkehrten, fanden sie den Sarkophag erbrochen und
den Boden rings herum mit kleinen Stückchen von Goldbrokat und kleinen
goldenen Flittern bedeckt; sie mußten annehmen, daß die Seeräuber, welche
damals längs der Küsten streiften, von den gemachten Entdeckungen Wind be¬
kommen hatten und während der Nacht den Deckel des Sarkophags abgehoben
hatten; wahrscheinlich fanden diese in demselben große Reichthümer und
Schätze."") —
Der Zerstörungswuth entgingen nur einige Reliefplattcn, welche die Ritter
als Ornamente an ihrem Castell zu verwerthen wußten und welche schon in
der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts die Aufmerksamkeit des französischen
Reisenden TH6veuve erregten. In vielen Reisebeschreibungen des vorigen Jahr¬
hunderts werden sie erwähnt und ohne einen sichern Beweis führen zu können,
nahm man doch für gewiß an, daß sie dem Mausoleum entlehnt sein müßten.
Zeichnungen derselben, welche Dalton im Jahre 17S1 hatte anfertigen lassen,
und das hohe Lob, welches ihnen von allen Kennern gezollt wurde, ver¬
anlaßten im Jahre 1848 den Viscount Stratfort de Nedcliffe, damals eng¬
lischen Gesandten in Constantinopel, sich einen Firman von der Pforte zu er¬
wirken, der ihm die Berechtigung zur Wegnahme derselben gab. So kamen
sie in das Lritisli Nu8eum. Es waren 13 Platten in ziemlich hohem Relief,
zum Theil sehr vom Wetter beschädigt. Dargestellt sind Kämpfe zwischen Ama¬
zonen und Griechen, aus die wir weiter unten näher eingehen wollen. Einige
Jahre später bemerkte eine gelehrte deutsche Frau, deren Kunstkennerschaft von
wenigen Männern erreicht wurde und die selber eine nicht unbeträchtliche Samm¬
lung besaß, Frau von Mertens-SchaffKausen in Bonn, in der Villa ti Negro
zu Genua eine Relief-Platte, welche sie sofort als zusammengehörig mit jenen
Sculpturen erkannte. Wie die Platte nach Genua gekommen, läßt sich nicht
mehr feststellen, es mag sie wohl einer der Johanniterritter als Andenken in
seine Heimath mitgenommen haben. Auch dieses Stück wurde nach dem Tode
des damaligen Besitzers im Jahre 1864 für das Lritisli Nuseum angekauft.
Die Erwerbung der Sculpturen des Castells regte die Frage nach dem
Mausoleum wieder in lebhaftester Weise an. Es fehlte nicht an Gelehrten,
welche ihre Herkunft vom Mausoleum bestritten; aber entscheidend wurde, daß
in England die Gelehrten Cockerell und Newton, von denen besonders der
letztere eine eifrige Thätigkeit entwickelte, die englische Admiralität veranlaßten, ge¬
naue topographische Aufnahmen der Stätte des alten Halikarnass zu veranstalten.
Mit Hilfe dieser Karte suchte Newton die Lage des Mausoleums nach den
Ortsangaben der alten Schriftsteller zu bestimmen. Die Ansicht, welche er auf¬
stellt?, wurde lebhaft bekämpft, besonders von Ludwig Roß, dem deutschen Pro¬
fessor zu Athen, welcher die Stätten 18S0 selber besucht hatte, auch der Lieute¬
nant T. Spratt, welcher die topographischen Aufnahmen leitete, wich von New¬
tons Ansicht ab.
Im Jahre 1852 übernahm letzterer das Biceconsulat auf Mitylene. Durch
die Besetzung derartiger Aemter auf classischem Boden mit antiquarisch ge¬
bildeten Leuten ist die englische Regierung in der glücklichen Lage, ein ganzes
Netz von Agenten für die Anläufe antiker Kunstwerke aufzuspannen; auch
Newton erhielt den Auftrag, seine Nachforschungen nach derartigen Schätzen
über das Gebiet seines Amtsbezirks auszudehnen, zu welchem Zweck ihm ein
jährlicher Zuschuß angewiesen war. Welche Thätigkeit Newton entfaltete, mag
die eine Zahl andeuten, daß er während seines neunjährigen Aufenthalts in
der Levante 384 Kisten mit Alterthümern in das Lritisli Nuseum beförderte,
unter denen die Ueberreste des Mausoleums die Hauptmasse bilden. Im Jahre
18S5 machte er einen kurzen Ausflug nach Budrum und besuchte zuerst das
Castell, um sich zu überzeugen, ob außer den bereits entfernten Platten noch
weitere Stücke des Mausoleums daselbst zu finden wären. Sobald er die Schwelle
überschritten, sah er zu seiner freudigen Ueberraschung Bordertheile von Löwen
aus parteiischen Marmor an verschiedenen Stellen als Zierrath in die Mauer
eingesetzt. Die Borzüglichkeit der griechischen Arbeit ließ keinen Zweifel über
ihre Zugehörigkeit zum Mausoleum entstehen. Auch Ludwig Roß, welcher sie nur
von weitem gesehen, war derselben Meinung gewesen. Newton berichtete über
diesen Fund sogleich an Lord Stratford de Redcliffc, der noch britischer Ge¬
sandter in Constantinopel war, und trotz der heißen Tage des Krimkrieges er¬
langte derselbe die Genehmigung, die Löwen fortzuschaffen und überließ an
Newton ein Schiff der Flotte, um damit im Frühling 18S6 nach Budrum zu¬
rückzukehren. Doch auch dieser Besuch war nur von kurzer Dauer, der Firman
war noch nicht eingetroffen, das von Lord Stratford vorgeschossene Geld ging
bei kleinen Ausgrabungen zu Ende, und im April mußte Newton in Amts-
geschäften nach Mitylene zurück. Jedoch schon im Herbst desselben Jahres reiste
er auf kurze Zeit nach England und wußte bei der Regierung die Ausrüstung
einer Expedition zur Einholung jener Ueberreste und zur Anstellung vo» Nach¬
grabungen nach weiteren Stücken des Mausoleums zu erwirken. Man über¬
wies ihm die Dampfcorvette Gorgo mit einer Besatzung von 1S0 Mann unter
dem Commando des Capitains Towsey. Außerdem begleitete ihn ein kleiner
Trupp von Ingenieuren unter Führung des Lieutenants Smith; fernere Theil-
nehmer waren die Korporale Jentins und Spackman, welcher letztere sich aufs
Photographiren verstand, und zwei Gefreite, von denen der eine Schlosser, der
andere Maurer war. Diese vortrefflich zusammengesetzte Expeditionsmannschast
durfte sich aus dem Arsenal mit allen irgendwie nöthigen Maschinen und Ge-
räthschaften versorgen, außerdem war noch die Summe von 2000 Pfund
Sterling ausgeworfen. In Smyrna stieß Newton, der wieder nach Griechen¬
land zurückgekehrt war, im November zu ihnen und nun landeten sie voll Muth
und Hoffnung in dem alten Hafen des Maussolvs. An der Küste wurde eine
kleine Colonie für die Arbeiten der Schmiede und Mechaniker gegründet; ein
alter Muselmann, dessen Freundschaft Newton, ein Mann von äußerster Liebens¬
würdigkeit, bereits bei seinem ersten Aufenthalt erworben, überließ ihm und
dem Lieutenant Smith sein Sommerhäuschen, auf türkisch Koua! genannt, als
Hauptquartier. Die Ergebnisse der nun beginnenden Nachforschungen nebst
denen seiner sonstigen Entdeckungen hat Newton in dem vortrefflichen Werke
lin.Iieiii'imLLUkj I5rMu8 and LrunelMao, London 1862 niedergelegt. Außerdem
veröffentlichte er im Jahre 1865 seine Briefe, Berichte und Tagebücher jener
Reisen unter dem Titel Irervels arid Oiseoveries irr ete I-evairt, in denen die
unmittelbare Frische der Eindrücke einen so angenehmen und fesselnden Aus'
druck gesunden, daß ich es mir nicht versagen mag, einzelne Stücke derselben
wortgetreu mitzutheilen, besonders da sie in Deutschland noch sast gänzlich un¬
bekannt sind.
„Die Ankunft der Colonie brachte unter den friedlichen Bewohnern
Budrums die größte Aufregung hervor, man staunte die Handwerkszeug! und
unbegreiflichen Maichinerien an und gab die hohe Meinung, die man von der
Macht und dem Reichthum der Engländer hatte, zuerst dadurch zu erkennen,
daß man mit allen Preisen um das Doppelte aufschlug. Die pecuniären
Hoffnungen der griechischen Erdarbeiter aus Smyrna wurden freilich bald ge¬
täuscht, als ein Trupp von 50 Matrosen mit Schaufeln antrat und in 6 Stun¬
den mehr arbeitete als die Griechen in 2 Tagen. Besser zu verwerthen waren
die Türken, welche zwar langsam, aber sehr sorgfältig arbeiteten, was bei Aus¬
grabungen von großem Werthe ist." Zuerst legte Newton ein Feld bloß, auf
welchem er schon im Jahr vorher eine Anzahl Terracotten gesunden, dann ein
Feld, welches Capitain Spratt als den wahrscheinlichen Standort des Mauso¬
leums bezeichnet hatte, ohne mehr als unbedeutende Fundamente und einige
Scherben alter Terracotten und Ziegel zu finden. Bessere Resultate ergaben die
Nachgrabungen auf einem Felde, das einem alten Türken Hadji Caplan gehörte,
zu dessen höchstem Erstaunen man unter dem Boden, arts dem er lange Jahre
gepflügt, gesät und geerntet, einen wohlerhaltenen römischen Mosaikfußboden
von großem Umfang bloßlcgte.
Newton durchstreifte indeß unablässig die Stadt, um eine Spur von der
Lage des alten Mausoleums zu finden. Im Mittelpunkte des Ortes, wo das
Haus eines Türken Namens Sauk Bey stand, fielen ihm einzelne frei umher¬
liegende Stücke ionischer Säulen von feinstem parischen Marmor auf. Er faßte
die Stelle näher ins Auge und bemerkte in den Erhöhungen des Bodens eine
gewisse nicht von der Natur hervorgebrachte Unregelmäßigkeit, welche sich wohl
erklären ließ, wenn verschüttete Ruinen unter demselben lagen. Der Platz war
ganz mit Häusern und Gärten bedeckt, welche durch kleine steinerne Wälle von
einander geschieden waren. Als er diese Wälle und Mauern der Häuser näher
untersuchte, fand er auch in ihnen Stücke ionischer Architektur von seltener
Schönheit und aus feinstem Material eingemauert. Schon Professor Donaldson
hatte auf diesen Punkt aufmerksam gemacht, welcher übrigens derselbe war, den
Newton, bevor er Budrum besucht, nach den Angaben der alten Schriftsteller
als die wahrscheinliche Lage der Mausoleums bezeichnet hatte. Es stimmte mit
Vitruv, auch war sonst in der Stadt nirgends eine solche Anhäufung ionischer
Architecturfragmente. Newton erzählt von diesen ersten Tagen der Entdeckung:
„Ich beschloß also hier nachzugraben. Der Grund und Boden war in eine
Anzahl kleiner Besitzungen getheilt, welche jede einen besondern Eigenthümer
hatten. Nach sehr vielen Mühen und Quängeleien erhielt ich von einem der¬
selben die Erlaubniß, auf einem kleinen Streifen der einen Hälfte seines Feldes
nachzugraben. Es war am ersten Januar dieses Jahres (1857) als ich den
ersten Spatenstich auf der merkwürdigen Stelle that. Nachdem ich wenige
Spaten voll aufgeworfen hatte, prüfte ich die Beschaffenheit der Erde. Es
war eine lose schwarze Dammerde, ganz durchsetzt mit Schutt und kleinen
Splittern eines feinen weißen Marmors. Ihr ganzes Aussehen, besonders
aber der Mangel gleichmäßiger Schichtung unterstützte die Annahme, daß ich
es mit einer neuern Aufhäufung zu thun hatte, wie sie in den 400 Jahren
seit der Erbauung der Castells durch die Ritter stattgefunden haben konnte..
Die Marmorbruchstücke, welche ich sorgfältig sammelte, gehörten augenscheinlich
einem Gebäude ionischer Ordnung an. Nach kurzer Zeit kam ein verstümmeltes
Bein zum Vorschein, augenscheinlich von einem Fries. Ich begann unbe¬
stimmte Hoffnung zu fassen. Immer mehr Sculpturstücke kamen zu Tage, meist
Splitter eines Frieses, bis ich zuletzt das Stück eines Fußes fand, welches
noch mit der Friesplatte und, deren Hohlkehle zusammenhing. Ich erkannte
sofort, daß dies dieselbe Kehlung sei, welche die Friesplatten des Castells haben.
Ungefähr in derselben Zeit, als ich diese Entdeckung machte, untersuchte ich
gerade auch eine Mauer in der Nähe; ich grub und fand ein zerschlagenes
Stück eines marmornen Löwen in den Fundamenten derselben vermauert. Von
dem Tage an hatte ich keinen Zweifel mehr, daß die Lage des Mausoleums
gefunden war. Es mag seltsam erscheinen, daß für mich der Augenblick, in
dem ich diese große Entdeckung machte, durchaus nicht ein sehr freudiger war.
Ich warf einen bedenklichen Blick auf die ganz mit Häusern und kleinen Flecken
Gartenlands bedeckte Stelle, von der jeder Theil einem besondern Eigenthümer
gehörte, und fragte mich, wie es wohl möglich sein könnte, alle diese Leutchen
auszulaufen. Die Anwesenheit eines Kriegsschiffes machte die Verhandlungen
außerdem noch schwieriger, denn den Offizieren und Matrosen konnte man doch
die Entdeckung des Mausoleums nicht verheimlichen und an eine ganze Schiffs¬
besatzung kann man auch wieder nichts als tiefes Geheimniß mittheilen.
Glücklicherweise konnte damals von allen, die an der Expedition betheiligt
waren, außer mir niemand auch nur drei Worte türkisch sprechen. Dennoch
drang zu den Eigenthümern der Häuser bald ein unbestimmtes Gerücht, daß
der Konsul irgend etwas sehr Herrliches gefunden habe — das Kvnak irgend
eines Padischah. der vor 2000 Jahren gelebt habe. Und sie richteten denn
auch ihre Forderungen darnach ein."
„Nachdem ich wenige Tage auf dem schmalen Fettstreifen, den man mir
überlassen, gegraben hatte, erklärte mir der Besitzer deS Feldes, daß ich nun
doch wohl meine Neugierde befriedigt und mich überzeugt haben würde, daß
nichts zu finden sei; er erwarte also die Entfernung meiner Arbeiter. Ich bat
um einige Tage Aufschub, die mir denn endlich nach langem Sträuben bewilligt
wurden. Jetzt brachte ich in Erfahrung, daß jenes Feld, auf welchem ich das
Bruchstück des Löwen gefunden, einer frommen Stiftung gehörte, deren Verwalter
mein guter Freund Sauk Bey war. Nichts war leichter, als von diesem ge¬
fälligen und gastfreundlichen Herrn die Erlaubniß zum Nachgraben zü erlangen.
Ich riß die Mauer mit dem Stück des Löwen nieder und fand in ihr fünf bis
sechs Säulentrvmmeln, das Bein eines Löwen und verschiedene marmorne Bau¬
stücke griechischer Arbeit. Dann bekam ich Erlaubniß, ein Stückchen Land nord¬
wärts von diesem, welches einem dritten Eigenthümer gehörte, umzugraben.
Als jene Mauer entfernt war, grub ich tiefer und stieß auf einen verticalen
Rand des lebendigen Felsens, der von Süden nach Norden sich erstreckte. Aus
der Bearbeitung des Gesteins ersah ich. daß der Fels zur Aufnahme einer
Mauer vorbereitet war und aus der Gleichmäßigkeit der Meißelschläge ergab
sich unzweifelhaft griechische Arbeit. Indem ich hier weiter arbeitete, stieß ich
in einer Tiefe von 12 Fuß auf grüne Steinplatten 4' im Quadrat und 1' dick
mit eisernen Krämpen fest zusammengehalten, welche ich zuerst für eine Pflasterung
hielt. Diese erstreckte sich ostwärts weiter als ich folgen konnte; denn in einer
Entfernung von etwa 20 Fuß wurde, mein Untersuchungsfcld durch ein kleines
Häuschen abgeschnitten, in welchem ein alter Türke mit seinem Weibe wohnte.
Auf dem schmalen Streifen zwischen der Felskante und dem Häuschen fand ich
wiederum Basen und Trommeln ionischer Säulen und reichverzierte Theile einer
marmornen Dcckencassette und zwar mit Erhaltung der blauen Farbe, die noch
in dicken, breiten Fladen darauf lag und von der Intensität des Ultramarins
war. Nahe dabei fanden sich zwei Theile von Löwenkörpern, die in Stil und
Größe vollständig denen des Castells entsprachen. Obgleich ich damals noch nicht
wußte, daß ich auf dem westlichen Rand des Mausoleum-Fundamentes stand,
und daß jene grünen Steinplatten, welche ich für ein Pflaster hielt, die unterste»
Lagen der Grundmauern waren, so mußte ich doch aus dein Vorhandensein
so vieler großer Architectur- und Sculptursragmente schließen, daß ich mich inner¬
halb des Raumes befand, den das Denkmal einstmals einnahm. Je weiter ich
nach Osten vordrang, desto häufiger fanden sich Fragmente, wir gruben weiter,
bis wir nur noch zwei Fuß von dem erwähnten Hause entfernt waren und
sahen, daß es auf Trümmermassen stand. Es war klar, dieses Haus mußte
angekauft werden, aber wie das zu bewerkstelligen wäre, war weniger klar,
denn ich kannte aus langer Erfahrung die Schwierigkeit, die es hat, solch ein
Geschäft mit einem Orientalen abzuschließen. Ich suchte mir deshalb Beistand
bei meinem alten Freunde Mehemed Chiaoux, welcher mir so freundlich das
Nachgraben i» seinem Felde gestattet hatte und bevollmächtigte ihn, die Ver¬
handlungen zu führen. Seine ersten Versuche waren nicht sehr erfolgreich; der
Türke, dessen Haus mir im Wege stand, hatte eine höchst entschlossene Ehegattin,
welche sich unserm Vordringen mit Entschiedenheit entgegenstellte. Eines Tages,
als wir uns barmt beschädigten, auszuprobiren, wie nahe wir wohl an die
Fundamente herangraben dürfte», ohne das Haus zu unterminircn, kam plötzlich
ein langer dürrer Arm aus dem Fensterladen herausgeschossen und eine wider¬
wärtige Weibcrstimme kreischte einige unliebenswürdige türkische Flüche auf unsere
Häupter hernieder. Unser Mehemed, welcher unglücklicher Weise mit dem Rücken
nach dem Hause zu, nahe am Fenster stand, trat mit einem höchst unbehaglichen
und mißmuthigen Ausdruck im Gesicht schleunigst den Rückzug an. Erst einige
Tage später erfuhr ich, daß die alte Vettel die Gelegenheit wahrgenommen hatte,
ihm einige Stücke brennenden Zunders zwischen Haut und Hemde in den Nacken
zu werfen. Der alte Soliman, der Gatte dieser fürchterlichem Dame, war ein
'hinfälliger, zitternder alter Mann, der zwar in seirur Jugend ein berühmter
Ringer gewesen und noch viele Bravourstücke aus jener Zeit zu erzählen wußte,
nun aber in tödtlicher Angst vor seinem Weibe lebte. In einer schwachen
Stunde erlaubte er uns, in seinem Garten zu graben; wir kamen bald an einen
jungen Feigenbaum, den wir nothwendiger Weise entfernen mußten. Während
wir noch um den Preis des Baumes handelten, kam derselbe plötzlich her-
untcrgefcchren, da ihn meine Arbeiter aus Bosheit unterminirt hatten. Der
arme alte Soliman bekam diesen Tag seine Tracht Prügel und unser biederer
Sappeur Korporal Jenkins, der harmlos an dem Rande einer Grube stand,
mußte schmählich in dieselbe hinabfahren. indem ihm plötzlich vom Fenster der
in wohlgezieltem Flug ein Hackcblock gegen den Kopf wirbelte."
„Derartige kleine Unterbrechungen beachteten wir aber weiter nicht und
fuhren fort zu graben, bis wir zuletzt altes um Solimans Haus so ausgewühlt
hatten, daß es wie eine Insel in einem Meere von Tchutt stehen blieb. Jetzt
hielt ich die Zeit für gekommen, ein bestimmtes Gebot zu thun; nach langem
Parlamentiren wurde der Preis auf 20 Pfund festgesetzt. Ich machte dem
alten Soliman mit dem Geld in der Hand in seinem eigenen Hause meine Auf¬
wartung und fand mich nun in der angenehmen Lage, die ehrenvolle Bekannt¬
schaft von Madame Soliman zu machen, die mit den Runzeln auf ihrem
mahagonifarbenen Gesicht eine stark ausgeprägte Familienähnlichkeit mit den
Eumeniden zeigte. Der Alte starrte gedankenvoll auf den Schah, als ob er nie
so viel Geld in seinem Leben gesehen hätte. „Es ist nicht genug", schrie die
hartnäckige alte Hexe. Ich strich auf der Stelle mein kleines Häufchen Gold
ein und ging ab. Diese schroffe Maßregel fruchtete mehr als stundenlanges Un¬
terhandeln: zwei Tage später besaß ich das Haus."
„Das neuerworbene Stückchen war bald genug abgegraben und ich wußte
nun nicht, wie wir weiter kommen sollten. Zu derselben Zeit entdeckten wir
verschiedene Gänge, die aus dem festen Felsen herausgehauen waren und zu
denen in jener zuerst entdeckten verticalen Wand ein Eingang führte. Jenkins,
mein wackrer Corporol, war ganz entzückt über die Entdeckung dieser unterirdi¬
schen Wege, bei denen er seine Kenntnisse in der Behandlung von Minen zur
Geltung bringen konnte und entwickelte solchen Eifer, sie zu durchsuchen, daß er
beinahe in der schlechten Luft erstickt wäre. Deshalb mußte er zuweilen ans
Tageslicht durchstoßen; da tauchte er denn bald in einem Garten, bald in
einem Hofe auf, zum Schrecken der älteren, aber zum großen Vergnügen der jünge¬
ren Hausbewohnerinnen. Viel Erhebliches fand sich jedoch in den Gängen nicht." —
„Da Plinius den Umfang des oblongen Mausoleums auf 411 Fuß angiebt,
so berechnete ich mir, daß eine Seite desselben wohl über 100' lang gewesen
sein müsse. Da die vertical bearbeitete Linie des Felsens, welche ich ver¬
folgte und welche die Westseite bilden mußte, nach Süden hin plötzlich ab¬
brach, so nahm ich an, daß hier ungefähr die Südwestecke des Gebäudes sei,
und maß 100 Fuß nach Norden hin ab. um auf diese Weise die Nordwestecke
zu finden. Einige Fuß Weiterhin schien mir die Bodengestaltung auf einen
derartigen Winkel hinzudeuten. Ich verschaffte mir deshalb von dem Eigen¬
thümer die Erlaubniß, auf seinem schmalen Ackerstreifen nachzugraben, stieß zu
meiner größten Freude auf die scharf aus dem Felsen herausgeschnittene Ecke
und fand auch hier dieselben Bruchstücke von Aichitectur, Löwen und anderer
Bildhauerarbeit. Da diese Ecke von der südwestlichen 108 Fuß entfernt war,
so konnte ich nun schon ziemlich genau die ursprüngliche Gestalt des Gebäudes
und meinen Ausgrabungsplan bestimmen. Aus Plinius wußte ich, daß die
Seite von Ost nach West etwas länger sei als die von Nord nach Süd, danach
bemaß ich die wahrscheinliche Länge derselben, untersuchte den Boden und
stieß zuletzt auf die Südostecke in einer Entfernung von 126' von der Süd¬
westecke. Auf dieser Linie stand eine Gasse mit 3 Häusern, die ich mit ver¬
schiedenen Verzögerungen endlich verkauft bekam. Nun brauchte ich nur noch
die Nordostecke, um den Plan zu vollenden. Diese konnte genau berechnet wer¬
den und befand sich glücklicher Weise auf einer öffentlichen Straße, wo man
meinen Nachgrabungen nichts in den Weg legte."--
Aus der Lage der hier gefundenen Trümmer ergab sich, daß die Ritter
die dunkelgrünen Steine des Unterbaues bis zum lebendigen Felsen hinunter
fortgeschafft hatten; da sie aber dies nicht schichtenweise thaten, sondern erst an
einzelnen Stellen bis zum Boden drangen, so stürzten noch oben befindliche
Theile des alten Grabtempels und der Sculpturen in die so gebildeten Höhlen
hinunter und blieben auf dem Boden liegen, wo sie Newton fand. Das her¬
vorragendste Stück der Bildwerke, die sich jetzt sämmtlich im LritlLir Uuscnim
befinden, ist eine kolossale Neitcrstgur in orientalischem Costüm, leider sind vom
Pferde nur der Körper und die Schenkel, vom. Reiter nur die Beine, der Unter¬
körper und die linke Hand erhalten. AIs die Figur noch nicht mit Erde be¬
deckt war, hatten die Bewohner Stücke davon mit einem Schmiedehammer ab¬
geschlagen, von denen man noch etliche in einer Gartenmauer wiederfand. Trotz
dieser argen Verstümmelung ist die Lebendigkeit und Schönheit der Figur von
größter Bedeutung. Ferner fand man einen sitzenden weiblichen Torso und
das Untertheil einer bekleideten Figur, beide von kolossaler Größe. Bon dem
Fries, der eine Anzahl Platten zum Schmucke deS Castells hatte hergeben
müssen, war noch immer nichts Vollständiges zu finden gewesen, sodaß Newton
die Hoffnung schon aufgab. Da stießen sie eines Tages plötzlich auf die Rück¬
seite einer großen Platte und als sie dieselbe umkehrten, zeigte sich die herrlichste
Figur einer reitenden Amazone. Ein allgemeiner Schrei der Freude und Be¬
wunderung entfuhr den Lippen der türkischen Arbeiter, als sie diese „Kiz"
(Mädchen) sahen, wie sie die Figur nannten. Es war das erstemal, daß sie
in dem, was die Engländer da ausgruben, eine Ähnlichkeit mit etwas ihnen
Bekannten wahrnahmen. Beim Fortgang der Arbeiten kam man auf eine
noch wohl erhaltene marmorne Freitreppe und einen riesigen Steinblock, der
augenscheinlich zum Verschluß des Grabportals gedient hatte. An .der untern
Seile befanden sich dicke bronzene Dübel, welche jedoch nicht in die dazu be¬
stimmten Löcher eingesenkt waren, was durch Zufall unterblieben sein kann.
Wie Newton endlich in den Besitz jener im Castell eingemauerten Löwen
gelangt ist, mag mit den Worten seines Briefes erzählt sein.
„Während wir diese Entdeckungen im Mausoleum machten, warteten wir
ängstlich auf den Firman, der uns zur Fortschaffung der vor einem Jahr von
Mir entdeckten Löwen berechtigen sollte. Durch unvermeidbare Hindernisse ver¬
schleppte es sich jedoch und in derselben Zeit erhielt der Commandeur des Castells
plötzlich Befehl vom türkischen Kriegsminister, die Löwe» von den Wällen los¬
zubrechen und nach Constantinopel zu schicken. Er machte sich gleich ans Werk
und schon »ach wenigen Tagen waren zwei der schönsten heruntergeholt. Es
war für uns ein wenig erfreuliches Schauspiel, so vor unseren Augen diese Ar¬
beiten vollziehen zu sehen, zu denen wir bereits Gerüste und Maschinerien ganz
eigens mitgebracht hatten; dennoch schluckte ich meinen Aerger so gut ich konnte
hinunter und jagte zwei Briefe, einen zur See und einen zu Land durch einen
schnellen Läufer nach Smyrna, um Lord Stratford zu benachrichtigen, daß der
türkische Kriegsminister uns zuvorkommen wolle. Mein Bote eilte Tag und
Nacht und der Commandant betrieb seine Arbeiten mit nicht geringerer Hast.
Schon waren zwei weitere Löwen aus den Mauern aufgehoben. Hätte man
mir selber zwei Augenzähne aus dem Munde gerissen, es hatte mir keinen grö¬
ßer» Schmerz bereitet. Als der Commandant vier Löwen herunter hatte,
machte er mir in Begleitung aller vornehmen Türken von Budrum eine förm¬
liche Visite bei meinen Ausgrabungen. „Ihr habt blos kleine Bruchstücke ge¬
funden wie ich sehe", sagte er mit höhnisch triumphirender Miene; wir gruben
gerade einige Fragmente von Löwenkörvcrn aus, auch wohl gelegentlich ein
Bein oder ein Hinterviertel, aber keine Köpfe. Ich kochte vor Wuth. Noch
an demselben Tage wurden jene Löwen, sorgsam in Schaffelle eingepackt, an Bord
eines Ka'ik gebracht, um nach Kos geschickt zu werden. Zwei derselben hatte ich
Photographiren lassen und warf noch einen letzten liebevollen und wehmüthigen
Blick des Abschiedes auf diese kostbaren Reliquien aus der Schule des Skopas.
Das Kalk sollte, wie mir der Commandant mittheilte, noch in der Nacht absegeln
und krank am Herzen legte ich mich zu Bett. So war eine schöne Hoffnung
begraben. — Am nächsten Morgen um vier Uhr wurde ich plötzlich durch die
Stimme eines Milshipman von der Gorgo aus dem Schlafe geweckt. „Die
Schwalbe ist von Constantinopel gekommen und der wachthabende Offizier
meint, der Firman könne an Bord sein". Ich war über diesen Firman schon
so oft getäuscht worden, daß ich die Meldung mit skeptischen Gleichmuthe hin¬
nahm und verdrießlich wieder in Schlaf versank. Um 6 Uhr kam ein zweiter
Bote von der Gorgo und weckte mich: „Der Capitain will Sie augenblicklich
sprechen". Ich eilte an Bord und fand Towsey ungeduldig auf dem Hinterdeck
hin und her gehend, sein Schiffsboot lag fertig bemannt an der Längsseite.
„Wo sind Sie so lange gewesen", rief er, „der Firman ist da!" „Aber was
hilft uns denn jetzt der Firman", antwortete ich ganz niedergeschlagen, „die
Löwen sind fort!" „Das Kalk liegt noch im Hafen", erwiderte er, „und wartet
auf günstigen Wind zum Auslaufen; noch ist es Zeit". Ich sprang ohne ein
Wort weiter zu sagen ins Boot und wenige kräftige Ruderschläge brachten uns
in den Hafen. Der Führer des Kalks zog langsam und schläfrig an seinen
Ankertauen, um zu lichten. An der Spitze der Landungsbrücke stand der Arzt
der Quarantaine, ein Italiener, welcher an unseren Ausgrabungen lebhaften
Antheil nahm. „Lassen Sie das Kalt nicht fo>t!" rief ich ihm zu, „ich habe
einen Firman für die Löwen". „Werde ich besorgen", rief er zurück, „ich habe
seine Papiere noch, es kann nicht auslaufen, bevor sie unterzeichnet sind". —
Wir gingen gerades Wegs zum Castell und forderten den Commandanten zu
sprechen. Der war nicht wenig erstaunt, den Capitein des Kriegsschiffes mit
dem Consul zu so früher Stunde bei sich zu sehen. Er war augenscheinlich
eben erst aus seinem Uorgan aufgetaucht und sein Narguilch war kaum erst
angezündet. Wir redeten ihn mit der ganzen unziemlichen Hast an, mit welcher
die verrückten Engländer, wenn es sich einmal wirklich um etwas Ernsthaftes
handelt, in das Kieff eines Orientalen einzubrechen Pflegen, ohne erst den
Pflichtschuldigen Austausch gegenseitiger Komplimente abzuwarten. Nachdem ich
ihm kurzweg einen guten Morgen gewünscht, überreichte ich ihm den Firman
mit der befriedigten Miene kaltlächelnder Siegesgewißheit, mit der ein Whist¬
spieler beim ersten Stich Trumpf-As ausspielt. Die Türken gerathen selten in
Erstaunen, aber mein Freund der Commandant wurde sichtlich unruhig. Er
las den Firman mehrmals durch, das Document war in gültigster Form unter¬
zeichnet und gesiegelt, der Wortlaut dieser Hads-rs.eorxus Acte war so präcis,
daß an keine Ausflüchte zu denken war; die Löwen sollten mir ausgeliefert
werden, gleichviel ob sie noch an der Mauer oder schon eingeschifft waren.
Plötzlich blitzte dem Commandanten ein lichter Gedanke auf. „Der Firman".
sprach er. „redet von Löwen — asi-me-u- — aber die Thiere an den Mauern
des Castells sind Leoparden — eaxlavtar". „Halt äostoum mein Freund",
sprach ich, „aslimtlu' oder eg.Mirtu,r, Ihr wißt ganz gut, welche Bestien in
dem Firman gemeint und wo sie zu finden sind. Diese Bestien fordere ich und
keine anderen". „Aber", erwiderte der Commandant indem er mit plötzlicher
Schwenkung andere Gründe zum Widerstand hervorsuchte, „wer seil mir meine
Auslagen bezahlen? Die Summe, welche mir die Pforte dazu angewiesen
hat, ist so klein, daß ich die Kosten fürs Herunternehmen der Löwen größten-
theils aus meiner eigenen Tasche habe decken müssen". „Beruhigen Sie sich
über diesen Punkt vollständig, ich habe Auftrag, alle entstandenen Unkosten
zu berichtigen". „So wurden mir endlich die Löwen überantwortet." —
So erfreulich auch die gemachten Funde waren, welche besonders über die
Architectur viel Aufschluß brachten, so war doch der Gewinn an Sculpturen
nur mäßig, bis im Anfang des Sommers ein neuer Fund gemacht wurde,
der alle bisherigen weitaus an Wichtigkeit übertraf, ja das Bedeutendste ist,
^as seit langer Zeit überhaupt an Entdeckungen alter Kunstwerke vorgekom¬
men. An der Nordseite des Gebäudes nämlich war die Linie des Unterbaues
"icht gerade fortlaufend, sondern machte in der Nähe der Nordwestecke eine
starke Ausbiegung, welche die Fortsetzung der Ausgrabungen nach dieser Seite
hin veranlaßte. Newton berichtet in seinen Briefen über diese Arbeiten Folgendes:
„Als ich hier grub, wurde ich von einer Mauer aufgehalten, die in neuerer
Zeit aus Geröll aufgeführt war und das Besitzthum eines Türken nebst einem
Hause einhegte. Da dieselbe voll von Fragmenten des Mausoleums steckte,
so bat ich den Eigenthümer des Hauses um die Erlaubniß, sie abreißen und
noch ein wenig nördlich nach seinem Hause zu graben zu dürfen. Dieser wür¬
dige Mann, ein Imam, erlaubte mir wirklich nach einigem Zögern, einen Streifen
von sechs Fuß Breite innerhalb der Grenzmauer, welche wir niederrissen, zu
durchgraben. In dem Fundament der Mauer fand sich der Schwanz eines
kolossalen Pferdes eingemauert. Indem ich tiefer graben ließ, stieß ich aus
eine Mauer, d>e aus großen weißen Marmorblöcken prächtig zusammengefügt
war und mehr als sechs Fuß Höhe hatte. (Es war der Peribolos, die Um¬
fassungsmauer, welche die geweihte Stätte des Grabmals rings umgab.) Auf
der Oberseite dieser Mauer lag ein steinerner Löwe augenscheinlich wie er herab¬
gefallen war, Beine und Schwanz abgebrochen, aber der Körper vorzüglich er¬
halten und der Kopf ganz unbeschädigt; seine Zunge zeigte sich beim Auffinden
feurig roth bemalt. Hinter diesem Walle fand sich nach Norden zu eine Masse
großer Marmorplatten, eine über der andern im Boden aufgeschichtet. (Die¬
selben gehörten zu den Stufen der Pyramide, welche den obersten Theil des
Grabdenkmals bildete.) Nachdem wir die obersten derselben entfernt, sahen wir
unter ihnen die Falten eines bekleideten Torso. Wir holten denselben vorsich¬
tig heraus, obgleich die Arbeit bei dem Gewicht der überhängenden Platten
gefährlich genug war. Dann kam ein männlicher Kopf in drei Stücke geborsten
zum Vorschein, dann ein anderer bekleideter Torso und eine eigenthümliche
Marmormasse mit einem daran befestigten Vronzcstück, welche ich nach längerm
Betrachten alö die Hälfte eines kolossalen Pserdetopfes erkannte. Sogleich
durste ich für gewiß ansehen, daß ich jenem berühmten Viergespann auf der
Spur war, welches nach Plinius Bericht auf der Spitze der Pyramide stand.
Es zeigte sich, daß ich mich nicht getäuscht. Indem wir weiter gruben, fanden
wir fortwährend Stücke von Statuen und Löwen, bis wir zuletzt auf das
Hinterthnl eines Pferdes von enormer Größe stießen, das vor dem Vorderbug
durch eine Fuge abgeschnitten war und von der Schwanzwurzel bis zu dieser
Fuge über sechs Fuß maß. Die eine Hälfte der großen Masse lag in dem
Ackerstreifen, den ich durchsuchen durfte, die andere in dem Theil des Feldes,
an den ich kein Anrecht hatte. Ich erwartete, daß der Imam diese Gelegenheit
benutzen würde, um eine schwere Contnbution für das weitere Vordringen auf
seinem Besitzthum zu erpressen, aber glücklicher Weise hatte ich es diesmal mit
einem billig denkenden Manne zu thun, der es verschmähte, sich solcher klein¬
licher Vortheile zu bedienen. So erhielten wir volle EUaubniß, den Boden um
das große Pferd herum dergestalt bloß zu legen, daß wir unsere Triangel und
Flaschenzüge darüber aufpflanzen konnten. Nachdem wir es ordentlich heraus¬
gebracht, wurde es auf einen Schlitten gelegt und von 80 türkischen Arbeitern
an dle Küste geschleppt. Aus den Mauern und Dächern der Häuser, an denen
wir Vorüberkamm, saßen die verschleierten Weiber Budrums; nie hatten sie vor¬
her einen Gegenstand von solcher Größe gesehen und die Neugier überwand
die nach türkischer Etikette angemessene Zurückhaltung. Die Weiber Trojas
können nicht mit größerm Erstaunen das hölzerne Pferd angestarrt haben, wie
es durck die Mauerbresche in die Stadt gezogen wurde."
„Wir gruben weiter und etwa 12 Fuß ostwärts fand ich die andere Hälfte
vom Körper eines ähnlichen Pferdes, beim Ansatz der Ohren abgebrochen. Nach¬
her fanden wir einen der Pferdehufe, noch mit der Basis verbunden; auf dem¬
selben schmalen Streifen auch noch einen Kopf, wahrscheinlich den eines Apollo,
in drei Stücke gebrochen, und einen andern Löwen. Da wir hier so wichtige
Entdeckungen gemacht hatten, kaufte ich dann sogleich des Imaus ganzes Haus
und noch ein östlich daneben gelegenes. Nachdem ich letzteres heruntergerissen,
fand ich dicht davor die andere Hälfte des Pferdekopfes mit dem Bronzegebiß
noch im Maule und einen Theil eines kolossalen männlichen Kopfes, der nach
dem allgemeinen Eindruck der Züge unbedingt ein ideal behandeltes Porträt
und wahrscheinlich das des Maussollos selber ist; nahe dabei lag ein abgesplit¬
tertes Stück desselben bärtigen Kopfes, so daß drei Viertel des Gesichtes fast
unbeschädigt erhalten sind. Unter des Imaus Haus fand ich einen bekleideten
Torso und in den Kamin eingemauert einen mächtigen weiblichen Kopf mit
einem nach hinten herunterfallenden Schleier; das Gesicht war freilich vom Feuer
fast gänzlich zerstört. Auch ein weiblicher Kolossalkopf mit einem dreifachen
Kranz zierlich gedrehter Löckchen wurde an der Marmormauer gefunden."
„Als diese große Masse von Sculpturen entdeckt war, sahen wir unsern
Vorrath an Kistenholz beinahe gänzlich erschöpft und auch der Schiffsraum war
fast angefüllt. Aber die Hilfsmittel eines Schiffes sind gar mannigfaltiger Art.
Capitain Towsey half mit leeren Fässern aus, in welche viele Hundert Archi¬
tektur- und Sculpturfragmente säuberlich eingepackt wurden, indem jedes Stück,
um die Reibung zu vermeiden, in alte Hängematten und Brotbeutel eingeschlagen
wurde. So brachten wir alles unter, bis auf die ganz großen Marmorblöcke.
Die bekleideten Torfen, die aus Imaus Feld gefunden waren und die mit ihren
tief unterhöhlten Falten leicht verletzt werden konnten, wurden sorgfältig mit
Tauen ausgepolstert, dann in große Decken eingeschnürt und so dick umwunden,
daß sie Mumien glichen und dann einer auf dem andern in den Schiffsraum
hineingestaut. Die beiden Theile der kolossalen Pferde waren aber auch dafür
nu groß, sie wurden deshalb auf dem Deck befestigt und durch Segelleinwand
gegen das Wetter geschützt. So gelang es uns, 218 Packstückc von verschie¬
denster Art in der Gorgo unterzubringen. Als wir eben damit fertig waren,
kam der Supply an, welchen Lord Clarendon zur Unterstützung geschickt hatte."
Der Supply begleitete Newton auf seinen weiteren Reisen^nach Lniäus und
KriwvIMav, auch Stücke des Mausoleums nahm er noch aus und war nach Aus-
sage seines Capitains groß genug, um jede beliebige Anzahl von Mausoleen
fortzuschaffen. Bald darauf traf auch der Architect Mr. Pulian ein. um Grund¬
risse der untersuchten Orte Von Halikarnass aufzunehmen. — Die Ausgrabungen
rings um das Grabmal wurden bis zum Sommer 1858 fortgesetzt, an der
Südseite scheiterten sie aber am Widerstände zweier alter Türken, welche ihre
dort gelegenen Häuser durchaus nicht verkaufen wollten. Aber auch diese beiden
Gebäude sind im Jahre 1865 erworben, von dem englischen Viceconsul Biliotti
und Mr. Salzmann, dem Entdecker der rhodischen Alterthümer, abgerissen und
der Boden durchforscht worden. Die dort gefundenen Fragmente gehören eben¬
falls den Freher. freistehenden Statuen und Löwen an. Da übrigens noch in
einer Entfernung von 170 Fuß vom Grabmal Stücke gefunden wurden, außer¬
dem sehr vieles als Baumaterial in den Häusern und Gartenmauern der ganzen
Stadt verschleppt ist, so ist ein Ende einzelner nachträglicher Entdeckungen gar
nicht abzusehen. In Original und Abguß ist jetzt im Lr. Nus. alles vereinigt,
was, so weit unsere Kenntniß reicht, von dem Wunderbau der Zerstörung ent¬
gangen ist. Leider sind diese Schätze noch in ganz ungenügender Weise aufgestellt,
eigentlich nur untergebracht. Noch wird in London fortwährend an der Zusam¬
mensetzung des Vorhandenen gearbeitet; in langen Reihen stehen die jämmerlich
veistümmelten Statuen und die zerschlagenen Neste der Friese; von den 20 Löwen,
die theilweise gerettet sind, ist keiner im Vollbesitz seiner Glieder. Auf langen
Brettern liegen sorgsam geordnet einzelne Gliedmaßen, die Stücke von Armen
und Beinen zählen nach Hunderten; die meisten der Platten, denen sie ange¬
hört, werden längst zu Kalk gebrannt sein, aber doch noch gelingt es hin und
wieder, das eine und andere der Gliedmaßen dem frühern Eigenthümer wieder
anzupassen.
Ehe wir auf die Sculpturen eingehen, wird es nöthig sein, die für die
Kenntniß des Gebäudes gewonnenen Resultate zu betrachten. Bis zur Auf¬
findung der Neste desselben war man auf die Beschreibung des Plinius an¬
gewiesen. Aus dieser geht mit Sicherheit nur Folgendes hervor: Es bestand
ans einem von 36 Säulen umgebenen Bau, dem Pteron, welcher oblong und
37'/- Fied hoch war. Darüber erhob sich eine Pyramide von 24 Stufen, welche
eben so hoch war als der untere Theil. Der Gcsammtumfang betrug 411 Fuß.
Die Gesammthöhe 140 Fuß, — Es blieben also in der Höhe noch ohne Be¬
leg 65 Fuß, mit denen nun die Restauratoren nach Belieben schälkelen. Alle
vor der Entdeckung der Ueberreste gemachten Aufrisse — und es giebt deren eine
große Zahl — haben jetzt ihre Bedeutung verloren. Zu vielen Irrthümern
trug auch eine Münze der Artemisia bei, auf der sich eine Abbildung des Mau¬
soleums zeigte, die sich aber nachträglich als Fälschung erwies.
Festgestellt ist nun soviel: 1) Die Höhe des Säulenbaues von 37'/- Fuß
ist von Plinius richtig angegeben. An jeder Längsseite standen 11. an jeder
Schmalseite 9 Säulen ionischer Ordnung von 29 Fuß Höhe. Sie sind auf das
sorgfältigste gearbeitet, die einzelnen Trommeln greifen mit bronzenen Dübeln,
um welche sie sich beim Aufschlcife» drehten, in einander ein; jede Säule hat
24 Canellirungen; der Stern der zierlich geschwungenen ionischen Voluten ist
nirgends erhalten, er war entweder aus einem besonders zart bearbeiteten
Stück Marmor oder auch aus Erz eingesetzt. Von höchster Schönheit und sorg¬
fältigster Arbeit sind die einzelnen arckitectonischen Ornamente, vor allem die
Palmetten und wasserspeienden Löwenköpfe des obersten Kranzgesimses. 2) Die
Pyramide läßt sich durch die eihaltcnen Stufen genau bestimmen. Bei der
ersten Zerstörung fiel nämlich die Spitze der Pyramide mit dem großen Vier¬
gespann herunter und zwar so in den Winkel, welchen die Umfassungsmauer
mit dem Erdboden bildet, daß sie von der einen Seite geschützt war und jeden¬
falls sehr bald mit Schutt und Erde überdeckt wurde, sodaß selbst die bron¬
zenen Krämpen und Pferdegebisse der Beutelust christlicher und heidnischer
Plünderer entgingen. Von der Wagen>Gruppe ist soviel erhalten, daß sich ihre
Höhe auf etwa 14 Fuß berechnen läßt. Da die Stufen deutlich zeigen, um
wie viel eine jede vorsprang und wir ihre Zahl kennen, so läßt sich die Höhe
und Breite des Stufenbaues auf etwa 23 Fuß, sein unteres Maß auf 103
Fuß zu 86 Fuß bestimmen. — Alles Weitere bleibt nun der Berechnung über-
lassen. Die von Newton und dem Architecten Pulian angestellte giebt folgende
Resultate: das Pteron ist 37'/. Fuß hoch, nach Plinius soll die Pyramide so
hoch gewesen sein als der untere Theil; der Stufenbau kann zu 24' 6", das
Viergespann zu 13' 3'/," angenommen werden; verstehen wir beides zusammenge¬
nommen als Pyramide, so ist diese 37' 9', also fast genau ebenso hoch wie das
Pteron; bleibt für den von Plinius nicht erwähnten Unterbau 63 Fuß. — Dagegen
trat Fergusson auf, wollte das Viergespann bei der Messung der Pyramide
uicht mitzählen, und um die Höhe herauszubekommen, setzte er auf die oberste
Stufe noch ein hohes Postament, welches die Quadriga getragen habe. — Eine
entschiedene Aenderung brachte Adler in Berlin auf, welche auch von Petersen
in Hamburg vertreten wird. Darnach ist der untere Theil, der nach Plinius
Ateles hoch der Pyramide ist. nicht sowohl das Pteron als vielmehr der
Unterbau, welcher also demnach von Plinius nicht übergangen ist. Pteron
und Quadriga geben 32', theilt man den Nest, so erhält man für den Unter¬
bau und Pyramide je 44'. Da der eigentliche Stufenbau nur etwa 23'
beträgt, so bleiben noch 19 Fuß zu vertheilen, wofür Adler, Petersen und Ur¬
lichs auf dem Rande deö Pteron einen attikaartigen senkrechten Aufbau anneh¬
men, auf dem dann erst die 24 Stufen anfangen. Ein Theil dieser 19' wird
auch von einigen dieser Erklärer für ein Postament verwendet, welches sich
Zwischen Stufenbau und Quadriga schieben soll. Eine feste Entscheidung über
diese Fragen wird wohl erst dann möglich sein, wenn bei dem einstigen Zer-
fall oder Zerstörung des Castells zu Budrum erhaltene Baustücke aus dem Ge¬
mäuer herausgezogen werden sollten, was allerdings zu hoffen ist. — Eigen¬
thümlich ist diesem Baue die Vermischung asiatischer und hellenischer Elemente,
die für jene Herrscherfamilie freilich charakteristisch ist. War die Pyramide ein
Nachbild der kegelförmigen Erdhaufen und Aufsähe, die nach aitorientalischer
Sine sich über den Gräbern der Fürsten erhoben, so trat diesem barbarischen
Element der edle Tempelbau, den Hellas seinen Heroen widmete, zur Seite.
Uebrigens mag auf die Gesammifonn die Gestalt der sorgfältig gezimmerten
oben sich zuspitzenden Scheiterhaufen eingewirkt haben. Jene oben erwähnten
Gänge dienten als Abzugscanäle für das sich ansammelnde Grundwasser und
rühren auch wohl zum Theil von alten Steinbrüchen her.
Der großartige Bau war nun auf das reichste mit Sculpturen geschmückt,
von denen uns die erhaltenen Reste wenigstens zum Theil genügende Vor¬
stellung geben. Am erfreulichsten ist die Erhaltung des mächtigen Viergespanns
mit der Statue des Maussollos selbst. Sie ist 9' 9V2" hoch und war
in 65 Stücke zersprungen, die jedoch so sorgfältig zusammengesetzt sind, daß
nur ein Stückchen an der Nasenspitze, Theile der Heruntersallenden Locken, der
linke Fuß vom Knöchel an und die beiden Arme fehlen. Nase, Fuß und
einige Abstvßungcn in den Falten hat man am Original mit Gyps ergänzt,
sodaß bei der sonstigen vorzüglichen Erhaltung der Figur der Gesammtein-
druck ein so vollständiger und ungetrübter ist. wie bei wenigen erhaltenen
Monumenten griechischer Zeit. Der Fürst ist in einen weiten Mantel gehüllt,
dessen vollendet schöner Fa'tcnwurf die Pracht des helbenmäßgen Körpers
zur vollen Geltung bringt. Am Halse wird ein wollenes Untergewand sichtbar.
Der Kopf entschieden porträtmäßig, ist gleichfalls von idealisirender Auffassung
durchdrungen. Das Haar, mähnenartig über der Stirn emporragend, fällt in
langen Locken aus die Schultern herab; der kurzgeschorene Bart um Kinn und
Wangen und der volle herunterhängende Schnurrbart zeigen- den Barbaren; auch
die Züge des Gesichts sind nicht von hellenischem Adel, aber kräftig und ent¬
schieden und durchaus nicht unschön. Ueber die Haltung der Arme kann man
zweifelhaft sein, der linke ruhte vielleicht ausgestreckt auf einem langen Scepter.
— Die Stellung des Maussollos in seinem Viergespanne aus der Spitze der
Pyramide sollte jedenfalls sein Auffahren zu den Göttern darstellen, eine Auf¬
fassung wie sie auch anderweitig bekannt ist; diesem Vorgange entspricht die
hoheitsvolle Haltung der großartigen Statue. — Untermischt mit den Trümmern
derselben fanden sich die Bruchstücke einer reich bekleideten weiblichen Figur von
entsprechender Größe, was zu der Vermuthung berechtigt, dieselbe habe neben
ihm auf dem Wagen gestanden. Newton will in ihr die Schutzgöttin des
Königs oder die Personification des Landes Karten erkennen. Leider sind die
Gesichiszüge des Kopses, welcher in einem Kamin eingemauert war, nicht mehr
erhalten, wohl aber scheinen die für eine Idealfigur zu reifen weiblichen For¬
men und auch die eigenthümliche Behandlung des Haares, das in drei Reihen
zierlicher Löckchen geordnet ist, eher auf eine Porträtfigur hinzuweisen. Man
würde dann wohl nur an Artemisia denken können, wobei die Möglichkeit
freilich nicht ausgeschlossen ist, daß unter ihrem Bilde das Land Karten dar¬
gestellt war. Außer der Beschädigung des Gesichts fehlen der Figur die Unter¬
arme und die Spitze des linken Fußes, im übrigen ist sie vorzüglich erhalten
und gehört zum Besten, was die Antike an Gewandstatuen hinterlassen.
Bon dem Wagen selbst sind nur kleine Bruchstücke aufgesunden, doch
ließ sich die Größe des 7' 7" Zoll hohen Rades bestimmen. Von den Pfer¬
den ist wenigstens ein Vorderteil) mit Hals und Kopf sowie ein Hinterleib voll¬
ständig da. Sie sind freier und malerischer behandelt, als wir es sonst an grie¬
chischen Pferden kennen; die Mähne flattert herab, die ganze Oberfläche ist
wellig und rauh bearbeitet. Freilich muß immer die Höhe von 140', in welcher
sie standen, in Betracht gezogen werden, einzelne von unten nicht sichtbare
Theile, wieder Rücken, scheinen vernachlässigt.
Die Bruchstücke menschlicher Figuren, welche sonst noch erhalten sind, be¬
finden sich sämmtlich in einem so jämmerlich verstümmelten Zustand, daß man
selten auch nur die Stellung derselben bestimmen kann. Die meisten sind jedoch
über lebensgroß. Eine Reihe derselben mag zwischen den Säulen gestan¬
den, andere zum Unterbau gehört haben. An einer sitzenden Figur hat man
Ähnlichkeit mit Zeusdarsiellungen finden wollen, ein Kopf wird als Apollo be¬
zeichnet, doch scheint die an mehreren erkennbare eigenthümliche Lockenfrisur, so
wie ein Kopf mit phrygischer Mütze darauf hinzuweisen, daß auch Pvrtrcit-
statuen, vielleicht aus der Familie oder der Ahnenrcihe des Verstorbenen darunter
ju suchen sind.
Unter den vielen Thierfiguren nehmen die Löwen den ersten Rang
wi. Ihr Erscheinen hat nichts Auffallendes, da der Löwe als Wächter des
Grabes ein sehr gebräuchliches Symbol ist. Dieselben sind an 5 Fuß hoch,
jedoch nicht alle von ganz gleicher Größe, so daß man annehmen kann, sie seien
M Punkten von verschiedener Höhe ausgestellt gewesen. Die Behandlung der
Formen ist auch nicht gleichmäßig, zuerst sind sie nach einem ziemlich starren
Schema gestaltet und so den strengen Formen der Architectur angepaßt; da¬
neben sind aber einzelne Köpfe von höchster Lebendigkeit und Naiurwahrheit;
auch die große Verschiedenheit i» der Haltung der Krallen ist bemerkenswerth.
Stücke anderer Thiere, Löwin, Panther, auch ein kolossaler Widder, ein Ochse,
ein Bär kamen vor, und da ein Hund von einer dem Bären entsprechenden
Größe gefunden ist, so können dies Theile einer Jagd sein. An eine Anzahl
freistehender Gruppen muß man wohl denken, denn es finden sich Figuren auf
einer Basis, die Felsboden darstellt, auch die erwähnte ansprengende Reitersigur
kann nur in Verbindung mit einer andern gedacht werden, vielleicht einem nieder¬
geworfenen Feinde oder einem Thiere, welches das Pferd von unten her anpackt.
Genügendere Vorstellung können wir uns von der Darstellung des Frieses
machen. Derselbe umgab an dem Architrav des Pterons den ganzen Bau in
einer Länge von etwa 370 Fuß. Da die 12 Platten des Castells, die aus
Genua und die vier unter den Trümmern gefundenen über 90 Fuß Länge haben,
so ist doch immerhin der vierte Theil gerettet, die Platten sind 2' 11'/-" hoch.
Da sie in einer Höhe von 80—90' angebracht waren, sind sie in sehr starkem
Relief gearbeitet, Arme und Beine treten frei heraus und sind infolge dessen auch
stark verletzt. Dargestellt ist eine Amazoncnschlacht; die Kämpferinnen sind zum
Theil beritten, die Griechen sämmtlich zu Fuß. Die besterhaltenen Platten sind
die vier von Newton gefundenen, und da sich dieselben an der Ostseite, wo
Skodas arbeitete, befanden, so dürfen sie vermuthlich diesem Meister direct zu¬
geschrieben werden, und zwar um so eher, weil sie Figuren von einer Schönheit
enthalten, die neben dem berühmten Torso der Niobide im Museum Lniaramoirti
bestehen kann. Besonders sind die Körper der Amazonen von wunderbarer Fülle,
Frische und Lebendigkeit. Auch auf 3 Platten des Castells wird man berechtigt
sein, dieselbe Hand zu erkennen, die anderen sind von geringerer Bedeutung,
und auch wenn es uns nicht überliefert mare, daß verschiedene Meister an den
Sculpturen thätig waren, dieser Vergleich würde es ergeben. Arge Flüchtig¬
keiten begegnen nicht selten. Ueberhaupt erscheinen alle Figuren stark in die
Länge gezogen, was jedoch in der Rücksicht auf die perspectivische Wirkung be¬
gründet sein ma.;. Letzterm Umstände wird man es wohl auch zurechnen müssen,
daß die Figuren fast niemals in ähnlicher Weise wie auf dem Parthenon oder
Theseion zusammengedrängt sind, sondern vielmehr in loser Vertheilung auf
der Fläche für eine silhouettenhafte Wirkung berechnet erscheine». Durchgehende
sind sie viel gewaltsamer, üppiger und mehr aus Effect gearbeitet, als die Werke
aus der Zeit des Phidias.
Noch von zwei anderen Friesen sind Bruchstücke gefunden, und zwar von
einem Kentaurenkampf und einem Wagenrcnnen. Zu jenem gehört eine der
13 Platten des Castells, welche um einen Zoll niedriger ist als die vorigen
und von dem ersten Herausgeber Braun dem Amazonenkampf zugezählt wurde;
einige andere Stücke desselben wurden von Newton gefunden. Welche Stelle
er am Gebäude eingenommen hat, läßt sich nicht bestimmen, doch darf man aus
dem sehr starken Relief auf ziemliche Höhe schließen.
Von flachem Relief und zartester Arbeit ist dagegen der dritte Fries.
Von den Wagenlentcrn, die in langen Kleidern dargestellt sind und daher von
Newton fälschlich für Weiber angesehen wurden, ist besonders einer fast unver-
sehit erhalten, der die vollendetste Arbeit zeigt. Auch der Marmor ist viel seiner,
sodass man ihm wohl einen Platz im Innern des Gebäudes anweisen darf. Es
sind von demselben an 100' Bruchstücke gefunden worden. Auch einige Reliefs
in Nahmen eingeschlossen fanden sich vor.
Unter den mannigfaltigen Gegenständen, die sonst noch erhalten sind und
aus Terracotten. kleinen Schmucksachen, Gefäßen u. s. w. bestehen, zeichnet sich
eine große Alabastcrvase aus, auf welcher in Hieroglyphen und Keilschrift Na¬
men und Titel des Xerxes in verschiedenen Sprachen eingegraben sind. Sie
entspricht vollständig einer in Griechenland gefundenen Vase von gleichem Ma¬
terial und mag wohl als Weihgeschenk in der Grabkammer aufgestellt gewe¬
sen sein. —
Man denke sich nun dieses weithin sichtbare Prachtdcnkmal mit dem mäch¬
tigen reichverzierten Unterbau, seinen Grabtempel von 36 herrlichen Säulen
umgeben, die 24 Stufen hohe Pyramide, die wie frei in der Luft schwebend
auf der zierlichen ionischen Attika ruhte, das Viergespann und die hohcitsvolle
Gestalt des Fürsten, die Hunderte von Statuen, welche das Denkmal schmückten,
die Schaaren von Löwen, von den Zinnen herabschauend, die kühn belebten
Friese, die viele hundert Fuß lang die Hallen umspannten, alle die Götterge-
stalten und Ahnenbilder, Reiter- und Jagdstücke: — und alle diese aus dem
edelsten Marmor gebildeten Werke strahlend in der buntesten Farbenpracht einer
durchgehenden Bemalung.
Bekanntlich wird die Frage, wie weit die antiken Tempel und Bildwerke,
die wir nur in ihrem natürlichen Weiß kennen, bemalt waren, seit einer Reihe
Von Jahren von den Kunstgelehrten mit besonderer Vorliebe behandelt. Aus
den vorgefundenen Spuren, auf die man erst in letzter Zeit aufmerksam gewor¬
den, ist jedenfalls schon so viel festgestellt, daß an allen vorhandenen Gebäuden
die Ornamente farbig waren. Wenn nun auch bei manchen Bauten die be¬
sonders von Hittorf und Semper vertheidigte durchgehende Bemalung noch
streitig ist, beim Mausoleum ist sie außer Frage gestellt. Und zwar waren hier
sehr kräftige und satte Farben angewandt. Von ultramarinblauem Grund
hoben sich die Ornamente scharlachroth ab, der Fond der Friese war ebenfalls
tiefblau, die Figuren vollständig bunt, auch das Fleisch mit dem kräftigen
bräunlichrothen Ton, welcher den südlichen Völkern eigen ist; die freistehenden
Figuren in purpurfarbene Mäntel gehüllt, die Löwen braungelb mit rothge-
Wbten Nachen, Waffen und Geräthe von vergoldeter Bronze. In den Falten
der Gewänder und an anderen geschützten Theilen fanden sich die Farbenspuren
in solcher Menge und so übereinstimmend vor. daß kein Zweifel darüber ob-
waltet. An der freien Lust sind sie schnell verblichen, doch ist einiges durch
besondere Vorsichtsmaßregeln noch erhalten worden.
Diese wichtige Thatsache wird in unserer Anschauung von dem Aussehen
antiker Bauten und Statuen eine gewaltige Umwälzung fördern helfen, die
Dar schon seit längerer Zeit angebahnt ist, aber an der von Jugend an ge-
wohnten Vorstellung von der schneeweißen Antike einen schwer zu besiegenden Geg¬
ner hat. Vielleicht gelingt es bei dem neuentdeckten Mausoleum, welches in seiner
jetzigen weißgrauen Erscheinung noch nicht mit unseren Vorstellungen verwachsen
ist, das gewohnte Vorurtheil gegen die farbige Kunst zu überwinden; es wave
wohl noch leichter sein, wenn man in jener glücklichen Welt gelebt oder wenn
es jemandem gelingen könnte, den tiefblauen Himmel, das helle Grün der nie
welkenden Eichenhaine, das schimmernde Silbergrau der Oliven, die Purpur-
gluth des hellenischen Meeres mit der strahlenden Inselkette deS Archipelagus
würdig zu schildern. Ein werthvoller Anhaltspunkt ist unserer Phantasie in
der Beschreibung der Tracht der kleinasiatischen Griechen gegeben, die sich bei
Athenäus erhalten hat und auch von Semper zu diesem Behuf angeführt wird:
„Die Joner in Ephesus haben veilchenblaue, purpurn und safrangelb gemu¬
sterte Unterkleider, deren Bordüren gleichmäßig mit allerhand Arabesken ge¬
schmückt sind, ihre Mäntel sind apfelgrün und purpurn oder weiß, zuweilen
auch dunkelviolett wie das Meer. Die Kalasiren (lange mit Troddeln besetzte
Gewänder) sind korinthische Arbeit, davon sind einige purpurfarbig, andere
vcilchenfarbig. andere wieder hyacinthfarbig; manche nehmen sie auch feuer-
vdcr mecrfarbcn. Auch sind persische Kalasiren häufig, die schönsten von allen;
man sieht auch sogenannte Aktcicn, die unter allen persischen Ueberwürfen als
die kostbarsten gelten, ein sehr dichtes Gewebe, durch Dauer und Leichtigkeit
gleich ausgezeichnet und mit goldenen Flittern besäet. Jedes Flitterchen ist mit
einem durch das mittlere Auge gezogenen Purpurfaden an die innere Seite
des Gewandes befestigt."
In einer Umgebung von so überschwenglicher Farbenpracht kann gewiß
ein Gebäude nur harmonisch wirken, wenn es sich gleichfalls durch kräftige und
entschiedene Färbung zur Geltung bringt.
Leider fehlt es in Deutschland noch fast gänzlich an den Hilfsmitteln, um
eine Anschauung jenes Weltwunders zu gewinnen. Nicht einmal für das
berliner Museum sind die Abgüsse von der Kolossalstatue des Maussollos
und den neu gefundenen Bildwerken und Architccturrcsten angekauft, nur die
Abgüsse der in Budrum und Genua erhaltenen Platten sind vorhanden, aber
an verschiedenen Wänden des Treppenhauses so zerstückelt und hoch angebracht
daß eine Würdigung derselben kaum möglich ist.*) Dagegen befindet sich im
donner Museum die Figur des Maussollos schon seit länger als einem Jahre,
und so gehört für den, der nicht gerade nach London fahren will, der alte
Asiatenfinst einstweilen zu den Sehenswürdigkeiten des Rheinlandes. Übri¬
gens ist auch der jetzige provisorische Aufbewahrungsort der Originale im Li-i-
tislr Nuseum wenig dazu angethan, die Schätze völlig genießbar zu machen.
Dazu muh die Vollendung der neuen Baulichkeiten abgewartet werden deren
Julius Lessing.
Noch dauert, während dies geschrieben wird, das Staunen über ein mili¬
tärisches Abenteuer, welches seit den Zeiten des dreißigjährige» Krieges nicht
möglich war; auf demselben militärischen Operationsgebiet agirten zu gleicher
Zeit vier Hccrkörper neben einander, von denen jeder eine andere Politik ver¬
focht und starkes Mißtrauen oder feindselige Gesinnung gegen die Sache, den
Feldherrn oder die Mannschaft der übrigen Heere hegte. Da sich die vier
Parteien im Patrimonium Petri nicht so einigen konnten, wie die Midshipmen
des Cpt. Marryat bei dem berühmten Triangclbuell, daß jeder auf seinen Nach¬
bar zur Rechten schieße und dieser den Schuß weiter gebe, so mußte eine Ver¬
einigung von zwei gegen zwei oder von drei gegen einen stattfinden. Das
Letztere trat ein. Den unklaren Stellungen folgt eine neue Unterordnung Italiens
unter die französischen Waffen, wobei Ganbaldi geopfert und die Verlegenheit
des Kaisers Napoleon dadurch abgewandt wird, daß er in der Form Recht be¬
hält und aufs neue als der große Schiedsrichter italienischer Wirren erscheint,
und baß in Wahrheit die letzte Lösung der römischen Frage wieder auf einige
Jahre hinausgeschoben, Italien vielleicht mit einnn neuen Lappen des Kirch^n-
Itaates und mit neuen Schulden de» P-,ipstthums begabt, und der Mißmuth
der Italiener und der Mißmuth der Franzosen über neue unfruchtbare Halbheit
gesteigert wird. Aber selbst dieser friedliche Ausgang ist noch keineswegs
gesichert.
Die deutsche Presse darf im ganzen das Lob für sich in Anspruch nehmen,
daß sie das Große und Gute in der Politik Kaiser Napoleons unbefangen gc-
wnrd!ge und die besonderen Schwierigkeiten seiner Stellung gerecht beurtheilt
hat. Als der Kaiser im Bündniß mit England den Knmkricg unternahm,
im Bündniß mit Italien gegen die Heere'Oestreichs einen neun großen
Staat schuf und die folgenden Friedensjahre dazu benutzte, um in Frankreich
die wirthschaftliche Herrschaft der Schußzöllner zu brechen; da war in ganz
Europa die Empfindung oben auf, daß er trotz seines Cäsarismus nicht nur
dem französischen Volk wohlzuthun wußte, sondern baß in seinem sinnenden
Haupt auch große Gedanken zur That wurden, deren Segen für Europa größer
war. als die'Gefahren seines Negieiungsprincips. Freilich war schon damals
in seiner Politik etwas, was ihm die höchsten Resultate beeinträchtigte; der
Friede mit Nußland brachte keinen dauernden Gewinn, der in irgend wei.dem
Verhältniß zu Blut und Kosten des Kampfes stand; die zerstörten Schiffe Ruß-
lands sind wieder gebaut, weder sein Einfluß noch seine Eroberungen im Omme
wurden gedämmt' nur für die Türkei wor ein neues Provisorium von einigen
Jahren geschaffen.' und Kaiser Napoleon hatte sich den Franzosen und dem Aus¬
land aus einige Jahre imponirend gemacht. Auch in Italien, wo ein großes Volk
nach nationaler Unabhängigkeit rang, war der erste Sieg nicht ganz noch dem Willen
"
des Kaisers; seine Pläne für Venetien wurden durch die Zeit und zuletzt durch
die preußischen Waffen als unhaltbar widcüegt, die Bewegung überflog seinen
Willen und den persönlichen Erfolg, den er nach dem Frieden von Villafranca
gewonnen, er hatte der Mehrzahl der Italiener Gelegenheit gegeben, zu einer Nation
zusammen zu wachsen; aber er hatte ihnen zu gleicher Zeit'Grenzpfähle gesteckt,
welche den nationalen Stolz tief demüthigem und vielen die Abhängigkeit des neuen
Staates von Frankreich als unerträgliche Last erscheinen ließen'. Auch bei den
großen Culturen im Innern machten die Franzosen die Erfahrung, daß kräftige
Gedanken des Kaisers sich bei der Aiisfühning in kleinlicher Weise umbogen. Es
war ein großer Plan des unbeschränkten Herrschers, holzarmen Landschaften
die versiegenden Wasseradern dadurch zu füllen, daß seine Regierung die An¬
pflanzung von Wäldern im größten Stile begann. Aber in die Ausführung
eurer radicalen Maßregel drängten sich schwächliche Rücksichten, welche sie zum
großen Theile illusorisch gemacht haben. Es war wieder ein starker Gedanke,
den Volksunterricht neu zu orgarufiren, und wieder hat die Rücksicht auf die
Herrschaft der katholischen Geistlichkeit und die Unzufriedenheit unwissender Land¬
bewohner dem Willen das Vollbringen verkümmert.
Wir Deutsche verstehen leicht, daß die Macht des Kaisers der festen Grund¬
lagen entbehrt, durch welche das herkömmliche Regiment eines Fürstenhauses
gestützt wirb. Er hat seine Herrschaft den Franzosen aufgezwungen und ist
immer noch in der Lage, seine Berechtigung dadurch zu erweisen, daß er einer
stolzen und sehr empfindlichen Nation gefälligen Ruhm und Erfolge darbietet.
Wenn er in den letzten Jahren auch nach dieser Richtung kein Glück gehabt
hat, so blieben die Fehler in seiner Rechnung niemandem verborgen. Bei der
Expedition nach Mexico, in den Verhandlungen um Luxemburg waren es durch¬
aus zufällige persönliche Aufsagungen, und das momentane Bcdmfniß, durch
neue Überraschungen zu imponiren, welche ihn zu gewagten Schritten fortge¬
rissen haben, die nur ein glänzender Erfolg rechtfertigen konnte. Und im letzten
Grunde scheint er selbst bei diesen Operationen im innern Zwiespalt gewesen
zu sein. Die mexicanische Expedition war zuerst ein Fraucnproject, dem er
halb passiv nachgab. Auch in der Frage unserer Westgrcnzen ist der Kaiser
zuverlässig überzeugt, daß die Befestigung des deutschen Staates auf die Länge
nicht zu verhindern ist, und daß diejenige Politik ernste Gefahren bereitet,
welche einer aufstrebenden Nation Demüthigungen aufzuerlegen sinnt. Aber
seine Abhängigkeit von Erfolgen und sein Bedürfniß, die Vorurtheile und Ani¬
mositäten der Franzosen zu respectiren, ist so groß, daß er trotzdem gewagte
Geschäfte, bei denen ihm selbst vielleicht unheimlich ist, nicht zu meiden vermochte.
Noch ausfallender wird dies vor der neuesten Entsendung seines Heeres in
den Kirchenstaat. Wenn es etwas giebt, was ihm seinem ganzen Wesen nach
unbequem sein muß, so ist dies die 'gegenwärtige Stellung des Papstthums zu
den Regierungen. Er hat nie Besseres in !)loin gefunden, als Mitztrauen und
Feindseligkeit, das Ideal seines Cäsarismus wäre eine französische Landeskirche,
deren Katholicismus auf Cultur und Nationalität des Volkes beruht, welches
er beherrscht. Und doch wollte er nicht vermeiden, für eine unfruchtbare und
auf die Dauer unmögliche Conservirung der weltlichen Macht Sr. Heiligkeit
marschiren zu lassen und den Frieden Europas und seine eigene Stellung in
Frankreich dadurch zu gefährden.
Man behauptet, daß die ganze Expedition im geheimen Einvernehmen mit
dem König von Italien unternommen sei, daß der Marquis Pepoli die vertrau-,
lichen Verhandlungen eingeleitet habe, welche jetzt Lamarmora fortführe, und daß
der Kaiser nichts anderes beabsichtige, als die Stadt Rom und die Häuslichkeit
des Vaticans für ein freies Hospiz der Christenheit zu erklären, den Italienern
aber die Provinzen des Kirchenstaats zu überlassen. Wäre dies der Fall, so
würde dieser plötzliche Feldzug ein übergefähriichcs Spiel, das dem Kaiser zuletzt
nur Schaden dringen könnte, weil es Eifolge von vorn herein ausschließt und
den Stolz der Franzosen aufregt und täuscht. Man erklärt sich das gewagte
Einrücken der Italiener leichter aus dem absoluten Zwange, in welchen die
italienische Negierung durch die übereilte Expedition der Franzosen versetzt war.
Wenn sie nach den'Mißerfolgen deS letzten Jahres den Fremden die Dispo¬
sition über die Zukunft des Kirchenstaates überließ, so war dies in den Augen
der Italiener einer Abdankung Victor Emanuels gleich und das Signal zu
revolutionären Bewegungen und zum Abfall unzufriedener Provinzen/ Wohl
aber wußte sie, daß die persönliche Ansicht des Kaisers einer Conservirung der
weltlichen Macht des Papstes nicht leidenschaftlich zugethan sei, und hegte die
Hoffnung, durch entschlossenes Behaupten einer selbständigen Stellung'zuletzt
aus der Verlegenheit Frankreichs bessere Bedingungen zu erhalten. Aber frei¬
lich wich ihr Muth bei dem Drohen Frankreichs, und der Rückzug ihres Heeres
kann leicht das Signal zu einer Aufregung in Italien werden, welche ihr den
Zwang auflegt, von neuem Widerstand zu leisten.
Auch in diesem Falle gehört die römische Expedition des Kaisers zu den
unheimlichsten politischen Unternehmungen, welche unser Zeitalter erduldet hat,
die Krieaslunten flackern über dem Pulverfaß, und niemand vermag zu sagen,
welche Entscheidung die nächsten Wochen bringen werden.
Unsere Stellung zu der Frage kann nicht zweifelhaft sein. Es handelt
sich für uns zunächst nicht darum, ob der Kirchenstaat als souveräner Staat
dauern soll oder nicht, sondern sehr entschieden darum, ob Europa das herrische
Disponiren des französischen Kaisers über das Schicksal fremder Nationalitäten
noch schweigend ansehen darf. Wir Deutsche brauchen Frieden und wollen
Frieden halten; aber dem Bunde liegt ob, wie jeder Großmacht Europas darüber
Zu wachen, daß dieser Friede nicht allstündlich durch einen großen Kriegsbrand ge¬
fährdet werden kann. Der Kaiser selbst hat durch die Constituirung des Königreichs
Italien, ja sogar durch die gewundenen Bcstimmmigen des Septembervertrags
die Italiener darauf hingewiesen, die nationale Einheit ihres Landes zu fordern;
wenn Kaiser Napoleon jetzt seine Brigaden den Konsequenzen einer politischen Lage,
die er selbst geschaffen, entgegenwiift, und die italienische Regierung dadurch in
Italien selbst unmöglich macht, so haben wir vor allem eins'einzuwenden: ein
deutsches und ein europäisches Interesse ist geworden, daß die Negierung König
Victor Emanuels dauere und sich befestige'; wer jetzt mit Waffengewalt dahin
arbeitet, die Consolidirung Italiens unmöglich zu machen, der thut, was zum
Schaden Europas ist und es liegt im gemeinsamen Interesse, diesem Zerstörungs-
Mebe zu steuern.
Wir haben in Italien zunächst ein europäisches Interesse zu wahren,
^'si in zweiter Linie ein deutsches. Es ist also anzunehmen, daß die Bundes-
^gierung vor allem versuchen wird, in Gemeinschaft mit anderen Großmächten,
"ut England und Rußland, ihre Entschlüsse zu fassen. Unsere specielle Seel-
^""g zu Frankreich ist uns keinen Augenblick zweifelhaft. Wir haben herzliche
»nedensversicherungcn des Kaisers erhalten, und wir wissen, daß seine Nüstun-
s^n mit einer Hast und Energie fortgesetzt werden, welche nicht vorzugsweise
^allen im Auge hat, und welche den'Kaiser vielleicht wider seinen Willen zum
Kriege fortreißen kann. Wir beobachten auf Gruß und Streit gefaßt diese
Entgegengesetzten Strömungen seiner Gedanken oder seiner leitenden Umgebung.
"^U' haben bei der Organisation unseres Heeres nicht nöthig, zum Kriege zu
rüsten und wir werden die friedliche 'Arbeit, in welcher wir jetzt stehen, die Be¬
festigung und Erweiterung des deutschen Bundes, nicht abhängig machen von
zufälligen Drohungen oder Kriegslauncn unseres Nachbarn. Wir selbst finden
in unseren häuslichen Angelegenheiten keine Veranlassung zu einem Kriege mit
Frankreich, ja wir hegen den innigen Wunsch, dah die Fäden, welche in diesem
Jahre durch die Industrieausstellung zwischen uns und Frankreich gesponnen
sind, beiden Völkern Vortheile bringen, Annäherung und Freundschaft vermehren.
Aber wir sind gezwungen, mit Befremden auf eine kaiserliche Politik zu blicken,
welche uns unstät. expcrimentirend und fast unberechenbar erscheint, und wir fra¬
gen erstaunt: wo blieb die kluge Sicherheit und das vorsichtige Abwägen, welches
sonst überraschenden Schritten des Kaisers den Erfolg gesichert hat? Und wo
seine weise Mäßigung in wohlbedachten Plänen? Und welchen dauernden Vor¬
theil erwartet er von seinem Römerzuge für Frankreich und sich selbst?
H. Heines Leben und Werke, von Adolf Strodtmcmn (Berlin bei Franz
Dunker).
Eine Biographie Heines zu schreiben ist heut zu Tage ein mehr wie kühnes
Unternehmen. Der einst hoch gefeierte Dichter des Buchs der Lieder und der Reise-
bilder steht gegenwärtig im Zenith seiner UnPopularität. Die Reaction gegen das
Unwesen, das unter der Firma des jungen Deutschland getrieben wurde, hat ihr
Werk noch nicht ganz gethan, ihre Vertreter gehorchen noch jenem Gesetz des sich
gegenseitig Ueberbietcnwollens, das nach jeder gewaltsamen Erschütterung der
Geister eine Zeit lang einzutreten Pflegt. Ist eine neue Richtung ans Ruder
gekommen, so mühen sich diejenigen, welche an dem Siege Theil genommen,
im Wettkampf um die schärfste Formel der Verurtheilung des gestürzten Götzen
ab. Das ist von je so gewesen und hat seine relative Berechtigung. Kaum
gegen einen der Repräsentanten der Poesie des Weltschmerzes und der Zerrissen¬
heit hat die Nachwelt so streng verfahren müssen, wie gegen Heine, denn kei¬
ner hat so viel Schaden angerichtet, wie dieser, keiner steht in so schroffem Ge¬
gensatz zu dem nüchternen, sittenstrengen Realismus unserer Tage, wie er, der nie
aus der Negation heraus kam, und die Verhöhnung der bestehenden Weltordnung
zur Parole eines ganzen Geschlechts machte. Uns die wir in Reis und Glied
kämpfen und dem strengen Gesetz der Unterordnung unter bestimmte, crbgcgrcnztc
Zwecke blindlings gehorchen sollen, uns muß der maßlose Subjectivismns, mit
welchem der Dichter des Wintcrmärchcns jede seiner wechselnden Stimmungen zuo
Ausdruck brachte und alles angriff und verhöhnte, was ihm nicht in den poetischen
Kram des Augenblicks paßte, dcftndcrs verhaßt sein. Dazu kommt, daß Heines
Persönlichkeit dem deutschen Sinn und Charakter immerdar fremd und antipathisch
gewesen ist. Wenn es wahr ist. daß der Mensch zu den „crnsthafrcn" Bestien
zählt, so gilt das von dem Deutschen in eminenter Weise. Alles kann der Deut¬
sche verstehen, nur den Scherz nicht — oder genauer gesagt, den Scherz mit ern¬
sten Dinge». Eine poetische Natur, die immer nur unter dem Eindruck jeweiliger
Stimmung urtheilt und „ach den Zufälligkeiten dieser heute einen und morgen
einen andern Ton anschlägt, muß der Natur der Sache nach dem Deutschen un¬
verständlich bleiben. Und so ist es Heine von je gegangen, auch zur Zeit seines
Ruhms und seiner Herrschaft über die Geister. Weil er in einer Zeit lebte, in wel¬
cher die Menschheit nach einer neuen Weltordnung rang, und weil er die Ausgebur¬
ten seiner Phantasie gelegentlich sür Stücke dieser ausgab, sah man ihn für einen
Propheten derer an, welche noch kommen sollen, beurtheilte mau ihn als solchen.
Daß man ihn je für einen wirklichen Feind der bestehenden Weltordnung, für
einen radicalen Revolutionär genommen, daß seine Predigten für die Emancipation des
Fleisches für mehr, als luftige Träume einer verirrte» Phantasie, gehalten worden
sind, — das bezeugt deutlich, daß wir „keinen Scherz verstehen", sondern den¬
selben ebenso ernst auffassen, als es der Dichter selbst gethan. Mit dem was ein
Dichter ernst meint, ist es aber ein anderes Ding, als mit dem Ernst des gewöhn¬
lichen Menschen, zumal wenn dieser Deutscher ist. Wenn Heines glnthcrfüllle Phan¬
tasie eine Zukunft träumte, in welcher es nur Könige geben sollte, die sich auf
Roscnbctten wälzten und aus goldenen Bechern unendliche Lust tranken, so war das
ein poetischer Traum, mit dem es der Dichter allerdings „ernst" meinte, aber nicht
länger, als die Stimmung dauerte, aus welcher dieses Traumbild geflossen. Genau
ebenso war es um seine frechen Lästerungen der Weltordnung und ihrer Symbole
bestellt; sie rührten aus Stimmungen her, die er fixirte, um sie im nächsten Augenblick
wieder zu vergessen. Wer Stimmungen dieser Art nicht kannte oder künstlich in
sich hervorbringen mußte, nahm dieselben für die Forderungen einer bestimmten
Weltanschauung, für ein neues Evangelium, gerade so wie man aus Börnes Lob¬
preisungen des französischen Wesens auf eine absichtliche Herabsetzung der deutschen
Eigenthümlichkeit schließen zu müssen glaubte. Daß es nicht die Besten waren,
die aus den Cynismen und Lästerungen des Dichters ein System machten, seine
sittenlose Zerfahrenheit und Lüderlichkeit für die Bedingung einer poetischen Welt¬
anschauung ausgaben, versteht sich von selbst, und daß man die Leichtfertigkeit, die
ZU diesen Verirrungen Anlaß gegeben, hart verurtheilte, war durchaus berechtigt.
Nur durfte von den Nachahmern nicht auf das Wesen des Oiginals geschlossen
werden. Heine der Dichter, war nicht schuld daran, daß die „unbehilfliche Ehr¬
lichkeit" seiner Verehrer aus ihm einen Propheten, aus den Ausdrücken verflogener
Stimmungen Evangelien gemacht hat. Diese Verehrer gehen ebenso in die Irre,
wie ihre Gegner, die über dem Socialisten und cynischen Prediger der Fleischcseman-
cipativn den Stab brechen. Will man Heine richtig beurtheilen, so muß man
ihn als den nehmen, der er wirklich war, als Poeten, der seine Stimmungen ge¬
legentlich auch in die politischen und socialen Kämpfe des Tages hineintrug. Der
uralte Conflict zwischen der innern Welt des poetischen Gemüths und der herben
Unerbittlichen Wirklichkeit kleidete sich bei ihm in ein neues Gcwnnd; er griff die
Realität nicht als solche an, sondern zog gegen ihre zeitweiligen Erscheinungen zu
Felde, ein Kampf, in welchem er mit den revolutionären Schwärmern für das
lunga Europa zusammentraf, um von diesen und von anderen ehrlichen Leuten
für ihresgleichen gehalten, mit ihnen gefangen und gehangen zu werden.
Soll Heine der Platz in der deutschen Literatur gesichert werden, aus den sein
herrliches Talent Anspruch hat, so muß sein irdisches Theil wie das Gewand
der Helena von ihm abgestreift werden, darf der Dichter allein übrig bleiben. Aber
gerade an dem frechen Cynismus, in welchem er sich gelegentlich wälzte, um die
krampfhaften Spannungen seines allzu fein besaiteten Gemüths los zu werden, —
an dem giftigen Spott, mit welchem er sich an den Idealen rächte, nach denen er
vergebens die Arme ausgestreckt hatte — an diesem irdischen Theil hing die große
Zahl der Verehrer Heines, um die Blößen der eigenen Verkommenheit mit dem Ge¬
wände zu verhüllen, das er über den Koth gebreitet hatte, um den Weg, der, wie
er glaubte, in das wirkliche Leben führte, wieder gewinnen zu können. Daß er in
Augenblicken der Verzweiflung an den Idealen des Lebens das „schöne helle Lachen",
gelegentlich auch das banale Behagen an gemeinem Genuß, als höchste Güter an¬
pries, „ein Schlückchen Nun und Hoffnung in Liebe und Glauben" für genügend
erklärte, um durch die Welt zu kommen — das hat ihm eine große Gemeinde
geschafft, die in das Heiligthum seiner wahren Dichtungen doch niemals eingetreten
ist, das andererseits diejenigen abgestoßen, die den Weg durch den schmutzigen Vor¬
hof, die Gemeinschaft mit lüderlicher Lassen und überfallen Geldleuten scheuten,
welche sich für des Dichters Genossen ausgaben, weil sie seinen verzweifelten Spott
als den Witz eines vollen Magens betrachteten.
Ob dem Buch, das sich die Aufgabe gestellt hat, den verlästerten Dichter mit
seiner Nation zu versöhnen, die Erreichung dieses Ziels gelingen wird, muß vor
der Hand noch zweifelhaft bleiben. Der Biograph scheint dem radicalen Stand¬
punkte, auf dem Heines Zeitgenosscnschaft sich befand, zu nah zu stehen, um den¬
selben vollständig übersehen und beurtheilen zu können. Er redet, wie uns scheint,
die Sprache einer vergangenen Zeit und bringt das sittliche Richtmaß derselben mit,
statt rücksichtslos zu verurtheilen, was gerechtem Urtheil verfallen, die sittliche Leicht¬
fertigkeit, die schon dem Jüngling anhaftete,, dem Feuer preiszugeben und dadurch
dessen unsterbliches Theil zu retten. Wer über die Verirrungen des berliner Stu¬
denten hinwegglcitct, wird auch für die Verkommenheit des pariser Nouös Rath zu
schaffen wissen. Zunächst sprechen wir diese Befürchtung aus — ein Urtheil ist
noch nicht möglich, da der bisher erschienene Theil des Strodtmannschcn Buchs nur
bis zu Heines Studentenjahren führt. Dafür lassen sich die Vorzüge dieser
Arbeit schon jetzt feststellen. Der Verfasser scheint im Besitze eines reichen und zuver¬
lässigen biographischen Materials zu sein, mit welchem er hauszuhalten versteht.
Ohne breit oder geschwätzig zu werden, giebt er genaue Kunde über Heines Fami-
lienverhältnisse und Jugcndbcziehungen, ermöglicht eine wirkliche Vorstellung von
dem Lebens- und Entwicklungsgange des Menschen und Dichters. Darauf, nicht
auf die Urtheile und Meinungen, welche im einzelnen abgegeben werden, kommt es
unseres Erachtens in einer Biographie an. Das geistige Bild des geschilderten
Charakters richtig zu zeichnen, ist nicht jedermanns Ding, dem Leser muß durch
das mitgetheilte Material aber die Möglichkeit geboten werden, diese Arbeit nöthi-
genfalls selbst zu thun. Jn dicsemSinn heißen wir das Strodtmannschc Buch willkom¬
men und sehen wir der Fortsetzung desselben mit Interesse entgegen. —
Wiederum ist einer jener großen Gelehrten abgeschieden, deren erstes Auf¬
treten mit dem Aufschwünge der deutschen Nation im zweiten Jahrzehnt unseres
Jahrhunderts zusammenfällt, deren dauernde Vereinigung Berlin so lange Zeit
zu einem unübertroffenen Mittelpunkt vielseitigster Wissenschaft machte. Der
Name Franz Vopp ist in weiteren Kreisen weniger bekannt als mancher
andere von gutem Klänge; ja, bevor im Mai des vorigen Jahres sich von
allen Enden der Welt Schüler und Verehrer des großen Sprachforschers ver¬
einigten , um das fünfzigjährige Jubiläum seiner Autorschaft durch eine seiner
würdige Stiftung, durch die auch von Leipzig aus reichlich geförderte Bopp-
stiftung zu begehen, ist dieser Name in Blättern von nicht streng gelehrtem
Charakter überhaupt nur selten genannt. Und doch ist ihm in den Jahrbüchern
der Wissenschaft der ehrenvollste Platz gesichert.
Franz Bopp, geboren zu Mainz im Jahre 1791, empfing in seiner Ju-
gend wesentliche Anregungen von Seiten der Schule, die wir die romantische
zu nennen Pflegen. Die Männer dieser Richtung suchten bekanntlich, in einem
«Missen Gegensatz gegen die klare Regel des Classischen und gegen die Herr-
schenden Maximen der sogenannten Aufklärung, zu Anfang dieses Jahrhun¬
derts die Befriedigung ihres mehr aus das Geheimniß- und Gemüthvolle ge¬
richteten Strebens im Orient und in den Literaturen, welche die neueren Völker
in ihrer Jugendperiode entwickelten. Eben damals war die Kunde von jener
merkwürdigen Sprache nach Deutschland gedrungen, welche, wie ein englischer
Gelehrter.' William Jones, bemerkt halte, vollkommener sei als die griechische,
reicher als die lateinische, feiner als beide. Und diese Sprache verhüllte eine
reiche Literatur, deren wenige schon bekannt gewordene Proben zu weiteren
Studium reizten, während in den Bibliotheken von Paris und London noch
unermeßliche Schätze dessen harrten, der sie zu heben verstand. Niemand war
dafür eifriger als der jugendliche Bopp. Von der bayrischen Regierung unter-
stützt ging er, 21 Jahr alt, nach Paris, und wenige Jahre darauf traten die
e>sten Früchte seiner Arbeiten noch unter der Aegide seines jeht fast verscholle¬
nen Lehrers Windischwann an das Tageslicht. „Von der Sprache und Weis¬
heit der Inder" hatte schon Friedrich Schlegel Wunderdinge berichtet. Auch
Bopp brachte von beidem etwas. Sein erstes Buch, das berühmte, „Conju¬
gationssystem", obwohl im wesentlichen, wie der Titel zeigt, sprachlichen In¬
halts, bot im Anfang Ueberhebungen aus der indischen Literatur. Und seitdem
war eine der großen Aufgaben, die Bopp löste, die durch eine Reihe wissen¬
schaftlich gediegener und zugleich praktisch angelegter Bücher die Kunde des
Sanskrit, bis dahin der Geheimbesih Weniger, auch in Deutschland jedem
Lernbegieriger zu ermöglichen. Aber nicht darin liegt Bopps Hauptveidienst.
Wohl erschlossen sich in Nal und Damajanti, in der Sakuntala liebliche
Blüthen einer Poesie von eigenthümlichem Duft, wohl tauchte durch das ver¬
einte Wirken einer ansehnlichen Reihe von Gelehrten aus tiefem Dunkel eine
merkwürdige, viele Jahrhunderte hindurch gepflegte vielseitige Cultur auf, von
der aus später der Blick in die ältere Periode der Weder fallen sollte, aber
die Hoffnungen der Romantiker auf ungeahnte Tiefen orientalischer Weisheit
wurden doch nur zum geringsten Theile erfüllt. Dafür aber fand man, was
man nicht suchte, ja nicht einmal ahnte, eine neue Wissenschaft, die allerdings
über die Anfänge der begabtesten Culturvölker wichtige Aufschlüsse brachte, aber
nicht durch geheimnißvolle Sinnsprüche oder uralte Offenbarungen, sondern auf
dem Wege nüchternster Forschung, genauer Zusammenstellung, unerbittlichen
Schließens aus einem mit deutschem Fleiße erworbenen Material. Schon vor
Bopp war fast gleichzeitig von je einem englischen, französischen und deutschen
Gelchiten bemerkt, daß jene formenreiche und durchsichtige Sanskritsprache
mancherlei in die Augen springende Ähnlichkeiten mit dem Griechischen und
Lateinischen habe. Vieles lag so offen vor, daß man nur hinzublicken brauchte,
um es zu finde». ^gen3 heißt Feuer im Sanskrit, i'Mi'8 im Lateinische»,
cltunrm Geschenk dort, clonum hier, nämari Name bei den Indern (und Gothen),
iromöll bei den Römer». Die Silbe seu, bedeutet in allen diesen Sprachen
mit geringen Modisicaiionen „stehen". Bon da aus kam man nun auch schon zu
der Annahme eines ursprünglichen Zusammenhanges dieser Sprachen. Aber es
blieb bei vereinzelten Begleichungen ohne bestimmte Grundsätze. Flattergeister,
an denen es für diese Wissenschaft nie gefehlt hat, stellten daneben Ueberein¬
stimmungen mit anderen Sprachen, ohne daß man zwischen Kuriositäten und
durchgreifenden Uebereinstimmungen zu unterscheiden verstand. Wörter wandern
wie Waaren von Land zu Land, von Volk zu Voll. Konnte nicht bald der
Zufall, bald solche Wanderung eines vereinzelten Wortes der Grund der Gleich¬
heit sein? Wenn der Inder das Erz gM, der Römer aes nennt, so konnte
ja vielleicht, wie der Thee — Namen und Sache — von China nach Europa,
so dort Wort und Sache, sei es von Indien nach Rom, sei es von einem
dritten Orte nach beiden Richtungen gewandert sein. Endlich gab es noch eine
dritte Möglichkeit. Es könnte eine Naturnothwendigkeit geben, vermöge welcher
gleiche Begriffe in den Sprachen durch gleiche oder ähnliche Laute bezeichnet
werden müßten. Beruhte die Uebereinstimmung zwischen dem Sanskrit und
jenen anderen Sprachen auf einer dieser drei Anlässe, so würde sie zwar immer¬
hin bemerkenswert!), aber nicht geeignet sein, darauf weitere Schlüsse über eine
uralte Gemeinschaft dieser Sprachen zu gründen. Und da hat nun eben Bopp
zuerst so zu sagen die Formel gefunden um richtig zu unterscheiden und zu
entscheiden. Nichts haftet so fest an der Sprache als die Form, namentlich
als jene kleinen beweglichen selten vorn, öfter hinten angefügten Silben oder
Einzellaute, welche in den am reichsten ausgestatteten Sprachen den Zweck er¬
füllen, bie mannigfaltigen Beziehungen eines Wortes zu anderen im Zusammen¬
hang der Rede auszudrücken. Der Grieche bezeichnet das „ich" im Verbum ur¬
sprünglich durch die Silbe mi, das „du" durch si, das „er, sie oder es" durch ti,
ebenso der Inder z. B. lrK-M ich bin, a-si (für as-si) du bist, as-ti er ist,
urgricchisch es-mi, os-Li, «zö-ti. Solche Uebereinstimmung kann nicht Zufall
sein, denn sie wiederholt sich an Hunderten von Wörtern; sie kann ebensowenig
auf Übertragung beruhen, denn ich, du, er sind keine Waaren, die von Land
zu Land wandern; sie kann endlich nicht aus Naturnothwcndigt'eit beruhen,
denn es gibt Völker, welche zu demselben Zwecke völlig andere Laute verwenden,
und denen eine derartige Anfügung von Endungen gänzlich unbekannt ist.
Kann also gezeigt werden, daß in diesen Formen, daß in dem was wir jetzt
den Bau der Sprache nennen, zwischen mehreren Sprachen eine durchgreifende
Uebereinstimmung stattfindet, so ist das ein untrügliches Zeichen historischen
Zusammenhanges, oder mit anderen Worten ihrer Zugehörigkeit zu einem
Stamme.
Und eben dies zeigte Bopp unwiderleglich und mit überzeugender Klar¬
heit in Bezug auf das Verbum, zunächst des Sanskrit, Griechischen, Lateini¬
schen und Deutschen, für welche letztere Sprache er auf ihren ältesten Reprä¬
sentanten, das Gothische zurückging. Das Oft- und Westende des so erkannten
Sprachstammes zusammenfassend nannte er diesen den indogermanischen.
Der Nachweis war natürlich nicht immer so leicht wie in dem herausgehobenen
Falle. Es bedürfte oft mannigfaltiger Combinationen und überall der sorg¬
fältigen Zerlegung einer Form in ihre Bestandtheile. Das Verfahren des ver¬
gleichenden Grammatikers hat man mit Recht mit der Scheidekunst des Chemikers
oder mit der Section des Anatomen verglichen. Auch blieb Bopp nicht beim
Verbum stehen. Er untersuchte später in gleicher Weise die Declination, so
wie die Wort- oder Stammbildung, Untersuchungen, die er endlich in seinem
größten Werke der Vergleichenden Grammatik zusammenfaßte, während
^ in seinem Sanöttitwörterbuch zahlreiche einzelne Wörter und Wurzeln der
verwandten Sprachen zusammenstellte. Eine ganz besondere Gunst des Ge¬
schickes war es, daß unmittelbar nach Bopps erstem Auftreten ein Mann wie
Jacob Grimm eine der hierher gehörigen Sprachen, eben unsere deutsche
Muttersprache, in ihrer weiten Verzweigung mit der tiefsten Gelehrsamkeit in
einer ganz neuen Weise bearbeitete. Da auch ihm der Zusammenhang des
Deutschen mit seinen Verwandten sofort einleuchtete und er eigene, äußerst frucht¬
bare Gesichtspunkte hinzubrachte, so hat neben Bopp niemand in dem Maße
wie Jacob Grimm das Gedeihen der jungen Wissenschaft gefördert. Unterdeß
erweiterte sich bei unablässigem Fortarbeiten für Bopp allmählich der Gesichts¬
kreis. Zu den vier genannten Sprachen war von Anfang an schon das Per¬
sische hinzugezogen. Aber damals lag diese Sprachfamilie nur in einer jungen
Gestalt, in dem mittelalterlichen Neupcrsisch vor. Erst in den dreißiger Jahren
gelang es dem vereinten Scharfsinn französischer und deutscher Forscher, für ein
älteres Glied derselben Familie, die in dem Zendavesta, den heiligen Büchern
der Parsen, enthaltene Zend- ader altbaktrische Sprache den Schlüssel zu finden,
der bald darauf auch das aus den Keilschriften der Dariuszeit entzifferte Alt¬
persisch zur Seite trat, Entdeckungen, welche durch die von Bopp geschaffenen
Grundlagen überhaupt erst ermöglicht wurden. Vermöge beider Sprachen, die
Bopp sofort mit in den Kreis seines großartigen Werkes zog, wurde dann noch
das Armenische und einige andere östliche Glieder des Sprachstammes als solche
erkannt Aber fast noch weiter öffnete sich der Blick in Europa. In den ein¬
tönigen Ebenen Ostpreußens und des angrenzenden ehemals polnischen Ru߬
lands hat, wenig berührt von der Cultur und gerade darum unverfälschter als
anderswo, mehr und mehr eingeengt von der deutschen und den slavischen
Sprachen, das Lithauische sich erhalten, das wunderbar genau zum Sanskrit
und zu allem dem stimmt, was man im Griechischen, Lateinischen, Deutschen
als das Aelteste erkannt hatte. In einzelnen Wörtern könnte der Brahmane
noch jetzt sich mit dem lithauischen Bauern verständigen, wie z. B. beide das
Schaaf avis nennen. Lithauisch äiovirs Gott liegt dem Sanskrit clvvas, clima
Tag dein Sanskrit clima, <z<l-mi ich esse dem Sanskrit u.et-mi sehr nahe. Das
Lithauische bildete nun wieder die Brücke zu den slavischen Sprachen, die uns
Deutschen bei oberflächlicher Kenntniß so fremdartig erscheinen, während bei
eingehender Untersuchung dem scharfen Blicke Bopps sofort die Regel ausging,
durch die auch sie mit dem großen Sprachstämme zusammenhängen. Nach Bopp
haben Jacob Grimm und Schleicher sogar einen nähern Zusammenhang des
Lithauischen und Slavischen mit dem Deutschen erwiesen. Die härteste Nuß
endlich blieb übrig in den Idiomen jenes einst so mächtigen Celtenvolkcs, die
jetzt nur als Vvttsdialect in Irland, Wales, Schottland und der Bretagne fort¬
leben. In einer besondern Abhandlung „Ueber die celtischen Sprachen" be¬
wies Bopp die indogermanische Herkunft auch dieser Sprachen, während er die
ausführlichere Analyse ihres Baues Anderen überließ, vor allen dem um dies
Gebiet hochverdienten Caspar Zeuß. Bei so gewaltiger Grcnzcrwcitcrung schien
auch der Name des Sprachstammes zu eng zu sein. Da jetzt die westliche Mark
über die Germanen hinausging, wählte Bopp lieber das Wort indoeuro¬
päisch. Manche, unter anderen Max Müller, der geistreiche Verfasser der Vor¬
lesungen über Sprachwissenschaft, sagen dafür Arisch, eine wenigstens bei
einem Theil dieser Völker nachweisbare alte Vvttsbenennung, während andere
das zuerst gefundene Wort festhalten. Auf den Namen kommt auch wenig an,
da über die Sache kein Zweifel besteht.
Natürlich aber handelt es sich bei allem dem nicht blos um Sprach-, son¬
dern auch um Völkergemeinschaft. Ein Volk wechselt seine Sprache nur in
Folge tiefgreifender äußerer Einwirkung, kaum anders als durch den Einfluß
einer überlegenen Cultur. Und selbst dann verräth sich die Veränderung in
einer gewissen Zersetzung des ursprünglichen Sprachbaues, während dieser auf
diesem Gebiete im wesentlichen unversehrt geblieben ist. Und wo vollends
wäre in jenen langen Jahrhunderten patriarchalischen Dämmerlevens, in wel¬
chen die indogermanische Grundsprache sich allmählich in ihre verschiedenen
Zweige verästelte, von einer überlegenen Cultur die Rede? Nein, die Sprach«
gcmeinschaft beweist hier zweifellos Völkergemeinschaft. Jene lange Kette von
Völkern, die sich mit nicht sehr bedeutenden Unterbrechungen vom Ganges bis
an den atlantischen Ocean erstreckt, benennt die Zahlen, die Familienglieder,
die Hausthiere, die Körperteile, nicht unwichtige geistige Begriffe mit denselben
Wörtern, weil sie Wort und Begriff, Wort und Sache schon zu einer Zeit be¬
saßen, da alle diese später so großen Völker noch ein einziges kleines, im In¬
nern Asiens seßhaftes Lott waren. Was die Indogermanen Gemeinsames be¬
sitzen, das ist ihnen aus der gemeinsamen Urzeit verblieben. Wer das Völker-
leben späterer Zeiten erforscht, der muß von diesen gemeinsamen Grundlagen
ausgehen. Nur so wird auch das den einzelnen Völkern Eigenthümliche recht
begriffen. Man sieht wie tief die neue Wissenschaft eingreift, wie sie, weit
entfernt Sildeustcchcrei zu sein, nach den verschiedensten Seiten, namentlich auch
für die Geschichte des Glaubens, der Sitte, des Rechts der Voller Licht ver¬
breitet. Man braucht nur ein neueres Werk über ältere Gcschichtsperioden zur
Hand zu nehmen und die Art, wie jetzt über die Anfänge des Völkerlevens
^sprechen wird, mit dem zu vergleichen, was selbst die ausgezeichnetsten For¬
scher darüber vor fünfzig Jahren zu sagen wußten, und man sieht sofort den
belebenden Einfluß der vergleichenden Sprachwissenschaft.
Jeder große Fortschritt hat außer dem Gewinn, den er unmittelbar mit
sieh bringt, auch seine Bedeutung für verwandte Fächer. Eine mit großem Er°
folg auf ein bestimmtes Gebiet angewendete Methode wird bald Gemeingut.
So ging es mit Bopps Sprachforschung. Nachdem man gelernt hatte, wie
man die Lautverhältnisse einer Sprache zu behandeln, wie man die Analyse
der Sprachformen anzugreifen habe, lag die Anwendung auf andere, als die
indogermanischen Sprachen nahe. So envuchs nach und nach unter Benutzung
dessen, was auch von anderen Seiten schon versucht war, eine allgemeine SPrach-
wisscnschast, die sich mit der Elassificirung und genealogischen Gruppirung der
fast unübersehbaren Masse menschlicher Sprachen befaßt und dem Wesen, oder
wie man es treffend genannt hat, dem Leben der Sprache überhaupt nachspürt.
Eure zugleich festere und liefere Grundlage erhielt dies weitere Sprachstudium
dadurch, daß Wilhelm von Humboldt es mit neuen philosophischen Specula-
tionen durchdrang und die Stellung, welche die Sprache für das Geistesleben
der Voller einnimmt, nach allen Richtungen hin durchforschte. Durch sein 1836
erschienenes Werk über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues wurde
das, was Bopp begonnen hatte> in gewissem Sinne wenigstens zu einem vor¬
läufigen Abschluß gebracht.
Bopp selbst blieb bei allen seinen Erfolgen ein Mann von äußerst schlich¬
ter Persönlichkeit. Er gehörte durchaus nicht zu den Gelehrten, die es für
unerläßlich halten, das Bewußtsein ihrer eigenen Bedeutung in einer schroffen
und steifen Hüllung auszuprägen. Auswärtige Männer der Wissenschaft, die
ihn aufsuchten, waren erstaunt über das Anspruchslose seines Wesens, wie es
be> einem Manne von gleicher Berühmtheit in Frankreich zum Beispiel kaum
denkbar wäre. Bopp besaß die liebenswürdige Offenheit der Rheinländer, auch
über Einzelheiten seiner Wissenschaft sprach er, bei Gelehrten nichts eben Häu¬
figes, gern mit jedem, der Sinn dafür hatte und mit einer so zu sagen kind¬
lichen, nie erlöschenden Freude an dem Stoff, den er behandelte. Den tonan¬
gebenden und einflußreichen Kreisen der gelehrten Welt hat er immer fern
gestanden. Durch den Einfluß Wilhelm von Humboldts an die berliner Uni¬
versität berufen, zog er todt in aller Stille Jünger für seine Wissenschaft und
wirkte mehr noch als durch persönliche Lehre durch unermüdliche schriftstelleri¬
sche Thätigkeit, in beiden nicht wenig gehindert durch eine bedeutende Schwäche
seiner Augen, die er sich schon in jüngeren Jahren bei der Entzifferung indi¬
scher Manusuipte zugezogen hatte. Bopp, dessen Blick für die Erscheinungen
der Sprache so scharf war, konnte schon seit vielen Jahren nur mit Hilfe einer
Loupe lesen. Sein großartiges Streben fand übrigens längere Zeit nur bei
Einzelnen Anklang. Anfangs machte ihm gegenüber August Wilhelm Schlegel
auf eine weltmännischere Behandlung des Sanskrit Anspruch. Die classische
Philologie, statt dem Schöpfer der vergleichenden Grammatik für eine Neihe der
wichtigsten Belehrungen dankbar zu sein, behandelte diese lange Zeit in zunst-
mäßiger Absonderung als eine Art Ketzerei, vor der sich die liebe Jugend wohl
zu hüten habe. Nicht blos Spott und Hohn, sondern auch die unwidersteh¬
lichste Art der Opposition, starre Gleichgültigkeit trat der jungen Wissenschaft
entgegen. Auch konnte es nicht fehlen, daß bei der Bearbeitung eines so un¬
ermeßlichen Gebietes Irrthümer sich einschlichen und daß, nach dem Gange aller
Wissenschaft, der weitere Fortschritt auf dieser Bahn zum Theil in der Bekäm¬
pfung einzelner Lehren Bopps von dem durch ihn gelegten Grunde aus bestand.
Niemand focht das alles weniger an als Franz Bopp. Unverdrossen und un¬
beirrt, jeder heftigem Polemik abhold, ging er seinen Gang ruhig fort in der
Erwartung, daß die echten Keime der durch sein Verdienst gefundenen Wahr¬
heit gewiß aufgehen würden. Und diese Erwartung hat ihn nicht getäuscht..
Der Abend seines Lebens brachte dem ehrwürdigen Meister reiche Anerkennung.
Die schon früher erwähnte, zur Förderung seiner Wissenschaft bestimmte und seinen
Namen tragende Stiftung war eine der schönsten; sie war eine Würdigung
seines Wirkens, wie sie wenig Gelehrten zu Theil geworden ist. Der Todes¬
tag Bopps, der 23. October 1867, schließt die erste Periode der jungen Wissen-
schaft ab. An den zahlreichen Schülern und Nachfolgern Bopps ist es jetzt, in
seinem Sinne fortzubauen.
Unsere Marine besitzt zwei Classen gepanzerter Kriegsschiffe, von deren
jeder nach dem Flottengründungsplan zehn Schiffe erbaut werden sollten, wäh¬
rend die vor kurzem veröffentlichten Motive für die Marineanleihe des nord¬
deutschen Bundes im Ganzen nur eine Stärke von 16 Panzerschiffen für die
nächste zehnjährige Periode ins Auge fassen, die zweckmäßigerweise sämmt¬
lich ganz von Eisen erbaut werden sollen. Die erste Classe, die „Panzer¬
fregatten", nach dem Breiiseitensystem construirt, sind dazu bestimmt, ent¬
weder cmgriffsweise gegen die Flotten oder die Häfen des Feindes vorzugehen,
oder aber feindliche Blokadeschiffe zu vertreiben. Bon dieser Classe besitzen wir
gegenwärtig drei, und zwar sind zwei derselben bis auf die definitive Aus¬
rüstung und Annirung gänzlich vollendet und befinden sich bereits in See auf
dem Wege aus den fremden Constructionshäfen nach Kiel.
Die andere Classe, die officiell so genannten „Panzerfahrzeuge", nachdem
Kuppel- resp, dem Kasemattensystem erbaut, das wir unten näher beleuchten,
sind bedeutend kleiner und haben hauptsächlich die Aufgabe, bei der Küsten-
verthcidigung in der Art der Panzerkanonenboote zu wirken, besonders an
flachen Stellen, oder in den Flußmündungen zum Schul; der Häfen stationirt
als schwimmende Batterien zu dienen. Namentlich für letztere Verwendung
ist der Vortheil überaus hoch anzuschlagen, daß diese Fahrzeuge eine ganz be¬
deutende Schnelligkeit besitzen und somit trotz ihrer Bestimmung für die De¬
fensive doch im Stande sind, günstigen Falles sofort die Offensive zu er-
greifen, wie sie denn auch beim Angriff auf feindliche Küstenbefestigungen die
ersprießlichsten Dienste leisten werden. Daß man beide Classen von Panzer¬
schiffen aus Eisen zu erbauen beschlossen hat, kann, wie gesagt, nur gebilligt
werden; die früher erörterten Nachtheile, welche Eisenschiffe in tropischen Klima-
ten haben, können sich in der Nord- und Ostsee, wo die Panzerschiffe hauptsäch¬
lich zu operiren haben werden, wenig geltend machen. Dagegen werden die
Vortheile des Eiscnschiffbaucs, namentlich die größere Dauerhaftigkeit, die
größere Leichtigkeit des Schiffskörpers und die daraus folgende Fähigkeit,
schwerere Panzerung und Armirung zu tragen, außerordentlich günstig ins Ge¬
wicht fallen. Die Zahl der Panzerschiffe beider Classen ist natürlich nach Ma߬
gabe der sür Deutschland erschwinglichen Mittel, nach den eventuell sich bieten¬
den Aufgaben (wie Forcirung des Sundes, solange der Nordostseecanal noch
nicht fertig ist) und nach der Größe der Flotten derjenigen anderen Staaten
bestimmt worden, deren Küsten mit den unseligen dasselbe Meer begrenzen,
und die uns sonach entweder gegenüberstehen oder mit uns cooperiren würden.
Diese Rücksicht betonten sowohl der preußische Flottenerweiterungsplan vom
März 1863, als auch die Motive des dem norddeutschen Reichstage in der
jüngsten Session übergebenen Manneanlcihegesetzentwurfs. Beide gehen natür¬
lich von der Ueberzeugung aus, daß für die Behauptung der offenen See
der heutigen Artillerie gegenüber ausschließlich Panzerfregatten (selbstver-
ständl. Schraubenschiffe) anzuwenden sind, ebenso wie man früher dazu ausschlie߬
lich die Linienschiffe gebrauchte, namentlich da die früheren Befürchtungen, daß
Panzerschiffe die hohe See nicht würden halten können, jetzt durch die Er¬
fahrung völlig gehoben sind. Die Größe und die Geschützbewaffnung hat na¬
türlich nach den Tiefenverhältnissen der meisten deutschen Häfen und Gewässer
bestimmt werden müssen, mit besonderer Rücksicht auf Erzielung größtmöglicher
Schnelligkeit, Schlachtstärke (Panzerstärke in defensiver, Gcschützstärke in offen¬
siver Beziehung), Seetüchtigkeit (Fähigkeit auch bei schlechtem Wetter die hohe
See zu halten), und Manövrirvermögen. Und zwar möchten wir die Schnellig¬
keit als die wichtigste Eigenschaft hinstellen, da es von ihr abhängt, ob das
Schiff im Gefecht die Distanz wählen kann, in welcher es schußfest ist, resp, wo
es seine Geschütze aus geringster Entfernung wirken lassen kann. Zweckmäßiger
Weise hat man sich indessen in der Wahl der Construction dieser größeren
Panzerschiffe völlig freie Hand gelassen, um bei jedem neuzucrbaucnden Schiff
mittlerweile erprobte Verbesserungen anwenden zu können.
Als durchschnittliche Größe der Panzerfregatten ist demgemäß eine Lästig¬
keit von 3800 Tons, als Stärke der Maschinen 800—1000 Pferdekraft, als
Armirung eine Anzahl von 20—30 Kanonen angenommen worden, die aber
zweckmäßiger durch Ausrüstung mit einer geringern Zahl schwererer Geschütze
erhebt werde» wird. Der durchschnittliche Preis dieser Panzcrfregatten würde
sich auf etwa 2,090.000 Thlr. belaufen, wobei ihre Größe der der größten
früheren Linienschiffe wenigstens gleich käme.
Die Panzerfahrzeuge sind dagegen natürlich bedeutend kleiner; bei ihnen
ist durchschnittlich die Lästigkeit auf 1230 Tons, die Stärke der Maschinen auf
300 Pferdekraft, die Armirung auf 4 schwere Geschütze in je 2 Kuppelthürmen
festgesetzt, sodaß sie kaum die Größe großer Glattdeckcorvetten erreichen, dafür
aber auch nur 624,000 Thlr. kosten. Für diese Fahrzeuge mußte namentlich
noch ein Gesichtspunkt sehr in Rücksicht gezogen werden, auf den man beiden
Panzerfregattcn weniger Gewicht zu legen hat. Ihr Tiefgang nämlich durfte
16 Fuß nicht überschreiten, ja er mußte möglichst weit unter dieser Zahl bleiben,
damit die Schiffe auch in flachem Wasser operiren können. Soweit es aber
dieser geringe Tiefgang irgend gestattete, hat man dann mit Recht nach größt¬
möglicher Schnelligkeit und Manövrirfähigkeit gestrebt, und schließlich ihnen
auch noch die möglichste Seetüchtigkeit zu geben gesucht, damit sie auch zum An¬
griff auf feindliche Küsten stets verwendbar wären. Daß man ferner für diese
Panzerfahrzeuge das Kuppclsystem angenommen hat, begrüßen wir mit beson¬
derer Freude. Denn wenn auch, wie wir unten ausführen werden, einige
Modificationen hier von Nutzen sein können, so ist doch das Kuppelsystem allen
bisherigen Constructionen kleinerer Panzerfahrzeuge, namentlich dem Monitor¬
thurmsystem, dem amerikanischen Kasemattenschiff und dem der englischen Lguare-
battsriLS*) unbestreitbar überlegen. Den Uebergang zu einem der letzteren
Systeme, den die Motive unserer Marinevorlage keineswegs ganz von der Hand
Weisen, würden wir entschieden für bedenklich halten. —
Wir beschreiben nun die preußischen Panzerschiffe chronologisch nach der
Zeitfolge ihrer Erwerbung.
Das erste preußische Panzerschiff, welchem wir, weil es zugleich eins
der besten Fahrzeuge seiner Art überhaupt ist, die eingehendste Schilderung
widmen, ist der „Arminius", erbaut zum großen Theile aus den Ergeb¬
nissen der Sammlungen für die preußische Flotte, die seiner Zeit dem preu-
Achen Kriegs- und Marineminister zur Verfügung gestellt waren — von den
480.000 Thalern, welche der Bau des Schiffsköipers kostete, wurden 458,000
Thlr. durch die deutschen Flvttcngelder gedeckt. Wir dürfen behaupten, daß der
Arminius den stolzen Namen des ersten Befreiers der Deutschen vom Joche der
Fremdherrschaft mit Ehren trägt. Nach der Stärke seines Panzers ist er fast
allen europäischen Genossen ebenbürtig, und die amerikanischen Monitors über¬
trifft er in dieser Beziehung so^ar um das Doppelte. Seine Schnelligkeit ist
für ein Schiff von so mäßigen Dimensionen und folglich von so schwacher
Maschine wahrhaft erstaunlich, großer als bei allen unseren Holzschiffen (mit
Ausnahme der Glattdcckcvrvetten „Augusta" und „Victoria",)*) und bei den
meisten englischen und französischen Panzerschiffen. Seine Armirung, die im
Verein mit der Schnelligkeit die Offcnsivkraft bedingt, und die Unterbringung
.der Geschütze sind zweckmäßiger als bei den meisten Panzerschiffen der anderen
Seemächte.
Der „Arminius'" 4 Kanonen. 300 Pfeidekraft, 1230 Tons (englisch),
ist nach dem modificirten Colcs'schen Kuppelprincip gebaut, und zwar ganz
von Eisen; auch das eiserne Gerippe des Schiffs ist ganz mit "/«Migen Plat¬
ten überkleidet, auf welchen dann im obern Theil des Schiffs außen noch
eine 9zottige Theta-Holzschicht und darüber wieder die Panzerplatten ausgebolzt
sind. Seine Verhältnisse sind sehr glücklich gewählt; bei 194 Fuß Länge in
der Wasserlinie (200 Fuß zwischen den Perpendikeln) hat er nur 35 Fuß Breite
in der Wasserlinie (sonst 36 Fuß größte Breite), sodaß die Länge sogar das
SVi-fache der Breite beträgt, wodurch eine weit größere Schnelligkeit ermög¬
licht wird, als sie bei den gewöhnlichen Kriegsschiffen erreichbar gewesen ist, deren
Länge nur 4—4'/- mal größer ist als ihre Breite. Trotzdem ist übrigens das
Schlingern (die seitlichen Schwankungen des Schiffs) nicht allzustark. Selbst
als er im vorigen Jahre bei ziemlich schwerer See durch das Skagerrack dampfte,
schlingerte es, solange die Seen gerade von vorn kamen, zum Erstaunen Aller fast
gar nicht, und als es später mehr von der Flanke gefaßt wurde, betrugen die
Schwankungen auch nicht über 7 Grad, während sie bei englischen und fran¬
zösischen Panzerschiffen oft über 30 Grad betrugen. Auch der mittlere Tiefgang
von 13'/- Fuß ist außerordentlich gering zu nennen. Der Arminius vermag —
was ihn vor den meisten größeren Kriegsschiffen und namentlich vor den meisten
Panzerfahrzeugen auszeichnet — in alle preußischen Haupthafen einzulaufen. Zur
Zeit seines Baues, als Kiel noch nicht preußisch war, hatte besonders diese
Eigenschaft den größten Werth.
Von außen betrachtet macht nun der „Arminius" einen sehr eleganten
Eindruck, geschmeidige Glätte charakterisier seine Gestalt. Nur in mäßiger
Höhe"), in normaler Lage um 4 Fuß, ragt sein schwarzer, verhältnismäßig sehr
fein gestalteter Rumpf über die Wasserfläche hinaus; wenn das Schiff sich in
Gefechtsbereitschaft befindet, dann sind die hierauf eingerichteten Neilings
(Brüstungen des Decks) an der Außenseite der Schiffswand senkrecht niedergeklappt,
um den Geschützen der Thürme freies Schußfeld zu verschaffen, sodaß die Dcck-
linie den obern Condur des ganzen Schiffs bildet. Die ganze Brustwehr be¬
steht nämlich ähnlich wie bei dem englischen großen Kuppelschiff'(frühern
Schraubcndreidccker) „Royal Sovereign" aus lauter einzelnen, dicht neben
einander stehenden 3 Fuß 9 Zoll hohen Platten von '/..zölligen Stahlblech,
welche mit ihrer Unterkante mittelst eines Charnieres am Deckrande (Schcmdeckel)
befestigt sind und entweder nach außen herabgeklappt werden können, sodaß
sie enkrecht san der Schiffswand herunterhängen, oder aber wie es beim „Royal So¬
vereign" während der Revue vordem Sultan der Fall war, aufgerichtet und
dann eine zusammenhängende Brustwehr um das Deck bilden. Im letztern
Falle finden sie nach innen eine Stütze an zwei Winkeleisen, die an den senk¬
rechten Kanten der Innenseite jeder Platte stehen und nach unten keilförmig an
Höhe zunehmen, während sie schließlich mit Haken und Ochsen am Deck be¬
festigt sind. Wenn nun die Neilings in dieser Weise aufgerichtet sind, so wächst
die Höhe des Schiffs für den Anblick sogleich ganz bedeutend, bis auf fast 8
Fuß über Wasser. Zugleich ist aber diese Höhe auch von großer praktischer
Wichtigkeit, wenn das Schiff in See ist, weil dann die Wellen nicht so über¬
mäßig über Deck brechen können, und in dieser Beziehung gebührt unserm
Arminius namentlich der Vorzug vor den Monitors der Amerikaner.
Der Schiffskörper ist wie bei allen Eisenschiffen unter Wasser zum Schutz
gegen das Bewachsen der Platten mennigrot!), über Wasser dagegen ganz
schwarz gestrichen, und diese Gleichmäßigkeit wird nirgends durch Oeffnungen,
une etwa Geschützpfortcn oder irgend auffällige Einzelheiten unterbrochen;
schwarz und fest, ohne irgend eine Luke, ohne Achillesferse, umschließt der
Panzer den ganzen Körper; scharf schneidet die horizontale Kante' der Rci-
luigs nach oben ab, und auch nach vorn und hinten bilden scharf geschnittene,
aber sehr elegant geschwungene Curven das Profil des Schiffes. Der Bug
^'ge in seinem obern Theile einen fast senkrechten Vorsteven, beginnt aber
"abe der Wasserlinie weit aufzuschießen und springt dann unter Wasser, an¬
geblich mit einem Gußstahlsporn 20 Fuß weit vor, was sich nach der Form
des sanfter gerundeten Steven über Wasser kaum vermuthen läßt. Indessen
lst an den Bug vorn nicht wie bei den meisten französischen Panzerschiffen
und auch dem preußischen „Prinz Adalbert" eine massive Spitze von run-
dem Querschnitt angesetzt, die das Schiff zu sehr beschwert, sondern der
ganze vorspringende Theil ist (ebenso wie bei dem bekannten italienischen
Kuppelpanzerschiff „Affondatore") hohl und blos durch den Vorsteven") in
Verbindung mit den beiden Schiffswänden gebildet. Man kann es sich etwa
so vorstellen, als ob die letzteren, die rechte und die linke Schiffswand, in
der Form von zwei auf die hohe Kante gestellten und mit der Höhlung
gegeneinander gesetzten Löffeln von beiden Seiten her zusammentreten, und
als ob ein Eisenbügel, der die Commissur der beiden Löffelschalen sichern
und zusammenhalten würde, durch den Vorsteven ersetzt wäre. Sollte sich ein¬
mal Gelegenheit zum Anrennen eines feindlichen Fahrzeugs bieten, was aller¬
dings nicht sehr wahrscheinlich ist, solange dasselbe auch nur eine Schnelligkeit
von 7 Knoten besitzt, so wird die beschriebene Bugform des Arminius gewiß
gute Dienste thun.
Auch die Form des Heath (Hinterschiffs) ist beim Arminius äußerst zweck¬
mäßig. Abweichend von den Holzschiffen, die nach hinten entweder eine platte
Fläche (platlgattet), oder wenigstens eine runde sehr breit gehaltene Fläche
(rundgattet) den Wellen darbieten, läuft der „Arminius" nach hinten ganz
scharf zu. ziemlich ebenso wie nach vorn. Man hat hier die äußerst sinnreiche
und praktische Erfindung benutzt, welche der geniale Franzose Dupuis de Lome
gemacht und zuerst bei seiner Panzerfregatte „Gloire" verwendet hat. Auf
diese Weise vermag das Heat, auch wenn schwere Seen von hinten über das
Schiff hereinbrechen — ein Fall, der früher bei Holzschiffen für besonders ge¬
fährlich galt, — diesen Wogenschwall zu zertheilen, und außerdem verleiht ihm
die Konvexität auch innerlich eine ganz besondere Stärke. Uebrigens ist das
Heat in dieser Form weiter nach hinten übergcbaut, als der Kiel, oder vielmehr
das Oberschiff (vom Beginn der Panzerung, d. h. von Fuß unter der
Wasserlinie an) geht bedeutend weiter nach hinten, als das Unterschiff, sodaß
also die Schraube und das Steuer (ein sehr breites bülkmevü ruücler, wie sich
bei ruhigem Wasser erkennen läßt) ganz unter Wasser liegen und gegen Schüsse
von oben, gegen ein Anrennen durch das überragende Hinterschiff gänzlich gedeckt
sind. —
Die Panzerung der Schiffswände des „Arminius" besteht aus massiven
4'/.zölligen Platten auf einer Unterlage von Szölligen Thekaholzbalken, die ihrer¬
seits wieder auf der dünnen 3'/, zölligen Eisensand des Schiffes ruhen, welche
letztere die eisernen Rippen umschließt. Der Panzer reicht vom Deck (also 4
Fuß über Wasser) bis 2'/.2 Fuß unter die Wasserlinie; es können daher, auch
wenn das Schiff während des Gefechts zu Schlingern beginnt, doch keine Schüsse
in den unter Wasser befindlichen Numpf eindringen. Derjenige Theil, der noch
tiefer liegt, ist natürlich gegen Schüsse durch das Wasser selbst geschützt und
deshalb, wie bei allen Schiffen gleicher Gattung, ungepanzert, da bekanntlich
Schüsse auf das Wasser abgefeuert stets ricochcttiren, aber nicht einschlagen.
Doch selbst wenn durch einen unerwarteten Zufall, etwa durch Auflaufen auf
Klippen, der unter Wasser befindliche Theil leck würde, so wäre damit das
Schiff noch lange nicht verloren. Nach dem Princip nämlich, das seit einigen
Jahren in England fast für alle Eisenschiffe Eingang gefunden, hat man es
durch 4 wasserdichte eiserne Querschotten sbullclreaäs, Querwände) in S wasser¬
dichte Abtheilungen Oatertiglrt eomrM-laeues) getheilt und so „unLmKMk"
gemacht. Denn wenn auch eine dieser Abtheilungen ganz voll Wasser läuft,
genügen die anderen mit der darin enthaltenen Luft völlig, um das ganze
Schiff über Wasser und seefähig zu erhalten. Außerdem bilden hinter der
Panzerwand, auf der Innenseite der eigentlichen Eisensand, die hohen eisernen
Rippen, mit ebenso hohen Horizontalbändern von Winkeleisen sich kreuzend,
ein Fachwerk, ein System hohler Zellen, das inwendig durch die innerste Ver-
Plankung des Schiffes geschlossen wird und ebenfalls die Durchbrechung des
Panzers unschädlich macht, indem es dieselbe localisirt d. h. jedesmal auf eine
Zelle beschränkt.
Von 2'/- Fuß unter Wasser bis 4 Fuß über Wasser, also im ganzen in
einer Höhe von 6'/- Fuß geht nun der Panzer ununterbrochen und in völlig
gleicher Stärke um das ganze Schiff herum und nimmt nicht etwa nach den
Enden des Schiffes hin an Stärke ab. wie bei vielen englischen Panzerschiffen
der Seefähigkeit wegen nöthig war. Wie die Spanten (Nippen) so sind natür¬
lich auch die Deckbalken aus Eisen, wodurch das Schiff unverbrennlich gemacht
ist; außen aber ist das Deck der Bequemlichkeit halber mit Holzplanken belegt,
und durch kreisrunde Ausschnitte ragen aus diesem Plankendeck die beiden
Thürme hervor. Der „Arminius" ist nämlich nicht nach dem amerikanischen
Monitor-Thurm-System, sondern in engerm Anschluß an das ursprüngliche
Kuppelsystem des englischen Capitäns Coles gebaut. Wie wir früher bei der
Beschreibung des amerikanischen „Miantonomoh" in diesen Blättern bemerkt
haben, gebührt das hohe Verdienst, überhaupt von der Breitseitenarmirung ab¬
gegangen zu sein und die Armirung mit Geschützen auf Drehscheiben, die ihrer¬
seits durch Panzerung geschützt sind, erfunden zu haben, ausschließlich dem eng-
l'schen Capitän Cowper Coles von der königlichen Marine, welcher schon ge¬
legentlich des Krimkrieges hierauf abzielende Vorschläge der englischen Admira¬
lität einsandte. Da man zu jener Zeit die Panzerung von Schiffen überhaupt
für ein Unding hielt, wurden diese in England bei Seite gelegt. Als aber
infolge der glücklichen Resultate, welche durch französische Panzerschiffe erzielt
Wurden, der Bau von Panzerschiffen allgemeinern Eingang fand, suchte der
Amerikaner Ericson, ein geborener Schwede, die Colessche Erfindung wieder hervor
und brachte sie mit mehreren Modifikationen zur Anwendung, die wir allerdings
sämmtlich für Fehlgriffe halten. Um seinen Schiffen Secfähigkeit zu verleihen,
hatte Coles hohen Bord und eine nicht unbedeutende Takelage gefordert; das
Oberdeck, aus welchem die Geschützkuppeln hervorragten, sollte wenigstens so
hoch zu liegen kommen wie der Untcrdrempcl (Unterkante, eilt) der Geschütz-
Pforten bei Fregatten. Die GesMtzdrehscheiben aber sollten nicht auf dem
Oberdeck selbst stehen, sondern in dasselbe soweit eingelassen sein, daß die Geschütz¬
mündungen gerade über das Oberdeck hinausragten, und daß von ihrer Panze¬
rung, also vom Thurm, nur der kleinere Obertheil den Schüssen ausgesetzt
wäre. Coles hatte zuerst Schilde, etwa wie Uhrgläser über die Geschützdreh-
scbcibe gedeckt, dann runde Kuppeln, dann abgestumpfte konische und schließlich
cylindrische Thürme vorgeschlagen, die aber eben bis zur Geschützmündung in
das Deck eingesenkt sein sollten. Ericson machte dagegen bei seinen Monitors
die Schiffswand so niedrig als möglich, er legte das Deck so tief, daß das
Schiff kaum eine Elle über Wasser ragte und daß eine'Takelage zur Unmög¬
lichkeit wurde. Auf diese Weise nahm er dem Schiffe jede Aussicht auf See¬
fähigkeit, wenn auch das Panzergewicht im ganzen dadurch etwas vermindert
wurde. Da aber die Geschütze nicht so niedrig gestellt werden durften, daß jede
leichte Welle in die Mündungen hineinlaufen konnte, so war er genöthigt, die
Geschütze mit ihren hohen Lafetten auf dem Oberdeck zu placiren, und zu
ihrer Deckung hohe Thürme auf dem Deck zu errichten, sodaß derjenige Theil
der Panzerung, der drehbar, also nicht fest mit dem Schiffe verbunden ist, in
bedenklicher Weise vergrößert wurde. Bei beiden Systemen kann durch Ein¬
nehmen von Wasserballast das Fahrzeug noch etwa um eine Elle gesenkt und
bei ruhiger See den Schüssen des Gegners um so viel entzogen werden. Neh¬
men wir diesen Zustand der Gefechtsbereitschaft als normale Lage an, so ist
der Unterschied zwischen dem Colesschen Kuppelsystem in seiner letzten Form
und dem Ericsonschen (Monitor-) Thurmsystem kurz gefaßt der, daß vom Was¬
serspiegel bis zur Höhe der Geschützpforten bei Coles der ganze Schiffskörper
herausgeht, bei Ericson aber im Bereich dieser Höhe nur die Thürme hervor¬
ragen. Ericson bietet also allerdings weniger Ziclflciche, und hat somit weniger
Panzer nöthig; Coles dagegen exponirt viel weniger vom drehbaren Theil
seines Panzers und hat damit mehr Solidität des Systems gegenüber dem
Anprall der Schüsse; er hat wegen des hohen Bords ferner ein seefähiges
Fahrzeug von großer Offensivkraft, während Ericsons System nur zur Defensive
ausreicht und auch hierbei nie in offensiver Form Verfahren kann. Schließlich hat
Coles den großen Vortheil, Takelage führen zu können, also weite Reisen zu
machen, während Ericson nur kleine Reisen und auch diese nur mit enormem
Kohlcnvcrbrauch ausführen kann. Coles hat hohen Bord und niedrige Thürme,
Ericson niedrigen Bord und hohe Thürme. Als nicht principieller, aber fac-
tischer Unterschied kommt dann noch hinzu, daß aus den Colesschcn Schiffen
massive Platten im Gebrauch sind, auf den Ericsonschen aber Platten, die aus
einzölligen Theilen zusammengenietet, also viel schwächer sind. Bei beiden
aber sind die Geschützstellungen drehbar und bestreichen den ganzen Horizont,
Während sie bei den amerikanischen Kascmattenschiffcn (mit schrägen Panzer-
wänden) und den englischen Schiffen mit einer LhuurL-bg-twi'? (mit senkrechten
Panzerwänden) fest stehn und nur nach einer einzigen Richtung Feuerwirkung
haben, wenn sie auch andererseits eine solidere Panzcrdeckung der Geschütze be¬
sitzen als die drehbare» Thürme. Wie man aber für den Landkrieg dem Sol¬
daten bet der Jnsiruction einzuprägen gewohnt ist, daß er als Tirailleur
Deckung suchen muß, aber nie aus Kosten seiner Wirksamkeit (sonst könnte er
ganz zu Hause bleiben, wo er am allersichersten wäre) — so ist auch für den
Seekrieg festzuhalten, daß die freie Feuerwirkung in erster Linie steht, die
Deckung dagegen erst in zweiter, und daß sie nur insoweit wichtig ist, als sie
die erstere nicht beeinträchtigt. In dieser Beziehung haben von allen bisherigen
Systemen diejenigen mit drehbaren Thürmen den Vorzug, und unter ihnen ist
Wieder Coles vorzüglicher als Ericson, wenn das Schiff nicht für die reinste
Defensive*) dienen soll; ja selbst für die Defensive müssen wir, da dieselbe sich
nicht gut durchführen läßt, ohne gelegentlich in offensiver Form aufzutreten,
dem Colesschen System unter allen bisher zur Ausführung gekommenen unbe¬
dingt den Preis zuerkennen.
Der „Arminius" darf vielleicht unter allen jetzt fertigen Panzerschiffe»
der ganzen Welt als dasjenige Schiff gelten, bei welchem dieses System am
«llerstrengsten durchgeführt ist. Denn seine Bordwand ist im Verhältniß zur
Eintauchung seiner Enden bei den Bewegungen in See bedeutend höher als
bei allen entsprechenden englischen Schiffen („Royal Sovcreign", „Püree
Albert", „Scorpion" und „Wivern"), bei allen entsprechenden französischen
Widderschiffen („Taureau", „Böller" u. s. w.) dem italienischen „Affvndatore"
und dein dänischen^) „Rolf Krake". Die einzige Einrichtung, welche in Coles'
ursprünglichem Plane liegt, beim Arminius aber nicht angewandt ist, hat über-
Haupt bei keinem Panzerschiff Anwendung gefunden — auch projectirt war sie
nur bei zwei türkischen Panzercorvetten resp. Panzerkanonenbovten. Da nämlich
ein schräg liegender Panzer von den Schüssen weniger zu leiden hat als ein
senkrechter, wollte Colcs ursprünglich den Panzer nur unter Wasser senkrecht
stehen lassen, von der Wasserlinie aufwärts aber ihn nach innen neigen, in Form
eines Daches, aus dessen abgeplattetem First dann die Thürme aufsteigen soll¬
ten. Damit aber die Wellen nicht zu sehr über diese schräge Dachfläche brechen
konnten, wollte er als Fortsetzung des senkrecht unter Wasser befindlichen Pan¬
zers eine dünne Eisenwand ebenso aufsteigen lassen, innerhalb deren dann der
schräge Panzer zu liegen gekommen wäre.
Genau nach den Vorschriften Coles' sind die beiden vollständig cylindri-
schen Geschützthürme des „Arminius" construirt, die im ganzen 7 Fuß hoch
sind, um 4 Fuß unter Deck versenkt, also so weit in das Oberdeck ein¬
gelassen, daß sie nur mit 3 Fuß ihrer Höhe über Deck ragen, und dem Be¬
sucher, wenn er ans Deck steht, kaum bis an die Hüfte reichen/ Dieser obere
Theil ist ebenso wie die Bordwand mit 4'/-zölligen Platten gepanzert, deren
Dicke an der Stelle, wo die beiden Geschützpforten dicht neben einander
liegen, bis auf 7'/»^8 Zoll massiver Eisenstärke zunimmt, weil denselben hier
wegen der Nähe der Oeffnungen die Stärke abgeht, welche jedem übrigen
Theile der Panzerung durch den allseitigen Zusammenhang mit dem übrigen
Panzer wächst. Unter Deck dagegen ist die Wand der Thürme durchbrochen,
um das Gewicht zu vermindern und leichten Zugang aus den übrigen Thei¬
len des Schiffs in die Thürme zu vermitteln. Das konnte ohne Gefahr
geschehen, da der ganze unter Deck liegende Theil durch die Panzerung
der Bordwand völlig geschützt ist; natürlich aber sind die massiven Eisen¬
säulen, zwischen welchen die Durchbrechungen der Wand liegen, so stark ge¬
halten, daß sie das Gewicht des obern Theils des Thurmes zu tragen und
bei Schüssen, welche an die letzteren Theile anschlagen, den Zusammenhang ge-
nügend zu erhalten im Stande sind. Da die Thürme um 4 Fuß unter Deck
versenkt sind, liegen natürlich die Geschützpforten ganz dicht über dem letztern!
der unterste Theil der Geschützmündung liegt gewöhnlich nur 6 Zoll, die See-
lenaxe der Geschütze nur etwa 18 Z>,it über dem Oberdeck, ohne daß jedoch
Gefahr vorhanden wäre, mit dem hö-cuer der Geschütze daS Deck in Brand zu
stecken, wie dies die Schießübungen hinreichend bewiesen haben. Die Anwrung
jedes Thurmes besteht aus 2 gan^ schiveren Kanonen, deren Gattung aber seit¬
her mannigfach gewechselt hat. Ursprünglich waren englische gezogene 120Psün-
der in Aussicht genommen; später aber, als die Fortschritte der P.in^erung das
Bedürfniß nach einem stärkern Kaliber herantreten ließen. sol-ne er 300pfundige
Armstrong-Hinterlader (schmiedeeiserne, aus übereinander gezogenen Elsenröhrcn
hergestellte) Geschütze von 10'/- Zoll Kaliber tragen. wie sie jetzt nur an Bord
der allerstärksten englischen Panzerschiffe „Minotaur". „Bellerophon", „Royal So-
vercign" „Scorpion", und auch da nur in geringer Zahl geführt werden. Die
Geschützrohre dieses Kalibers wiegen bei 10 Fuß Länge und 2 Fuß Dicke an
der Mündung, 4 Fuß Dicke hinten am Stoß, nicht weniger als 12 Tons eng¬
lisch, also 240 Centner; die Wandstärke ist auf eine Pulverladung von 35—
40 Pfund für einen einzelnen Schuß bemessen, und mit dieser enormen (5xpan-
sivkraft werden auf den Gegner entweder längliche (cylindro-ogivale) Hvhige-
schösse mit Sprengladung oder etwas kürzere Vollgeschosse desselben Durchmessers
von 300 Pfund Gewicht geschleudert, die übrigens sämmtlich verstählte Spitzen
haben. So furchtbar aber auch diese Offensivwaffen waren, man sah sich doch
genöthigt, noch andere in gewisser Beziehung wirksamere Geschütze zu wählen,
die zugleich das Schiff weniger beschweren sollten. Man nahm 4 gezogene
72Minder von Kruppschem GußstadI*). Diese hatten nur ein Nobrgcwicht
von 130 Zoll-Centner. wozu noch die 20 Centner schwere schmiedeeiserne La¬
fette kam, und sie schlenderten mit 16 Pfund Pulverladung Hohigeschvsse von
etwas über 200 Zollpfund und Vollgeschosse von 225 Pfund mit einer Wir¬
kung, welche bei der bessern Construction die der englischen Geschütze noch über¬
traf. Denn sie schlugen ans 650 Schritt durch 4'/« zottige massive Panzerplatten
auf dem Schießplatz von Tegel glatt hindurch, sodaß sie in der Schiffswand
^hinter explodirten. namentlich als man Stahlgcschosse aus schwedischen Eisen
oder Hartguß-Geschosse von Grüson aus Buckau bei Magdeburg verwandte.
Bei der zunehmenden Vervollkommnung der Panzerung jedoch gab man dem
»Arminius" statt dessen 72Pfünder aus Vronzc. die noch zäher, wenn auch
schwerer als der Gnßstcchl ist, um durch eine Vergrößerung der Pulverladung
auf 22 Pfund noch mehr auszurichten. Und man hat auch wirtlich auf diese
Weise mit 210 Pfund schweren Verschossen im Anfang vorigen Jahres
5Mige Platten auf 1500 Schritt durchschossen, aber auch das wird noch über¬
boten; schon sind, wie wir oben bemerkten, gezogene 90Pfiurder (Nominal¬
kaliber) in Construction, und noch schwerere Kaliber werten sicher folgen. Jene
bronzenen 72Psünder sind natürlich Geschütze von ganz ge'valtigen Dimensionen,
und macheu auf ihren mannshohen Lafetten einen imposanten Eindruck, wenn
man sich innerhalb des Thurmes befindet. Man steht in einem hohen, ziemlich
20 Fuß im Durchmesser haltenden Cylinder, wie in einem großen oben ge¬
schlossenen Bottich, rings umgiebt den Beschauer die geschlossene Wand des
obern Thurmtheils, deren Dicke den Eindruck enormer Massivität macht. Die
beiden Geschütze jedes Thurmes stehen hart nebeneinander und völlig parallel
nach derselben Seite hin gerichtet, sodaß auch die beiden Geschützvfortcn ziem¬
lich dicht nebeneinander liegen. Man hofft durch das Einschlagen von je 2
Kugeln unmittelbar bei einander die feindlichen Panzer viel wirksamer zu zer¬
stören als durch einzelne Geschosse. Innen im Thurm wird nur die Höhenrichtung
(Elevation) genommen, behufs deren die Geschützpforten (von aufrecht ovaler
Form) etwas höher sind als der Umfang der Gcschützmündung; die Seiten-
richtung dagegen läßt sich, da die Gcschützpfvrten so schmal sind, daß gerade eben
nur die Geschützmündung hindurchgesteckt werden kann, sodaß ein Eindringen
feindlicher Geschosse völlig unmöglich ist. — nur durch Drehung des ganzen
Thurmes bewirten und gilt dann für beide Geschütze des Thurms gleichzeitig,
da sie stets parallel feuern müssen. In der Decke jedes Thurms befinden sich
drei Oeffnungen theils zur Ventilation, theils zum Nichte». Der Geschützcom¬
mandeur lugt während des Gefechts mit dem Kopfe aus einer dieser Oeffnungen
heraus und übersieht den ganzen Horizont, vor ihm auf der Thurmdecke sind
Korn und Visir für die unmittelbar darunter befindlichen Geschützrohre ange¬
bracht, die eben nie eine andere Seitenrichtung haben können als der mitten
zwischen ihnen liegende Radius des Thurms.
Die Drehung der Thürme selbst erfolgt durch Menschenkraft, was wir für
einen der allergrößten Vorzüge des „Arminius" gegenüber den amerikanischen
Monitors halten, bei denen die Thürme durch besondere Dampfmaschinen be¬
wegt sind. Dampfmaschinen nämlich gerathen, besonders während des Ge¬
fechts, durch Springen eines Rohrs, Beschädigung eines Ventils sehr
leicht außer Thätigkeit, und ist der DrchungsmechanU'MUs lädirt, so kann das
Geschütz auch nicht die geringste Seitenbewegung mehr machen. Beim „Ar¬
minius" dagegen sind die Geschütze stets zu gebrauchen; selbst angenommen
den Fall, daß von der Bemannung des Thurms einige Leute durch den
Anprall feindlicher Geschosse außer Gefecht gesetzt sind, so werden aus den
r«deren Schiffsräumen einfach Ersatzmannschaften in den Thurm commandirt,
und der letztere fungirt mit seinen Kanonen ruhig weiter. Die Thürme,
die mittelst Rollen oder kleiner Räder in einer Kreisschiene laufen, werden
durch 4 Mann gedreht; indessen haben wir selbst, als wir uns mit dem
Kapitän in einem Thurm befanden, gesehen, daß bei ruhiger See auch zwei
Mann an den Kurbeln genügen, um das ganze ungeheure Thurmgewicht*) mit-
sammt den schweren Bronzegeschützen und den Schmiedecisenlafetten bequem und
mit überraschender Schnelligkeit herumzudrehen. Auch bei bewegter See füh¬
ren die Thürme in 2^ Minuten die vollständige Kreisbewegung aus, was für
Gewinnung der Scitennchtung noch schneller zum Ziele fühlt als die Einrich¬
tung gewöhnlicher Lafetten für schweres Geschütz. Während des Ladens wer¬
den übrigens reglementarisch die Geschützpforten durch Drehung des Thurms
vom Feinde abgekehrt, eine etwas übertriebene Vorsicht. Für die Bedienung
der Geschütze sind übrigens nur 9 Manu nöthig, und wir haben so die über¬
raschende Thatsache, daß einschließlich der Geschützcommandcure 20 Mann völlig
genügen, um die ganze furchtbare Art llerieausrüstung des „Arminius" wirken
zu lassen.
Das Deck ist ganz glatt und horizontal gehalten von der vordern bis zur
hintern Spitz.'; kein Verschlag, weder Back noch Schanze, keine Commando-
brücke, kein Geschütz, leine von den vielen Einzelheiten ist zu sehen, die dem
Deck anderer Schisse ein so buntes mannigfaltiges Aussehn verleihen. Ringsum
laufen die zum N>ederNappeu eingerichteten Stahlpiatten-Neilings; in der Mutel¬
linie des Schiffs aber, ziemlich nahe den Enden stehen die beiden Masten einer
dürftigen, schmächtigen Schooner-Takelage, die d'urch Draht-Warten (Taue mit
„Strickleitern") nach den Seiten gehalten werden, und deren stage (die nach vorn
haltenden starken Taue) bei beiden Masten direct nach dem Deck hinunterlaufen.
Dicht hinter dem Fockmast erhebt sich nun der vordere, dicht vor dem Großmast
der Hintere Geschützthurm, die je 20 Fuß Durchmesser haben. Mitten zwischen
ihnen steigt der ziemlich hohe schwarze Schornstein empor und vor dem letz¬
ter«, zwischen diesem und dem vordern Geschützthurm, erhebt sich der Cvm-
wandantcnthurm über Deck. Derselbe ist nicht drehbar, sondern fest mit dem
Deck verbunden, über welches er V Fuß emporragt, und er hat außerdem einen
weit geringern Durchmesser als die Gefechtsthürme. Er besteht ganz aus 4-
dis 7zölligen Schmiedeeisen und besitzt oben ein flach komisches Dach, dergestalt
«»gebracht, daß zwischen dem Unterrande des Daches und dem Oberrande der
Thurmwand ein zollhoher Schlitz ringsumläuft, durch welchen der Commandant
beobachtet. Zugleich befindet sich in diesem Commandothurm natürlich das
Steuerrad und ferner ein Sprachrohr, das nach der Maschine hinab geht, sodaß
der Commandant das Schiff von hier aus völlig in der Gewalt hat wie der
Reiter sein Pferd; überdies steht dieser hier dem vordem Gefechtsthurm so
nahe, daß das Commando von da aus ganz gut zu hören ist.
Außer den Masten und den Thürmen unterbrechen die Einförmigkeit des
Decks einzig und allein noch die Spille für das Aufwinden der Ankerkettcn,
die Davids, in weichen die Boote hängen, und endlich die Luken, durch welche
man in das Innere hinabsteigt; für die letzteren ist übrigens ebenso wie für
die Basis der Tyürme in neuerer Zeit ein dichterer Verschluß zur Anwendung
gebracht worden, sodaß man nunmehr während der Fahrt nicht mehr so viel
Wasser ins Innere des Schiffs bekommen wird wie früher. Für die Zeit des
Gefechts können zudem die Davids der Boote und sogar die Schwellen der
Maschinen- und anderen Luken weggenommen werden, um die Zielstriche für
den Feind noch mehr zu vermindern.
Inwendig bietet das Schiff, wenn wir von dein untern Theile der Thürme
im Zwlsch.nbcck und von der Maschine absehen, gar nichts Besonderes; natür¬
lich sind alle Räume, Maunschaftslogis, Offiziers-Cabinen und Capitäne-Cajüte
der Panzerung wegen ohne Licht von den Seiten, und werden nnr durch das
Oberlicht der Decklnken und -Linsen oder durch künstliche Beleuchtung erhellt.
Die Maschine von 300 Pferdekrafi (nommat), die übrigens ganz unter Wasser
liegt und somit nicht blos durch den Panzer gedeckt wird, ist in der berühm¬
ten Fabrik von Peru and Son in Greenwich-gebaut und macht ihrem Erbauer
alle Ehre. Bei der Probefahrt auf der Themse trieb sie mit 95 Umdrehungen
in der Minute das Schiff mit voller Belastung bei ruhigem Wasser, also unter
Umständen wie es in das Gefecht kommt, mit einer Geschwindigkeit von 11
bis 11'/- Knoten dahin (mit halber Dampfkraft so schnell, wie gewöhnliche Holz-
kriegsschiffe in>t Vollkraft), und diese Schnelligkeit vermag sich unter günstigen
Umständen bis auf fast 12 Knoten zu steigern, während sie selbst bei hohem
Seegang noch immer 8 bis 9 Knoten behält, was rum von sehr wenigen
Panzerschiffen der anderen Flotten sagen kann. Bei der bekannten Wettfahrt
mit dem amerikanischen Monitor „Miantonomoh" in Kiel, deren wir bei der
Beschreibung des letztern Schiffes in diesem Blatte geoachten, machte der Ar-
nunius 10'/-Knoten, während der Monitor nur 8 Knoten erreichte; der dänische
„Rolf Krake" vermag es sogar nur auf höchstens 7 Knoien zu bringen.
Etwas weniger als die Schnelligkeit des „Arminius" und seine überraschende
Fähigkeit, leicht zu steuern, befriedigte im Anfang sein Verhalten in See, da
er zu viel Wasser übernahm und zu viel davon in das Innere des Schiffs ein¬
dringen ließ; doch hat man diesem Uebelstande, wie erwähnt, später durch Dich¬
tung der Luken und der Basis der Gefechtsthürme zu steuern unternommen,
und somit hat er denn auch seine zweite Fahrt durch das Skagcrrack trotz sehr
bewegter See zu großer Zufriedenheit des Capitäns zurückgelegt. Das Einzige,
was man noch an dem Schisse aussetzen könnte, rst die geringere Stabilität
gegenüber dem „Miantonomoh", der infolge seiner unverhältnißmäßigen Breite
bei der Wettfahrt ohne sehr merkliche Schwankungen flach auf dem Wasser lag
wie ein Floß und somit seine Geschütze ruhiger bedienen konnte; Ursache ist die
geringere Breite des „Arminius", durch welche die Schnelligkeit bedingt wird,
und die letztere ist denn doch bei weite», wichtiger.
Indessen auch dieser geringen Stabilität des „Arminius" möchte sich nach
unserer Meinung bedeutend abhelfen lassen, und zwar nichl durch gänzliche Weg.
nähme der Takelage, wie man sie für das Gefecht beabsichtigt, sondern vielmehr
durch Vergrößerung derselben, wodurch der Gcsammtschwcrpunkt des Schiffes
hoher zu liegen käme. Wahrend man nämlich früher geglaubt hatte, daß die
Panzerschiffe wegen ihrer starken Beschwerung des Obcrwerts durch den Panz.r
zu rank sein, zu viel Neigung zum Umfallen haben würden, hat die Praxis bei
den großen Versuchsmanövern der französischen und der englischen Panzerflotte
>n der atlantischen See bei schwerem Sturm das gerade Gegentheil gezeigt.
Die Schiffe, bei denen man den Panzer möglichst niedrig zu legen und unten
durch Ballast und die Maschine im sternen recht kräftig zu balanciren gesucht
hatte, waren dadurch zu steif geworden, sie halten die Neigung bekommen, sich
zu schnell und zu heftig wieder auszurichten, wenn sie von Wind und Wellen nieder¬
gelegt waren, eine Eigenschaft, welche auch offenbar daran schuld ist, daß kürzlich
«ufere Panzerfregattc „Friedrich Karl" in der biscayschen See ihre Masten abge¬
schlingert hat. Gerade diejenigen Panzerschiffe, welche einen recht hohen Criraß
halten, so der englische „Bellerophon" mit seinem hohen Commcrndothurm auf
Deck, an dessen Zweckmäßigkeit man sehr gezweifelt hatte, und die französischen
Panzcrlinienschiffe „Magenta" und „Solscrino", die einzigen Panzerzweidecker der
^ete, mit ihren oberen 'Zaltcricn, hielten sich im Sturm am allerbesten. Seitdem
baut man bedeutend höher. Die französischen Schiffe von der Classe der „Alma"
und des „Marengo" erhalten sogar 4 kolossale Bankett-Geschütze in aufsprin-
genden Halbthürmen über ihrer Batterie. Auch auf dem „Arminius" wurde
U"s geklagt, daß das Schiff nicht zu rank, sonder» eher zu steif sei und zrr
heftig wieder aufschnelle, was bei der Niedrigkeit des Baues, durch welche mau
^e Zielfläche für den Feind möglichst hatte verringern wolle», nur natür-
lich war. —
Die Geschichte unseres „Arminins" hat bis jetzt wenig Bemerkenswerthes
verzeichnen. Das Schiff wurde in Pvplar (London) auf der Werft von d'Agni-
!ar Samuda (Firma: Samuda Brothers) unter Überwachung ein.s preußischen
Ingenieurs gebaut, während die Maschine wie erwähnt von Peru and Son
Ul Greenwich geliefert ward. Der Gesammtpreis belief sich schließlich auf
624.914 Thaler, während für den Schiffskörper 78,750 Pfd. Sterling contract-
lich ausbedungen waren. Am 20. Angust 18V4 lief der Arminius bereits vom
Siapel, mußte aber leider, obwohl der contractliche Ablieferungstermin in den
September jenes Jahres fiel, wegen des dänischen Krieges, welcher dem neu¬
tralen England die Auslieferung an eine kriegführende Macht nicht gestattete,
die Gelegenheit versäumen, sich gleich praktisch nützlich zu machen. So gelangte
das Schiff erst im April 1865 zur Ablieferung und wurde, nachdem die Probe¬
fahrt auf der Themse so günstig ausgefallen, und der Compaß regulirt war,
unter Commando des Capitänlieutenant Struben nach Preußen übergeführt.
Bei dem sehr stürmischen Wetter hatte das Schiff zu leiden; es schlingerte
stark, nahm viel Wasser über, von der stählernen Schanzkleidung wurde durch
die See eine festgenietete Platte und ebenso die Fallrcepsthür weggeschlagen,
ein Boot beschädigt und die Davids wie Draht durch die Wellen Verboten.
Trotzdem hielt sich das Schiff, während die Maschine ganz vortrefflich arbeitete
und 8 — 9 Knoten bei schwerer See machte, im ganzen gut; den Uebelständen
ist jetzt meist abgeholfen. Von Helsingör, wo der Arminius bei seiner Ueber-
fahrt eingelaufen war, erhielt er Ordre, nach Kiel zu gehen. Beim Beginn
des Krieges 1866 machte er die 380 Seemeilen von Danzig nach Kiel in 40
Stunden (also 9'/- Knoten Durchschnittsgeschwindigkeit), und von Kiel nach
Hamburg. 560 Seemeilen, in 60 Stunden (also 9'/- Knvien durchschnittlich),
trotz theilweise sehr ungünstiger See im Slagerrack. Beim Beginn der Feind'
Seligkeiten gegen Hannover erhielt das Schiff Gelegenheit zu seiner ersten, bis
jetzt einzigen Waffenthat, die es allerdings ohne einen Schuß zu thun aus¬
führte. Es legte sich nämlich mit schußbereiten Kanonen gerade vor die Ufer¬
batterien von Stade, und landete dann eine Anzahl Boote mit Mannschaften
unter Anführung des Capitän Werner selbst. Nach dem Bericht von Augen¬
zeugen hatte Werner, wie es so recht in dem Charakter dieses bei den See¬
leuten ungemein beliebten Offiziers liegt, vor dem Gefecht die classische Anrede
geHallen: „Jungens, wer nicht ordentlich drauf geht, den holt der Teufel!"
Nach Beendigung dieser überaus lakonischer Ansprache waren dann die Boote
trotz der drohenden Kanonen des Gegners ohne Bedenken auf das Land zu
gesteuert und hatten dort die Mannschaft völlig übenumpclt — ein Be¬
weis, wieviel der kleinstaatliche Schutz Hannovers gegen einen nichtdeutschen
Gegner werth gewesen wäre. Zum Theil war übrigens die hannöversche
Besatzung auch nicht allzugut instruirt. Der Posten vor dem Pulvermaga¬
zin hatte sogar, als die Preußen herangekommen waren, gefragt, ob er abge¬
löst sei und nun gehen könne, eine Frage, deren discrete Naivetät mit heiter¬
sten Gelächter bejaht wurde. Während des Kriegs stationirte der „Arminius"
zunächst in Geestemünde; dann kehrte er nach Kiel zurück und machte hier im
Herbst die Wettfahrt mit dem amerikanischen Dvppelthurmmonitor „Mianto-
nomoh". Wie wir schon früher erzählten, zeigte sich unser Schiff dabei in
Steucrsähigleit und Schnelligkeit ganz glänzend überlegen. — Man muß
sagen, die Ausgabe, ein Schiff von so geringem Tiefgang, so vorzüglicher Ma-
növrirfähigkeit (Lenkbarkeit, die auf den geringe» Dimensionen beruht) und so
geringem Preise zu bauen und dasselbe dabei doch so stark zu panzern wie die
große Mehrzahl der englischen und französische Panzerschiffe, diese Aufgabe ist
vom Erbauer des „Arminius" wirtlich meisterhaft gelöst worden. — Das harte
Urtheil, das die öffentliche Mnnung im Anfang hören ließ, beruhte theils auf
einer kleinen Rivalität der Handelsmarine, und besonders der hanseatischen
gegenüber der preußischen, theils auf Opposition gegen die preußischen Wchr-
einrichlungen überhaupt; es ist seitdem durch die Thatsachen völlig ins Gegen¬
theil verwandelt worden.
„So groß ist unser Unglück, daß wir selbst den Glauben an Hilfe eine
Thorheit nennen; so kläglich unsere Zersplitterung, daß wir selbst das Bedürf¬
niß der Einigung nicht mehr empfinden; so absolut unsere Nichtigkeit, daß wir
uns unserer Schwäche freuen können; so tief unsere Entwürdigung, daß wir
Mit unserer Schande prahlen; so heillos unsere Verblendung, daß wir die rettende
Hand, die man uns bietet, mit Haß und Widerwillen von uns stoßen."
„Ich behaupte, daß weniger die Fürsten als die Völker Deutschlands das
große Hinderniß seiner Vereinigung bleiben werden."
„Und leider ist ja doch der Freiheitssinn der Deutschen nur noch darin
sichtbar, daß sie nirgends mehr zusammenhalten, keiner sich in andere schicken
will. Bei der geringsten Kränkung eines falschen Ehrgefühls durch Seinesglei-
chen ist der Deutsche gleich entschlossen, jedes Band der Vereinigung mit Stam¬
mes- und Volksgenossen aufzulösen; sobald nicht alles nach seinem Sinn geht
°der seine Eitelkeit und Eigenliebe nicht ihre Rechnung findet, zieht er sich auf
sich selbst zurück oder wirst sich durch einen Verrätherischen Bund mit Fremden
der offenbaren Schande in die Arme."
Paul Pfizer kannte seine Schwaben. Vor 36 Jahren sind diese seine Sätze
geschrieben. Aber sie könnten heute geschrieben sein. Dieselben Wahrnehmun¬
gen hätte der machen können, der den Debatten der würtembergischen Abge¬
ordnetenkammer über die Allianz- und die Zvllvereinsverträge beiwohnte.
Der Ausgang ist ein den Verträgen günstiger gewesen; es ist die Schmach
abgewendet worden, beiß ein deutschem Volk, Herr seines freien Willens, die
Waffen- und Verkehre-gen-inschaft mit den Brüdern aufsagte und mit eigenen
Händen einen Strich zwischen sich und Deutschland zog. Diese Schmach, dieser
Loskanf a» das Ausland ist erspart worden. Aber dies ändert nichts an der
beschämenden Thatsache, daß diese Gefahr in der That nahe lag, daß Tage lang
da, über gestritten wurde, ob wir auch hinfort zu Deutschland gehören wollen
oder nicht, und daß die Gründe, welche schließlich den Ausschlag gaben, wesent¬
lich von außen gekommen sind. Der schwäbische Particularismus ist aufs
Haupt geschlagen worden, aber die innere Ueberwindung des Feindes muß nun
erst folgen.
Möglich, daß, wenn der Particularismus das Feld behauptet hätte, eine um
so raschere Nadicalcur die Folge gewesen wäre. Der Gedanke war verzeihlich,
daß die feindlichen Elemente in unserer Volkskammer und in der bayrischen
Adciskammcr wirklich die „eiserne Consequenz" möchten bewahrt haben, die ihr
„Beobachter" und „Volksbotc", dieses Dioskurenpaar am Himmel süddeutscher
Publ>cistik. bis zum letzten Augenblick andichteten, daß Bayern und Würtem-
berg eine Weile vor die Thüre des Zollvereins gesetzt worden wären und die
Folgen ihres Trotzes zu spüren gehabt hätten. Ohne Zweifel hätten nicht wir
Ursache gehabt, mit dem Gang der Dinge unzufrieden zu sein. Die Aufregung,
welche sich der bayrischen Bevölkerung bemächtigte, als der eine Factor der
Gesetzgebung dem Lande den Fehdehandschuh hinwarf, zeigt deutlich, welche ge¬
gewaltige Hebel der nationalen Sache zu Gebote standen, wenn sie einem ern¬
sten Widerstand begegnete. Gleichwohl ist es besser. daß nicht größere Zwangs¬
mittel angewendet werden mußten und ein normaler Gang der Dinge davor
bewahrte, die deutsche Entwicklung in die Bahn von Experimenten zu werfen.
Durch die Annahme der Verträge ist der Boden gewonnen, von welchem ans
ji'der weitere Fortschritt ohne Wiederkehr einer Krisis sich vollziehen läßt, und
das Zvllparlamcm, das nun gesichert ist, ist auch darum ein so unschätzbares
Instrument, weil so lange der förmliche Eintritt der süddeutschen Staaten in
den Bund nicht angeht, doch seine Competenz sich jederzeit beliebig erwei¬
tern läßt, bis endlich niemand mehr ein Interesse hat, dem völligen Eintritt zu
widerstreben.
Sehr unerwünscht war den Gegnern die Wahrnehmung von der Conne-
xität des Zoll- und Allianzvcrtrags. Es brauchte lange, bis die wiederholten
Erklärungen in Berlin endlich diese unbequeme Erkenntniß zur Reise brachten.
In der That hatte man sich in der seltsamen Illusion gewiegt, daß man recht
gut den einen Vertrag verwerfen, den andern annehmen könne; manche schienen
es^ als einen ganz billigen Handel zu betrachten, wenn sie, den Zollvertrag ge¬
gen den Allianzvertrag abwägend, eine Concession nach der einen Seite durch
ein Zugeständniß nach der andern compcnsirtcn. Als zuerst der Abg. Braun
Von Wiesbaden einen Strich durch diese Rechnung machte, ward die „leere
Drohung" mit dem üblichen, für solche Gelegenheiten vorräthigen Hohn aus-
genommen; durch so windiges Gerede konnte die Gesinnung schwäbischer Män¬
ner nicht erschüttert werden. Als jedoch die Erklärung, daß der Bund nur mit
denjenigen die Interessengemeinschaft fortsetzen könne, welche auch zu Schuh
und Trutz mit ihm zu stehen entschlossen seien, in höchst nachdrücklicher Form
sich wiederholte, wurde der Spott unsicherer, er verlor sich allmählich, man
ging jetzt in eine andere Tonart über und begann zu jammern über den uner¬
träglichen Druck, der angewendet werde und gar keine freie Entscheidung mehr
ermögliche. Allein so kurzlebig jene Hohnversuche gewesen, so überflüssig war
dieses Gejammer. Die süddeutschen Kammern waren wirklich so frei als mög¬
lich in ihrem Entschlüsse, sie konnten bleiben oder gehn, wohin ihr Herz sie
zog, und wenn man ihnen von Berlin aus den Charakter der Untrcnnbarkeit
ein jenen Verträgen nachwies, so hieß das nur auf die selbstverständlichen Fol¬
gen aufmerksam machen, die aus der Entschließung der Kammern sich ergaben.
Wenn diese nicht selbst der Folgen ihrer Handlungsweise sich bewußt schienen,
so war es sehr dankenswerth, wenn auch beschämend, daß ihnen die preußische
Regierung und der norddeutsche Bund diesen Dienst leisteten. Und wenn die
Lection öfters wiederholt werden mußte, so machte das freilich einen peinlichen
Eindruck, aber doch nur deshalb, weil es bewies, daß die Lehre schwer be¬
soffen wurde. Jedenfalls war es nicht an denen, über die unerhörte Pression
sich zu ereifern, welche die Ankündigung der eventuellen Auflösung des Zoll¬
vereins als eitle Drohung verlacht hatten, weil, wie man sagt, einmal der
norddeutsche Markt ein ungleich größeres Interesse an der Erhaltung des Zoll¬
vereins habe als der süddeutsche, und dann, weil die Kündigung, wenn sie je
erfolge, nur die höchst willkommene Befreiung Süddeutschlands wäre, ein Ziel
«uff innigste zu wünschen, da erst in einem süddeutschen Zollbund, frei von
den Uebervortheilungen. denen wir biederen Schwaben im Verkehr mit den
Norddeutschen stets ausgesetzt sind, die volle Blüthe süddeutschen Handels und
Wandels sich entfalten könne. Erinnerte man doch — wenigstens in Bayern
war dies der Fall — mit melancholischen Seufzer an jene glückseligen Zeiten,
da es noch keinen Zollverein auf Erden gab!
Ueber diese Dinge waren nun freilich diejenigen Kreise, die in erster Linie
betheiligt waren und auch Wohl am ehesten ein Urtheil besaßen, entgegenge¬
setzter Meinung. Je näher der verhängnißvolle Termin rückte, um so lebhafter
wurde die Bewegung in der Handels- und Gewerbcwelt. Die acht Handeis-
kannnern des Landes gaben nach einander ihre Stimmen ab, sämmtlich für die
Verträge. Die Gewerbcvcreine folgten. Die Generalversammlung des würtem-
bergischen Handclsvcreins, der in 19 Localvereinen über 1700 Mitglieder zählt
beschloß eine Eingabe an die Ständeversammlung, welche neben den materiellen
Interessen auch das nationale Moment der Verträge kräftig hervorhob, mit
allen gegen Eine Stimme. Auch die Arbeitervereine, endlich die Magistrate
singen an in die Bewegung einzutreten, die allmählich recht respectable Dimen¬
sionen annahm, wenn sie auch nicht die Temperatur der bayrischen Bewegung
erreichte. Eine ansehnliche Bürgervcrsammlung zu Stuttgart, welcher der Ober¬
bürgermeister der Residenzstadt präsidirte, machte unmittelbar vor Beginn der
Kammerdebatten den Beschluß dieser Demonstrationen. Was die Volkspartei
dagegen aufzubringen hatte, war gleich Null. Wo blieben jene 43,000 Männer,
die vor einem Jahr ihre berühmten Unterschriften unter die Adressen der
Volkspartei gesetzt hatten, unter jene Adressen, die je nach den 4 Kreisen des
Landes in 4 stattliche Bände gefaßt, Muster der Papeterie, in den Archiven
des Ministeriums des Innern schlummern? So viel war unleugbar, die In¬
teressen des Landes hatten laut gesprochen, die Stimme der urteilsfähigen
Kreise pochte vernehmlich an die Thüren des Halbmondsaals und es war
wenig tactvoll, als man sie innerhalb dieses geweihten Raumes mit Witzen
über die banausischen Pfeffersäcke glaubte abfertigen zu können; wobei jedoch
nicht verschwiegen werden soll, daß die Agitation wider die „unabsehbaren Ge¬
fahren" einer Sprengung des Zollvereins allerdings zuweilen einen kleinlichen
und weinerlichen Charakter anzunehmen drohte.
Und noch ein Bundesgenosse erschien, unverhofft, in elfter Stunde. Das
Ministerium hatte bis zuletzt sich einer fröhlichen Sorglosigkeit hingegeben und
die Agitation für die Verträge, die Widerlegung der Mohlschen Monstrositäten
einzig der deutschen Partei überlassen, was sehr bequem war, aber über die
Herzensmeinung des Ministeriums nach wie vor im Dunkeln ließ. Daneben
sah man gelassen zu, wie die öffentliche Meinung von der unter den Oberamt-
leutcn stehenden Localprcsse fortgesetzt in einer Weise bearbeitet wurde, als seien
Jnstructionen noch in Kraft, die im Juni des denkwürdigen Jahres 1866 zur Zeit
des Vae VieUs gegeben worden. Bis zuletzt wurden die Untergebenen darüber
in Zweifel gelassen, ob sie sich der Negierung angenehmer machten, wenn sie
gegen die Vorlage oder für dieselbe wirkten. Jetzt stand man vor den Fol¬
gen eines solchen Schritts und die Regierung war nun doch ernstlich besorgt,
und sah sich nach Mitteln um, die bedrohte Sache zu stützen. Sie fand die¬
selben glücklich. Der König kam von seinem Aufenthalt 'am Bodensee nach
der Hauptstadt, wie dienstbeflissene Organe versicherten, um sein Interesse an
der bevorstehenden politischen Entscheidung zu bethätigen, und nun hielt er An¬
reden bei Audienzen, bei Diners, im Ministerrath, welche durch zuverlässige
Canale rasch zu weitester Verbreitung gebracht wurden, Anreden, in welchen
er seinen ernsten Entschluß ausdrückte, an den mit Preußen geschlossenen Ver¬
trägen festzuhalten, und die Erwartung' hinzufügte, daß so wie er Opfer ge¬
bracht, auch sein Land der Größe des Gesammtvaterlandes Opfer bringen werde.
Das war nun doch kein kleiner Trost für loyale Gemüther; auch der cott-
servative schwarzrothe Patriot mußte sich dadurch aufgefordert fühlen, das Sei¬
nige dazu beizutragen, daß seinem Könige das Worthalten erleichtert würde.
Manchem, der bisher vorsichtig zurückgehalten, gedieh jetzt ein heldenhafter
Muth, mit seiner Ueberzeugung hervorzutreten. Insbesondere wollte man be¬
merken, daß in den bürgerlichen Collegicn der Residenzstadt jetzt eben der un¬
widerstehliche Drang erwachte, sich an den Kundgebungen zu betheiligen. Vie¬
len waren unerwartet, wie dem Munde des Oberbürgermeisters bei der Versamm¬
lung im Bürgerhause beredte Worte zum Lob des norddeutschen Bundes und
zum Tadel particularistischer Ueberhebung entflossen. Eine national-liberale
Aera schien leuchtend über der Stadt am Nescnbach aufzugehn. Und beschämt
stand der Ultrarvyalismus des „Beobachter" daneben. Sein hochherziges An¬
gebot mit der Civilliste bis ans Ende der Tage war unbeachtet geblieben, die
Hoffnung auf ein Ministerium Neuratl) war dahin, seitdem der König im ersten
Ministerrath nach seiner Rückkehr Hrn. v. Varnbüler für den Fall der Verwer¬
fung der Verträge die Ermächtigung zur Kammcrauflösung ertheilt hatte.
Nichts desto weniger hörte man von den Particularistischen Blättern mit
affectirter Kaltblütigkeit Tag für Tag versichern, die Verwerfung der Verträge
durch unsere zweite Kammer sei über alle Zweifel erhaben und bereits vollendete
Thatsache. Der Zweck war einfach, durch diese Behauptung jene zweifelhafte
Gruppe von Abgeordneten, welche weder der deutschen, noch der dcmocratisch-
ultramontancn, noch der Regierungspartei angehören und die weniger um ihrer
Bedeutung als um ihrer Zahl willen fast ausschlaggebend waren, festzuhalten
und dem drohenden Abfall vorzubeugen. Die Wirkung war freilich die ent¬
gegengesetzte, denn durch die Dreistigkeit jener Versicherung wurde im Land erst
recht das Gefühl der vorhandenen Gefahr geweckt und verbreitet, jetzt erfolgten
die Kundgebungen, welche selbst wieder am meisten auf jene dunkle Gruppe
von Volksvertretern, für welche die Bezeichnung „Fraction Sumpf" üblich ge¬
worden ist, von Einfluß sein mußten. Ohnedies beschlich das Gefühl völliger
Vereinsamung allmählich auch die wärmsten Verehrer der Südbundsidccn. Auf
die völlig verprcußten, für die Schmach freiwilliger Knechtschaft ordentlich schwär¬
menden Badener hatte man freilich niemals gerechnet. Aber schmerzlich war,
daß auch die bayrische Abgeordnetenkammer, auf die man einen Augenblick
schüchterne Hoffnung gesetzt hatte, den Zollvereinsvertrag nicht blos genehmigte,
sondern mit Freuden und mit überwältigender Mehrheit genehmigte. Nachdem
das bayrische Volkshaus diesen Beschluß gefaßt, oder wie ein nicdcrbajuvarisches
Alatt sich glücklich ausdrückte, diesen „Begräbnißact des bayrischen Selbststandes
und Lebenswohls" vollzogen halte, blieb nur uoch eine Hoffnung übrig: die
bayrische Ncichsrathskammer.
Und an diese letzte Hoffnung klammerten sich nun die vereinigten Demo-
ersten, Ultramontanen und Schutzzöllner Schwabens mit einer Zähigkeit, die einer
bessern Sache würdig war. Dieselben, die über das norddeutsche Parlament
mit seinen diätenlvsen Adligen die Nase rümpften, erwarteten jetzt von den
Bischöfen, Fürsten und Grafen des Bayerlandes die Rettung der süddeutschen
Freiheit. Mit ungewohntem Respect besprach unser „Bcol'achter" die Institution
des benachbarten Abelshauses; dies war einmal ein „wirklicher Senat", eine
„wirkliche Volksvertretung". Zwischen Moriz Mohl und dem Freiherrn von
Thurgau begann eine lebhafte Correspondenz herüber und hinüber; Beobachter
und Vvllsbote sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Heute schrieb jener: „Eine
Thür geht auf! aus völlig authentischer Quelle erfahren wir, daß der bayrische
Reichsrath auf alle Fälle den Zollvertrag verwerfen wird." Sofort secundiite
der bayrische College: „Aufgepaßt! aus völlig authentischer Quelle erfahren wir,
daß die würtenbergische Kammer auf alle Fälle die sauberen Preußenverträge
verwerfen wird." Beide Theile stärkten sich durch Berufung auf den Bundes¬
genossen. Es war schon jetzt klar, daß jeder Theil vor der eigenen Verant¬
wortung zurückschreckte und die Initiative der Verwerfung dem andern zu¬
schieben wollte. In Würtemberg suchte man möglichst viel Zeit zu gewinnen,
um den Neichsräthen den Vortritt zu lassen. Dieser gebührte auch ohne Zweifel
den Reisigen und Gewappneten; halten doch schon die sieben Schwaben, als
es das Ungethüm am Bodensee zu bekämpfen galt, sich zu dem weisen Rath
vereinigt:
Jokele, geh' Du voran,
Denn Du hast Sporn und Stiefel an.
Da war es nun freilich eine schlimme Ueberraschung, als die Nachricht von
der ersten Abstimmung des Neichsraths, von der Annahme des Amendements
Löroenflein hier anlangte. Allerdings formell hieß dies nichts anderes als den
Vertrag verwerfen; denn daß Preußen durch Einräumung eines bayrischen Veto
den Grundstein des neuen Gebäudes wieder herausbrechen werde, daran dachte
ja wohl Niemand im Ernst. Allein die Ausflucht wollte doch zugleich so viel
sagen, daß die hohe Kammer nicht eine unbedingte Verwerfung aus sich nehmen
wollte. Factisch war eine Brücke zum Rückzug gebaut und es war unschwer
vorauszusehen, wie Graf Bismarck die bayrischen Abgesandten bescheiden, und
mit welchen Dispositionen diese nach der Jsar zurückkehren würden.
Aber auch jetzt gab man am Nesenbach das Spiel noch nicht verloren.
Als endlich am 29. October, also drei Tage vor dem Termin der Ratificatio-
nen die Debatten beginnen sollten, beantragte Probst, der Berichterstatter der
Commissionsmehlheit, noch einmal Vertagung, bis ein definitiver Entscheid zu
München vorliegt. Diese Abdication zu Gunsten der bayrischen Reichsrathe,
die wenig stimmte zu der sonstigen eifersüchtigen Sorge um die würtenber¬
gische Selbständigkeit, fand jedoch nicht den Beifall der Kammer, sie stürzte
sich vielmehr muthig in die Debatte über den Allianzvertrag, der dann auch
nach dreimal erneuter Verhandlung am folgenden Abend mit starker Mehrheit
genehmigt wurde. Allein selbst jetzt war das Schicksal des Zollvercinsvertrags.
zu dessen Genehmigung nicht einfache, sondern Zweidrittelmehrheit erforderlich
war, noch keineswegs gesichert. Bevor die entscheidende Sitzung am 31. Mor¬
gens eröffnet wurde, bemerkte man, wie da und dort eifrig die Mitglieder-
Verzeichnisse studirt wurden, um zu berechnen, welche Abgeordneten für, und
welche gegen stimmen würden, und ob die für eine Zweidrittelmehrheit erforder¬
liche Zahl von 60 zu erreichen sei. Aber man mochte noch so oft und genau
abzählen, allgemein war die Meinung, daß nur auf 59 mit Sicherheit für die
Genehmigung zu rechnen seien. Da trat noch einmal rettend die Correspon-
denz mit den guten Freunden in München ein. Gleich beim Beginn der Die-
cussion erhob sich ein schutzzöllnerisches Mitglied, das als einer der heftigsten
Gegner der neuen Zollvereinsverträge bekannt war, und sagte: zuverlässigen
Berichten aus München zufolge gebe die Kammer der Reichsrathe ihren Wider¬
stand auf und damit werde auch der Widerstand Würtembergs hinfällig; er
selbst halte nach wie vor den neuen Zollverein für schädlich, verderblich, ver-
hängnißvoll und dergl. mehr, werde aber für ihn stimmen. Dies war das sig.
mal zu einer allgemeinen Fahnenflucht; man erklärte für einen Vertrag zu stim¬
men, den man gleichzeitig als ein schreckliches Unglück für das Land vrädicirte,
statt der Discussion gab es nur noch motivirte Abstimmungen. Selbst Mohl
erklärte trauernd die Schlacht für verloren, was aber nicht hinderte, daß Frhr.
d. Varnbüler zu guter Letzt mit wahrhaft vernichtenden Streichen über Mohl
herfiel, von denen dieser in jedem andern Lande als Schwaben sich nicht mehr
erholen würde. An demselben Vormittag, während unsere Debatten im Gang
waren, erfolgte die Abstimmung in der Reichsrathkammer zu München. Wirk¬
lich hatte sie ihren Widerstand aufgegeben, wegen der unzweideutigen und dro¬
henden Haltung des bayrischen Volks, wie die Einen sagten, weil die Schlacht
w Würtemberg in diesem Augenblick verloren sei, wie die Anderen sagten.
Unter dem Eindruck dieser Nachricht aus München geschah dann vollends die
Abstimmung zu Stuttgart, die nur noch eine unbedeutende Minderheit auf Seite
der „eisernen Konsequenz" auswies.
Also die Bayern gaben nach, weil die Würtenberger nachgaben, und diese
Ü"ben nach, weil die Bayern nachgaben. Mit anderen Worten: beide schreckten
Zurück vor den Folgen ihres Eigensinns, und dies war die treffendste Selbst¬
kritik der Einwendungen, die sie bis zum letzten Augenblick aufrecht gehalten
hatten, und die sie doch selber durch ihre Handlungsweise für bedeutungslos
^klärten gegen die Folgen, welche die Verwerfung gehabt hätte. Die Bayern
waren froh, daß sie sich auf die Würtenberger. und diese, daß sie sich auf die
Bayern berufen konnten. Schließlich war es doch die unzweideutige Kundgebung
des öffentlichen Willens in Süddeutschland, was die „eiserne Konsequenz" er¬
schütterte.
Ueber die Debatten selbst nur das eine Wort, daß sie nach allgemeinem
Urtheil, wenige Momente abgerechnet, weit nicht auf der Höhe des Gegen¬
standes waren. Es waren doch zu ausgetretene Geleise, in welchen sie sich
bewegten. Auch der Umstand, daß der Schwerpunkt der Entscheidung in den
jeden Augenblick aus München erwarteten Telegrammen lag, machte sich geltend,
selbst die äußere Physiognomie der Verhandlungen zeigte keineswegs jene Würde,
die man sich von so ernster Entscheidung unzertrennlich denkt. Alles in allem
wird man sich Glück dazu wünschen dürfen, daß dies die letzte Verhandlung von
so weitgreifenden nationalen Interesse gewesen ist, über welche eine Einzelkammer
zu Gericht saß. Die in den Institutionen des Particularstaats zerstückle Stimme
des Volks geht über auf das deutsche Parlament — das ist ja wohl auch der
tiefste Grund, warum die bisherigen Monopolistendes Constitutionalismus sich
so verzweifelt wehren gegen Bildungen der Zukunft.
Nach einem bekannten lateinischen Sprichworte werden die Völker geschla¬
gen, wenn und so lange die Fürsten streiten. Die Erfahrung des laufenden
Jahrhunderts hat den Völkern bewiesen, daß es für sie unter Umständen noch
bedenklicher sein könne, wenn ihre Könige Frieden schließen und sich zu vertrau¬
licher Berathung versammeln. Deutschen, Franzosen und Italienern ist die
Erinnerung an die Kongresse und Fürstenconferenzen der Reswurationszeit bei¬
nahe ebenso verhaßt, wie das Andenken der großen Kriege, welche am Wende¬
punkt des Jahrhunderts den Welttheil zerrissen, und wenn die Verhältnisse sich
seit den letzten fünfzig Jahren auch genugsam verändert haben, um die Wieder¬
kehr von wiener, veroneser und carlsbader Beschlüssen unmöglich erscheinen
zu lassen, so hat das Wort „Congreß" doch noch immer einen schlechten Klang
in allen Kreisen, welche nicht direct mit der Diplomatie zusammenhängen. Die
Mißverhältnisse, an denen die verschiedenen europäischen Staaten laboriren,
sind zum größten Theil Conferenzgeschöpfe, während die heilsamen Umwäl-
zünden und Neugestaltungen des letzten Jahrzehnts fast ausnahmslos auf recht¬
zeitig geführte Kriege zurückzuführen sind; kein Wunder, daß die Mehrzahl
unserer Zeitgenossen von Fnedenscongrcssen noch weniger wissen will wie von
Kriegen. Ein französischer Schriftsteller hat während des vorigen Jahres gele¬
gentlich die Behauptung aufgestellt, die „leitenden Principien", in deren Namen
die Staatsmänner der legten Jahrhunderte die Organisation der europäischen
Völkerfamilie unternommen, hätten jederzeit in directem Gegensatz zu den Hand¬
lungen und Zwecken derselben gestanden; das von den Weisen des weflphäli-
chen Friedensschlusses ausgegebene Schlagwort vom „europäischen Gleichge¬
wicht" sei der Deckmantel für eine Reihe der frechsten, zum Zwecke der Hege¬
monie Frankreichs geführten Eroberungskriege gewesen, im Namen der 1789
aufs Schild erhobenen Phrase von der Brüderschaft aller Völker und der Con-
dorcetschen Sähe über die Verwerflichkeit der Eroberungskriege seien Belgien
und das linke Rheinufer erstritten worden, die Praxis der 1795 vom Convent
Publicirten Nichtinterventionstheorie sei ein Krieg Aller gegen Alle gewesen und
das vom wiener Kongreß eingeleitete Zeitalter der Legitimität habe mehr Re¬
volutionen und gewaltsame Thronwechsel aufzuweisen gehabt, als irgend ein
anderer Abschnitt der neuern Geschichte. — Die Quintessenz dieser geistreichen
Hypothese ist, wie man glauben möchte, Gemeingut geworden, noch bevor die¬
selbe von Andre Cocbut im vorigen Jahrgang der Revue Ach äeux irioueles
aufgestellt worden. Wie die Völker nach Beendigung des italienischen Krieges
von einer allgemeinen Fiustenconferenz nichts wissen wollten und eine mittel¬
mäßige Brochure dazu hinreichte, den Congrcßgedanken in der Geburt zu er¬
sticken, so hat auch die in den letzten Wochen von Frankreich in Vorschlag ge-
brachte europäische Berathung über die Zukunft des Papstthums nirgend wirk¬
liche Sympathien gefunden. Die Lehre, daß der Welttheil von einem Punkte
aus beherrscht werden müsse, daß die Großmächte berechtigt seien, die Rolle
der europäischen Vorsehung zu spielen und den einzelnen Völkern der angeb¬
lichen „allgemeinen Wohlfahrt" zu Liebe Beschränkungen oder Hem¬
mungen ihrer natürlichen Entwickelung vorzuschreiben, sie sieht sich vergebens
uach einer Gemeinde von Gläubigen um. Sind die Nachrichten, welche die
Zeitungen über die Moustierschen Einladungen zum Congreß veröffentlicht haben,
begründet, so hat Napoleon auf die Theorie von dem vormundschaftlichen Recht
der Großmächte selbst Verzicht geleistet und nicht nur Nußland, Preußen und
England, sondern sämmtliche Staaten zweiten Ranges, sogar Sachsen, (das
durch seinen Eintritt in den norddeutschen Bund sein Recht aus eine selbständige
Diplomatie aufgegeben hat) zur Theilnahme an dem Schiedsgericht geladen,
das die künftigen Beziehungen Italiens zum äomimum temporale des Papstes
^gelu soll. Selbst Griechenland und der Großtürke sind als Teilnehmer
dieser Konferenz über den heiligen Stuhl „in Aussicht genommen".
Es dürfte kaum eine europäische Zeitung geben, welche es nicht für Pflicht
gehalten hätte, ihre Meinung über bie Rathsamkeit oder Unrathsamkeit des
projectirten allgemeinen Kongresses abzugeben. Von gewissen französischen Re-
gierungsorgancn abgesehen, hat sich aber keine Stimme erhoben, welche diesen
Plan freudig begrüßt hätte, — und in der That läßt sich schlechterdings nicht
absehen, wozu derselbe führen und wie ein Kongreß die römische Frage regeln
soll. Italien ist ein konstitutioneller Staat, die Politik Menabreas muß, wenn
sie Bestand haben soll, eine parlamentarische Majorität hinter sich haben. Eine
italienische Volksvertretung, welche die Schmach der letzten Wochen besiegelte, wird
aber weder Victor Emanuel noch einer seiner Minister aufzutreiben im Stande
sein. Märe das Fortbestehen des Kirchenstaates neben dem italienischen König¬
thum nicht schon längst eine Unmöglichkeit gewesen, die letzte französische In¬
tervention hätte es zu einer solchen gemacht. Mag die Integrität des gegen¬
wärtigen römischen Gebiets von Frankreich oder von der Mehrzahl aller Staa¬
ten Europas verlangt werden — das italienische Königthum ist außer Stande,
dieselbe zu gcirantiren. Die einzig mögliche Gewähr besteht in einer starken
französischen Besatzung, und weil Napoleon selbst weiß, daß diese mit der Selbst-
Vernichtung skiner italienischen Schöpfung identisch ist, hat er den Ausweg
einer Entscheidung durch den europäischen Areopag vorgeschlagen. Mag dieser
seinen Richtsrspruch fällen wie er wolle, die einmal gegebenen Verhältnisse ver¬
mag er nicht zu ändern. Das Resultat der Entwickelung des europäischen
Völkerlebens der letzten zehn Jahre ist die Negation der alten Lehre, nach wel¬
cher die Bedingungen der Organisation des Einzelstaats von ihrem Verhältniß
zu dem „System" abhängig sind, in welches die Minister der Großmächte den
Weltihcil zu zwängen für nothwendig halten. Das moderne europäische Staats-
recht dreht die Sache um, und macht die Konfiguration des Ganzen von der
Wohlfahrt und der naturgemäßen Constituirung der einzelnen Nationalitäten
abhängig.
Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet erscheint es ziemlich gleichgiltig, wie
die verschiedenen Theilnehmer eines europäischen Kongresses über die Lösung
der römischen Frage denken würden, — vermögen sie es doch nicht, an den
Bedingungen des natürlichen Verlaufs derselben irgend etwas zu ändern. Das
Wagestück, zu Gunsten des neunten Pius mit bewaffneter Hand zu interveniren,
wird von den Großmächten keine dem französischen Kaiserreich nachmachen,
Preußen, Rußland und England haben keine katholischen Interessen zu vertreten,
und Oesterreich ist durch seine inneren Schwierigkeiten wie durch seine Be¬
ziehungen zu den Nachbarstaaten an einem Vorgehen dieser Art verhindert.
Will Frankreich aber den Andeutungen des Moniteur gemäß seine Truppen
bis zur gänzlichen Pacisieation Mittelitaliens in Rom und Civitavecchia lassen,
so scheint, mag der Kongreß sagen, was er wolle, ein Krieg unvermeidlich
und diesen wird Napoleon schwerlich mit Italien allein zu führen haben. Was
werden die Kammern, die sich inmitten der leidenschaftlichen Erregung des
vergangenen Frühjahrs zu einer Kriegserklärung gegen Preußen nicht entschließen
konnten, — was werden diese zu einem Kriege gegen das Selbstbestimmungs-
recht der Italiener sagen? Wird es für diese irgend welche Bedeutung haben,
wenn die kaiserliche Negierung das Wächteramt an den Thoren der ewigen
Stadt in Uebereinstimmung mit der Mehrzahl der übrigen europäischen Gro߬
mächte führt? So liegen die Dinge, wenn diese europäischen Mächte sich zu
Gunsten des Papstes aussprechen und die bisherige Politik Frankreichs gut
heißen.
Der Gründe für diese Annahme sind ebenso wenige, als der Gründe
für die Wahrscheinlichkeit des Gegentheils viele sind. An der Abneigung,
die England, Preußen und Rußland gegen eine Schwächung Italiens zu Gunsten
des Papstthums hegen, hat sich seit dem Schluß des vorigen Monats absolut
nichts geändert. Das scheint man in Rom noch genauer zu wissen, wie in
Paris, und die Nachricht, daß die Curie lieber mit Frankreich und Italien allein
verhandeln will, als mit einem vorwiegend katholischen Kongreß, ist sicher nicht
aus der Luft gegriffen. Welche Vortheile Frankreich sich von einem solchen
verspricht, ist gleichfalls nicht abzusehen. Wird an den Schwierigkeiten seiner
Stellung zu Italien auch für den Fall der Parteinahme Europas für das
Papstthum nichts geändert, so müßte diese und damit zugleich das Verhältniß
der Negierung zur französischen Volksvertretung, eine nahezu unhaltbare wer¬
den, wenn die Haupttheilnehmer des Congresses einfach erklären, Rom habe
sich mit Italien selbst auseinander zu setzen — die Resultate dieser Ausein¬
andersetzung seien für die übrige Welt gleichgiltig! Edgar Quinets prophetisches
Wort, daß die Bundesgenossenschaft Frankreichs mit illiberalen Ideen das sicherste
Mittel sei, diesen Staat um den Rest seines Pröstige zu bringen, könnte solchen
Falls ein tausendfaches Echo finden und den napoleonischen Thron in einer
Weise erschüttern, der dieser nicht mehr gewachsen ist.
So stehen, unserer Anschauung nach, die Dinge, wenn es zu einem Kon¬
greß kommt — daß ein solcher ermöglicht werde, ist aber noch lange nicht ent¬
schieden und Gründe, welche gegen das Zustandekommen sprechen, hat jeder
der betheiligten Staaten in reichlichem Maße anzuführen, zumal die Form des
französischen Einladungsschreibens den Gedanken nahe legt, die Eingeladenen
würden veranlaßt werden, neben der römischen noch andere Fragen der Gegen¬
wart zu discutiren. Daß die Völker nichts thun werden, um ihre Regierungen
Zur Annahme der pariser Einladung zu drängen, kann für ausgemacht gelten.
Die öffentliche Meinung Englands mag von der Beschäftigung mit continen-
talen Dingen überhaupt nichts wissen, die in Rußland maßgebende Partei hat
^ wie wir bereits neulich zu erörtern veranlaßt waren — hundert Anlässe,
um principiell jeder Jnterveutionspolitik abhold zu sein; die Liberalen Oester¬
reichs machen kein Hehl daraus, daß sie bis zur Regelung der inneren Schwie¬
rigkeiten, an denen der Kaiserstaat krankt, von auswärtigen Dingen überhaupt
nichts hören wollen — und diejenigen Stimmen, denen die Regierung Preu¬
ßens Gehör zu schenken Veranlassung hätte, wollen von einem Congreß vollends
nichts wissen. Und diese instinctive Abneigung der Völker findet in den zur
Zeit gegebenen Verhältnissen namentlich des östlichen Europa, reichliche Erklärung.
Es ist schlechterdings nicht zu begreifen, warum Rußland sich der Unbequemlichkeit
aussetzen soll, die orientalische Frage, deren Lösung es in seiner Hand hat, auf
die öffentliche Tagesordnung gebracht zu sehen, — zumal solchenfalls eine Er¬
örterung der polnischen Dinge ziemlich nahe liegen würde; auch für Oester¬
reich und England wäre die Nöthigung zu offenen Erklärungen darüber, wie sie
sich die Zukunft der slavischen Stämme des Südvstens denken, eine Verlegen¬
heit, und die außerdeutschen Staaten zweiten Ranges haben vollends kein In¬
teresse, wenn wiederum Compensations- und Grcnzbcrichtigungsmöglichkeiten
auftauchen.
Kein Volk Europas hat aber bei dem Zusammentritt eines europäi¬
schen Fürsten- und Diplomatentagcs so wenig zu gewinnen und so viel zu
verlieren, wie das deutsche. Schon der Umstand, daß unseren Mittelstaaten dies-
seit wie jenseit des Main Gelegenheit zu selbständigem diplomatischen Gebahren
geboten würde, erscheint höchst bedenklich. Der Particularismus würde aus der
Berührung mit politischen Intriguanten von Ost und West neue Kräfte schöpfen,
tausend Gedanken und Pläne, welche im Blut des letzten Krieges erstickt worden
sind, würden plötzlich aufleben, wenn die Gesandten Sachsens, Bayerns, Hessens
u. s. w. von ihren großmächllichen College» in die Versuchung geführt würden,
einmal wieder große Politik auf eigene Hand zu treiben. Der Proceß, durch
welchen die Staaten des deutschen Südens dem norddeutschen Bunde assimilirt
werden, liefe solchenfalls ernstlich Gefahr, unterbrochen zu werden und es müßte
für einen der bedenklichsten Fehler, die überhaupt begangen werden können,
gelten müssen, ließe Preußen sich herbei, an einer Berathung Theil zu nehmen,
in welcher die übrigen deutschen Staaten als gleichberechtigte Glieder des euro¬
päischen Concerts anstimmten; gestattete Graf Bismarck den Staaten, über
deren militärische Mittel thatsächlich Preußen allein zu verfügen hat, sich wie
unabhängige Mächte zu geriren.
Und abgesehen von allen diesen gewichtigen Bedenken, welcherlei Garantien
sind uns dafür geboten, daß die im Princip längst entschiedenen deutschen Dinge
nicht mit in die Discussion gezogen werden, daß französische, holländische, öster¬
reichische, vielleicht auch bayrische und andere deutsche Diplomaten, geradeso als
habe es niemals ein Jahr 1866 gegeben, in ihre alten Gewohnheiten ver¬
fallen und von einer deutschen „Frage" reden? Warum sollten Franzosen
und Engländer die Gelegenheit unbenutzt lassen, Preußen an die noch immer
ungelöste deutsch-dänische Grcnzregulirung in Nordschleswig zu erinnern oder
die Bestimmungen des prager Friedens über das Verhältniß des deutschen
Südens unter „Gesichtspunkte" des europäischen Gleichgewichts d. h. der
Interessen Oesterreichs und Frankreichs zu stellen? Selbst wenn Preußen
sich vor Beschickung der projectirten Versammlung die solidesten Bürgschaften
dafür sicherte, daß dieselbe sich ausschließlich mit Rom und Italien be¬
schäftigen werde, wäre ein Congreß, an welchem die europäischen Mittelstaaten
theilnehmen, eine deutsche Calamität. Das Fiasco, das die süddeutschen Par-
ticularistcn und Ultramontanen in Sachen der Zoll- und Allianzverträge erlit¬
ten haben, wird dieselben nicht verhindern, auf anderen Gebieten Revanche zu
nehmen, und wir haben alle Ursache, ihnen die Gelegenheit zu Experimenten
dieser Art von vornherein zu versperren. Daß ein europäischer Congreß nicht
das Feld sein werde, aus welchem für Frankreichs italienische Politik Lorbeeren
zu holen sind, weiß man in Paris wahrscheinlich ebenso gut, wie diesseit des
Rheins.
Gerade darum liegt die Annahme nahe, Napoleon III. gehe mit dem
Gedanken um, diese Versammlung zu anderen Zwecken als denen der Rettung
des Papstthums auszubeuten, und um Franzosen mit politischen Fragen zu
beschäftigen, die er sich hütet, jetzt bei ihrem wirklichen Namen zu nennen.
Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich überhaupt verstehen, daß und warum
der französische Kaiser sich von einem Congreß Vortheile verspricht. Daß die
innere Lage Frankreichs bedenklich genug ist, um nur durch eine künstliche Ab¬
leitung des Volksgeistes auf auswärtige Angelegenheiten gefristet werden zu
können, dafür mehren sich die Anzeigen täglich. Die Bewegung gegen den
Dctroi, welchen man den Industriellen der in das pariser Weichbild gezogenen
Nachbarorte aufnöthigen will, die Demonstrationen an den Gräbern des Ca-
vaignac und anderer Republikaner, die heftigen Deklamationen der Oppositions¬
presse gegen die völlige Entwürdigung des liberalen Frankreich zu Gunsten der
Curie, die Keckheit endlich, mit weicher die Jugend des Huartior latiir gegen
regierungsfreundliche Lehrer zu demonstriren wagte, — im einzelnen wollen
diese Symptome zunehmender Unzufriedenheit gegen das Kaiserreich noch nicht
dick sagen; sie bezeugen aber doch, daß der revolutionäre Zündstoff, dessen Vor¬
handensein schon vor Jahresfrist nicht geleugnet werden konnte, nicht abgenom-
wen hat, sondern gewachsen ist, und daß die Mittel, welche man bisher gegen
ihn angewandt hat, nicht mehr verfangen wollen. Es muß mit dem Gefühl,
das der Kaiser selbst für die Bedenklichkeit der Lage seiner Herrschaft hat, ziem¬
lich weit gekommen sein, wenn er sich von Arbciteraufläufen wie denen der
letzten Woche bereits aus der Ruhe schrecken läßt, und wenn er von seinem
Seine-Präfecten zu conseauentem Festhalten an einmal beschlossenen Maßregeln
gemahnt werden muß. Die Aufmerksamkeit des Volks und seiner Vertreter
von Vorgängen dieser Art abzulenken, der Regierung das gefährliche Experi-
mentiren mit liberalen Gesetzesvorschlägen, diesem rütimuin rötuFium, das in
Frankreich „Krönung des Gebäudes" heißt, — zu ersparen und dem Kaiser
neuen Spielraum für sein diplomatisches Talent zu verschaffen, dazu ist der Kongreß
bestimmt! Diese Absichten zu unterstützen hat das deutsche Volk, hat der deutsche
Staat weder Grund noch Veranlassung; das französische Volk wird es uns nicht dan¬
ken, wenn wir seiner Negierung behilflich sind, die gegründeten Ansprüche der
Nation an würdigere innere Zustände durch die Beschäftigung mit Plänen äußern
Ehrgeizes zu übertäuben.
Es ist in letzter Zeit bereits häusig genug ausgesprochen worden, der
gegenwärtige innere Zustand Frankreichs sei eine europäische Gefahr; diese
Gefahr wird durch Palliativmittel nicht beseitigt, sondern nur verstärkt, und
wer es mit Frankreich und mit dem Frieden des übrigen Europa gut meint,
wird sich hüten müssen, die Wundercuren zu unterstützen, welche das Lmpiro
an dem kranken Körper vornimmt, und bei denen es doch nur darauf abgesehen
ist, dem wahren Sitz dieser Uebel das Secirmesser zu ersparen. Wollen wir
die Nichtintervcntionspolitik zum wirklichen Grundgesetz des europäischen Staats-
lebens machen, so dürfen wir auch in Frankreich „nicht interveniren". Das ge¬
schieht aber, wenn wir dem Kaiser behilflich sind, fremde Händel zu Fragen
der innern französischen Politik zu machen und den Austrag von Dingen zu
verzögern, die aufgetragen werden müssen, wenn das französische Volk zur
Ruhe kommen soll. Diese Ruhe zu finden, so lange die gegenwärtigen Zu¬
stände fortdauern und eines der ältesten Culturvölker unseres Welttheils dazu
verurtheilen, ausgeschlossen von den Segnungen eines freien Staatslebens im
wüsten Genuß und frivolen Eitelkeitscultus seine Kräfte zu verbrauchen, — das
kann den Franzosen auf die Länge nicht zugemuthet werden. Und wir sind die
Letzten, die dazu helfen wollen.
Hat das Kaiserthum seine natürlichen Wurzeln im Volksboden verloren,
so kann es die Sache der Nachbarvölker nicht sein, demselben die Mittel zur
Fristung einer künstlichen Existenz auf fremde Unkosten zu liefern. Einen neuen
europäischen Kongreß zu Stande zu bringen und diesen zum Schlachtfelde diplo¬
matischer Siege zu machen, ist seit Jahren ein Lieblingsplan Napoleons. Mehr
wie einmal hat er versucht, die übrigen Staaten durch das Versprechen einer
zeitgemäßen „Revision der Verträge" zu ködern. Nun, so weit diese Verträge
Deutschland betreffen, sind sie durch das Jahr 18K6 gründlich genug revidirt
worden; wir haben allen Grund, mit den Resultaten dieser erneuten Durchsicht
unserer Acten zufrieden zu sein und brauchen weder französische, noch russische,
englische oder österreichische Beihilfe, um das begonnene Werk zum Schluß zu
führen. Unsere Pflicht wird es vielmehr sein, jene privilegirten Waghalter und
Gewichtvertheiler, welche im Namen des europäischen Acquilibriums Italiener
und Deutsche Jahrzehnte lang daran verhinderten, ihr natürliches Gewicht in
die Wagschale zu werfen, — für alle Zukunft uns und anderen fern zu halten.
Zu gewinnen hat Deutschland von dem Zustandekommen eines europäischen
Congresses schlechterdings nichts, wohl aber zu verlieren, und der einfache Grund,
daß dieser Schiedsrichter weder von Rom noch von Italien angerufen worden
ist, um zwischen ihnen zu entscheiden, ist für Deutschland durchaus genügend,
die französische Einladung auszuschlagen.
Wir können darum nur wünschen, daß die neuerdings aufgetauchte Mit¬
theilung sich bewahrheite, nach welcher Preußen seine Theilnahme von der Zu¬
stimmung des Papstes zur Einberufung des europäischen Gerichtshofes ab¬
hängig gemacht hat; diese wird unter den gegebenen Verhältnissen schwerlich
erfolgen, denn wie erwähnt, hat der Papst von den übrigen europäischen
Staaten sehr viel weniger für sich zu hoffen, wie von dem französischen. Frank¬
reichs Regierung hat mit den liberalen Ideen der Zeit nicht nur dadurch ge¬
brochen, daß es für den Papst gegen die Italiener eintrat, — sein Vorschlag,
die inneren italienischen Schwierigkeiten durch einen Kongreß zu lösen, ist noch
sehr viel reactionärer als die Absendung französischer Soldaten zum Schutz des
Papstes. Preuße», der zu der Führung des neuen Europa berufene Staat,
muß sein Verständniß für die Forderungen und Bedürfnisse der Neuzeit auch
dadurch bekunden, daß es jede Theilnahme an einer Anstalt zur Einmischung
in die inneren Angelegenheiten eines nach Unabhängigkeit strebenden Volkes
ablehnt.
Indem wir uns auf die in diesen Blättern früher gegebenen Anzeigen der bei¬
den ersten Bände von E. Curtius' griechischer Geschichte beziehen, können wir uns
damit begnügen, der willkommenen Nachricht von dem Erscheinen des dritten Bandes
wenige kurze Bemerkungen hinzuzufügen. Derselbe theilt die Vorzüge, welche an dem
ersten und zweiten Bande zu rühmen waren; ja es will uns bedünken, als ob die
historische Kunst des Verfassers im Verfolge seiner Aufgabe sich merklich geläutert
und gesteigert hätte. Sicher liegt es im Wesen seines Stoffes begründet, daß man
den ersten Band am wenigsten von gewissen kleinen Mängeln freisprechen konnte,
die ihren Grund in dem Bestreben hatten, auch da ein möglichst lcbcnswarmcs und
abgerundetes Bild zu geben, wo die Quellen theils ganz schweigen, theils sehr spär¬
liche oder sogar widersprechende Notizen bringen, Wenn schon der zweite Band
diesen Fehler fast ganz zu vermeiden wußte, so gilt dies in noch Höheren Grade vom
dritten, welcher freilich aus einem in reichster Fülle der Denkmäler und Monumente
vorhandenen Material herausgearbeitet ist.
In drei Büchern behandelt er Spartas Herrschaft in Griechenland, Theben als
griechische Großmacht, und Macedonien und Griechenland, indem er mit der Schlacht
von Chäroncia und dem unmittelbar darauf folgenden Vertrag von Korinth schließt.
Wir können ein Bedenken gegen diesen Anschluß an die herkömmliche Pcriodcngliedc-
rung der griechischen Geschichte nicht unterdrücken. Seit dem Auftreten des mace-
donischen Philippos concentrirt sich die griechische Geschichte in dem Kampfezwischen
der neu erwachsenden macedonischen Macht und Athen als der eigentlichen Trägerin
der nationalgriechischen Selbständigkeit. Ungern vermißt man bei einer zusammen¬
hängenden Darstellung dieses Entschcidungstampfcs die letzten Versuche, zu denen sich
Athen auch nach der Schlacht bei Chäroneia aufrafft, und wir meinen, daß dieser
Abschnitt der griechischen Geschichte nicht besser und sachgemäßer geschlossen werden
kann, als mit dem Tode des Demosthenes, der ja ohnehin mit vollem Recht als
Vertreter der damals unterliegenden Idee angesehen werden muß. Der Nachtheil,
daß hierbei allerdings in die Zeit Alexanders des Großen übergegriffen wird, welcher
ohne Frage mit demselben Rechte eine zusammenhängende Behandlung fordert, ist
einmal nicht fo groß als es scheinen möchte, und würde andererseits durch den Vor¬
theil aufgewogen, daß dann nicht in dem einen Bande so zu sagen das Sterben
Griechenlands und erst im folgenden seine letzten Zuckungen und sein Begräbniß
dargestellt würden, während noch außerdem das Leben des größten Bürgers von
Athen bis zu seinem Ende im Zusammenhange dargestellt werden könnte.
Druck und Ausstattung sind gut, zu den Berichtigungen ans S. IV tragen
wir nach, daß S. 85 die Nummer der Anmerkung nicht 45, sondern <is lauten muß.
Dem Unternehmen, deutsche Gesammtgeschichte zu schreiben, ist unsere Gegen¬
wart wissenschaftlich ebenso abhold wie praktisch günstig. Mit eifriger Ausschließ-
lichkeit begrenzen sich die Historiker von Fach ihr Terrain immer mehr, intensiv ist
die herrschende Richtung der Schulen; wer auf umfassende Darstellung ausgeht, hat
die guten Voraussetzungen der Fachmänner nicht für sich. Von der Art und Weise
der Forschung beeinflußt, verlangt auch das populäre Wisscnsbedürfniß nach Detail;
gewiß ein sehr respectabler Zug, aber es ist Gefahr, daß die heute in besonderen
Flor stehende literarische Mittclgattung, der sogenannte historische Roman sich dieser
Neigung zum Schaden echter Bildung bemächtigt. Dem gegenüber kann der Werth
tüchtiger historischer Gcsammtdarstcllungcn, die durch die BeHandlungsweise zugleich
ästhetische Ansprüche befriedigen, nicht hoch genug angeschlagen werden. Und aus
diesem Gesichtspunkte zunächst müssen wir ein Werk wie das Sugcnhcim'sche
herzlich willkommen heißen. In gebildeter ansprechender Erzählung, in trefflicher
Oekonomie führt es die Epochen der vaterländischen Geschichte an uns vorüber,
ernstes Pathos fesselt unser Interesse, macht uns die politischen und culturhistorischen
Zustände und Probleme der Vergangenheit empfindbar und hilft die sittlichen Fac-
toren erkennen und würdigen, welche die Summe unserer Gegenwart hervorgebracht
haben.
Der Verfasser, rühmlich bekannt durch seine Arbeiten, namentlich auf dem
Gebiet der Kirchengeschichte, hat sein Werk auf breiter Basis angelegt. Die ange¬
gebenen wie die verschwiegenen Quellen seiner Darstellung lassen den belesenen und
sichtenden Historiker erkennen, und wie die Komposition uns den Werth der mittel¬
baren Gewährsmänner durch Benutzung der in unserer urkundcnsüchtigcu Zeit oft
mißachteten reproduktiven Literatur schätzen lehrt, sind andererseits mit höchst aner-
kennenswerther Gewissenhaftigkeit auch die kleineren monographischen Facharbeiten
fleißig zu Rathe gezogen. Jedenfalls charakterisirt sich das Werk als ein höchst ehren-
werther Anlauf zu der großen Aufgabe einer deutschen Gesammtgeschichte, wenn
deren ganz befriedigende Lösung auch nach der Natur historischen Wissens immer
Sache der Zukunft bleiben muß. Selbstverständlich können nicht alle Theile gleich¬
mäßig befriedigen. Aber wir constatiren mit Freude, daß bisher mit jedem Ab¬
schnitt der Werth wächst, und besonders bezeichnet der jüngst erschienene dritte Band,
welcher den beiden ersten im Zeiträume eines Jahres gefolgt ist und die Darstellung
des 15. Jahrh, fast abschließt, sowohl hinsichtlich der Breite des Stoffs und seiner
anschaulichen Durchdringung als auch in der Frische des Colorits eine bcmcrkcnsmerthc
Steigerung, sodaß man der Bearbeitung der neuern Zeit mit verstärkter Zuversicht
entgegensehen darf. —
Seinen politischen Standpunkt hat der Verf. im Vorwort, — dem wir,
da es uns sehr unvorteilhaft erscheint, die übliche Vernachlässigung durch das
Publikum als Gunst wünschen — scharf dargelegt. Seit die großen Erlebnisse
unserer Jüngstvergangcnhcit den „klcindeutschen Gcschichtsbaumcistcrn" neue und
Zweifelsohne definitive Beglaubigung gegeben haben, ist eine Arbeit, die sich so rück¬
haltslos zu gleicher Farbe bekennt, doppelt erwünscht. Handhabe der Darsteller
auch meist im Gegensatz zu der die Freiheit der Persönlichkeit oft verstümmelnden
Pragmatik einerseits und der moralisirenden Aburtheilung andererseits das Collectio
ästhetischer Würdigung ungewöhnlicher historischer Erscheinungen, so fühlt man sich
doch manchmal veranlaßt, vor zu großer Gesinnungstüchtigkeit zu warnen. Die
römisch-deutsche Kaiseridcc z. B. wünschten wir selbst bei noch größerer eigener
Uebereinstimmung behutsamer behandelt. Denn wir würden bedauern, wenn das
nach den meisten Seiten so treffliche Buch durch etwas zu cholerische Abhandlung
von Controversen dieses Belanges sich seinen Wirkungskreis schädigte.
Wir denken jedem solchen Werke zunächst heilsamen Einfluß auf unsere
Schulen zu. Wenn man sich erinnert, mit welcher Blutlosigkeit und engherzigen
Beschränkung der Geschichtsunterricht in unserem klcingespaltcncn Vaterlande bisher
""'se tractirt wurde, — und nach dieser Richtung wäre ein lehrreiches Buch über
die Wirkung der Kleinstaaterei zu schreiben — dann erhält ein Werk, das nachsichts-
loscn Ernst macht mit dem Amte des Geschichtsschreibers. der rückwärts schauende
Prophet zu sein, noch besonderes Gewicht. Zu diesem Ende dürfen wir aber auch
nicht unterlassen, den Verf. im Hinblick ans eine neue Auflage zu recht sorgfältiger
Revision einzelner bereits von anderen Seiten gerügter sprachlicher Sonderbarkeiten
zu verpflichten, die umso störender sind, weil die Darstellung im allgemeinen so
geschmackvoll ist. —
Während das ältere Werk des Verfassers, das den in vorliegendem Bande
wiederum bearbeiteten Stoff in sechs Bänden darstellte, in seinen einzelnen Partien
von sehr ungleichem Werthe war, ist das gegenwärtige aus einem Gusse von Mei¬
sterhand. Der erste Abschnitt, der von Cartesius bis Kant reicht, ist fast völlig neu
geworden; der darauf folgende (bis zu Hegels Tode) allerdings wesentlich nur Aus¬
zug aus dem größern Werke, aber wie dies bei dem geistreichen, in immer frischen
Formen lehrenden Verfasser nicht anders zu erwarten war, zugleich eine durch alle
neueren Erscheinungen berichtigte, durchaus eigenthümliche Reorganisation des
Stoffes.
Das größte Verdienst aber hat der Anhang, der die wichtigsten Erscheinungen der
neuesten deutschen Philosophie und speculativen Theologie zum erstenmale in Voll¬
ständigkeit zu einem deutlichen Gesammtbilde vereinigt. Die Darstellung strebt
überall nach Objcctivitcit; wenn der Verfasser in der Kritik seinen consequenten
Hegelianismus nirgend verleugnet, so möchten wir ihm das im gegenwärtigen Sta¬
dium nicht zum Tadel anrechnen. Jetzt wo sich immer mehr und mehr das philo¬
sophische Interesse der studirenden Jugend daraus beschränkt, über die Geschichte der
Philosophie mit einem tüchtigen Lehrer zu Philosophien, ist von Seiten des letzter»
eine wenn auch immer einseitige, doch streng systematisch durchgeführte Anschau¬
ung, gegenüber den allenthalben nur Zersplitterung und Indifferentismus erzeugen¬
den beliebten philosophischen Potpourris des Eklekticismus, noch im Stande, zur
Entwicklung neuer und eigenthümlicher Anschauungen wirksam beizutragen. — Eine
Uebersicht der neuesten philosophischen Richtungen und Erzeugnisse des Auslandes,
die des Verfassers redliche Gründlichkeit abgelehnt, hätte bei einem so vollständigen
Werke doch wenigstens im äußersten Umriß nicht fehlen sollen. Selten sind wir, s"
wie jetzt, stolz auf die Leistungen des Vaterlandes, so unbekümmert um die des
Auslandes geblieben, und doch wäre gerade hier sür den engherzigen Particularis-
mus in der Wissenschaft, die wie keine andere der ganzen Welt angehört, mancher
erfrischende Luftzug zu hoffen.
Unter den 43 Städten und Flecken, welche das dem russischen Scepter
unterworfene Ostseeland zählt"), ragen nur zwei Orte hervor, welche die Na¬
men „großer Städte" verdienen: Riga, der Vorort der baltischen Provinzen
mit 103,000 Einwohnern, und Neval, die alte Hauptstadt Estlands mit etwa
32000 Bewohnern. An diese reihen sich vier mittlere Hafenorte: Narva,
Pernau, Libau und Windau, zwei größere Landstädte: Mitau, die Hauptstadt
Kurlands mit 24,000 Einwohnern, und die Universitätsstadt Dorpat mit 20,000
Bewohnern, den Nest bilden Landstädte mit 1000 bis höchstens S000 Be-
wohnern. — Die landschaftliche Verschiedenheit der einzelnen Provinzen spiegelt
sich auch in den Städten wieder: in den Städten Livlnnds herrscht das auf
hamburgischer Grundlage ruhende rigasche Stadtrecht, in den Städten Estlands
wird nach der revaler Bearbeitung Mischen Rechts gerichtet, die Mehrzahl
der Städte Kurlands ist dagegen dem kurländischen Landrecht unterworfen, nur
Mitau. Friedrichsstadt und Bauske besitzen eigene Rechtsinstitute, deren zahl-
reiche Lücken übrigens gleichfalls aus dem örtlichen Landrecht ergänzt werden.
Die ungünstigen klimatischen Verhältnisse Estlands, die Armuth des Grund und
Bodens und die gefährliche Rivalität der mächtigen Nachbarin Se. Petersburg
hat einen günstigen Ausschwung des Städtelebens dieser Provinz niedergehalten.
Ungeachtet der glücklichen Bildung seiner felsigen Küste will der Handel dieses Lan¬
des nicht recht gedeihen und selbst die alte Hansestadt Reval hat trotz des Fleißes
ihrer Bürger alle Mühe, die frühere Bedeutung zu behaupten. Kurlands zahl¬
reiche Städte und Flecken haben es zu einem selbständigen Bürgerthum nicht
gebracht, sie haben mehr oder minder einen ländlichen Charakter und sind be¬
züglich ihres Erwerbs hauptsächlich auf den Adel und die wohlhabende Bauer¬
schaft angewiesen. Von Juden überschwemmt, die bis vor kurzem die Provinz
nicht verlassen durften, wurden sie durch diese niedergehalten: nur die kleine
aber rührige Hafenstadt Libau (14,000 Einwohner) behauptet eine gewisse
Selbständigkeit und ihre Bewohner rühmen sich gern, nicht Kurländer, son¬
dern „Libauer" zu sein. Der Schwerpunkt des gesammten baltischen Bürger-
thums liegt in Livland, das zwei Städte aufzuweisen hat, deren hervorragende
Bedeutung durch alle drei Lande hin bereitwillig anerkannt wird: das reiche und
stolze Riga und die Universität Dorpat, den Heerd der deutschen Wissenschaft und
eines höheren geistigen Lebens an der Ostsee, die gefriedete Stätte, an welcher sich
die Söhne der sonst vielfach von einander gesonderten Provinzen im Dienst der
Muse begegnen. Erst 66 Jahre alt, hat die dorpater Hochschule eine reiche,
mannigfaltige Vergangenheit. Ihre erste Gründung datirt freilich aus den Zeiten
Gustav Adolfs, der 1632 den Grund zu einer schwedischen uinv<zrsitÄ8 liteiÄrum
gelegt hat. Aber ein ungünstiger Stern hatte über dieser Schöpfung des
großen Schwedenkönigs gewaltet; kaum acclimatisirt und gemäß den Bedürf¬
nissen der deutschen Bewohner des Landes modificirt, war die junge Hochschule
schon 1699 vor dem Ungestüm der heranrückenden Russen nach Pernau ge¬
flüchtet, — die rauhen Stürme des nordischen Krieges bliesen ihr das Lebens¬
licht vollends aus, und als Peter der Große Livland seinem Scepter unter¬
worfen hatte, war die Gesammtheit der pernauer Professoren und die Mehr¬
zahl der Studirenden über das Meer nach Schweden geflüchtet.
Die in der Capitulation von 1710 ausbedungene Wiederherstellung einer
„teutschen Academie" konnte trotz aller Bemühungen der livl. Ritterschaft erst
beim Beginn des 19. Jahrhunderts ins Werk gerichtet werden. Während
des gesammten 18. Jahrh, war academische Bildung für den Liv-, Est- und
Kurländer nur aus Deutschland zu holen; die Tradition der von den Ostsec-
provinzialen vornehmlich besuchten Universitäten Königsberg, Jena und Göt-
tingen weiß noch heute von der wilden Lebenslust und unverwüstlichen Frische
der blonden Söhne des Nordens zu erzählen, die sich hierin ganzen Schaaren
sammelten, aber freilich aus dem Fechtboden und in der Kneipe heimischer waren,
als in den stillen Sälen der Wissenschaft. Der tolle jenaer Auszug von
1792 hatte Dahl und Schwartz, zwei „Männer aus dem Lande Livland" zu
Führern gehabt, die Klinge eines livländischen Pastorensohns hat dem leid"
ziger Fuchs Göthe eine Wunde geschlagen und der Uebermuth der Kurlands
soll noch heute in Göttingen sprichwörtlich sein. Wohl wurde auf diese Weise
wenigstens der Zusammenhang der Colonie mit dem Mutterlande wirksam
erhalten, — aber der Mangel einer einheimischen Stätte der Wissenschaft
machte sich doch vielfach geltend. Nur reiche Edelleute, Kaufherrn und Beamte
konnten ihre Söhne über das Meer senden, die mittelmäßigen Söhne des Glücks
mußten sich mit dem begnügen, was sich auf dem Lyceo zu Riga, auf der re-
valer Dom- und Nitterschule oder der rigaer Stadtschule erlernen ließ. Die
Mehrzahl der Aerzte, Prediger und Advokaten wanderte aus Deutschland ein,
die studirten Söhne des Landes waren durch den jahrelangen Aufenthalt im
Auslande häusig der Mmath entfremdet. Am schwersten litt der lettische
und chemische Bauer, dessen Prediger häusig ins Amt traten, ohne ein Wort
von ihrer Sprache zu verstehen. Die Noth war so groß, daß jedes Subject,
das vorgab, „auf Universitäten gewesen zu sein", für anstellungfähig galt
und es nach des livländischen Topographen Hupel (l782) Bericht häufig Ad-
vokaten gab, „die nichts als eine Profession erlernt", Aerzte, „die auf der Uni-
versität blos die Theologie betrieben", Prediger, „die vielleicht alles, nur keine
theologischen Collegien gehört haben, mehrere Sprachen zwar, nur von den beiden
Grundsprachen kein Wort verstehen". Diesem „betrübten" Zustande wurde erst
im Jahre 1802 durch Begründung der dorpater Hochschule ein Ende gemacht.
Im Herzen der drei baltischen Lande gelegen, von einer freundlichen
Landschaft umgeben, aus deren Mitte die alte Domruine herausragt, war die
kleine Embachstadt zur Aufnahme einer deutschen Universität wie geschaffen.
Die ersten Lehrer derselben waren fast sämmtlich Einwanderer aus Norddeutschland,
nur zum Theil Männer Von wirklicher Wissenschaftlichkeit, der Mehrzahl nach Ge¬
lehrte, deren Lehrtalent ebenso zweifelhaft erschien, als ihr Forschungseifer, --
aber des Jubels über die neue Errungenschaft war kein Ende und ein Jahrzehnt
lang nahm das ganze Land an den Leiden und Freuden ihrer alma, mater
einen fast kindlichen Antheil. Von dem humanen Sinn Alexanders I. beson¬
ders begünstigt, erwuchs die junge Pflanzschule rasch zu fröhlichem Gedeihen;
frei wie die Wissenschaft selbst war auch ihr Jünger und schon der eine Um-
stand, daß Liv- und Estländer, rigischc Bürgersöhne und kurische Barone. Enkel
a't-patrizischer Geschlechter und Söhne bäurischer „Halbdeutscher" Gelegenheit
Zu brüderlichem Verkehr fanden und während der schönsten Jahre ihres Lebens
v°n einem Bande umschlossen gewesen waren, dessen Kraft sich oft durch das
Kauze spätere Leben bewährte, war von unermeßlichen Werth. Das baltische
Bürgerthum, dessen materielle Stütze der Reichthum des rigaer Handels aus¬
gemacht hatte, gewann an der Universität einen geistigen Halt und Hebel, an
der Wissenschaft eine Waffe gegen die Uebermacht des Adels; dieser selbst
fand Gelegenheit zu erhöhter ^ Werthschätzung und gesteigerter Theilnahme für
die Bildung der Zeit. Der Edelmann entwöhnte sich davon, seine Erben ihre
besten Jahre in der Armee verbringen zu lassen, wer darauf ausging, eine
Landescarriöre zu machen, d. h. einen adligen Richterposten zu bekleiden oder
als Landrath und Landmarschall Politik zu treiben, mußte „in Dorpat" ge¬
wesen sein, und dem Junker, der die Schulbank direct mit dem Sattel ver¬
tauscht hatte, um von diesem aus die väterlichen Fluren schlecht und recht zu
verwalten, konnte es Passiren, daß er über die Achsel angesehen und bei Seite
geschoben wurde, wenn der Nachbar in dem Pastor einen Studiengesähr-
ten erkannte und mit dem vertraulichen „Du" begrüßte, das jeder Commilitone
zu fordern ein Recht hat. Mit der Zunahme der Zahl der studirten Leute
steigerten sich die Bildungsansprüche, das Land war bezüglich seiner geistigen
Bedürfnisse nicht mehr auf die Dienste derer angewiesen, die der Zufall an die
Ostseeküste verschlug. Die Prediger brachten jetzt eine gründliche Kenntniß von
Land und Leuten in das Amt mit, denn sie waren der Mehrzahl nach Landes¬
kinder, die die Anschauungen und Sprache des Landmanns von Jugend auf
kannten, das heimische Recht, bis dahin eine nur wenigen Auserlesenen be¬
kannte Geheimlehre, die mühsam aus verstaubten Folianten zusammengesucht
werden mußte, wurde zum Rang einer selbständigen Wissenschaft erhoben und
systematisch verarbeitet. Handbücher und Zeitschriften ließen sich angelegen sein,
den überkommenen Rechtsstoff zu säubern und zu sichten, es gab bald kein Ge¬
richt rühr, das nicht ein oder mehrere rechtskundige Glieder gezählt hätte.
Neben den beträchtlich vermehrten öffentlichen Lehranstalten entstanden von
süchtigen einheimischen Fachmännern geleitete Privatschulen, die gelehrte Bil¬
dung und ihre Vertreter waren wohlfeiler und dadurch für größere Kreise zu¬
gänglich geworden. Schon während der zwanziger Jahre fanden sich neben den
aus Deutschland eingewanderten Professoren einzelne Inländer, welche den aca-
demischen Purpur erwarben; war die Zahl der productiven Elemente unter
denselben auch nicht übergroß, so wußten sie als fleißige Docenten und gesin¬
nungstüchtige Patrioten ihrem Vaterlande wichtige Dienste zu erweisen.
In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts nach der Julirevolution soll¬
ten sie Gelegenheit haben, das zu beweisen. Durch revolutionäre Vorgänge
auf deutschen Universitäten mißtrauisch geworden, sah das streng-militärische
Regiment des Kaisers Nikolaus die academische Freiheit der Embachhochschule
schon seit lange als eine gefährliche Anomalie an; daß Professoren und Stu¬
denten einander als Commilitonen betrachteten, daß die vorgeschriebene Uniform
wenn überhaupt nur nachlässig getragen und von der studirenden Jugend
durch selbstgeschaffene Abzeichen erhebt wurde, daß die Lehr- und Hörfreiheit
jeder Controlle entbehrte, der Senat sich selbst'ergänzte und daß der academische
Brauch Lehrern wie Schülern für ein heiligeres Gesetz galt, als das „Aller¬
höchst" bestätigte Reglement für die Studirenden, mußte dem damaligen Unter¬
richtsminister Grafen Uwarow als unzulässige Verletzung von Ordnung und
Disciplin gelten. Ein alter General, der im Gamaschendienst ergraut war,
wurde als Kurator nach Dorpat gesandt, um die wilde academische Freiheit zu
bändigen und an die strenge Zucht zu gewöhnen, die man für das Haupter-
forderniß eines heilsamen Staats- und Unterrichtswesens ansah. Aber die
Macht der Tradition spottete aller Strafgesetze und Reglementirungen; in dem
Bewußtsein, daß es sich in dem Kampf gegen die neue Ordnung um mehr als
die Aufrechterhaltung burschikoser Unarten handele, hielt die studirende Jugend
mit eiserner Zähigkeit an ihrem „Comment" und ihren verpöntem Corpsver¬
bindungen fest, die hier ein streng geschlossenes, nach burschenschaftlichen Grund¬
sätzen geordnetes Ganze bildeten, dessen Willen sich jeder füg.en mußte, den
nicht der Bann seiner Commilitonen treffen sollte. Es half wenig, daß die
Anlegung des Uniformrocks erzwungen wurde, daß man die Aufzüge und öffent¬
lichen Festlichkeiten früherer Zeit verhinderte — der trotzige Geist des alten
Burschenthums wußte sich zu erhalten, kräftiger und reicher denn je war das
innere Leben der Verbindungen; die strenge Satzung, die über denselben wal¬
tete, diente einzig dazu, dem jugendlichen Treiben einen idealen Hintergrund
zu geben, von dessen Bedeutung auch der Unbedeutendste etwas ahnte, und dem
alten soldatischen Kurator blieb nichts übrig, als ein Auge zuzudrücken, wenn
man ihm sagte, die Herrschaft des Studentenstaats über seine Glieder sei unan¬
greifbar und werde nicht auszurotten sein, solange die Universität überhaupt bestehe.
Während der vierziger und fünfziger Jahre nahm die Bedrückung
unaufhörlich zu; als der Rector Ulmann im Jahr 1843 ein Ehrengeschenk der
Studentenschaft angenommen hatte (die ihn wegen der Beihilfe, welche er der
Errichtung von Ehrengerichten geschenkt hatte, hoch verehrte), wurde er plötzlich
entfernt und vier academische Lehrer, welche gegen dieses Verfahren Protest
erhoben, mußten sein Loos theilen. Das Cooptationsrecht des academischen
Senats wurde wiederholt durchbrochen, 1851 verlor die Universität das Recht,
ihren Rector selbst zu wählen, wenig später sollte die Zahl der Studirenden
auf 300 beschränkt, ein Theil der juristischen Vorlesungen in russischer Sprache
gehalten werden — man ließ sich aber nicht beirren und harrte entschlossen
aus, bis bessere Zeiten kamen. Und diese Zeiten blieben nicht aus. Alexan¬
der II., der sich schon durch die Rehabilitation des schwer gekränkten ehemali¬
gen Rector Ulmann (derselbe wurde nach 20jähriger Quiescirung zum Bischof
der gesammten evangelischen Kirche Rußlands ernannt) als Freund der dorpa-
ter Hochschule bewiesen hatte, hob die strengen Satzungen Uwarows auf und
stellte die alte Freiheit der Hochschule in großmüthiger Weise wieder her. Auch
äußerlich ist die Universität gegenwärtig wieder, was sie ihrem Wesen nach
Von je gewesen, — die Hüterin protestantisch-deutscher Bildung und Wissen¬
schaft an der Ostsee, der Born, aus dem jedes heranwachsende Geschlecht Liebe
und Verständniß für die geheiligten Traditionen der Heimat schöpft. Die in
Deutschland verloren gegangene Poesie des academischen Lebens hat sich auf
diesem vorgeschobenen Posten noch erhalten, ein einiger Bruderbund umfaßt die
vier großen, landsmannschaftlich gegliederten Verbindungen, denen zwei Drit¬
theile aller Studirenden angehören, und auch die außerhalb derselben stehenden
Jünger der Wissenschaft sind an das Gesetz ihrer Kommilitonen gebunden. Unge-
schieden durch Standes- und Vermögensvcrschiedenhciten, politische oder religiöse
Gegensätze, an denen es sonst nicht fehlt, finden sich die Jünglinge aus den drei
Landen in ihren Landsmannschaften zusammen; der strenge Theologe und der dilet¬
tantische Jünger der Landwirthschaft, der Bauernsohn und der Edelmann leben in
enger, jeder Einseitigkeit feindlichen Gemeinschaft, und selbst die einzelnen Russen-
Polen und Armenier, welche nach Dorpat kommen, werden zu deutschen Burschen,
begrüßen sich mit dem traulichen „Du" und lernen die Anfangsgründe unsrer
Sprache aus den Barbarismen des Comment. Der academische Senat besteht
zur Hälfte aus Landeskindern, zur Hälfte aus deutschen Einwanderern, zu allen
Zeiten hat er Namen von europäischem Ruf auszuweisen gehabt: die Astrono¬
men Mädler und Struve, die Mediciner Bitter, C. Schmidt, (den Chemiker und
Physiologen) Buchheim und Pirogow, —- Dabelow, Kurtz, Philippi, Kämptzu.a.
Aerzte, Theologen, Schulmänner und Pharmaceuten, die in Dorpat ihre Bil¬
dung empfangen haben, sind im gesammten russischen Reich, an der Wolga
und am Amur, in den eisigen Einöden Sibiriens und am Fuß des Kaukasus
zu finden — ein dorpaler Diplom ist insbesondere für Mediciner und Phar¬
maceuten die beste Empfehlung, die in das Innere des russischen Reichs mit¬
gebracht werden kann. Die Hauptmasse der Zöglinge bleibt freilich in der Hei¬
mat, die in der dorpater Hochschule ihr theuerstes und werthvollstes Besitzthum
verehrt. — Acht Gymnasien, welche zum Theil vom Staat, zum Theil von Cor-
poral-oren erhalten werden, bilden die Vorschule zu der Landesuniversität;
neben diesen bestehen verschiedene Privatgymnasien, unter denen die Anstalten
zu Fellin und Birtenruhe (bei Wenden) an erster Stelle zu nennen sind. Die
letztgenannte Anstalt besteht seit 42 Jahren unter der Leitung ihres hochver¬
dienten Begründers, eines Schülers Schleyermachers, des Dr. Albert Hollander
aus Riga, und hat reichen Segen gestiftet.
Bildet Dorpat das geistige Centrum des baltischen Lebens und den Punkt,
an welchem die Mehrzahl der Gebildeten, sonst durch provinzielle und ständi¬
sche Eigenthümlichkeiten geschieden, ein Mal im Leben zusammentrifft, um
Fühlung für das gesammte spätere Leben zu behalten, so erscheint Riga als
das Centrum des politischen, zumal des bürgerlichen Lebens. Während Dorpat
einen mehr oder minder ländlichen Eindruck macht und namentlich während der
Wintermonate der gesellschaftliche Sammelplatz des livländischen Adels ist,
trägt Riga, die älteste, reichste und politisch unabhängigste Stadt der drei
Provinzen ein ächt hanseatisches, reichsstädtisches Gepräge. Hier herrscht der
Bürger, vor Allem der Kaufmann. Alt und vornehm erscheint die Stadt auch
äußerlich. Erst vor wenigen Jahren wurden die Wälle, welche den eigentlichen
Stadtkern umgaben und nur all'zu lang einzwängten, geschleift und in Spazier¬
gänge verwandelt. Dieses städtische Centrum sticht noch heute von den neueren
Theilen (den der Nähe der früheren Festung wegen meist aus Holz gebauten Vor¬
städten) in eigenthümlichster Weise ab. Durch enge, in altdeutscher Art winklig-ge¬
wundene Gassen, auf welche zahlreiche Giebelhäuser, mächtige Speicher und
Jahrhunderte alte Dome hinabschauen, zieht ein rühriges, lebhaftes Handels¬
treiben: ein niemals endenwollender Strom hochbeladener Lastwagen wälzt sich
dem Ufer der majestätischen, mit zahlreichen Schiffen bedeckten Dura zu. Jen¬
seit derselben, in der niedrigen, meist in Holz gebauten s. g. Mitauer Vor¬
stadt sieht man Juden. Polen, Russen, kurische und lithauische Bauern eifrig
beschäftigt, immer neue Massen Flachs. Leinsaat und Getreide anzufahren:
längst der gesammten Ostseeküste bis tief nach Lithauen hinein ist der Flachs¬
bau die Haupteinnahme des Landmanns, der häusig nicht mehr Getreide baut,
als er für sein Haus braucht, den Ueberschuß an Zeit und Kräfien aber dem
Anbau und der Bearbeitung dieses Gewächses zuwendet, welches weitaus den
wichtigsten Exportartikel der Häfen von Riga, Pernau und Windau bildet.
An die Ostseite der Rigaer Altstadt schließt sich die weitausgedehnte mos¬
kauer Vorstadt, südlich von der Dura. nördlich von den Sandbergen begrenzt,
seit Jahrhunderten den Sammelplatz russischer Sectirer, deren Vorfahren sich
bereits zu polnischer und schwedischer Zeit vor den Folgen ihres Widerstandes
gegen die Kirchenreform des Metropoliten nitor in den Schutz des Protestan¬
tismus geflüchtet hatten. Von der eigentlichen Stadt durch einen breiten
Gürtel von Baumgängen und mächtige Speicherreihen getrennt, bietet dieser
Stadttheil das in den Ostseeprovinzen sonst unbekannte Bild ächt russischen Lebens.
Hier sind die Deutschen in der Minderzahl, wenngleich an der Spitze der Local-
vttwaltung; in niedrigen, meist grün angestrichenen Holzhäusern Hausen bärtige
Männer, die das nationale rothe Hemd über den Beinkleidern tragen und als
Kleinhändler, Hafenarbeiter. Zimmer- und FabrMeute ihr Leben fristen. Ihrer
Mehrheit nach gehören sie der extremsten Richtung des russischen Schisma, der
„Popenlosen" Secte an: wegen der Toleranz, mit welcher der rigasche Rath sie
in Zeiten der Bedrückung gegen den Verfolgungseifer „rechtgläubiger" Eiferer
geschützt, namentlich ihre priesterlich nicht eingesegneten Ehen anerkannt hat,
sind sie entschiedene Freunde des herrschenden deutschen Elements und gute
Bürger der alten Hansestadt. Während der Sommermonate sammeln sich in
den Straßen dieses entlegenen Quartiers, das mancher Bürger der anderen
Stadttheile kaum einmal im Leben betreten bat. zahllose „Struscnrussen". kleine,
häufig bartlose Gestalten, an dem schmutzigen Schafspelz und dem Filzkegel
auf dem Kopf erkennbar, Männer auf ungeheuren, mit Flachs und Getreide be-
tadelten Holzbarken (Strusen) zur Zeit des Hochwassers der Dura aus Lithauen
und Weißrußland Herabkommen. Sind ihre Waaren an den Großhändler ab¬
gesetzt, so zerstört das Beil des Flußschiffers die Barke, deren Balken dann
verkauft werden, er selbst aber kehrt mit der Eisenbahn in seine Heimat zurück,
um den Winter über von dem Erlös seiner Frühjahrsschiffahrt zu leben. Dieser
Geschäftszweig spielt in dem Handelslebcn Rigas eine bedeutende Rolle, soweit
das Auge reicht, bedecken diese mächtigen rohgezimmerten Flußfahrzeuge den
stattlichen Strom und das gesammte Ufer der moskauischcn Vorstadt bildet einen
einzigen großen Lade- und Stapelplatz. — Den elegantesten und wohlhabendsten
Theil der Vorstädte bildet endlich die nördlich von der Altstadt belegene
Se. Petersburger Vorstadt, in der neuerdings Steingebäude mit Holzbauten zu
wechseln beginnen.
Das Territorium Rigas reicht aber weit über Stadt und Vorstädte hinaus;
diese Stadt ist die reichste Grundbesitzerin Livlands. Eine lange Reihe ausge¬
dehnter Landgüter ist seit Jahrhunderten in ihr Eigenthum übergegangen und
wird von ihr in administrativer und judiciärer Beziehung unabhängig verwaltet.
Die Stadt Riga bildet darum einen besondern Staat neben dem livländischen
Landesstaat und steht in gewissem Sinn zu der übrigen Provinz im Gegensatz;
sie hat bei der Unterwerfung Livlands unter das russische Scepter selbständig
pactirt und wird von der Ritterschaft als unabhängige Macht angesehn.
Während die übrigen Städte das zum größten Theil von der Ritterschaft be¬
stellte Hofgerichtals Appellationsinstanz anerkennen, hat Riga in dem Plenum
seiner Rathsversammlung eine eigene zweite Instanz. Ebenso bildet das rigaer
Stadtgebiet einen selbständigen Consistvrialbezirk, an dessen Spitze eine rigaer
Synode und ein städtischer Superintendent stehen; es besitzt ferner eine selb¬
ständige Schulvenvaltung. Bei den Krönungen der russischen Herrscher ist das
übrige Land durch den ritterschaftlichen Landmarschall vertreten, Riga sendet
seinen Bürgermeister als selbständigen Deputirten nach Moskau. Ais bedeut¬
sames Symbol dieser Gegensätze steht an der Grenze des städtischen Patrimo-
nialgebiets das rigaer Stadtwappen mit dem bischöflichen Kreuz — dem „weiß-
geschwerteten Greif auf einem rothen Feld" (dem Abzeichen der Landschaft) gegen¬
über. Diese durch uralte Tradition geheiligte Unabhängigkeit hat den Ein¬
richtungen Rigas eine reichsstädtische Selbständigkeit, Gravität und Würde
gegeben, die sich in dem Stolz der einzelnen Bürger erkennbar wiederspiegelt.
Von den Domen bis zum Salzkeller hinab hat Alles seine Geschichte; und
der corperative Sinn des deutschen Bürgerthums hat selbst die deutschen, polnischen
und russischen Hanfbinder und Lastträger zu besonderen, statutarisch geordneten Brü¬
derschaften verbunden. Die Verfassung (über deren zeitgemäße Umgestaltung übri¬
gens schon seit Jahren mit der Staatsregierung verhandelt wird) ist zur Zeit noch
eine streng aristokratische und ruht in den Händen der drei „Stände der Stadt."
Den ersten derselben bildet der aus vier Bürgermeistern und sechszehn
Rathsherren bestehende Rath, dessen Glieder sich seit dem 13. Jahrhundert
durch Cooptation selbst ergänzen, zur Hälfte Kaufleute, zur Hälfte Juristen
sind. In dieser Körperschaft concentrirt sich alle obrigkeitliche Gewalt, die Ju¬
stiz mit einbegriffen, die in zahlreichen Niedergcrichten (Bogtei, Landvogtei, Welt¬
gericht,*) Crimiualdeputation, Waiscngencht u. s. w.) und, wie erwähnt, von dem
Plenum, als der Appellationsinstanz, geübt wird; an der Spitze des Raths
steht Se. Magnificenz der „wortführcnde" Bürgermeister und erste Syndikus,
ihm zur Seite ein „College", der in der Regel zugleich „Oberkastenherr" (Fi¬
nanzverwalter) ist. Den zweiten Stand bildet die „große Gilde", aus Kauf¬
leuten und „Literaten" (studirten Leuten) bestehend; als engerer Ausschuß der¬
selben fungirt die von dem Herrn Aeltermcmn geleitete „Aeltestenbank", der
gegenüber das Plenum durch seinen „Dokmann" vertreten ist; die Glieder der
Gilde zerfallen wiederum in Bürger und „Brüder" d. h. solche Personen,
welche das passive Wahlrecht zu städtischen Aemtern und Anspruch an das
Corporationsvermögen (die „Taselgilde") besitzen und solchen, welche ein blos
actives Wahl- und Stimmrecht ausüben. Nach ähnlichen Grundsätzen ist die
kleine oder Se. Johannis-Gilde, die Corporation der Handwerker organisirt.
Zu einem giltigen Beschluß in städtischen Angelegenheiten bedarf es der Ueber¬
einstimmung dieser drei „Stände"; kann dieselbe auf regelmäßigem Wege nicht
erzielt werden, so tritt eine aus Deputirten derselben gebildete „Compromiß-
Commission" zusammen, bei deren nach Stimmenmehrheit gefaßter Entschei¬
dung es sein schließliches Bewenden hat. Eine vierte übrigens gegenwärtig
politisch bedeutungslose Corporation wird durch das Corps der „löblichen
Schwarzenhäuptcr" gebildet, einer Brüderschaft unverheirateter Kaufleute, die
zu alter Zeit eine eigene Kriegerabthcilung (Kindergilde) bildete und den Moh¬
ren „Mauritius" zum Schutzpatron hatte; unter ihrer reichen Sammlung sil¬
berner Trinkgeschirre finden sich zahlreiche Reliquien der hanseatischen Vergan¬
genheit der Stadt, u. a. Geschenke der übrigen Hansestädte sowie Ehrengaben
fremder Könige und Fürsten.
In Bezug auf ihren Reichthum an wohlthätigen und gemeinnützigen Stif¬
tungen wird Riga vielleicht von keiner deutschen Stadt übertreffen, eine Auf¬
zählung derselben unterlassen wir. Seit der Festungsgürtel gefallen ist, der
die Ausbreitung und Neugestaltung der inneren Stadt durch ein Jahr¬
hundert verhindert hat. nimmt der Lorort der baltischen Provinzen mehr und
mehr einen modernen Charakter an. Ein elegantes neues (selbstverständlich
deutsches) Theater, eine prächtige Börsenhalle, in gothischem Geschmack neu auf-
geführte Gildenhäuser, ein stolzes Ritterhaus, eine Gasbeleuchtungsanstalt, das
städtische Realgymnasium, die (mit Hilfe der Ritterschaften und übrigen Städte
des baltischen Landes von der Stadt erhaltene) polytechnische Schule, eine Na¬
vigationsschule , zahllose Fabriken und Privatgebäude sind binnen weniger
Jahre emporgewachsen und bekunden den aufstrebenden Wohlstand der Bürger¬
schaft. Ihrer Initiative verdankt das Land die nahe livländische Eisenbahn
(Riga-Dünaburg), die erste Telegraphenlinie (nach Dünamünde) und eine Reihe
kolossaler Hase»bauten, welche der drohenden Versandung des Dünastroms eine
Grenze gesetzt haben. Auch das moderne Genossenschaftswesen hat in den
Mauern dieser Stadt die erste Pflanzstätte gefunden. Schon in früherer Zeit
waren die Männer der Wissenschaft, die Aerzte. Historiker, Advokaten, Natur¬
wissenschaftler und Techniker zu besonderen Vereinen zusammengetreten; seit den
letzten Jahren haben sich hier Productions- und Konsumvereine gebildet, eine
Handwerkerbildungsgesellschaft, verschiedene Turner-, Schützen-, Feuerwehr- und
Sängerverbindungen sind rasch aufeinander gefolgt und so gedeihlich fortgeschrit¬
ten, daß sie bis nach Neval und Windau hin Nachahmung gefunden haben.
Aber auch auf den verschiedenen Gebieten geistigen und künstlerischen Le¬
bens hat Riga von jeher eine wichtige Rolle für das baltische Land gespielt.
Daß hier beinahe ebenso viel Deutsche bei einander wohnen, als im gesamm-
ten übrigen Livland, machte sich von Alters her geltend. Riga war die Wiege der Re¬
formation, unter seinem Schutz wurden die ersten Buchdruckereien gegründet, die
ersten Bibliotheken gesammelt und schon im 17. Jahrhunderte periodische
Schriften herausgegeben. Hier schlugen während der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts die Ideen der Aufklärung und der allgemeinen Menschenrechte die
erste Wurzel; an die städtische Domschule wurde bekanntlich 1764 Herder berufen,
dessen Gedächtniß durch ein Standbild auf dem Platz der kleinen Waage (jetzt
Herderplatz) verewigt worden ist; im Hause des Rathsherrn Behrens hat Ha-
mann, der „Magus des Nordens", viele Jahre lang gelebt, Kants „Kritik der
reinen Vernunft" wurde bei dem Stadtbuchdrucker Fröhlich im Auftrage eines
rigaer Verlegers, des trefflichen Hartknoch, gedruckt. Wenige Jahre später wurde
durch die Bemühungen des Geheimrath v. Vietinghof (des Vaters der bekann¬
ten Mystikerin Juliane v. Krüdener) ein stehendes Theater errichtet, das sich so
schnell Ruf und Anerkennung zu erobern wußte, daß Schiller ihm den Don
Carlos (in seiner ersten, noch in Prosa geschriebenen Version) verlauft»'; 1802
wurde durch den Generalsuperintendenten Carl Gottlob Sonntag, einen Freund
Herders und Wielands, die „literarisch-praktische Bürgcrverbindung" ein Verein
zur Förderung des Wohlstandes und der Aufklärung der Handwerker und
der kleinen Bürger gestiftet. In neuerer Zeit ist es ganz besonders Riga ge¬
wesen, dem das Land den Aufschwung der politischen Presse zu danken hat;
die seit neunzig Jahren bestehende „Nigasche Zeitung", eine vornehmlich
für die deutschen Bürger des flachen Landes bestimmte, sehr gut redigirte
Zeitung für Stadt und Land, die „Rigaschen Stadtblätter", das
„Kirchenblatt", „die Mittheilungen und Nachrichten für die evan¬
gelische Kirche Rußlands", endlich die höchst verdienstvolle durch die Bei¬
steuer verschiedener rigacr Kaufleute begründete „Baltische Monatsschrift"
und zwei weit verbreitete lettische Journale haben neben den Organen ver¬
schiedener gelehrter Gesellschaften in der Dünastadt ihren Sitz. Der Kampf für
zeitgemäße Reformen, als Besserung der bäuerlichen Verhältnisse, Aufhebung des
adeligen Güterbesitzrechtes, Neugestaltung der längst zu eng gewordenen alten
Verfassung u. f. w. ist während der letzten Jahre vornehmlich von rigaer Jour¬
nalisten geführt worden*). Vermittelung der Zeitideen mit den überkommenen
baltischen Einrichtungen und Vertheidigung des deutsch-protestantischen Elements
gegen die Angriffe der russischen Presse sind die Aufgaben, denen die baltische
Presse trotz zahlloser Hemmungen unermüdlich nachstrebt. — Endlich bildet Riga
den Sitz der Centralverwaltung Liv-, Est- und Kurlands; hier residirt auf dem
alten von den Heermeistern gegründeten Schloß der Generalgouvemeur, der kai-
serliche Statthalter und Militäroberbefehlshaber. Wer mit ihm verhandeln will,
ist ebenso gezwungen, in „die Stadt" zu kommen, wie Jeder, dem es um die
Regelung eines größeren Geschäfts zu thun ist. Die Bürger aller drei Pro¬
vinzen aber sehen in Riga den Mittelpunkt ihrer Kraft, die Zukunft ihres
Standes, der sonst beinahe allenthalben hinter dem Adel zurücktritt.
Wenige Meilen von Riga, an den flachen Ufern der Aa, ist die Hauptstadt
Kurlands, Mitau, gelegen; trotzdem, daß die Eisenbahn, welche zu ihr führt, noch im
Bau begriffen ist, kann sie in kaum drei Stunden erreicht werden, und doch
glaubt man sich in eine andere Welt versetzt, wenn man auf der öden ChaussS,
welche diese beiden Städte verbindet, dorthin gelangt. Breite, nicht eben saubere
Straßen, auf welche niedrige, häusig noch hölzerne Häuser hinabsehen, Kirchen
und öffentliche Gebäude unscheinbar und ohne Spuren einer großen Vergangen¬
heit, Bürger ohne bestimmt ausgeprägtes bürgerliches Bewußtsein, in Han¬
del und Gewerbe Juden vorherrschend. Mitau ist trotz seiner beträchtlichen Aus¬
dehnung und seiner 24000 Einwohner eine Landstadt geblieben, die zu wirk¬
licher Bedeutung erst gelangen wird, wenn sie mit dem übrigen Europa durch
den Schienenweg verbunden ist, an welchem seit den letzten Monaten eifrig ge¬
baut wird. Wie allenthalben in Kurland macht sich auch in der Landesstadt das
Uebergewicht des Adels geltend, neben welchem das Bürgerthum zu keiner selb¬
ständigen Machtstellung gediehen ist. Die nicht eben zahlreichen stattlicheren
Häuser gehören Edelleuten, welche hier den Winter zu verbringen gewohnt sind.
Der Gouverneur residirt in dem großartig angelegten Schloß, das Ernst
Johann Biron im vorigen Jahrhundert bauen ließ und das wundersam
gegen die Bescheidenheit seiner Umgebung absticht. Während in Riga die
eigentliche Gesellschaft aus Patriciern, Edelleuten und höheren Beamten zusam¬
mengesetzt ist. bildet der Adel in Mitau eine gesonderte, fast unnahbare Kaste,
mit welcher der gebildete Bürgerstand bis in die neueste Zeit hinein jede ge¬
sellschaftliche Berührung beinahe ängstlich vermeidet. Da die größeren Bank-
und Handelshäuser fast ausnahmslos in den Händen von Juden sind, die
eine besondere sociale und politische Gruppe bilden, ist das Bürgerthum
der Stadt ausschließlich auf Beamte und Gelehrte angewiesen, die als „Literaten"
den übrigen Elementen fremd gegenüber stehen. In neuerer Zeit beginnt
sich indessen ein entschiedener Fortschritt zum Besseren geltend zu machen,
namentlich seit das Vereinswesen Wurzel geschlagen und die verschiedenen
Gruppen, die sich sonst theilnahmlos gegenüber gestanden, zur Annäherung ge¬
zwungen hat. Die Hauptschuld an den Mißverhältnissen der Gegenwart tra¬
gen der Mangel einer selbständigen Stadtverfassung und die jüdische Übervöl¬
kerung. Soll Kurland und mit ihm Mitau zu einer gesunden bürgerliche»
Entwickelung durchdringen, so muß vor Allem der Bann fallen, der die Juden
an dieses Land fesselt und dazu verurtheilt, ein Proletariat zu bilden, das wie
ein Bleigewicht am städtischen Leben belügt, jeder freien Bewegung desselben
hindernd in den Weg tritt. Das jüdische Element ist dieser Provinz nur schäd¬
lich, weil es allzu zahlreich vertreten ist und das gesammte städtische Leben über¬
wuchert, — über die schwach bevölkerten Gouvernements des centralen Rußland
verbreitet würde es den geeigneten Spielraum für seine Geschäftigkeit finden
und entschiedenen Nutzen stiften. Das Handwerk, der Handel und die niedere
Arbeit sind auch in Mitau vorwiegend in jüdischen Händen. Der Bürger fühlt
sich darum in stetem Kriege mit diesem gefährlichen Concurrenten, der in Be¬
zug auf seine Bildung meist ebenso tief unter ihm, wie unter dem Juden
Deutschlands steht und durch ein rohes, fast barbarisches Vorurtheil niederge¬
halten wird. Mangel an Anstalten der Großindustrie und die nahe Nachbar¬
schaft der großen livländischen Hauptstadt lassen kein wirkliches Gewerbsleben
aufkommen, der Wohlstand ist gering und wird noch durch die Kosten einer
Communalverwaltung gedrückt, die ausschließlich aus städtischen Steuern
bestritten werden muß, da es der Stadt ebenso an größerem Grundbesitz wie
an Capitalien fehlt. Das durch die Uebermacht der Ritterschaft machtlos ge¬
wordene herzogliche Regiment, das 225 Jahre lang über Kurland geherrscht
hatte, war außer Stande gewesen, dem städtischen Element einen Rückhalt
zu bieten, und dieses hat darum noch ein Stück Arbeit vor sich, um zu der
Höhe seiner geschichtlichen Aufgabe zu gelangen. — Seine Hauptbedeutung hat
Mitau als Sitz der Provinzialverwaltung und des Schulwesens. Außer einem
historischen Museum und verschiedener gelehrter Anstalten besitzt diese Stadt
noch einige sehr beträchtliche Buchhandlungen, die vorwiegend den literarischen
Bedürfnissen des flachen Landes dienen, und einige größere Buchdruckereien,
die hauptsächlich mit dem Druck und Vertrieb keltischer Bücher und Zeitschriften
beschäftigt sind. Die Wohlhabenheit des kurländischen Bauern macht diesen
zu einem nicht unwichtigen Factor des städtischen Lebens; der Detailhandel
Milans lebt hauptsächlich von bäuerlichen Käufern und nirgend geschieht es
häusiger als hier, daß der wohlhabende Bauerwirth seinen Sohn in die Stadt
schickt, um ein Gewerbe zu erlernen und in die Reihe der deutschen Bürger zu
treten. Die Grenzscheide zwischen Letten und Deutschen ist überhaupt nirgend
schwerer zu ziehen, als in Kurland, wo die Mehrzahl der wohlhabenden Bauem
des Unterlandes Deutsch versteht und der städtische Bürger so häusig mit dem
Bauer in Berührung kommt, daß er die Sprache desselben lernen muß. Anders
in Riga, wo die Selbstgenügsamkeit des stolzen Bürgers des Bauern weniger
bedarf und die germanisirten Schichten der städtischen Bevölkerung, die zahl¬
reichen Markthelfer, Hausleute, Schiffsarbcitcr u. s. w. ihren lettischen Ursprung
rascher vergessen. Während es in Riga zahlreiche Leute giebt, die kaum ein
Wort keltisch verstehen, geschieht es nicht selten, daß der Kurländer seiner Rede
einen lettischen Ausdruck einschließt, und charakteristisch genug führt die Cor¬
poration der in Dorpat studirenden Kurländer in ihrem Wappen einen lettischen
Wahlspruch. Von Alters her hat die deutsche Herrschaft in Kurland minder
schroffe und ausschließliche Formen angenommen, als in den Nachbarprovinzen.
Das in allen kurländischen Orten reichlich vertretene Judenthum in Ab¬
zug gebracht, sehen die zahlreichen Landstädte Liv- und Kurlands einander
ebenso ähnlich, als ihre beiden Hauptstädte unähnlich sind. In Wolmar
und Wenden fließt das Leben in derselben idyllischen Abgeschlossenheit hin.
deren sich die kurischen Städte Goldingen, Hasenpot oder Tuckum erfreuen.
Neben Handwerkern und einzelnen Kleinhändlern finden sich dieselben Hono¬
ratioren unfehlbar wieder: der Stadtpastor, die Aerzte, der Kreislehrer und
seine Kollegen, der rechtsgelehrte Syndicus des Raths, der in der Regel zu¬
gleich Advokat ist, der Postmeister, endlich die adligen Glieder und der rechts¬
gelehrte Secretär des Land- oder Ordnungsgerichts (in Kurland Oberhaupt¬
mann- und Hauptmanngcricht), Zwischen bescheidener Berufsthätigkeit und
familienhafter Geselligkeit schwinden die Tage einander zum Verwechseln ahn.
lieh dahin. — Besuche bei benachbarten Gutsbesitzern. Iagdparthien und um
die Weihnachtszeit übliche Reisen nach Riga oder Mita» bieten die einzige Ab¬
wechselung. Den Sammelplatz der Männer bildet ein Club mit einem
Zeitungstisch und mehreren Kartentischen, die Frauen sind auf Hausbesuche be¬
schränkt, wenn nicht etwa ein mit Hilfe der adeligen Nachbarn ermöglichter
Fastnachtsball die Raume des Clubs auch ihnen erschließt oder eine durchrei¬
sende Schauspielergesellschaft Jung und Alt um ihre Produktionen versammelt.
Die großen Entfernungen, welche diese Landstädte von einander trennen, und
der vollständige Mangel an Eisenbahnen bedingen es, daß dieselben auch in der
Gegenwart ungleich isolirter sind, als deutsche Städte von entsprechender Größe
und Bedeutung. Bezüglich ihrer geistigen Bedürfnisse ausschließlich auf die
Bücher und Zeitschriften angewiesen, welche in den Provinzialstädten erscheinen
oder dem Geschmack derselben entsprechen, erhalten die baltischen Kleinstädter
die moderne Bildung erst aus zweiter Hand; nur was in Riga, Dorpat, Reval
oder Mitau Aufsehen erregt, dringt in diese stillen Oasen deutschen Bürger-
thums, höhere Autoritäten, als die, welche in der Landesstadt den Ton ange¬
ben, kennt man im Innern der Provinz kaum. Bei der Armuth des äußeren
Lebens spielt die Lektüre eine ungleich größere Rolle als in den Mittelpunkten
der Kultur. Die empfangenen Eindrücke wirken nachhaltiger, die Empfänglich¬
keit ist frischer und läuft nicht Gefahr, durch steten Wechsel verflacht zu werden,
das Gemüthsleben ist reicher und tiefer entwickelt, als im Westen, wo die Men¬
schen dichter bei einander wohnen und der Einzelne kaum in die Wagschaale
fällt. Während des endlosen Winters, der Wald und Feld mit dichter Schnee¬
decke verhüllt und die kleinste Reise mit Schwierigkeiten umgiebt, von denen
der Bewohner des mittleren Europa kaum eine Vorstellung hat, sind die Ge¬
bildeten unter den Kleinstädtern und Landbewohnern der baltischen Küste ledig¬
lich auf die Bücher und Musikalien, welche der Buchhändler der nächsten
großen Stadt für sie ausgesucht hat, — und auf sich selbst angewiesen. Der
Cultus unserer großen Dichter und Componisten wird darum mit einer Wärme
und Innigkeit getrieben, die aus dem Gefühl entspringt, daß das Leben ohne
die Gaben dieser Unsterblichen in der That nur ein halbes wäre. Leute, die
in ihrem Leben nie ein Orchester oder Streichquartett gehört haben, denen ein¬
zelne rigaer Aufführungen des Don Carlos oder der Iphigenia die größten
künstlerischen Erinnerungen des Lebens sind, schöpfen hier aus mittelmäßigen
Clavierbearbeitungen Beethovenscher Symphonien oder zerlesenen Exemplaren
alter Göthecmsgaben die höchsten Erbauungen und sie werden nicht müde,
ihre Herzen immer wieder an Schöpfungen zu erwärmen, die an den Stät¬
ten ihrer Entstehung kaum mehr beachtet sind, weil man sie bis zum Ueber-
druß gehört oder gesehen hat. Während die bildende Kunst fast nur dem
Namen nach existirt und man die großen Maler und Bildhauer bloß aus Bü-
chern kennt, ist der Sinn für Musik allgemein geweckt und ausgebildet, und die
gelegentlichen Besuche, welche ein aus Gliedern des rigaer Orchesters beste¬
hendes Streichquartett neuerdings in den kleinen Städten Liv- und Kur-
lands macht, werden diesen zu wirtlichen Festen. Ein neues Heft Musi-
kalten, eine politische oder historische Schrift, deren Titel man in der Zei.
tung gelesen und die ein Glücksfall in die Hände des Nachbars gebracht hat,
geht von Hand zu Hand, ist Gegenstand der allgemeinsten Theilnahme, bietet
Tage lang den Stoff für alle eingehenderen Gespräche. Und wie man ge¬
wohnt ist, zu den Schöpfungen der Kunst und Wissenschaft, von denen man
einmal einen bedeutenden Eindruck empfangen, immer wieder zurückzukehren,
so ist man in diesem Lande auch mit den Menschen, die einem im Leben über¬
haupt etwas bedeutet haben, enger verbunden, als unter den glücklicheren Him¬
melsstrichen, die es in Neigung und Belieben des Einzelnen setzen, ob er sich
neben der äußern Welt der Erscheinung auch eine innere des Herzens und der
Empfindung schaffen will. Die deutsche Einwohnerschaft jeder der drei Pro¬
vinzen bildet in gewissem Sinne eine oder einige große Familien, die sich
trotz ständischer Gegensätze und Rivalitäten mit einander verbunden wissen durch
das Band gleicher Kirche und Sprache und durch den Kampf mit politischen
Schwierigkeiten, von denen im Grunde alle in gleicher Weise bedroht sind.
Da sich alles mehr oder minder kennt, liebt oder heißt, nimmt Jeder einen ge¬
wissen Antheil an dem Andern; a,ä Koe geschlossene Verbindungen auf rein sach¬
licher Grundlage sind so gut wie unbekannt, jedes Verhältniß, mag es auf der
Universität oder in einer politischen Versammlung, zwischen Jungen oder Alten
geschlossen sein, nimmt einen persönlichen und dauernden Charakter an. Trotz
der politischen Präponderanz und beziehungsweisen Ausschließlichkeit des Adels
herrscht unter den Gebildeten des Landes eine sociale Gleichheit, deren aristo¬
kratisches Gepräge zu der Formenstrenge der deutschen Geselligkeit in ziemlich
ausgesprochenem Gegensatz steht. Es ist nicht immer leicht, ein Mitglied der
herrschenden Gesellschaft zu werden, — einmal in dieselbe aufgenommen, fühlt
man sich aber rasch und vollständig eingebürgert. Enger mit einander verbun¬
den, direkter auf einander angewiesen, bewegen die Menschen sich mit größerer
Ungezwungenheit und Offenheit; da sie einander kennen, mit einander aus¬
kommen müssen, würde das Comvdiespielcn ihnen wenig helfen. Der Natur
der Sache nach spielt das Familienleben noch seine ursprüngliche Rolle, ist die
Gesellschaft eigentlich nur das erweiterte Haus. Namentlich auf dem flachen
Lande herrscht eine großartige Gastfreiheit, der es im Ernst darum zu thun ist,
den Fremden möglichst rasch und gründlich heimisch zu machen, ihn an den
Freuden und Leiden, Sorgen und Interessen der Familie theilnehmen zu lassen.
Als ächte Kolonisten sind die Liv-, Est- und Kurländer viel schlechtere Rechner,
als ihre dichter bei einander wohnenden westlichen Stammesbrüder; der stark
ausgebildete Sinn für Gemüthlichkeit und Behagen, der ihnen eigenthümlich
ist. läßt die Frage nach dem Verhältniß, in welchem Wünsche und Mittel zur
Befriedigung derselben stehen, seltener aufkommen, als vernünftiger Weise ge-
fordert werden könnte. Das Gefühl der gesellschaftlichen Gleichheit der Gebil¬
deten hat zur Folge, daß auch Vermögensverschiedenhciten keine Störung machen
und daß gerade in den maßgebenden Kreisen Wohlhabende und minder Bemit¬
telte so ziemlich auf dem gleichen Fuße leben. — Die eigenthümliche Beschaffen¬
heit dieser gesellschaftlichen Zustände macht ihre Wirkungen natürlich auch auf Gebie¬
ten geltend, mit denen dieselben an und für sich nichts zu thun haben; der enge Zu¬
sammenhang der Personen, setzt auch die Sachen, die von denselben repräsentirt
werden, zu einander in Beziehung, und es ist in vielen Fällen kaum möglich,
die Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben zu ziehen. Da
alle Gebildeten das gleiche Interesse daran haben, die heimische Kirche, das
alte Recht und die deutsche Sprache trotz endloser Schwierigkeiten, die im Wege
stehen, in ihrer Herrschaft zu erhalten, wird von Jedem, mag sein Beruf sein,
welcher er wolle, verlangt, daß er sich in den Dienst derselben stelle, und in¬
mitten des erbittertsten Kampfes streitender Sondciintcressen bleiben immer noch
Einigungs- und Berührungspunkte übrig. Die Bildungsquellen, aus denen
geschöpft wird, sind für alle dieselben, daher können sich religiöse und politische
Meinungsverschiedenheiten -— ob es auch an ihnen durchaus nicht fehlt — nicht
mit der Schroffheit ausbilden, die den Verkehr von Vertretern verschiedener
Parteistandpunkte z. B. in Deutschland so schwer macht. Auf dem flachen
Lande ist es seit den kirchlichen Wirren der vierziger Jahre ganz besonders
die Sorge für die geistige und sittliche Bildung des Landvolks, von dessen
Zukunft man die des ganze» Landes abhängig weiß, welche Edelleute und
Bürger, Geistliche und Weltliche zusammen hält. Das kirchliche Leben erfreut
sich gerade in diesen Kreisen besonderer Frische und Gesundheit; die Prediger
nehmen trotz der orthodoxen Strenge ihrer dogmatischen Lehrmeinungen an der
gesammten Bildung der Zeit lebhaften Antheil, ihre Stellung bringt es mit
sich, daß sie, die vmzüglich Volkslehrer sind, sich zugleich als Repräsentanten
und Führer des geistigen Lebens ansehen. Die Leitung des bäuerlichen
Schulwesens wird von ihren in Gemeinschaft mit vom Adel gewählten „Schul-
revidenten" besorgt. Ihre Beziehungen zu den adligen Nachbarn sind darum
natürlich gegebene und werden wesentlich dadurch unterstützt, daß man auf der,
selben Universität seine Bildung empfangen, entweder gleichzeitig studirte
oder derselben Studentenverbindung angehörte. — Während der größeren
Hälfte des Jahres von den Mittelpunkten der Geselligkeit und deren Zerstreu¬
ungen abgeschieden, durch Tage und Wochen bloß auf sich und den Verkehr mit
einer düstern, melancholischen Natur angewiesen, nehmen auch die Frauen an
den politischen und kirchlichen Bestrebungen der Männer lebhaften Antheil, und
es geschieht nicht selten, daß die Frau des Gutsbesitzers die eigentliche Seele der
Hoff- oder Gebietsschule ist und die Sorge für Armen- und Krankenpflege aus
ihren Theil nimmt.
Die größeren Städte, deren Leben selbstverständlich anders geartet ist, und
die wegen ihrer ununterbrochenen Beziehung mit den Centren westeuropäischer
Cultur von diesen direkter beeinflußt sind, stehen der mangelhaften Verkehrs¬
mittel und ihrer geringen Anzahl wegen den Bewohnern des flachen Landes
im Ganzen ziemlich fern. Kommen doch auf Kur- und Livland nur je zwei
größere Orte, hier Riga und Dorpat, dort Mitau und Libau. Estland hat
endlich nur eine einzige größere Stadt aufzuweisen.
Am felsigen Südufer des finnischen Meeres gelegen, bildet das alte Reval
trotz seiner baulichen Aehnlichkeit mit den älteren Theilen Rigas ein von der
Dünastadt verschiedenes Bild. Der Charakter des Nordischen ist hier entschiedener
und schärfer ausgeprägt, die Begründung durch einen dänischen Herrscher die
längere Dauer des schwedischen Regiments haben deutlich erkennbare Spuren und
hinterlassen, und die Wohlthaten der modernen Cultur, deren das reichere Riga
bereits theilhaft geworden ist, finden nur mühsam und allmählig ihren Weg
an diese entfernte Küste. Schwedische Namen und Bezeichnungen kommen hier
häusiger vor, als in Livland, und selbst der Dialekt der Einwohner verräth den
Einfluß skandinavischer Elemente — der Revalenser ist ernster, steifer und schwer¬
fälliger als der Rigenser oder Kurländer, der nicht umsonst durch zwei Jahr¬
hunderte mit Polen in Beziehung gestanden. Während die Ueberreste mittel¬
alterlichen Lebens in Riga bereits im Schwinden sind, haben viele derselben
sich zu Reval in ungebrochener Schärfe erhalten. Die Stadt zerfällt in zwei
streng von einander geschiedene Hälften, die eigentliche Stadt und den Dom;
hier herrscht ein Schloßvogt und wird nach Landrecht gerichtet, dort führt der
Rath die Herrschaft und waltet lüvisches Stadtrecht; in der Stadt werden Han-
del und Gewerbe betrieben, liegen Wohnhäuser, Werkstätten und Speicher bunt
durch einander, auf dem Dom, der zugleich Sitz der Regierungsbehörden und
des Gouverneurs ist, verbringt der cstländische Adel die Wintermonate, seine
Wohnungen erheben noch heute den Anspruch, nicht Häuser, sondern „Burgsitze" zu
sein, und nur Handwerker, nicht auch Kaufleute sind berechtigt, in die Dombürger¬
schaft zu treten. Jedes dieser beiden Reiche hat seine besondern Vorstädte und
eifersüchtig wird darüber gewacht, daß die gegenseitigen Rechts- und Compe-
tenzgrenzen aufrecht erhalten und respektirt werden. Das aristokratische Ele¬
ment ist in der revalschen Stadt-Verfassung noch schroffer ausgebildet, als in
Riga; auch hier ruhen Administration und Justiz in den Händen eines aus 18
Mitgliedern bestehenden Raths und der Gilden, aber diese haben sich gegen die
Außenwelt mit einer fastmiltelalterlichen Strenge abgeschlossen. Um Mitglied der
großen Gilde zu werden, muß man dem Schwarzhäuptercorps angehören, drei
Jahre in Reval als „Kaufgesell" gedient haben und mit einer gildischen Wittwe
oder Tochter odermit „einer Person verheirathet sein, welche alle Ei-
genschasten besitzt, die zum Eintritt in diese Corporation ersor-
tertias sind; ein Dispens von der dreijährigen Dienstzeit wird nur solchen
Personen ertheilt, welche in die Gilde „eingeheiratet haben." Die Meldung zur
Aufnahme in die Corporation findet vorschriftsmäßig „vierzehn Tage vor Lä-
tare" und „im Laufe des ersten Jahres nach der Hochzeit" statt. „Wer mit
keiner Tochter oder Wittwe eines Genossen der großen Gilde verheirathet ist"
so schreibt § 73 der in das baltische Provinzialgesetzbuch aufgenommenen „groß-
gildischen schrägen" vor. „hat im Allgemeinen das Recht zum Eintritt« in
diese letztere nicht, kann aber doch mit Zustimmung der Gildegenvssen aufge¬
nommen werden, wenn er 1) mit der Wittwe oder Tochter einer Person ver¬
heirathet ist, welche alle Eigenschaften besitzt oder besessen hat, welche zum Ein¬
tritt in die Gilde erforderlich sind, und 2) wenn derselbe außer dem gewöhn¬
lichen Eintrittsgelde der G'ldckasse 100 Rubel S. M. nebst den für diese
Summe von der Heirath an fälligen Zinsen erlegt."
Trotz dieser alten Satzungen machen sich in Neval die Nähe Petersburgs und
russische Einflüsse ungleich stärker geltend, als in den südlicheren baltischen
Städten; die anmuthige maritime Lage der Stadt versammelt Tausende vor¬
nehmer Russen während der Sommermonate zur Bavesaison und die Zahl
russischer Kaufleute und Arbeiter ist im Zunehmen. Handel und Bevölkerung
scheinen aber seit Jahren im Rückgange begriffen, und alle Bemühungen des
Raths, der außerordentlich tüchtige und freisinnige Männer unter seinen Glie¬
dern zählt, haben bis jetzt die Erbauung einer Eisenbahn nach Petersburg nicht
herbeiführen können, obgleich dieselbe für Neval und den durch die Concurrenz
Petersburgs niedergedrückten revalschcn Handel seit lange eine Lebensfrage ist.
Rauhes Klima, ungünstige Bevölkerungsverhältnisse und unfruchtbarer Boden
machen Estland zu der ärmsten der drei Provinzen und die sinkende Bedeutung
Nepals ist seit Jahren ein Grund ernster Besorgniß für das gesammte Land.
Bei dem großen Eifer und der entschiedenen Strebsamkeit, welche die jüngere
Generation auszeichnen, ist Abhilfe indessen noch zu hoffen, wenn die Verhält¬
nisse der Gegenwart auch außerordentlich schwierige sind. Zur Zeit trügt die
Stadt noch ein entschieden mittelalterliches Gepräge, von Neubauten und mo¬
dernen Anlagen, wie sie in Riga beständig zunehmen, ist noch wenig zu sehen.
Hohe Giebelhäuser und Speicher ragen an winkeligen, unregelmäßig gebauten
Gassen auf, ein altes Rathhaus, zwei in Sckulen verwandelte Klöster, das
in mittelalterlichen Geschmack gebaute Schwarzhäuptcrhaus. sechs stolze Kirchen,
antike Gildenhäuser und Waagen, mit schwedischen und russischen Trophäen ge¬
schmückte Thore geben dem Ganzen Gravität, Würde und finstern Ernst; zu
dem auf dem höchsten Punkt des Doms belegenen, mit Thürmen gezierten
Schloß führen zwei steile Gassen empor, von denen nur die eine fahrbar ist,
in den Kirchen werden zahlreiche Reminiscenzen an die stolze Vergangenheit
dieses Orts gezeigt, der einst ein mächtiges und geachtetes Glied des Hansabundes
war und dessen Bürger noch heute nicht vergessen haben, daß die Herrschaft
des Adels an ihren Mauern stets eine unverrückbare Schranke gefunden hatte.
Nur zwölf Meilen östlich von Reval liegt Narwa, der äußerste Vorposten
deutschen Bürgerthums in dem unwirthbaren Eise des Nordens, nur zur Hälfte
noch dem baltisch-deutschen Culturgebict zugehörig. Im Jahre 1223 vom Kö¬
nig Waldemar von Dänemark begründet und sechs Jahre früher als Liv- und
Estland, im Jahre 1704 von Peter dem Großen erobert, gehört Narwa in
administrativer Beziehung zum Gouvernement Se. Petersburg, während seine
Gerichte dem revaler Oberlandgericht untergeordnet sind. Zwei Meilen vom See¬
strande entfernt ist die Stadt durch die Narowa mit ihrem Hafen Hungerburg
verbunden, aber Handel und Wohlstand sind hier in noch viel rascherem Rück¬
gange begriffen, als in Neval; die zwanzig Meilen weiter nach Osten liegende
Newaresidenz duldet die Concurrenz einer nur noch zur Hälfte deutschen Klein¬
stadt nicht länger. Während der westliche Theil Narwas noch das Bild einer
deutschen mittelalterlichen Stadt bildet, ragen im Osten derselben die Thürme
der alten russischen Burgveste Jwangorod drohend empor; Jwaugorod ist die
russische Vorstadt Narwas, und nur mühsam wehrt das deutsche Patricierge-
schlecht, das übrig geblieben ist, die alte Tradition seiner Vorfahren gegen den
mächtigen Andrang von Osten. Ihre aristokratische Verfassung mit dem sich selbst er¬
gänzenden Rath und den Gilden ist den russischen Einwanderern ein Gräuel und
eine Thorheit und findet in der Petersburger Gouvernementsregierung, der
Narwa untergeordnet ist, kaum einen Halt. Sechs Jahre hat es gedauert, bis der
Rath sein ihm neuerdings von der Demokratie der Vorstädte bestrittenes Recht zur
Wahl des Bürgermeisters geltend machen konnte, obgleich ihm der unzweideutige
Wortlaut des Gesetzes zur Seite stand, — nur mit äußerster Anstrengung aller
Kräfte vermag er sein Aussichtsrecht über die Schulen und den officiellen Ge¬
brauch der deutschen Sprache aufrecht zu erhalten; die zweimal wöchentlich
erscheinenden „Narwaschen Stadtblätter" sind die einzige Errungenschaft, deren
das deutsche Element sich seit Jahren zu rühmen hat. Es wird vielleicht nur
noch weniger Jahrzehnte bedürfen, und dieses selbst ist zur Sage geworden und
von der deutschen Stadt Narwa blos noch die russische Beste Jwangorod
übrig geblieben! —
Unser heutiger Bericht leidet gleichmäßig unter dem Einflüsse der verflosse¬
nen Wochen wie des herannahenden Winters. Während auch diesesmal die
Zeni'rochüre wesentlich in den Hintergrund tritt, steigt die Belletristik in so breiter
Phalanx auf, daß einem fast bange werden könnte. Zwischen beiden aber
schreiten die ernsteren Erzeugnisse der Presse in dem gewohnten Umfange ein¬
her, der in den Wochen des Hundssternes unbedeutend abnimmt und in
den Tagen der heiligen Weihnacht kaum anschwillt. Und darin beruht der
Segen dieser langsamer veraltenden Literatur, wenigstens für den Verleger.
Wer mit ängstlicher Eile bedacht sein muß, daß er seine Brochüre und Belletri¬
stik zur günstigsten Zeit auf den Markt werfe, weiß, wie leicht er Maculatur
druckt. Heute bewegt eine Frage alle Gemüther; einige Bogen, die sich hierauf
beziehen, fänden willige Käufer. Rasch ist das Heft geschrieben, gedruckt, ver¬
sandt. Der Sortimenter, der meist optimistisch zu Werke geht, verlangt zu
den erhaltenen Exemplaren eine größere Anzahl nach; aber die Auflage ist ver¬
griffen, aufs neue fliegt das Rad der Maschine, eine zweite Auflage wird
gedruckt. Schneller noch aber rollt das Rad der Zeit, und die Frage ist
schon seit acht Tagen gelöst oder veraltet, wenn die Hefte bei den Sortimentern
ankommen. Und übers Jahr kehren in verdrießender Anzahl mit dem Storche
die „Krebse" zum Verleger zurück, damit er aufs neue bestätigt finde, was er
längst wußte. Aehnlich aber ist es auf dem Gebiete der Belletristik.
Noch vor einem halben Jahrhundert und später war das anders. Lang¬
sam war der geistige Verkehr. Der Frachtwagen überbrachte träge rollend die
Masse ter Bücher; Dringlicheres sandte man mit «fahrender Post". „Reitend"
oder durch den Expressen ward nur befördert, wa.' gar keinen Aufschub litt.
Heute aber würde auch ein Phlegmatiker den Stoßseufzer jenes leipziger Ver¬
legers gerechtfertigt finden, der um die Zeit des Wartvurgfestes jammert, daß er
eine Antwort von Jena nie unter fünf Tagen haben könne, der sein aus jener
Stadt stammendes Dienstmädchen gelegentlich eines Besuches bei ihren Eltern
zu seinem Autor schickt, damit dieser von dem glücklichen Zufall sicherer und
rascher Vermittelung für seine Manuskripte Gebrauch mache. Der elektrische
Funke der Gegenwart arbeitet auch in unserm Blute und der Buchhändler weiß
davon zu erzählen. Mit Eilzug kommt der Bücherballen von Leipzig an;
rasch wird er geöffnet, man ordnet die Journale, das Bestellte, die neuerschie¬
nenen Bücher, und wenige Stunden daraus ist der Ballen in einzelnen Packeten
und Zeitungsnummern hinausgejagt, als hinge das Glück der Welt davon ab,
daß man die Novelle eines Modejournalö, eines Unterhaltungsblattes heute
anstatt morgen zu Ende lese. Ja selbst die Vermittelung der Post genügt oft
nicht mehr. Wenn der gothaisch! genealogische Kalender oder sonst ein Auf¬
sehen erregendes Buch erscheint, wandern die Packete sogar als Passagicrgut nach
den verschiedenen Bahnhöfen Leipzigs, und selbst aus einer weitentfernten Haupt-
stadt kamen jüngst einem bestimmten Buche zu lieb die Sendboten großer
Firmen, um mit dem nächsten Courierzuge zu den heimatlichen Penaten
zu entführen, was dort sehnsüchtig erwartet wurde. Nach vier Wochen aber
ist das Buch schon fast vergessen und die Ueberreste jenes kostbaren Transports
haben dann Zeit, in beschaulicher Nuhe über die Wandelbarkeit irdischen Glucks
nachzudenken.
Aus dem Gebiete der Zeitbrochüre ist es still gewesen, stiller fast noch als
sonst, da uns keine auswärtige Frage zu schaffen macht. Desto mehr regt und
bildet es sich im Innern Deutschlands und einzelne Hefte sind zu nennen, die
hier auftauchende Fragen zur Sprache bringen. Am meisten Aufsehen machte
des Wiesbadener Braun treffliche Schrift „Vier Briefe eines Süddeutschen an
den Verfasser der 4 Fragen eines Ostpreußen". Sie liegt bereits im zweiten
Abdruck vor und ist den Lesern dieser Blätter bis auf die ausführliche Borrede
wohlbekannt; dann mögen hier noch genannt sein: „Der Preußenhaß, beleuchtet
von einem Süddeutschen", „Bon Königgräß bis zur Parlamentswahl im August
1867. Betrachtungen eines königsberger NationalUberalcn". Und dann theil¬
weise von einem andern Standpunkte: „Zwei Fragen der auswärtigen Politik
Preußens und Deutschlands, beleuchtet von einem Altmärker", „Die gegenwär-
wärtige Lage Deutschlands", „Der Hannoveriche Particularismus, eine oratio
pro clomo", und das ebenfalls südlich vom Main erschienenen Schriftchen „die
Einführung des preußischen Heerwesens in Deutschland." Bon den heitern Ufern
des Nefenbaches kam Moritz Mohls „Mahnruf zur Bewahrung Süddeutsch-
lands vor den äußersten Gefahren, eine Denkschrift für die süddeutschen Volks¬
vertreter". Fast alle Brochüren haben die Schalen der Geburt noch an dem
Haupt hängen und verrathen schon durch den Titel, welches Geistes Kinder
sie sind. In diesem Zusammenhang nennen wir, wenn auch nicht völlig hierher
gehörig, Th. Bernhardts drei 'Vortrage „Preußens moderne Entwickelung" und
das 6. Heft von B. A. Hubers socialen Fragen über „Handwerkerbund und
Handwerkernoth", ein Schnftchen, das die Antwort hervorrief „Handwerkerbund
und Handwerkertag". — Seit der mexikanischen Katastrophe hat die Zeitgeschichte
einigen Zuwachs erhalten. Außer Sterns zeitgeschichtlichem Versuch „Die Kaiser-
tragöbie in Mexiko", von dem die erste Lieferung vorliegt, ist vorzüglich zu
nennen K^ratrhS gleichzeitig in deutscher und französischer Sprache erschienenes
und sofort in Frankreich verbotenes Wert „Kaiser Maximilians Erhebung und
Fall". Diese in geschichtlichem Zusammenhange dargestellten Originalcorre-
spondenzen und Documente waren schon in der Revue conwmxvrams ver¬
öffentlicht bis auf einige, die mit Rücksicht auf die französische Censur erst mit
dem Druck der beiden Ausgaben in Deutschland zur Aufnahme gelangen konn¬
ten. Der ehemalige Ordonnanzossizier des Marschalls Bazaine ist ohne Flage
einer der wenigen competenten Beurtheiler jener Borgänge.
Wir wenden uns zu Deutschland. Immer noch ist der Krieg das meist fre-
quentirte Gebiet. Zunächst seien kurz genannt „Im Felde", Erinnerungen eines
einjährigen Freiwilligen des Kaiser-Franz-Garderegiments", dann „die Stadt
Zistersdorf in Oestreich u. d. E. und die feindliche preußische Invasion im
Jahr 1866" von starck. Hieran reihen sich die Schlußabtheilungen der schon
früher genannten hübschen illustrirten Werke „Der böhmische Krieg" von G. Hiltl
und „Von der Eibe bis zur Tauber. Der Feldzug der preußischen Main-Ar-
mee im Sommer 1866". Für die preußische Armee zunächst und nach offi-
ciellen Berichten versaßt, hat die Schrift „Der Feldzug von 1866 in Deutsch¬
land", deren erste Lieferung vorliegt (meh. die diplomatischen Verhandlungen
und Rüstungen, Eoncentration und Ausstellung der Armeen und die Operatio¬
nen gegen Hannover und Kurhessen — Gefecht von Langensalza) den Anspruch
auf die größte Beachtung als Quellenwerk für den Soldaten und Geschichts¬
forscher.
Hinüber zur Geschichte mag uns die dritte Auflage von H. v. Treitschkes
„historischen und politischen Aussähen" leiten, jenem trefflichen Buche, das bis
auf wenige thatsächliche Berichtigungen den früheren Text wiedergibt. Gern
nehmen wir Act davon, baß der Verfasser in der Vorrede einen zweiten Band
in Aussicht stellr. Möchten wir ihn bald als erschienen anzeigen können.
Das Gebiet der Geschichte ist rasch durchgemustert. Außer dem Quellen-
wert von Wilmans „die Katserurtunden der Provinz Westphalen 777—1313",
von dem der erste Band („die Urkunden des Karolingischen Zeitalters 777 bis 900")
vorliegt, beschäftigt sich, was weiter zu nennen ist, mil der Geschichte der neueren
Zeit. Hier begegnet uns zuerst der stattliche 4. Band der unter Anregung
och Kronprinzen von Preußen rüstig vorwärtsschreitenden Publication von „Ur¬
kunden und Acienstücke zur Geschichte des großen Kurfürsten Fr. Will), von
Brandenburg". Dieser zweite Theil der „Politischen Verhandlungen", her¬
ausgegeben von Dr. B. Erdmannsdörffer, enthält vornehmlich Aufschlüsse über
die Theilnahme Brandenburgs an den westphälischen Friedensverträgen.
Von darstellenden Werten muß zuerst A. Schäfers „Geschichte des sieben¬
jährigen Krieges" erwähnt sein, von welcher der erschienene erste Band den
Ursprung und die ersten Zeiten bis zur Schlacht bei Leuthen behandelt. Die
Hauptunterlage zu seinem Werte, das mehr als seine Vorgänger die Politik
jener Epoche aus Grund archivalischer Studien beachtet, fand der Versasser in
der Eorrefpondenz Friedrichs II. und seiner Minister mil den preußischen Ge¬
sandten zu Parks und London, Knyphausen und Michell; der erstere ist eine bis
jetzt in ihrer Bedeutung kaum gewürdigte Persönlichkeit. Daran reiht sich ein
Buch W. Nüstows „die ersten Feldzüge Napoleon Bonapartes in Italien und
Deutschland 1796 und 1797", eine Arbeit, die das jener früheren kriegerischen
Thätigkeit Napoleons gespendete Lob auf das rechte Maß zurückzuführen be¬
stimmt ist. Dann sind noch des Grasen Münster „Politische Skizzen über die
Lage Europas vom Wiener Congreß bis zur Gegenwart (1813—1867)" zu
nennen, denen sich vertrauliche Originaldepeschen des Bevollmächtigten am wie«
ner Congreß, Grafen E- F. H. Münster, als interessante Beiträge zur Ge¬
schichte jener Periode anreihen. — Hier werden am besten auch H. Gölis
„Kulturbilder aus Hellas und Rom", deren 3. Band vorliegt, und A. Danz'
Vorträge „Aus Rom und Byzanz" erwähnt, ebenso wie die anonym erschiene¬
nen „Geschichtlichen und naturgeschichtlichen Lebensbilder".
Auf dem Gebiete der Memoiren-Literatur. der Monographien und Bio¬
graphien ist manch interessantes Buch zu nennen. In frühere Zeiten steigen
die monographischen Skizzen „Aquileja's Patriarchengräber" hinab, während
I. Hermens vom „Orden zum heiligen Grabe" handelt; Gregorovius gab den
sechsten starken Band seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" und
1. G. Kohl lieferte ein Büchlein über „die Pilgerfahrt des Landgrafen Wilhelm
des Tapferen von Thüringen zum beiligen Lande im Jahr 1461", I. G. Leh-
mann schrieb eine „kurze urkundliche Geschichte des gräflich zweybrückischen
Hauses", Dochnahl eine „Chronik von Neustadt a. H.". während G. Schmidt
den Reformator Thüringens, Jusius Menius, nach archivalischen und anderen
Quellen schildert. — Auch dieses mal ist wieder der Name Gentz zu nennen.
Zunächst sind es seine Briefe an Pilat. die Mendelssohn-Bartholdy als
Beitrag zur Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert herauszugeben begann.
Der erste Band liegt vor. Pilat, der vor 2 Jahren als k. k. Regierungsrath
in Wien starb, damals Redacteur des Oestreichischen Beobachters und Gentz'
Vertrauter, war die Adresse, welcher der geniale Staatsmann als Freund aus-
Plauderte, was der Diplomat verschweigen mußte. Auch der Chemie hat in
diesem Falle die Geschichte Dank zu sagen. Denn mit ihrer Hilfe verschwan-
den die vom früheren Besitzer unbefugter Weise vorgenommenen Correcturen,
um die ursprüngliche Schrift hervortreten zu lassen. Das andere an diesen
Namen sich knüpfende Werk heißt „Aus dem Nachlasse von Fr. Gentz", dessen
2. Band. Denkschriften, vor kurzem erschien. — Zur Memoirenliteratur zählen
noch Hoffmann von Fallerslebens „Mein Leben. Aufzeichnungen und Er-
innerungen". deren 3 bis jetzt vollendete Bände bis zum Jahr 1842 reichen.
Am besten werden hier die 3 letzten Bände (5—7, Band) von Kaiser Maxi¬
milians „Aus meinem Leben" erwähnt, die vor kurzem zur Ausgabe gelangten,
während der 1—4. Band in zweiter Auflage vorliegen. Auch jene enthalten
Reiseskizzen, so z, B.: Ueber die Linie, aus Bahia u. a. Daneben aber auch
Aphorismen und Gedichte. Eigenthümlich muthet es an. in ihnen zu blättern.
Es ist ein trauriges Verhängniß. klaren Geistes zu sein und doch nicht dem
nachzuleben, was man als eigene Ueberzeugung niederschrieb. So lesen wir:
«Eine Regierung, die nicht die Stimme der Regierten hören will und kann,
ist faul und gehet ihrem raschen Untergang entgegen." Und welch seltsame
Ironie des Schicksals gegenüber den Worten:
„Klein ist, nur zu wollen.
Was man eben kann;
Was er will, zu können,
Macht den großen Mann."
Wir wenden uns zur Kunstgeschichte. Riegel gab in dem ersten Heft seiner
„deutschen Kunststudien" eine Reihe kunstgeschichtlicher Aufsähe, welche, seit mehre¬
ren Jahren veröffentlicht, jetzt nochmals eine Ueberarbeitung erfuhren. H. v.
Blomberg hat „Studien zur Kunstgeschichte und Aesthetik begonnen, deren erstes
Heft den interessanten Stoff behandelt: „Der Teufel und seine Gesellen in der
bildenden Kunst." Endlich müssen wir auch an dieser Stelle der „Bilder aus
der neueren Kunstgeschichte" gedenken, mit denen Anton Springer nicht blos
Forschern und Kunstfreunden, fordernder gebildeten Nation überhaupt ein köst¬
liches Kleinod gewidmet hat.
Das zur Literaturgeschichte Gehörige ist rasch durchflogen. Die beiden zu
nennenden Schriften knüpfen an die Goethe-Schillerperiode an. Einen werth-
vollen Beitrag zur Goetheliteratur liefert H. Wentzels verdienstliches Schriftchen
über „Goeihe in Schlesien 1790". Damals stand dort der fürstliche Freund bei
seiner Brigade, des mit Oestreich drohenden Kampfes gewärtig, und gern nahm
Goethe, der eben aus Venedig zurückkehrte und daheim unter manchem Un¬
erquicklichen litt, den Vorschlag an, ins Feldlager zu Besuch zu kommen. Das
zweite Buch ist N. Springers „Weimars classische Stätten. Ein Beitrag zum
Studium Goethes und unserer klassischen Literaturperiode", ein hübsches Buch,
das in anmuthender Form viel Interessantes bringt.
Hier mag auch gleich einer Schrift gedacht sein, die jetzt in vierter Auf¬
lage hervortritt: Büchmanns „Geflügelte Worte". Ihre treffliche Wirkung beweist
der rasche Absatz und die stete Theilnahme der Gebildeten, die mit Einsendun¬
gen von Beiträgen nicht geizten. Manches schon vorhandene Geflügelte Wort
schwirrt seit Jahren durch die Luft und harrt des glücklichen Jägers für folgende
Auflagen; manches entsteht neu, um bald wieder zu verschwinden.
Ehe wir zur Belletristik übergehen, seien noch kurz vier Schriften erwähnt
aus dem Gebiete der Geographie und Völkerkunde. Th. von Heuglin brachte ein
umfangreiches illustrirtes Werk über seine „Reise nach Abessinien, den Gala-
Ländern, Ost-Sudan und Chartum in den Jahren 1861 und 1862". Dann
nennen wir „Die Völker an der unteren Donau und die orientalische Frage"
von G. Rasch. Reiseskizzen, die eine Schilderung des gegenwärtigen cultur¬
historischen Lebens und der gegenwärtigen politischen Stellung der Ungarn,
Serben, Rumänen, türkischen Südslaven. siebenbürgischen Sachsen und der Be¬
wohner des Banats bezwecken. Daran reihen sich noch H. Höltys Bilder aus
den Alpen, Oberitalien und Neapel unter dem Titel „Alpenzauber und italische
Gebilde" und H. Ross „Neue Studien aus den Alpen". Warum aber er-
scheint das Buch in Lieferungen, eine Art der Ausgabe, die den Käufer min¬
destens nicht lockt und leicht zu Vielschreiberei führt?
Wir kommen zur Belletristik, und hier mag Friedrich Rückert auf würdige
Weise mit seinen „Gesammelten poetischen Werken" den Reigen beginnen. Die
erste Lieferung liegt vor. Dem Prospect zufolge werden die ersten 8 Bände ly¬
rische, der 9. und 10. Band dramatische, und der 11. und 12. Band epische
Gedichte enthalten. — Aus der großen Fülle des Neuen, aber mag Einzelnes
nur erwähnt sein als Zeichen der Gattung; erst aber vergönne man uns.
episodisch von Einigem zu reden, dessen Lectüre wir dem Leser ersparen möch¬
ten. Es ist der Roman, so weit ihn der letzte Krieg hervorgerufen hat.
Nicht meinen wir den Roman, der vorübergehend Bezug nimmt auf diese
Vorgänge, sondern den. dessen Aufgabe es ist. aus jener Episode der deutschen
Geschichte eine breite Unterlage von Leihbibliotheksereignissen für eine lose ver-
knüpfte Handlung zu finden. Durch diese Form aber sowie durch seine Ten¬
denz bleibt er stets beachtenswerth für den Literarhistoriker. Fast alle diese
Romane erscheinen in Lieferungen und man darf dreist behaupten, daß dies
bei uns ein Symtom inneren llnwerths ist. Denn dann plagt nicht die Sorge,
w knappen Rahmen ein künstlerisch vollendetes Ganze zu bringen, im Gegen-
theil: wenn der Verfasser in der Hälfte seines Machwerks merkt, daß es.
Dank einem glücklichen Titel und den Neclamen seines Verlegers, „geht", dann
dreht flugs seine Klio einen neuen Zopf Werg aus den leerwerdenden Rocken
und spinnt lustig haarsträubende Intriguen, von denen man bisher keine Ah-
nung hatte. Einige schalten dazwischen auf höchst rohe Weise Schlachten¬
bilder, Proclamationen. ganze Scenen aus jenem Kriege ein, immer jedoch
Vom patriotischsten Standpunkt. Wenn der Preuße die Oestreicher schmäht, die
Fürstin Metternich „Pseudo-Therese" nennt und die Wiege seiner Gauner hinter
dem schwarzgelben Schlagbaum stehen läßt, so ist der Wiener Literat eifrig be-
müht, dem Kollegen von der Spree an Unglimps der Erfindung nicht nachzu¬
stehen. Aber das haben Beide gemein, daß sie unter der Tarnkappe überall
hinbringen; was vor und in dem Krieg von den Fürsten und Ministern
gesprochen ward, wie jener östreichische Feldzugsplan verloren ging, erfahren
Wir am besten bei ihnen. Sie malen beide in möglichst grellen Farben. Wah¬
rend dessen nimmt die Geschichte ihren Laus und der Schriftsteller trabt
hinterher. Grabowsky. der seiner Zeit mit ..Unter Preußens Fahnen" den Anfang
"achte, schreibt jetzt „Nach dem Kriege" in Lieferungen. Doch mag hier noch
"ner Erzählung gedacht sein, die nur kurz auf den Krieg Bezug nimmt. Tie
findet sich in den Novellen einer Oestreicherin. der Baronin Grotthuß. ^>e
haarsträubende Schilderung der preußischen Invasion wird mit der Sentenz be.
^unen: „Nie hätte man geqlanbt. daß im 19, Jahrhundert ein Volk sich so
schmachvoll benehmen würde.'w>e die auf Bildung Anspruch machenden Preußen
gethan :c." Das Machwerk mag dem Historiker Beweis sein, das? auch die
Novelle sich zum Studium der Geschichtsforscher empfiehlt, um die raffinirte Bos¬
heit der blonden Barbaren von der Spree ans Tageslicht zu ziehen,
Riehl, der Culturhistorikcr. mag mit seinem liebenswürdigen „Neuen No¬
vellenbuch" die Reihe der novellistischen Neuheiten eröffne». An ihn schließe
sich Otto Nvquette mit seinen Novellen „Luginsland" und Hoefer „Die gute
alte Zeit. Erzählungen und Geschichten" (3 Bde.) Ferner mögen genannt sein:
„Der Sclavenhändler" von L. Heinrich (2 Bde.), „Geld und Frauen" von
G. Höcker (3 Bde.) „Im Halbdunkel" von Dornau (2 Bde.). „Gleich und
Gleich" von M. Mehr. „Das Fräulein von Augsburg" von A.Stern, „Wie
Gott will", „Freier Boden" von K. Frenzel (3 Bde.), „Zweimal vermählt" von
G. Raimund (3 Bde.) „Eine heimliche Ehe" von Kessel (2 Bde.) „der Meer¬
könig" von Möllhausen (6 Bde) „Neue Novellen" von E.' Polko. „Chateau
Lafitt" von Wendt (2 Bde.). „Haideblume" von E. von Rothenfels (3 Bde.)
„Anna" von A. Lewald, „Nanna" von A. Brook (2 Bde.), „Die Amazone"
von F. Dingelstedt (2 Bde.) „Korporal Hilscher, ein Dichterleben" von Sauer,
„P.iscal Paoli" von Schmidt-Weihenfels (2 Bde.) „Erloschene Sterne" von
F. Sonnenburg (2 Bde.). „Hedwig" von A. Becker (2 Bde.). „Die Pfarrers-
kinder" von L. Diefenbach, „Aus Hannovers Gegenwart", eine politische No¬
velle von particularistischem Standpunkte. „Ministersieber und Schwiegersöhne"
(2 Bde.) und „Nicht nach der Schablone" Novellen, beide Werke von Merx.
„Die Schatzgräber" von Bibra (3 Bde.) „Der Erbe" von F. Gerstäcker (3 Bde.),
„spätes Erkennen" von H. Hirschfeld. .Schach dem König" von H. Klein-
steuber (2 Bde.). „Bilder aus der Gesellschaft" von Nessel. „Uhlenspegel II."
von C. Schuttes und „Swinegels Lebensloop un Enne in'n Staate Muffrika",
eine plattdeutsche illustrirte Geschichte von W. Schröder, dem Verfasser des
köstlichen Märchens „Dat Wettloopen twischen dem Hasen un dem Swinegel".
Auch die höchst ergötzlichen „Gallettiana" mögen nicht vergessen sein.
Beim Drama können wir kürzer verweilen und nennen nur „Die letzten
Tage von Karthago" von S. Fehler, „Appius Claudius", Trauerspiel in S Auf¬
zügen, „Der Hagestolz" von Uschner. „Claudia Procula" von W. Molitor,
.Lustspiele" von F. West und „Dramen" von A. May (2 Bde.). Die meisten
von Mays Dramen gelangten bereits zur Aufführung, am bekanntesten ist
„die Amnestie", ein vom Münchener Actientheater gekröntes Stück. Dann
mag noch rühmend W. von Baudissins Uebersetzung von Molieres Lust¬
spielen erwähnt sein, von welcher der vierte Band in trefflicher Ausführung
vorliegt.
Wir eilen zum Ende, zu Epik und Lyrik. „Minneleben. Eine romantische
Dichtung" nennt sich ein Büchlein von F. W. Helle, während Gumppenberg
eine Geschichte in oberbayrischer Mundart, „Da bsunderne Ring" gab und W.
Jordan das erste Lied seiner „Nibelungen" veröffentlichte. Vom xoötg, laureatus
Tennyson erschien in Uebersetzung: „Enoch Arten" und „Bönigs-Idyllen".
Den Schluß sollen außer M. Horns „Für das Haus", einer Sammlung
von Dichtungen für festliche Gelegenheiten, die Namen der neuesten Lyriker
machen, da der Titel der Bücher uns gleichgültig sein kann. Es sind Evers,
Foglar. West, Castendyck. Bcnedix. Harder, Osten-Sacken, Paulus, Streben.
Reuter, Zimmermann, Taubert, Barndt und Ziel. Eine hübsche Anzahl und
gleichzeitig ein Beweis, daß auch heute noch unsere Lyriker gedruckt werden.
Und wollten sie doch seufzen über den Stumpfsinn der Gegenwart, so wünsch¬
ten wir ihnen, daß sie in alten Buchhändercorrespondenzen blättern könnten.
Sie würden finden > daß auch schon damals viel Lyrik zum Verlag angeboten
und zurückgewiesen ward und daß ein Verleger einem hoffnungsvollen Poeten
seine Ergüsse mit den Worten zmücksandte: „Fast auf allen Gedichtsammlungen
ruht im deutschen Buchhandel eine Art von Fluch".
Die Ereignisse auf der apenninischen Halbinsel, welche ganz Europa in
jüngster Zeit in alhemloscr Spannung hielten, haben durch Garibaldis Nieder«
läge einen vorläufigen Abschluß gefunden, aber niemand wird sich darüber
täuschen, daß dies nur das Ende einer Phase ist, nach welcher die Frage,
welche der ganzen Verwicklung zu Grunde liegt, sich in vielleicht drohenderer
Gestalt zeigt als zuvor. Suchen wir uns durch einen Ruck- und Vorblick zu
orientiren.
Die Niederwerfung der römischen Republik und die Wiedereinsetzung des
Papstes war ein Wahlmanvver Louis Napoleons, welcher sich dadurch die
Unterstützung des Clerus für den Staatsstreich sicherte; solange die Oestreicher
in den Legationen waren, konnte es als eine Frage des politischen Gleich-
geroichis erscheinen, die französische Besatzung in Rom z'u erhalten, aber schon
auf dem Pariser Kongreß constatirte der Graf Walewsti freiwillig, daß diese
Besatzung eine Situation --rnonrmlo ergebe, und Frankreich nicht nur bereit sei,
seine Truppen zurückzuziehen, sondern den Augenblick lebhaft herbei wünsche,
wo es dies thun könne, ohne die innere Sicherheit des Landes und die Autorität
der päpstlichen Regierung zu gefährde» (Protokoll vom 8. April 18S6). ES
ist kaum zweifelhaft, daß. falls es vor 1859 zu dieser Räumung gekommen
wäre, in Folge des Krieges das päpstliche Regiment in Rom so gut gefallen
wäre, wie in den Legationen und Marken; aber einmal dort noch anwesend,
konnte die französische Garnison den Papst nicht der Revolution überlassen.
Später nahm Pio Nouv in seiner heftigen Gereiztheit gegen Napoleon die
Initiative zu Verhandlungen über den Abzug der Besatzung, aber dieselben
zerschlugen sich und andrerseits setzte der Kaiser den Forderungen des Duran-
doschen Ministeriums, welches laut Rom als nothwendige Hauptstadt Italiens
verlangte, eine bestimmte Weigerung entgegen.
Am 12. Juli 186l schrieb er dem König von Italien: „Ich werde meine
Truppen in Rom lasse», solange Ew. Majestät sich nicht mit dem Papst aus¬
gesöhnt hat oder der heilige Vater die Staaten, welche ihm noch bleiben, durch
die Invasion einer regulären oder irregulären M.reht bedroht sieht", und fast
e>n Jahr später erklärte der Italien so günstige Minister Thouvenel in einer
Depesche an den Marquis de Lavalette. Botschafter in Rom: Niemals hat die
kaiserliche Negierung ein Wort ausgesprochen, welches das Cabinet von Turin
hätte hoffen lassen, daß die Hauptstadt des Katholicismus gleichzeitig mit Zu-
stimmung Frankreichs die Hauptstadt des großen Königreichs werden könne,
das sich jenseits der Alpen gebildet hat. Alle unsre Handlungen, alle unsre
Erklärungen, stimmen im Gegentheil in der Kundgebung unsres festen und be¬
harrlichen Willens überein, den Papst im Besitz des Theiles seiner Staaten
zu erhalten, welche ihm die Gegenwart unsrer Fahnen bewahrt hat". Jedes
Arrangement, sagte der Minister, müsse auf der Basis des Status quo ruhen,
dn Papst könne seine Rechte über seine früheren Provinzen reserviren, aber
müsse darauf verzichten, in denselben noch zu regieren. Italien andrerseits müsse
sein Begehren nach Rom aufgeben und den größten Theil der päpstlichen
Schuld übernehmen. — Die Curie aber beharrte auf ihrem non xossmrms
und der faktische Besitzstand dauerte fort, bis die Welt im September 1864
durch den Abschluß einer Convention zwischen Frankreich und Italien über-
r.ischt ward, welche einen bedeutenden Schritt zur Lösung der römischen Frage
zu thun bestimmt war. Italien verpflichtete sich dadurch, das gegenwärtige
päpstliche Gebiet nicht anzugreifen und jeden Angriff von außen auf dasselbe
zu hindern, es verzichtete ferner im Voraus auf jeden Einwand gegen die Bil¬
dung einer päpstlichen Armee, sofern dieselbe nicht zum Angriffsmittel gegen die
italienische Negierung werden könne, es erklärte sich bereit, einen Verhältniß-
mäßigen Theil der päpstlichen Schuld zu übernehmen und versprach in einem
gleichzeitig unterzeichneten Protokoll die Verlegung seiner Hauptstadt; dagegen
machte Frankreich sich verbindlich, seine Truppen binnen zwei Jahren aus Rom
zurückzuziehen. Die Lücken dieser Stipulationen sprangen in die Augen, Italien
hatte sich nur verbindlich gemacht, das päpstliche Gebiet gegen von Außen ?om-
wende Angriffe zu vertheidigen, die Eventualität einer Erhebung des römischen
Volkes selbst, war nicht vorgesehen. Als die Convention zu einem Minister-
Wechsel in Turin Anlaß gegeben und der General Lamarmora, vom König zur
Bildung eines neuen Cabinets berufen, nach Paris eilte, um den Kaiser auf
diese Lücken aufmerksam zu machen und ita zu erklären, daß es Italien in
diesem Falle unmöglich sein würde, die Römer zurückzuweisen, antwortete Na¬
poleon nur mit feinem Lächeln: „Warum wollen Sie mir meine Illusionen
nehmen?" Larmarmora verstand und acceptirte, man blieb in Florenz überzeugt
daß. falls die Römer sich mit Italien vereinigen wollten, Frankreich nicht inter»
veniren würde. Es mag sein, daß Napoleon dieser Eventualität unter Beru¬
fung auf das Nichtinterventionsprincip passiv zugesehen hätte, aber sie trat
nicht ein, die Convention ward in allen Punkten ausgeführt, die Residenz nach
Florenz verlegt, die Franzosen zogen im Dezember ab, der Papst blieb
allein mit seinen Zuavcn und der Legion von Antibes, aber die Römer rühr¬
ten sich nickt und es war lediglich von Außen, daß eine neue Krisis in diesem
Herbste heraufbeschworen ward. Garibaldi, von dem traurigen Genfer Friedens-
congreß zurückkehrend, erhob die Fahne des Aufstandes, Natazzi, der ihn nicht
liebt, dagegen bisher durchaus der Mann der französischen Allianz war und
grade seine Fäden in Paris angeknüpft hatte, um über eine Revision der Sep¬
temberconvention zu unterhandeln, ließ ihn festnehmen. Aber einerseits brachte
dies eine große Agitation hervor, welche seine Popularität und ministerielle
Existenz bedrohte, andererseits erhielt er von seiner unruhigen und intriganten
Frau, die grade in Paris das Terrain sortirte, die Versicherung, der Kaiser
werbe sich einem Aufstand gegen Rom nicht widersetzen, sondern protestirend
gewähren lassen. Aber Madame Ratazzi und ihre Gönner waren falsch be¬
richtet, der Kaiser wußte sehr wohl, daß der Sturz des Papstes gegen ihn einen
gefährlichen Sturm in Frankreich heraufbeschwören würde, er ließ also in Flo¬
renz wissen, daß, falls die italienische Regierung nicht im Stande sei, die Scp-
temberconvention aufrecht zu erhalten, er sich genöthigt sehen würde, zu inter-
veniren. Natazzi antwortete, daß in diesem Falle Italien vor Frankreich in
Rom sein werde. Hätte die italienische Regierung diese Drohung wahr ge¬
macht, so wäre möglicherweise im entscheidenden Augenblick Napoleon zurückge¬
treten, da der Konflikt mit Italien höchst wahrscheinlich auch den mit Preußen
hätte herbeiführen müssen, indeß diese Frage wurde nicht praktisch. Viktor
Emanuel weigerte sich, seinem Minister zu folgen und beauftragte Cialdini mit
der Bildung eines neuen Ministeriums. Während derselbe sich aber vergeblich
damit abmühte, blieb Ratazzi faktisch noch Minister und benutzte dies, um sich
zu rächen. Er ließ den inzwischen von Caprera entsprungenen Garibaldi in Flo¬
renz unbehelligt eintreffen, während zweier Tage seine Vorbereitungen treffen
und schließlich per Extrazug nach dem römischen Gebiete abfahren; die Folge
war. daß die französische Expedition nach Civita Vecchia abging. Inzwischen
hatte der König, nachdem Cialdini mit der Bildung eines Ministeriums geschei¬
tert war. sich an General Menabrea gewandt, und dieser erließ eine Proklama¬
tion, welche den ernsten Willen aussprach, sich an die internationalen Verbind¬
lichkeiten zu halten, gleichzeitig aber rückte die italienische Armee ihrerseits ins
päpstliche Gebiet ein. um mir Frankreich gleichen Schritt zu halten. Maiquis
de Moustier protestirte hiergegen in einer herben Depesche, und nachdem die
Beschwichtigungsversuche des nach Paris entsandten Lamarmora vergeblich ge¬
wesen waren, vielmehr im Princip ein Ultimatum an Italien beschlossen war,
unterwarf sich Menabrea und zog seine Truppen zurück, nachdem sie den trau¬
rigen Dienst gethan, die von den päpstlichen und französischen Truppen ge¬
schlagenen Garibaldianer zu entwaffnen.
Suchen wir nun die Summe aus diesen Ereignissen zu ziehen, so finden
wir zunächst den vollständigen Fiasko der italienischen Aktionspartei; daß die
Garibaldianer. wenn man sie hätte gewähren lassen, schließlich durch ihre Ueber¬
zahl die päpstlichen Truppen überwältigt haben würden, ist zweifellos, ebenso
andrerseits, daß sie in ungleichem Kampfe gegen die letztern und die Franzosen
mit großer Tapferkeit gefochten haben. Aber das, worauf es ankommt, ist, daß
nicht ein Ort des päpstlichen Gebiets und am wenigsten Rom sich zu ihren
Gunsten erhoben hat; einige Städtchen haben allerdings, als die reguläre ita¬
lienische Armee einrückte, Plebiscite für den Anschluß an das Königreich er¬
lassen, aber niemand, und vor allem kein Römer, hat sich für die Freischaaren
gerührt. Hierin liegt für die römische Frage eine große Lehre, die Einwohner
der ewigen Stadt sind zunächst ihrer großen Mehrzahl nach nicht nur eine
durch langen polnischen wie geistlichen Despotismus entnervte Race, auf deren
Energie man nicht aus der Rührigkeit des Rat>onalcomit6s schließen darf, son¬
dern sie fürchten nichts mehr, als den Papst zu verlieren, weil dadurch Rom
aufhören würde, Rom zu sein. Wer dasselbe nur einigermaßen kennt, der weiß,
welch ein Verlust es für Rom wäre. Hauptstadt Italiens zu werden, wenn es damit
aufhören sollte, Hauptstadt des Katholicismus zu fein und welch dürftiger Ersatz
die Verlegung der Ministerien und des Parlaments für den Gewinn wäre,
den die Römer aus dem Regiment des Papa-Re ziehen. Es soll damit keines¬
wegs behauptet werden, daß sie mit letzterem zufrieden sind, im Gegentheil, sie
fühlen die Mißbräuche desselben sehr klar, sie veiwünschen meist die fremde
Besatzung ebenso, wie die päpstlichen Svldtruppen und hassen den Despotis¬
mus der Priester und Prälaten. Aber sie wollen darum die Erwerbsquellen
nicht verlieren, die ihnen der weltliche Katholicismus bringt: man denke nur
an die Summen, welche durch die am Osterfest zuströmenden Fremden in Um¬
lauf gesetzt werden, an alle die fremden Bischöfe und Priester, die fortwährend
nach Rom wallfahrten; derartige Motive sind nicht sehr patriotisch aber darum
nicht weniger gewichtig. Was die Mehrzahl der Römer wünscht, ist unzweifel-
haft eine Versöhnung zwischen dem König von Italien und dem Papst, wonach
der eine im Lateran, der andere im Vatikan wohnen und Rom Hauptstadt des
Katholicismus bliebe und zugleich Hauptstadt Italiens würde. Eine solche Aus¬
gleichung aber liegt vorläufig noch weit ab und inzwischen wird Italien wenig
von den Römern zu hoffen haben, die ihrerseits vor der Aktionspartei aus
lange Zeit sicher sind.
Das officielle Italien, die Regierung hat sich ihrer Aufgabe gleichfalls
wenig gewachsen gezeigt. Bei dem Unternehmen Garibaldis gab es von vornher¬
ein nur eine Alternative, entweder dasselbe rücksichtslos niederzuschlagen, oder
Frankreich zum Trotz gewähren zu lassen und dessen eventueller Intervention zu¬
vorzukommen. Das Florentiner Cabinet hat sich zu keinem der beiden Wege ent¬
schließen können. Ratazzi ließ zuerst Garibaldi festnehme», dann als die Agi¬
tation ihn unpopulär zu machen drohte und zugleich seine Nachrichten aus
Paris ermuthigend klangen, gab er den Freischaaren Spielraum und setzte, als
Napoleon dies nicht dulden wollte, Drohung gegen Drohung. Jetzt intcrve-
nirte Viktor Emanuel und desavouiite ihn. Als dann nach dem Cialdimschcn
Interregnum Menobrea die Zügel ergriff, nachdem inzwischen Garibaldi wieder
auf dem Schauplatz erschienen und die Franzosen in Civitavecchia gelandet,
war sein erster Akt zu erklären, daß die Scptemberconvention beide Theile
gleich binde, daß. um diese Gleichheit zu wahren, die italienischen Truppen in
das päpstliche Gebiet eingerückt seien und daß Italien hoffe, Frankreich werde
diesen All als einen durch Ehre und Pflicht gebotenen anerkennen. Diese
Politik war verständlich, wenn sie energisch durchgeführt ward, aber als Gene¬
ral Lamarmora sich vergeblich in Paris bemüht, sie annehmbar zu machen, der
Marquis de Moustier vielmehr in herben Ausdrücken seine Mißbilligung
nach Florenz telegraphirte und ein Ultimatum im Prinzip beschlossen war,
ward auch diese Stellung wieder aufgegeben. Nachdem die königlichen Truppen
hatten zusehen müssen, wie die Garibaldianer von den Chassepots niederge¬
schmettert wurden um dann Schergendienste zu thun, indem sie die Flüchtigen
entwaffneten, erklärte General Menabrea ihre Aufgabe für erfüllt uns zog sie
zurück. So machte er den Passus seiner Depesche wahr, daß die königliche
Regierung sich aus gleichen Fuß mit den andern Coutrihenten stellen müsse,
um zu neuen Unterhandlungen schreiten zu können. Der Minister mochte es
hernach als Demüthigung empfinden, wenn ihm nunmehr der Moniteur ein
gutes Führungszeugniß ausstellte und in Anbetracht dessen den Rückzug der-
kaiserlichen Truppen aus Civitavecchia versprach, „sobald die Ruhe im römischen
Gebiet gesichert sei"; er forderte deßhalb i» einer neuen Depesche vom 9. die
vollkommne Räumung des päpstlichen Gebietes und das Aufhören einer Inder-
vention, „welche wir nie als noihwendig anerkennen konnten, die für Italien
ein schmerzlicher Akt war und die, wenn sie fortdauert, ein Hinderniß jeder
dauerhaften Vereinbarung werden muß". Es folgt dann eine heftige Anklage
der päpstlichen Negierung, welche, ihrer feindlichen Haltung gegen Italien treu
bleibend, das seltsame Schauspiel eines Staates bilde, der trotz einer Söldner¬
truppe aus aller Herren Ländern sich nur durch fremde Intervention halten
könne. Dsmzufolge sei der Zweck der Septemberconvention gänzlich verfehlt,
das einzige Arrangement aber, welches die Gefahr beschwören könne, sei die
Versöhnung Italiens und des Papstthums aus dem Fuße, daß letzteres un¬
nützen Rüstungen entsage und die Attribute aufgebe, welche seine wahre Misston
hinderten, d. h. also mit andern Worten, Italien fordert aufs neue die Auf¬
gabe der weltlichen Macht und wird damit in Rom wie in Paris nur taube
Ohren finden. Drohungen und Truppenconcentrationen sind jetzt umsonst.
Viktor Emanuel hat zu offenbar seine vollständige Abhängigkeit von Napoleon
constatirt, er hat das Vertrauen der Nation verscherzt, die entweder in dumpfer
Entsagung alles über sich ergehen lassen oder sich eifrig erheben wird. In
der That, die Zukunft Italiens ist dunkel genug. Von Parteiungen zerrissen,
ohne einen Führer und Staatsmann, finanziell am Rande des Bankerottes, mag
seinen Patrioten das Herz schwer genug sein und mancher sich die Frage auf¬
werfen, ob die Schöpfung des neuen Staates diesen Sturm überleben werde.
Und sollte Frankreich, welches seinen Willen durchgesetzt hat, mehr ge¬
wonnen haben? Napoleon fühlte dem Lande den Puls und kam zu dem Er-
gebniß, daß die Majorität den Sturz des Papstes nicht ruhig hinnehmen werde,
daß vielmehr der Einfluß des Clerus groß genug sei, um in dem Falle eine
Bewegung hervorzurufen, welche der kaiserlichen Regierung gefährlich werden
dürfte. Aber es bleibt uns doch zweifelhaft, ob er den richtigen Weg eingeschla¬
gen; hätte er gleich bei der ersten Bewegung Ganbaldis in Florenz mit einer Be¬
stimmtheit gesprochen die keinen Raum für Illusionen ließ, so hätte die ita¬
lienische Regierung den Aufstand im Keim erstickt. Als dann die Würfel ge¬
worfen waren, war die Niederlage der Garibaldianer freilich unvermeidlich, aber
es scheint uns, daß der Kaiser unnöthige Schwachheit gezeigt hat, indem er
den sofortigen Rückzug der italienischen Armee forderte und erzwang. Italien
war doch ohnedies hinreichend gedemüthigt, die anscheinend gleiche Stellung
mit Frankreich, welche die Besatzung einiger päpstlichen Orte nothdürftig wahrte,
war das einzige Mittel, das Ministerium Menabrea. das günstigste das Frank¬
reich erwarten kann, zu halten und andererseits vom Papste Concessionen zu
erreichen. Daß Napoleon eine schwache Negierung aufs äußerste erniedrigt,
kann sein gesunkenes Ansehen in Europa schwerlich wieder heben, er hat sich
aber dadurch unzweifelhaft den tödtlichen Haß der italienischen Nation zugezogen.
Die einzige positive Schöpfung seiner Regierung, das subalpianische Königreich,
in Frage gestellt und damit in Rom nichts gewonnen, im Gegeutheil: nach
Beseitigung der acuten Krisis lastet die päpstliche Frage mit verdoppeltem Ge¬
wicht auf seinen Schultern. Der Ausdruck seiner Verlegenheit ist der Con-
greßvorschlag. Ader kann sich ein nüchterner Kopf,darüber täuschen, daß der¬
selbe zu nichts führen wird, daß die eingeladenen Mächte ein Programm be¬
gehren müssen und baß dasselbe unmöglich ist? Um zu dieser Ueberzeugung zu
gelangen, braucht man nur die früheren Versuche des Kaisers anzusehen. Schon
1862 erklärte derselbe in seinem Briefe an Thouvenel, es sei dringlich, daß
die römische Frage eine definitive Lösung erhalte; er gibt eine lange Ausein¬
andersetzung der Gefahren der Situation und der Nothwendigkeit, sie zu be¬
seitige», und schlägt dann eine Combination vor, wonach die italienische Re¬
gierung sich verbindlich mache „g, roeormMre Jos 6ta>es as I'^glise et ig. ä6-
limitatiolt eouvenue" (?) und daß andererseits der heilige Stuhl die früheren
Privilegien der Municipalitäten und Provinzen wiederherstelle. Gleich darauf
erörterte Thouvenel in einer Instruction an den Botschafter in Rom, die Be¬
dingungen einer Aussöhnung mit Italien eingehender: Italien solle auf seine
Prätentioncn bczl. Roms verzichten und den größten Theil der päpstlichen Schuld
übernehmen, der Ausfall der päpstlichen Einnahmen solle durch ein inter¬
nationales Budget der katholischen Mächte gedeckt werden, der Papst dagegen die
vollendeten Thatsachen anerieunen und seine Negierung aus dem Fuß der mo¬
dernen Staaten einrichten. — Konnte man im Ernst damals solche Borschläge
für durchführbar halten, so wird man es jetzt doch nicht mehr thun, denn das
liegt am Tage: je tiefer die thatsächliche Demüthigung der Italiener ist, um
so weniger werden sie sich nun durch einen principiellen Berzicht auf Rom die
künftige'Lösung der Frage abschneiden, und »och geringer ist die Aussicht, daß
der Papst im Augenblick seines Sieges die Entsagung üben werde, sich zu den
Concessionen zu verstehen, gegen die er in den schwierigsten Umständen prote-
stirt hat; der Popst ist ja, darüber kann man sich keiner Täuschung hingeben,
wenigstens vorläufig der einzige, welcher aus der letzten Krisis Vortheil gezogen
hat. ' Es hat sich aufs neue gezeigt, wie groß sein Einfluß in Frankreich ist,
denn dieser allein hat den Kaiser zur Intervention gedrängt; Frankreich hat
durch die That die Erklärung bekräftigt, welche Thouvenel 1862 gab: „Mtrs
t'ermL et constimt« volonte est cke maiirtemr 1ö err possessivir Ah 1a
ZM'tiL as hos l^kath, (me la xreserlee so rrotrö llraveau lui g, eonser'vio", er
kann also vor Italien und der Revolution zunächst ruhig sein und wird jede
Zumuthung mit dem bekannten von xossuirmZ beantworten. Durch alles dies
wird freilich in keiner Weise die Dauer der weltlichen Macht des Papstthums,
welches sich nur durch'fortgesetzte fremde Intervention halten kann, bewiesen,
Wohl aber die Unmöglichkeit einer diplomatischen Lösung der römischen Frage.
Wir wissen es, zahlreiche edle und aufgeklärte Katholiken sind der Ansicht, daß
der Papst im katholischen Interesse wohl thun würde, der weltlichen Macht
zu entsagen, aber wir halten dies für eine idealistische Täuschung. Die Hin¬
weisung'darauf, daß die Erzbischöfe von Cöln, Mainz und Trier jetzt mäch¬
tiger und angesehener seien, wie ihre reichsunmittelbaren Vorgänger, läßt keine
Anwendung auf den Papst zu, weil dieser nicht primus intczr o-rres ist. Die Orga¬
nisation der katholischen Kirche ist streng monarchisch, der Erzbischof von Cöln
kann Unterthan des Königs von Preußen sein, der Papst niemals Unterthan
des Königs von Italien; einen Mittelzustand aber giebt es nicht. Wer Niemandes
Unterthan ist, ist Souverän. Es wird von jedem liberalen Katholiken unsrer
Ansicht nach zu großes Gewicht darauf gelegt, daß die weltliche Macht kein
kirchliches Dogma ist, denn in Wahrheit steht bei dem Streite die geist-
liebe Oberhoheit in Frage. Ist der Papst wirklich der Stellvertreter Christi
aus Erden, so muh er auch in aller und jeder Beziehung unabhängig sein, also
Souverän, sei es auch nur auf einem kleinen Gebiet. Wir Protestanten verwerfen
die Lehre der Stellvertretung und müssen deshalb auch glauben, daß die weltliche
Macht unberechtigt ist; aber selbst von diesem Standpunkt ist der Zweifel erlaubt,
ob eine Macht, die der Reformation widerstanden hat. durch die einer nationalen
Bewegung gestürzt werden wird, welche schon längst ihren Höhepunkt überschritten
hat. Indeß wie dem auch sein mag, so viel steht fest, nicht ein Kongreß, nicht eine
Convention können die römische Frage lösen, sondern nur die Ereignisse; das
Königreich Italien und die weltliche Macht des Papstes sind auf die Dauer
unverträglich, entweder das erste löst sich wieder aus, oder die letztere fällt.
Für uns Deutsche scheint inzwischen kein Grund zu sein, aus der abwar¬
tenden Stellung herauszutreten, wie sie die preußische Regierung gewiß sehr
richtig eingenommen hat. Wir haben die freundschaftlichsten Gesinnungen für die
italienische Ration, aber wir können uns nicht, um ihr aus einer selbstgeschaffenen
Gefahr zu helfen, in einen Krieg stürzen, bei welchem wir die Rolle des Angreifers
spielen müßten und der durch seine mitwirkenden religiösen Motive den Zwiespalt
in unser eignes Lager tragen würde. Noch weniger liegt es uns ob, dem Kcuscr
Napoleon aus seiner Verlegenheit zu helfen; Weber Frankreich noch Italien haben
uns beim Abschluß der Scptcmberconvention um Rath gefragt, mögen sie sich denn
auch allein, über ihre Konsequenzen verständigen oder nicht verständigen.
Die jüngsten Vorgänge in Stuttgart und München haben die Frage nach
dem Zeitpunkt und den geeignetsten Modalitäten für den Eintritt der süd¬
deutschen Länder in den. unter preußischer Aegide geeinigten Nordbund aufs
Neue allen Freunden der nationalen Sache nahe gelegt. Ziemlich allgemein
bricht sich die Ansicht Bahn, es werde am einfachsten sein, die süddeutsche
Frage zu einer bayrisch-schwäbischen zu machen, und die Ultramontanen und
Radikalen an Ncsenbach und Jsar durch Aufnahme Badens und des gehauen«
ten hessischen G>oßhcrzogthums zu isoliren. Was Baden anlangt, so würde
die Verwirklichung dieses Gedankens kaum auf irgend erhebliche Schwierigkeiten
stoßen, denn die sämmtlichen Factoren der Gesetzgebung haben sich entschieden
im nationalen Sinne ausgesprochen. Wie verlautet, will Preußen aber, daß
der Eintritt Badens gleichzeitig mit dem des südlichen Hessen geschehe. Hier
liegen die Verhältnisse aber wesentlich anders, als im Lande der Allcmannen.
Verweilen wir bei denselben einen Augenblick, um uns über die Lage zu
orientiren. In Darmstadt hat sich die zweite Kammer und zwar mit mehr als
Zweidrittel-Majorität für den sofortigen Eintritt in den norddeutschen Bund
ausgesprochen; in der ersten Kammer fanden sich aber nur wenige Stimmen,
die beitraten; die Regierung und namentlich der Großherzog sind entschiedene
Gegner dieses Planes. Selbst die große Majorität, welche in der zweiten
Kammer zu Gunsten des sofortigen Anschlusses an den Norden erzielt worden
ist, beruht auf besonderen Umständen, die sich in solcher Weise vielleicht nicht
Wiederholen dürften. Erklären wir dies näher.
Es ist bekannt, daß unier den Feinde», die Preußen in Deutschland vor
den Ereignissen des Jahres 1866 zählte. Herr v. Dalwigk, der hessische Minister¬
präsident, in vorderster Reihe stand. Dies ging soweit, das; selbst die Unter¬
haltung diplomatischer Verbindung mit Preußen durch das persönliche Aufireten
Herrn von Dalwigks gegen die in Darmstadt accrcditirlcn preußischen Gesand¬
ten unmöglich gemacht wurde, wie dies namentlich in einem ekletanten Falle
dem Herrn v. Canitz gegenüber zu Tage trat. Nun verdankt Hessen-Darmstadt
sein gegenwärtiges Aufblühen ganz allein dem Zollverein. Aber während
selbst Herr v. Beute davor zurückschreckte, an diese Grundlage der wirthschaft¬
lichen Verhältnisse Deutschlands Hand anzulegen, führte Herr v. Dalwigk gelegent¬
lich des französischen Handelsvertrages offenen Krieg gegen den Fortbestand des
Zollvereins und erklärte ohne Scheu, es handle sich hierbei um politische Ver¬
hältnisse, die den Ausschlag geben müßten. Der hessische Premier konnte es
sich s.l?on damals nicht verhehlen, daß der Versuch, Preußen aus seiner Stellung
in Deutschland zu verdrängen, schließlich zum Kriege treiben müsse. Er zählte
für solchen Fall mit Sicherheit auf die Niederlage Preußens. Führte dies
ganze Gebahren damals auch zu keinem Resultat, so war doch in der Krisis
des Jahres 1866 der hessische Ministerpräsident einer der Eifrigsten in dem
Bestreben, Preußen nunmehr den Schlag zu versetzen, der ihm schon lange zu¬
gedacht war. damit dieser Staat (wie damals das Stichwort hieß) „in die ihm
gebührende Stellung zurückgebracht werde." Die Selbstüberschätzung fand entspre¬
chende Züchtigung in dem kläglichen Ausgange des BundecfeldzugS. Das natürliche
Gefühl sagte dem Lande nach Beendigung jener Feldzüge, daß Herr v. Dal¬
wigk der ungeeignetste Mann sei, um mit Preußen über den Friedensschluß zu
verhandeln. Herr v. Dalwigk selbst schien das einzusehen, er bat den Großherzog
um seine Entlassung. Sie wurde zunächst nicht angenommen, weil keine passende
Persönlichkeit zur Hand war. Dann fragte man im preußischen Hauptquartier
an, ob man daran Anstoß nehmen würde, wenn der bisherige Minister als Fiie-
densuntcrhändlcr erschiene. Graf Bismark ertheilte die gleichgültig-stolze Ant¬
wort, es sei ihm an der Persönlichkeit des hessischen Abgesandten nichts gelegen.
So erschien denn Hr. von Dalwigk in Nikolsburg, er wurde amnestirt und
soll später gerühmt haben, wie charmant Herr v. Bismark mit ihm gewesen sei.
Als nun der Friede geschlossen und die bedrohte Existenz des Großher-
zogthums durch die diplomatische Intervention Rußlands gerettet worden war.
kehrte der geflüchtete Souverän mit seinen Ministern nach Darmstadt zurück.
Die Wellen der politischen Bewegung gingen damals in Europa sehr hoch;
Frankreich zeigte eine tiefe Erbitterung über den Machtzuwachs Preußens, die
geschlagenen Parteien rührten sich gewaltig in Deutschland, obschon der Lärm,
den sie verführten, zu ihrem Zorn in richtigeren Verhältniß stand als zu ihrer
wirklichen Macht. Die hessischen Machthaber aber betrachteten diese Vorgänge,
welche nur die Ueberbleibsel des Wetters waren, das Europa durchtobt hatte,
als die Vorboten eines neuen Sturmes, der das frisch errichtete Gebäude der
Preußischen Machterwciterung wieder zu Boden werfen werde. „Die Sache kann
nickt dauern, es wird bald wieder anders, im Frühjahr kommen die rothen
Hosen" — das waren die Gesichtspunkte, von denen aus man die neuen Ver¬
hältnisse beurtheilte.
Herr v. Dalwigk nahm die Mainlinie ganz besonders ernst, er wiegte sich
in der Hoffnung. Frankreich werde jedem Versuche Preußens, seine Machtsphäre
über den Main hinaus auszudehnen, einen Kampf auf Leben und Tod entge-
gensetzen. Danach nahm er seine Stellung. Er betrachtete es als seine Auf¬
gabe, aus Hessen den Pivot des Widerstandes gegen Preußen zu machen und
traf demgemäß seine Maßregeln. Zunächst galt es, an die Stelle der unbe¬
quemen zweiten Kammer eine neue gefälligere zu setzen. Die Nesultatlvsigkeit
ihrer oppositionellen Bestrebungen hatte das Interesse der Bevölkerung an dem
Kammcrwesen erschöpft. Auch sonst war die Zeit zur Auflösung der Volksver¬
tretung gut gewählt.
An die Stelle der Aufregung, die der Krieg hervorgerufen, war allgemeine
Abspannung eingetreten. Die liberale Partei hatte noch keine Zeit gehabt, sich
nach den überraschenden Erlebnissen zu sammeln. Dazu kamen die eigen¬
thümlichen Preßverhältnisse unseres Landes. Die frankfurter Blätter bilden
den Haupttheil der bei uns gelesenen Zeitungen; diese Journale, die in ihren
Hauptrepräsentanten bisher mit der hessischen nationalen Fortschrittspartei Hand
in Hand gegangen waren, nahmen nunmehr eine von ihrer früheren Haltung
total verschiedene Stellung ein. Daß die Frankfurter Zeitung damals eine Zeit¬
lang im Exil zu Stuttgart die nationale Partei mit gewaltiger Erbitterung
angriff, war in den Antecedentien dieses Blattes begründet. Auch das Frank¬
furter Journal stand vollkommen unter der Herrschaft der verbitterten Stimmung,
die in der Mainstadt herrschte und verhielt sich im besten Fall gegen die nationalen
Bestrebungen theilnahmlos. Dazu kam, daß sich gerade damals das im Lande
gegründete Parteiblatt, die „hessische Landeszeitung", in Folge persönlicher
Zwiste gegen ihre eigenen Gründer wandte und eine äußerst zweideutige Richtung
einzuschlagen begann. So hatte die Partei, die mit große» Anstrengungen
diesem Organ Verbreitung verschafft hatte, die Waffen' gegen sich selbst ge¬
schmiedet. Die schnell ins Leben gerufene und seitdem in erfreulicher Weise er¬
starkte „Mainzeitung" konnte in diesen Verhältnissen, wie das in der Natur dir
Sache lag, zunächst Nichts ändern.
Auf der anderen Seite setzte die Regierung alle Hebel in Bcweaung, um
partikularistische Wahlen herbeizuführen.' Die Beamten, deren Ansehen eine
Zeitlang durch die preußische Okkupation paralysirt worden war. arbeiteten mit
Erbitterung und Eifer. Die Regierung gab die Wahlparole „hessisch oder
preußisch" aus, die offizielle und offiziöse Presse stellte die Sache so dar, als
seien sämmtliche Stimmen, die auf die Fortschrittspartei sielen, für Annexion
an Preußen gegeben, und unter dem Hochdruck aller dieser Verhältnisse kam die
gegenwärtige' Kammer zusammen. Die Fortschrittspartei hatte mehr wie die
Hälfte ihrer Sitze verloren: sie zählte unter 48 Kammer-Mitgliedern nur noch
Is Anhänger. Zum Führer der preußenfcindlichen Majorität des Hauses
wurde der alte Heinrich v. Gagern aus Wien herbeigeholt, um wirklich im
hessischen Ständesaal Platz zu nehmen. Nichtsdestoweniger waren die Ver¬
hältnisse stärker als die Menschen; die obcrhessischen Mitglieder, obgleich als
Gegner Preußens gewählt, konnten mit den heißspornigcn Ultramontanen und
dem Feuer und Flammen gegen Preußen speiender Herrn v. Gagern nicbt
zusammengehen, weil ihre provinziellen Interessen sie zu entschieden auf den
Staat hinwiesen, der sie von allen Seiten umgiebt. Der erste Antrag auf Ein¬
tritt Gesammthessens in den Nordbund würd'e von der Fortschrittspartei ein¬
gebracht, von einigen oberhessischen Abgeordneten unterstützt und mit geringer
Majorität beseitigt. — Inzwischen aber hatte sich der politische Horizont stark
umwölkt, die Luxemburgische Frage tauchte auf. Preußen faßte die Eventualität
eines Krieges in das Auge; Herr v. Dalwigk mochte fühle», daß man ihm in
Berlin nicht traue. Als gewandter Diplomat wußte er sich zu helfen. Eine
Anzahl regierungsfreundlicher Abgeordneter erhielt den Wink, daß ein Antrag
auf Eintritt in den Nordbund opportun sei. Zu einem regierungsfreundlichen
Werk drängten sich Viele herbei — zahlreich von Freunden des Ministeriums
unterstützt erschien der Antrag in der Kammer. Aber noch während derselbe in
den Ausschüssen berathen wurde, schloß man das Luxemburger Compromiß ab,
die Gefahr eines Krieges schien zunächst beseitigt und nun zeigte die Regierung
die andere Seite ihres Doppelspiels. Sie bekämpfte den Antrag, der auf
ihre eigne Anregung hingestellt worden war. In der zweiten Kammer ließ
Herr v. Dalwigk erklären: „Hessen weite seine Freiheit bewahren". Allein die
Unterzeichner des Antrages konnten nicht zurück, die Fortschrittspartei stimmte
zu, und so ergab sich eine Majorität, die nach Außen sehr stolz aussah, von der
aber ein großer Theil selbst nicht wußte wie ihm geschah, als er gegen die
Regierung für den Eintritt in den Nordbuird votirte.
In der ersten Kammer hatte Herr v. Dalwigk leichteres Spiel. Die ober¬
hessischen Standesherren, der politisch gcbildctetste Theil der kleinen Gesellschaft,
hat sich ganz aus derselben zurückgezogen, zwei Mitglieder derselben. Fürst
Solms-Lied und Graf Solms-Laubach nahmen eine ehrenvolle Stelle unter den
Freiconservativen des Reichstags ein. Der Rest, aus einigen östreichisirenden
Grafen von Erback und Büdingcn, den Ministern selbst und dem bekannten
Herrn Moufcmg aus Mainz bestehend, wies den Antrag mit Entrüstung ab.
Der Finanzminister v. Schenk nannte den Nordbund ein Unglück für' das
Land, vor dem man dasselbe nach Kräften bewahren müsse. Herr v. Dalwigk
aber debütirte mit den berühmt aewordenen „Verlegenheiten", die er dem
Grafen Bismark ersparen wolle. Nur zwei oder drei Stimmen sprachen sich
im nationalen Sinne aus.
Die Stellung, die Herr von Dalwigk und seine Kollegen zu der nationa¬
len Frage einnehmen, ist somit dieselbe prcußenfeindliche geblieben, nur ihre
Manöver wechseln nach den Umständen. Die „Mainzeitung" hat dies bezeich¬
nend so ausgedrückt: Die Politik der hessischen Regierung muß nach zwei Ge¬
sichtspunkten beurtheilt werden: entweder sie hat Angst oder sie hat keine Anast.
Eine Aenderung dieser Verhältnisse kann nur aus der Initiative des Gro߬
herzogs hervorgehen; diese würde aber auch hinreichen, alle Schwierigkeiten,
die einer Entscheidung im nationalen Sinne entgegenstehen, zu beseitigen; die
gesammten hessischen Verhältnisse und Personen können zur Noth ü, ckeux mains
gespielt werden. Der Großherzog ist persönlich ein wohlwollender Herr und
darin von seinem Vetter, dem Ex-Kurfürsten, gründlich verschieden. Beson¬
dere politische Kennzeichen fehlen; seine Neigungen concentriren sich auf das
Aeußerliche des Staatswesens. Er interessirt sich (freilich in seiner Weise) für
hessische Geschichte und historische Merkwürdigkeiten, theilt die fürstliche Vor¬
liebe für Theater. Ballet und Uniformen und bat an Reglementirung des Bart¬
wuchses seiner Beamten Freude. Alles das könnte er. und offenbar mit mehr
Ruhe als gegenwärtig, auch als Mitglied des norddeutschen Bundes haben.
Allein eine Reihe von Einflüssen ist seit Jahren thätig gewesen, um seine
Abneigung gegen Preußen zu nähren, und nachdem seine Umgebung einmal
bemerkt hatte, was dem Fürsten am angenehmsten klang, lag es in der Natur
der Verhältnisse, daß man den herrschenden Meinungen so viel als möglich
schmeichelte. Der Großherzog lebte in kinderloser Ehe mit einer bayrischen
Prinzessin, einer Tochter König Ludwigs. Diese Dame, sonst von vorzüglichen
und gewinnenden Eigenschaften, stand unter dem Einfluß der katholischen Geist¬
lichkeit, namentlich des Bischofs von Mainz, und wirkte in deren Sinn auf
ihren Gemahl. Nach dem Tode seiner Gemahlin bat der Großherzog sich seinem
jüngsten Bruder, dem Prinzen Alexander, vollständig zugewendet, und es gilt
dieser als der eigentliche Vertrauensmann und Rathgeber des hessischen Fürsten.
Prinz Alexanders zuerst russischer, dann östreichischer General, steht ganz unter
östreichischer Inspiration. Im Frühjahr 1866 holte er sich mehrere Monate vor
dem Ausbruch des Krieges die Bestallung als Bundesgeneral in Wien. Sein
gänzlicher Mangel an militärischem Talent hat sich bei Führung der ihm an¬
vertrauten Truppen in kläglichster Weise ausgewiesen. Nach dem bekannten
Ausgang des von ihm geleiteten Feldzugs ging aus ihm nahe stehenden Krei¬
sen die Schmähschrift „der badische Verrath" hervor. Es ist allerdings be¬
quemer zu denunciren, als selbst etwas zu leisten.
Einen gleich ungünstigen Einfluß auf den hessischen Souverän übt sein
«Schwiegervater, der Exkönig Ludwig von Bayern, Es ist bekannt, daß der
„deutscheste Teutsche" auf der Kaiserzusammenkunft in Salzburg erschien und
seinen Schwiegersohn zum Aerger aller Vaterlandsfreunde in Hessen dahin mit¬
zubringen wußte. Auch bei dem zweiten Kaiser-Rendez-vous in Paris hat
König Ludwig nicht fehlen wollen; dock der Großherzog hatte diesmal das Ein¬
sehen . daß es passender sei, zu Hause zu bleiben. — So theilt der Fürst
vielfach den Standpunkt seines Ministeriums, das ihm noch außerdem bei
mannigfachen Geldverlegenheiten bequem ist und keinen weitern Anspruch macht
als den. im Amte belassen zu werden. Der präsumtive Thronerbe, Prinz Lud¬
wig, vermählt mit einer englischen Prinzessin und dadurch Schwager des preußi¬
schen Kronprinzen, scheint entschieden auf preußischer Seite zu stehen und ist
mit Herrn v. Dalwigk, mit dem er seit Jabren kein Wort mehr wechseln soll,
gänzlich überwerfen. Auf die Staatspolitik übt er indessen keinen Einfluß.
In jüngster Zeit soll sich das Verhältniß des Groß Herzogs zu Preußen
wesentlich gebessert haben. Man schreibt dies den persönlichen Begegnungen
zu, die er mit dem König und der Königin von Preußen gehabt hat. So
viel steht aber noch gegenwärtig fest: alle Unterhandlungen mit Herrn v. Dal¬
wigk, alle Bemühungen von Seiten des Landes, diesen Minister zu beseitigen,
sind vollständig vergeblich, und wenn es König Wilhelm nicht gelingt, seinen
Vetter davon zu überzeugen, daß es besser wäre, sich mit weniger antipreußi¬
schen Ministern zu umgeben, so wird Preußen von Darmstadt aus nach Kräften
in seinen süddeutschen Plänen gehindert werden, bis man in der großherzog¬
lichen Residenz wieder einmal „rechtschaffen Angst bekommt".
Das Ucbcrgangsjahr in Hannover, von Moritz Busch. Leipzig 1867 bei
Qucindt u. Händel.
Unwillkürlich fragt der Leser, der dieses Buch aus der Hand legt, was die
nachwachsenden deutschen Geschlechter sagen werden, wenn sie dereinst aus demselben
ersehen, wie sauer es ihren Vorfahren gewo-rden ist, von einer Ordnung der Dinge
Abschied zu nehmen, deren würdelose Beschaffenheit so offen zu Tage liegt, daß die
Nothwendigkeit, aus welcher Preußen dem Unwesen der deutschen, zumal der han-
noverschen Kleinstaaterei ein Ende machte, anderen Beweises nicht bedarf. Können
die Söhne der einstmaligen Unterthanen der Kurfürst-n von Trier, Köln oder Sach¬
sen heute nicht mehr begreifen, wie es möglich gewesen, daß ihre Väter die Einver¬
leibung in den preußischen Staat Friedrich Wilhelms III. für ein Unglück ansehen
konnten, so werden die Deutschen des 20. Jahrhunderts es sür eine Fabel halten,
daß ihre Vorfahren allen Ernstes der Meinung gewesen, das Königreich Hannover
sei zu einem Bestände bis an das Ende der Tage berufen und habe ein Recht besessen,
der endlichen Einigung Deutschlands hindernd in den Weg zu treten. Die Summe
politischen Unverstandes, klcinstaatlicher Bornirtheit und unpatriotischen Eigensinns,
über welche der Historiker des „Uebergangsjahrcs in Hannover" berichtet, ist so er¬
staunlich, daß es in der That all der Einzelnachweise und Dctailcrörterungen des
Verfassers bedurft hat. um ihre Wahrheit für Gegenwart und Zukunft zu beschei¬
nigen und außer Frage zu stellen. Drei Eingangscapitcl „Die letzten Welsen auf
Hannovers Thron", „die Entwickelung des Konflikts zwischen Preußen und Hanno¬
ver und die Katastrophe" — „Die kommende und vollzogene Einverleibung" gehen
in eine ausführliche Schilderung der Personen und Verhältnisse ein, welche das
ehemalige Königreich beherrschten. — Es hülle vielleicht nicht der Schärfe und
Bitterkeit bedurft, mit welcher der Autor dieselben kennzeichnet und verurtheilt,
um den Leser für eine Zustimmung zu den Resultaten zu gewinnen, auf welche
dieser Abschnitt der lehrreichen Schrift abzielt; der Ueberzeugung, daß Zustände so
abnormer Natur, wie die hannoverschen, ihre Verurtheilung seit lange in sich trugen,
kann sich niemand entziehen, der die nähere Bekanntschaft des fünften Georg, seiner
Freunde und Berather macht. — Die dem Eingang folgenden sieben Capitel schil¬
dern all die einzelnen Stadien, welche die neue Provinz während der fünfzehn Mo¬
nate durchzumachen hatte, die zwischen der Occupation und dem Inkrafttreten der
preußischen Verfassung liegen. Der Verfasser entwirft ein ausführliches Bild der
früheren politischen, administrativen und judiciären Einrichtungen der hannoverschen
Lande, um die Nothwendigkeit der Neugestaltungen nachzuweisen, welche sich wäh¬
rend des in Rede stehenden Zeitraums vollzogen und vollziehen mußten. Auf diese
Weise ist dem Leser eine genaue Vorstellung davon ermöglicht, was Hannover von
seinen früheren Einrichtungen beibehalten hat, was es zum Wohl des Ganzen und
zum eigenen Wohl aufgeben mußte und im Einzelnen unwiderleglich nachgewiesen,
daß — von gewissen unwesentlichen Mißgriffen abgesehen — die preußische Regie¬
rung sorgfältig bemüht gewesen ist, alle diejenigen Institute zu schonen, welche
der Eigenthümlichkeit des Landes und seiner Bewohner entsprechen. Bei der Aus¬
führlichkeit, mit welcher der Verfasser nach dieser Seite hin zu Werke gegangen und
die wesentlichen Punkte (z. B. die Beibehaltung der alten Acmtcrvcrfassung) in
geradezu erschöpfender Weise behandelt, läßt sich voraussehen, daß das Hanpttcrrcün
Partikularistischer Verdächtigungen, der Boden, auf welchem die Gegner Preußens
immer neue Märchen pflückten, durch das Buch des Dr. Busch für die Zukunft
verschlossen worden ist. Gegenüber einer systematischen und zusammenhängenden
Darstellung der Motive, welche bei der Entscheidung der einzelnen Neugcstaltungs-
ftagen maßgebend sind, verlieren die aphoristischen Angaben, mit welchen Gustav
Rasch und andere Parteigänger des demokratischen Radikalismus eine rücksichtslose
„Vcrpreußung" nachzuweisen versucht haben, alle Kraft und Bedeutung, und es wird
fortan sehr häufig genügen, den einen oder den andern Abschnitt des „Uebcrgangs-
jcchreS in Hannover" anzuführen, um die Ankläger dieser Art zum Schweigen zu
bringen.
Weitaus den interessantesten Theil des vorliegenden Beitrags zur Geschichte der
Neubildung des deutschen Staats bilde» aber die Schilderungen, welche der Verf.
von den verschiedenen Schichten der Bevölkerung und ihrer Stellung zu der großen
Umwälzung von 18K6 entwirft. Charakteristisch genug bietet fast jeder der fünf-
Schn Monate, welche zwischen dem 1. Juli des vorigen und dem 1. Oktober des
laufenden Jahres liegen, ein neues Bild. Gewohnt, von gewissen „maßgebenden"
Kreisen die Impulse für ihr politisches Thun und Lassen zu empfangen, sind die in
das Interesse des Wclfcnthums gezogenen Partikularistcn der Hauptstadt und die
udeligcn Pensionäre des alten Regiments durchaus davon abhängig, ob man in
H'ching gutes Muths ist oder die Flügel hängen läßt; je nach der ausgegebenen
Parole wird demonstrirt und raisonirt oder abgewartet und geschwiegen. Die arti-
preußische Agitation läßt ihr Handeln nicht dadurch bestimmen, ob die einzelnen
neuen Regierungscrlassc in das Fleisch hannoverscher Gewohnheiten schneiden oder
dieselben zu schonen bemüht sind — grade die energischesten Maßnahmen fallen in
die stillsten Zeiten —, sondern allein dadurch, ob die äußeren Verhältnisse eine
für den neuen Landesherrn bedrohliche Wendung nehmen oder nicht, und ob König
Georg in Paris schlechte oder gute Geschäfte macht. Die an und für sich begreif¬
liche und natürliche Abneigung eines großen Theils der Bevölkerung gegen die neue
Ordnung äußert sich darum in kleinlichen, würdelosen Ovvositionsversuchcn; von
warmen, großen Empfindungen, opferbereiten Widerstandsversuchcn, Ausbrüchen wirk¬
lichen Volksunmuths ist nirgend auch nur eine Spur zu finden. Man versucht,
bis zu welcher Grenze die Geduld der preußischen Verwaltung herausgefordert wer¬
den kann und zieht scheu zurück, sobald diese ein strenges Gesicht macht. Von ganz
besonderem Werth ist es, daß der Verf. mit der Pünktlichkeit und Unermüdlichkeit
eines Tagcschronisten verfährt, es nicht verschmäht, auch die kleinsten Symptome
in feindlichem oder freundlichem Sinne veränderter Stimmung zu vermerken; grade
dadurch gewinnt seine Darstellung eine plastische Wahrheit und Lebendigkeit, deren
Wirkungen für Gegenwart und Zukunft die gleichen bleiben werden. Inwieweit
die eingeflochtenen Versuche zur Charakteristik der einzelnen hervorragenden Persön¬
lichkeiten und Parteiführer glücklich sind, muß die Zeit noch lehre»; unserer Ansicht
nach hätte es derselben nicht bedurft, denn das Talent des Verf. für Darstellung
des Gesammtcindrucks der jeweiligen Situation ist ein so treffliches, daß derselbe
nicht nöthig hatte, sich durch genaue Schilderung einzelner Männer als Kenner von
Land und Leuten auszuweisen. Die Irrthümer, welche bei einer längeren Reihe von
Eharaktcrzcichnnngcn kaum zu vermeiden sind, können im Gegentheil leicht dazu
fuhren, die Nichtigkeit der Gesammtauffassung unbegründeten Zweifeln zu unter¬
werfe». Wir müsse» schließlich noch auf ein Moment in der Geschichte hannoverschen
Strüubens gegen das Aufgehen in den neuen deutschen Staat hinweisen, das der
Autor mit Recht besonders scharf hervorgehoben hat: die ominöse Stellung des
hannoverschen Adels zu der alten wie zu der neuen Ordnung der Dinge. Daß die
Mehrzahl der deutschen Landschaften eines wirklichen aristokratischen Elements ent¬
behrt, daß ein bedeutender Bruchtheil des deutschen Adels in vollständigster Ver-
kennung seiner historischen Aufgabe, Führer der Nation zu sein, zum Schleppträger
des Absolutismus geworden alles nationalen Sinnes verlustig gegangen ist und
eine Rolle gespielt hat, die ihn jeder Bedeutung für die Zukunft berauben mußte,
das findet in ver neuesten Geschichte Hannovers eine traurige Bestätigung. Wäh¬
rend das liberale preußische Bürgerthum durch die Annexion Hannovers um eine
Anzahl glänzender politischer Talente bereichert worden ist, hat die conservative
Adelspartet dieses Staats von den neugewonnenen Standesbrüdern nur eine Ver¬
stärkung des überlebten Junkerthums zu erwarten, welche den gesunden Elementen
der preußischen Aristokratie, die sich eben jetzt zu regen beginnen, die Erfüllung ihrer
Aufgabe eher erschweren als erleichtern wird.
In Heft 47 ist in dem Artikel über das Panzerschiff Arminius S. 295 Z. 12 zu lesen:
sodaß sie (die beweglichen Stahltilcchplatteu) senkrecht an der Schiffswand herunterhängen,
wie es beim Royal Sovercig» während der Revue vor dem Sultan der Fall war, oder aber
aufgerichtet . . . — S. 29« Z. 4 v- u. ist zu lesen: statt 3'/^ zölligen — V«zölligen Eisen-
Haut. —
Der Ausgangspunkt der freisinnigen Reformen Alexanders II. war be¬
kanntlich die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. Für die baltischen
Provinzen hatte diese wichtige Mahregel zunächst keine directen Folgen, denn
in diesen Ländern war die persönliche Freiheit der Bauern bereits ein Men¬
schenalter früher proclamirt worden. Soviel die bäuerlichen Zustände am Aus¬
gang des letzten Jahrzehnts in Liv«. Est- und Kurland auch noch zu wünschen
übrig ließen, sie hatten sich auf zu eigenthümlicher Grundlage entwickelt, um
durch den Emancipationsukas v. 19. Februar 1861 irgend berührt werden zu
können. Was in den folgenden Jahren zu Gunsten des Bauernstandes durch
die baltischen Landtage geschah, war im Princip schon früher angebahnt wor¬
den: die Aushebung der Arbcitspacht (Frohne), der Schutz des Pachters gegen
willkürliche Steigerungen und Kündigungen des PachtgeverS, die Abgrenzung
des zur Benutzung des Bauernstandes bestimmten Grund und Bovens, die
möglichste Förderung des bäuerlichen Grundbesitzes durch Etablirung von Credit¬
banken u. s. w. — das waren Ziele, auf welche man seit lange losgesteuert
hatte und die von dem berühmten kaiserl. Emancipationsukas schon darum völlig
unabhängig waren, weil dieser die eigenthümlich russischen Institute des Ge-
meindecigenthums. des gleichen Anspruchs aller Gemeindeglieder an den Grund
und Boden und der periodisch neu vertheilten Parcelle zur Voraussetzung ge¬
habt hatte, Dinge, die in Finnland, Polen und den Ostseeprovinzen ebenso un¬
bekannt sind, wie im gesammten westlichen Europa. Die Aushebung der Un¬
freiheit, welcher die russischen Bauern unterworfen gewesen waren, gewann
aber dadurch große und weittragende Bedeutung, daß sie mit einer mächtigen
Reformbewegung, einem leidenschaftlichen Freiheitsdrang der seit Jahrzehnten
jeder Theilnahme am Staatsleben entfremdeten russischen Gesellschaft zusammen-
traf. Tausend Wünsche, welche unter der Regierung des Kaisers Nikolaus im
Herzen der Nation geschlummert hatten, erwachten plötzlich und heisesten stür¬
misch Befriedigung: Aushebung der Körperstrafe, Reform der Justiz, Neu¬
gestaltung des an jeder freien Bewegung gehinderten Unterrichtswesens, Ab¬
schaffung der Censur, Einschränkung der Allgewalt der Bureaukratie durch ein
nationales Selfgovernment wurden in einem Athem verlangt, und kaum hatte
man sich davon überzeugt, daß die Regierung nicht abgeneigt sei, diesen Wün¬
schen Rechnung zu tragen und eine Radicalreform an Haupt und Gliedern zu
unternehmen, so tauchten noch weiter gehende Wünsche auf, und schon wenige
Monate nach Aufhebung der Leibeigenschaft War in den weitesten Kreisen von
Abschaffung des Adels, zwangsweiser und unentgeltlicher Expropriation der
Gutsbesitzer zu Gunsten der eben freigewordenen Bauern und Von Begründung
einer konstitutionellen Reichsverfassung auf demokratischer Grundlage die Rede.
Auf eine über Nacht aufgeschossene, jugendlich anspruchsvolle Presse gestützt,
durch den Zusammensturz des alten Systems von jeder Schranke befreit, feierte
der russische Liberalismus seine Honigmonate. Es war eine Zeit allgemeiner
Begeisterung und Erhebung, Alles hoffte auf eine bessere, freiere Zukunft, ein
edler humaner Geist schien aus Regierung und Regierten zu ruhen und das mit
auswuchernde socialistische Unkraut, das die Schule Alexander Herzens ausge¬
streut hatte, glaubte man mit Hilfe des gesunden Sinns, den namentlich die
ländliche Bevölkerung bewährte, wieder ausraufen zu können. Nicht nur das
russische Volk sollte seine Auferstehung feiern, auch die Finnländer und Polen
wurden der Segnungen eines humaneren Regiments theilhaft: den ersteren
wurde ihre alte, vierzig Jahre lang sistirte schwedische Verfassung wiedergegeben,
das Königreich Polen erhielt an dem Marquis Wielvpolski einen entschieden
nationalen Minister und wurde gleichzeitig mit einer ziemlich freisinnigen Pro-
vinzialverfassung bedacht — und Alles das -unter dem Beifall der liberalen
russischen Presse. Noch war der Dämon des russischen Nationalfanatismus
nicht entfesselt, noch faßte auch das russische Volk die Freiheit als Bethätigung
und Geltcndmachuiig historisch gewordener Bedürfnisse auf. Unbeirrt durch die
täglichen Fortschritte, welche der Socialismus bereits damals machte, die Peters¬
burger Studentcnumuhen vom Herbst 1861 und die Maifeuersbrünste von
1862, wurde die Fahne der Freiheit hochgehalten, das Werk der inneren Neu¬
gestaltung von Volk und Regierung weiter fortgeführt.
In keinem Theile des russischen Reichs waren die Härten des alten Systems
so peinlich empfunden worden, wie in den Ostseeprovinzen: die Absperrung
von der westeuropäischen Culturwelt, die militärische Beschränkung des Unter-
richtswesens, die Unerbittlichkeit der Censur, der Stillstand auf den verschiedenen
Gebieten des geistigen Lebens, die Duldung der kirchlichen Propaganda des
griechischen Clerus hatten das Osiseeland an eine stumme Unterwerfung unter
das Gesetz eherner Nothwendigkeit gewöhnt, jede Hoffnung auf eine Reform
im liberalen Sinne erstickt — man war froh gewesen, hinter dem Wall
mittelalterlicher Institutionen eine Art passiven Widerstandes leisten zu können
und lebte ziemlich allgemein des Glaubens, den alten Satzungen sei es allein
zu danken, wenn ein Stück deutschen Lebens an der Ostsee übrig geblieben.
Das Frühlingswchen der liberalen neuen Aera, die mit der Beendigung des
Krimkrieges ihren Anfang genommen hatte, ging cur den baltischen Provinzen
beinahe spurlos vorüber. Eine eigene Presse besaß man noch nicht, die russi¬
schen Zeitungen wurden nicht gelesen und von der großen Umwälzung im Osten
erhielt man spärlichere Nachrichten als im westlichen Europa. Die Kunde
von einem Umschwung aller Verhältnisse, von liberalen Absichten der Regie¬
rungskreise, von der Möglichkeit einer inneren Neugestaltung im Sinn der
Zeitideen, sie klang zu fabelhaft, um Boden zu finden, geschweige denn eine
zündende Wirkung zu thun. Man hatte sich der Gedanken an einen Sy-
siemwechscl zu gründlich entschlagen, um sich an denselben so rasch, als zu
einer heilsamen Benutzung der Conjunctur nothwendig gewesen wäre, zu ge¬
wöhnen. — Der geeignete Zeitpunkt zu heilsamer Neugestaltung der alterthüm¬
lichen Einrichtungen und der zahlreichen Mißbräuche des baltischen Provinzial-
lebens ging darum vollständig unbenutzt vorüber. Erst im I. 1862 begann das
Eis zu schmelzen und eine lebhaftere Bewegung der Geister fühlbar zu werden;
rasch hinter einander entstanden verschiedene neue Zeitschriften und Journale,
die für die Nothwendigkeit einer Reform eintraten; auf dem livländischen Land¬
tage von 1862 wurden verschiedene Anträge auf Umgestaltung der Verfassung,
Verbesserung der Justiz, Freigebung des bis dahin dem Adel vorbehaltenen
Grundbesitzes, engeren Zusammenschluß der drei Provinzen u. s. w. gestellt,
im Herbst desselben Jahres versuchte man endlich eine allgemeine Juristenver¬
sammlung zu Stande zu bringen und in dieser den Hebel zur Reform der
Rechtspflege zu gewinnen. Es dauerte aber noch lange, ehe die Reformbewegung
breiteren Boden und Einfluß auf die eigentlichen leitenden Kreise gewann.
Nicht gering war die Zahl derer, die von jeder Veränderung des alten privi-
lcgicnmäßigen Zustandes den Verlust der theuersten Landesrechte, die Durch¬
löcherung des Rechtsbodens fürchteten, der die einzigen Garantien für die selb¬
ständige, autonome Landesverfassung enthielt. Der Unverstand radicaler Schwär¬
mer, die sich über Kopf und Hals in den Strom des russischen. Liberalismus
werfen und mit den moskauer Demokraten gemeinsame Sache machen wollten,
that das seine, um die Gemüther zu verwirren und die Ziele, um welche es
sich handelte und handeln mußte, zu verrücken. Dazu kam, daß die Ultras
der russischen Demokratie zugleich mit dem mittelalterlichen Bau der baltischen
Verfassung deren Inhalt angriffen, in einem Athem Aufhebung der Adels¬
privilegien, demokratische Bauernlandtage, Vernichtung des deutschen Einflusses,
Abschaffung der deutschen Sprache u. s. w. verlangten. Der schwerfällige Or¬
ganismus der alten ständisch gegliederten und einander gegenseitig entfremdeten
städtischen und ritterschaftlichen Korporationen war einer raschen Erledigung
und energischen Behandlung der brennenden Fragen von vornherein ungünstig;
als der. General-Gouverneur im Herbst 1864 Deputirte aller Ritterschaften und
Städte einberief, um von ihnen die Grundlagen einer neuen Gerichtsverfassung
und Prvceßordnung berathen zu lassen, begann ein nicht endenwollender Hader
über das Maß der Concessionen, welche man gegenseitig von einander forderte,
und es bedürfte der ganzen Wucht energischen Drucks von Außen, damit eine
Art von Resultat erzielt wurde.
Die inneren Schwierigkeiten, deren Ueberwindung es bei diesen Reform¬
versuchen galt, waren aber in der That größer, als auswärtige Beobachter und
Kritiker meinen mochten, die Grenze zwischen bloßen Standesprärogativen
und werthvollen Privilegien der Autonomie im einzelnen Falle außerordentlich
schwer festzustellen. Nach altem tractatenmäßigen Recht wählt der Adel unter
vezichungsweiser Concurrenz der Bauergemeinden die Richter für das flache
Land, während die städtischen Richter von den Magistraten angestellt werden.
Nach den Prinzipien modernen Staatsrechts gebührt das Recht zur Richterer-
mnnung allein dem Staat und müssen dieselben Gerichte für alle Staatsglieder
ohne Unterschied des Standes competent sein. Zum Opfer jener ständischen
Gerichte und zur Herstellung allgemeiner Bezirksgerichte war man auch in den
Ostseeprovinzen bereit, — alle Parteien aber wünschten das Recht zur Richter¬
wahl der Bevölkerung zu erhalten, um das La»d gegen den Eindrang fremder,
mit den örtlichen Verhältnissen unbekannter oder denselben feindlicher Beamten
zu schützen. War es aber wahrscheinlich, daß die Regierung diesen Wünschen
Rechnung tragen würde? Hatten die Conservativen ganz Unrecht, wenn sie
behaupteten, sobald der Adel auf sein Privilegium zur Richterwahl verzichte
und dasselbe mit den übrigen Ständen zu theilen Miene mache, werde der
Staat als sein Erbe eintreten, da von einem allgemeinen Wahlrecht der Lan-
desbewohner nichts in den Privilegien und Tractaten zu finden sei. Und selbst
wenn das nicht geschähe — in welcher Weise sollte das allgemeine Wahlrecht
getheilt und ausgeübt werden? Sollte der Bauer, der besondere Schützling
der Regierung, an demselben Theil nehmen? Wenn er früher seine Gemeinde¬
richter und die Assessoren der Kreisgcrichte gewählt hatte, so war das leicht zu
bewerkstelligen gewesen. Wie aber sollten 900.000 Bauern darüber consultirt wer¬
den, wen sie zum Präsidenten oder Assessor des Hofgerichts wünschten? Bei dem
Mangel eines gemeinsamen ständischen Organs (auf dem livländischen Landtage ist
neben der Ritterschaft nur die Stadt Riga vertreten) hätte es selbst mit einem
von Edelleuten und städtischen Bürgern gemeinsam exerzirtcn Wahlrecht große
Schwierigkeiten gehabt. — Aehnlich stand es aus einer Anzahl anderer Gebiete.
Die Regierung hatte die Einführung von Schwurgerichten gewünscht und Alles,
was in Liv-, Est- und Kurland darauf Anspruch machte, „liberal" zu sein,
glaubte sich für diesen Vorschlag begeistern zu müssen. Aber in welcher Sprache
sollten diese Gerichte verhandeln? Die Ausschließung aller derjenigen, welche
des Deutschen nicht mählig sind, hätte die Regierung niemals bewilligt. — aus
Rücksicht auf die lettischen und chemischen Geschwornen in der Sprache dieser zu
verhandeln, war wegen der Armuth dieser Idiome geradezu unmöglich, — die
von Moskau her empfohlene Einführung der russischen Gerichtssprache stieß
selbstverständlich auf allgemeinen Widerspruch. — Als in Riga von einer zeit¬
gemäßen Umgestaltung der Stadtverfassung die Rede war. verlangte die Most.
Ztg. sogleich, daß die Herrschaft des deutschen Elements und der deutschen
Sprache gebrochen und der rigaer Commune kein größeres M<iß von Selbst¬
verwaltung gelassen werde, als den russischen Städten. Bei der Jugend der
russischen Städteentwickelung wäre die Erfüllung dieser Forderung für die bal¬
tischen Städte ein Rückschritt gewesen, der alle Vortheile, welche man sich von
der Reform versprach, paralysirt hätte. Seit nahezu zwei Jahren liegt das
Projekt einer neuen rigaer Verfassung vor, ohne daß die Bestätigung derselben
seitens der Regierung erfolgt wäre; der Minister des Innern hält es für noth¬
wendig, zunächst die Bestätigung des Entwurfs für eine neue allgemeine russi¬
sche Städteordnung abzuwarten.
Diese Beispiele werden genügen, um eine Vorstellung von den innern und
äußern Schwierigkeiten zu ermöglichen, mit welchen die baltischen Reformver¬
suche der letzten Jahre zu kämpfen hatten. Aber noch ehe dieselben zu einem
auch nur vorläufigen Abschluß gediehen, war der Zeitpunkt für eine Neugestal¬
tung im liberalen und zugleich deutsch-conservativen Sinne für die Ostseepro¬
vinzen längst verpaßt. Die liberale und humane Strömung, welche die ersten
Reqierungsjahre 'Alexanders II. begleitet hatte, war zufolge des unseligen pol-
nisch-litthauischen Aufstandes vom Jahre 1863 in einen exclusiv-nationalen Fa¬
natismus umgeschlagen, der nur Ein Ziel kannte: die Vernichtung alles nicht
russischen Lebens in den westlichen Grenzprovinzen und die Herstellung eines
einheitlichen, national-russischen Bauernstaats. Schon zur Zeit der Aufhebung
der Leibeigenschaft hatte die Lehre von der weltcrlvscnden Kraft des russischen
Gemeindebesitzes, der berufen sei. an die Stelle des persönlichen Grundeigen¬
thums zu treten und dadurch die sociale Frage zu lösen, eine bedeutende Rolle
gespielt. Als die Regierung im Jahre 1863 zur Bekämpfung des polnisch-
litthauischen Aufstandes, der vorzüglich von Edelleuten und katholischen Geist¬
lichen geleitet worden war, zu einer radicalen Umgestaltung der bäuerlichen
Verhältnisse in Litthauen und Polen schritt, um das Landvolk durch Aufhebung
aller auf ihm ruhenden Lasten in das russische Interesse zu ziehen, hatte die
Demokratie ihr Evangelium vom Gemeindebesitz neu hervorgeholt,
Die Demokratie hielt es hiernach für ihre providentielle Aufgabe, wie
allenthalben so auch in Litthauen und Polen das aristokratische westeuro¬
päische Element zu vernichten und mit Hilfe des comnunnstischen Gemeinde«
besitze« alles politische Gewicht in die ländliche Bevölkerung zu verlegen und
diese zu russificiren. Rußlands Bestimmung sollte sein, auf diese Weise die
sociale Frage zu lösen und an der Hand dieser Losung die Welt zu erobern.
Im Namen dieses Prinzips wurde dem schwedischen Element in Finnland wie
dem deutschen in den Ostseeprinzen förmlich der Krieg erklärt; Letten und Ehlen
sollten die Herren Liv-, Est- und Kurlands werden, im Bunde mit ihnen hoffte
die russische Demokratie über die Trümmer der germanischen Kulturwelt ihren
Einzug zu halten; der Köder, mit welchem man das Landvolk für diese Pläne zu
gewinnen suchte, war das Versprechen allgemeiner Landvertheilung, nicht nur
an Pächter und selbständige Wirthschaftsuntcrnchmer, sondern auch an Knechte
und Tagelöhner, Alsbald begann in der Moskaner Presse ein förmlicher Kreuz¬
zug gegen Finnland und das Ostseegebiet, der trotz verschiedener Bemühungen
der Negierung, den Frieden wiederherzustellen, täglich größere Proportionen
annahm. Die demokratische „Moskwa" (das Organ der Panslawisten und Slawo-
philen) und die streng-nationale Most. Ztg. überboten einander an Verläum-
dungen und Verdächtigungen der baltischen Deutschen, die als separatistische
Reichsfeinde, Germauisatorcn und Gegner der griechisch-orthodoxen Kirche und
ihrer lettischen und estischen Bekenner verketzert wurden. Die Antworten und
Rechtfertigungen der baltischen Presse wurden todtgeschwiegen oder verdreht,
und da die nur für Moskau und Petersburg aufgehobene Präventivcensur in
Riga. Dorpat, Neval und Mitau fortbestand, war der Kampf von vornherein
ein höchst ungleicher. Im Mai 1864 mußte die Regierung den livländischen
Gcneralsuperintenden Bischof Dr. Walter entlassen, weil er durch eine Land¬
tagspredigt über die Rathsamkeit einer beschleunigten Germanisation der Letten
und Ehlen in der moskauer Presse einen Sturm erregt hatte, der das ganze
Reich mit fortzureißen drohte; im December desselben Jahres nahm der Gene-
ralgouvemeur der drei Provinzen, Baron Lieven, seinen Abschied, nachdem er
von der Most. Ztg. wegen des Maßes von Selbstbestimmung, welches er den
Ständen in Sachen der Justizreform eingeräumt hatte, empfindlich verdächtigt
worden war. Während Zehntausende keltischer und chemischer Konvertiten der
griechisch-orthodoxen Kirche vergeblich um die sehnlich gewünschte Erlaubniß zur
Rückkehr zum Lutherthum baten, fabelte die Most. Presse von der Unter¬
drückung der griechischen Kirche in Livland, und als die Regierung die Kon¬
fession der in gemischter Ehe erzeugten Kinder für die Bewohner der Ostsee¬
provinzen frei gab, sprach man in Moskau von einer Schädigung der heiligsten
Interessen Rußlands und seiner Kirche. Im Frühjahr 1867 wurde der grie¬
chisch-orthodoxe Erzbischof von Riga und Mitau an den Don versetzt, weil er
die lutherische Kirche in einem Hirtenbrief an die Glieder seiner Diöcese belei¬
digt und dadurch das ganze Land in Aufregung versetzt hatte; die moskauer
Demokraten ruhten nicht, bevor auch ein ausgezeichneter livländischer Geistlicher,
Propst Döbner. seines Amtes entsetzt worden war; dieser hatte in einer letti.
schen Kirchengeschichte den Bilderdienst getadelt und in durchaus maßvoller
Weise als Abweichung von den ursprünglichen Lehren des Christenthums
bezeichnet.
Vergebens war die Regierung bemüht, den Eifer zu zügeln und einer
billigen Auffassung der baltischen Zustände und Verhältnisse in der russischen
Presse Anerkennung zu verschaffen, vergebens bekundete sie ihre Abneigung gegen
gewaltsame Beeinträchtigung der lutherischen Kirche, — die einmal in Fluß ge¬
kommene, durch die Vorgänge in Litthauen beständig geschulte Bewegung der
Geister stürmte unaufhaltsam weiter und ließ sich weder Maß noch Ziel setzen.
Die Most. Zig. hatte zur Zeit des polnischen Aufstandes und der drohen¬
den westmächtlichen Intervention wichtige Dienste geleistet und zählte bis in
die höchsten Kreise hinauf zahlreiche und eifrige Anhänger und Verehrer, die
niedere Bureaukratie wurde von der nationalen Demokratie geradezu beherrscht,
die gemäßigten Staatsmänner, welche an der Spitze der Geschäfte standen, wo«
ren isolirt und mußten mit den vorhandenen Factoren rechnen, um sich über¬
haupt halten zu können. Die einzelnen Versuche zu einer heilsamen Reak¬
tion im Sinn der Mäßigung und Humanität, weiche namentlich nach dem Ka.
rakasowschen Attentat auf die Person des Kaisers stattfanden und durch die
Thatsache weitverbreiteter socialistischer Umtriebe in der Jugend vollkommen
motivirt waren, konnten wohl weiteren Excessen vorbeugen, den Sitz des Uebels
aber trafen sie nicht.
Dieses ist noch gegenwärtig die Lage der Dinge. Eine richtige Auffassung
der neuesten Vorgänge in den Ostseeprovinzen ist allein möglich, wenn die¬
selben unter dem Gesichtspunkt der Pression betrachtet werden, welche die
national-demokratische Partei thatsächlich auf alle Kreise der russischen Gesell¬
schaft ausübt, um alles nicht specifisch-russische Leben in den Grenzprovinzen
des Reichs zu vernichten. — Die brennende Frage, um welche es sich gegen¬
wärtig handelt, ist bekanntlich die Geschäftssprache in den Staatsbehörden Liv-,
Est- und Kurlands; diese sollen auf Grund eines im I. 18ö0 erlassenen, aber
später als „unausführbar" sistirten Befehls alle Verhandlungen russisch führen
und blos in dieser Sprache correspondiren, während das deutsche Idiom in
den ständischen Behörden und Gerichten zunächst noch unangetastet bleiben soll.
Man würde sich aber vollständig betrügen, wollte man glauben, die Na¬
tionalpartei habe keine weitergehenden Absichten und sei zufrieden gestellt,
wenn die Gouvernementsregierungen, Cameral- und Domänenhöfe zu Riga,
Mitau und Reval fortan blos russische Papiere in die Welt sendeten. Für die
Ostseeprovinzen wäre die Durchführung dieser einen Maßregel allerdings schon
ein schwerer Schlag; ganz abgesehen von den weiteren Konsequenzen wäre die
Durchbrechung der Einheit der baltischen Geschäftssprache identisch mit einer man¬
gelhaften, blos äußerlichen Behandlung der wichtigsten Angelegenheiten, mit einer
in alle Zweige des öffentlichen Lebens eingreifenden empfindlichen Störung des
geschäftlichen Verkehrs und mit der Anstellung zahlreicher, den wahren Bedürfnissen
des Landes fremder Beamten — die Nationalpartei aber sieht die Wiederauf-
rührung des Ukases von 1850 nur als den Vorläufer eines ganz neuen Systems
an, dessen Dringlichkeit von ihr schon seit Jahren gepredigt wird. Dieses
System ist von den Publicisten Mostaus und Petersburgs so oft und so ausführ-
Uch behandelt werden, daß es Jedem, der mit den Verhältnissen irgend ver¬
traut ist, in allen Einzelheiten klar ist. Es handelt sich um nichts mehr und
nichts weniger, als die Adoptation derselben Maßregeln, mit denen nach Nie¬
derschlagung des Aufstandes von 1863 in Polen und Litthauen vorgegangen
worden ist.
Vor Allem wird es auf radicale Umgestaltung der Agrarverhältnisse ab¬
gesehen. Ohne Rücksicht darauf, daß bereits ein beträchtlicher Theil der Bauer-
Höfe >n Liv-. Est- und Kurland zufolge freier Vereinbarung und mit Hilfe
besonderer Banken in bäuerliches Eigenthum übergegangen ist, daß der Zeitpunkt
für eine gewaltsame Umsetzung aller Pachter in Eigenthum der Pächter längst
vorüber ist und bei der allgemeinen Verschuldung der Rittergüter (einer Folge
des plötzlichen Uebergangs von der Naiural- zur Geldwirth>abäst) nur um den
Preis des materiellen Ruins aller Eapllalisten mögltch wäre — soll nach lithaui¬
schen Muster eingegriffen und alles von Bauern besessene Land sofort in bäuer¬
liches Eigenthum umgewandelt werden. Dabei will der Fanatismus der moskauer
Radicalen aber keineswegs stehen bleiben; den Anhängern des Gemeindebesitzes,
ist es ein Gräuel, daß ein U»terschied zwischen Bauerwirthen und Knechten be¬
steht; da ihrer Anschauung nach Alle den gleichen Anspruch auf die Mutter
Erde besitzen, müssen die großen geschlossenen Bauerhöfe gesprengt und in klei¬
nen Parcellen unter das Proletariat vertheilt werde». Nicht undeutlich läßt
man dabei durchsehen, daß es am geeignetsten wäre, die Theilnahme an diesen
großmüthigen Dotationen von dem Uebertritt der Dotirten zur griech.-vrih.
Kirche abhängig zu machen. Mit besonderem Eifer wirb die Regierung gedrängt,
wenigstens auf ihren (namentlich in Kurland außerordentlich zahlreichen) Do¬
mänengütern in der angegebenen Weise vorzugehen und dadurch in den stutus
puo der baltischen Agrarverhältnisse Bresche zu schießen. Diese Revolution
soll die Grundlage deS neuen Systems bilden. Um Letten und Ehlen aber zu¬
gleich auf geistigem Gebiet zu isoliren und von deutschem Einfluß loszumachen, ver¬
langen die Katkow, Aksakow u. A. die vollständige Beseitigung des deutschen Schul¬
wesens. Hand in Hand mit einer kleinen Partei keltischer Journalisten wird sü'r
die Idee einer der slavisch-russischen verwandten selbständigen lettischen Cultur ge¬
schwärmt; die Unterrichtssprache in den baltischen Gymnasien soll nicht das
Deutsche sein, der gebildete Leite oder Este nicht mehr zum Deutschen werden
— im Bunde mit den Nüssen sollen sich die Urbewohner der Ostseeküste eman-
cipiren und zu einer eignen Civilisation aufschwingen. Um den Klagen über
den gänzlichen Mangel russischer Unterrichtsanstalten in den Ostseeprovinzen ein
Ende zu machen, wurde neuerdings die Begründung eines besonderen russischen
Gymnasiums zu Riga angeordnet; diese Maßregel ist in Moskau höchst un¬
günstig aufgenommen worden — denn nicht auf die Schöpfung russischer, son¬
dern aus die Vernichtung deutscher Schulanstalten ist es abgesehen. „Die Deutschen
in Liv-, Est- und Kurland", so heißt es. „spielen dieselbe Rolle, wie die Polen
in Litthauen. Sie müssen beseitigt werben, weil sie eine selbständige aristokra¬
tische Cultur repräsentiren und die Letten und Ehlen in diese hineinziehen.
Des demokratischen Rußland Aufgabe ist, mit Hilfe des Gemeindebesitzes auch
hier die herrschende Klasse zu stürzen und eine neue demokratische und specifisch
russische Ordnung der Dinge zu begründen." — Je nach ihrem wahren Werth
und ihrer Bedeutung für das deutsche Element an der Ostsee werbe» die ver¬
schiedenen Institutionen desselben angefeindet und verketzert; während die Most.
Ztg. (die erst seit der polnischen Frage mit den Demokraten gemeinsame Sache
macht und auch bezüglich des Gemeindebesitzes von der Siawophilcntheorie ab¬
weichende Ansichten hat, sich aber mit viel Geschick der herrschenden Strömung,
insoweit diese von ihr unabhängig ist. zu accomodiren weiß) von den specifi¬
schen Adclsprivilcgicu mit gewisser Zurückhaltung spricht und die Abschaffung
feudaler Ungeheuerlichkeiten (wie z. B. des adligen Güterbesitzrechtö) nur un¬
gern gesehen hat. verfolgt sie alle diejenigen Einrichtungen, welche dem gesamm-
ten Lande zu Gute kommen u»d für Nesriltatc der deutschen Entwicklung im
modernen Sinne gelten können, mit entschiedener, unerbittlicher Feindschaft, —
nichts aber so erbittert, wie die dorpatcr Universität. Die russische Demokratie
sieht diese Hochschule mit Recht als die festeste Burg der deutschen Bildung
nud des Protestantismus an und scheut darum kein Mittel, um dieselbe schlei¬
fen oder doch in eine Nnssisicalionsanstalt verwandeln zu lassen. Genau ebenso
verhält es sich mit der lutherischen Kirche in den Ostseeprovinzen. scheut man
sich auch im Jahrhundert der Toleranz und Aufklärung. Dragonaden im Stil
Ludwigs XIV. zu verlangen, so fehlt es doch nicht an versteckten und verkapp¬
ten Angriffen gegen ihren Fortbestand und ihre Freiheit. Unbekümmert um
die offenkundige Thatsache, daß die griechisch-orthodoxen Letten und Ehlen nichts
sehnlicher wünschen, als von dem Zwang, der sie an diese Gemeinschaft bindet,
frei zu werden, verkündet man mit kecker Stirn, die griechische Kirche in Liv-
land werde aufs schwerste bedrückt und von dem Fanatismus lutherischer
Geistlichen bedrängt; im Interesse des Reichs sei es nothwendig, die politische
Bedeutung dieses Instituts zu brechen und den baltischen Protestantismus in
die Stellung einer geduldeten Konfession herabzudrücken, deren Ausübung wohl
privatim gestattet werden könne, die aber zu keiner selbständigen Existenz berechtigt
sei. Zur Erreichung dieses Zwecks bedienen die moskauer Journale sich eines
ziemlich geschickten Manövers; sie befördern verschiedene Sekten, welche neuer¬
dings namentlich in Kurland aufgetaucht sind; mit besonderer Vorliebe werden
die aus Preußen eingedrungenen Baptisten gehegt und gepflegt und in ihren
propagandistischen Bestrebungen begünstigt. „Eine Ketzerei ist der andern werth!
Die Baptisten sind nicht besser als die Lutheraner — warum sollen die einen an
der Verbreitung ihrer „unschuldigen" Lehren gehindert werden, während die anderen
ihre Dogmen zur Landesreligion zu machen bemüht sind!" Argumente dieser
Art werden mit rücksichtslosem, ja absichtlich zur Schau getragenem Cynismus
täglich wiederholt, häufig um in deutsche „liberale" Journale überzugehen, die
dann gemeinsam mit den „Pionieren der Rechtgläubigkeit" für die Glaubens¬
freiheit der Baptisten schwärmen und sittlich entrüstet über den angeblichen
Zelotismus der lutherischen „Pfaffen" Kurlands schimpfen,
Daß neben russischer Religion und Agrargesetzgebung endlich auch die
rücksichtslose Einführung der russischen Geschäftssprache in alle baltischen Ver¬
waltungsstellen und Gerichte verlangt wird, ist nur die naturgemäße Konsequenz
dieses Systems, welches im Namen „zeitgemäßen Fortschritts und allgemeiner
Freiheit und Gleichheit" die Vernichtung alles organischen Lebens in einem
Lande anstrebt, das seit sieben Jahrhunderten gewohnt ist, die deutsch-protestan¬
tische Kultur als die natürliche Grundlage seiner Entwicklung anzusehen. Und
diese ihre Forderungen und Wünsche spricht die russische Demokratie so offen
und naiv aus, als seien dieselben etwas Selbstverständliches. Als handele es sich
um nichts mehr als die Ausführung eines neuen Reglements, wird ein plötzlicher
und vollständiger Bruch mit der Geschichte auf allen Gebieten baltischen Lebens
verlangt; alle Errungenschaften der Vergangenheit sollen der Negicrungsunifor-
mität zu Liebe gestrichen, alle gegebenen Verhältnisse auf den Kopf gestellt wer¬
den. In rein mechanischer Weise wird ausgerechnet, daß es in Liv-, Est- und
Kurland mehr Letten und Ehlen als Deutsche gibt, und daraus der Schluß ge¬
zogen, daß die Ersteren berufen seien, die Stellung einzunehmen, welche die
Letzteren bisher behauptet. Das deutsche Element, welches der Träger der
gesammten Kulturarbeit an der Ostsee gewesen ist, aus einer unwirthbaren
Wüstenei ein civilisirtes Land, aus den heidnischen Jägern und Fischern der
Ostseeküste Protestanten und gebildete Menschen gemacht, das den Stempel
seiner Nationalität allen den Einrichtungen aufgeprägt hat, welche die Be¬
wohner dieser Küste zusammenhalten — es wird aus Grund einer Theorie, die
erst zur Zeit des polnischen Aufstandes aufgestellt ist und selbst an der Stätte
ihrer Aufstellung absolut keine Früchte gezogen hat, mit einem Mal als frein-
der, vollständig unberechtigter Eindringling behandelt, von dem man kaum weiß,
wo er her ist, was er will und wie er heißt. Während die russische Presse,
wenn sie vor dem Jahre 1863 gegen den baltischen Provinzialstaat zu Felde
zog, sich der liberalen Phrase als eines schützenden Feigenblattes bediente und
unermüdlich versicherte, es handele sich keineswegs darum, russificatorisch vorzu¬
gehen, das baltisch-deutsche Leben habe nur durch die Abwendung von den Zeit¬
ideen sein Existenzrecht verwirkt, macht die Demokratie von heute kein Hehl
mehr daraus, daß ihre Feindschaft nicht auf demokratischen, sondern auf natio¬
nalen Instinkten beruhe, ja das Hauptargumcnt, welches die Most. Ztg. bei
ihren Kreuzzugspredigtcn geltend macht, ist gerade der Satz, daß die baltischen
Deutschen Miene machten, durch Adoption einer freisinnigen Provinzialpolitik
unbesiegbar zu werden und daß ihrem Treiben ein Ende gemacht werden müsse,
noch bevor sie ihre alten aristokratischen Vorurtheile aufgegeben.
Wie lange die Ostseeprovinzen dieser bereits mehrere Jahre dauernden Be¬
lagerung durch die demokratische Nationalpartei Stand halten werden, läßt sich
um so weniger absehen, als sie in diesen Kampf getreten sind, ehe es ihnen
möglich gewesen, eine Reform von Innen heraus an sich vorzunehmen und durch
diese ihre Kräfte zu verdoppeln. Die gegenwärtige Verfassung des Ostseege¬
biets bietet den Gegnern in der That zahlreiche Angriffspunkte; da der Angriff
aber längst beschlossen war und seinen eigentlichen Grund in der Beschaffen¬
heit des Parteiprogramms hat, welches die russische Gesellschaft beherrscht,
kommen die Mängel der baltischen Zustände eigentlich nur in Betracht, inso¬
weit sie den Angegriffenen die Vertheidigung erschweren; für nasus delli können
sie seit lange nicht mehr gelten, und es ist ein Wahn, wenn man glaubt, die
Liv-, Est- und Kurländer könnten ihre Feinde durch energische Reformarbeit
entwaffnen. Auf dem Reformeiser der baltischen Liberalen lastet schon seit lange
das lähmende Bewußtsein, daß — geschehe was da wolle — die Zufriedenheit der
die russische öffentliche Meinung beherrschenden Partei niemals erzielt werden
könne, so lange nicht principieller Verzicht auf die deutsch-protestantischen Tra¬
ditionen des Landes geleistet worden.
Mit dem Vorwand, es handele sich bei dem Vorgehen gegen die Ostsee-
Provinzen um liberale russische Nesonnwünsche, um die Ausdehnung moderner
Institutionen auf eine Burg des Mittelalters, wird heut zu Tage nur noch
die Einfalt radicaler deutscher Demokraten geködert. Von der Mehrzahl der
Institutionen, die Jungrußland auf baltisch-deutsche Erde verpflanzen will, läßt
sich geradezu nachweisen, daß sie den zu reformirenden Ländern keinen wirk-
lichen Fortschritt bringen würden. Europäisch gebildeten Lesern zu beweisen,
daß das altrussische Institut des Gcmeindeeigenthums und der Aushebung des
Persönlichen Besitzes am Grund und Boden identisch ist mit der Vernichtung
aller rationellen Landwirthschaft und alles Productionseifers, dürste überflüssig
sein; nichts destoweniger ist die Aufrechthaltung und weitere Verbreitung dieser
„neuen Formel der Civilisation" eins der Hauptziele der moskauer nationalen,
die den Liv-, Est- und Kurländern keinen schlimmeren Vorwurf zu machen
wissen, als den, daß es in ihrer Heimat „lautlose" Leute gebe. Ebenso über¬
flüssig erscheint es, die Vorzüge des Protestantismus vor der griech. orth.
Kirche und der s. g. „byzantinischen Cultur" ausdrücklich zu erörtern: die That¬
sache, daß es in den Ostseeprovinzen ein vortrefflich organisirtes, von der tuts.
Geistlichkeit geleitetes Nolksschulwesen gieb tund daß die griechischen Priester weder
im Innern des Reichs noch in Livland Schulen ins Leben zu rufen in Stande
waren, genügt statt aller übrigen Argumente. Anders steht es allerdings be¬
züglich der modernen russischen Justiz und Provinzialverfassung, die theoretisch
vieles vor den entsprechenden baltischen Instituten voraus hat. Aber auch hier
wäre eine Reform nach russischer Schablone vom Uebel. Die russische Gouver-
nemcntslcmdschaft vereinigt allerdings alle Stände zur Berathung der Provin-
zialinteressen, während diesseit des Peipussees allein der Adel und die Stadt
Riga auf den Landtagen vertreten sind, — aber der Competcnzkreis und das
Selbstbestimmuncssrecht der russischen Landschaft sind so beschränkt, daß ihre
Einführung für Liv-, Est- und Kurland mit einem Verzicht auf die Selbstver¬
waltung beinahe gleichbedeutend wäre. Dazu kommt, daß nach dem Land-
schaftostatut alle Macht in den Händen des numerisch am stärksten vertretenen
Bauernstandes ruht, die gebildeten Classen von diesem niedergehalten werden
und aus diesem Grunde die Bureaukratie allenthalben als die entscheidende
Scbiedsricbterin eintritt. In der russischen Presse herrscht nur eine Stimme
darüber, daß die überwiegende Mehrzahl der russischen Gouvernementsland-
schaficn (Moskau und Petersburg, die vollständig vom Adel beherrscht werden,
allein ausgenommen) so gut wie nichts geleistet hat: die Masse der ungebildeten
Deputirten sieht theilnahmlos dem Treiben einzelner „kaiseurs" zu. die sich
hoch bezahlte Posten in den landschaftlichen Verwaltungsausschüssen sichern
und die Zeit mit unfruchtbare» Discussionen todten. Die Freiheit hat aus
verschiedenen Culturstufen verschiedene Formen; wo die Massen höherer Bildung
noch nicht theilhaft sind, behauptet die Aristokratie der Gebildeten ein ange¬
borenes Recht, und wird künstlich die Gleichberechtigung aller erzwungen, so
herrscht thatsächlich die gleiche Unfreiheit d. h. Abhängkeit von der Bureau¬
kratie für alle. Daß die Liv-, Est- und Kurländer aber lieber von ihren Aristo¬
kraten als von uniformirten Sendungen der moskauer Demokratie abhängig
sind, daß sie sich davor scheuen, die erst auf dem Wege zur Bildung begriffenen
Letten und Ehlen sofort zur eigentlich regierenden Classe zu machen, das hat
seinen guten, aus tausendfachen Erfahrungen gewonnenen Grund. Sobald
aber von der bedingungslosen Ausdehnung modern-russischer Institute abgesehen
wird, stößt jedes baltische Neformbcstreben aus unendliche Schwierigkeiten;
denn die Nationalpartei will nicht, daß (wie die Most. Zeit, sehr richtig for.
mulirt) „die dem baltischen Adel zustehenden deutsch-autonomen Vorrechte und
Privilegien auf alle Stände, geschweige denn die Nickt-deutschen ausgedehnt
werden; das wäre mit vollständiger Germanisation gleichbedeutend".
Kaum anders steht es, (wie bereits oben gesagt wurde) mit der Reform
der ständisch zerklüfteten Justiz des Ostseelandes. Bezüglich des materiellen
Rechts ist vor allem daran zu erinnern, daß dieses auf ausschließlich deutscher
Grundlage ruht, mithin niemals von anderen als deutschen oder doch deutsch¬
gebildeten Richtern und Juristen gesprochen und ausgelegt werden kann. In
den Ostseeprovinzen, deren höchste (dritte) Appelationsinstcinz der Petersburger
Senat ist. weiß man seit lange, was es heißt, wenn von Richtern, die nichts
vom gemeinen Recht und vom Sachsenspiegel wissen, nach livländischen Land¬
recht geurtheilt wird, wenn ohne Kenntniß vom Wesen der Verbandlungs-
mcixime und dem Unterschiede peremptorischer und dilatorischer Einreden com-
Plicirte Civilprocesse entschieden werden. Ist es da zu verwundern, wenn die
Ostseeprovinzen von einer Reform der Rechtspflege vor allem verlangen, daß
sie ihnen Richter sichere, welche des heimischen Rechts und der beimischen Sprache
wndig sind? Hätte es irgend Sinn und Verstand, wenn man Kalamitäten, die sich
in der dritten Instanz allenfalls ertragen lassen. Thür und Thor in alle drei Instan-
zen öffnete? Oder soll man, um zu einer besseren Proceß- und Gerichtsordnung
zu gelangen, auf das bestehende materielle Recht verzichten und das voi-pus .juris
gegen „Swod Sakonow" austauschen? Und das geschähe thatsächlich, wenn die bal¬
tischen Stände das Recht auf die Wahl ihrer Richter freiwillig, der bloßen
Theorie zu Liebe aus den Händen geben wollten.
Stellen sich somit Schwierigkeiten der ernstesten Art allen, auch den best¬
gemeinten Neformvecsuchen der deutschen Stände des Ostseelandes entgegen,
so ist das Beharren bei den überkommenen Zuständen trotz alledem nur
noch kurze Zeit lang möglich. Daß es in einem civilisirten Lande dreierlei
Arten von Gerichten giebt, adlige, städtische und bäuerliche, daß die wichtigsten
Richterposten so ausschließlich Gliedern eines Standes ertheilt werden, daß
die Frage nach gehöriger wissenschaftlicher Qualification eine secundäre Rolle
spielt, daß die wichtigsten Factoren des politischen Lebens auf den Landtagen
unvertreten bleiben, daß ferner die Zugehörigkeit zur Adelsbank die Bedingung
zu jeder politischen Laufbahn bildet, daß die Städte ohne jede Beziehung zum
flachen Lande, gleichsam Staaten im Staate sind. — das ist nur als Anomalie
und auch als solche nur so lang möglich, als es noch wie in dem gegenwär¬
tigen Augenblick heißt: Link, ut hart,, aut non sint. Auf die Dauer käme.
solcher Zustand der Dinge dem Tode durch Selbsterstickung gleich. Wie
aber geholfen werden soll, so lange jede gesunde und natürliche Entwickelung
unterbunden bleibt, das weiß Niemand zu sagen. Ein naturgemäßer Fort-
schritt ist in den Ostseeprovinzen nur im Bunde mit dem deutschen Element
möglich, jeder andere Weg führt unfehlbar zur Barbarei. In einem aristokra¬
tischen Lande, dessen Bildung Jahrhunderte lang von einer Schicht der Be¬
völkerung getragen wurde, schließen sich alle tüchtigen und wirklich strebsamen
Kräfte dieser an. Die Opposition gegen ihre Herrschaft fällt zusammen mit
der Oppsition gegen die Bildung, mit welcher sie sich ein Mal identificirt hat;
soll die natürliche Entwickelung ihren Verlauf nehmen und zum Ziel gelangen,
so kann das nur dadurch geschehen, daß alle Bewohner des Landes schließlich
zur herrschenden Classe gehören und in diese aufgehen. Der umgekehrte Ver¬
lauf, — im vorliegenden Fall der, den die russische Demokratie verlangt, —
würde zu einem Bildungsrückschritt, zum Herabsinken auf eine niedere Stufe
führen. Wenn die moskauer nationalen des Glaubens sind, mit ihrer Hilfe
werde es gelingen, die Letten und Ehlen sofort zu einer höheren, das deutsche
Niveau überragenden Bildungsstufe zu führen, so bewegen sie sich in einem
Irrthum der gröbsten Art. Weder kommt die Cultur des inneren Rußlands
der der Ostseeprovinzen gleich, noch besitzt Rußland das Maß an überschüssigen
Vildungskräften, das erforderlich wäre, um das deutsche Arbeitsfeld am riga¬
ischen und finnischen Meerbusen zu überfluthen. Die Arbeit, welche die Deut-
schen in Liv-, Est- und Kurland nicht thun, bleibt überhaupt umgethan — schon
ihren passiven Widerstand zu brechen, müßten russische Kräfte aufgeboten werden,
die in ihrer Heimat besser verwerthet würden und welche kaum aufzubringen
wären. Wo sollten gar die Mittel herkommen, um das Zerstörte neu aufzubauen
und den Ausfall an vorgethaner Arbeit zu ersetzen, der durch die Vernichtung siebcn-
bundertjährigcr Thätigkeit nothwendig entstünde? Gerade derjenige Stand, auf
den es hauptsächlich ankäme, der gebildete Mittelstand fehlt in Rußland noch
immer — Hunderte russischer Lehrstühle in Gymnasien und Universitäten, Volks¬
schulen und Fachanstalten stehen Jahr aus und Jahr ein leer, — wer soll die Hun¬
derte lutherischer Prediger und Cantoren, die Gelehrten, Techniker und Geschäfts¬
leute ersetzen, welche in Liv-, Est- und Kurland wirken? Sollen diese aufhören, aus
dem Quell deutscher Bildung zu schöpfen, in deutschem Geist zu wirken und
durch die überschüssigen Kräfte, die das Mutterland noch täglich seiner vergesse¬
nen Colonie spendet, regenerirt zu werden, so hören sie auf zu sein, was sie
waren, sind sie um das beste Theil ihrer Arbeits-Macht und Lust gebracht.
Die idealen Triebfedern, welche den Menschen zur Anspannung seiner
Kräfte begeistern und ihm die Fähigkeit verleihen, über die Grenze dessen, was er
zur gegebenen Zeit vermag, rastlos hinauszustrebcn, sie lassen sich nicht will¬
kürlich wie Triebräder einer Maschine ausnehmen und durch neue ersetzen. Ein
Stamm, der durch nahezu ein Jahrtausend in deutschem Geiste thätig gewesen
ist. vermag nicht, auch wenn er wollen konnte, im Handumdrchn ein anderer
zu werden und seine alten Ideale mit slawisch-byzantinischen zu vertauschen.
Man kann ihm die Freude an seiner Wirksamkeit verkümmern, man kann ihn
hindern, zu wachsen und zu erstarken, aber es ist unmöglich, ihn wie einen
Baum umzupflanzen oder durch gewaltsame Pfropsung zum Hervorbringen einer
neuen Fmchtgattung zu zwingen. Handelt es sich gar darum, dieses Experi-
ment an einem ganzen Völkerwalde vorzunehmen, zu gleicher Zeit aus finn-
ländischen Schweden, deutschen Liv-, Est- und Kurländern und lithauischen
Polen Russen zu machen, einen ganzen Höhenzug aristokratischer Bildung zu
nivelliren, so erscheint ein solches Unternehmen als reine Don-Quixoterie, die
sich früh oder spät an ihren Urhebern empfindlich rächen muß.
Ob diese Nemesis dereinst wirklich zu ihrem Recht gelangt, ist für die balti-
schen Provinzen Rußlands, wenn sie diesen Tag nicht noch bei lebendigemMbe
erleben, gleichgiltig — sie sind vcrmtheilt, stille zu halten und über sich ergehen
zu lassen, was zur Zeit unabwendbar erscheint; ohne Aussicht auf Erfolg zu
streiten, ist zu allen Zeiten ihr Loos gewesen. Die blutige Geschichte, welche
hinter ihnen liegt, hat sie gelehrt, mit unverwüstlicher Zähigkeit auszuhalten
und den passiven Widerstand zum Rang eines selbständigen politischen Systems zu
erheben, aber den Sieg vermag derselbe ihnen nicht zu sichern. In den Augen
des deutschen Volkes seit drei Jahrhunderten „versunken und vergessen", wird
diese nordische Colonie, wenn sie zu Grunde geht, die Gewißheit ins Grab
nehmen, daß ihr Ausscheiden gerade von den nächsten Blutsfreunden am wenig¬
sten bemerkt worden ist. Gerade darum kann sie aber eines verlangen: daß
diejenigen, die bei ihrem Leben nichts nach ihr gefragt haben, sie auch nicht
schmähen und verlästern, wo sichs für sie um Leben und Sterben handelt. Das
geschieht aber, wenn die verbrauchten Phrasen von unverbesserlicher deutscher
Feudalwirthschaft, erbarmungsloser Tyrannei gegen unterworfene Sklaven, blin¬
dem Sträuben gegen die Wohlthaten der vorgeschritteneren russischen Demokratie :c.
Periodisch in der deutschen Presse wiedeckehren und von denen am häufigsten
wiederholt werden, welche von der harten Arbeit der deutschen Pioniere im
baltischen Norden am wenigsten wissen. Die Schuld, welche auf den Enkeln
der Eroberer dieses Strandes lastet, haben dieselbe schwer genug gebüßt und
an Versuchen zu ihrer Sühnung hat es niemals, am wenigsten in den letzten
Jahren gefehlt — der beträchtliche Schuldanthcil, welchen das gesammte deutsche
Volk auf sich lud, als es seine Söhne in die Ferne sandte, um dieselben dann
sich selbst und der Nothwendigkeit einer Selbsterhaltung um jeden Preis, auch
den der Zwinghcnschaft über die Urbewohner, zu überlassen, er wird sich dereinst viel¬
leicht dadurch strafen, daß man auch in Deutschland, wenn es zu spät ist, ein¬
sehen lernt, daß die untergegangene Colonie auch für das Mutterland nicht
ganz ohne Nutzen gewesen sei. Des versprengten Postens am Ostseestrande sich
Zu schämen hat das deutsche Volk niemals ein Recht und wenigstens in der
Gegenwart nicht Grund gehabt, als Männer haben die deutschen Beherrscher
Liv-, Est- und Kurlands sich jederzeit bewährt, und wenn es mit ihnen wirk¬
lich einmal vorbei ist, auf die Achtung ihrer Gegner werden sie sicherlich Anspruch
haben. Rußland selbst wird dann gestehen müssen, es habe an dem deut¬
schen Element an der Ostsee einen tüchtigen und kernigen Stamm besessen,
dessen Verlust schwerer wiegt, als die Thorheit derer, welche ihn verschuldeten,
einzusehen im Stande war.
Das zweite Panzerschiff Preußens nächst dem Arminius, den wir in
Ur. 47 beschrieben, ebenfalls ein Fahrzeug für den Küstenschutz, der „Prinz
Adalbert" (früher „Cheops"), ein Casematten-Thurmschiff mit 3 schweren Ge¬
schützen, 300 Pferdekraft und 686 Tons Gehalt,*) ist — wie sonst alle fran¬
zösischen, die östreichischen und auch ein Theil der englischen Panzerschiffe —
von Holz gebaut, mit Holz-Spanten (-Nippen) und-Planken, welche dann in
der Gegend der Wasserlinie mit Panzerplatten überkleidet sind. Er hat
überhaupt auffallend kleine Dimensionen, bei denen man kaum begreift, wie der
Erbauer ihn fähig machen konnte, einen Panzer von dem angegebenen Gewicht
zu tragen. Seine Proportionen sind nicht ganz so glücklich gewählt wie die des
„Arminius": er hat 154 Fuß Länge in der Wasserlinie (größte Länge 176
Fuß) und 317° Fuß Breite in der Wasserlinie (28 Fuß größte Breite auf Deck,
da die Wände einwärts neigen), sodaß sich seine Länge noch nicht auf das
Fünffache der Breite beläuft, ein Verhältniß, das natürlich dem Schiffe keine
sehr große Schnelligkeit gewährt. Auch der mittlere Tiefgang (14V-. Fuß —
vorn 14') ist über einen Fuß größer, als beim „Arminius", obwohl ihm des¬
halb die Fähigkeit nicht abgeht, in sämmtliche preußische Haupthafen ein¬
zulaufen.
Der kurze, gedrungene, für ein Panzerfahrzeug verhältnißmäßig hohe
Bau gibt ihm ein castellartiges Aussehn, ähnlich wie eine der früheren schwien-
mentem Batterien, ein Eindruck, der durch den schwärzlich grauen Anstrich der
hochragenden Masse noch gesteigert wird. Die Decklinie läuft nicht glatt dahin,
sondern ist durch die beiden Casemattenthürme und eine kleine Schanze unter¬
brochen: sein Bug schießt unten in einem langen Sporn vor wie bei den fran-
zösischen Panzerlinienschiffen, und das Heat, das mit vergoldetem Schnitzwerk
verziert ist. steigt in allseitiger, horizontaler wie verticaler Rundung voll und
hoch empor und bildet im Profil fast einen Viertelkreisbogen, dessen Scheitel
nach hinten abwärts gerichtet ist, wobei er Steuerruder und Schrauben deckt.
Unter Wasser nämlich theilt sich die Hintere Hälfte des Schiffs genau
so, wie wenn hier zwei Schiffe nebeneinander hart Bord an Bord lägen;
darüber erhebt sich ein einziger gemeinschaftlicher Oberbau, und auch unter
Wasser bildet der Rumpf nach vorn von dem Punkte ab, wo die beiden inneren
Bordwände des Doppelkörpers zusammentreffen, einen einzigen Körper mit
einem Bug. Die Idee einer solchen Zweitheilung ist nichts weniger als
neu, schon der ägyptische König Ptolemäus Philopator. ein eifriger Förderer
der Marine, der sich namentlich in der Ausführung absonderlicher Entwürfe
gefiel, hatte ein Schiff gebaut, das allerdings nicht blos hinten, sondern auch
vorn unter Wasser und oben in Bug und Heat aus zwei besonderen neben¬
einander liegenden Körpern bestand. Wenn der französische Schiffbauer Armand
neuerdings diese Idee wieder aufgenommen hat (und ebenso die Engländer in
der jetzt im Bau befindlichen Panzercorvette „Penelope"). so geschah es. weil
man damit den Vortheil erreichte, zwei Schrauben dicht an den Enden des
Schiffs anbringen zu können, sodaß ihre Schäfte bis zur Schraube selbst völlig
geschützt liegen, nicht aber exponirt sind wie bei gewöhnlichen Zwillingsschrauben¬
schiffen, wo die Schraubenschäfte auf jeder Seite des Hintersternes aus dem
Schiffe herauskommen und noch durch zwei Bügel zu stützen sind. — Den Vor¬
theil zweier Schrauben neben einander für leichtere Lenkbarkeit des Schiffs und
Verringerung des Tiefgangs haben wir schon früher bei Besprechung der Zwil-
lingsschraubenconstruction für unsere Avisos auseinandergesetzt. Auch der „Prinz
Adalbert" verdankt dieser Construction, daß er in noch nicht 4 Minuten sich
vollständig umdrehen kann, eine Bewegung, die bei einer einzelnen Schraube
viel länger dauert. nachtheilig hingegen dürfte es nach unserer Ansicht sein,
daß wegen der verdoppelten Fläche des Schiffskörpers die Krümmung der Linien
nicht so günstig ausfällt, wie bei einem einzigen Hinterschiff; die Reibung des
Wassers wächst, das Hinterschiff wird durch die Spaltung schwächer, und die
sich dazwischen eindrängenden Seen können den Bau sehr lockern. Indessen
bleiben die Ersahrungen in dieser Beziehung noch abzuwarten. Entsprechend
dem Doppelrumpfe besitzt das Schiff hinten 2 Kiele, 2 Hinterstcrne. 2 Schrau¬
ben und 2 Steuer, welche letzteren durch dasselbe Steuerreep gedreht werden,
genau wie die beiden Steuer der antiken Ruderkriegsschiffe.
Der Bug hat, wie wir schon sagten, die weit vorschießende französische
Widdersorm*). Auch am Deck fällt der Vorsteven, (vordere Kante des Schiffs)
nicht senkrecht nieder, um sich erst unten nach vorn auszuwölben, vielmehr
geht diese Kante sogleich schräg vorwärts und endigt dann in einem colossalen,
unter ganz spitzem Winkel ins Wasser gehenden massiven Sporn, wie die fran¬
zösischen Panzerlinienschiffe „Magenta" und „Solferino" ihn besitzen, und in
etwas anderer Form auch die neueren französischen Panzercorvetten vom Typus
„Alma". Da indessen diese schräge Form das Herauslaufen der durch den
Sporn aufgeworfenen Wellen am Bug sehr begünstigt, hatte sich bei allen
Fahrten des „Prinz Adalbert" der Uebelstand herausgestellt, daß das Wasser
in Strömen durch die Klüsen (Oeffnungen für die Ankerketten) in den Bug
hereinlief. Um dem abzuhelfen, ist man nun gegenwärtig beschäftigt, in Geeste-
münde. wo der „Prinz Adalbert" augenblicklich abgetakelt liegt, um den Bug
(wie als Hülse über den Klüsen) einen Vorbau anzusetzen, wie eine Console
von halbmondförmigen Horizontalschnitt, deren oberer Theil sich weiter nach
außen krümmt als der untere, also die auflaufenden Wellen zurückzuwerfen
geeignet ist. Das Fahrzeug, im Uebrigen ganz schwarzgrau angestrichen, hat
für den Augenblick durch diesen Wellenbrecher, der noch rois gefirnißt ist, mit
den beiden großen schwarzen Augen der Klüsen einen ganz seltsamen, an chinesi¬
sche Drachengesichter mahnenden Ausdruck erhalten.
Die durchschnittlich 4 Zoll starken Panzerplatten des Rumpfs schließen
nicht fest aneinander, sondern haben verkittete Fugen, angeblich um die Aus¬
dehnung des Eisens durch die Wärme in heißen Klimaten zu gestatten. Steht
man vor dem Schiff, so sieht man, wie die Panzerung den Körper derart deckt,
daß die unterste Plattenlage, in welche die Wasserlinie fällt, senkrecht steht,
aber die nächste nach innen geneigt ist, um durch die schräge Lage den Wider¬
stand gegen feindliche Geschosse zu vermehren. Auch weiter aufwärts setzt sich
die Schiffswand in derselben Neigung fort, aber mit einem Absatz, da dieser
obere Theil der Schiffswand nicht gepanzert oder nur mit schwachen Platten
belegt und somit bedeutend dünner ist, als der untere. Ueber Deck erheben
sich die Reilings, die Brüstung, etwa 4'/-- Fuß, also ziemlich hoch und an
den beiden Stellen, wo die Casemattenthürme stehn, fallen dieselben natürlich
mit den Wänden der letzteren zusammen, da diese Thürme die ganze Deckbreite
einnehmen.
Wie wir bereits gelegentlich der Beschreibung des „Arminius" auseinander
setzten, unterscheidet sich das Casemattensystem vom Breitseitensystem dadurch,
daß die Geschütze aus dem Oberdeck, nicht unter demselben aufgestellt sind;
von dem Thurm - und Kuppelsystem aber, das ebenfalls die letztere Eigenthum,
keit besitzt, weicht es darin ab. daß die auf dem Deck stehenden gepanzerten
Geschützdcckungen nicht drehbar, sondern fest sind, und daß ferner diese Ge¬
schützdeckungen die ganze Breite des Schiffs einnehmen, nicht blos den mittleren
Theil des Decks wie bei Thurm- und-Kuppel-Schiffen. Sind die Panzer-
wände dieses gedeckten Geschützstandes schräg nach innen geneigt, so ist derselbe eine
eigentliche Casematte (von der in Amerika für Flußkanonenboote besonders be¬
liebten Art); sind sie senkrecht, so ist er nach englischem Ausdruck eine Lyuars-
(so bei vielen kleineren englischen Panzerschiffen und auch bei den meisten
französischen schwimmenden Batterie»): auf jeden Fall aber hat dieser gedeckte
Geschützstand nicht blos nach beiden Flanken, sondern auch in den Querwänden
nach vorn und nach hinten Geschützvsorten. So besitzt auch unser „Prinz
Adalbert" zwei derartige CasemattengeschüMnde, oder wie unsere Seeleute
sich ausdrücken „Casemattenthürme", d. h. Geschützstände, die nur ebenso lang
wie breit, sonst aber gleich jeder Casematte vollständig unbeweglich und fest mit
dem Schiff verbunden sind und das Deck um etwa 8 Fuß überragen. Der
vordere Thurm füllt mit seiner Basis gerade das vordere Ende des Oberdecks
aus, indem er nach vorn fast mit einem Halbkreis abschließt, wie auch von
seinem Vorderende aus der Grat des Vorstevens abwärts in den Sporn aus¬
läuft. Demgemäß ist der Grundriß dieses vorderen Thurmes nach vorn ziem¬
lich halbkreisförmig, während seine Wand nach hinten als ein gerades
Querschott (Querwand) mit abgerundeten Ecken den übrigen Theil des Decks
begrenzt. Er bildet sonach im wesentlichen eine sehr hohe steile, gepanzerte
Back, um so mehr, als seine Decke von einem Geländer aus dünnen Eisen-
stäben eingefaßt wird und sich hier auch die übrigen Vorrichtungen der Back
finden. Außerdem liegt auf der Decke dieses Thurms das kurze ganz horizon¬
tale Bugspriet, das sich ausschieden läßt, wenn man segeln will, das aber,
wenn im Gefecht mittelst des Sporns ein feindliches Schiff angerannt werden
soll, eingezogen bleibt. Der Vorderthurm enthält im Innern nur ein ein¬
ziges Geschütz, einen gezogenen 36Psünder, der nach Bedürfniß auch durch
einen 72Pfünder ersetzt werden soll, und auf Kreisschienen laufend ringsherum
gedreht werden kann: für seine Benutzung hat der Thurm wie in der rechten
und linken Flanke, so auch gerade nach vorn hinaus je eine ziemlich breite
Pforte, also im Ganzen 3 Stückpforten für die Verwendung dieses einen Vor¬
dergeschützes.
Dicht hinter diesem Thurme folgt nun auf dem Deck der Fockmast der
zweimastigen Takelage; sodann in der Mitte des Schiffs der Schornstein und
dahinter, mehr als mannshoch, der andere Geschützthurm. Im Grundrisse zeigt
derselbe etwa ein regelmäßiges Achteck, dessen kleiner Durchmesser gerade der
Decksbreite gleich ist, sodaß zwei Seiten desselben (die mit Buchstaben ihrer
Reihenfolge nach bezeichnet g, und 6 heißen würden) mit den Reilings (der
Brüstung) völlig zusammenfallen. Bon dieser achteckigen Basis auf dem Deck
steigt nun der Thurm etwa 8 Fuß hoch empor und verjüngt sich nach oben
derart, daß die Panzerung schräg nach innen geneigt liegt, und dadurch etwas
größere Stärke erlangt, als ein senkrechter Panzer von gleicher Dicke. In den
Seiten d und Ir an der einen Flanke und den Seiten ä und L an der andern
ist je eine Pforte eingeschnitten, sodaß die beiden mit Rotationsvorrich¬
tungen versehenen schweren Geschütze im Innern schräg nach vorn und schräg
nach hinten zu feuern im Stande sind. Zu diesem Zweck sind auch die Rei¬
lings dicht vor und dicht hinter diesem Thurm zum Niederklappen eingerichtet.
Die Geschütze, gezogene 36Pfünder (nommat), die aus Lafetten von gewöhn¬
licher Höhe ruhen und auf dem Deck selbst placirt, nicht etwa in dasselbe ver¬
senkt sind, schießen 85pfündige Hohlgeschosse mit 8 Pfund Pulverladung und
sind also sehr gefährliche Gegner. Die Panzerdicke in diesem Thurme beträgt,
wie sich an den vier Stückpforten messen läßt, ungefähr 8 (theilweise sogar 16)
Zoll, wovon etwa 4 Zoll durch eine massive Eisenplatte gebildet werden.
Unmittelbar hinter dem zweiten Geschützthurm erhebt sich dann der ziem¬
lich starke Großmast, dessen Warten aber, wie die des andern, des Fockmasts.
nach Rüster außen am Bord hinabgehn und dort ziemlich nahe der Wasserlinie
befestigt sind. Früher, als das Schiff noch Schoonerbrigg war, (d. h. also wie
eine BriM zwei Masten mit Raaen, aber an jedem Mast nicht 4, sondern 2
Raaen führte), stand dieser Großmast mitten im Thurme selber, wo er aber na¬
türlich den Gebrauch der Geschütze erschweren mußte. Seit das Schiff jedoch
als vollständiger Schooner getakelt ist, also nur am vordem Mast Raaen und
ein Mars*) führt, am hintern Mast aber nur ein Gaffelsegel und eine einfache
Sahling trägt, hat man es für zweckmäßiger erachtet, den letzteren Mast etwas
weiter hinter zu rücken.
Den Hinterabschnitt des Oberdecks, das auch hier kreisrund endigt, nimmt
eine ganz kurze Schanze (^uarteräoel:) ein, also ein Verschlag, der die Erhö¬
hung der Wand des Hinterschiffs bildet, und dessen vordere Wand querschiffs,
aber mit abgestumpften Ecken gegen das Oberdeck abschließt, während sie unter
sich das Steuerrad birgt und oben ringsum ein durchbrochenes Eisengeländer
trägt. Uebrigens wird diese Schanze, die kaum 3 Schritt Länge hat, trotzdem
bei hohem Seegang das Hereinbrechen von Wellen ebenso wirksam schwächen,
wie die gleich kurze Schanze, welche man den englischen Kuppelschiffen „Scor-
pion" und „Wyvern" neuerdings zu geben gezwungen gewesen ist.
Vom Innern des Schiffes ist wenig mehr zu sagen, als daß die Kajüte
für den Capitän im Hinterschiff und die Cabinen der Officiere (3 zu jeder
Seite der Officiersmeß, in deren Mitte der Mast aus dem Centrum eines run-
den Tisches aufsteigt) im Verhältniß zur Kleinheit des Fahrzeugs noch immer
recht hübsch und bequem sind. Im Maschinenraume findet man ferner nicht
eine, sondern rechts und links von der Mittellinie zwei vollständig getrennte
Maschinen ganz gleicher Art von je 150 Pferdekraft, die jede ihre besondere
Schraube treiben und gerade durch die Unabhängigkeit von einander ihren
Hauptwerth erhalten, namentlich für den Fall, wenn man schnell oder auf be¬
schränktem Raume wenden will; denn je nach Bedürfniß kann man die eine
Schraube arbeiten, die andre stehen lassen, und falls eine Maschine oder Schraube
beschädigt wird, garantirt die andre eine sichere Fortsetzung der Reise. Ucbri>
gens werden die Maschinen, die in Brest gebaut sind, in vieler Beziehung ge¬
lobt, wenn auch das Schiff gelegentlich der Proben vor der Uebernahme viel
vergebliche Versuche gemacht hat, die contractlich stipulirte Schnelligkeit von 11
Knoten zu erweisen. —
Die Geschichte des „Prinz Adalbert", der im Ganzen 620,857 Thlr. ge-
kostet hat, ist bis jetzt äußerst einfach. Gebaut wurde er in den Jahren 1863
bis 1865 zu Bordeaux auf der bekannten Werft von Armand, unter dem
altägyptischen Königsnamen Cheops. Zur Zeit des großen amerikanischen
Krieges nämlich dursten die für die Conföderirten bestimmten Kriegsschiffe auf
den Werften neutraler europäischer Staaten nicht als solche gebaut werden.
Man fingirte daher meist Bestellung für orientalische oder ostasiatische Regie-
gierungen. Laird in Birkenhead (am Clyde gegenüber Liverpool) baute so z. B.
unter ägyptischen Namen die Kuppelschiffe „ElTousson" und „El Monassir", die
später von der englischen Regierung angekauft wurden und jetzt „Scorpion"
und „Wyvern" heißen; und Armand baute unter dem japanesischen Namen
„Ueddo" und Osakka" unsere jetzigen Holzschiffc „Augusta" und „Victoria",
unter den altägyptischen Namen „Cheops" und „Sphinx" aber zwei ganz gleich
als Schwesterschiffe construirte Panzerfahrzeuge. Die „Sphinx", später als
„Olinda" für Brasilien bestimmt, ward unter dem Namen „Stärkkodder" nach
Dänemark verkauft, dort aber (nach einer sehr schlecht bestandenen Ueberfahrt
von Bordeaux nach Kopenhagen), vor der Uebernahme angeblich wegen zu gro¬
ßen Tiefgangs und auch wohl wegen schlechter Panzerung zurückgewiesen.
Schließlich kam sie als „Stonewall Jackson" doch noch in die Hände der Con-
föderirten, denen sie 6 Monate als Kaper diente, wobei sie sogar zwei Unions¬
schiffe, die berühmte Fregatte „Niagara" und die Corvette „Sacramento" vor
Corunna und im Tejo wiederholt im Schach hielt, sodaß diese nicht anzugreifen
wagten; indessen mußte sie sich später dennoch der Union ergeben. Der
„Cheops" wald während des Baues von Preußen übernommen und durch eine
französische Besatzung unter Ueberwachung der preußischen Abnahme-Commission
nach Danzig übergeführt, wo er aber bei den angestellten Proben hinsichtlich
der Schnelligkeit nicht genügte, sogar auf einen Pfahl im Revier auslief und
sich unter Masser so beschädigte, daß er ins Dock gehn mußte. Schließlich
ward er, wie man sagt infolge gewisser Verhandlungen mit dem Erbauer und
anderen mehr mittelbar interessirten Personen gegen einen Nachlaß an der
Kaufsumme dennoch erworben, und man hofft jetzt seine nautischen Eigen¬
schaften auf ein befriedigendes Maß erhöht zu haben: wenigstens sprachen sich
uns gegenüber preußische Seeoffiziere über seine Schnelligkeit und Seefähigkeit
ziemlich anerkennend aus. Letztere wird durch den neu am Bug angebrachten
Wellenbrecher jedenfalls verbessert sein, wenn auch der Verband des Schiffes
etwas mehr angegriffen wird. Einem zweiten Uebelstand, über den wir klagen
hörten, dem tiefen „Einhaucn" des Vorschiffes in die See ließe sich vielleicht
durch eine Aenderung der Takelage abhelfen, durch Erleichterung resp. Verklei¬
nerung des Fockmasts und Vergrößerung des Großmasts. Dann wird der
Segeldruck oder auch der bloße Windfang der Takelage das Schiff vorn weni¬
ger ins Wasser drücken und durch den vergrößerten Druck auf das Hinterschiff
das Vordertheil sogar aus dem Wasser zu heben streben/)
Gegenwärtig liegt das Schiff, vor einiger Zeit in „Prinz Adalbert" um«
getauft, abgerüstet im Bassin vor dem Marinedepot zu Geestemünde. Man hat
ihm — wie bereits bemerkt — nicht bloß die Raaen und Stengen abgenom¬
men, sondern auch noch über seinem Deck zum Schutz gegen die Witterung
ein förmliches Dach von Latten gebaut, dessen First über dem Hinteren Thurm
durch ein kegelförmiges, ebenfalls aus Latten hergestelltes Dach wie bei einem
Carroussel überhöht wird, während hinten über der Schanze und vorn am Bug
halbkegelförmige Dächer nach vorn und hinten abschließen.
Während „Arminius" und „Adalbert" zur Zeit als specifische Panzerschiffe
noch die einzigen ihrer Gattung in der preußischen resp, norddeutschen Marine
sind, werden sie wahrscheinlich innerhalb der nächsten 10 Jahre ein halbes
Dutzend Genossen erhalten. — Unsere nächste Schilderung soll die Panzersre-
gatten mustern.
Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings Tod von Julian Schmidt, Fünfte,
durchweg umgearbeitete und vermehrte Auflage. Zweiter Band: Die Romantik
(1797—1813). Dritter Band: Die Gegenwart (1814- 1867). Leipzig. 1867.
Die umfangreiche Arbeit, welche jetzt in drei Bänden abgeschlossen vordem
Leser liegt, ist in Wahrheit eine völlige Umarbeitung, wie bei Besprechung des ersten
Bandes ausgeführt wurde. Die ersten Auflagen hatten einen vorzugsweise krie-
gerischen und polemischen Charakter, denn damals galt es, schädliche oder
abgelebte Richtungen in ihrer Untüchtigkeit darzustellen und gegenüber anspruchs¬
voller Mittelmäßigkeit höhere ethische und künstlerische Forderungen, welche die
Zeit erhob, geltend zu machen. Eine andere Aufgabe wurde dem Verfasser
bei der neuen Arbeit; in den letzten zehn Jahren hat sich die geistige Production
der Deutschen wesentlich umgeformt, alte Puppenhülsen sind abgestreift, schäd¬
liche Richtungen fast abgethan, eine neue Bildung und ein neues großes Gebiet
realer Interessen haben in den Geistern die Herrschaft erlangt, für die Literar¬
historiker steht jetzt die Pflicht obenan, die ungeheure Strömung des geistigen
Lebens unserer Vergangenheit so einzufassen, daß der gesammte Lauf verständ¬
lich wird; nicht die Individuen, sondern der Antheil, welchen sie an der natio¬
nalen Bewegung haben, sind das Wesentliche, das geistige Leben jedes Zeit¬
raums wird dargestellt in den großen Ideen, welche den Schriftstellern Wärme,
Begeisterung, Inhalt geben, den Charakter ihrer Werke bestimmen, den Kunst¬
werth derselben fördern oder hindern. Mit großem Sinn und mit einer zuweilen
Poetischen Intuition sind diese höchsten leitenden Ideen, welche zugleich Theil-
Punkte des unermeßlichen Stoffes werden, von dem Verfasser aufgesunden und
kräftig hervorgehoben.
Die Zeit der Romantiker, der Freiheitskriege, des jungen Deutschlands und
der politischen Kämpfe bis zur Gegenwart, eine große Zeit für die deutsche
Wissenschaft, ist für die deutsche Kunst nicht ebenso reich an Werken von hoher
Schönheit und Dauer, ja die meisten Arbeiten erweisen peinlich die Mängel, welche
das unpolitische und staatslose Privatleben der Deutschen den Charakteren ließ,
und die grillige Wunderlichkeit, womit ihr Idealismus behaftet war. Unter den
Dichtern seltsame und verschrobene Gestalten, hohe Ansprüche und geringe
schöpferische Kraft, in vielen ein Wirbel unklarer und verkehrter Forde¬
rungen, die Farben oft schön und glänzend, die Linien der geschilderten Cha¬
raktere selten rein und richtig, sogar in der Lyrik dicht neben einem Rafsine-
neue, welches neue Stoffe und neue Methode der Behandlung sucht, innere
Armuth. Verwilderung, zuletzt Rohheit der Form.
Und doch ist die Darstellung dieser ganzen Periode von dem gestiefelten
Kater bis zu Fritz Reuters mecklenburgischen Geschichten, Von dem vaseler
Frieden bis zum Vertrage von Nikolsburg in der neuen Arbeit des Verfassers
so tief und edel gefaßt, daß das allmcilige Wachsen der nationalen Kraft
im Vordergrund steht, und über den einzelnen Verirrungen des Urtheils und
Geschmacks die Steigerung der gemüthlichen Bedürfnisse und der Veränderte Ma߬
stab für den Werth des Geschaffenen sichtbar werden. Denn aus seinem Urtheil
fühlt sich immer ein patriotisches Herz und die frohe Zuversicht zu der Tüchtig¬
keit deutscher Natur heraus. Kaum ist irgendwo so vortrefflich, als hier, nach¬
gewiesen worden, wie der Mangel eines starken Staatslebens niederdrückend auf
dem besten geistigen Schaffen der Nation lag. und wie die Sehnsucht darnach
selbst in den wunderlichsten Verirrungen zu Tage kam, immer stärker und seit dem
Jahre 1848 immer gewaltiger. Es ist natürlich, daß bei einem Werke,
welches ein fast unermeßliches Gebiet der höchsten menschlichen Thätigkeit schil¬
dert, nicht jede Richtung und jede Persönlichkeit mit gleichmäßiger Theilnahme
bedacht ist, und das Urtheil des Verfassers über das Einzelne wird zuweilen
Widerspruch erfahren, aber den geistvollen und wahrhaften Grundgedanken des
Werkes soll man nicht antasten, nicht das Verständniß des Verfassers für den
großen Gang unserer nationalen Entwickelung und nicht die lautere Wärme,
womit er die sittlichen Forderungen der deutschen Gegenwart gegen unsere eigene
Vergangenheit und gegen die Fremden vertritt.
Es ist die frohe Zeit einer aufsteigenden nationalen Bewegung, welche in
diesem Werke geschildert wird. Dem Verfasser erscheint die Neugestaltung
Deutschlands als ein epochemachender Abschnitt für das gesammte geistige Leben
der Deutschen, und wie er in den Leistungen der Geisteswissenschaft und der
poetischen Literatur Vorarbeit und Sehnsucht darnach erkennt, so deutet er
auch an, daß die Neubildung unseres Staatslebens der Wissenschaft, wie
der poetischen Literatur und Kunst, neue, höhere Aufgaben stelle. Wir ver¬
trauen, sie wird ihren Segensgruß auch in das Arbeitszimmer unserer Gelehr¬
ten und Dichter senden, denn jede politisch bewegte Zeit gibt dem Volke außer
Bewunderung und Haß neue Einsicht und schärferes Verständniß zunächst
für politische Persönlichkeiten, dann für jede Menschennatur; und jede Steige¬
rung des nationalen Selbstgefühls und patriotischen Stolzes macht produktive
Kraft auf jedem Gebiet der geistigen und materiellen Interessen frei. Und wir
dürfen allerdings hoffen, daß unsere Historiker und Dichter klarer, fester und
siegesfroher das Leben beurtheilen werden, welches sie zu schildern unter¬
nehmen. Wie schnell der politische Fortschritt sich in unserer Literatur als ein
neuer Höhepunkt kundgeben wird, das wissen wir freilich nicht, und wir
wollen uns hüten, zu prophezeien. Doch scheint uns, wenn wir- die Ver»
gangcnheit recht deuten, daß die Resultate großer politischer Erfolge in der
idealen Arbeit einer Nation erst dann ihre besten Früchte reisen, wenn diese Er¬
folge als ein ruhiges Wohlgefühl in die Seelen übergegangen sind. Eine
gewisse heitere Ruhe bedarf nicht nur der Dichter, auch der Gelehrte, der in großer
Arbeit die Thätigkeit vergangener Menschen zu deuten unternimmt.
Es war die Signatur der nächsten Vergangenheit, einer unbefriedigten,
gedrückten, unruhig heischenden Zeit, daß sich dem Geehrten und noch mehr
dem reizbaren Dichter in Stoff und Charakter seiner Abciten die socialen und
Politischen Forderungen des Volkes übermächtig eindrängten. Nur zu oft hat
das beflissene Streben, eine Tendenz zu exemplifiziren, die heitere Wärme ver¬
ringert, welche jeder Arbeit nöthig ist. die menschliches Leben abzubilden unter¬
nimmt. Möge jetzt den Seelen ruhigere Sammlung werden. Den Dichtern
aber ist jetzt der beste Rath, daß sie frischweg bilden, was ihnen das Herz
warm macht, und in künstlerischem Schaffen weder um Vergangenheit der Lite¬
ratur, noch um die Bedürfnisse des Bundesstaats und irgend welche Forderungen
der Gegenwart sorgen. Sind sie tüchtige Gesellen, so wird auch bei weitab
liegendem Stoff und in behaglichem Gestalten des Kleinsten, ohne daß sie es
selbst wissen, der Gewinn sichtbar werden, welchen eine große Kräftigung des.
nationalen Lebens jedem Zeitgenossen mittheilt. Gerade jetzt, wo die Politik
unter den Interessen der Nation oben ansteht, soll der Dichter das Recht des
schönen Schaffens mit Selbstgefühl und treu gegen seine Kunst vor seinem Ge¬
schlecht geltend machen.
In diesem Blatte erschienen vor Jahren die Ansichten des Verfassers über
die romantische Schule, das junge Deutschland und zahlreiche Schriftsteller der
Gegenwart im ersten Wurf als wirkungsvolle Artikel. Von neuem freuen sich
die Grenzboten, daß ein so stattliches Werk bei ihnen seinen Anfang nahm,
und sie senden dem Verfasser heut in alter Freundschaft wieder ihren Glück¬
wunsch zu.
Während das Verhältniß des französischen Kaiserthums zu den gebildeten
Klassen des französischen Volks täglich unbehaglicher zu werden scheint, die An¬
kleben wachsenden Einflusses der oppositionellen Parteien sich mehren, geheim-
nißvolle Verhaftungen mit Demonstrationen und Maueranschlägen entschiedenen
revolutionären Charakters wechseln, sind Presse und Diplomatie der pariser
Regierung unausgesetzt mit dem Conferenzvorschlage und mit Betheuerungen
der günstigen Aufnahme desselben bald „bei der Mehrzahl der Mächte", bald
„bei sämmtlichen Staaten zweiten Ranges" beschäftigt. Man sollte glauben.
Napoleon III. habe alle seine Zukunftshoffnungen auf diese eine Karte gesetzt
und gedenke mit Hilfe dieser dem Vg. danczuc;, welches ihm von allen Seiten
zugerufen wird, Stand halten zu können. Das zweite Empire hat den Ein¬
druck eines in seinem Selbstvertrauen erschütterten politischen Körpers zu keiner
Zeit in so ausgesprochener Weise gemacht, wie während der abgelaufenen No¬
vemberwochen. Der Entschluß zu einer Einmischung in die italienischen Dinge
ist den leitenden Staatsmännern Frankreichs so schwer geworden, von so zahl¬
reichen Schwankungen und Meinungsveränderungen begleitet gewesen, daß sich klar
durchsehen ließ, die Negierung fühle sich von der öffentlichen Meinung, der
man in besseren Zeiten so oft und so selbstzufrieden ins Angesicht geschlagen,
vollkommen abhängig. Kaum sind die französischen Truppen in Civitavecchia
gelandet, die ersten Bataillone gegen die Freiwilligen von Mendana ins Feuer
geführt, so beeilt Marquis de Moustier sich bereits, aller Welt zu erklären.
Frankreich sei nicht gewillt, die in seinen Händen liegende römisch-italienische
Frage eigenwillig zu lösen, es fühle das Bedürfniß, Europas Meinung zu
hören und Verantwortung wie Entscheidung in die Hände eines Congresses
niederzulegen. Und an diesem Congreßgedanken wird von den Leitern der Geschicke
Frankreichs mit einer Zähigkeit festgehalten, die etwas von der Energie der Todes¬
angst hat. Man ladet Alle, die Großen wie die Kleinen ein, damit wenigstens Einige
kommen; nachdem wochenlang von einer Konferenz die Rede gewesen, welche
einen entscheidenden Machtspruch thun sollte, wird schließlich erklärt, wenn es
nicht anders sein könne und die streitenden Theile sich zu einer Unterordnung
unter diesen Orakelspruch nicht entschließen könnten, habe man nichts dawider,
wenn die Conferenz die streitige Frage blos diskutire und Meinungen über die¬
selbe austausche. Unter aller und jeder Bedingung soll die Conferenz zu Stande
kommen; mit oder ohne Programm, zu Discussionen oder zu Beschlüssen, mit der
Zustimmung oder gegen die Wünsche der Betheiligten, in Paris oder in München
— die französische Negierung muß den Kammern mit einem Erfolg, mit Be¬
weisstücken dafür entgegentreten, daß der Staat noch nicht um seinen europäi¬
schen Einfluß gebracht sei. Unterdessen hat die Unzufriedenheit der Feinde am
heimischen Heerde so beträchtlich zugenommen, daß jeder Morgen von einem
neuen Ausbruch des Vvlksunwillens zu erzählen hat: die Bewegung gegen das
Octroy wird nicht mehr von Arbeitern und Proletariern, sondern von Fabri¬
kanten und Notabeln getragen, im ciuartior latin ist von einem neuen „rvvoil
du, liorr" ernstlich die Rede und auf den Straßen wird so laut „Vivo QaribMi"
und ,A bu>s I'utriinAörL" gerufen, daß der Chef der kaiserlichen Palastpolizei
nicht mehr leugnen kann, diesen ominösen Ruf gehört zu haben. Die Kammern
treten zusammen, der Kaiser eröffnet sie mit einer friedlichen Rede voll liberaler
Wünsche und mit sichtlicher Schonung der Empfindungen der Partei, die die
Einheit Italiens unterstützt hatte; die Expedition wird als Maßregel zur Vertheidi¬
gung der Nationalehre bezeichnet. Sofort thut sich der Unwille derselben Cleri-
calen, denen zu Liebe man die unliebsame Expedition unternommen, in entschiedenster
Weise kund und verlangen die Bischöfe ein energischeres und unzweideutigeres Ein¬
treten für den heiligen Vater. Die Blau-und Gelbbücher werden ausgegeben und
eine neue Verlegenheit liegt vor, noch ehe die angemeldeten Interpellationen Jules
Favres zur Entscheidung gekommen: die der Volksvertretung vorgelegten Akten¬
stücke liefern den Beweis, daß das Ncgierungsorgan die öffentliche Meinung in zwei
Fragen von höchster Bedeutung absichtlich in die Irre geführt hat und daß das Ga-
ribaldische Unternehmen gegen Rom von der Negierung, welche es bekämpfte,
wenigstens indirect mitverschuldet worden ist. Für die Legion von Antibes
ist allen Moniteurverficherungen zum Trotz unter Zulassung der Regierung
durch die Hirtenbriefe französischer Bischöfe geworben worden und der General
Dumont ist (zuwider der ausdrücklichen Betheuerung desselben Moniteur und
des Kriegsministers) mit dem bestimmten Auftrag nach Rom gesendet worden,
den Zustand der päpstlichen Zuavenregimenter zu untersuchen und die ge¬
lockerte Disciplin dieser Truppe um Auftrage der französischen Regierung wie-
derherzustellen. Es ist dadurch nicht nur der Beweis geliefert worden, daß man
das Volk absichtlich getäuscht hat; für die Thatsache, daß Frankreich die Sep-
temberconvention noch viel directer verletzt hat, als Italien, liefert die officielle
Depeschensammlung selbst die schlagendsten Argumente und es bedarf nur noch
einer geschickten Hand, damit dieselben zur festen Beweiskette zusammengefügt
werden. — Während sich die Wolken für die bevorstehenden Debatten des Oor-xs
iLLisliM' auf diese Weise dicht zusammenziehen, herrschen im kaiserlichen Lager
Noth und Verwirrung: der linke Flügel der Imperialisten, dessen am Schluß
der vorigen Session ausgesprochene Mahnungen unberücksichtigt gelassen wor¬
den, zeigt nichts von der früheren Bereitwilligkeit zur Unterstützung der Re¬
gierungspolitik, selbst Emil Ollivier, auf den man längere Zeit hindurch in den
Tuilerten ziemlich unbedingt rechnen zu dürfen glaubte, erklärt dieses mal mit
der Opposition gehen zu wollen und verlangt in die Reihen derselben aufge-
nommen zu werden. Im Schoß des Ministeriums und des Geheimraths macht
sich der Mangel an wirklichen Talenten immer. peinlicher fühlbar —- die alte
Garde der Schicksalsgenossen des Staatsoberhaupts, hat gerade die tüchtigsten
ihrer Glieder durch den Tod verloren, andere wie Walewski und Lavalette
lönnen sich dem herrschenden System nicht mehr bedingungslos anschließen.
Rouher, der „Vice-Kaiser" der letzten Session, hat die Finanzen Herrn Magne
übertragen müssen, von dem die eigenen Freunde nicht viel erwarten, und der
inne Minister Pinard eröffnet seine Thätigkeit mit P.eßmaßregclungen, die,
*
ohne zu nützen, Oel ins Feuer gießen. Was sich an Männern von Talent
und Charakter für die Sache des Buonopartismus gewinnen ließ, wird aber
fast ausnahmslos in den höchsten Regierungsstellen angetroffen, auf selbstlose
und unabhängige Freunde hat eine Regierung, deren Devise die Alliance des
Throns mit der Masse gegen die in der Mittelclasse vertretene Elite der
Nation war, nicht gerechnet und nicht rechnen können. Der Senat, in welchem
die große Masse der gesinnungslosen Anhänger des gegenwärtigen Systems
sitzt, kann der Regierung in Zeiten, wie die gegenwärtigen sind, absolut
keine Stütze bieten; daß sich selbst die Jnterpellation über die römische Frage,
welche von dieser Körperschaft beschlossen worden, in die Form eines schüchter¬
nen Danks für die Rettung des Papstthums gehüllt, daß man in einem
Athem eine Maßregel für höchst anerkennenswerlh erklärt und doch nach den
Consequenzen derselben gefragt hat, das kann die Achtung der Nation vor
dieser Vertreterin des Volkswillens und der Staatsinteressen nur noch tiefer
herunterbringen und muß dem Ansehen der Regierung, welche diese Form der
Pairie geschaffen hat, eher schaden, denn nützen.
Und den Sturm, der durch eine so lange Reihe von Mißgriffen hervor¬
gerufen worden ist, der sich nicht mehr gegen die gegenwärtige Politik des
Kaiserthums, sondern gegen das System und die gesammte Vergangenheit des¬
selben richtet, diesen glaubt man beschwören zu können, wenn man eine Conferenz
ohne Programm und ohne beschließende Competenz irgendwo und irgendwie
zu Stande bringt? So groß die Neigung des französischen Volks, sich durch diplo¬
matische und militärische Erfolge über innere Schäden beruhigen zu lassen, auch sein
mag, — daß es dem Kaiser gelingen werde, durch eine mühselig zu Stande
gebrachte, aller Wahrscheinlichkeit nach erfolglose Diplomatenversammlung den
anschwellenden Strom in das alte Bett zurückzuführen, das verlorene „Prestige"
wiederzugewinnen, das werden auch die zuversichtlichsten Optimisten mehr zu hoffen
wagen. Und trotz aller officiösen und officiellen Versicherungen ist das Zustande¬
kommen dieser Conferenz auch zur Stunde noch nicht gesichert. Die eigentlichen
Stützen dieses Unternehmens, Herr v. Dalwigk in Darmstadt und Marschall
Narvaöz in Madrid, scheinen wenig geeignet, die Zurückhaltung der Großmächte
zu überwinden: in Deutschland wird der darmstädter Premier schon seit lange für
einen Mann gehalten, „mehr geeignet von Sünden abzuschrecken als zu ihnen
anzureizen", und der Gegensatz seiner Haltung zu der der übrigen deutschen Mittel¬
staaten kann für ihn selbst ebenso ominös werden, wie für das gesammte
Projekt. Es will wenig sagen, wenn versichert wird, der Papst habe der Con¬
ferenz zugestimmt; wenn die Curie erklärt, sie sehe jene Versammlung nur als
Gelegenheit zum Meinungsaustausch an und werde ihre Stellung zu derselben
je nach dem Inhalt dieser Meinungen modificiren, so nimmt sie mit einer
Hand, was die andere gegeben, und die Abneigung, aus welcher Preußen, Eng-
land und Rußland schon gegenwärtig kein Hehl machen, kann dadurch, daß
dem europäischen Areopag a, priori jedes Recht zu definitiven Entscheidungen
abgesprochen wird, nur verstärkt werden. Es ist charakteristisch genug, daß
diejenigen Mächte, welche sich stark und gesund fühlen, keine Neigung spüren,
an der Einmischung in fremde Händel Theil zu nehmen, während die schwa-
chen und die in ihrer gegenwärtigen Form der Existenz bedrohten Staaten,
Oestreich an der Spitze, nicht abgeneigt sind, eine diplomatische Diversion im
Stil der Nestauratwnszeit zu unternehmen und dem französischen Bedürfniß
nach Ableitung der Volksaufmerksamkeit von inneren Fragen Vorschub zu leisten.
Parallel mit der römisch-italienischen Verwickelung und dem Zusammentritt
der französischen Kammern ist die Abwicklung der süddeutschen Zoll- und Atli'
anne-Angelegenheit und die Einberufung der neugewählten preußischen Volts-
Vertretung gelaufen. Preußen hatte nur nöthig gehabt, einen Augeyvlick mit
seiner Drohung, den Zollverband für den Fall der Ablehnung seiner Vorschläge
zu sprengen und die Widerstandslust, zu welcher sich bayrische Pairs und
schwäbische Commons gegenseitig ermuthigt hatten, war gebrochen. Daß in
Südd/utschland mindestens die Regierungen etwas von der Verlegenheit gelernt
haben, in welche sie durch ihre zweideutige Haltung gerathen waren, das hat
sich neuerdings in Sachen des französischen Congreßvorschlages gezeigt; sie
haben sich (Darmstadt allein ausgenommen) mit größeren und geringeren Mo-
dificationen der Haltung Preußens angeschlossen und werden der pariser Ein¬
ladung sicher nur Folge leisten, wenn man ihnen in Berlin dazu das Beispiel
gegeben hat. — Zunächst haben wir uns mit den gewonnen Ne>ullaten zu be¬
gnügen, aber diese sind bedeutend genug, um uns für den verzögerten Eintritt
Badens in den norddeutschen Bund, der die Folge einer momentanen Sprengung
des Zollvündnisses gewesen wäre, überreichlich zu entschädigen. Daß Preußens
Vorgehen in der Zollangelegenheit von der überwiegenden Mehrzahl der gebildeten
und wohlhabenden Classen des, süddeutschen Volkes gebilligt und unterstützt
worden ist, kann an und für sich für einen folgenreichen Schritt zu dem Ziel
vollständiger deutscher Einigung gelten. Die Particularisten und Clericalen
Bayerns und Würtembergs haben ihre Entfremdung von den wahren Volts-
wteressen so rücksichtslos und offen dokumentirt. daß alle diejenigen, welche
etwas zu verlieren haben, ihre Augen auf den sonst so mißtrauisch und feindlich
angesehenen Norden richten mußten, daß den Kurzsichtigsten der Unterschid zwi¬
schen den Interessen des süddeutschen Volks und der süddeutschen Parteien klar
Werden mußte. Hat die überwiegende Majorität der Süddeutschen den Zwang
^billigt, welchen Preußen in einer wirthschaftlichen Frage auf die arti-natio-
nalen Regierungen und Parteien ausgeübt hat, — warum sollten sie es außer
der Ordnung finden, wenn die gleiche Presston dereinst ausgeübt wird, wo es
steh um die höchsten idealen Güter Deutschlands handelt? Die partikularistische
Demokratie, ohne Zweifel die einflußreichste der feindlichen Parteien jenseit des
Main, geht seit der Schlappe, die sie beim Beginn dieses Monats erhalten,
mit Riesenschritten ihrem Bankerott entgegen und hat schon heute nur über die
Hälfte der Mittel zu verfügen, welche ihr noch vor wenigen Wochen zu Gebote
standen. Wenn die schwäbischen Demokraten der Politik, welche sie neuerdings
einzuschlagen begonnen haben, nur einige Zeit lang treu bleiben und fortfahren,
das Ministerium Varnvühler gegen jeden freisinnigen Antrag, den die natio¬
nalen einbringen, zu unterstützen, so sind sie binnen kurzem ein Generalstab
ohne Armee. — Aber auch innerhalb des norddeutschen Bundesstaats haben
die Gegner der nationalen Sache entschiedenes Unglück, arbeiten sie ihren ge¬
haßten Gegnern direkt in die Hände. Das Material, aus welchem Blätter vom
Schlage der Zukunft und der Sächsischen Zeitung ihre Seide spinnen, wird
von Woche zu Woche dünner, — es giebt immer weniger Anzeichen für die
„nahe bevorstehende große Reaction" gegen den „Cultus des Erfolgs" zu re-
gistriren, die Berichte über allgemeinen Unwillen gegen die neuen Institutionen
werben matter und seltener, und man nimmt seine Zuflucht bereits zu Klagen
über Einführung eines gemeinsamen Münzfußes in den verschiedenen Zueilen
des Staats und bejammert vom Standpunkt berechtigter historischer Eigenthüm¬
lichkeiten aus die gewaltsame Beseitigung der altgewohnten Gulbemechnung.
In Sachsen hat das Verfahren der „konservativen" ersten Kammer gegen den
Bürgermeister Dr. Koch zu einem Entrüstungssturm geführt, dessen Wogen über
das Bett der nationalliberalen Partei hinausspülen und alle liberalen Ele¬
mente, auch die specifisch sächsischen, mitfortreißen. Eine wirkliche Macht hat
die radikale Demokratie nur noch in einigen der alten Provinzen Preußens
hinter sich, daß dieselbe aber auch hier in der Abnahme und zwar in einer
ziemlich raschen begriffen ist, hat das Resultat der letzten Wahlen bewiesen, die
noch beträchtlich conservativer als die des Sommers 18K6 ausgefallen sind und
der Rechten die Möglichkeit geboten haben, im Präsidium durch einen der Vice-
präsidenten vertreten zu werden. Dieser Umstand wird die Aufmerksamkeit der Li¬
beralen um so mehr verdienen, als die zum erstenmale im preußischen Pcula-
ment vertretenen neuen Provinzen, wenn sie nicht Partikularisten nach Berlin
sandten, so überwiegend im nationalliberalen Sinne gewählt haben, daß der
Zuwachs der Conservativen ausschließlich aus Rechnung des Jdeenumschlags in
Altpreußen kommt. Immer deutlicher stellt sichs heraus, daß die Gouvernc-
mental-Conservativen bestrebt sind, sich durch Concessionen an die Forderungen
des Socialismus in den arbeitenden Klassen zu verstärken und gewisse radicale
Elemente im Kampf gegen den Liberalismus zu verwerthen. Sehr beachtens-
werth ist in dieser Beziehung ein Artikel der Norbd. Allg. Ztg. vom 27. Nov.,
der seine Befriedigung darüber ausspricht, daß Löwe-Calbe sich in einem Vortrag
über die sociale Frage auf den Boden, den die konservative Partei bezüglich der
socialen Frage einnehme, begeben und der liberalen Theorie dem Unterschiede
zwischen Staat und Gesellschaft energisch widersprochen habe. Ausfälle
dieser Art und Connivenzen an die Lassallesche Auffassung der Arbeiterfrage
kehren in dem officiösen berliner Organ periodisch wieder und verdienten es
wohl, von den Vertretern des liberalen Oekonomismus aufmerksamer als bis¬
her berücksichtigt zu werden. Schon gelegentlich der Wahlen zu dem letzten
Reichstag haben wir darauf aufmerksam gemacht, daß eigentlich alle Parteien
in gleich incorrecter Weise mit den Socialisten Geschäfte gemacht haben, an-
geblich um dieselben zu ihren Zwecken zu benutzen. Geschäfte dieser Art schla¬
gen nicht selten wider Vermuthen aus. Die Erfahrungen, welche Frankreich
in den vierziger Jahren mit den Socialisten gemacht hat, die die Demokratie
zu ihren Zwecken auszubeuten glaubte, um schließlich von denselben über-
wuchert zu werden, sie sind ernst genug gewesen, um unsern Parteien das
Gewissen zu schärfen und ein für alle Mal zur Warnung vor gefährlichem Spiel
zu dienen. Reactionäre aller Gattungen und Arten haben ihre Blicke seit
Jahren auf die sociale Frage gerichtet und die Abhandlungen, welche die Historisch-
Politischen Blätter von Zeit zu Zeit über dieselbe veröffentlichen (das neueste
Heft enthält einen interessanten Artikel über die sociale Frage auf dem pariser
Congreß) könnten ebenso gut in einem der gouvernementalen Journale Ber¬
lins stehen.
Der Zusammentritt der preußischen Volksvertretung ist fast gleichzeitig mit
der nochmaligen Verurteilung Twestens erfolgt und wird diese sich mit jenem
Prozeß wahrscheinlich schon beschäftigt haben, wenn diese Blätter in die Hände
ihrer Leser kommen. Ueber die Sache selbst ist nichts mehr zu sagen: daß ein
Urtheil dieser Art in einem preußischen Gerichtshof möglich war, ist unserer
Ansicht nach noch lange nicht so schlimm, als daß ein preußischer Justizminister
einen Prozeß dieser Art gegen einen der patriotischsten Männer des Staates,
eine der zuverlässigsten Stützen der nationalen Politik durch wiederholte Apella-
tionen fortzusetzen gewagt hat. Das alte „it 7 g, ciss^juMs äHLerlirl" ist seit
lange aus dem Volksmunde verschwunden und es wird einer fortgesetzten und
schwierigen Arbeit bedürfen, ehe der alte Ruhm preußischer Gerichtshöfe in sein
früheres, durch beinahe zwei Jahrzehnte geschmälertes Recht wieder eingesetzt
werden kann. Schäden dieser Art sind nicht im Handumdrehen auszumärzen, —
wenn aber politische Mißgriffe (die sich dadurch repcirircn ließen, daß ein Staats¬
anwalt rechtzeitig ohne Auftrag zur Anwendung von Rechtsmitteln gelassen wird)
unausgeglichen bleiben und periodisch wiederkehren, so kann das nicht hart genug
verurtheilt werden. Daß es das Abgeordnetenhaus auch dieses Mal nicht an Ver- >
suchen fehlen lassen wird, dem Ministerium des Grafen zur Lippe den Boden 'aus¬
zuschlagen, darauf kann mit Sicherheit gerechnet werden. —der Erfolg wird freilich so
Zweifelhaft bleiben, wie er es von je gewesen. Sehr viel schwieriger ist die Frage,
was aus dem Twestenschen Prozeß und der neuerdings beliebten Auslegung des
K 84 der Verfassung werden soll. Die Anträge, welche der Abg. Laster in
dieser Beziehung gestellt hat, haben wenig Aussicht, vielleicht noch weniger An¬
spruch darauf, angenommen zu werden. Daß die in Vorschlag gebrachte Nie¬
derschlagung jenes Prozesses in der beantragten Weise nicht möglich sei. ist von
allen Seiten anerkannt worden und kann für ausgemacht gelten, gegen den
Vorschlag zu einer veränderten Fassung des § 84 hat die Volkszeitung neuerdings
aber höchst beachtenswerthe Bedenken vorgebracht. Die Veränderung des bisheri¬
gen Wortlautes würde einer Anerkennung der bisherigen Zweideutigkeit desselben
allerdings nahekommen: nicht weil die Lage mißliebiger Kammerredner für den
Fall einer Abweisung des Laskerschen Antrags durch Regierung oder Herren¬
haus verschlimmert würde — weil das Abgeordnetenhaus die rechtliche Möglich¬
keit einer Auslegung des § 84 im Sinne des Grafen Lippe nicht einräumen
darf, scheint uns jene Bill höchst bedenklich zu sein. Durchaus unwürdig aber
wäre es, wollte die Negierung sich dazu hergeben, aus dem § 84 einen Han¬
delsartikel zu machen und die Laskersche Fassung — wie ihr neulich von einem
„Konservativen" in der Kreuzzeitung gerathen wurde — unter der Bedingung
zu avprobiren.daß die Tatenlosigkeit auch für das Abgeordnetenhaus bewilligt
würde; daß ein parlamentarischer Körper die Redefreiheit seiner Glieder mit klingen¬
der Münze bezahlte, wäre in der That unerhört, und so überzeugt wir davon sind,
daß der Verzicht auf die Diäten sich mit der Zeit durchsetzen wird und durch¬
setzen muß, so Verwerflich scheint es uns, denselben für die Anerkennung eines in
der Natur der Sache liegenden Rechts eintauschen zu wollen. — Neben der
Twestenschen Angelegenheit steht für die preußischen Kammern noch die Be¬
rathung des Budgets pro 1868 für den nächsten Monat auf der Tagesordnung.
Die Berathung im Plenum ist gegen die abweichende Meinung der Linken und
der Partikuristen auch dieses Mal angenommen worden. Die Abneigung der
Majorität gegen die vorläufige Prüfung in einer Commission, hat, wie uns
scheint, eine vorzugsweise symbolische Bedeutung; bei der gegenwärtigen Zu¬
sammensetzung des Hauses dürften praktische Gründe, als Befürchtungen vor
einseitigen Streickungsgelüsten der Linken u. s. w. kaum berechtigt erscheinen.
Daß das Budget noch vor Schluß des Jahres 1867 zu Stande gekommen sein
müsse, ist an und für sich allerdings wünschenswert!), kann aber nicht für ein
durchschlagendes Motiv gegen die Berathung in einer Commission gelten wollen.
Die Budgetverhandlungen selbst werden ihr reiches Interesse indessen auch in
der gegenwärtig beschlossenen Gestalt behalten. — Während man in Paris und
Berlin noch mit Vorbereitungen zu den parlamentarischen Winterfeldzügen be¬
schäftigt ist, sind die Verhandlungen des wiener Reichstags bereits auf dem
Höhepunkt ihrer Bedeutung angelangt. Der Ausgleich mit Ungarn ist seinen
Hauptpunkten nach angenommen, der Dualismus aus einer vollendeten zu
einer rechtlich anerkannten Thatsache geworden. Nach den neuesten Nachrichten
aus dem Kaiserstaat sind seit dem Rücktritt des k. k. Botschafters in Rom,
Freiherrn von Hübner auch die Verhandlungen über Umgestaltung des Concor-
dats im Gange und ist die Aussicht auf eine Verständigung bezüglich desselben
beträchtlich größer geworden. Es liegt ziemlich nahe, die Erfolge, welche Herr
v. Beust in Sachen Ungarns und gegen die Agitation der Bischöfe neuerdings
erfochten hat, mit der gesteigerten diplomatischen Thätigkeit des Reichskanzlers
in Beziehung zu setzen. Die Kaiserreise nach Paris, der Besuch, den der lei.
tende Staatsmann in London gemacht hat, das Circular über die Harmonie
französischer und österreichischer Anschauungen in allen schwebenden Fragen, die —
wie es heißt — bedingungslose Annahme der Einladung zur Konferenz. —alles läßt
darauf schließen, daß Herr v. Beust den Zeitpunkt zur Aufnahme einer politischen
Thätigkeit im großen Stil für geeignet hält. Daß man zu Wien selbst anderer
Ansicht ist und die Arbeit an der Heilung der schweren innern Schäden des
Kaiserreichs durch keinerlei diplomatische Diversionen zu stören wünscht, soll
dem Kanzler von den Führern der liberalen Partei des Reichstags ziemlich
unzweideutig gesagt worden sein. Und mit Recht, denn die Gefahr internatio¬
naler Conflikte ist für den Staat ohnehin da. Die Fragen der großen
Politik, an denen der Thätigkeitsdrang des Freiherrn sein Geschick üben kann,
werden für Oestreich nicht aus Westen, sondern aus Osten kommen; das Feuer
M Orient — 6teiAiresi I», lumiörs et i-g>IIum<z? Is den, — brennt unaufhalt¬
sam weiter und wird um so gefährlicher, als es nicht in hellen Flammen aus¬
schlägt, sondern seine Arbeit fast unbemerkt thut und dadurch allen Feuerlärm
verhindert. — Zur Zeit ist von der orientalischen Frage und von den Slaven
Oestreichs und der Türkei in Nußland allerdings nicht häusig die Rede. Im
Mittelpunkt der russischen Interessen steht die Revision des Zolltarifs; wäh¬
rend im übrigen Europa der Stand der Industriellen und Kaufleute der Bahn¬
brecher des Freihandclssystcm geworden ist. bemüht sich der mit der Industrie iden¬
tisch gewordene Protektionismus hier im Bunde mit der Nationalpartei und
der Mehrzahl aller unabhängigen Organe der Presse, die Regierung von jeder
Herabsetzung der Zollfuhr abzuschrecken und das bisherige Absperrungssystem
ZU verewigen. Neben der Verhandlung über die Tarifrevision werden der Ver¬
ruf der Nikolaibahn und die Concessionirung neuer südrussischer Bahnen eifrig
^trieben; gleichzeitig wird in Polen der alte Kalender und für die Staatsbehörden
der Ostseeprovinzen die russische Sprache eingeführt. Es bedarf aber nur einer
regelmäßigen Lektüre derjenigen russischen Journale, welche den leitenden Kreisen
nahe stehen und die russische öffentliche Meinung beherrschen, um zu wissen,
baß die Blicke der nordischen Großmacht und ihres Volks nichts destoweniger
und unausgesetzt auf den Bosporus gerichtet sind, daß man in Moskau und
Petersburg besser als sonst irgendwo über die Vorgänge auf Kreta und am
Fuß des Balkan, über die Bewegung unter Serben, Kroaten und Ruthenen
unterrichtet ist. Rußlands Zukunft im Südosten und das Bündniß mit den
slawischen Brüdern in West und Süd sind die consequent festgehaltenen Grund¬
gedanken, welche die Politik der moskauischen Zeitung charakterisiren und von
dieser als Säulen jeder nationalen Staatskunst gepriesen werden, um Millionen
von gläubigen Anhängern in allen Schichten der Gesellschaft — die höchsten
nicht ausgenommen, — zu finden. Unter den verschiedensten Formen wird
dieses Thema unaufhörlich variirt: handelt sichs um die römische Frage, so
wird auf das Wünschenswerthe guter Beziehungen zu Frankreich (von Preußen
ist nie anders, als im Ton absichtlicher, fast mißtrauischer Kälte die Rede)
hingewiesen „aber unsere wahren, absolut zuverlässigen Alliirten sind doch nur
die slawischen Brüder an der Donau und am Bosporus", — wird über die
friedlichen Thronreden der Beherrscher Frankreichs und Preußens berichtet, so
lautet der Refrain, „ob die Westeuropäer Friede mit einander halten, kann
uns gleichgültig sein, der Friede, welchen wir brauchen ist die brüderliche
Einigung mit den Stammesgenossen" u. s. w. Nicht mit Unrecht macht das
Organ der russischen Nationalpartei geltend, daß Nußland der einzige Staat
sei. welcher ein wirklich lebendes Interesse an den Vorgängen im europäischen
Südosten habe, daß es den übrigen Großmächten nur darauf ankomme, mög¬
lichst glimpflich über augenblickliche Verlegenheiten hinweg zu kommen. In
Westeuropa spielt alles andere eine größere Rolle, als die Frage nach der Zu¬
kunft der Türkei, — Angelegenheiten von blos lokaler Bedeutung pra'valiren,
sobald sie irgendwo auftauchen, vor den höchsten Interessen des Welttheils.
Für Oestreich würde es am nächsten liegen, dem Beispiel Rußlands in dieser
Beziehung zu folgen.
Die englische Thronrede, die dritte, welche während des abgelaufenen
Monats gehauen worden ist, zeichnet sich, insoweit sie die europäischen Gesammt-
interessen berührt, durch eine geschäftliche Kühle aus, die deutlich bezeichnet,
daß die Abneigung gegen jede Betheiligung an continentalen Händeln bei den
Britten habituell geworden ist. Seit das französische Kaiserthum aufgehört
hat. eine Gefahr für das Inselreich zu sein und die englische Diplomatie sich
der Mühe überhoben glaubt, ein westmächt!indes Zusammengehen in den schwe¬
benden Fragen um jeden Preis herbeiführen zu müssen, ganz besonders aber,
seitdem Englands Wege sich von denen Frankreichs in Mexiko trennten und
die englischen Staatsmänner sich als die schärfer sehenden ausweisen, ist die
Nichtinterventionspolitik zum Range eines leitenden Grundsatzes der brittischen
Staatskunst erhoben worden. Kaum daß man Frankreich zu Liebe noch die pa-
piernen Feldzüge nach Polen und Schleswig unternahm. Das Fiasko, das Lord
Rüssel damals mit seinen Depeschen gemachthat, haben sich auch die Tones, deren
Tradition auf Beschäftigung mit'c'ontinentalen Angelegenheiten hinwies, zur Lehre
gereichen lassen, und neben dem glücklich erzielten Parteicompromiß in Sachen
der Parlamentsreform ist es ganz besonders diesem Umstände zuzuschreiben,
daß die Derby, Stanley und d'Jsraeli aller gegentheiligen Prophezeiungen zum
Trotz 18 Monate lang im Amte geblieben sind und Aussicht haben sich noch länger
zu erhalten. Die Kälte und Rücksichtslosigkeit, mit welcher die englischen Minister
ihre Bedenken gegen die Konferenz im Unterhause geltend gemacht haben, ist darum
Niemand eine Ueberraschung gewesen; das Verhältniß zu Frankreich ist seit
lange in das Gleis ruhigen Nebeneinandergehens gerückt worden und das Er¬
bleichen des kaiserlichen Sterns ist nicht geeignet, zur Auffrischung der alten
ertönte evräialö einzuladen. Von den Depeschen, welche die englischen Blau-
büchcr dem Herkommen gemäß auch noch gegenwärtig enthalten, nehmen die
auf Abessinien bezüglichen Aktenstücke den größten Raum und das haupt¬
sächlichste Interesse in Anspruch!
Es ist herkömmlich, die englische Zurückhaltung von Fragen der großen
Politik als mit der Würde und Ehre einer Großmacht unvereinbar zu halten.
Und doch steht dieselbe in naher Beziehung zu der großen Veränderung, welche
sich seit den letzten zehn Jahren im internationalen Leben unseres Kontinents
vollzogen hat. Seit das alte System der europäischen Politik aufgelöst, die
Grundlage für ein neues System der internationalen Beziehungen noch nicht
gewonnen worden ist, sind alle Versuche großer und kleiner Diplomaten,
die Geschichte der einzelnen Glieder unseres Welttheils von einem Punkte aus
zu regeln, erfolglos zu Boden gefallen: in der luxemburger Angelegenheit ist
kein Schiedsspruch gefällt, sondern ein Kompromiß der Betheiligten herbei¬
geführt werden, wie er bezüglich der römisch-italienischen Frage absolut unmög¬
lich ist. Bevor nicht das Fundament eines neuen Staats- und Völkerrechtes
gefunden ist, das wiederum die freie Consolidation der einzelnen Völker zur
Voraussetzung hat, ist jedes Bemühen, die europäischen Fürsten zu Richtern
darüber zu machen, in wieweit die Wünsche der einzelnen Völker mit der all¬
gemeinen Wohlfahrt vereinbar sind, vergeblich und dazu unberechtigt. Das
fühlen sämmtliche europäische Kabinette mit mehr oder minderer Klarheit, und
daß England dieser Abneigung gegen Verhandlungen ohne Grundlage und
greifbares Ziel zuerst und am deutlichsten Ausdruck gegeben hat, scheint uns
darauf hinzuweisen, daß der älteste Rechtsstaat des Welttheils die lebhafteste
Empfindung für eine Forderung der Neuzeit hat, die sich durchsetzen wird, mag
die gegenwärtig projektirte Konferenz zu Stande kommen oder nicht. Bevor
die einzelnen Völker unseres Welttheils sich naturgemäß konstituirt haben, ist
jedes Bemühen, ihre inneren Verhältnisse durch die Gesammtheit zu regeln ver¬
geblich, das gegenwärtige Stadium der Jsolirung eine berechtigte innere
Nothwendigkeit.
».sxöi'a aä Ästra" nennt sich eine Sammlung von 24 Lithographien zur
Erinnerung an die Siegesthaten der preußischen Armee im Jahre 186K, gezeichnet
von F. Kaiser, L. Nurger, H. Lüders und C. Koch (Verlag von W. Loeillvt,
ins. Anstalt und Kunstdruckerci in Berlin) — ein Werk, das zu den trefflichsten
Leistungen seiner Gattung gezählt werden muß. Reden Episoden einzelner Kämpfe
aus der Schlacht von Königgrütz und China, den Tressen bei Tvbitschau, Aschaffen¬
burg, in Trautcnau und Würzburg, welche natürlich den Hauptbestand des Albums
ausmachen, - bieten andere Blätter Pvrträtdarstellungeu hervorragender Helden in
charakteristischer Staffage, und auch der Friedcnsdicnst im Felde, Lazarett)- und
Transportwesen :c. ist nicht vergessen, sodaß man wirtlich eine Gesammtvorstellung
von der erschütternden Masse und Wucht der Schicksale und Erscheinungen erhält,
welche die Silbe „Krieg" zusammenfaßt. — Bald nach dem Frieden schon haben die
grünen Blätter auf die Fülle künstlerischer Arbeit hingewiesen, welche der vorige
Sommer im Gefolge hatte, und bereits damals konnten ungewöhnliche Erwartungen
mit bestimmten Namen verbunden werden. Begleitete die Illustration die Dinge auf
frischer That, so reifen freilich Darstellungen, welche auf die Würde historischer Kunst
Anspruch machen, erst langsam nach; hier haben wir eine Mittelstufe: mit Liebe aus¬
gearbeitete und zum anschaulichen Ganzen combinirte Skizzen, welche daraus aus¬
gehen, die volle Realität der einzelnen Vorgänge oft — wie wir glauben — bis
ins Porträtmäßige zu packen. Korrektheit der Zeichnung foule des militärischen
Details und ungeschminkte Wahrheit wird erstrebt, und wir zögern nicht mit der
Anerkennung, daß dies in hohem Maße erreicht ist. Allerdings sind die Blätter
von sehr ungleichem Werth, aber wo das innerhalb der Schranken der Reprvdut-
lionsweise und der speziellen Ausgabe Bestmögliche vorliegt, haben wir es mit muster¬
haften Leistungen zu thun. Namentlich gilt das von den überaus lebendigen, flott
hingeworfenen und doch skrupulös genauen Darstellungen der Gefechtsscenen. Das
Album, dem Kronprinzen von Preußen gewidmet, ist zum Besten der National-In-
validen-Stiftung herausgegeben, eine Bestimmung, die freudigsten Dank verdient. —
Im Anschluß an dieses Denkmal der Heldenthaten gedenken wir des kleinen
Votiv-Gedichtes „Ein Opfer von Königgrätz" von Heinrich August (Verl.
von Th. Lißner in Leipzig), welches das Schicksal des infolge eines Schusses erblin¬
deten Sergeanten Weber in Wittenberg in einer Reihe von Gesängen schildert, die
hübsches poetisches Geschick und wackere Empfindung zeigen. Als Benefiz eines Bra¬
ven von 1800 möge es in der diesjährigen Weihnachtszeit nicht vergessen sein.
Der Kunstverlag von William Kemkem in Weimar hat soeben eine"
stattliche Reihe von Fortsetzungen zu den im vorigen Jahre mit gebührender Aner-
mnung begrüßten photographischen Nachbildungen von Studienblättern Fried-
dich Prellcrs herausgegeben. Gleich lehrreich und Anziehend für Künstler wie fut
Kunstfreunde sind diese Arbeiten des genialen Meisters der Landschaftskunst ganz
besonders geeignet, die Art und Weise zu verdeutlichen, wie der Maler sich an die
Wirklichkeit der Natur hingeben kann, ohne seine Individualität zu verlieren. Diese
Wahrheit nach innen wie nach außen ist das Charakteristische von Prellers Technik
und Auffassung und zugleich die höchste Forderung der Kunst. Mag uns je nach
der Vollendung der einzelnen Blätter hier das Eindringen in specielle Formen, dort
die Wiedergabe großer Züge, endlich sie Durchbildung eines Stückes realer Well
zum geschlossenen Bilde vorliegen, -— immer t>lgt der Blick mit höchstem Behagen
der unfehlbaren Sicherheit dieser rastlos thätigen, nie sich befriedigenden und doch
immer die Höhe künstlerischen Bermögens bewahrenden Hand, die auch bei strengster
Einschränkung auf die reinen Formen die Farbenvorstellung fast niemals leer aus¬
gehen läßt. — Die neue Serie italienisch er Studien erfreut überdies; durch zahl¬
reiche Figurenblüttcr, die den ausgebildeten Sinn für das Physiognomische der mensch-
lichen Gestalt und die frische Behandlung des Porträts erkennen lassen. — Eine neue
Folge endlich, betitelt „Stizzcnbücher", gibt in großem Format breit angelegte land¬
schaftliche Bcvnten, vorzugsweise aus der (Al-MANir al livma und dem LieblingsoUe
Prellers, Olevano, — Blätter, welche neben der Großheit der Charakteristik die
Fähigkeit schon oben betonte „farbiger" Zeichnung in hervorragender Weise zur Gel¬
tung bringen. — Wir zweifeln nicht, daß diese ausgezeichneten Arbeite» sich gleiche
Popularität und gleiche Wirksamkeit sichern werden, wie die früheren Spenden des
Meisters, mit dessen energischer Gestaltungskraft das gewissenhafteste Studium der
Natur allenthalben Schritt hält.
Demselben Kunstverleger verdanken wir den Beginn eines anderen socher--
wünschten Wertes:
^ Die bekannten Müllcrschcn Umrißftiche nach Carstens, von welchen, wie wir vcr-
bcrnehmcn, eine neue wohlfeilere Ausgabe vorbereitet wird, haben längst dem Inter¬
esse sür die in Weimar befindlichen Originalzeichnungen des edlen Erneuerers der
deutsche» Historienmalerei auch in weiteren Kreisen des Publikums Nahrung gege¬
bn. Aber mit der Freude über jene Bcrviclsältigung von Carstens' Compvsiuvnen
wuchs das Verlangen nach größeren und vollständig getreuen Copien, wie sie nur
die Photographie zu geben vermag. Diesem Unternehmen jedoch stellten sich ver¬
schiedene technische Hindernisse in den Weg; vor allem war das Material der Zcich-
"Augen (meist Rothstift) und die äußerliche Beschaffenheit der Blätter ungünstig. In¬
deß ernste Begeisterung für die Sache und unablässiger Fleiß hat Hrn. Kemkem zum
ö'cle geführt, und so geziemt es denn, angesichts dieser ausgezeichneten Leistungen
ihm und den direkten und indirekten Förderern des Werks zunächst Dank und An¬
erkennung zu spenden. Die Photographien, durchschnittlich in einer Größe von
11^14 zu 1,6 Zoll, sind nicht blos genügend, alle Details der Composition sowie
die Eigenthümlichkeiten der Manier klar auszusprechen, sondern sie geben vermöge
ihrer Dimension auch den Gesammteindruck der Bilder ause trefflichste wieder. Wenn
das vorherrschende zarte Krcideroth der Originale in den bekannten sepiaartigen Ton
der Photographie übersetzt ist, so hat doch bei den Blättern, die uns vorliegen
(Heft I gibt: „Oedipus und Theseus im Hain der Eumeniden", „die Ueberfahrt
des Mcgapenthcs", „die Geburt des Lichts" und „die Nacht mit ihren Kindern")
-— die Behandlung durch Milde und feine Harmonie dem Charakter der Zeichnun¬
gen bestens zu entsprechen gewußt. — Mit freudiger Genugthuung sehen wir daher
der Fortsetzung dieses vorzüglichen Werkes entgegen und zweifeln nicht daran, daß
das, wenn auch nicht sehr zahlreiche, fo doch um so zuverläffigere Publikum, wel¬
chem dasselbe dargeboten ist, es nicht an gebührender Theilnahme und daraus folgender
Ermuthigung fehlen lassen wird. Vor allem sei es den Sammlern und den öffent¬
lichen Kunstinstituten aufs angelegentlichste empfohlen. Verhalten sich letztere neuer¬
dings oft zu behutsam gegen derartige Unternehmungen, weil die Erfahrung vor¬
liegt, daß unvorsichtig behandelte Photographien mit der Zeit nachlassen, so darf
bei unserem Gegenstände die Behauptung gelten, daß die eventuelle Nöthigung, nach
einem unbestimmten Turnus von Jahren einzelne verblichene Exemplare zu ersetzen,
die Pflicht nicht mindert, solche unübertreffliche Reproduktionen epochemachender
Meisterwerke anzuschaffen, vollends wenn, wie im vorliegenden Falle, durch die tech¬
nische Behandlung, welche nichts von der Leichtfertigkeit der Spekulation an sich hat,
alle mögliche Garantie der Dauer gegeben ist.
Wir besitzen in diesem Werke, das wir schon vor längerer Zeit ankündigen
konnten, die Ausführung eines umfassenden Planes, zu welchem G. Koch durch den
verdienten Erfolg angeregt wurde, welchen seine Zeichnung nach der Naäonna Aelia.
Loäia. erwarb. Die beliebtesten Gemälde Rafaels in chronologischer Folge von
solcher Hand vorgeführt zu erhalten, ist eine Aussicht, deren man sich nur in hohem
Grade freuen kann. Sind unter den vorliegenden Blättern einige (z. B. Lello
M-cliniÄ-g und VierZs an volle), die in manchen Zügen dem Auge des Publikums
Befremdendes zeigen, so liegt dies darin, daß die Vorstellung vieler rasaelischer Bil¬
der voreingenommen ist durch die bisherigen Copien. Unser Künstler hat sich da¬
gegen streng an die Originale gehalten und seine glückliche Befähigung für die
Wiedergabe in Kreide trägt vielfach dazu bei, unsere Auffassung der Stilwcise des
Urbinaten, die je nach den Perioden seines Schaffens verschieden ist, zu berichtigen.
Da der Künstler aber sonach oft genöthigt ist, sich mit der populären Tradi¬
tion auseinanderzusetzen, so wünschten wir, daß ihm sein wackeres Streben durch
weichere Abtönung der an sich vorzüglichen Albertschen Photographien noch mehr
erleichtert würde, besonders, weil er selbst schon im höchsten Maße auf Kraft und
Energie der Zeichnung bedacht ist. Auf Grund unserer Bekanntschaft mit einigen
demnächst zur Veröffentlichung bestimmten anderen Nafaclcopicn Kochs können wir
dem Unternehmen, das seine Empfehlung in sich selbst trägt, nur das beste Progno¬
stikon stellen.
Ist Schcrcrs treffliche Volkslieder-Sammlung lange schon ein Liebling unsres
Publikums, so bürgt die Hand, welche uns die vorliegende neue Auflage darbietet,
für Erfüllung aller etwa zu wünschenden Verbesserungen. Die vierstimmige, zugleich
für Clavier ausreichende musikalische Behandlung der neu ausg-nommencn Stücke
rührt wie der bisherige Grundstamm der Sammlung von K. M. Kunz her und
zeigt die bekannte zartfühlende Gewissenhaftigkeit. Betrachten wir die in überwiegen¬
der Mehrzahl höchst gediegenen, theilweis ganz meisterhaften Illustrationen, welche
Ludwig Richter, v. Ramberg, Piloty. Strähubcr, von Schwind u. A. gespendet
haben, so fällt allerdings auf. daß der letztgenannte Künstler im vorliegenden Falle
unsre Erwartung im Stich läßt; dagegen müssen wir ganz besonders die Volks-
thümliche Frische des ncuhinzugcsclltcn Paul Thumann rühmend hervorheben. Trotz
wesentlicher Bereicherungen, trotz neuer geschmackvoller und zugleich handlicherer
Ausstattung wird nun das Werk zu einem Preise (2 Thlr.) geliefert, der die wei«
teste Verbreitung ermöglicht. Solcher Muth, wahrhaft Schönes und Echtes auch
geschäftlich als Volksgut zu behandeln, ist wärmster Anerkennung werth und wird
ohne Zweifel den thatsächlichen Dank finden, den er verdient; wir wünschen eS
doppelt, da die Sammlung als Collectio der neuerdings im Männcrgesang über¬
wiegenden modernen Effect-Producte den Sinn für unser bei aller Einfalt der Em¬
pfindungen so überreiches Volkslicderthum neu verbreiten und darum von fich selber
sagen kann: „wer dieses Brünnlcins trinket, der junge und wird nit alt." —
Die kleine Schrift zeigt von löblicher Pietät und ist jedenfalls gutgemeint;
im Uebrigen wäre nicht viel darüber zu bemerken. Wenn wir derselben hier Er¬
wähnung thun, so geschieht es aus einem besonderen Grunde.
Der Verfasser machte sich zuerst durch ein umfangreicheres Buch über Rückert
bekannt, das im Allgemeinen von der Kritik wohlwollend aufgenommen wurde.
Man sah über manche schiefe Urtheile und Uebcrschwünglichkciten hinweg und nahm
das Ganze, wofür es sich vorzugsweise gab, als eine handliche Anthologie; und
da das Buch gerade zur rechten Zeit erschien, bald nach dem Hinscheiden des ver¬
ehrten Dichters, glaubte man um so mehr, es mit einigen freundlichen Worten
empfehlen zu dürfen.
Seitdem begegnet man von Zeit zu Zeit in deutschen Journalen der Bezcich-
"ung des Verfassers als „des bekannten Rückertforschers", und daß Herr Dr. Beyer
diese Ansicht befreundeter Federn acceptirt, geht auch aus dem vorliegenden Schrift-
chen hervor. Es heißt darin z. B. l> 11), bei der Erwähnung der Frage, wem
der Soncttcnkranz „Agnes' Todtenfeier" gewidmet gewesen sei: „wie sich durch meine
Forschungen herausgestellt hat". Da nun Rückert bei Lebzeiten nie ein Hehl aus
dem Namen gemacht hat. so sind Herrn Dr. Beycrs „Forschungen" mindestens
überflüssig gewesen, was ihn gleichwohl nicht hindert, sich in ähnlich ungerechtfertigter
Weise wiederholentlich des Ausdrucks zu bedienen. Im Ganzen müssen wir doch
nach dem bisher von Herrn Beycr Erschienenen den dringenden Wunsch äußern, daß
er „Forschungen" anzustellen und zu publiciren, berufener» Kräften überlassen
möge-, womit übrigens seiner warmen Begeisterung für Rückert keineswegs zu nahe
getreten werden soll.
Eine kleine Schrift, die alles aus die wenigen Wochen Bezügliche enthält, welche
Goethe 1790 während der Preußischen Truppenzusammcnzichung behufs der damals in
Aussicht genommenen, aber bald wieder aufgegebenen Campagne gegen Oestreich
im Gefolge des Großherzogs von Weimar in Schlesien zubrachte. Der Verfasser
hat das spärliche Material mit emsigen Fleiß von allen Seiten her zusammengetragen
und mit gewissenhaftem Urtheil verwendet. Zeitungen jener Tage, neuere journali¬
stische Publicationen sowie Briefsammlungen haben herhalten müssen, alles, was ver¬
streut und deshalb mehr oder weniger unzugänglich war. Auch einiges unsers
Wissens bisher Unbekannte findet sich vor. Wir können uns nicht versagen, die
allerliebste Mittheilung über die Begegnung Goethes mit Johann Timotheus Her¬
mes, einer nun fast vergessenen Literaturgröße jener Zeit, hier abzudrucken. Der
Verfasser berichtet nach glaubwürdiger mündlicher Tradition wie folgt: „Als Hermes
von Goethes Anwesenheit in Breslau Kunde erhalten, gab er sich anfangs der Er¬
wartung hin, daß dieser nicht lange zögern werde, ihm einen Besuch abzustatten.
Doch als dieser nicht erfolgte, entschloß er sich endlich nach langem Hin« und Her-
überlegen, selbst den ersten Schritt zu thun. Mit geziemender Würde, wird be¬
richtet, stieg er die zu Goethes Wohnung führenden Stufen hinauf, als dieser raschen
Schrittes dieselben herunter kommt und beide sich mitten auf der Treppe begegnen.
Hermes, welcher Goethe bereits einmal gesehen, wußte sofort, wen er vor sich sähe,
und läßt sich, da er bemerkt, daß Goethe an ihm vorübereilen will, zu der An¬
frage herbei, ob er wohl den Dichter des Werther vor sich zu sehen die Ehre hätte.
Mein Name ist Goethe, antwortete dieser kurz, und wer sind Sie? — Ich bin
der Verfasser von Sophiens Reise von Memel nach Sachsen. — Und der ist? fragte
Goethe, und feste unbekümmert um das Schicksal des unglücklichen Hermes, der in
seinen gehegten Erwartungen bitter getäuscht, kein Wort hervorzubringen ver¬
mochte, seinen Weg fort." — Derartiges findet sich mehrfach in dem geschmackvoll
ausgestatteten Büchelchen, — so z. B. der S. 46 erwähnte Groll der Tarnowitzcr
gegen Goethe, — und auch die sorgfältig gearbeitete chronologische Uebersicht am
Schluß bringt einige nicht uninteressante Details. Die anspruchslose Zusammen¬
stellung des Auffindbaren macht die kleine Monographie verdienstvoller, als manche
langathmigc Goetheabhandlungen.
Eine besonders erfreuliche Thätigkeit auf dem Gebiete des Vereinswesens
für öffentliche Zwecke hat das deutsche Volk im Laufe des letzten Jahrzehnts
in Bezug auf die Rettung Schiffbrüchiger entwickelt. Angefeuert durch das
von so überaus günstigem Erfolge begleitete Vorgehen Amerikas, Englands und
des kleinen Dänemark hat auch die deutsche Nation es als ihre Pflicht erkannt,
den gefährdeten Seeleuten zu Hilfe zu kommen und die Schrecken einer Stran¬
dung an deutscher Küste nach Kräften zu mildern. Aus unbedeutenden An¬
fängen hat sich ein mächtiges Werk entwickelt; fast an allen besonders gefähr¬
lichen Stellen der deutschen Nord- und Ostseeküste sind Rettungsstationen er¬
richtet, unzählige Vereine im Innern Deutschlands sind eifrig bemüht, die
nöthigen Geldmittel zu beschaffen, fast alle haben sich zusammengeschlossen
zu der deutschen Gesellschaft für Rettung Schiffbrüchiger und dem Haupt-Comitv
in Bremen willig die centrale Leitung des Rettungswescns überlassen. Leider
sind einige wenige Vereine, darunter der Hamburger und der in Emden domi-
cilirtc ostfiicsische Verein, — welch' letzterer deshalb besondere Bedeutung hat,
weil er die wichtige Nordsccküsie von der holländischen Grenze bis zur Jcchde
allein versorgt — dem Hauptvcrcin noch nicht beigetreten; allein auch hier
wird zweifellos in kürzester Frist das zu neuem Schwung erwachte nationale
Leben den Particularismus besiegen.
Hunderte Von Menschenleben sind schon durch die Nettungs-Anstalten
dem Tode entrissen, täglich bewährt sich das segensreiche Institut mehr und
findet immer allgemeinere Theilnahme. Und nicht die Regierungsgewalt hat
hier eingegriffen, sondern freies Zusammenwirken thätiger und opferwilliger
Menschenfreunde hat so Großes geleistet; der einmal beschrittene Weg hat sich
der richtige gezeigt, da aber das Masj des zu Leistenden die Kräfte des
Einzelnen weit übersteigt, kann nur die Vereinigung Vieler von Erfolg sein,
und wie wiederum jedes Zusammenwirken nur fruchttragend sein kann, wenn
es in einheitlicher Weise geleitet wird und die Gesamtleistungen nicht zer¬
splittert, sondern aus die zur Zeit gerade der Hilfe bedürfenden Punkte con-
centrirt weiden, so muß das deutsche See-Rettung?wesen auch dauernd durch
einen großen, alle Mittel zusammenfassenden Verein mit einheitlicher Spitze
geleitet werden.
Dennoch läßt sich aber auch hier, um einen thunlichst befriedigenden Zu¬
stand herzustellen, die Mitwirkung der Regierungsgewalt nicht ganz entbehren;
nicht zwar zur Herbcischaffmig reichlicherer Geldmittel, denn in dieser Richtung
hat sich der opferfreudige Sinn der Bevölkerung schon genügend manifestirt,
wohl aber wegen des engen im Binnenlande nicht genug gewürdigten Zusam¬
menhangs des Nettungswesens und des sog. Strandrechts; mit andern Wor¬
ten: die von der Privatthätigl'an erstrebte Rettung gestrandeter Menschen muß
in Einklang gesetzt werben mit der gesetzlich geregelten und meist durch Negic-
rungsorgane geleiteten Rettung der gestrandeten Schiffe und Güter. Während
früher fast lediglich auf die letztere das Augenmerk gerichtet war, ist jetzt end¬
lich mit Recht die erstere in den Vordergrund getreten. Die fast überall noch
in Kraft stehenden alten Strandungsordnungcn aber genügen dem jetzt allgemein
zur Geltung gebrachten Rechtsbewußtsein, daß bei jedem Schiffvruche zunächst
nur die Rettung von Menschenleben in Frage kommen dürfe und müsse, noch
keineswegs, und das lahmt dao Rctlungswerk oft auf das empfindlichste.
Die deutsche Presse hat unleugbar ein großes Verdienst um Förderung des
Nettungswesens; sie hat die Vereinsthätigkeit auf das wärmste unterstützt und
namentlich durch lebendige Schilderungen der Noth und der Gefahr der Schiff¬
brüchigen und durch Erzählungen von den todcsmuthigen Anstrengungen und
helvenkühnen Thaten der Rettungsmannschaften, die, um anderer Leben zu
retten, das eigene unbedenklich wagen, das Interesse der binnenländischen Be¬
völkerung an dem Rettungswerk zu beleben gestrebt, und dies Streben ist nicht
erfolgslos gewesen. Aber leider waren fast alle diese Schilderungen etwas
zu poetisch gefärbt und manche Rcttnngsthat, die im Oberlande mit andächtiger
Bewunderung angestaunt wird, findet an der Küste eine ganz andere und ge¬
rechtere Beurtheilung.
Die Wahrheit gebietet, offen zu sagen, daß der deutschen Küsten- und
Jnsclbevölt'erung der ihr durch die Journale und Zeitungen zu freigebig er>
theilte Ruhm, alle andern Interessen hintanzusetzen, sobald es sich um Rettung
von Menschenleben handelt, so allgemein leider noch nicht gebührt. Wir müssen
das behaupten, und wahrlich, wenn es anders wäre, so wäre es ein Wunder!
Man täusche sich nicht, schließlich bleibt im großen Ganzen genommen das eigne
Interesse die Triebfeder des menschlichen Handelns. Bringt man das Interesse
in Widerstreit mit sittlichen Pflichten, so werden nur zu oft die letztern unter¬
liegen. Denn hat auch die Geschichte noch so viele und glänzende Ausnahmen
von diesem Satze auszuweisen, sie sind und bleiben eben Ausnahmen. Als Regel
leitet das eigne Interesse die Einzelnen wie die Völker und Nationen. ,
Die Pflicht drängt den Küstenbewohner zur Rettung der Menschen, das
Interesse zur Rettung der Sacken; wo beides collidirt, wird das Nettungswerk
nur zu häusig leiden, und da muß der Staat eintreten und durch zeitgemäße
Umwandlung der Strandungs-Gesetzgebung verhindern, daß solche Collision
eintreten kann; die Gesetzgebung muß dem heutigen allgemeinen Rechtsgefühl
entsprechend Vorsorge treffen, daß ein Schiffbruch nicht mehr als ein Glück
und ein Segen von der Strandbcvvlkcrung begrüßt werden kann, sie muß den
starken Rest mittelalterlicher Barbarei, der in dem heutigen Strandrecht noch
immer steckt, mit der Wurzel vertilgen und dahin wirken, daß der leidige Be¬
griff des „Strandsegens" endlich zu existiren aufhört.
Es ist eine traurige aber unwiderleglich wahre Thatsache, daß auch noch
heute im Jahre 1867 der Sinn für Recht und Unrecht in Bezug auf Strand¬
gut in der Küstcnbevölkerung fast gänzlich fehlt, daß auch die sonst redlichsten
Leute in diesem Punkte völlig demoralistrt sind, daß namentlich auf manchen
Inseln eine ausgebildete Strandräuberei existirt, daß sonntäglich in einem nichts
weniger als christlichen Sinne um einen „gesegneten Strand" gebetet wird,
daß jeder Strandungsfall als eine wahre Goldgrube auf das schamloseste aus-
gebeutet wird, selbst von Personen, die nach Stand und Bildung auf der Höhe
sittlicher Anschauungen stehen sollten.
An Beispielen dieser Art fehlt es nicht.
Haben doch vor wenigen Jahren erst Prediger und Schullehrer einer Insel
wegen Theilnahme an solch' unbefugten Strandraubc ihres Dienstes entsetzt
werden müssen, haben doch bei der im Jahre 1866 vorgekommenen, vielfach
besprochenen Strandung des englischen Dampfers Excelsior auf dem Juister
Riff sich zwei Aerzte nicht entblödet, für die Behandlung der geretteten Mann¬
schaft zusammen über 2000 Thlr. zu fordern, um sich nachher mit weniger als
dem vierten Theil ihrer Forderung zu begnügen!
Nur wer an der Küste gelebt, wer selbst Schiffe hat stranden sehen,
wer die Abwicklung der Strandungsgcschäftc oftmals beobachtet, die maßlosen
Rechnungen vor Augen gehabt hat, die dabei von allen Seiten aufgestellt wer¬
den, nur wer sich selbst überzeugt hat, mit welcher Gier und Habsucht jeder an
dein Strandgut zu zehren bestrebt ist, nur der kann ermessen, welch' tiefe De¬
moralisation das Strandwesen auch in seiner heutigen Gestalt noch im Ge¬
folge hat, welch' sittlicher Krebsschaden dasselbe für die Küsten- und Jnsel-
bevölkerung ist, und wie entsetzlich schwer es hält, seit Jahrhunderten im Volk
Angewurzelte falsche und verwerfliche Begriffe auszurotten.
Hören wir über die Zustände in Ostfriesland, wo sie notorisch noch keines¬
wegs am schlimmsten liegen, einen sein Baterland warm liebenden und mit
seinen Sitten besonders vertrauten Ostfriesen (v. Halem): „Nirgends ist der Reiz
zum Stehlen stärker und unüberwindlicher als — besonders auf den Inseln —
bei den Strandungen. Menschen, die in allen übrigen Verhältnissen des Lebens
unantastbar ehrlich und rechtlich verfahren, machen sich daraus kein Gewissen.
Die Jnselbewohner sind seit Jahrhunderten gewohnt, den Strand als ihre
Domäne zu betrachten. Meinung und Glauben des Volks, die sich durch Ge¬
setze nicht ausrotten lassen, fordern einen reichlichen Antheil am Strandgut als
Recht; wo man dies bedroht glaubt, wird gestohlen."
Diese Worte sind durchaus nicht zu hart; es ist in der That unglaublich,
mit welch' bodenloser Verachtung von Recht und Gesetz oft noch Strandräuberei
getrieben wird; hatten sich doch um den schon erwähnten auf dem Juister Riff
fest sitzenden „Excelsior" im März 1866 nicht weniger denn 20 verschiedene
Ewer, Schaluppen und andere Fahrzeuge, meist von Blank'nuche und Fieckmo-
verden gesammelt, um offen zu plündern, sodaß der Vertreter der betreffenden
Assecuranzgesellschaft den Schutz der bewaffneten Macht dagegen hatte anrufen
müssen und die frechen Diebe sich erst verscheuchen ließen, nachdem die Gen¬
darmerie eins dieser Raubboote auf offener See geentert und zwei Mann der
Besatzung trotz ihres Widerstandes verhaftet hatte! Beiläufig auch eine traurige
Nothwendigkeit für einen Küstenstaat, wie das damals noch existirende Han¬
nover, zu solcher Expedition auf offener See bei stürmischem Wetter in einem
gemietheten Boote die der See völlig fremden Landgcndarmen verwenden zu
müssen; und daß bei der Ueberzahl und der trotzigen Stimmung der Strand¬
räuber die aus einem Officier und neun schwer bewaffneten Leuten bestehende
Gendarmerieabtheiiung ihren Auftrag ohne Blutvergießen und glücklich durch¬
geführt hat, ist nur der damals in der ganzen Umgegend mit hoher Bewunde¬
rung anerkannten, mit kaltblütiger Ruhe und Umsicht gepaarten furchtlosen
Energie des betreffenden Officiers zu danken.
Aehnliche Beispiele von Strandräubcrei lassen sich in Menge anführen,
aber wir glauben, das eine genügt, um denjenigen, die durch die gefärbten
Zeitungsberichte in der Küstenbcvölkerung nur biedere, gottesfürchtige und un¬
eigennützig für anderer Rettung sich aufopfernde Menschen erblicken zu müssen
glauben, ein etwas weniger lockendes aber desto richtigeres Bild von den sitt¬
lichen Zuständen mancher Meeranwobner zu gewähren.
Daß aber solche auch gegen jedes Gesetz verstoßende grobe Ausschreitungen
noch so häusig vorkommen können, ist unsrer festen Ueberzeugung nach nur da¬
durch möglich und erklärlich, daß das Gesetz selbst dem auch den Ausschreitungen
im letzten Grunde als Quelle dienenden Stnindrecht, d. h. mit dürren Worten:
dem Recht auf andrer Eigenthum, noch viel zu vielen Spielraum läßt. Nicht
die offenen Verbrechen, die beim Strandwesen so vielfach vorkommen, sind das
schlimmste, sondern der Geist der Gesetzgebung und die laxe Praxis, die, wenn
auch unter verblümtem Namen, wie Bergelohn, Hilfslohn :c. in der That ein
weit gehendes Strandrecht zulassen, d. h. der Strandbevölkerung einen durch
keinerlei inneren Grund gerechtfertigten Anspruch auf einen erheblichen Theil
aller gestrandeten Schiffe und Güter zusprechen, dadurch aber eben jeden
Strandungsfall zu einer überaus ergiebigen Erwerbsquelle für die Bevölkerung
machen und diese wiederum mit Nothwendigkeit zu einer unseligen Begriffsverwir¬
rung führen. Objective Beurtheilung wird, wo das eigene Interesse in Frage
kommt, schon dem Gebildeten schwer, wieviel mehr dem gemeinen Manne!
Bedenkt man indeß die durchgängige Armuth der Küstenbevölkerung,
ihren meist niedrigen Bildungsstand, die Abstumpfung gegen die Schrecken
der See, die der tägliche Verkehr auf derselben mit sich bringt, und vor Allem
den durch vielhundertjährige Tradition geheiligten, durch das Gesetz geschützten
Rechtsanspruch auf das Strandgut, so wird das Urtheil über die sittliche An¬
schauung des Strandbewohners minder hart ausfallen, als es ohne diese Um¬
stände vom höchsten Standpunkt des Rechts und der Moral aus geschehen
müßte.
Betrachen wir, ehe wir auf die nothwendig neu zu legenden Grundlagen
näher eingehen, zunächst kurz die geschichtliche Entwicklung des Strandrcchts.
Die alte Welt unterschied sich bekanntlich in ihrer gesammten Rechtsan-
schauung von der neueren Zeit wesentlich durch völlige Beschränkung des Reck'ts-
schutzes auf die Angehörigen des eignen Staats; ein internationales Privat¬
recht war unbekannt; nnr der eigene Vollbürger genoß des vollen Rechtsschutzes
und erfreute sich voller Rechtsfähigkeit; der Fremde war so gut wie rechtlos.
Galt doch selbst das eigentliche römische Recht ursprünglich nur für die Qui¬
riten, die alten Vollbürger Roms; mußte doch auch später noch, um die
Bundesgenossen und die Einwohner der neu erworbenen Gebiete den Römern
rechtlich gleich zu stellen, denselben das römische Bürgerrecht verliehen werden!
Bekannt ist die Strenge der mosaischen Gesetzgebung gegen Fremde; bekannt
aus den Homerischen Dichtungen, wie schütz- und rechtlos der Fremde nach
griechischer Anschauung war; in gleicher Weise finden wir in der Edda eine
Menge Hinweisungen aus die gleiche Behandlung der Fremden durch die nor¬
dischen Völker.
Diese Auffassung führte naturgemäß dahin, zwar nicht ein eigentliches
Straridrecht in Bezug auf verunglückte Schiffe zu constituiren, als vielmehr diese
in Ermangelung jedes der Mannschaft zur Seite stehenden Rechtsschutzes als
gute Beute für jeden zu betrachten, der sich ihrer factisch bemächtigen konnte.
Erkannte man auch schon früh den Nutzen gesicherter Handelsverbindung und ließ
man daher die in die Häfen einlaufenden fremden Schiffe meist unbehelligt, so
konnte dies Motiv bei einem meist an unwirthbarer Küste vorkommenden Schiff¬
bruche keine Bedeutung mehr haben. Schiff und Mannschaft verfielen den
Strandbewohnern und die Gestrandeten mußten froh sein, das Leben zu retten;
die Freiheit verloren sie nur zu häufig. Die reichlichen Erträge, die namentlich
an einzelnen besonders gefährdeten Küstenstrichen die Strandungen aufbrachten,
veranlaßten mancher Orten auch die Herren des Landes selbst, einen Antheil
davon in Anspruch zu nehmen, und so gestaltete sich dann durch die Theil¬
nahme der Obrigkeit an dem Sirandraub dieser allmählich zu einem Strand¬
recht, das allerdings im Gnade nichts anderes war, als die Feststellung eines
Maßstabs für die Theilung des Raubes. Die unvollkommene Einrichtung der
Schiffe und Boote, die ungenügende Kenntniß der Wasser und Küstenverhält¬
nisse, der gänzliche Mangel an Karten, die meist dünne Bevölkerung des Stran¬
des wirkten überdies zusammen, um eine Rettung der gestrandeten Menschen
nur selten zu ermöglichen; wurden diese aber gerettet und waren es Einhei¬
mische, die ihr Recht verfolgen konnten, standen sie also dem Interesse der
Strandbewohner im Wege, nun, so war es bei dem wilden und rohen Sinn
der Bewohner, die sich im Besitz der schon sicher geglaubten Beute gefährdet
wähnten, nichts seltenes, daß die unwillkommenen Gäste beseitigt wurden. Na¬
mentlich die Küsten des schwarzen Meeres waren im Alterthum berüchtigt wegen
der rohen und unmenschlichen Behandlung der Schiffbrüchigen. Zu welch co¬
lossaler Macht dies Piratenthum mehrfach anwuchs, zeigen schon die verschie¬
dentlich von Rom dagegen unternommenen, zum Theil den Charakter eines
förmlichen Krieges annehmenden Expeditionen. Und sollten die Leute, die auf
offener See fremde Schiffe anfielen, die Menschen tödteten oder als Sclaven
verkauften und die Schiffe als Beute heimführten, Bedenken getragen haben,
in gleicher Weise gegen Leute zu Verfahren, die ein „glücklicher" Zufall ihnen an
ihre heimische Küste selbst zuwarf?
Die Justinianische Gesetzgebung versuchte wohl gegen die gänzliche Rechts¬
unsicherheit der Gestrandeten einigen Schutz zu gewähren; aber das Leben war
stärker als das Gesetz, und die Sache blieb, wie sie war.
Von unsern deutschen, Küsten liegen zwar aus der vorchristlichen Zeit be¬
stimmte Berichte über das Strandwcsen nicht vor; aber der ganze Geist der
damaligen Zeit, die rauhen Sitten unserer Vorfahren im allgemeinen und vor
allem die aus späterer Zeit als von Alters her bestehend bezeugte Sitte lassen
keinen Zweifel darüber, daß auch hier die Schiffbrüchigen als rechtlos, ihr Gut
dem Strandherrn verfallen betrachtet wurde.
Mit Entschiedenheit trat erst die Nelchstagsgcsctzgcbung gegen das Strand¬
recht auf. Kaiser Carls V. peinliche Gerichtsordnung von 1332 bestimmte im Art.
218: „Die Gewohnheit, daß, so ein Schiffmann mit seinem Schiffe verfäret und
schiffbrüchig würde, er alsdann der Obrigkeit desselbigen Orts mit Schiff, Leib
und Gütern verfallen sein sollte, wird als eine mißbräuchliche, böse und unver¬
nünftige aus kaiserlicher Macht hinfort gänzlich aufgehoben, vernichtet und
abgethan."
Aber die Reichsgesetze fanden bekanntlich nur wenig Beachtung, namentlich
wenn die einzelnen Territorialherrn sie ihrem Interesse widersprechend fanden
Daß dies auch hier der Fall war, geht aus einer Menge späterer Erlasse her¬
vor, in denen die obige Vorschrift wieder eingeschärft werden.
Noch weit später suchten sich namentlich Hamburg und Bremen, sowie
Holland und Schweden durch Spccialverträge mit den einzelnen Küstenstaaten
für ihre Unterthanen wenigstens einen Schutz gegen das Strandrecht zu sichern,
ein Beweis, wie wenig allgemein ein solcher stattfand.
Noch 1619 erklärt auf eine derartige Beschwerde der Stände die gräflich
ostfriesische Regierung es für eine alte Gewohnheit, daß „man die geborgenen
Güter in drei Theile geleget, davon einer den Jnsulanis, der andre der Obrig¬
keit, der dritte den Proprietariis wieder zugelegt werde".
Im I. 1663 beschweren sich die ostfriesischen Stände abermals, daß die
fürstliche Regierung „obwol reg ojoetg, per vauiraZium vermöge der natür¬
lichen und Civilrcchte gegen gehörigen Bergelohn restituirt werden müsse, den¬
noch vielfältig dagegen handle und solche Güter unterm Prätcxt der Negalium
für sich angreife"; worauf die Regierung einfach erwidert: „Was die Schiff¬
brüchigen und angcstrandeten Güter betrifft, ist klaren Rechtens, quocl bona
vaeairtia eeäsnt I'iseo, Wenn aber die Güter von ihrem Herrn verfolget wer¬
den, so haben sich allein des heil. ron. Reichs Unterthanen mit Kaiser Carls
Ordnung zu behelfen; fremder Potentaten Unterthanen aber werden billig also
tractirt, wie Unsern Unterthanen bei ihnen geschieht, und sein die Stände dar¬
über zu querulircn nicht befugt".
Wer etwas zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wird sich ein ziemlich
klares Bild davon machen können, daß die Schiffbrüchigen von der Regierung
nicht gerade auf milde Behandlung hoffen durften, und wenn die Regierung
sie nicht Schuhen. von der Bevölkerung'sicher noch weniger. So blieb es bis ins
vorige Jahrhundert. Aus dem Anfange desselben haben wir noch Erlasse, wonach
„die Herren derer Herrlichkeiten, denen das Strandrecht anncx ist" gewarnt
werden, in dem. was ihnen „billigmäßig gebühret, nicht zu excediren" und
aus der gleichen Zeit wird noch mehrfach das Bestehen der alten Ge¬
wohnheit bezeugt, wonach bei Strandungen „Schiff und Ladung dem Strande
verfallen", d. h. dem Strandherrn, beziehungsweise den Küstenbewohnern, zu¬
kommen.
Dennoch war allmählich und unmerklich eine Wandlung zum bessern ein¬
getreten. Einmal konnte selbstverständlich von einem Verkauf gestrandeter Mann¬
schaft in die Sclaverei nicht mehr die Rede sein; dann hatten sich manche der
hauptsächlich seefahrenden Nationen durch besondere Verträge eine mildere Be¬
handlung ihrer gegenseitigen Angehörigen ausbedungen, was auch auf das ganze
Strandwcsen einen günstigen Einfluß übte endlich waren überall die Sitten we¬
niger roh geworden. Es hatte die Gesetzgebung, es hatte die öffentliche Mei¬
nung sich ausgesprochen gegen die übermäßige Ausübung des Strandrechts;
der ungleich stärker gewordene Verkehr der verschiedenen Völker unter einander
ermöglichte eine größere Controle über, dasselbe; die Küstenstriche, an denen
zu streng auf dem alten Recht bestanden wurde, kamen in Verruf und litten
dadurch Schaden; kurz, ohne daß sich ein bestimmter Zeitpunkt dafür angeben
läßt, und ohne daß bestimmte gleichmäßige Vorschriften das Strandrecht neu
regelten, ist vom Beginn des 18. Jahrhunderts eine mildere Praxis fast überall
wahrnehmbar.
Das früher namentlich von der Stadt Bremen vergeblich versochtene
Princip, daß das Eigenthum an Schiff und Ladung dem Rheder verbleiben
müsse und dem Strandbewohner nur ein gewisser Bergelohn gebühre, hatte sich
allniälig Achtung errungen, und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ist reich
an Strandungsordnungen, die dies Princip als solches anerkannten und an¬
scheinend auch practisch bei der Küstenbevölkerung zur Geltung brachten. Im Jahre
1711 wurden Strandungsrollen für die Nordseeinseln Norderney und Juist,
1735—1737 sür Baltrum, Spiiekeroog und Langeroog, und etwas später auch
für Borkum erlassen, 1724 und 1744 Strandungsorbnungen für die Herzog-
thümer Bremen und Verden, 1728 eine solche für Ostpreußen, 1743 für Pom¬
mern, 1724 für die Herrschaft Jever. um dieselbe Zeit eine 1818 etwas ab¬
geänderte für die Holländischen Küsten, denen dann 1776 auch eine Stran¬
dungsordnung für Oldenburg, 1800 eine solche für das Land Hadeln, 1801
für Westpreußen, 1803 für Schleswig-Holstein folgte, während außerdem das
Allgemeine preußische Landrecht und das 180S publicirte schwedisch-Pommer-
sche Seerecht ebenfalls hierauf bezügliche Bestimmungen enthielten.
Sehen wir einstweilen von dem Allg. Pr. Landrecht ab, so charaktensiren sich
die übrigen Gesetze mehr ais Codisicirungen des bestehenden, denn als Schöpfungen
neuen Rechts. Es umfaßten diese, allerdings immer nur sür einzelne Territo¬
rien erlassenen Verordnungen so ziemlich das gesammte deutsche Fürstengebiet,
und aus der Gesammtheit derselben ergibt sich ein ziemlich klares Bild der in
ganz Deutschland in dieser Hinsicht geltenden Rechtsanschauungen. Bei weitem
in den meisten Punkten findet sich principielle Uebereinstimmung; ist selbst¬
redend auch die eine detaillirter als die andere, weichen sie in Bezug auf Ein-
zelnheiten, auf Strafbestimmungen :c. vielfach von einander ab, nehmen sie in
vieler Beziehung Rücksicht auf die besondern örtlichen Verhältnisse und die an
einzelner Orten herrschenden Gewohnheiten, im Ganzen ruhen sie doch auf so
gleichartiger Grundlage, daß man von einem nur in den Einzelheiten mehr oder
minder modificirten gemeinen deutschen Strandrecht sprechen kann. — Und
ein erheblicher Fortschritt gegen früher ist in dem deutschen Strandrecht des
vorigen Jahrhunderts. — das, wie wir gleich hier bemerken, im wesentlichen
noch das heutige Recht ist — nicht zu verkennen.
Die unnatürliche Härte der mittelalterlichen Auffassung, nach welcher der Ge¬
strandete beinahe rechtlos erscheint, ist im Princip überwunden; das neu er-
Wachsens Recht gestattet nicht mehr, Schiff und Ladung als gute Beute zu be¬
trachten, es erkennt vielmehr im Princip an, daß das bisherige Eigenthum
daran durch die Strandung an sich nicht verloren geht. Statt des Rechts aus
die Sachen selbst hat sich ein Recht auf einen bestimmten Lohn für deren Ber¬
gung entwickelt, zugleich aber auch ein bestimmtes Recht auf die Bergung, ja
sogar eine Pflicht zu dieser. Alle oben erwähnten Verordnungen enthalten Be¬
stimmungen über das Verfahren bei Bergung gestrandeter Schiffe; sie sehen
einen mehr oder minder hoch normirten Lohn für dieselbe fest, haben meist
sehr detaillirte Vorschriften über die Verkeilung dieses Bcrgelohns unter die
einzelnen Betheiligten, machen die Theilnahme an den Bergungsarbeiten auf
Anfordern der Strandbeamten zur Pflicht und drohen für alle möglichen beim
Strandrecht vorkommenden Vergehen strengere oder gelindere Strafen an.
Eigenthümlich ist namentlich die Consiituirung einer Pflicht zum Bergen, und
sind zum Theil die für deren Versäumung bestimmten Strafen sehr hoch. So
droht die Schleswig-holsteinische Strandungsordnung von 1803 jedem, der die
von den Strandvögtcn verlangte Hülfe verweigert oder nur verspätet. Zucht¬
hausstrafe bis zu 2 Jahren, im Wiederholungsfalle von 2—5 Jahren an!
Aber ist so anscheinend auch für das Interesse der Gestrandeten genug
Sorge getragen, so stellt sich bei näherer Betrachtung die Sache doch anders.
Einmal tritt noch ausnahmslos die Rettung und Bergung, oder wie es
vielfach heißt, die Löschung (Löschung) der Waaren in den Vordergrund, die der
Menschen wird entweder gar nicht oder nur beiläufig erwähnt. Der Grund¬
gedanke, der sich mehr oder minder verhüllt doch überall wieder findet, ist der,
Ordnung zu schaffen für die Theilung der Beute, System zu bringen in den
Raub; und daß man, um dem Raub den Deckmantel des Erlaubten und sittlich
Zulässigen umzuhängen, demselben den Namen des Bergelohns gab und nicht
mehr alles nahm, sondern dem Prinzip nach alles herausgab, und sich nur die
aufgewandte Mühe bezahlen ließ, macht die Sache wahrlich nicht besser.
Im Grunde war es nicht Sorge für die Gestrandeten, die zu den ver¬
schiedenen Ordnungen trieb, sondern, wie diese meist selbst aussprechen, die Sorge
dafür, daß nicht die Strandbewohner unter sich und mit dem Strandherrn in
Streit geriethen über den Antheil eines jeden, und daß nicht einer oder der an¬
dere heimlich von dem gemeinsamen Gut etwas für sich auf die Seite brächte.
Das Verfahren ist meist so geordnet: zunächst werden von dem Gebor-
gelten die Kosten der Bergung. Communkosten, auch Losckungökosten :c. genannt,
abgezogen; dann erhalten die Berger V- bis meist der Strandherr direct
ebenfalls '/» oder unter anderer Form die dabei beteiligten Beamten neben
den in die herrschaftliche Casse fließenden meist sehr hohen Gebühren gewisse
Procente, die zwischen 6"/-> und 22"/„ schwanken, und erst der Rest kommt dem
Rheder oder Schiffseigenthümer zu; doch sind von diesem Rest dann noch ver¬
schiedene Ausgaben, z. B. die Verzehrungskosten für die etwa gerettete Mannschaft
zu bezahlen, und vor Entrichtung aller dieser Beträge darf an den Rheder nichts
ausgeliefert werden.
Ohne Ausnahme wird den Bcrgcrn ein Pfand- und Retentionsrecht an
den geborgenen Sachen zugestanden, und schon dieser Umstand zeigt, wie sehr
das Interesse für die Berger vorherrschend und für die Gesetzgebung bestimmend
war. Was dann für den Schiffer oder Rheder blieb, mögen einige Beispiele
zeigen.
Im Jahre 1739 scheiterte das mit Holz beladene oldcnburgische Barkschiff
Fortuna, Schiffer Wcssels, an der jütländischen Küste aus einer Besitzung des
Grafen von Rantzau in der Nähe der Insel Nun. Obwohl die Ladung fast
ganz und von dem Schiffe große Stücke gerettet wurden, blieb für den Rhe¬
der auch nicht das mindeste übrig. Der Schiffer deponirte nachher eidlich: „Wenn
er die Kosten, welche der Sirandung wegen von ihm gefordert wären, nach
der davon gemachten Rechnung hätte bezahlen sollen, hätte die Ladung
sammt dem Schiffe nicht zugereicht, und habe er sich daher nur gern mit 4 THU'.
Reisegeld begnügen müssen."
1752 scheiterte die holländische Sloop „Maria", Schiffer Nieland, an der
Insel Juist. Die geretteten Gegenstände wurden öffentlich verkauft zu einem
Preise von 1321 Thlr. Davon wurden zunächst die Kosten der Bergung, der
Lagerung und des Verkaufs der Waaren in Abzug gebracht mit 241 Thlr.
Der Rest mit 1080 Thlr. wurde der juister Strandungsrolle gemäß unter den
Fürsten von Ostfriesland, die Berger und den Rheder in drei gleiche Theile
getheilt, sodaß jeder 3K0 Thlr. erhielt. An den Antheil des Nhcders wurde
nun aber noch für Verpflegung und Weiterschaffung der geretteten Mann¬
schaft «. eine Forderung von 4S2 Thlr. erhoben, und da sonach schon 92 Thlr.
mehr als sein Antheil verwandt waren, erhielt der Rheder nichts und Fürst
und Berger mußten sich noch ihren Antheil um je 46 Thlr. kürzen lassen. Be¬
denkt man nun aber, daß sowohl die sog. Communkvsten, wie die von dem
Rheder zu entrichtenden Kosten schließlich wieder in die Hände derselben Per¬
sonen fließen, die auch den Bergelohn beziehen, so ergibt sich als Resultat, daß
von dem Gesammtwerth der geretteten Waaren mit 1321 Thlrn. der Strand¬
herr mit 314 Thlr. und die Strandbewohner mit 1007 Thlr. sich in die Beute
theilen und der Rheder das leere nachsehn hat.
Haben wir auch hier zwei besonders schreiende Fälle angeführt, so ist doch,
wenn auch in etwas geringerem Grade, das Resultat, daß die Berger den
Löwenantheil an der Beute beziehen, stets dasselbe. Uns ist unter einer sehr
großen Anzahl von Abrechnungen über Strandungssälle aus dem vorigen Jahr¬
hundert kein Fall ausgestoßen, in welchem der Rheder die Hälfte des Geretteten
erhalten hätte; in den meisten Fällen ist der Antheil, den er wirklich ausge-
zahlt erhält, weniger als ein Viertel.
Diese üble althergebrachte Praxis und vor allem der Umstand, daß durch¬
weg die zur Aufsicht über das Strandwesen bestellten Beamten eine Tantieme
des Bcrgelohns erhielten, häufig auch für Stellung von Gespannen, Besorgung
des Verkaufs :c. einen H.iuplantheil an den sog. Communkostcn selbst liqui-
dirtcn, daß also ihr Interesse mit dem der Berger zusammenfiel, ließen die in
den Strandordnungen liegenden guten Keime nicht zur Entwicklung kommen,
unterdrückten diese vielmehr völlig und setzten das alte Unwesen in der Haupt¬
sache fort.
Namentlich auf den weniger der Controle zugänglichen Inseln wurde in
schmählichster Weise jedem Rechtsgefühl Hohn gesprochen. Auf den Nordsee¬
inseln war es sogar hergebracht, daß sämmtliche vorhandene Haushaltungen sich
in den Strandcrwerb theilten, ohne Rücksicht darauf, ob und wie viele Perso¬
nen daraus an der Bergung Theil genommen hatten; daneben bezogen der
Geistliche, die Kirche, die Armencasse, der Vogt doppelte und dreifache und der
Beamte sogar eine neunfache Portion. Verschlimmert wurde dies Raubsystem
noch durch die meist trotz aller Verbote zur Anwendung gebrachte Theilung
lung der geretteten Gegenstände irr rmwrg, statt des Verkaufs und der Thei-
des Erlosch.
Wirkliches Verständniß des besseren verräth das A. Pr. Landrecht, insofern
es die wichtige Bestimmung enthält:
„Der Staat begibt sich des sog. Strandrcchts zum besten der zur See
Verunglückten". Th. II, Tit. 13 § 81.
Aber leider sagt der K 86 cock. sofort wieder:
„Die Eigenthümer der gestrandeten Sachen sind schuldig, außer den
aufgelaufenen Kosten ein billiges in den Strandungsordnungcn jeder
Provinz näher bestimmtes Bcrgclohn zu entrichten."
Also doch wieder nicht allein eine reichliche Vergütung der für die Ber¬
gung aufgewandten Zeit und Mühe, die in den Kosten der Bergung steckt,
sondern außerdem noch einen Bergelohn!
Man fragt vergeblich nach einem inneren Grunde dieser auf Anderer Kosten
für nichts zugebilligten Belohnung; es war eben ein Nest des alten Raubrechts,
mit dem vollständig zu brechen die Gesetzgebung sich nicht entschließen konnte.
Wichtig war trotzdem der Verzicht des Staats aus seine Strandportion
zu Gunsten der Gestrandeten. Der Antheil des Rheders wuchs dadurch nach
Abzug der Kosten der Regel nach von V- auf aber leider waren die Be¬
amtenportionen geblieben, und nun, wo das Interesse des Fiscus nicht mehr
collidirte, wurde nur zu oft das den Bcrgern gebührende Drittel „wegen ab¬
sonderlicher Anstrengung" aus die Hälfte erhöht.
Besonders auf den — bekanntlich auch dem preußischen Staate angehören¬
den ostfriesischen Inseln, die eben ihrer Lage wegen die bei weitem meisten
Strandungen in der deutschen Nordseeküste aufzuweisen hatten, riß das Un¬
wesen zumal unter dem Einfluß der kriegerischen Verhältnisse im Anfange dieses
Jahrhunderts so ein. daß der preußische Minister v. Haugwitz 1801 die Ost¬
friesische Strandverfassung für die härteste in allen europäischen Ländern er¬
klärte und es als nothwendig bezeichnete, „die dortige dem Geist unsrer Zeit
und der Kultur sowie der Würde unsres Staats widerstrebende strandrecht¬
liche Verfassung fördersamst in eine zweckmäßige Bergeeinrichtung zu verwan¬
deln." Allein es blieb bei der guten Absicht und bald trat wieder ein so
freches offenkundiges Ausrauben der gescheiterten Schiffe mit blutigen Kämpfen
der von allen Seiten ankommenden Räuber um die Beute ein, daß 1807 von
der holländischen Negierung den Insulanern und Bewohnern der Festlandsküste
bei 1000 Gulden Strafe das Fahren zu einem Strandungoplatze ohne schrift¬
liche Erlaubniß des Strandvogts und bei 100 Gulden selbst das Betreten des
Strandes in der Nähe eines gescheiterten Schiffs ohne gleiche Erlaubniß ver¬
boten werden mußte.
Das Resultat war, daß die zunächst berechtigten vom Strandvogt aufge¬
botenen Berger ihren Lohn mit mehr Ruhe verdienen konnten und von andern
Beutegierigen darin nicht gestört wurden; die Lage der Gestrandeten, beziehungs¬
weise der Nhrder wurde dabei nicht besser.
Es ist charakteristisch, daß in den Berichten über Strandungsfälle noch bis
in den Anfang dieses Jahrhunderts hinein von der Mannschaft meistens gar
nicht die Rede ist; nur zuweilen wird ihrer Rettung gelegentlich erwähnt, und
werden dann hohe Kosten für ihre Verpflegung liauidirt; oder es heißt kurz:
Mannschaft umgekommen, Schicksal der Besatzung unbekannt, Schiff „ohne
lebendige Equipage" angetrieben :c. Häufig allerdings kommt Streit
darüber vor, wer die Kosten für die Beerdigung der „Strandleichen" zutragen
habe. Im ganzen aber kümmert sich weder die Gesetzgebung noch die Küsten-
bcvölkerung um die Personen der Gestrandeten; nur um die Güter handelt es
sich und darum, von diesen einen thunlichst großen Antheil an sich zu bringen.
Auch in unsrem Jahrhundert ist dieser Standpunkt noch keineswegs gänzlich
überwunden, wenngleich die Praxis Dank der fortgeschrittenen Gesittung und
der besseren Negierungscontrole eine mildere geworden, auch die Gesetzgebung
aus Besserung hinzuwirken sich bemüht hat.
In dieser Beziehung ist zunächst zu bemerken, daß einmal die Elbschiff-
sahrtsacte von 1821 jedes Strandrecht an der Elbe für immer aufhebt, sodann
daß Oldenburg 1844 und Hannover 1846 neue Strandungsordnungen erlassen
haben, die sich in den meisten Punkten den 1838 von Holland in dieser Be¬
ziehung gegebenen Vorschriften anschließen. Für Preußen ist ein allgemeines
Strandungsgesetz nicht erlassen.
Ueber die hannoverschen Strandungsordnung möge hier noch angeführt
werden, daß die allgemeinen Stände den Erlaß einer solchen bei der Regierung
dringend beantragten und dabei hervorhoben, „es sei eine bestimmte Legislation
nothwendig, welche die Eigenthümer der verunglückten Schiffe und Waaren
gegen die Entwendungen und Mißbräuche schütze, denen sie bisjetzt, obgleich
das Strandrecht nicht mehr gelte, ausgesetzt seien."
Diese Tendenz, mit der die Regierung sich völlig einverstanden erklärte,
war eine löbliche, aber die Mittel, die die Gesetzgebung ergriff, sie durchzu¬
führen, waren nicht eben glücklich gewählt.
Allerdings war es ein wesentlicher Fortschritt der hannoverschen wie der
oldenburgischen neuen Strandordnung, daß einmal nicht allein jedes siscalische
Anrecht an gestrandeten Schiffen und Gütern, sondern auch jeder Beamtenantheil
am Bergelohn beseitigt, und daß ausdrücklich die Rettung der Mannschaft mit
zur Pflicht gemacht wurde. Der Schwerpunkt der gedachten Gesetze ruhte indeß
auch wieder in den Borschriften über Bergung der Sachen, und wurde den
Bergern ein Berge- beziehungsweise Hilfslohn außer den Bergungskosten
zugestanden, der nach der Han. Se. O. bis zu einem Drittel und ausnahmsweise
bis zur Hälfte des Werths der geborgenen Sachen steigen konnte, während die
Oldb. Se. O. eine solche Grenzbestimmung nicht enthält.
Beide Gesetze aber schließen sich in so weit an das bestehende Recht an,
als sie einmal das Betreten eines gefährdeten Schiffes behufs der Bergung erst
dann gestatten, wenn entweder die Mannschaft dasselbe verlassen hat oder selbst
Hilfe begehrt, und als sie ferner vom Augenblick der ersten Besetzung des
Schiffes an einen Anspruch auf Bergelohn und das Recht, später ankommende
Berger zurückzuweisen, zugestehen, neben diesem Recht auf Bergung und Prio¬
rität dann aber auch eine Nechtsp flicht zur Theilnahme an der Bergung
auf Verlangen der Strandbeamten statuiren.
Daneben haben sie den alten seerechtlichen Grundsatz, daß während der
Dauer der Gefahr abgeschlossene Verträge über Höbe des Bcrgelobns nichtig
seien, der sich schon in der alten französischen OräoriÄneö as 1a warme von
1688 findet, wieder aufgenommen, ja sogar die Giltigkeit aller Beiträge über
Bergelohn von der Genehmigung der Obrigkeit abbcingig gemacht.
Diese Bestimmungen, in denen sich so ziemlich das gesammte heutige
deutsche Strandungsrecht ausdrückt, wie es sich durch Gesetz und Gewohnheit
herausgebildet hat. sind im wesentlichen auch durch das allgemeine deutsche Handels¬
gesetzbuch nicht geändert worden, das namentlich in Bezug auf die Frage, wer
zur Bergung befugt oder verpflichtet sei. sich gar nicht äußert.
Eine anerkennenswerthe Neuerung macht dieses Gesetzbuch eigentlich nur
durch die Bestimmung, daß zur gleichmäßigen Theilnahme am Berqelohn auch
diejenigen berechtigt sein sollen, welche in derselben Gefahr der Rettung von
Menschen sich unterzogen haben; nicht unwichtig ist ferner die Vorschrift, daß
der Bergelohn die Vergütung für die zum Zwecke des Bergens gemachten Auf¬
wendungen mit umfaßt, daß behufs der Festsetzung des Bcrgelohns unter allen
Umständen der Rechtsweg offen bleibt und daß derselbe als Quote des Werths
der geborgenen Gegenstände nur auf übereinstimmenden Antrag der Par¬
teien festgesetzt werden darf.
Bildet sonach das heutige Strandungsrccht auch einen erheblichen Fort¬
schritt gegen früher, so ruht es dennoch unseres Erachtens noch immer aus
einer falschen Grundlage und hat sich zu sehr im Anschluß an die alte unge¬
sunde und unsittliche Anschauung vom Strandwesen entwickelt, um nicht einer
Reform, oder richtiger einer Bafirung auf völlig neue Principien dringend zu
bedürfen.
Wir bezeichnen als die beiden Hauptpunkte, die beseitigt werden müssen
einmal die Pflicht und sodann das Recht zum Bergen, nebst dem Rechte auf
den Bergelohn. Alle übrigen Mängel der Gesetzgebung betreffen schließlich nur
Nebensachen.
Prüfen wir diese Cardinalpunkte und zwar zunächst die Pflicht zum
Bergen von unbefangenem Standpunkt etwas näher. — Es handelt sich
hier wohlgemerkt nicht um eine sittliche, sondern um eine Rechtspflicht, deren
Erfüllung mit äußeren Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann und deren Ver¬
letzung Strafen nach sich zieht. Der Gegenstand dieser Pflicht ist aber nicht
etwa Rettung von Menschenleben, sondern Rettung lebloser Gegenstände, des
Schiffes und seiner Ladung. Die Rettung einer in Lebensgefahr befindlichen
Schiffsmannschaft wird schon um deswillen als rechtliche mit Zwang durchzu¬
führende Pflicht nicht leicht^geltend gemacht werden können, weil ihre Erfüllung
meist die zur Nettungsarbeit Angehaltenen selbst in Lebensgefahr bringen würde,
und das Wagen des eigenen Lebens zu erzwingen ist die Staatsgewalt ihren
Unterthanen gegenüber — abgesehen vom Kriegsdienste — weder befugt,
noch fähig.
Ist die Rettung aber ohne Gefahr möglich, so liegt die Sache wie
bei jeder andern Gefährdung eines Menschenlebens auf dem festen Lande und
bedarf keiner besonderen gesetzlichen Regelung, indem entweder von einer
Rechtspflicht zur Rettung nicht die Rede ist, oder wenn dies der Fall, die Ver¬
säumung derselben die gewöhnlichen Folgen nach sich zieht.
Wird z. B. ein bereits mit dem Tode ringender Mensch von den Wellen
auf den Strand geschleudert, sodaß er umkommen muß, wenn er den Wellen
nicht entzogen wird, und ist dies von daneben stehenden Personen mit Leichtigkeit
auszuführen, so wird nach der Gesetzgebung der meisten Staaten die Unter¬
lassung dieser einfachen Nettungshandlung dem Strafrichter verfallen; ganz
gleich aber liegt der Fall jedenfalls, ob er sich am Strande des Meeres oder an
einem Binnenwasser ereignet.
Aber das ist nicht Gegenstand der Bergepflicht; wie schon das Wort
„Bergen" bezeichnet, handelt es sich um Rettung der Waaren. Und da fragen
wir, auf welchen innern Grund stützt sich diese Pflicht?
Es ist doch immerhin eine ganz außergewöhnliche Maßregel, wenn der
Staat Einzelnen seiner Angehörigen eine öffentliche Rechtspflicht auferlegt; es
darf das nur aus ganz besonderen Gründen und jedenfalls nur aus Rücksicht
auf das öffentliche Interesse und das Gemeinwohl geschehen. Liegt solche Rück¬
sicht aber in unserm Falle vor? Sehen wir die verwandten Fälle an, in
welchen der Staat solche außerordentliche Hilsspflicht von Einzelnen seiner An¬
gehörigen fordert, so entdecken wir einen wesentlichen Unterschied. Bei Feuers-
brünsten, bei Dcichbrüchen, bei Überschwemmungen, wo das rasende Element,
wenn ihm nicht Einhalt gethan wird, immer weiter greift in seiner zerstörenden
Kraft, da verlangt der Staat mit Recht von Jedem die Theilnahme am Rel-
tungSwerkc; da droht wirklich gemeine Gefahr in unabsehbarem Umfange, die
gemeinsame Hilfe erfordert, welche darum allgemeine Pflicht ist.
Aber die Abwehr der Gefahr ist hier der Zweck, ihrer Weiterverbreitung soll
gesteuert, größerem Unheil vorgebeugt werden.
Richt des bereits eingetretenen, sondern des noch drohenden Unglücks
wegen fordert die Staatsgewalt von ihren Angehörigen die thätige Hilfsleistung;
und wiederum auch nur deshalb, weil eine Mehrzahl von Gefährdeten da ist,
weil Keiner allein sich helfen könnte, und weil wenn Jeder nur für sich sorgte,
die Gefahr für Alle sich nur vergrößern würde. So auch in andern Fällen.
Wird z. B. durch Schneefall und dergl. eine Eisenbahn oder eine Land¬
straße in einer Weise verschüttet, daß nur außergewöhnliche Arbeitskraft sie dem
Verkehr wieder erschließen kann, da bietet der Staat wohl seine Angehörigen
zur Nothhilfe auf, aber nicht etwa, um eine einzelne eingeschneite Locomorive
zu befreien, sondern um den freien Verkehr wieder zu eröffnen, um die Nach¬
theile abzuwenden, die eine längere Stockung des Verkehrs unausbleiblich für
tausend und aber tausend Interessen mit sich führt; zur Abwendung dieser dem
Verkehr d. h. dem Gemeinwohl drohenden Gefahr wird hier eine Hilsspflicht
auferlegt, da ohne solche die zunächst Betheiligten diese Gefahr zu beseitigen
nicht im Stande sein würden.
Und in allen diesen Fällen kann solche Nothhilfe nur Verlangt werden,
so lange die gemeine Gefahr nicht abgewendet oder doch auf ein so geringes
Maß reducirt ist, daß die zunächst Betheiligten sich selbst zu helfen im Stande
sind. Ist dem Feuer ein Damm gesetzt, ist das wildfluthende Gewässer in sein
Bett zurückgedrängt, ist die Eisenbahn wieder frei für den Verkehr, wer denkt
dann noch an eine Rechtspflicht zum Beistande für Einzelne, deren Eigenthum
durch die Katastrophe beschädigt oder gefährdet ist? Mögen sie sich selbst helfen
oder Schaden leiden! Unter dem Schaden des Einzelnen leidet das Gemein¬
wohl nicht; wohl aber leidet es empfindlich, wenn die Staatsgewalt ohne
dringende Noth hineingreift in die Rechtssphäre des Einzelnen und ihm Pflichten
auferlegt, die nicht von der Gesammtheit getragen werden und nicht dieser zu
Gute kommen.
Suchen wir nun aus den sämmtlichen obigen Fällen den leitenden Gedanken,
so kommen wir zu dem auch von der Wissenschaft stets festgehaltenen und von
der Gesetzgebung fast aller Staaten praktisch befolgten Satz:
Die Staatsgewalt ist zur Forderung einer Nothhilfe Seitens einzelner
Staatsbürger nur in so weit befugt, als es sich um Abwendung einer Gefahr
für das Gemeinwohl handelt, zu deren Beseitigung die zunächst Betheiligten
völlig außer Stande sind.
Wenden wir diesen Satz nun auf Strandungen an.
Wo liegt da die Gefahr für das Gemeinwohl, um deren Abwendung es
sich Handelt? Wo liegt überhaupt die Gefahr? Wo liegt das öffentliche Inter¬
esse? Wo die völlige Hilflosigkeit der zunächst Betheiligten? Wahrlich, wir
vermögen dieser Fragen keine zu beantworten.
Aber sehen wir uns zunächst den Begriff einer Strandung und das Wesen
der Bergung etwas näher an! Ein Schiff gilt als gestrandet, wenn es so fest¬
sitzt, daß es nicht wieder flott gemacht werden kann, und für „seetriftig", wenn
es in solchem Zustande in offenem Wasser treibt, daß die Einbringung in einen
Hafen unmöglich ist.
Beide Fälle werden einander gesetzlich vollständig gleichgestellt, indem in
beiden, sobald die Mannschaft Hilfe begehrt oder das Schiff verläßt, jeder
Strandbewohner zur Hilfe verpflichtet, beziehungsweise berechtigt ist und damit
Anspruch auf Bergelohn erwirbt.
Praktisch hat der letzt erwähnte Fall meist nur dann Bedeutung, wenn
das seetriftige Schiff zum Stranden gebracht werden kann, indem es, falls dies
nicht möglich ist, naturgemäß sinkt und damit das Bergen selbst ausschließt.
Wichtig ist also nur die eigentliche Strandung. Diese besteht, wie gesagt, erst
dann, wenn das Schiff so festsitzt, daß es nicht wieder flott gemacht werden
kann. Für das Schiff selbst also als Ganzes ist sehr begriffsmäßig die Ret¬
tung nicht mehr möglich; es handelt sich nur noch um Rettung seiner Theile
und seiner Ladung. Bedenkt man nun, daß von einer Strandung natürlich
Nur die Rede sein kann, wenn auch die Fluth oder das Hochwasser das Schiff
nicht wieder vom Boden erhebt, daß der regelmäßige Unterschied zwischen höch-
ster Fluth und niedrigster Ebbe in der Nordsee 12—14 Fuß sind, daß abge¬
sehen von der durch Fluth und Ebbe hervorgerufenen Bewegung selbst die
flachen Stellen, an denen Schiffe stranden, schon ziemlich starke Brandung zu haben
Pflegen, daß auch das fest liegende Schiff durch die Wellen stetem Ausstoßen
und Schwanken unterworfen ist und schon dadurch, daß es dem immer bewegten
Wasser ein Hinderniß bietet, die Wellen in seiner Umgebung beträchtlich erregt,
daß endlich Strandungen meist nur in stürmischer Jahreszeit stattfinden, so
wird auch der die See nicht kennende Binnenländer sich denken können, daß
das Bergen nicht ein einfaches in kurzer Zeit abgemachtes Geschäft, wie das
Entlöschen im sichern Hafen unter einem mächtigen Dampflrahn, der die
schweren Ballen in die Höhe befördert, sondern eine lästige zeitraubende Arbeit
ist. Meist ist bei Hochwasser das Wrack völlig von den Wellen überfluthet,
so daß an Bergen nicht gedacht werden kann, häufig ist der Brandung halben
nur mit weiten Umwegen zum Wrack zu gelangen, fast regelmäßig vermögen
nur kleine Boote die Strcmdungsstclle zu erreichen, Hebemaschinen lassen sich
nur selten anbringen; das stete Schwanken des Wracks droht die sich zu nah
heranwagenden Boote zu zerschellen; kurz das Bergen ist nur bei günstigem
Wetter und auch dann meist nur wenige Stunden des Tages überhaupt möglich
und dauert bei einem Wrack oft mehre Wochen, ja Monate.
Und zu dieser so zeitraubenden wie unregelmäßigen Arbeit besteht eine
Zwangspflicht! Schiff und Ladung sind gewissermaßen bereits als verloren zu
betrachten, und nur Wiedergewinn eines Theils des Verlorenen ist noch zu er¬
streben; dieser Gewinn aber liegt lediglich im Interesse des Nheders und der La-
dungseigenthümcr, oder wie heutzutage die Verhältnisse factisch liegen, aus¬
nahmslos des Assecuratcurs.
Der Verhinderer oder die betreffende Versicherungsgesellschaft zahlt im Siran-
dungsfalle die volle Entschädigung aus, für welche das Risico übernommen
war und sucht nun seinerseits aus dem gestrandeten Schiffe nach Möglichkeit
noch etwas zu retten. Und um diesem Interesse des Versicherers dienstbar zu
werden und zu dessen Privatvorthcile in einer Angelegenheit, wobei das Ge¬
meinwohl nicht im entferntesten in Frage kommt, wo es sich nicht um Ab¬
wendung einer Gefahr, sondern um Erlangung eines Gewinns handelt, wo
dem Verhinderer Zeit und Geldmittel zu Gebote stehen, um durch freien Ver¬
trag Arbeiter zum Bergen zu gewinnen, legt die Staatsgewalt den Stranv-
anwohnern eine öffentliche Rechtspflicht zum Bergen auf! Wahrlich, ein schärfe¬
rer Verstoß gegen alle gesunden- Pnncipien von der Pflicht und der damit sich
deckenden Befugniß des Staats zum Eingreifen in die Privatrechtssphäre des
Einzelnen läßt sich kaum denken.
Practisch ist nicht so sehr die Pflicht zum Bergen, als das damit in eng¬
stem Zusammenhange stehende Recht auf Bcrgelohn die Hauptsache. Die völlige
Verkehrtheit, anstatt der allein anzuerkennenden sittlichen Pflicht zur Rettung
von Menschenleben eine juristische Pflicht zur Bergung von Waaren zu consti-
tuiren, ist eben nur erklärbar aus der geschichtlichen Entwickelung des Strandwe¬
sens, das seinen Hauptinhalt in dein Strand recht fand, und war nur möglich
dadurch, daß dieser unnatürlichen Pflicht ein unnatürliches Recht gegenüber¬
gestellt wurde.
Das eben zeigt am deutlichsten das Verwerfliche der ganzen Institution,
daß gegen jene Pflicht trotz ihrer Unnatur niemals die dadurch Betroffenen sich
aufgelehnt hoben, baß sie sich vielmehr willig dem anscheinend unerträglichen
Joche beugen, weil auf der Kehrseite der Bergelohn steht, und wiederum beweist es
wie unverhältnißmäßig hoch der Bcrgelohn ist, welcher Gewinn aus dem Bergerecht
herfließt, daß er hoch genug ist, auch jene Pflicht ohne Bedenken ertragen zu lassen.
Zwar ist, wie oben gezeigt, seit länger das Bestreben der Gesetzgebung auf
Herabdrückung des Bergelohns gerichtet gewesen, zwar darf er jetzt ohne Ueber¬
einstimmung der Parteien nicht mehr auf eine Quote des Geborgenen festgesetzt
werden und soll regelmäßig ein Drittel des Werths der geborgenen Gegen¬
stände nicht übersteigen, aber die Absicht des Gesetzes wird vielfach gehindert
durch die Praxis, welche die Maximalgrenze des Gesetzes als den Regelbetrag
festhält, und der Umstand, daß die Festsetzung des Bergelohns völlig dem richter¬
lichen Ermessen freigestellt ist und das Gesetz als Anhaltspunkt dafür neben der
aufgewendeten Mühe und Zeit und der etwa bestandenen Gefahr hauptsächlich
den Werth des Geborgenen bezeichnet (Art 746 des A. D. H. B.), führt in
der Praxis dahin, daß der Richter der Regel nach vor Festsetzung des Bcrgc-
lohns Sachverständige über die dabei maßgebenden Factoren hört.
Die der Küstenbevölkerung angehöugen, in den alten Anschauungen vom
Strandrecht aufgewachsenen Sachverständigen, die nicht anders wissen, als daß
von Alters her die Berger stets mindestens '/» des Werths erhalten haben,
urtheilen fast stets, wenn auch ohne böse Absicht, zu Gunsten der Berger, und
daß der mit solchen Verhältnissen meist nicht genügend vertraute Richter nur
schwer von dem Gutachten der Sachverständigen in erheblicher Weise abweicht,
ist natürlich.
Führen wir einige beliebig aus einer großen Zahl ähnlicher und zum Theil
selbst ernsterer Falle herausgegriffene Beispiele aus den letzten Jahren an.
1. Im Jahre 1864 wurde das holländische Tjaltschiff „Novitgedacht" auf
hoher See durch Sturm schwer beschädigt und nahm, um sich in den earo-
tinenfleler Hafen schaffen zu lassen, die Hilfe-eines begegnenden mit 3 Mann
besetzten kleinen Wattschiffes an. Das gerettete Fahrzeug wurde als reparatu»
unwürdig condemnirt und zu 300 Thlr. verkauft, die Ladung zu 7S0Thlr.'Der
in Anspruch genommene Hilfslohn, der gesetzlich niedriger sein muß, als
der Bergelohn, wurde auf 480 Thlr. normirt und erst in der Berufungsinstanz
auf 200 Thlr. ermäßigt.
2. Im gleichen Jahre wurde für Binncnbringung des holländischen Schiffes
Vrouw Anne drei dabei beschäftigten Schiffern ein Hilfslohn von 480 Thlr.
endgiltig zugebilligt.
. 3. Im Jahre 1860 strandete an der Insel Spiekeroog die englische Bar?
Desalcberry; der Werth des Geborgenen belief sich auf etwa 18.000 Tblr.; der
Bergclohn wurde in erster Instanz auf 6200 Tblr. festgesetzt; erst in der Be¬
rufungsinstanz gelang den Assecurateuren die Ermäßigung auf 4400 Thlr.
4. Die Bergung des 1866 gestrandeten Dampfers Excelsior hat den Bergern
selbst im Wege des Vergleichs einen Bergelohn von über 12,000 Thlr. eingebracht.
Man steht, es handelt sich hier um ganz erkleckliche Summen und das
Bergen ist ein einträgliches Geschäft. Eine gute Strandung bringt oft einen
besseren und fast müheloseren Perdienst, als es halbjährige schwere Arbeit eines
Matrosen vermag. Darin aber liegt gerade das Gefährliche und Demorali-
strende des heute noch geltenden Bergerechts, daß es aus dem Unglück des
Einen eine Quelle des überreichlicher Gewinnes für Andere macht, daß
das Maß des Bergelohns jeden in gleicher Zeit durch angestrengteste Berufsar¬
beit zu erzielenden Erwerb übersteigt.
Dazu kommen, abgesehen von der großen Versuchung für den Einzelnen,
bei der Bergung heimlich etwas für sich auf die Seite zu bringen, der in
Folge der Bergung und der Versteigerung der Sachen immer stattfindende
Conflux vieler Fremder, der Erwcrbsneid, der dabei unausbleibliche durch
den leichten Verdienst beförderte Branntweingenuß, die nur zu häusig wegen
des Bcrgelohns entstehenden Processe?c., kurz lauter Momente, die nur verderb¬
lich wirken.
Woher kommt es, daß die Zahl der auf den Nordseeinseln gehaltenen See¬
schiffe sich beständig mindert, während die der festländischen Häfen sich jährlich
vermehrt? Woher kommt es, daß die fischreiche Nordsee so wenig von der
Küstenbevölkerung ausgebeutet wird? Wahrlich, nicht einer der unbedeutendsten
Factoren dabei ist der leichte Gewinn aus den Strandungcn, der die Leute
fest hält zu Hause, um ja nicht einen Strandungsfall sich entgehen zu lassen,
der mit einem Schlage ihnen mehr einbringt, als sonst oft wochenlange Arbeit,
und der — wie gewonnen so zerronnen — in entnervenden Branntweingelagen
bald wieder verzecht wird. Ist es doch eine zwar haarsträubende aber wahre
Thatsache, daß die kleine Insel Norderney, völlig abgesehen von dem Consum
der Badeverwaltung und der Badegäste, mit ihren kaum 1000 Einwohnern
nach den amtlichen Steuerlisicn im Jahre 1865 für mehr denn 7000 Thlr.
Genever consumirt hat!
Und nun betrachte man das Vorgehen bei den Strandungen selbst. Kaum
ein Fall unter 10, wo nicht, um den Bergelohn festzustellen, der ganze zu¬
lässige Instanzenzug durchgemacht wird; man sehe und höre die Ansprüche
der Berger; wie fast jedesmal, obwohl das Gesetz solche Verträge für nichtig
erklärt, die Berger, ehe sie der in Todesgefahr schwebenden Mannschaft die begehrte
Hilfe leisten, einen hohen Bergelohn zugesichert zubekommen versuchen, wie bei
fast jeder Verklärung einer gestrandeten Schiffsbesatzung dieselbe Klage sich wieder¬
holt, daß Allem zuvor erst das Versprechen reichlichen Bergelohns verlangt sei.
Hören wir, wie ein mit den Strandungsverhältnissen besonders vertrauter
Mann sich über diesen Punkt ausspncht: „Leider ist das Pflichtgefühl und über¬
haupt eine edlere Regung, dem bedrängten Mitmenschen aus Nächstenliebe bei-
zustehen, an den Küsten und Inseln ein unbekanntes Gefühl oder doch eine
überaus seltene Erscheinung. Einestheils mag der häufige Anblick der See¬
gefahr zum Verwischen des Eindrucks derselben beitragen, während die Küsten-
und Jnselbewohner zugleich andererseits die Strandungsfälle als ein lohnendes
Ereignis; betrachten und möglichst viel Gewinn daraus zu ziehen suchen. Wahr¬
haft betrübend aber ist es zu sehen, wie die Retter, selbst vielleicht in drohen¬
der Lebensgefahr, doch noch Zeit haben, um das Leben anderer zu feilschen und
dem bedrängten Schiffer nur gegen Auslobung einer namhaften Summe die
ersehnte Hilfe zu gewähren! Aus der Lage des Letzteren ziehen sie Vortheil,
indem sie ihn nöthigen, das Verlangte zu versprechen, oder aber ihn seinem
Schicksale überlassen und den Tod eines Mitmenschen auf sich laden."
Mögen diese 1864 geschriebenen Worte, deren Schreiber, wie gesagt, wie
wenige mit der Lage der Dinge vertraut ist und ein halbes Menschenalter
mit ihnen sich beschäftigt hat, auch hart sein, jedenfalls liegen sie der Wahr¬
heit näher als die poetische Auffassung der Binnenländer.
Noch eins sei gestattet besonders hervorzuheben, daß nämlich mit dem
Augenblick, wo Berger ein in Noth befindliches Schiff besetzen, der Capitän
seiner Disposition darüber verlustig geht. Zwar nicht direct nach absoluter
Gesctzesvoischrift, aber faktisch durch das den Bergern gesetzlich eingeräumte
Pfand- und Retentionsrecht von Schiff und Ladung.
Die englische Barke Jubilee war an der holländischen Küste leck geworden
und von der Mannschaft verlassen; kurz nachher entdeckt diese, daß das Schiff
blos aus eine Plate gerathen ist und kehrt dahin zurück. Allein inzwischen
haben bereits Berger das Schiff besetzt, und obwohl an der Legitimation
des Kapitäns nicht der mindeste Zweifel ist. weigern sich die Berger, dessen
Anordnungen hinsichtlich der Bergung zu folgen und verfahren gegen dessen
Willen zu seinem Nachtheil. Im später erhobenen Rechtsstreit wurde den Ber¬
gern Recht gegeben, weil der Capitän ihren mit Betretung des Schisses bereits
erworbenen Anspruch auf Bergelohn nicht sofort zu befriedigen vermocht hatte.
Als 1860 der Desaleberry bei Spieckeroog in Gefahr gerathen war und
Hilfe begehrt hatte, versuchten die Berger, das Schiff aus eine andre zum Ber¬
gen besser geeignete Stelle zu schaffen. Dieser Versuch nahm mehre Tage in
Anspruch. Inzwischen hatte der telegraphisch benachrichtigte Rheder den hambur-.
ger Dampfer Simson gechartert und an Ort und Stelle gesandt und wollte mit
dessen Hilfe versuchen, den Desaleberry wieder in tiefes Wasser zu bugsnen.
Die Berger widersehten sich und ließen zur Sicherung ihres Bergelohns das
Schiff mit Arrest belegen. Da der Agent des Nheders die übergroße Cautions-
summe, die gefordert wurde, nicht sofort hinterlegen konnte, mühte er nachgeben,
und die Berger mietheten nun ihrerseits den Hamburger Dampfer, um den
Desaleberry auf den Strand zu bringen.
So kann die gesetzliche Befugniß des Schiffscapitäns, die Führung des auch
schon von Bergern besetzten Schiffes jederzeit wieder zu übernehmen, stets illu¬
sorisch gemacht werden durch die Forderung der Cautionsleiftung für den Berge¬
lohn, die bei dem hohen Betrage in der meist nur kurz bemessenen Zeit selten
oder nie beschafft werden kann.
Fragt man nun, wie Besserung zu schaffen, so erwidern wir einfach: man
gebe es auf. im angeblichen Interesse der Rheder eine besondere Fürsorge
für gestrandete Schiffe im Wege der Gesetzgebung zu treffen; man lasse einfach
die allgemeinen Rechtsregeln auch hier zur Anwendung kommen.
Man beseitige vor allem die unnatürliche Zwangspflicht zum Bergen und
halte dann fest an dem Satze, daß der SchWführer weder dadurch, daß er
Hilfe begehrt, noch dadurch, daß er mit der Mannschaft das Schiff verläßt,
dasselbe im rechtlichen Sinne derelinquirt oder auf die Disposition darüber
verzichtet. Damit fällt natürlich jedes Recht zum Bergen ohne ausdrückliche
Einwilligung des Schiffsführers.
Man erkläre, wie auch jetzt schon der Fall ist, jeden während der Gefahr
abgeschlossenen Bergevertrag für nichtig und überlasse es lediglich dem Schiffs¬
führer, nachdem er gerettet am Lande sich befindet, mit beliebigen frei von ihm
auszuwählenden Personen wegen der Bergungsarbeiten zu accordiren. Man
bestimme, daß, falls solcher Accord nicht abgeschlossen oder nichtig oder zweifel¬
haft wird, der Richter, der dann ex bono irrbitrio den Bergelohn zu bestim¬
men haben wird, diesen auf keinen höhern Betrag normiren darf, als die
Berger während der zur Bergung verwendeten Zeit in Ausübung ihrer Berufs¬
arbeit im günstigsten Falle bei angestrengtester Thätigkeit hätten verdienen können.
Für den Fall aber, daß die Mannschaft umkommt oder ein schon früher
von derselben verlassenes Schiff strandet, bestelle man dafür, wie für jedes
andere zur Zeit herrenlose Vermögen, einen eurirtor adssutis, dem es dann
zunächst obliegt, den Rheder zu benachrichtigen und bis zu dessen Eintreffen sein
Interesse wahrzunehmen.
Wegen der Höhe des Bergelohns muß natürlich auch für diesen Fall das
Obige gelten.
Das Betreten eines auch von der Mannschaft verlassenen gestrandeten
Schiffes und das Bergen daraus ohne ausdrücklichen Auftrag des Eigenthü-
mers, beziehungsweise dessen Vertreters, muß natürlich verboten und eventuell
als Diebstahl streng geahndet werden. Eine wirksame Controle würde leicht
durch die überall vorhandenen Zollkreuzer und ein für gewisse Districte mit
eventueller Unterstützung beauftragtes Kanonenboot hergestellt werden können.
Sollte bet solcher Einrichtung wirklich auch die Bergung sich einmal etwas
gegen jetzt verzögern und sollten dadurch einige Waaren mehr beschädigt werden
oder verloren gehen, auf den Nationalwohlstand kann das keinen Einfluß haben,
und der Verlust, der den Rheder dadurch trifft, wird mehr als aufgewogen
durch den Gewinn an Bergekosten.
Vor allem aber wird dann endlich die Strandbcvölkerung aufhören, die
Strandungen als einen Gottessegen zu betrachten und nicht mehr durch den
leichten unverhältnißmäßigen Gewinn des Bergelohns abgelenkt werden von
anderer Arbeit. Wird dann noch der Mannschaft der Rettungsboote außer
einer reichlichen Bezahlung für jede Nettungsfahrt eine ansehnliche Prämie
für jedes gerettete Menschenleben bewilligt, so wird auch in materieller Be-
ziehung der reichliche Lohn der Rettung ebenso zu dieser anspornen, wie bis¬
lang der Bergelohn zur Bergung.
Und darauf kommt es an, auch in den Augen der Strandbcvölkerung die
Rettung der Menschen in den Vordergrund treten zu lassen vor der Bergung
der Sachen. Sicher und dauernd aber wird dies nur dadurch erreicht werden,
daß die erstere auch zu der lohnenderen Arbeit gemacht wird.
Das Rettungsboot, das nur auf Rudern eingerichtet und meist schwer zu
handhaben ist, dessen Mannschaft selbstredend ihr Boot nicht verlassen darf, wird
nur selten in die Lage kommen, das gefährdete Schiff auch behufs des Bergens
zuerst zu besetzen. Ein im Jahre 1837 angeschafftes Rettungsboot auf der
Insel Norderney hat bis zum Jahre 18S5, wo es als unnütz wieder verkauft
wurde, auch nicht ein einziges Menschenleben gerettet und nicht ein einziges
Schiff behufs des Bergens zuerst besetzen können: nicht weniger als 8 Mal
aber ist es zu spät gekommen, weil inzwischen andre durch die Aussicht auf
hohen Bergelohn gelockte raschere Fahrzeuge das gestrandete Schiff bereits be¬
setzt hatten; dreimal ist dabei allerdings ein Theil der gefährdeten Mannschaft
beim Ueberspringen in die zur Rettung nicht geeigneten Schiffe vor den Augen
des Rettungsboots ertrunken.
Ist nun auch durch das A. D. Hand. Geh. B. den Rettern gleicher Antheil
an dem Bergelohn Mieder Bcrgern versprochen, so ist dafür das Nettungsamt
in der Regel gefährlich, das Bergen nicht, und da die Extrabelohnung für das
gefährliche Retten gar nicht im Verhältniß steht zu dem Lohn für das unge¬
fährliche Bergen, wird nur gar zu leicht mit der Rettung gezögert, so lange
keine Concurrenz wegen das Bergen« zu befürchten ist. —
Recapituliren wir kurz unsere Vorschläge: Aufhebung der Bergepflicht und
des Bergerechts und Herabsehung des Lohns für die nur auf Anordnung des
Eigenthümers vorzunehmende Bergung im Falle der richterlichen Feststellung
auf ein dem Werthe der geleisteten Arbeit entsprechendes Maß, — Handhabung
des Nettungswesens durch freie Vereinsthätigkeit unter einheitlicher Controlver-
waltung und reichlicher Belohnung der Rettungsmannschaft.
Schließlich noch eine Bemerkung. Die Mittel der Rettungsvereine müssen
vermehrt werden. In Holland hatten sich schon gegen Ende der dreißiger
Jahre die bedeutendsten Rheder freiwillig verpflichtet, bei jeder Befrachtung
eines Schiffes gleich durch den Schiffsmakler 1 Cent pro Ton als Beitrag für
den Nettungsverein zu überweisen. Sollten nicht auch unsere deutschen Reeber
bereit sein, in ähnlicher Weise durch ein dem Einzelnen nicht fühlbares, in der
Gesammtheit äußerst wirksames Opfer für Sicherung von Leib und Leben ihrer
braven Schiffsleute beizusteuern?
Jetzt sind es nun reichlich vier Jahre, daß die Bevölkerung des nördlichen
Schleswig abwechselnd in Furcht und Hoffnung wegen ihres definitiven poli¬
tischen Schicksals schwebt. Zuerst wurden die Dänen aus ihrer Ruhe aufge¬
schreckt, die Deutschen von einem ersten Lichtstrahl der Aussicht in eine bessere
Zukunft berührt, als am Is. November 1863 der letzte Königherzog, Frederit VII.
starb. Dann folgte die tiefaufregende Zeit der Ermannung des deutschen Na¬
tionalsgefühls, des preußisch-östreichischen Feldzugs gegen Dänemark, der diplo¬
matischen Unterhandlungen von der londoner Conferenz bis zum wiener Frieden.
Von Dänemark kam man damit los, im übrigen aber blieb noch alles im Un¬
gewissen. Die Attachirung an den früher entweder unbekannten oder verhaßten
Augustenburger machte auch hier Fortschritte, weil man mit dem übrigen
deutschen Volke in seinem Erbrecht die Garantie der nationalen Absonderung von
Dänemark zu sehen gewohnt war, und aus demselben Grunde waren die dänisch¬
gesinnten Nordschleswiger in jener Zeit leidenschaftlichere Feinde des Hauses
Augustenburg, als des Hauses Hohenzollern. Dieses Verhältniß drehte sich
um. nachdem der gasteiner Vertrag Preußen allein in die Verwaltung des
national gemischten Grenzlandes eingesetzt hatte und der Gouverneur von
Schleswig, Generat von Manteuffel, seine famosen sievenfüßigen Reden hielt,
die den Dänen jede Hoffnung der Rückkehr zum Insel-Reich abschneiden zu
sollen schienen; da begann für sie Preußen der Inbegriff alles Bösen und
Hassenswcrthen zu werden, während die Deutschen im Norden eher als die
Sübschleswigerund namentlich als die Hvlsteiner ansingen, den Werth der preußischen
Macht für alle nationalen Interessen zu würdigen. Bei ihnen brauchte daher
der glorreiche Ausgang des preußisch-östreichischen Entscheidungskampfes um die
Führung in Deutschland nicht viel Bekehrungen mehr zu machen. Niemand
im außerpreußischen Deutschland wäre zufriedener als sie mit diesem Abschluß
des lange unentschiedenen Ringens gewesen, hätte der nikolsburg-prager Friede,
der denselben besiegelte, nicht nebenher in seinem Schoße einen Erisapfel, eine
Wiedererweckung des kaum begrabenen deutsch-dänischen Streits getragen, und
sie ganz unerwartet, während überall anderswo in Deutschtand bis nach
Schleswig hinein eine dauernde befriedigende Ruhe einzukehren versprach, in die
peinlichste Sorge und Ungewißheit der Zukunft zurückgestoßen.
Was aber für die Deutschen in Nordschleswig wie das Wiederabtreiben
eines um sein Leben schwimmenden Mannes vom rettenden Ufer war, das
wurde natürlich für die dortigen Dänen zum Ausgangspunkt neuer kaum noch für
möglich gehaltener Hoffnungen. Den glimmenden Funken ihres Nationalbe¬
wußtseins und politischen Strebens sachte der Artikel V. des prager Friedens
zu hellen Flammen an, und die Dänen im Königreich sorgten, daß es diesem
Feuer nicht an Nahrung fehle. Allsonntäglich fuhren Dampfschiffe mit Hun¬
derten von Dänen über den kleinen Belt herüber und hinüber, um unter dem
Anstrich eines Vergnügungsausfluges Gelegenheit zu patriotischen Ansprachen zu
geben, zur gemeinsamen Absingung von Nationalliedern, zu praktischen Ein¬
wirkungen oder Verordnungen für den einen großen Zweck, Nordschleswig wie¬
der dänisch zu machen. Was 'half es da, die kopenhagner Blätter zu verbieten?
Abgesehen davon, daß sie bei so dichtem Verkehr trotz des Verbotes zu Tausen¬
den ins Land kamen, wo sie dann nur desto begieriger verschlungen wurden,
der nicht zu hemmende mündliche Austausch hätte ihren Einfluß zur Noth
vollkommen ersetzt. Jedes Wort aber, das ein Däne des Königreichs mit
einem Nordjchleswiger wechselte, wurde von selbst zum Träger des Deutschenhasses,
denn die ganze Nation ging für Monate auf in dem heißen Verlangen, einen
Theil der ihr aus Leben gehenden schweren Verluste von 1864 zurückzugewinnen.
Selbst in Paris kann Niemand im Laufe des letzten Jahres sehnlicher und un¬
geduldiger auf den Ausbruch des Rheinlrieges geharrt haben, als es die Kopen¬
hagener polittsirenden Kreise thaten. Wie mußte dies auf die Dänischgesinnten
Nordschteswigs einwirken!
Wie bedeutungsvoll war dagegen, was Deutschland zur Belebung des Muthes
seiner Angehörigen in diesem moralischen Ringkampf gethan hat. Es ist nie-
mandem eingefallen, sie aufzusuchen oder einzuladen. Mit Ausnahme der
Kölnischen Zeitung hat bis jetzt kein größeres deutsches Blatt die nordschleewig-
sche Frage stehend auf seinem Repcrtvu gehabt oder dieselbe auch nur in Zwi-
schen'anmalt mit etwas höherem Nachdruck behandelt, — und die Kölnische
Zeitung vertrat von vornherein die Interessen der dänischen Schleswiger. Die
übrigen Redactionen thun ihre Spalten wohl, wenn der Raum nicht allzu knapp
geht, nordschleswigschen Korrespondenzen auf, aber bis zu einer selbständigen
Behandlung der Sache in Leitartikeln versteigt sich ihr Interesse an dieser An¬
gelegenheit nicht. Man hat eben im Innern von Deutschland durchgängig mit
sich selbst genug zu thun. Für Grcnzfragen bleibt sogar den Politikern von
Fach mit ganz vereinzelten Ausnahmen kein Sinn und Schwung übrig. Das
mag sehr begreiflich, sehr entschuldbar sein, aber es nimmt denjenigen, welche
auf einem solchen Grenzposten stehen und für ihre Zusammengehörigkeit mit
unserer nationalen Cultur zu kämpfen haben, den Sauerstoff lebendiger, allge¬
meiner Theilnahme, der das Feuer thätiger Vaterlandsliebe auch in der Verein¬
zelung nicht ausgehen läßt.
Es kann unter solchen Umständen nicht Wunder nehmen, zu hören, daß das
deutsche Element in Nordschleswig durchschnittlich nichts weniger als Fortschritte
macht. Die zweite Reichstagswahl hat zwar einen dänischen Abgeordneten weniger
ergeben als die erste, aber hauptsächlich wurde das einer veränderten Anordnung
der Wahlkreise verdankt, und im übrigen wies die Wahlstaiistik eine wesentliche
Verschlimmerung des Standes der Dinge nach. Günstiger selbstverständlich
als beide Neichstagswahlcn ist die W»si zum preußischen Abgeordnetenhause
ausgefallen, weil das Dreiclassensystcm das Uebergewicht der Deutschen an Ca¬
pitalbesitz stärker in die Wagschale fallen ließ, und es ist nicht hoch genug an¬
zuschlagen, daß dieses neue Stimmungsexpcriment nicht blos in Flensburg,
sondern sogar in Hadersleben die entschiedenste Ueberlegenheit der Deutschen
nachgewiesen hat. Die Stadt Hadersleben an Dänemark zurückzugeben ist da¬
mit noch schwieriger gewesen, als es schon vorher war. An Flensburgs Ab¬
tretung wird man nun wohl selbst in Kopenhagen zu denken aufhören. Allein
für das Platte Land hat sich Gleiches nicht herausgestellt. Da bleibt das däni¬
sche Uebergewicht immer wie 3 zu 1 oder noch höher, wo es nicht gar zunimmt.
Denn hier sitzen die paar Deutschen unter der dänischen Bevölkerung derart
vereinzelt, daß die einmal herrschende Strömung sie mehr und mehr entwöhnt,
ihre eigentliche Gesinnung zu bekennen, ja sie am Ende in dieser selbst er¬
schüttert. Es sind ja nicht lauter vollgebildete Gutsbesitzer oder dergleichen,
was dort an Deutschen lebt. Die Leute stehen von Haus aus vielfach auf
einer gewissen Mittelstufe zwischen deutsch und dänisch, die sich in früheren
naiven Zeiten bekanntlich darin gefiel, aus dem ^Schleswiger" einen ganz be-
sonderer, dritten Stamm zu machen, und der Uebergang zu vollbewußtem däni¬
schen Wesen wird ihnen oft nicht viel schwerer, als der zum Deutschthum.
Bedenkt man diesen Stillstand, um nicht zu sagen Rückschritt des deutschen
Elements in den ländlichen Grenzgebieten, vergegenwärtigt man sich das tiefe
Bedürfniß der gesammten Bevölkerung nach Ruhe, nach endlicher Entscheidung
ihres Schicksals, das die Deutschen bei weitem lebhafter empfinden müssen als
die in hoffender Spannung erhaltenen Dänen: so muß man zu dem Schlüsse
kommen, daß die Frage sobald als möglich erledigt werden sollte. Natür¬
lich darf dies nicht in einem unsere Nationalinteressen beeinträchtigenden
Sinne geschehen, und demzufolge muß die Lage Europas günstig sein, um
einen keine edlen Theile verletzenden Operationsschnitt zu gestatten. Allein
die Lage Europas ist jetzt günstig, viel günstiger sogar, als sich sobald hätte
hoffen lassen. Frankreich, von dem der Artikel V des prager Friedens stammt,
und das allein unter den Großmächten aufgelegt wäre, aus dessen Erfüllung
eine Ehrensache zu machen, ist durch die römische Verwicklung gelähmt. Der
Kaiser hat nicht einmal gewagt, in seiner letzten Thronrede der noch schweben¬
den nordschleswigschcn Frage zu gedenken. Vielleicht schmollt er im Augenblick
auch sogar ein wenig mit Dänemark, das die westindische Insel Se. Croix. auf
welche Frankreich ein Vorkaufsrecht besitzt, sammt Se. Thomas und Se. Jan
an Nordamerika veräußert hat. Aus demselben Grunde wird England gegen¬
wärtig nicht allzu eifrig sein, Dänemarks Partei gegen Preußen zu nehmen.
Se. Thomas ist eine Hauptstation seiner westindischen und südamerikanischen
Dampferiinien. die als dänische Besitzung sogut wie immer zugänglich war, als
nordamerikanische kaum noch in gleicher Weise brauchbar sein wird. Was Rußland
betrifft, so hat es jedenfalls seine Gründe, sich im Augenblick mit Deutschland
nicht ohne Noth auf Nationalitätscontroversen einzulassen, und Oestreich müßte
noch viel Handgreiflicheres als seinen deutschen Charakter ausziehen, wollte es
gegen die Deutschen im Norden Partei nehmen. Kurz, die Lage entspricht allen
Anforderungen, welche sich an ihre Gunst nur irgend erheben lassen, und es
besteht daher schlechterdings kein Grund, den endlichen Abschluß des deutsch-
dänischen Streits und eine allen nöthigen Rücksichten entsprechende Ausführung
des Artikels V des prager Friedens länger hinauszuschieben.
Am 28. Juni 1863, bald nach Abschluß des Concordats erschien in Oest¬
reich ein Ministerialerlaß. welcher die katholischen Vereine und Bruderschaften
der Anwendung des Vereinsgesetzes vom 26. November 18S2 entzog und
ihre Genehmigung und Oberleitung den Diöcesanbischöfen übertrug. Es
war damals alles darauf abgesehen, Oestreich zu einem eminent katholischen
Staate zu machen, der weltliche Arm sollte sich dem Stäbe der Kirche beugen,
man erlaubte ihm nur ihr zu Nutz und Frommen Dienste zu leisten. Dies
genügte aber den tonangebenden Herren jenseits der Berge noch lange nicht.
Sie dachten sich nebenbei Oestreich als ein verschanztes Lager, aus dem sie nach
allen Ecken und Enden Deutschlands ihre Cohorten aussenden könnten, um sich
daselbst neue Provinzen zu annectiren, ja 'als Stapelplatz ihrer Flotten, die in
alle Theile des übrigen Continents und der ganzen Welt bestimmt waren. Das
vorzüglichste Mittel zur Verbreitung ihrer Herrschaft waren die katholischen Ver¬
eine. Nicht nur alle Städte und Länder des weiten Kaiserstaates wurden von
diesen wuchernden Schlingpflanzen umgarnt und ausgesogen, ihre Verzweigun¬
gen liefen auch nach allen Seiten ins Ausland und tauchten dort wieder als
neue Pflanzschulen auf. Es waren große welterobernde Pläne, die man im
Busen trug, und wenn man die katholischen Politiker hörte, bekämpften sie doch blos
den Josephinismus, den Socialismus und die Revolution. Es ist nur Stückwerk,
was man hie und da aus clericalcn Tagesblättern und auf Katholikenversamm-
lungcn davon zu hören bekam, am Ende wird aber doch ein klares Bild daraus.
Die letzte Katholikenversammlung in Innsbruck lieferte manchen Beleg
dafür, obschon man nur mit großer Vorsicht ein schwaches Echo aus ihren
„geschlossenen" d. i. geheimen Sitzungen in die Welt dringen ließ. Wir wollen,
nachdem bereits ein Bild der Physiognomie derselben gegeben worden, auch
dies hier nachtragen.
Unter den vielen katholischen Vereinen Oestreichs leuchteten jene von Wien
voran , über deren segensreiche Wirksamkeit sich Graf Fries mit großer Genug-
thuung ausließ. Auf der „Generalconferenz der katholischen Vereine" daselbst
durchging er sie alle der Reihe nach, sie wirkten, wie er versicherte, auf
sämmtlichen Gebieten der christlichen Charitas, wobei selbstverständlich der Ser-
vinus- und Leopoldinenverein, denen viele hohe Beamte und edle Damen an¬
gehören, als Muster voranstehen. Von den Bruderschaften außerhalb Wiens
that sich vorzüglich jene vom h. Erzengel Michael in Se. Potter hervor, die
M allen Diöcesen eingeführt sein wollte und zunächst die materielle Unter-
Stützung des heil. Stuhles ins Auge faßt. Daran schlössen sich die katholischen
Vereine Oderöstreichs, die auf ihrer „Provinzialversannnlung" vom 20. und 21.
August d. I. den Protest gegen das Mühlfcld'sche Ncligionsedict erneuerten,
die wackern Vorkämpfer am östreichischen Reichstag. Greutcr und Jäger, mit
Adressen beehrten und über Mittel zur Abstellung der schlechten Presse beriethen,
ferner der Nupertus- und katholische Bürgerverein in Salzburg, der katholische
Stammverein zu Innsbruck, der wie eine Freimaurerloge insgeheim sich über
ganz Tirol verzweigt bat und dergl. in. Unter den katholischen Vereinen, mit
denen das außeröstreichische Deutschland gesegnet ist, hörten wir namentlich
jene des h. Bonifacius, Karl Baromäus und Vincenz v. Paula, dann das von
den Jesuiten geleitete „Gebetsapostolat" rühmen, welches die von I. Malfatti
S. I. redigirte Zeitschrift „der Sendbote des göttlichen Herzens Jesu" unter
die Gläubigen verbreitet. Aachen besitzt seinen Se. Josephvercin, welcher Paris,
Havre und London mit Seelsorgern, namentlich Jesuiten, versieht. In Ham¬
burg besteht eine Misstonsanstalt zur Unterstützung der nach der neuen Welt
auswandernden Katholiken, in der Schweiz ein Piusverein, der seinen Arm zu
einem Kirchenbau in Grissau nach Vorarlberg hereinstreckt, und in den Schnee-
feldern Norwegens eine Nordpolmissivn, die ihr Licht nach Lappland und in
alle Länder des nördlichen Polarkreises trägt. Dazu kommt noch eine Kolonie
in Brasilien, wo man die Diöcese San Pietro gegründet hat und wo die Ge¬
sellschaft Jesu eine sehr geregelte Seelsorge betreibt.
Von neuen Unternehmungen sind, außer der allseitigen Unterstützung
der pädagogischen Vereine, die Gründung eines katholischen Soldatenvereins,
dann eines continuirlichen Hilfsfonds zur Ausführung der Beschlüsse der Gene¬
ralversammlungen mit jährlichen Beiträgen sämmtlicher deutscher Geistlichen
und Laien, eines Preßfonds zur Unterstützung katholischer Journalistik, endlich
die Errichtung eines katholischen Preßbureaus in jedem Divcesanfitz oder jeder
Provinzialhauvtstadt Deutschlands unter Mitwirkung des Episcopats und aller
Laien zu melden. Die Versammlung sprach hiebei ihre entschiedene Mißbilligung
darüber aus, daß kirchenfeindliche Blätter überhaupt gehalten werden. Schade,
daß der Antrag zur Abfassung einer Statistik aller katholischen Vereine Deutsch¬
lands nicht besser gewürdigt wurde, eine solche hätte uns noch tieferen Einblick
in diese unterirdischen Minen erschlossen.
Fragt man nun, ob der Zweck dieser weitverzweigten Vereine bloß der vom
eingangs citirten Ministerialerlaß vorangestellte ist und sich auf die Förderung
von Werken der Frömmigkeit und Nächstenliebe beschränkt, so müssen wir dies
entschieden verneinen. Der Zweck dieser Vereine ist vorzüglich ein politischer:
Die Beeinflußung der staatlichen Entwicklung und Gesetzgebung, die Um¬
wandlung unserer jetzigen Staatsform. Auch dafür liefern die Beschlüsse
jener Katholikenversammlung in Innsbruck einen schlagenden Beweis. Man
erklärte daselbst jeden Versuch, das Concordat durch einseitige Gesetzgebung auf¬
zuheben, für ein Unrecht, man protestirte feierlichst gegen die Trennung der
Schule von der Kirche, gegen den Plan, das Unterrichtswesen in die Hand des
Staates zu legen. Man sprach es ganz offen aus. daß die Kirche nicht weichen
solle den Beschlüssen der östreichischen Reichsversammlung. daß sie weltliche
Hilfe brauche und diese von Oestreich fordere, daß ihre Arche in der setzigen
revolutionären Sündfluth gezimmert werden müsse aus österreichischem Holz.
Mit einem Worte, unser Staat soll der Kirche dienen, gleichviel ob er selbst
darüber in Trümmer geht oder nicht, wir sollen nur die Vasallen Roms sein,
jenes Rom, dessen Tage weltlicher Macht sich bald zum Ende neigen.
Jedermann begreift, dies ist ohne die Rückkehr des Absolutismus unmöglich,
er also das eigentliche Ziel dieser Vereinsbcstrebungen ist. Die unsichtbaren
Hände der nach allen Seiten ausgedehnten, eng unter sich verbundenen, solida¬
risch für einander einstehenden katholischen Vereine leisten dazu alle erdenk¬
liche Hilfe. An der Oberfläche erscheinen nur die Folgen, der Mechanismus ist
ein Geheimniß der Wissenden. So wurde von ihnen schon längst die Parole
ausgegeben zu allen glaubenseinheitlichcn und concordatlicben Adressen, Peti¬
tionen und Deputationen, mit denen man die unverständige thörichte Menge un¬
ablässig und „ablässig" in Athem hält. Man sagt ihr vor, das Concordat sei
das Evangelium, die Civilehe Concubinat, die Volksbildung untergrabe das
Christenthum, der Reichsrath beabsichtige nur die Wiedereinführung des alten
Heidenthums ?c.
Wir erachten es an der Zeit, auf diese wohlorganisirte, dem Gedeihen
unserer noch kaum geborenen Freiheit feindliche Macht aufmerksam zu machen,
die sich noch immer des Schutzes vieler hochgestellten und einflußreichen Gönner
erfreut, eines Generalstabs. der alle ihre Pläne entwarf und ausführen half,
und für den Jesuitismus und die katholische Weltherrschaft Proselyten macht.
Es handelt sich einfach darum, ob es der Staat dulden darf, daß in und neben
ihm eine Gesellschaft bestehe, die ein seiner Aufgabe diametral entgegengesetztes
Ziel verfolgt und alles aufbietet, um sie zu vereiteln und die Herrschaft für sich
zu gewinnen, die der Freiheit den Absolutismus gegenüberstellt? Wenn
das Vereinsrecht so weit gehen darf, so heißt dies eben den Staat ausgeben.
Wir glauben daher mit Recht fordern zu können, daß keine Vereine geduldet
werden, die durch ihre Verhandlungen selbst ihre ostensiblen Zwecke.Lügen stra¬
fen und in der That kein anderes Ziel im Auge Kaden als den Umsturz unse¬
rer Verfassung, die Vernichtung unserer staatsbürgerlichen Rechte und die Wie¬
dereinführung der geistigen und leiblichen Knechtschaft. Eine heilige Pflicht ist
es aber auch, unsere deutschen Brüder auf das schleichende Gift aufmerksam zu
machen, das sich in alle Glieder unseres großen Vaterlandes frißt, auf die ge¬
heime Liga, die schon jetzt die kugclsestmachenden Skapuliere weiht, um einst
die Rheinländer und Westfalen in erbitterten Kampf zu jagen gegen den Hort
des Protestantismus, um den blutigen Morgen einer Zeit wieder heraufzufüh¬
keit einer strengen und wirksamen Controlle über das katholische wie jedes andere
Vereinswesen, glauben wir doch darauf hinweisen zu müssen, daß die von dem
Herrn Verf. bcvorwortete Auflösung jener religiösen Genossenschaften eine Beein¬
trächtigung des Vereinsrechts involviren würde, die gerade im Interesse der jungen
östreichischen Freiheit nicht zu wünschen ist. Ganz abgesehen davon, daß mit äußeren
Polizeimaßrcgcln für die Sache selbst nichts gewonnen, sondern blos den Heimlichkeiten
einer unterdrückten Partei Thür und Thor geöffnet werden würde, scheint es uns
in der Natur der Sache zu liegen, daß ein Recht, wie das zur Vereinigung religiöser
oder politischer Gesinnungsgenossen, zweischneidig ist d. h. ebenso gut für wie wider
die Sache freiheitlicher Entwickelung ausgebeutet werden kann, diese Zwischcnschneidig-
kcit aber behalten muß, um seiner ursprünglichen Bestimmung, die in der Möglichkeit
einer Bethätigung des Volkswillcns besteht, treu zu bleiben.
Notiere's Lustspiele, übersetzt von Wolf Grafen Baudissin, 2. Band 1866,
S. Bd. 1866. 4. Bd. 1867. Leipzig. S. Hirzel.
In vier stattlichen Bänden liegt jetzt die meisterhafte Übersetzung vollendet
in den Händen des Publicums. Wir verzeichnen den Lesern zunächst den reichen
Inhalt der vier Bände: Bd. 1. Die Schule der Ehemänner. Die Schule der
Frauen. Der Misanthrop. Tartüffe. Die gelehrten Frauen. Bd. 2. Der Zwist
der Verliebten (Is V6M srnoureux). Die Kostbarer lies ?r6eien86L riäioules).
Die Lästigen (I^es Medsux). Die Kritik der Frauenschule. Das Impromptu
von Versailles. Die erzwungene Heirath. Don Juan. Der Liebhaber als Arzt.
Bd. 3. Der Geizige. George Daudin. Der bürgerliche Edelmann (Is Bour¬
geois ZentilKomme). Die Gräfin von Esccubagnas. Der eingebildete Kranke.
4. Bd. Der Unbesonnene, oder Es ist ihm nicht zu helfen (I/Ltouräi, on 1o
Lvlltretomxs). Sganarelle, oder Der Hahnrei in der Einbildung (I« Oven
illiaAMg-irs). Der Arzt wider Willen. Der Sicilianer, oder Der Liebhaber als
Maler. Amphitryon. Herr von Pourceaugnac. Scapin's Schelmenstreiche (les
?vurkeri«3 ac Leapin). — Wir sind dem Ueberscher dankbar, daß er sich ent¬
schlossen hat, den gesammten Moliere zu übertragen, denn das merkwürdige
Talent des größten Lustspieldichters der Franzosen wird nur aus der Gesammt¬
heit seiner Dramen vollständig erkannt, gerade in den leichten Gclegenheits-
stücken ist die unübertreffliche Grazie und Feinheit seiner Charakteristik und
Scenensührung am meisten bewundernswürdig.
Die Bedeutung der Übersetzung ist in d. Bl. bei der Besprechung
des ersten Bandes gewürdigt. Uns wurde die Freude, von demselben verehrten
Mann, der mit Schlegel und Tieck zuerst den Shakespeare bei uns einbürgern
half, auch die Uebertragung Molieres zu erhalten, die erste, welche den höchsten
Anforderungen entspricht, die wir an eine Ueberhebung dieses Dichters zu machen
haben. Vor allem erfreulich ist die Germanistrung molierischer Verse. Der Ueber«
scher hat den Alexandriner in den deutschen dramatischen Fünffuß ver¬
wandelt; über die Berechtigung und Nothwendigkeit dieses Verfahrens ist früher
ausführlich gehandelt worden. Der französische Alexandriner erhält durch das
Wesen der romanischen Sprache, ihr eigenthümliches Accent- und Klangleben
einen weitverschiedenen Charakter von dem deutschen jambischen Sechsfuß,
wenn dieser durch die Cäsur in völlig gleiche Theile getheilt wird; der franzö¬
sische ist ein lebhafter, stattlich dahinschreitender Sohn der guten Gesellschaft,
der deutsche ein eckiger, langweiliger, anmaßender Pedant. Es war für den
feinen und geistvollen Moliere bisher eine harte Sache, durch solchen plumpen Vers
den Deutschen bekannt zu werden. Auch in den Prosastücken hat Graf Baudissin
seine Uebersetzervirtuosität bewährt, obwohl hier zuweilen unmöglich ist, den
feinen Hauch altfranzösischer Diction durch entsprechende Redeformen und Satz¬
bildung wiederzugeben und der Ucberscher adoptirt launig den Ausspruch von
Mademoiselle Böjart, der berühmten Schauspielerin Molieres: 1^ xroLv est
IM eneoro gue los vers.
Es sind jetzt zweihundert Jahre her, seit Moliere auf der Höhe seines
Ruhmes stand, und während dieser ganzen Zeit hat er durch seine Nachfolger
die heitere Bühne Europas beherrscht.
Seit die Komödie Anekdoten und Charaktere des Privatlebens durch die
Kunst des Schauspielers darstellt, also seit der mittlern und jüngern attischen
Komödie, ist ihr das Entlehnen und Unbilden älterer Stoffe und Rollen in
^>rer Ausdehnung eigen geblieben, wie keiner andern Gattung der Poesie.
Die Erfindungen der Griechen wurden von Plautus und Terenz, die Komödien
Römer seit der Renaissance von allen Völkern Europas, den Engländern,
Italienern, nicht zuletzt von Moliere ausgebeutet. Von Moliere entnahmen
wieder Holberg und die Deutschen des vorigen Jahrhunderts ganze Handlungen,
Charaktertypen und komische Situationen, das Entlehnte nach den Bedürfnissen
ihrer Zeit zustutzend; bis in die neueste Zeit dauert dieser Diebstahl, und es
wäre eine der interessantesten Aufgaben einer Geschichte dramatischer Kunst,
die Dauer und Wandlungen uralter Stoffe durch mehr als zwei Jahrtausende
nachzuweisen. Jede dramatische Zeit eines Volkes hat dem vorhandenen Vor¬
rat!) von Motiven, Situationen und Rollen einiges von eigener Erfindung zu¬
gefügt, es scheint, daß den Romanen immer leichter wurde, die Handlung neu
zusammenzuflechten, den Germanen, Charaktere zu schaffen. Doch ist der Reich¬
thum an letzteren in Wahrheit nicht groß, und auch wir vertragen auf unserer
Bühne noch in ^hundert Fällen ein Verhältniß zwischen Herrn und Diener,
Heldin und Kammermädchen, welches jetzt völlig unwahr, aus dem Verkehr
der Hellenen mit Haussclavcn und Hetären seit mehr als zwei Jahrtausenden
übriggeblieben ist.
Es ist wahr, auch Moliere benutzte harmlos fremde Stoffe, wo er sie
fand, von Römern, Italienern, Spaniern, auch bei ihm ist der Werth der
eigenen Arbeit sehr verschieden, aber seine besten Dramen sind nicht nur in
den Charakteren, auch in Zusammensetzung der Handlung völlig sein eigen, und
gerade in diesen sind Ehrlichkeit und Reichthum seiner Erfindung bewunderungs¬
würdig. Der Misanthrop, die gelehrten Frauen, die Lästigen werden jederzeit
für Meisterstücke eleganter, wahrer und schöner Charakteristik und Scenenfüh¬
rung gelten. Und in seinem Dichtcrtalent ist etwas Deutsches, das ihn von
den französischen Dichtern, der mittelalterlichen Heldengedichte, wie von den
meisten modernen Franzosen, z. B. Scribe und Dumas, wesentlich unterscheidet;
es wird ihm leichter, originale Charaktere in merkwürdig correcten Linien zu
zeichnen, als selbständig eine spannende Handlung zusammenzusetzen. Aber
den Deutschen überlegen ist er durch die ganz einzige und unübertroffene Weise,
rü welcher er seine Scenen organisirt, ihre Wirkungen steigert und weise auf
das für die Gesammthandlung Nöthige beschränkt.
Oft sehen wir in modernen Stücken Erfindung oder Zurichtung Molieres,
ohne an den eigentlichen Erfinder zu denken, unter seinem Namen ist fast nur
der Tartüffe auf dem deutschen Bühnenrepertvir erhalten. Nicht das beste
seiner großen Stücke. Die meisterhafte Zeichnung des Hauptcharaklcrs vermag
nicht ganz den peinlichen Eindruck zu beseitigen, welchen die erbärmliche Schwäche
des Orgon hervorbringt, trotz der klugen Einschränkung der Hauptrolle in die
letzten Akte wird an ihr eine gewisse Monotonie fühlbar, und daß die Lösung
zuletzt durch die Polizei herbeigeführt werden muß, ist unserer Empfindung un¬
bequem. Wir meinen aber, zwei Stücke von Moliere sollten der deutschen Bühne
nicht fehlen, welche beide der Kunst des Darstellers und dem Zusammenspiel die
höchsten Aufgaben stellen: der Misanthrop und die Lästigen. Auch der Misan¬
throp vermag nicht ein Lieblingsstück der schaulustigen Menge zu werden, der
pessimistische Zug darin widerspricht dem frohen Grundton des modernen
deutschen Lebens, aber die wundervolle Feinheit der Situationen und Charak-
tere wäre unsern Schauspielern und den gebildeten Zuschauern doch ein unge¬
wöhnlicher und belehrender Genuß. Aus einem andern Grund empfehlen wir unsern
Bühnen das altfranzösische Stück: die Lästigen. Will man bei irgend einer zweihun¬
dertjährigen Gedächtnißseier an den größten dramatischen Dichter unserer Nachbarn
erinnern, so gibt dieses kleine Lustspiel reichlich Gelegenheit, Eigenthümlichkeiten
der alten Bühne und des scenischen Arrangements in belustigender Weise ein¬
zuführen, und es enthält außerdem eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit
charakteristischer Rollen, daß uns kein anderes Stück bekannt ist, in welchem
eine Bühne alle Fächer des Lustspiels so zierlich und dankbar wie in einer
Reihe von Bildern hinter einander vorführen könnte. Das Lustspiel selbst ist
ein anspruchloses Gelcgenheitsstück, die Handlung so einfach als möglich. Ein
Herr des Hofes wünscht in den öffentlichen Anlagen um das königliche Schloß
mit seiner geliebten Dame zusammenzutreffen, das Rendezvous wird immer
wieder aufgehalten und gestört durch das Eindringen bekannter Herren und
Damen des Hofes oder fremder Zudringlicher, bis zuletzt dem Liebenden eine
Erklärung und die Versöhnung mit dem feindlichen Vormund der Geliebten
gelingt.*) Die Handlung wird unterbrochen durch Ballet in Charaktermasken
aus der Zeit Ludwigs XIV., welche sich der Scenerie und Handlung geschickt a».
passen und gleich den auftretenden Rollen die Vereinigung der Liebenden hindern.
Der größte Reiz des Stückes liegt in der wahren und detaillirten Schilderung
der auftretenden Cavaliere und Schmarotzer des Hofes, es sind eine Reihe
typischer Charaktere: der Kunstkenner, der Spieler, der Duellant, der unge¬
schickte Jäger, der Projectmacher u. «,, fast Jeder nur mit einer Scene,
alle sehr ergötzlich und wirksam. Ein Charakterdarsteller mit reichen Mitteln
erhielte hier Gelegenheit und ausnahmsweise auch Berechtigung, sich in meh¬
reren Rollen zu empfehlen. Die Einrichtung der Bühne ließe sich leicht dem
altfranzösischen Theater so anpassen, daß das Stück den Charakter eines Gele¬
genheitsstücks erhält, welches vor dem Hose gespielt wird. Für die Auf¬
führung haben leider alle Stücke Molieres den Uebelstand, daß unsern Dar¬
stellern die Technik für seine Charakterschilderung in unsern großen Schauspiel¬
häusern mit reißender Schnelle verloren geht, und daß zur Zeit nur noch sehr
wenige sich in Kniehosen und altfranzöstscher Tracht gut darzustellen wissen.
Auch dafür und für pointirte Conversation ist ein Stück Molieres die beste
Schule.
Möge dem Uebersetzer, welcher Molieres Stücke in würdiger Gestalt
unserer Bühne zugänglich gemacht hat, auch die Freude werden, daß die
Schauspielkunst und das Publikum des Theaters die Frucht seiner Arbeit für
sich eincrndten.
Carl Justi: Winckelmann in Deutschland. Leipzig. F. C. W. Vogel.
In der Nachbarschaft des jüngst so ernsthaft bedrohten capitolinischen Hü¬
gels zu Rom feiert jedesmal am 9. December die von Eduard Gerhard be¬
gründete deutsche archäologische Gesellschaft in dem Geburtstage Winckelmanns
den eigenen. Künftiges Jahr erfüllen sich ihr die ersten vier Decennien des
Bestehens; vor diesem Zeitpunkt aber, am 8. Juni 1868, kehrt nach einem
Jahrhundert die Erinnerung des Tages wieder, der von einem unberechenbaren
Dämon regiert, dem Begründer der modernen Archäologie das Leben nahm. Die
Unbill dieses Schicksals wird dort an der würdigsten Stätte, wo Winckelmanns
gedacht werden kann, mit dem lauten Bekenntnisse gesühnt werden, daß das
Werk nicht mit dem Urheber zu Grunde gegangen, sondern in eifriger Nach¬
folge fortgebildet worden, und daß es vor anderen eben jener wechselnden römi¬
schen Genossen höchster Stolz ist, in allem Großen und Besten, was sie erstrebt,
sich auf Winckelmann zu berufen. Gehört denen, die sich täglich der Aufschlüsse
erfreuen, welche Rom ihnen wie dem Ahnherrn ihrer Wissenschaft gewährt,
vornehmlich die italienische Hälfte dieses großen Gelehrtenlebens, so scheint es
billig, daß wir uns mit um so größerer Zärtlichkeit an die hyperboräischen
Tage desselben halten, auf welche der eben jetzt zu feiernde hundcrtundfünfzigste
Geburtstag Winckelmanns hinweist.
Aber wie schlecht war bisher unser Pictätsbedürfniß nach dieser Seite be¬
rathen. Nicht genug, daß der große Gelehrte selbst an die Tantalusqualen
seiner Jugendjahre mit einem Verdruß zurück dachte, der nicht mittheilsam
macht, wie er ja auch die Abfassung seiner Selbstbiographie, wenn sie nicht
geradezu aufgegeben war, so lang hinausschob, daß ihn der jähe Tod daran
verhinderte, — auch mitlebende Freunde haben gerade über diejenige Periode
seines Strebens und Ringens, die er ohnehin am kärgsten bedacht haben würde,
wenig und ungenügende Nachricht gegeben. Natürlich; denn der alle Genosse»
in Staunen versetzende Glanz der italienischen Zeit, von deren Beginn er
feinen wahren Geburtstag zu rechnen liebte, warf immer tiefere Schatten auf
die Vergangenheit in Deutschland. Puppe und Schmetterling desselben Falters
läßt sich nicht zu gleicher Zeit aufbewahren, und da die beiden Hälften dieses
Gelehrtenlebens, jede an intensivem Gehalt so reich, wie arm an äußerlichen
Ereignissen, vor den Augen der Mitlebenden auseinanderfielen wie Nacht und
Tag. so hat Wenige gelüstet, rückwärts zu schauen; schien doch auch kein Pfad
aus dem einen Leben ins andre herüberzuleiten.
Dennoch finden fast Alle, welche ihm forschend nahetraten, einen großen,
wenn nicht den größten Reiz der Beschäftigung mit seinen Leistungen darin,
daß diese allenthalben die liebenswürdigste Persönlichkeit offenbaren. Diese
aber ist ein Ganzes, und wer selbst auch tausendmal vorgäbe, im Alter die
eigene Jugend nicht wiederzuerkennen, — wir mögen diesen Irrthum selbst
dem Besten und Größten lieber heimgeben, als von dem Satze lassen, daß der
Mensch das historischeste Wesen sei.
Wie die Fachwissenschaft, welcher Winckelmann die ewigen Impulse ge¬
geben, stolz und gedeihlich in seinem Geiste arbeitet, so hat auch die biographi¬
sche Literatur neuerdings mit manchem schönen Beitrag zur Kunde seines
Wirkens bereichert. Hinfort kann von ihm nicht mehr die Rede sein, ohne daß
Otto Jahns gedacht wird, der gleich erfolgreich mit beiden Händen spendend
in wissenschaftlicher wie in populärer Form die großen Züge dieser mächtigen
Natur uns eingeprägt hat. Aber alle Musterleistungen solcher Art und solches
Gegenstandes machen das Verlangen nach vollständiger Kunde nur immer reger;
so wurde eine ausführliche Biographie Winckelmanns ein umso wärmeres An¬
liegen der Nation, je mehr anderseits die Vorstellungen über die Größe und
Schwierigkeit der Aufgabe sich klärte.
Seit vorigem Sommer nun sind wir im Besitze der Anfänge einer Bio¬
graphie Winckelmanns, welche darauf angelegt ist, die ungewöhnlichsten Er¬
wartungen zu befriedigen. Wir meinen Justis Winckelmann in Deutsch¬
land. Wenn die grünen Blätter, die ungern eine Gelegenheit versäumen,
des Gründers der modernen Archäologie zu gedenken, dieses Buches bisher
nur nebenbei erwähnt haben, so liegt es einzig an den Folgen der Ungunst
jener Zeit, in welcher dasselbe erschien. Den Correcturbogen des stattlichen
ersten Bandes der Arbeit, die Winckelmanns Leben. Werke und Zeitgenossen
M schildern unternimmt, wäre es auf ihrer Reise zwischen Leipzig und Mar¬
burg beinahe ergangen wie dem Mann, von welchem sie Kunde bringen, als
er auf ersehnter Fahrt nach Frankreich vor den Waffen zurückweichen mußte:
Dank dem schnellen Fluge des preußischen Adlers indeß wanderten sie unbehelligt
fast mitten durch den Krieg. Als das Buch ausgegeben wurde, fand es ein tief
aufgeregtes, zur Versenkung in ferne Geistesgeschichte schlecht angethanes Publikum.
Was es bei ruhiger Zeit ohne Zweifel alsbald erreicht haben würde, heimisch
in werden in der Nation, scheint ihm noch wenig gelungen. Die Erfahrung
ist alt, das große allgemeine Geschicke, wie sie manchen Unverdienten fördern,
so auch manchen Unschuldigen betrüben, aber in einem Falle wie dem vorliegen¬
den solcher Unbill nach Kräften abzuhelfen, ist eine ebenso ernste als angenehme
Pflicht, und überdies das eigene Interesse; denn der Schaden träfe allein uns.
Dreierlei Erfordernisse muß der Biograph Winckelmanns bei der Darstellung
seines Lebens in Deutschland vor allem erfüllen: ihm darf nicht zu viel werden,
die tausend verstreuten Notizen und Reliquien zu sammeln, die Masse von re¬
denden Zeugnissen gelehrter Vorstudien seines Mannes, interessanter und uninter¬
essanter, zu lesen und zu prüfen. Diese mühevolle und oft genug peinliche
Arbeit aber kann nur dann lohnen, wenn ihn ein gutes Maß von Congenia-
lität befähigt, in das verborgene Getriebe der minutiös und pedantisch erschei¬
nenden Thätigkeit des lernenden Winckelmann einzudringen, eine Aufgabe,
nicht unähnlich derjenigen eines Künstlerarchäologen, der aus übriggebliebenen
Händen und Waffen sich die Gestalt eines ringenden Kriegers divinatorisch
ergänzen sollte. Und auch hier wieder war Bedingung des Erfolgs die genaue
Kenntniß und die unbefangene Würdigung der geistigen Atmosphäre des Zeit¬
alters. Wie der Verfasser sich mit ungemeinem Fleiße durch encyklopädisches
Wissen ausgerüstet hat, um allen Spuren mittelbarer und unmittelbarer Ueber¬
lieferung nachzukommen, wie er in Bildung und Anschauung lebendigste
Fühlung mit seinem Helden gefunden, ist ganz persönliches Verdienst,— in der
Würdigung der geistigen Sitten des vorigen Jahrhunderts ist ihm dagegen die
zeitgenössische Geschichtswissenschaft offenbar am förderlichsten zu Hilfe gekommen;
und dennoch möchten wir das, was er nach dieser Seite hinzugethan hat. und
besonders die Art, wie er es verwerthet, unter allen Vorzügen seiner Arbeit
fast am höchsten schätzen.
Denn wird schon durch die Organe, die man anwendet, um Fremdes sich
anzueignen, die Nichtigkeit des Verständnisses wesentlich bedingt, so hängt die
Wahrheit und Wirkung desselben in noch höherem Grade von dem Geschmack
der Darstellung ab. Und hierin hat Justi eine Methode verfolgt, die bei uns
ziemlich neu ist. Sie wird gar Vielen gewagt erscheinen und vermuthlich von
mancher sehr achtbaren Seite gelinde Verketzerung erfahren, aber sie ist ebenso
berechtigt wie eigenthümlich und verdient warmen Beifall. Wir haben bei der
Lektüre des Buches oft an Lewes' Leben Goethes und an französische Arbeiten
verwandter Art denken müssen. Was diese Darstellungen, die wir keineswegs
c;n bloc bewundern, Kunstvolles und Anziehendes haben, begegnet uns hier
in reineren und abgeklärten Zügen: warme gebildete Beredsamkeit, welche uns
beim Lesen immer in der angenehmen und anregenden Illusion des Gespräches
erhält, in dessen Verlauf nicht selten der Faden gelockert wird, das aber in
allen, auch den accidentiellstcn Wendungen, stets wohlverechnetes, zuweilen
auch überraschend effektvolles Licht über den Gegenstand verbreitet. Dadurch
wird das Buch in einem Grade lesbar, wie wenige Biographien neuester
Zeit.
Und man würde sehr irren, wenn' man vermuthete, durch die geistvolle
discusflve Form dieser kunstreich ineinander gearbeiteten Essays, aus welchen
das Buch besteht, suche der Verfasser das Interesse für einen an sich spröden
und unerquicklichen Stoff gleichsam zu erschleichen. Von Kunst kann überhaupt
immer nur da die Rede sein, wo Darstellung und Inhalt sich entsprechen. Alles
Geschichtliche gibt Antwort, man muß es nur richtig anreden; und darin gerade
liegt der Hauptwerth dieser schönen und nachahmungswürdigen Arbeit,
daß sie uns überzeugt, auf diese Weise sei am erfolgreichsten zu ergründen und
darzustellen, was der überdauernde Gehalt von Winckelmanns Jugendentwick¬
lung und dem Geistesleben der Zeitgenossenschaft ist, mit der er lebte.
Es ist nicht lange her, daß man über jene Epochen des Jahrhunderts der
Aufklärung billig und objektiv urtheilen gelernt hat. Geradezu eines bewußten
sittlichen Entschlusses bedürfte die moderne Kunst- und Literaturgeschichte, um
sich mit dem Gegenstande ernstlich abzugeben. Oder ist uns das Geständnis?
erspart, daß die Geschichtsdarstellung vielfach von der Leidenschaftlichkeit der Oppo¬
sition angesteckt war. welche die Männer auszeichnete und ehrte, die im Frischer
daran arbeiteten, neuen Gesinnungen Bahn zu machen? In den bildenden
Künsten wird die gereizte Stimmung praktisch andauern, da hier die Höhe des
Könnens noch lange nicht wiedererreicht ist, die das Urtheil über Leistungen
jenes Zeitalters von dem Groll der Eifersucht befreit, aber die Wissenschaft
braucht keines Vorbehalis, sie darf und muß sich zu dem Muthe ihrer Einsicht
erheben.
Aber damit ist es nicht gethan. Zu den tiefsten Einblicken in das Wesen
historischer Erscheinungen befähigt nur die Neigung, der es eine Lust ist. sich
hineinzuversetzen in das Seelenleben vergangener Menschen, in ihre Thorheit
und Weisheit, ihr Irren und Schaffen, ihr Lieben und Hassen. Darin liegt
das Charakteristische der Biographie, darin auch die Stärke unseres Buches.
Es ist nicht Lob schlechthin, was es ausspricht, manches strenge Urtheil begegnet
uns, — über den Confcssionswechsel z. B. denken wir milder als der Verfasser
— aber Wärme des Herzens ist es, was allenthalben hin Licht und Farbe
spendet. Und sie erstreckt sich auch auf den wechselnden Kreis von Menschen
und Dingen, die den geliebten Mann umgaben und auf ihn einwirkten.
Durch die Armuth der Kindheit, die Täuschungen der Studienjahre, die Qual
des Schulmeisterthums, die Gelehrtenarbeiten von Nöthmtz führt Justi seinen
Helden mit der heilenden Hand mit- und ancmpsindender Freundschaft in das
fabelhafte Dresden der Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, um hier die
Entfaltung eines Geistes zu belauschen, der nur wahrhaft sympathischer Be¬
rührung bedürfte, um gradauf den Flug zur Sonne zu nehmen.
Die Schilderung dieser Jahre der Zubereitung zu dem Beruf, für den
man Winckelmann von erster Regung an bestimmt glauben müßte, wüßte man
nicht, wie er ihn scheinbar unversehens in der Reife des Alters erfaßt, ist
der Glanzpunkt der Biographie. Hier kommt auch die Art der Darstellung zu
ihrer größten Geltung. Das Plaidoyer für das „augusteische Sachsen", die
Feinheit der Empfindung, mit der alle Phänomene dieser geistreich-barocken
Zeit auf ihre guten Kräfte angeredet werden, ehren Geist und Herz zugleich;
sie lassen uns erkennen, wie auch auf dieser Welt etwas von der Weihe haften
mag, die ein großer Mensch der Stätte mittheilt, wo er geweilt hat. Wenn
sie sich für diese Liebe des Genius auch in ihrer Weise tückisch wettgemacht hat
durch die Nöthigung zur Conversion, die sie dem Gaste auferlegte, er hat
mia't abgelassen, er bewahrte die dankbare Erinnerung. Und die Folie des be¬
zaubernden Bildes, das er im Herzen behielt, war seine finstere märkische Heimath,
aus der nicht lange nach seinem Weggang der Krieg herschritt, um die glänzende
Sybaritengcsellschaft Dresdens auseinander zu scheuchen.
Jetzt an seinem 130. Geburtstag, für welchen Justis Buch ein würdiges
Weihgeschenk bildet, schmücken dankbare Verehrer seine Colossalbüste zu Rom
und sein Standbild zu Stendal, an beiden Orten aber geschieht es unter dem¬
selben Zeichen, unter Preußens Schutz, welcher auch die Mark deutscher Wissen¬
Wir können uns nicht versagen, hier einen Brief Winckelmanns anzufügen,
dessen Justi S. 128 erwähnt. Als ein schönes Denkmal seines Freundesherzens
ist er der Aufbewahrung werth.
Ich kan Nöthnitz oder vielmehr den zärtlichsten der Freunde, den ich ver¬
lassen, nicht vergessen. Die Sehnsucht zurück zu kehren, wurde bereits ehe ich
hier ankam, bey mir rege. Ich genieße alle das Gute, was mein Freund und
unser Landhaus mir zu verschaffen vermag. Allein ich bin von der übrigen ge¬
sunden Welt gleichsam abgeschnitten. Ich bin daher entschlossen, bevorstehenden
Frühling wiederum in meine Arbeit einzutreten, und habe es Sr. Lxeellenev
unserem gnädigen Herrn gemeldet.
Die Freundschaft hat ein großes Theil an diesem Entschluß, und die Sehn
sucht nach abwesende Freunde machet einen unendlichen stärkern Eindruck bey
mir als der Genuß des gegenwärtigen. Allein ich komme unter keiner andern
Bedingung zurück, als einen Freund zu finden, der mir allgenugsam ist, und
gegen den ich die übrigen bey mir verdunckeln kan. Mein Schatz! Sie sind
derselbe Freund. Ich schreibe sehr verwegen. Sie werden mir aber vergönnen,
mich und zugleich auch Sie zuzubereiten, ehe Sie einen neuen Freund um sich
wählen. Ich bin schon Moux auf meinen Berendis. Vielleicht aber steche ich
ihn aus.
Das Menschen Kind hat mir fast gar nichts von Nöthenizianis geschri»
den u.") Nur eine baldige Antwort, wornach mich sehr verlanget. Ich ersterbe
Schöneberg, den 3. Januar 1761.
Den Schluß des Briefes, dessen Mittheilung wir der Güte des Herrn W. Künzcl i»
Leipzig verdanken, bilden literarische u. a. Bestellungen Bülows und Grüße an Sichlers,
Schöttgen, Kreißig und andre Freunde. — Der Adressat bemerkt darunter:
„Vorstehender Brief ist von meinem Freunde, dem nachmahls berühmten ^ddo MneKel-
mimll, aus Schöneberg, einem in der alten Mark Brandenburg, ohnweit Scehausen gelegnen
Guthe, an mich geschrieben, wohin er sich von Nöllnitz aus, zu einem Freunde, dem Herrn
von Bülow, begeben, um, nach seinem damahl. Vorsatz, bey demselben, einige Zeitlang,
auch wohl Zeitlebens, zu bleiben. Nachdem ihm aber daselbst die unthätige Lebens-Art, und
die Entfernung von der schonen Bünauischen vidliotlroo, allwo er seine Lernbegierde so reicht,
sättigen konte, nicht gefallen mochte, faßte er den Entschluß wieder nach Nottnijz zu kom¬
men und in seine vorige l^unetion zu treten, welches er auch bald darauf bewerkstelligte."
Die ungünstige Beurtheilung, welche Mo si in seiner berühmten Geschichte
und Literatur der Staatswissenschaften über die erste 1845 erschienene Ausgabe
des vorliegenden Werkes ausgesprochen, möchten wir der zweiten gegenüber nicht
wiederholen. Der Geist des Liberalismus, welcher sich durch das Ganze hinzieht,
scheint uns nicht ein Fehler, sondern ein Vorzug des Buches. Freilich ist nicht zu
leugnen, daß der Verfasser durch diese Haltung hin und wieder in eine bei wissen¬
schaftlichen Arbeiten durchaus nicht zu billigende Sprechweise verfällt, auch in der
Unbefangenheit historischer Auffassung beeinträchtigt wird. Als lobenswertheste
Eigenschaft des Buches dürfte hervorzuheben sein, daß es eine mit Geschick geord¬
nete, in kurze Züge zusammengedrängte Uebersicht über die ganze Materie gewährt.
Während es aber an Vollständigkeit beispielsweise dem andern Erzeugnis der neuern
deutschen Literatur dieses Gebietes, dem vortrefflichen Werke Heffters, nicht an die
Seite gestellt werden, also auch sür tieferes Studium nicht genügen kann, ist es andrer¬
seits — da es juristische Bildung voraussetzt — zur Popularisierung völkerrechtlichen
Wissens schwerlich besonders geeignet. Auch hat die Knappheit der Darstellung
der Klarheit zuweilen Eintrag gethan, besonders in dem geschichtlichen Theile. —>
Uebrigens haben fast alle zwischen der ersten und zweiten Ausgabe eingetretenen, in
das Gebiet der Disciplin einschlagenden Ereignisse Berücksichtigung gesunden. Da
indeß das Buch bereits vor dem vorjährigen Kriege gedruckt wurde, so wäre das
Urtheil über die Sachlage der Dinge in Schleswig-Holstein, also über eine gänzlich
unfertige Entwicklung, besser unterblieben.
Ein Werk, das man mit Freuden begrüßen muß. Der Verfasser — um die
Culturgeschichte seines Heimatlandes bereits anderweit verdient — hat seine Auf¬
gabe vollständig gelöst. Die überwältigend reiche Fülle von Material hat er ganz
und gar durchdrungen und mit Klarheit zu einem System gesichtet. Doch nicht,
daß sich das Interesse im trockenen Sande mechanisch aneinandergereihter Einzel¬
heiten vertiefe; er läßt es nicht fehlen an höheren Gesichtspunkten: seine Darstel¬
lungsweise ist anziehend und lebendig, von poetischer Literatur sogar weiß er ge¬
schmackvollen Gebrauch zu machen. Am umfassendsten ist der erste Abschnitt des
Wertes, „Land und Leute" betitelt. Er bildet die breite Unterlage des Ganzen,
enthält aber in seinem Reichthum auch manches, was nicht unbedingt zur Sache
gehört. Die bei jeder einzelnen Station angegebene Statistik der Güterbewegung,
des Personen- und Postverkehrs hätte unsers Erachtens besser in den besondern
Abschnitt über das Transportwesen gepaßt. — Weit knapper ist der das Geschicht¬
liche behandelnde Theil ausgefallen. So gediegen und interessant indeß derselbe
gegeben ist, wir glauben doch, er hätte ganz wegbleiben können. Des Allgemeinen
war in diesen engen Grenzen zu wenig zu berichten, die Entwicklung eines einzelnen
Jndustriezweiges aber würde jedenfalls besser im Zusammenhang mit der Beschrei¬
bung von dessen gegenwärtiger Lage erzählt. So stellt es sich denn auch bei den
folgenden Abschnitten heraus, daß häufig in die Rechte des historischen Theils ein¬
gegriffen werden muß. — Die Verlagshandlung bietet im Vorliegenden nur den
ersten Band eines die gesammte Großindustrie umfassenden Werkes. Man kann
diesem Unternehmen von Herzen Glück wünschen. Richtig durchgeführt, wird es
nicht allein sür die Industrie, sür die Gesetzgebung und Verwaltung, sondern auch
sür die Wissenschaft vom höchsten Nutzen sein. Es wird helfen, unsre Zeit begrei¬
fen zu lehren; für den Kampf gegen die Gefahren der heutigen Gesellschaft gibt
es keine geringe Waffe ab.
Eine sehr merkwürdige, in ihrer Art einzige Erscheinung der römischen
Literatur ist der Roman des Apulejus „Die Verwandlungen oder
Der Esel", wie die Verehrer ihn nannten — das Buch hatte eine Zeitlang
einen großen Leserkreis — Der goldene Esel. Denn von dem Roman
des dem Apulejus an Geist. Geschmack und Darstellungsgabe unendlich über¬
legenen Petronius haben wir nur noch so zerrissene Bruchstücke, daß sich von
der ursprünglichen Komposition keine Vorstellung mehr fassen läßt. Der Roman
des Apulejus aber ist vollständig und nicht nach der Schablone der erhaltenen
griechischen Romane geschrieben, wiewohl ihm ein griechisches Original zu
Grunde liegt. Der Verfasser ist keine uninteressante Persönlichkeit und ein cha¬
rakteristischer Repräsentant seiner Zeit.
Apulejus, ein Zeitgenosse der Antonine, gebürtig aus der römischen
Colonie Madaura in Afrika, war der Sohn eines wohlhabenden und an¬
gesehenen Mannes, der ihm eine sorgfältige Erziehung zu Theil werden ließ.
Nachdem er in Karthago seine Schulstudien gemacht hatte, ging er zu seiner
weiteren Ausbildung nach Athen, wie er selbst in seiner gezierten Weise sagt:
„Der erste Krug des Schulmeisters benimmt die Rauhheit, der zweite des Gram¬
matikers verleiht Bildung, der dritte des Rhetors rüstet mit Beredsamkeit.
Soweit trinken die meisten, ich aber leerte in Athen noch andere Kruge; den
täuschenden der Dichtkunst, den klaren der Mathematik, den süßen der Musik,
den herben der Dialektik und endlich den unerschöpflichen Nectartrank der Phi¬
losophie." Auf seinen Reisen kam er auch nach Rom, wo er sich eine Zeit¬
lang aufhielt, um sich den mündlichen und schriftlichen Gebrauch der lateini¬
schen Sprache so anzueignen, wie er des griechischen Herr war. So ausgerüstet
kehrte er in sein Vaterland zurück, um als Redner und Schriftsteller aufzutreten.
Auf einer Reise blieb er krank in Oea liegen und lernte dort eine reiche und
gebildete Witwe Pudentilla kennen, welche er heirathete. Ihre Verwandten,
welche damit unzufrieden waren, erhoben gegen ihn die Beschuldigung, er habe
sie durch Zauberkünste berückt. Es wurde ihm leicht, in seiner noch erhaltenen
Vertheidigungsrede die Unwissenheit und Dummheit seiner Ankläger wie seine
überlegene geistige Bildung ins beste Licht zu sehen; er wurde freigesprochen,
aber der Ruf eines Zauberers blieb an seinem Namen haften, hauptsächlich
wohl, weil man ihn später mit dem Helden seines Romans identificirte. —> Zur
Zeit des Apulejus war das Interesse des Publikums an wohl stilisirten, kunst-
gemäß gehaltenen öffentlichen Vorträgen auf einen hohen Grad gestiegen, die
Sophisten, wie man diese Vortragskünstler nannte, wanderten von Ort zu
Ort und waren sicher, Beifall, Ehre und Belohnung zu finden. Auch Apulejus
übte diese Kunst, die ihm in mehr als einer Stadt die Ehre einer Statue
verschaffte; noch sind Aufsähe vorhanden, durch welche die improvisirten oder
vorbereiteten Vorträge eingeleitet wurden, wahre Cabinetsstücke raffinirter
rhetorischer Ausarbeitung. Diese Nedefertigkeit feste allerdings eine vielseitige
Bildung voraus, deren Hilfsmittel dem Redner stets zur Hand sein mußten,
bei Apulejus geht diese Vielseitigkeit der Studien, wenn sie gleich dem Prunk
und der Eitelkeit dient, doch unleugbar auch aus einem tieferen Bedürfniß
hervor. Mit der unruhigen Hast, welche diese übersättigte, in der Zersetzung
begriffene Zeit überhaupt charakterisirt, suchte er für ein vages geistiges Streben
Befriedigung in den verschiedensten, ja entgegengesetzten Studien, die er, um
auch äußerlich Genugthuung zu erhalten, als Schriftsteller ausbeutete. Vor allem
wollte er Philosoph sein, und die platonische Philosophie in der mysti-
sirenden Auffassung, wie sie sich mehr und mehr geltend machte, sprach ihn
am meisten an, aber damit vertrugen sich peripatetische, stoische, cynische
Ansichten und Lehren, die er allein verschiedenen Schriften bearbeitete. Einem
eigenthümlichen Zuge jener Zeit folgend, welche sich der Betrachtung der Natur
mit einem gewissen ascetischen Sinne zuwandte, um dadurch vor der raffinirten
Ueberfeinerung zu reinerer Auffassung und einfachen Sitten zu gelangen, be¬
arbeitete Apulejus nicht allein die naturwissenschaftlichen Schriften des Ari¬
stoteles und Theophrast, wobei ersich rühmte, der lateinischen Sprache die
Terminologie dieser Wissenschaften gegeben zu haben, sondern stellte auch eigene
Untersuchungen an. Er trieb Anatomie und Zoologie, Versteinerungen führten
ihn aus geologische Hypothesen, in medicinischen Schriften gab er seinen For¬
schungen practische Anwendung. Nicht zufrieden mit dieser wissenschaftlichen
Aufklärung suchte er höhere Einsicht auch in den Geheimlehren der Religion
zu gewinnen, in alle Mysterien und Orden fremder Culte ließ er sich ein¬
weihen; auch bei ihm gingen Naturphilosophie und Schwärmerei Hand in
Hand. Diesen nach allen Richtungen gehenden Studien entsprach eine nicht
minder ausgedehnte Schriftstellerei über Grammatik. Philosophie, Mathematik,
Musik, Naturwissenschaften, Medicin, Agricultur, wobei er freilich fast immer
nur als Uebersetzer und Bccubäter erscheint. Dazu kamen außer jenen sophisti¬
schen Vortragen und Reden verschiedene Zweige der Unterhaltungsliteratur.
Er cultivirte, wie er selbst sagt, alle neun Musen, und schrieb mit einem
Schreiberohr in beiden Sprachen Gedichte für den Rhapsoden und Kiiharoden,
für den Soccus und Kolsun, Räthsel und Satyren, frivole Liebesgedichte
und fromme Hymnen. Geschichten, Reden und philosophische Dialoge, mit
gleichem Eifer, gleichem Fleiß, in gleichem Stil. In diese Reihe gehören seine
Romane, von denen nur die Metamorphosen erhalten sind, auch diese eine
Bearbeitung nach dem Griechischen.
Die Haupterzählung, welche aber wesentlich als Nahmen für eine Reihe
selbständiger Geschichten dient, ist einfach. Ein junger Mann Lucius, der an
allem Zauberwesen lebhaftes Interesse nimmt, kommt nach Thessalien und hofft
dort, in der Heimat der griechischen Hexen, Wunderdinge zu erfahren. In der
That hört und sieht er ernste und lustige Spuckgeschichten, und wird durch die
Gunst des Kammermädchens -Augenzeuge, wie seine Hauswirthin sich in einen
Vogel verwandelt. Als er dasselbe Experiment machen will, erhält er durch
einen Mißgriff des Mädchens die Gestalt eines Esels; Räuber entführen ihn,
er kommt aus einer Hand in die andere und erlebt mancherlei verschiedene
Abenteuer, bis er unter dem Schutz der Göttin Isis entzaubert wird und sich
in die Mysterien der Isis und des Osiris aufnehmen läßt. Außer diesen Er¬
lebnissen des verwandelten Lucius werden aber noch andere merkwürdige Be¬
gebenheiten mitgetheilt, von denen er Augen- oder Ohrenzeuge ist, oder die
auch in Erzählungen eingeschachtelte Erzählungen sind. Es ist begreiflich, daß
diese dem Interesse des Inhalts wie der Darstellung nach die Hauptgeschich¬
ten sind.
Unter den Schriften Lucians ist eine Erzählung welche die Geschichte
des verwandelten Lucius und seiner Begebenheiten, dem Inhalt und der An¬
ordnung nach übereinstimmend mit Apulejus, kurz und lustig erzählt, nur daß
sie statt der salbungsvollen Mysterieneniwickelung einen witzigen zum Ton des
Ganzen passenden Schluß hat. Es liegt nahe, hierin das von Apulejus be¬
arbeitete und durch die eingelegten Novellen erweiterte Original zu erkennen.
Wir erfahren aber, daß es auch eine griechische, viel weitläufigere Bearbeitung
von einem unbekannten Verfasser gegeben hat; leider wird nicht berichtet, ob sie
auch eingeschaltete Erzählungen enthalten habe, sodaß Apulejus die seinigen daher
entlehnen konnte. Denn daß er sie selbst erfunden habe, ist nach allem, was
Wir wissen, durchaus nicht wahrscheinlich. Was ihm angehört, ist die Dar¬
stellung, und diese ist eigenthümlich genug. Jene Zeit erstrebte eine Pikante
und anziehende sprachliche Darstellung namentlich dadurch, daß man anstatt
von Cicero und Horaz als Mustern auszugehen, auf die ältere Zeit, auf
Plautus und Cato zurückgriff. Von ihnen entlehnte man Worte und Wendun-
gen und suchte in diesem Sinn die Sprache weiter zu bilden. Konnte ein
solcher künstlicher Proceß schon zu keinem einheitlichen organischen sprachlichen
Ausdruck führen, so kamen nun noch die ganz entgegengesetzten Künste¬
leien einer raffinirten Rhetorik hinzu, um das Veraltete aufzuputzen, und
brachten eine gespreizte Affectation, einen spielenden Klingklang hervor, der,
überhaupt unleidlich, am schlimmsten die Wirkung der Erzählung beeinträchtigt.
Diesen Ton in der Uebersetzung wiederzugeben würde auch Regis kaum ge¬
lingen; sollte es aber gelingen, würde es nicht zu ertragen sein.
Uebrigens bieten diese Novellen, von sehr verschiedenem Inhalt und Cha¬
rakter, kein geringes Interesse. Sie umfassen wohl so ziemlich den Kreis der
wesentlichen Motive, welche die antike Erzählung verarbeitete, die Varietäten
der Behandlung durch verschiedene Charakteristik und Färbung sind nicht minder
lehrreich. Einige Beispiele der Haupttypen werden das anschaulich machen. Nach
der ganzen Anlage des Romans, welche natürlich mit der geistigen Strömung
im engsten Zusammenhang steht, nimmt das Zauber- und Gespensterwcsen
einen sehr breiten Raum ein und tritt nicht blos in der Exposition in den
Vordergrund. Deshalb stehe auch hier am ersten Platze
Dein Versprechen nehme ich mit bestem Dank an und will meine Geschichte
noch einmal anfangen! vorher aber schwöre ich bei der Sonne, die Alles sieht,
daß ich wahrhaftig Erlebtes erzähle, auch werdet ihr das nicht bezweifeln, wenn
ihr in die nächste Stadt Thessaliens kommt, wo das in aller Leute Mund ist,
was vor aller Leute Augen geschah. Damit ihr aber wißt, woher ich bin
und was ich treibe, so will ich nur sagen: ich bin aus Aegina und gehe
mit Honig, Käse und ähnlichen Hökerwaaren in Thessalien, Aetolien und Böo-
tien Hausirer. Als ich hörte, daß in Hypata, der Hauptstadt der Thessa-
lier, frischer Käse von gutem Geschmack um einen sehr billigen Preis verkauft
werde, machte ich mich eilends dahin auf, um den ganzen Vorrath an mich zu
bringen. Aber ich war, wie es einem geht, mit dem linken Fuß angetreten*),
und mit dem gehofften Gewinn war es nichts, denn der Großhändler Lupus
hatte den Tag vorher Alles ausgekauft. Ermüdet von der nun ganz vergeb¬
lichen eiligen Reise begab ich mich mit Anbruch des Abends ins Bad; da sehe ich
mit einemmale meinen alten Freund Sokrates auf der Erde sitzen mit einem
schlechten zerrissenen Mantel halb bekleidet, kaum zu kennen, so entstellt durch
Blässe und Magerkeit, wie ein ganz im Elend Verkommener, der auf der Gasse
um Almosen bettelt. Wie ich meinen Vetter und genauen Bekannten in dem
Zustand erblicke, gehe ich zweifelmüthig an ihn heran und sage: „Aber, bester
Sokrates. was ist denn das? wie siehst du aus? das ist ja eine Schande! Zu
Hause bist du beweint und für verschollen erklärt, deinen Kindern hat das Ge¬
richt einen Vormund bestellt, deine Frau, die in tiefer Trauer, von Kummer
und Gram entstellt, sich die Augen fast aus dem Kopfe geweint hat, wird von
ihren Eltern gedrängt, durch eine neue Heirat wieder Trost und Freude in ihr
unglückliches Haus zu bringen, und nun erscheinst du mir hier wie ein Gespenst
zu unserer größten Schande." „Ach Aristomenes", erwiderte er, „du kennst das
Schwanken, die Angriffe und Wechselfälle meines unheilvollen Geschickes nicht!"
Und damit zog er seinen geflickten Mantel über das von Scham geröthete Gesicht,
daß er sich den halben Leib entblößte. Dies jammervolle Schauspiel konnte ich
nicht ertragen, sondern reichte ihm die Hand und suchte ihn aufzurichten, er
aber rief, wie er war, verhüllten Hauptes: „Laß nur, laß nur das Schicksal seinen
Triumph über mich feiern!" Ich erreichte aber doch, daß er mit mir ging,
zog einen von meinen beiden Röcken aus und bekleidete oder bedeckte ihn we¬
nigstens rasch damit und brachte ihn ins Bad, half ihm beim Salben und
Abtrocknen und rieb ihm den entsetzlichen Schmutz ab; dann brachte ich ihn,
der sich mühsam fortschleppte, selbst ermattet ins Wirthshaus. Dort lege ich
ihn ins Bett, faltige ihn mit Speise, erquicke ihn mit Wein und zerstreue ihn
durch Erzählungen. Schon kommt das Behagen an Gespräch und Scherz, an
Witz und Neckerei, da steigt ihm aus tiefster Brust ein herzbrechender Seufzer
auf, mit wüthender Hand schlägt er sich vor die Stirn und ruft: „Ich Elen-
der, daß ich dem Vergnügen eines kümmerlichen Gladialorenspiels nachlaufen
mußte, um in solchen Jammer zu gerathen. Du weißt ja recht gut, daß ich
des Verdienstes halber von Macedonien wegreiste, und als ich nach zehn
Monaten durch meine Thätigkeit mit einem tüchtigen Geldgewinn heimreiste,
wurde ich kurz vor Larissa, wo ich bei der Durchreise das Schauspiel be¬
suchen wollte, in einem abgelegenen Thal von einer starken Räuberbande ange¬
fallen und vollständig ausgeplündert. Ich selbst entkam endlich und kehrte übel
zugerichtet bei einer Kneipwirthin Meroe ein, die zwar alt aber noch ganz
stattlich war, erzählte ihr die Umstände meiner langen Reise und eiligen Heim¬
kehr, meiner heutigen Beraubung und kläglichen Mißhandlung, worauf sie mich
freundlich ausnahm und mich umsonst als Tischgast und nachher als Bettgenossen
bei sich behielt. Die eine Nacht erfüllte mich mit solcher Naserei, daß ich meine
Kleider, die die Räuber aus Gutmüthigkeit mir gelassen hatten, an sie wandte,
dazu alles Geld, was ich, solange ich noch Kräfte hatte, als Sackträger mir
verdiente, bis mich die gute Frau und mein böses Geschick zu der Jammer¬
gestalt machten, die du fandest." „Du Verdienst aber auch," sagte ich, „das
Aeußerste zu leiden, wenn du die Unzucht mit einem solchen Weibsbild deinem
Haus und deiner Familie vorziehen kannst." Er aber legte vor Schrecken wie
erstarrt den Zeigefinger aus den Mund, sah sich ängstlich um und flüsterte:
„Schweig still und sage nichts gegen die Zauberin, daß deine unbedachtsame
Zunge dich nicht schädige." „Was?" sagte ich, „was ist denn diese Kneipen-
königin für eine Person?" „Eine Hexe" sagte er „eine Zauberin, die den
Himmel herabzuziehen, die Erde in die Höhe zu heben, Quellen stocken, Berge
zerrinnen zu machen, Todte aus die Oberwelt zu rufen, Götter in die Unter¬
welt zu bannen, Gestirne auszulöschen, den Tartarus zu erhellen im Stande
ist." „Ich bitte dich," sagte ich, „steige vom Kothurn herab, leg die Maste ab
und rede menschlich." „Willst du," entgegnete er, „eine oder zwei oder noch mehr
Thatsachen hören? Daß nicht blos Landsleute, sondern jeder, Aethiopen, ja
sogar Antipoden rasend in sie verliebt sein müssen, das ist nur Kinderspiel für
ihre Kunst. Höre nur, was sie hier vor aller Augen verübt hat. Einen
Liebhaber, der sich mit einer andern vergangen hatte, verwandelte sie in einen
Biber, damit er sich selbst die empfindlichste Strafe zufügen sollte. Einen
Kneipwirth in der Nachbarschaft, der ihr Concurrenz machte, machte sie zu
einem Frosch, und jetzt sitzt der arme Alte auf dem Boden seines Weinfasses
und bewillkommnet seine alten Gäste mit heiserem Quaken. Einen Advokaten,
der gegen sie verhandelt hatte, verwandelte sie in einen Widder und noch immer
hält der Schafskopf Reden vor Gericht. Der Frau eines Liebhabers, die
ihrem Witz gegen sie freien Lauf gelassen hatte, verschloß sie den Schooß und
verdammte sie zu ewiger Schwangerschaft; alle können wahrnehmen, daß die
Unglückliche seit acht Jahren mit einem Leib umhergeht, als sollte sie einen
Elephanten gebären. Da sie nun soviel Unheil anrichtete, wuchs der Unwille
im Publikum und man beschloß, sie am folgenden Tag durch Steinigung zu
bestrafen; aber den Plan wußte sie durch ihre Zaubersprüche zu vereiteln. Wie
einst Medea durch den Aufschub eines Tages, den sie von Kreon erlangte,
sein Haus, seine Tochter, den Altar selbst mit ihrem Hochzeitsgeschenk in Flam¬
men setzte, so verschloß sie durch Beschwörungen, welche sie Leichen mit in die
Gruft gab'") — so erzählte sie mir selbst in der Trunkenheit — alle in ihren
Häusern mit so dämonischer Kraft, daß zwei Tage lang kein Schloß geöffnet,
keine Thür erbrochen, keine Wand eingerissen werden konnte, bis alle unter
lautem gegenseitigem Zurufen mit heiligen Eiden ihr zuschwören, nicht Hand
an sie zu legen und sie gegen jeden Angriff eines andern zu schützen. Da ließ
sie sich erweichen und gab die Stadt frei. Aber den Urheber des Anschlags
versetzte sie in tiefer Nacht mit seinem ganzen Hause, mit Mauern, Fundamen¬
ten, mit dem Grund und Boden, verschlossen wie es war, hundert Meilen weit
in eine andere Stadt, die auf einem hohen, felsigen, wasserarmen Berg lag.
Und weil sie so dicht bebaut war, daß kein Platz für den neuen Gast war.
warf sie das Haus vors Thor hin und ließ es da liegen." „Das sind ja
wunderbare Greuelthaten, die du da erzählst, Sokrates." sagte ich. „Aber nach¬
gerade erschreckst du mich auch und setzest mir zwar keinen Floh ins Ohr. aber
einen Wurm ins Herz, daß die Alte nicht durch einen ihrer dienenden Geister
auch unser Gespräch erfährt. Darum laß uns früh zu Bette gehen und wenn
wir uns durch Schlaf gestärkt haben, morgen vor Tages Anbruch fliehen so
weit wir können."
Als ich noch sprach, schnarchte mein guter Sokrates, von dem ungewohn¬
ten-Weingenuß nach der langen Mattigkeit ermüdet in tiefem Schlaf. Ich zog
die Thür fest an, legte den Riegel vor, schob mein Bett vor die Thür und legte
mich darauf. Anfangs konnte ich vor Furcht nicht schlafen, bis ich gegen Mit¬
ternacht doch einnickte. Kaum schlief ich, als plötzlich die Thürflügel mit Gewalt
Viel stärker als von einbrechenden Räubern, aufgerissen, mit den Pfosten ausge¬
hoben und hingeworfen wurden; mein kurzes morsches Bett mit einem wackeligen
Fuß wird umgestürzt, fällt über mich und bedeckt mich, wie ich aus der Erde liege.
Und da erfuhr ich, wie unwillkürlich sich in einem ganz widersprechende Em¬
pfindungen regen. Denn wie die Freude oft Thränen erpreßt, so konnte ich
bei der großen Angst das Lachen nicht unterdrücken, als ich mich so in eine
Schildkröte verwandelt sah. Als ich nun so am Boden liegend unter meinem
Bett hervor aufmerksam Acht gebe, was geschieht, sehe ich zwei Frauen in
vorgerücktem Alter, von denen die eine eine brennende Lampe, die andere einen
Schwamm und ein bloßes Schwert trug. So stellten sie sich neben den ruhig
schlafenden Sokrates und die mit dem Schwert hub an: „Da ist ja, Schwester
Panthia, mein süßer Endymion, mein Liebling, der Tag und Nacht meine
Jugendblüthe genoß und nun meiner Liebe überdrüssig mich verläumdet und
auf Flucht sinnt, und ich soll wie die vom schlauen Odysseus verlassene Kalyp-
so meine Einsamkeit beweinen." Dann streckte sie die Rechte aus, zeigte mich
der Panthia und sagte: „Und hier der gute Rathgeber Aristomenes, der ihm
zur Flucht verhelfen will und nun in Todesangst unter seinem Bett auf der
Erde liegt und das alles ansieht, denkt, er werde nach solcher Kränkung unge¬
straft davon kommen. Aber nachher oder bald, oder gleich soll er seinen Vor¬
witz von gestern und seine Neugier von heute bereuen." Als ich das hörte,
wurde ich mit kaltem Schweiße Übergossen,' ein Fieberfrost schüttelte meine Ein¬
geweide, daß von der Bewegung auch das Bett über mir erschüttert wurde.
»Wollen wir ihn denn zuerst," sagte die gute Panthia, „wie Bacchanten zer¬
reißen oder ihn in Stücke zerschneiden?" „Nein," sagte Meroe — denn daß
ste es war, konnte ich aus der Erzählung des Sokrates abnehmen — „er soll
überleben, um den Leichnam dieses Elenden zu bestatten." Damit wandte
sie den Kops des Sokrates auf die andere Seite, stieß ihm das Schwert bis
ans Heft in die linke Seite hinein und fing mit einem kleinen Schlauch das
hervorströmende Blut sorgfältig auf, daß auch kein Tropfen vergossen wurde.
Und das habe ich mit meinen Augen angesehen. Dann, damit sie ihr Schlacht-
opfer ganz nach dem Ritus behandelte,") steckte sie ihre Rechte durch die Wunde
tief ins Eingeweide und holte nach langem Suchen das Herz meines armen
Kameraden heraus, der, da ihm die Lunge zerschnitten war, die Luft pfeifend
durch die Wunde entströmen ließ. Panthia verstopfte darauf die klaffende
Wunde mit dem Schwamm, und sagte dazu: „Schwamm, Schwamm, Meeres¬
kind, hüte dich übern Fluß zu gehen!" Hieraus räumten sie mein Bett weg,
setzten sich rittlings auf mich und verunreinigten mich auf ekelhafte Weise.-
Kaum waren sie über die Schwelle, da erhoben sich die Thüren unversehrt,
die Pfosten richten sich auf, die Angeln springen ein, die Riegel schließen.
Ich aber, wie ich da auf der Erde lag, regungslos, matt, kalt, schmutzig, als
käme ich eben aus dem Mutterleib, halbtodt oder eigentlich als hätte ich mich
selbst überlebt, ein vollständiger Galgencandidat, dachte: „Was soll aus mir
werden, wenn man in der Frühe den Ermordeten findet? Wer wird mir
glauben, wenn ich die Wahrheit berichte? Du hättest doch um Hilfe rufen können,
wenn du nicht Manns genug warst, den Weibern Widerstand zu leisten! Unter
deinen Augen wird ein Mensch getödtet und du schweigst? warum haben dich
denn die Mörder nicht umgebracht? wie konnte man bei solcher Grausamkeit
den künftigen Angeber verschonen? Weil du damals dem Tode entgangen bist,
wirst du ihn jetzt erleiden." Unter solchen Betrachtungen verging die Nacht,
und da schien es am gerathensten, in der Dämmerung heimlich zu entweichen
und mich mit meiner Angst auf den Weg zu machen. Ich nehme mein Gepäck
auf und schiebe mit dem Schlüssel den Riegel zurück; aber die zuverlässige Thür,
die in der Nacht von selbst ausgegangen war, war jetzt nur mit Mühe und
wiederholten Anstrengungen zu öffnen. „Heda, wo bist du?" rief ich „mach
das Thor auf, ich will vor Tagesanbruch fortgehen." Der Thürhüter, der am
Eingang auf der Erde schlief, antwortete halb im Schlaf: „Was? weißt du
nicht, daß die Landstraße von Räubern unsicher ist, daß du so früh fortwillst?
Wenn du auch vielleicht ein Verbrechen aus der Seele hast und sterben willst,
so sind unsere Köpfe doch keine Kürbisse, die wir deinetwegen hingeben möchten."
„Es ist gleich Tag," sagte ich „und was können Räuber einem armen Rei¬
senden abnehmen? Weißt du nicht, du Narr, daß einen Nackten zehn Bade-
knechte nicht entkleiden können?" Der drehte sich schlaftrunken auf die andere
Seite und sagte: „Wer sagt mir denn, ob du nicht deinen Reisegefährten, mit
dem du gestern Abend spät gekommen bist, umgebracht hast, und dein Heil in
der Flucht suchst?'- In dem Augenblick dachte ich, daß die Erde sich öffnete
und ich dem hungrigen Cerberus gradezu in den Rachen sah. Und nun sah
ich wohl, daß die gute Meroe nicht aus Mitleid mich verschont hatte, sondern
um mich an den Galgen zu bringen. Ich ging also in das Schlafzimmer
zurück und überlegte, wie ich mir rasch den Tod geben könnte. Da mir mein
Mißgeschick das Bett als einzige Waffe darbot, sagte ich: „Nun mein theures
Bett, das so viel mit mir durchgemacht hat, einziger Zeuge von alle dem, was
diese Nacht hier vorgegangen ist, stehe mir jetzt aus dem Wege zur Unterwelt
hilfreich bei." Damit löse ich einen der Stricke los, womit es gegürtet war,
knüpfe das eine Ende an einem hervorragenden Balkenkopf fest, mache am an¬
dern Ende einen tüchtigen Knoten, steige aufs Bett und stecke den Kopf in die
Schlinge. Dann stoße ich mit dem Fuße die Stütze fort, die mich noch hielt,
damit von dem Gewicht des Körpers der Strick mir den Hals zuschnüren sollte
— da reißt plötzlich der alte faule Strick, ich stürze herab über den Sokrates
her und falle mit ihm zu Boden. In demselben Augenblick kommt der Thür¬
hüter herein und ruft überlaut: „Wo bleibst du denn, der du Nachts so über¬
mäßige Eile hattest und nun noch unter der Decke schnarchst?" Darüberwacht
Sokrates auf, ich weiß nicht, ob von dem Fall oder von dem Geschrei, erhebt
sich und sagt: „Na, die Gäste haben recht, wenn sie die Kellner verwünschen.
Kommt der Flegel hier hereingestürzt, wahrscheinlich um etwas zu stehlen, und
weckt mich mit seinem Gebrüll ' aus tiefem Schlafe." Voller Freude
über diese unerwartete Erscheinung springe ich fröhlich und munter auf und
rufe: „Siehst du, redlicher Thürhüter, da ist mein Vater, mein Bruder**), den
ich diese Nacht umgebracht haben sollte". Und damit falle ich dem Sokrates um
den Hals ihn zu küssen, der aber wehrte mich entsetzt über meinen abscheulichen
Geruch ab und fragte neugierig nach dem Grunde. Ich schnitt mit einem
schlechten Witz, den ich aus dem Stegreif machte, das Gespräch ab, faßte ihn
bei der Hand und forderte ihn. auf, die frische Morgenkühle zur Reise wahrzu-
nehmen. So ergriff ich mein Gepäck und nachdem ich den Wirth bezahlt hatte,
machten wir uns aus den Weg. Als wir eine Strecke gegangen waren und
Heller Sonnenschein alles beleuchtete, besah ich mir aufmerksam an meinem
Reisegefährten die Stelle, wo ich das Schwert hatte hineinstoßen sehen und sagte
bei mir selbst: „Unsinniger Mensch, von Wein und Schlaf betäubt hast du
dummes Zeug geträumt. Da ist ja Sokrates heil, gesund, unverletzt! wo ist
denn die Wunde? wo der Schwamm? wo die frische, breite Narbe?" Zu ihm
aber sagte ich: „Die Aerzte haben wohl Recht, daß Leute, die sich mit Speise
und Wein übernommen haben, schwere und ängstliche Träume haben. Weil
ich gestern Abend den Wein nicht schonte, haben mich Nachts gräßliche Träume
gequält, und noch komme ich mir wie mit Menschenblut besudelt vor." „Du
bist freilich nicht mit Blut, sondern mit ganz anderer Flüssigkeit benetzt," sagte
er lachend, „übrigens war es mir im Traum, als würde ich ermordet, ich
fühlte Schmerz in der Seite, das Herz wurde mir aus dem Leibe gerissen, und
noch jetzt habe ich Athembeschwerden, die Kniee zittern mir und beim Gehe»
schwanke ich hin und her, ich möchte wohl durch ein Frühstück meinen Kräften
etwas aufhelfen." „Das Frühstück ist bereit!" erwiderte ich, nahm meinen
Reisesack von der Schulter und reichte ihm Käse und Brod hin. Nachdem wir
unter einer Platane Platz genommen, langte ich auch zu, und wie ich ihn so
gierig essen sah, fiel mir auf, daß er eingefallen und blaß wie ein Todter war.
Da stieg mir das Bild jener Nachtgespenster wieder auf und vor Entsetzen blieb
mir das kleine Stück Brot, das ich eben zu mir genommen hatte, im Schlunde
stecken, daß ich es nicht herauf noch hinunter bringen konnte. Auch die vielen
Vorübergehenden vermehrten meine Furcht; wer sollte denken, wenn von zwei
Reisegefährten der eine umgebracht wäre, der andere sei nicht der Thäter. Als
er eine gehörige Quantität Speise vertilgt hatte, fing ihn auf den guten Käse an
zu dürsten. Neben der Platane floß sachte und träge ein Fluß, dessen Wasser wie
in einem stillen See, hell wie Silber und Krystall war. „Da," sagte ich
„stille deinen Durst aus dem frischen Quell." Er stand aus, kauerte sich an
einer flachen Stelle des Uferrandes hin und bückte sich, gierig zu trinken. Kaum
hatte er mit den Lippen den Wasserspiegel berührt, da bricht die Wunde klaffend
wieder auf, der Schwamm fällt heraus, wenige Blutstropfen kommen nach.
Der entseelte Körper wäre kopfüber in den Fluß gestürzt, hätte ich ihn nicht
bei einem Beine gepackt und mit Mühe auf den nahen Uferrand gezogen, und
da verscharrte ich meinen armen Kameraden mit bitteren Thränen im Sande.
Dann floh ich voll Angst und Besorgniß für mich selbst durch unwegsame und
verlassene Einöden, als hätte ich einen Mord auf dem Gewissen, ließ Vaterland
und Haus und Heerd im Stich und ging in freiwilliger Verbannung nach
Aetolien,. wo ich mir ein neues Hauswesen gründete.
In verschiedenen Nuancirungen tritt dieser Glaube an Geister und Ge¬
spenster und alle Arten von Zaubereien noch in anderen Erzählungen hervor,
mitunter als erheiterndes Motiv, wie wenn der Zauberin statt der Haare eines
treulosen Liebhabers Bockshaare gebracht werden und ihr Zauberwort an den aus
dem Fell des Böckh gemachten Schläuchen wirksam wird. Auch das rationa¬
listische Element fehlt nicht ganz, meistens aber ist die Absicht, Grausen zu
erregen, mitunter durch solche Uebertreibung, daß die Wirkung eine andere
wird. So wird ein Gutsbesitzer durch böse Vorbedeutungen erschreckt, die sich
folgendermaßen häufen; eine Henne bringt statt eines Eies ein lebendiges
Huhn zur Welt, ein Blutstrahl dringt aus der Erde, Wiesel bringen eine todte
Schlange geschleppt, aus dem Munde eines Hundes springt ein Frosch heraus,
und den Hund beißt ein Widder todt. Gleich darauf meldet ein Bote, daß
die drei Söhne des Gutsbesitzers in einer Schlägerei umgekommen sind. Der
erste ist durch einen Steinwurf zu Boden gestreckt und von Hunden zerfleischt;
der zweite wird von einem Speer in die Brust getroffen, der Speer kommt am
Rücken heraus und dringt so tief in die Erde, daß der Unglückliche angespießt
in der Luft hängen bleibt; der dritte entreißt dem Gegner mit List das Schwert,
tödtet diesen und schneidet sich selbst den Hals ab. Diese Kraftstücke erinnern
an ein anderes Genre, wo ähnliche Dinge vorkommen; als Beispiel folge
Kaum im sicbenthvrigen Theben angelangt, kundschafteten wir nach
Näubermethode sorgfältig die Bcrmögcnsverhältnisse der Einwohner aus. Da
hörten wir von einem Wechsler, Chry heros, der viel Geld harte, aber aus
Furcht vor den Leistungen und Ausgaben öffentlicher Ehrenämter*) mit großer
Schlauheit seinen Reichthum verborgen hielt; ärmlich gekleidet, lebte er sparsam,
allein und einsam in einem kleinen aber festen Häuschen und hütete seine Geld¬
säcke. Auf diesen beschlossen wir den ersten Angriff zu machen, den einen Geg¬
ner dachten wir leicht zu besiegen und dann in aller Bequemlichkeit sein Geld
fortzuschaffen. Unvcrweilt begaben wir uns mit Einbruch der Nacht vor sein
Haus. Um nicht die Nachbarschaft durch Geräusch aufmerksam zu machen, sollte
die Thür weder ausgehoben noch eingeschlagen werden, sondern der Anführer
Lamachus im Vertrauen auf seine oft erprobte Geschicklichkeit brachte seine
Hand sachte allmählich durch das Loch, wodurch der Schlüssel gesteckt wird,
um den Ringel zurückzuschieben. Aber dieser niederträchtige Kerl, der Chryseros,
der wachte und alles hörte, war längst in lautloser Stille vorsichtig heran¬
geschlichen und heftete mit einem starken Nagel die Hand des Hauptmanns mit
"n paar tüchtigen Hammerschlägen an die Thür fest, stieg dann aufs Dach
seiner Hütte und rief mit lauter Stimme, jeden Nachbarn namentlich, um
Hilfe, sein Haus brenne, daß alles aus der Nachbarschaft voll Angst und
Schrecken herbeilief. In dieser Gefahr mußten wir uns entscheiden, ob wir
unseren Kameraden preisgeben oder selbst tödten wollten, da siel uns ein Aus¬
kunftsmittel ein, dem er seine Zustimmung gab. Mit einem raschen Schnitt
kennten wir seinen Arm von der Schulter und ließen den Unterarm im Stich;
die Wunde verbanden wir mit Lappen und Lumpen, damit die Blutstropfen
nicht unsere Spur verrathen sollten und schleppten Lamachus mit uns fort.
Wir mußten uns aber trotz der drängenden Gefahr nach ihm aufhalten, und
da er nirgends sicher bleiben und auch nicht so rasch mit fortkommen konnte,
beschwor uns der großartige Mann mit wahrhaftem Heldenmuth bei dem Ver¬
brüderungseid, einen tapferen Kameraden von seiner Qual und der Aussicht
auf Gefangenschaft zu befreien; ohne die Hand, mit der er zu morden und zu
plündern gewohnt sei, könne ein braver Räuber nicht leben, er sei zufrieden,
wenn er freiwillig von der Hand eines Freundes falle. Da er zu dem grau¬
samen Freundschaftsdienst niemand bereden konnte, nahm er sein Schwert in
die Linke, küßte es und stieß es sich selbst in die Brust. Voll Verehrung für
unsern kühnen Anführer hüllten wir die Leiche in Leinentücher und versenkten
sie ins Meer — das ist nun die unermeßliche Gruft des großen Lamachus. der
ein seiner Thaten würdiges Ende fand.
Der unglückliche Ausgang dieses Unternehmens konnte den Alcimus nicht
von neuen Einbrüchen abhalten. Er war in das Haus einer reichen Alten ge¬
drungen und in ihr Schlafzimmer im oberen Stock gekommen. Anstatt nun
die Alte im Schlafe sofort zu ersticken, wie er gemußt hätte, fing er gleich an,
uns, die wir draußen warteten, alle Sachen durch das breite Fenster hinunter
zu werfen. Als er alles ausgeräumt hatte und sich noch an das Bett der
Alten machen wollte, der er die Decke wegzog um sie hinunterzuwerfen, fällt
die nichtswürdige Creatur ihm zu Füßen und ruft: „Warum willst du mein
bischen Lumpenkram meinem steinreichen Nachbar schenken, mein Sohn, auf
dessen Hos dieses Fenster hinausgeht?" Alcimus läßt sich dadurch täuschen und
geräth in Besorgniß, daß das, was er uns zugeworfen zu haben glaubte,
in ein fremdes Gehöft gekommen sei. Aus Vorsicht, um sich alles anzusehen
und die Verhältnisse des benachbarten Hauses zu schätzen, lehnt er sich aus dem
Fenster, und wie das alte Scheusal sieht, daß er sich unvorsichtiger Weise
weit vorbeugt, gibt sie ihm einen Stoß, der, wenn auch schwach, weil er
plötzlich und unerwartet kam, ihn aus dem Gleichgewicht brachte und, während
er nichts ahnend sich umsah, herunterstürzte. Unglücklicherweise fiel er von der
Höhe herunter auf einen großen Stein und zerbrach sich die Rippen. Unter
Strömen von Blut konnte er uns nur noch erzählen, was vorgegangen war
und wurde bald von seinen Leiden erlöst. Auch diesen schafften wir ans Meer
und versenkten ihn als Geleitsmann für unseren Lamachus.
Nach diesem doppelten Verlust gaben wir es auf, in Theben weitere Ver¬
suche zu machen und zogen uns ins benachbarte Platäci. Da sprach alles
von Demochares, der ein Gladiatorenspiel geben wollte. Er war ein
Mann von guter Herkunft, großem Vermögen und durch seine Freigebigkeit
bekannt, der auch die öffentlichen Lustbarkeiten mit einem seines Reichthums
würdigen Glänze ausstattete. Nur ein großer Redner könnte alle Einzelnheiten
der großartigen Zurüstungen aller Art angemessen schildern. Da waren Gla¬
diatoren von berühmter Tapferkeit. Jäger von bewährter Gewandtheit, zum
Tode verurtheilte Verbrecher, die in aller Seelenruhe sich zum Fraß der wilden
Thiere mästen ließen. Da waren thurmhohe hölzerne Maschinen mit beweg¬
lichen Stockwerken, wie fahrbare Häuser, bunte Schildereien, schön geschmückte
Käfige für die Thierhetze. Und was für eine Menge der verschiedenartigsten
Bestien! Denn seine Verbrecher sollten von edlen Thieren zerfleischt werden.
Vor allem hatte er ein Vermögen darangewandt, eine große Menge von Bären
zusammenzubringen, die er auf eigenen Jagden gefangen, mit großen Summen
erkauft, von Freunden von allen Seiten her geschenkt erhalten hatte und unter sorg¬
fältigem Verschluß mit großem Aufwand fütterte. Aber diese glänzenden Vorbe¬
reitungen zum öffentlichen Vergnügen entgingen nicht den scheelen Blicken des
Neides. Die Thiere, durch die lange Gefangenschaft ermattet, von der Sonnenhitze
erschöpft, durch den Mangel an Bewegung erschlafft, wurden von einer plötzlichen
Seuche ergriffen und aus eine kleine Zahl reducirt. Auf den Straßen lagen
halbtodte Bestien wie Schiffswracks umher und die gemeinen Leute, welche der
Mangel zwingt, ohne Auswahl auch nach widerwärtigen Nahrungsmitteln, wenn
sie nichts kosten, zu greifen, nahmen sich die Braten mit, welche sie auf der
Straße fanden. Unter diesen Umständen fasse ich mit einem Kameraden einen
schlauen Plan. Wir tragen einen Bären von ganz ungewöhnlicher Größe, als
gedächten wir ihn zu verzehren, in unsere Herberge; dort ziehen wir die Haut
sorgfältig ab. so daß die Tatzen und der ganze Kopf bis zum Nacken unver¬
sehrt bleiben. schaben die innere Seite ab und lassen sie mit Asche bestreut an
der Sonne trocknen. Während die Sonnenstrahlen sie ausdörren, nähren wir
uns von dem Fleisch und entwerfen unseren Feldzugsplan so. daß einer, der
sich mehr durch Geistes- als Körperstärke auszeichnet, freiwillig sich in die
Bärenhaut stecke, dem Demochares ins Haus gebracht werden und bei günstiger Ge¬
legenheit Nachts uns die Thüre öffnen sollte. Nicht wenigen von der tapferen
Bande gab der kühne Plan Kühnheit zur Ausführung; vor den übrigen aber
wurde einstimmig Thrasyleon erwählt, das gefährliche Wagstück zu über¬
nehmen. Mit heiterer Miene steckte er sich in die weich und geschmeidig gewor¬
dene Bärenhaut; dann reiheten wir die Ränder wieder zusammen und verdeckten
die seinen Nähte mit dem darüber gestrichenen zottigen Haar, durch den Schlund,
wo der Nacken des Thiers weggeschnitten war, zwängten wir den Kopf des
Thrasyleon und gaben ihm durch kleine Einschnitte bei der Schnauze und den
Augen Spielraum zum Athmen. Nachdem wir unseren tapferen Kameraden so
völlig verthiert hatten, steckten wir ihn in einen um mäßigen Preis erhandel¬
ten Käfig, in den er mit standhafter Entschlossenheit selbst rasch hineinkletterte.
Nach diesen Vorbereitungen schritten wir zur Ausführung unserer Kriegslist.
Wir hatten den Namen eines gewissen Nikanor erkundet, der in Thracier,
lebte und durch intime Freundschaft mit Democharcs verbunden war; in dessen
Name» faßten wir ein Schreiben ab, in welchem er als guter Freund seine
Jagdbeute zum Geschenk übersandte. Am späten Abend brachten wir unter dem
Schuh der Dunkelheit Thrasyleon in seinem Käfig mit dem untergeschobenen Brief
dem Democharcs, der ganz erstaunt über die Größe des Bären und hoch erfreut
über die so erwünscht kommende Liberalität seines Freundes uns als Ucber-
vringem zehn Goldstücke auszuzahlen befahl. Eine Menge Menschen strömte
herzu, wie jede Neuigkeit zum Schauen anzulocken pflegt und staunte das große
Thier an, aber Thrasyleon wußte geschickt die sich hinzudrängenden Neugierigen
durch drohende Bewegungen zurückzuscheuchen. Es war nur eine Stimme der
Befriedigung, daß das günstige Geschick dem glücklichen Democharcs nach so¬
viel Verlusten einen solchen Ersatz darbot. Er befahl nun, das Thier sogleich
mit aller Vorsicht aufs Land zu bringen, aber ich machte dagegen Vorstel¬
lungen. „Sieh dich ja vor." sagte ich „das durch den Sonnenbrand und die
lange Reise ermattete Thier in Gesellschaft anderer zu bringen, die noch dazu,
wie ich höre, nicht bei guter Gesundheit sind; sorge lieber für einen geräu¬
migen luftigen Platz bei deiner Wohnung, wo möglich neben einem erfrischen¬
den Bassin. Du weißt ja, daß diese Thiere in dichten Wäldern und kühlen
Grotten an lustigen Quellen ihr Lager haben." Durch diese Erinnerung be-
denklich gemacht und im Andenken an die vielen zu Grunde gegangenen Thiere
gab Dcmochares gleich nach und hieß uns nach unserem Ermessen einen Platz
für den Käsig aussuchen. „Wir sind auch bereit." setzte ich hinzu „hier bei
dem Käfig die Nacht über Wache zu halten, um dem von Hitze und Ermüdung
arg mitgenommenen Thier zur rechten Zeit Futter zu geben, wie es gewohnt
ist." „Wir brauchen euch keine Beschwerde zu machen," erwiderte er „die
ganze Dienerschaft ist mit dem Warten der Bären seit langer Zeit vertraut."
Darauf verabschiedeten wir uns und gingen zum Stadtthor hinaus, wo wir
vom Wege abwärts und entlegen ein Grabmal erblickten. Da machten wir
die alten halb verfallenen und aufgedeckten Särge von ihren in Staub und Asche
zerfallenen Bewohnern frei, um Raum für die Bande zu gewinnen, und zogen nach
der alten Räuberregel zu der Zeit, wo der erste Schlaf die Besinnung der Menschen
gefesselt hält, in mondscheinloser Dunkelheit, mit Schwertern bewaffnet im geordneten
Zuge vor Dcmochares Haus, wo wir uns zur Plünderung bereit aufstellten.
Thrasyleon, der ebenfalls das richtige Näubertempo wahrgenommen hatte, kroch
zu gleicher Zeit aus dem Käsig und machte sogleich die Wächter, die neben
dem Käfig eingeschlafen waren, sowie den Thürhüter mit dem Schwerte nieder,
öffnete uns das Thor und führte uns, die wir rasch ins Haus eingedrungen
waren, zu einem Speicher, in den er Abends das Geld hatte hineintragen
sehen. Nachdem wir ihn mit Gewalt erbrochen hatten, hieß ich jeden Käme-
roder so viel Gold und Silber, als er tragen konnte, in unser sicheres Todten-
haus fortschaffen und dann so rasch als möglich wiederkommen, um sich mit
neuer Beute zu beladen; ich wollte für aller Bestes allein zurückbleiben und
am Eingänge des Hauses alles genau beobachten, bis sie wiederkehrten. Die
Erscheinung des Bären, der im Hause herumlief, konnte, wenn ja einer der
Sklaven erwachte, als Schreckmittel dienen. Denn auch ein Mann von uner¬
schrockenem Muth würde, wenn ihm ein Bär von der Größe, zumal in der
Nacht, unvermuthet begegnete, die Flucht ergreifen und erschreckt in seinem Zim¬
mer sich einschließen, um sicher zu sein. Aber diese sorgsamen Vorbereitungen
durchkreuzte ein unglückseliges Ereignis). Während ich mit gespannter Aufmerk¬
samkeit der Rückkehr der Gefährten entgegensah, kommt ein Sklave, offenbar
durch göttliche Schickung aufgeweckt, sachte heraus, sieht den Bär frei im Hause
herumlaufen, schleicht schweigend vorsichtig wieder hinein und meldet allen im
Hause, was er gesehen. Sofort ist das Haus von der zahlreichen Dienerschaft
erfüllt, Fackeln, Kerzen, Lichter, aller denkbare Erleuchtungsapparat erhellt die
Dunkelheit, keiner von der ganzen Masse kommt unbewaffnet, mit Knitteln,
Speeren, Schwertern ausgerüstet, besetzen sie die Zugänge und Hetzen großohrige
zottige Jagdhunde auf das Thier. Während dieser Tumult sich erhob, machte
ich mich aus dem Hause fort und sah hinter der Thür versteckt, wie Thrasyleon
sich der Hunde zu erwehren strebte. Im Angesicht des Todes, der unvermeid¬
lich schien, kämpfte er seiner und unser eingedenk, wie ein Held mit seiner alten
Tapferkeit, dabei vergaß er keinen Augenblick der Rolle, welche er übernom¬
men hatte, und brachte es durch immer wechselnde Stellungen soweit, daß er sich
aus dem Hause herauswälzen konnte. Aber auch hier im Freien konnte er die
Flucht nicht ergreifen. Denn aus den nächsten Straßen stürzten wilde Hunde
in Menge herbei, welche ihn mit den aus dem Hause nacheilenden angriffen.
Welch ein jammervoller Anblick! Unser Thrasyleon von einer Meute wüthen-
der Hunde umringt und angegriffen und mit unzähligen Bissen zerfleischt. Un¬
fähig den Schmerz zu ertragen, mischte ich mich unter die herbeiströmende
Menge und rief den Verfolgern zu, wodurch ich ihn allein noch retten konnte:
.,O was für ein schöner Bär geht uns zu Grunde!" Aber meine List half
dem unglücklichen Jüngling nichts. Ein großer starker Mensch, der aus dem
Hause herzulies, schleuderte mit aller Macht seine Lanze dem Bären in den
^ib, dann ein anderer, und bald gewannen sie Muth und griffen ihn auch in
der Nähe mit Schwertern an. Thrasyleon, die Zierde unsrer Bande, dessen
Heldenmuth erst mit dem Tode gebrochen wurde, verrieth sich durch keinen Laut
der Klage oder des Jammers, sondern blieb standhaft mit thierischem Brüllen
und Brummen seiner Maske treu und dachte, während er sein Leben hingab,
seinen Ruhm. Und solche Furcht hatte er dem Haufen beigebracht, daß bis
es hell wurde und weit in den Morgen hinein niemand das daliegende Thier
auch nur mit einem Finger zu berühren wagte. Endlich machte sich ein Metz¬
ger heran, schnitt den Leib auf und entdeckte den Räuber, der darin steckte.
So ist Thrasyleon uns entrissen, aber er lebt im Nachruhm fort.
Diese Geschichte und mehr noch andere Züge, die minder absichtlich ange¬
bracht, um so stärkere Beweise bieten, zeigen, wie unsicher damals Straßen und
Ortschaften waren. Dio erzählt, daß unter Severus ein gewisser Bulla
eine Räuberbande von 600 Mann zusammenbrachte und damit zwei Jahre lang
Italien brandschatzte, ohne daß die ausgesandten Truppen etwas gegen ihn auf¬
richteten. „Wurde er irgendwo gesehen, so war er nicht zu fassen; wurde er
aufgefunden, war er nicht zu sehen; war er ergriffen, verschwand er unter den
Händen; so groß war seine Freigebigkeit und Schlauheit." Er wußte, wer von
Rom abfuhr und in Brundusium landete, wie viel ihrer waren und was sie
bei sich hatten. Handwerker nahm er mit sich, ließ sie für sich arbeiten und
entließ sie reich beschenkt. Als einige seiner Kameraden gefangen und zur
Thierhetze verurtheilt waren, ging er zum Kerkermeister, gab sich für den Magi¬
strat einer Stadt aus, der für seine Spiele solche Kämpfer gebrauche und spielte
seine Rolle so gut, daß man ihm seine Leute mitgab. Zu einem Centurio,
der gegen ihn ausgesandt war, kam er verkleidet, beklagte sich bitter über Bulla
und erbot sich, die Soldaten sicher zu seinem Lager zu führen, brachte sie aber
in einen Sumpf, wo er sie gefangen nahm. Dann ließ er dem Centurio das
Haar schneiden und schickte ihn mit dem Auftrag zurück: „Sag deinen Herren,
sie sollten ihre Sklaven ordentlich halten, damit sie nicht unter die Räuber
gehen." Zuletzt wurde dieser antike Fra Diavolo von einer Geliebten verra¬
then, die sich durch Geld gewinnen ließ, ihn, als er in einer Höhle schlief, aus¬
zuliefern. Solchen Berichten eines Historikers gegenüber kann man sich nicht
wundern, wenn die Räuber auch in der Novelle eine Rolle spielen.
Einen ziemlich breiten Raum nimmt natürlich die Erotik in Anspruch und
Liebesabenteuer verschiedener Art werden sowohl unter den Begebenheiten des
Lucius selbst, als in den eingelegten Novellen mit Borliebe erzählt. In vielen
ist das sinnliche Element vorherrschend, das sich durch den ganzen Roman hin¬
durchzieht, in einzelnen Zügen überall hervorsteht und wahrscheinlich nicht wenig
beigetragen hat, dem Buch soviel Beifall zu verschaffen. Es ist im Grunde
dasselbe Verlangen nach einem starken sinnlichen Reiz, welches in den lasciven
Liebesgeschichten, in den haarsträubenden Gespenster- und Greuelerzählungen
und in dem Mysteriengepränge seine Befriedigung fand. Dem letzten hat man
oft eine tiefere Bedeutung geben wollen, aber Apulejus hat es damit schwerlich
ernster gemeint als Schikaneder mit der Zauberflöte. Fand der Eingeweihte
an der Hindeutung aus ihm werthe Geheimnisse ein besonderes Interesse, desto
besser; aus das große Publikum sollte die fremdartige glänzende Dekoration
ihre Wirkung machen und machte sie. Uebrigens ist in den Liebesgeschichten
allerdings Abwechslung. Die für eine Mittheilung zu lang ausgeführte Novelle
von der treuen Charite, welche den Mörder ihres Gemahls, der ihrer Ehre
nachstellt, blendet und sich selbst vor versammeltem Volke erdolcht, ist im hoch¬
pathetischen Stil gehalten. In den meisten bilden aber der Genuß und die
Intrigue das Hauptinteresse und diese lustigen schwanke sind auch am besten
gelungen. Sie sind daher auch, wie die Matrone von Ephesus bei Pe¬
rron, Gemeingut der Novellisten geworden und zum Theil schon aus Boecaz
und seinen Nachfolgern allgemein bekannt, deren schlichtere Darstellung sich meistens
besser liest, als die gezierten Schnörkel des Apulejus. Als ein Beispiel dieses für
die Novellistik so wichtigen Zweiges, wie es hier ohne Bedenken mitgetheilt
werden kann, folge
Du kennst doch den Barbarus, den Ortsvorsteher, den die Leute seiner
Bissigkeit wegen den Scorpion nennen. Der hat eine Frau aus guter Fa¬
milie, von ungewöhnlicher Schönheit, die er mit der ängstlichsten Vorsicht im
Hause unter Verschluß hält und bewacht. Als er neuerdings eine Geschäfts¬
reise vorhatte und die Keuschheit seiner theuren Gattin vor jeder Versuchung
sicher bewahren wollte, gab er seinem Sclaven von längst erprobter Treue Myr-
mex insgeheim den Auftrag, über seine Herrin zu wachen, und drohte ihm mit
Kerker und Banden, ja mit dem grausamsten Hungertod, wenn ein Mensch
auch nur im Vorbeigehen sie mit dem Finger anrühre, und schwur ihm das
mit einem heiligen Eide bei allen Göttern zu. Ruhig trat er nun seine Reise
an, da er so den in Schrecken gesetzten Myrmex als besorgten Aufpasser seiner Frau
zurückließ. In seiner Herzensangst ließ der seine Herrin denn auch nirgends
hingehen, war ihr unzertrennlicher Gesellschafter, wenn sie bei der häuslichen
Arbeit saß und bei dem unvermeidlichen abendlichen Gange ins Bad folgte er
ihr wie angeheftet und ließ den Zipfel ihres Gewandes nicht los. So bot er
allen Scharfsinn auf, um seines Amts mit der größten Gewissenhaftigkeit zu
Warten. Aber dem Spürsinn des Philetärus konnte die Schönheit einer
angesehenen Dame nicht entgehen. Durch den allgemeinen Ruf ihrer Keusch¬
heit und die übertriebene Strenge der Aufsicht angespornt und entflammt, alles
zu wagen und zu erdulden entschlossen, rüstete er sich mit aller Macht die
wohlbewachte Festung zu erobern. Er wußte aus Erfahrung, wie zerbrechlich
Menschliche Treue sei, daß Geld alle Schwierigkeiten besiegt und ein goldner
Schlüssel auch eiserne Thore öffnet. Als daher ein günstiger Zufall ihn den Myr-
Mex allein treffen ließ, offenbarte er ihm seine Leidenschaft und beschwor ihn fu߬
fällig, ihm zur Linderung seiner Pein behilflich zu sein, sein Tod sei eine be¬
schlossene Sache, wenn er nicht bald ans Ziel seiner Wünsche gelange; er ver-
lange eine Kleinigkeit, bei der nichts zu fürchten sei, Abends unter dem
Schutz der Dunkelheit wollte er sich einschleichen und nur einige Augenblicke
verweilen. Indem er ihm so zuredete, setzte er zugleich einen wirksamen Keil
ein, um die festen Grundsätze des Sclaven .zu erschüttern. Er hielt ihm
eine Handvoll frisch geprägter blanker Goldstücke hin, von denen zwanzig
für die Schöne, zehn für ihn bestimmt seien. Myrmex schauderte vor dem
unerhörten Wagstück zurück, hielt sich beide Ohren zu und machte sich eilends
davon. Aber der Glanz der Goldstücke flimmerte ihm beständig vor den Augen,
als er weit davon war und raschen Schritts nach Hause kam, sah er die schö¬
nen blanken Stücke immer vor sich, im Geist glaubte er die reiche Beute schon
gewonnen zu haben, in Unruhe und Zwiespalt zerrten die Gedanken den armen
Teufel zwischen Treue und Vortheil, Strafe und Gewinn hin und her. Zuletzt
besiegte das Gold selbst die Todesfurcht. Auch die Entfernung besänftigte seine
Begierdenach dem Golde nicht, seine Nachtwache störte die Stimme der Habsucht;
während die Drohungen seines Herrn ihn zu Hause hielten, lockte das Gold
ihn hinaus. Schließlich biß er der Scham den Kopf ab und brachte ohne
Umstände bei der Hausfrau seine Botschaft an. Diese machte der den Frauen
angeborenen Leichtfertigkeit alle Ehre und verkaufte ohne Weiteres ihre Schön¬
heit für den dargebotenen Sold. Voll Freude über seinen Treubruch eilt Myr¬
mex, das Gold, das er zu seinem Verderben erblickt hatte, nun auch wirklich zu
erhalten, er meldet dem Philetärus, mit welcher Anstrengung es ihm gelungen,
seine Wünsche zu erfüllen, und verlangt auf der Stelle den versprochenen
Lohn. Er bekommt ihn und der glückliche Myrmex hält Goldstücke in seiner Hand,
die nur an Kupfermünzen gewöhnt war. Nachdem die Nacht eingebrochen war,
geleitete er den ungeduldigen Liebhaber allein ins Haus und führte ihn mit
verhülltem Haupt ans Schlafzimmer seiner Herrin. Aber kaum hatte das
Paar sich dem ersten Genuß hingegeben, als gegen alle Erwartung der Mann,
der die Nacht zur Reise benutzt hatte, unvermuthet heimkehrt. Er klopft an
die Hausthür, er ruft, er wirft mit Steinen gegen die Pforte; durch das Zau¬
dern argwöhnisch gemacht, stößt er heftige Drohungen gegen Myrmex aus.
Der, durch den plötzlichen Unglücksfall ganz verwirrt und vor Angst völlig rath¬
los, schützt die einzig mögliche Entschuldigung vor, daß er in der Dunkelheit
die allzu wohl verwahrten Schlüssel nicht finden könne. Indessen wirft Phile¬
tärus, der den Lärm hört, rasch die Kleider über, läuft aber in der Ver¬
wirrung mit bloßen Füßen aus dem Schlafzimmer. Nun schließt endlich Myr¬
mex die Thür auf und empfängt seinen Herrn, der die Götter vom Himmel
herunter flucht und stracks ins Schlafzimmer eilt. Währendem läßt er Phile¬
tärus. der sich sachte vorbeigedrückt hat, hinaus und legt sich erleichterten Her¬
zens zur Ruhe. Aber als Barbarus mit Tagesanbruch das Schlafzimmer ver¬
lassen will, sieht er unter dem Bett die fremden Schuhe stehen, welche Phile-
da'ruf dort vergessen hatte. Auf der Stelle schießt ihm durch den Kopf, was
vorgefallen sei, aber ohne die Frau oder einen Bekannten etwas merken zu
lassen, nimmt er sie aus, stockt sie heimlich in den Busen und läßt den Myrmex
durch andere Sclaven binden und auf den Markt vors Gericht bringen. In
stummem Grollen richtete er selbst eilig seine Schritte dahin, denn er war sicher,
durch die Schuhe dem Liebhaber selbst auf die Spur zu kommen. Als Barbarus
so mit zornigen Geberden und drohenden Augenbrauen über die Straße daher
kam, neben ihm Myrmex, zwar nicht aus der That ertappt, abur schuld¬
bewußt mit Thränen und Wehklagen vergebens um Mitleid flehend, da begeg¬
nete ihm im rechten Moment Philetärus. Er hatte ein anderes Geschäft zu
besorgen vor, aber durch den unerwarteten Anblick betroffen, erinnert er sich
sogleich, was er in der Eile vergessen hatte und erräth sofort auch den Zusam¬
menhang. Augenblicklich gefaßt drängt er die Sclaven bei Seite und geht laut
rufend auf Myrmex zu: „Möge dich, du niederträchtiger Lump, dein Herr da
und alle Götter im Himmel, bei denen du deine Meineide schwörst, in Grund
und Boden verderben! Gestern hast du mir im Bade meine Schuhe gestohlen.
Wahrhaftig du verdienst die Ketten, die du trägst, und daß du ins Loch ge¬
worfen wirst." Die glückliche List des braven Jungen verdutzte den Barbarus
und ließ ihn alles glauben. Er ging gleich wieder nach Hause, ließ Myrmex
zu sich kommen, gab ihm die Schuhe, hieß ihn sie dem Eigenthümer zurück¬
bringen und verzieh ihm sein Unrecht.
An den Schluß dieser Auswahl, die sich leicht, aber vielleicht nicht zur
Unterhaltung des Lesers, weiter ausdehnen ließe, stelle ich, was man vielleicht
in der alten Literatur nicht vermuthet, sondern für specifisch modern halten
möchte,
Der Besitzer des Hauses hatte einen Sohn von tüchtiger wissenschaftlicher
Bildung, der sich demgemäß auch durch kindliche Liebe und Bescheidenheit aus¬
zeichnete, wie man sich nur einen Sohn wünscht. Seine Mutter war vor lan¬
ger Zeit gestorben, der Vater war eine neue Ehe eingegangen und hatte von
der zweiten Frau noch einen anderen Sohn, der auch bereits das zwölfte Jahr
überschritten hatte. Die Stiefmutter aber, die mehr durch ihre Schönheit als
durch ihren Charakter den Mann und das Haus beherrschte, warf — war sie
nun von Natur wollüstig oder trieb sie ihr Geschick zu dem entsetzlichen Ver¬
brechen — ein Auge auf den Stiefsohn. So lange die Frau dem Liebesgott
Wie einem zarten Knäblein die erste Nahrung bot, widerstand sie leicht seinen
schwachen Kräften und unterdrückte schweigend die aufflammende Neigung. Aber
als Amor ihr Herz mit dem Feuer rasender Leidenschaft ganz entzündete, da
unterlag sie dem heftigen Angriff und versteckte des Herzens tiefe Wunde durch
eine verstellte Krankheit. Wer weiß nicht, daß bei Kranken und Liebenden sich
dieselben Symptome des körperlichen Verfalls zeigen? Entstellende Blässe, matte
Augen, wankende Kniee, unruhiger Schlaf, behemmter und dadurch wieder be¬
schleunigter Athem; man sollte meinen, daß es die Fieberhitze sei, welche sie
so beunruhigte — aber sie weinte auch. Wie blind sind die Aerzte! Was be¬
deutete denn der unruhige Pulsschlag, die glühende Hitze, das mühselige Athem¬
holen, das unaufhörliche Herumwälzen von einer Seite auf die andere? Mein
Gott, wie leicht begriff, wenn auch nicht ein studirter Arzt, doch ein erfahrener
Liebhaber die Gluth, die nicht ihren Körper verzehrte. Endlich läßt sie, unfähig
den Sturm der Leidenschaft noch länger schweigend zu ertragen, den Sohn zu
sich rufen — den Sohn, ore gern wählte sie, um sich die Schamröthe zu er¬
sparen, einen anderen Namen! Der Jüngling läßt die kranke Mutter nicht war¬
ten; mit vor Trauer gefurchter Stirn betritt er das Schlafgemach der Frau
seines Vaters, der Mutter seines Bruders, nur ihr zu gehorsamen beflissen.
Sie, durch das lange peinigende Stillschweigen ermattet, in zweifelnder Ueber-
legung befangen, verwirft jedes Wort, das ihr passend schien, im nächsten Augen¬
blick und kann kämpfend mit der Scham keinen Anfang zu reden finden. Der
Jüngling, der sich nichts arges vermuthet, fragt mit besorgter Miene von selbst
nach der Ursache ihres Leidens. Da, als ihr so die Gelegenheit geboten wird,
saßt sie Muth, und unter heftigen Thränen sich das Gesicht verhüllend, richtet
sie mit zitternder Stimme an ihn die Worte: „Ursache und Veranlassung
meiner Schmerzen und meine einzige Hilfe und Rettung bist du. Deine
Blicke sind durch meine Augen tief in mein Herz gedrungen und haben
dort einen heftigen Brand entzündet. Habe Mitleid mit mir, die ich nur um
deinetwillen zu Grunde gehe, und beruhige dein Gewissen, indem du deinem
Vater seine dem Tode verfallene Gattin erhältst; sein Bild, das ich in deinem
Antlitz erkenne, zwingt mich zur Liebe. Vertraue dem Schutz der Einsamkeit
und nutze die günstige Gelegenheit: was niemand weiß, ist ja so gut wie nicht
geschehen." Ganz betäubt von dem unerwarteten Schlag wollte der Jüngling,
der solchen Frevel verabscheute, nicht durch strenges Zurückweisen das Uebel ver¬
schlimmern, sondern durch kluges Hinhalten lindern. Er sagt zu, fordert sie auf
guten Muthes zu sein, dringt in sie, sich zu stärken und zu erholen, bis eine
Reise des Vaters ihnen volle Freiheit zum Genusse geben würde, und entzieht
sich rasch dem gefährlichen Anblick der Stiefmutter. Um bei einem solchen
Familienunglück wohl berathen zu sein, suchte er sogleich einen alten Erzieher
von erprobter Gesinnung auf, und nach längerer Berathung schien es ihm
das beste, daß er durch schleunige Flucht dem drohenden Sturm zu entgehen
suche. Das Weib aber, das keinen Aufschub ertragen mochte, wußte unter
irgend einem Vorwand ihren Mann zu bereden, daß er ein entferntes Landgut
besuchen müsse. Sowie er fort war, verlangte sie, daß der Sohn sein Wort
halten und ihre rasende Begier stillen sollte. Als er unter immer anderen
Vorwänden sich ihrem Anblick entzog und sie aus den sich widersprechenden
Anworten und Versprechungen erkannte, daß er sie täusche, wandte sich rasch
ihre verbrecherische Liebe in tödtlichen Haß. Sie berieth sich mit einem jeder
Schandthat fähigen Sklaven, den sie mit ins Haus gebracht hatte, und sie
wurden unter sich einig, den Unglücklichen zu todten. Der Schurke kaufte ein schnell
wirkendes Gist und that es in den Wein, aus dem der Jüngling den Tod
trinken sollte. Während die ruchlosen Menschen über eine passende Gelegenheit,
ihm den Trank zu bieten, berathschlagen, kommt zufällig der zweite Knabe, der
wirkliche Sohn der schändlichen Frau, nach beendigtem Morgenunterricht nach
Hause, und begierig auss Frühstück faßt er in seiner Unwissenheit den dastehen¬
den Becher mit dem Gift und leert ihn aus einen Zug. Sowie er das für
den Bruder bestimmte Gift getrunken hatte, stürzte er entseelt zu Boden; der
Pädagog, über seinen plötzlichen Tod entsetzt, rief jammernd und schreiend die
Mutter und die Hausgenossen herbei. Sobald man sah, daß der Trank ver-
giftet war, beschuldigte man den und jenen als Urheber. Das verruchte Weib
aber, als ein Spiegel stiefmütterlichen Hasses, nicht gerührt durch den frühen
Tod des eigenen Kindes, das Bewußtsein ihrer Schuld, das Unglück der Familie
und die Trauer ihres Gatten, benutzte den Trauerfall für ihre Rache, schickte
einen Boten mit der Schreckenskunde ihrem reisenden Manne nach und verklagte
nach seiner schleunigen Rückkehr mit unverschämter Frechheit den Stiefsohn, durch
sein Gist sei ihr Sohn umgekommen. Insofern log sie nicht, als der Knabe
das für den Bruder bestimmte Gift zu sich genommen hatte, aber als Grund
des Mordes gab sie an, daß sie sich seiner verbrecherischen Begier nicht habe
fügen wollen; ja nicht zufrieden mit dieser schändlichen Lüge behauptete-sie, er
habe sie als Mitwissende mit dem Schwerte bedroht. Der unglückliche Vater war
durch den Verlust beider Sohne wie vernichtet; denn den jüngeren sah er vor
seinen Augen zu Grabe tragen, den älteren — das wußte er gewiß — mußten
die Gerichte zum Tode verurtheilen, und dazu erfüllte ihn das verstellte Jammern
der blind von ihm geliebten Frau mit tödtlichem Haß gegen seinen eigenen
Sohn.
Kaum war das feierliche Leichenbegängniß beendigt, so begab sich der un¬
glückliche Greis mit Thränen in den Augen, das weiße Haar mit Asche bestreut,
von der Grabstätte gradeswegs auf den Markt. Weinend umfaßte er die Kniee
der Vorsteher und ohne Ahnung von den Ränken der schändlichen Frau ver¬
langte er voll Eifer den Tod seines Sohnes, der die Ehre des Vaters an¬
gegriffen, den Bruder getödtet, die Stiefmutter bedroht habe. Durch seine
Trauer erregte er bei Rath und Bürgerschaft solchen Zorn und Unwillen, daß
«lies rief, ohne Untersuchung und Richterspruch abzuwarten, ein solches Scheusal
müsse zur Sühne auf der Stelle gesteinigt werden. Die Behörde aber, welche
von einem solchen tumultuarischen Verfahren Auflösung aller Zucht und Ord¬
nung fürchtete, suchte den Rath und das Publicum zu beruhigen, nach alter
Sitte solle man ordentlich Gericht halten, Anklage und Vertheidigung ver¬
nehmen und nach Recht und Gesetz ein Urtheil fällen, nicht ungehört nach Bar¬
baren und Tyrannen Weise verdammen, sondern in Ruhe ein Exempel statuiren.
Der gute Rath wurde angenommen und sofort berief der Herold den Rath
ins Stadthaus. Nachdem dort alle ihrem Range gemäß Platz genommen, trat
zuerst vom Herold aufgefordert der Ankläger auf, dann wurde der Angeklagte
vorgeführt und nach dem strengen Verfahren des Areopags gebot der Herold
den Sachwaltern, durch keinerlei Redekünste Mitleid zu erregen. Nachdem von
beiden Seiten gesprochen war, beschloß man durch sichere Beweismittel den
Thatbestand festzustellen und nicht nach Vermuthungen zu urtheilen, und des¬
halb jenen Sklaven, der ja allein wissen sollte, wie alles vor sich gegangen sei,
als Zeugen zu vernehmen. Der Galgenstrick ließ sich weder durch den An¬
blick des hohen Gerichtshofes, noch der dicht gedrängten Menge, auch nicht durch
sein böses Gewissen einschüchtern und trug seine eignen Erfindungen als wahr¬
hafte Aussage vor. Der Jüngling habe ihn erbittert, weil ihn die Stiefmutter
abgewiesen, zu sich gerufen und ihn geheißen, aus Rache den Bruder zu tödten,
er habe ihm eine große Belohnung versprochen, wenn er schweige, den Tod an¬
gedroht, da er sich weigerte, er habe ihm dann das mit eigener Hand vermischte
Gift übergeben, um es dem Bruder beizubringen, endlich aber, in dem Arg¬
wohn, er behalte den Becher als Beweismittel für eine Anklage zurück, selbst
dem Knaben das Gift gereicht. Als der Elende dies mit meisterhaft verstellter
Angst angegeben hatte, wurde die Verhandlung geschlossen.
Alle Richter erklärten den Jüngling für unzweifelhaft schuldig und verur-
theilten ihn zum Tod des Säckens. Als sie nun der Anordnung gemäß ihre
Stimmstcine, die alle gleich waren, in die Urne werfen sollten, worauf dann
das Schicksal des Angeklagten ohne Widerruf entschieden war, indem sein Haupt
dem Nachrichter verfiel, da stand aus der Reihe der Richter ein bejahrter Arzt
auf, der allgemein Vertrauen und Ansehen genoß, legte seine Hand auf die
Urne, daß niemand seine Stimmstcine hineinlegen konnte und sagte:
„Ich freue mich, daß euer Vertrauen mich bis in mein hohes Alter be¬
gleitet hat, damit ich verhüte, daß nicht an einem fälschlich Angeklagten ein
Mord begangen werde und ihr, die ihr als Geschworne richtet, euch mit einem
Meineid beladet. Ich kann nicht gegen mein Gewissen vor dem Angesicht der
Götter einen falschen Ausspruch thun, darum hört, wie sich die Sache verhält.
Der Schurke da wollte ein schnell wirkendes Gift kaufen und bot mir unlängst
100 Goldstücke dafür, indem er vorgab, ein Kranker bedürfe desselben, der lang'
jährigen Qualen eines unheilbaren Leidens dadurch ein Ende machen wolle.
Da ich deutlich erkannte, daß der elende Mensch ohne Zusammenhang schwatzte,
und sicher war, daß er Unheil vorhatte, gab ich ihm einen Trank, nahm aber
in Berücksichtigung einer künftigen Untersuchung nicht gleich das angebotene
Geld an. Damit nicht etwa, sagte ich, unter deinen Goldstücken ein falsches
sich finde, so thue sie in diesen Beutel und versiegte ihn mit deinem Petschaft,
damit wir nächstertags beim Wechsler sie prüfen lassen. Er lieh sich bestim¬
men, den Beutel zu versiegeln, den ich, sowie er vor Gericht erschien, rasch von
einem meiner Leute aus meiner Bude holen ließ; hier ist er, wie ich ihn vor¬
lege. Er mag ihn sich ansehen und sein Siegel recognosciren. Wie soll der
Bruder um des Giftes willen belangt werden, was dieser gekauft hat?"
Ein ungeheurer Schrecken befiel den Sklaven, Todtenblässe bedeckte sein
Gesicht, kalter Angstschweiß seine Glieder. Bald trat er auf den einen, bald
auf den andern Fuß. kratzte sich den Kopf und murmelte stotternd unverständ¬
liche Worte, daß jedermann seine Schuld klar erkannte. Aber bald gewann
er die Fassung wieder, leugnete alles ab und zieh den Arzt Lügen. Als der
so seine Glaubwürdigkeit vor seinen Mitbürgern angegriffen sah. suchte er mit
um so größerem Eifer den Schurken zu widerlegen, bis auf Befehl der Be¬
hörde die Gerichtsdiener die Hände des Sklaven untersuchten, ihm einen eiser¬
nen Ring abzogen, mit dem Siegel verglichen und dadurch den Verdacht be¬
stätigten. Jetzt ward nach griechischem Gerichtsverfahren die Tortur gegen ihn
angewendet, aber selbst das Brennen konnte ihn nicht zum Geständnis; bringen.
Daraus sagte der Arzt: „Ich kann nicht zugeben, daß dieser unschuldige
Jüngling gegen das Recht getödtet und der Verbrecher zum Hohn des Gerichts
unbestraft bleibe. Ich werde euch einen thatsächlichen Beweis geben. Als der
Elende ein tödtliches Gift von mir verlangte, hielt ich es nicht mit meiner
Kunst vereinbar, einem Menschen zum Tode zu verhelfen, da die Arzneikunde
zur Rettung, nicht zur Vernichtung dienen soll, ich fürchtete aber, wenn ich es
ihm abschlüge, durch meine unzeitige Weigerung ihm den Weg zum Verbrechen
zu bahnen, indem er von einem andern das Gift erkaufen oder auch mit
Schwert oder Dolch den Mord vollbringen könnte, deshalb gab ich ihm ein
Mittel, aber ein einschläferndes, AlKaun, das bekanntlich eine todtesähnliche
Betäubung bewirkt. Kein Wunder, wenn der Mörder, der des Todes gewiß ist,
die Schmerzen der Tortur aushält. Hat aber der Knabe wirklich den von mir
bereiteten Trank genommen, so lebt er und schläft nur, und wird aus seinem
schweren Todesschlaf wieder zum Tageslicht erwachen; ist er in Wahrheit todt,
so sucht die Ursache seines Todes anderswo."
Die Rede des Arztes wurde beifällig aufgenommen und man zog sogleich
ZU dem Grabe, in welchem die Leiche des Knaben beigesetzt war. Vom Rath,
Von den Vornehmen, von den Bürgern fehlte niemand; alles eilte dorthin.
Als der Vater mit eigenen Händen den Deckel vom Sarge entfernt hatte,
fand er den Sohn, der so eben aus dem Schlaf erwachte und vom Tode auf¬
erstand; vor Freude sprachlos schloß er ihn in seine Arme und brachte ihn
hinaus vor das Volk. Wie er war, in die Leichenbinden eingewickelt, wurde
der Knabe vor den Richter geführt. Als nun das Verbrechen des Sklaven und
der Frau klar vorlag und die Wahrheit an den Tag kam, da wurde die Stief¬
mutter zu lebenslänglicher Verbannung, der Sklave zum Kreuzestod verurtheilt;
dem braven Arzt aber wurden unter allgemeiner Beistimmung die 100 Gold¬
stücke als Belohnung für den rettenden Schlaf zugesprochen. So wurden durch
die wunderbare Schickung der Vorsehung dem alten Vater in demselben Augen¬
blick zwei Söhne wiedergegeben, wo er sich beider beraubt glaubte. — '
Im Verhältniß zu modernen Leistungen sind die Motive sehr einfach, wenn
auch hinreichend drastisch; indessen überzeugt man sich auch aus dieser Crimi-
nalgeschichte — und das bestätigt sich bei einer Musterung der antiken Unter¬
haltungsliteratur auf Schritt und Tritt —, daß es ein gewisser beschränkter
Fonds von Hauptmotiven und Situationen ist, mit denen die antike wie die
moderne Novellistik ihre wesentliche Wirkung auf das nach leichter Unterhaltung
verlangende Publikum ausübt. Die neuere Forschung hat in großartiger Weise
dargethan, wie die Sage und die aus dieser abgeleiteten Mährchen und Fabeln
nicht blos äußerlich von Volk zu Volk, von Jahrhundert zu Jahrhundert über¬
liefert worden sind, sondern wie aus der Tiefe der einem großen Volksstamme
von Ursprung her gemeinsamen Empfindung und Auffassung noch ein Hauch
der schaffenden Kraft bis in die fernsten Zeiten weiterbildend geheimnißvoll
mitwirkt. Diese Beobachtung gilt in einem gewissen Grade auch von der Novelle.
Da sie am spätesten und unter dem Einfluß bestimmt ausgeprägter Culturverhält¬
nisse entstanden ist, macht sich das Moment der äußerlichen Übertragung hier am
entschiedensten geltend, indessen würde die versetzte Pflanze nicht wie eine hei¬
mische gedeihen, fände die Wurzel nicht entsprechenden Grund und Boden. Die
Wirkung der Novellen des Apulejus aus das römische Publikum beruhte frei¬
lich wesentlich mit auf dem prickelnden Reiz seiner überkünstelten Ausdrucks¬
weise, auf welchen die Übersetzung verzichten mußte; wahrscheinlich aber wird
damals so gut wie heute das stoffliche Interesse für den Inhalt bei einem guten
Theil des lesenden Publikums das eigentlich packende gewesen sein, und so
können sie auch in dieser Abschwächung noch als Zeugnisse für das dienen, was
Autor und Leser jener Zeit als Untcrhaltungsleeture ansahen und gelten ließen.
Die Oper; Gesellschaft der Musikfreunde; Konservatorium; philharmonische Con¬
certe; Männergescmgvcreine; Privatconcertc, Quartette; Kirchenmusik.
Wie Mozart am 2. Juni 1781 von Wien aus an seinen Vater schrieb:
„hier ist doch gewiß das Clavicrland", so kann man noch heutzutage sagen:
„Wien ist und bleibt die Stadt der Musik". Wenn auch im Einzelnen gar
manches zu wünschen sein in.ig, der Gesammteindruck zeigt, daß in wenigen
Städten so viele Musikelemcnte vorhanden und thätig sind als eben hier. Dies
gilt wie für die Oper so für Kammer- und Kirchenmusik. Betrachten wir
zuerst das allen Schichten der Bevölkerung gleichwichtige Institut der Oper in .
dem Zeitraume vom 1. Juli d. I. bis zum 15. November.
Obwohl die Oper zur Sommerzeit immer stiefmütterlich behandelt wurde,
artete doch diesmal die Verwaltung in wahren Unfug aus. Die Vorstellungen
im Juli waren mitunter einer Provinzstadt dritten Ranges würdig; die Mit¬
glieder, beurlaubt oder nicht, blieben aus, ganz nach augenblicklicher Laune.
Matthäus Salvi, seit 1861 artistischer Leiter der Opernbühne, dem jeder
Sinn dafür fehlte, die ihm anvertraute Kunstanstalt zu heben und zu veredeln,
wurde endlich Ende September durch Franz Dingelstedt, früheren Inten¬
danten der Grhzl. weimarischen Hvfbühne ersetzt. Zugleich wurde diesem Letzteren
Heinrich Esser mit dem Titel eines ersten Kapellmeisters und Musikdirigen¬
ten als Beirath an die Seite gegeben. Das Personal, wie es gegenwärtig
besteht, bedarf sehr der Sichtung. Manche Mitglieder, die ganz planlos engagirt
wurden, liegen nur der jetzigen Direktion zur Last; manche Fächer sind drei¬
fach, manche garnicht besetzt, ein Hcldentcnor z. V. fehlt gänzlich. Von auf¬
getretenen Gästen wurde u. a. der Tenor Adams von Berlin auf drei Jahre
engagirt. Sichere Intonation, viel Routine, deutliche Aussprache, aber spröde
Stimme sind seine Vorzüge und Mängel. Frl. Bertha Ehnn aus Stuttgart
gefiel als Gretchen, Salica, Agathe allgemein, und man hätte sie lieber gleich
hier behalten, doch fesseln sie ihre Verpflichtungen noch drei Jahre an Stutt¬
gart. Auch Frau P a u ki-Mark o v its aus Pesth. welche als Lucia. Dinvrah,
Katharina (Nordstern) und Jsabella auftrat, sprach in Gesang, Spiel und Er¬
scheinung so an, daß man eben jetzt mit ihr wegen Engagement unterhandelt.
Dagegen vermochte der Tenorist Ferenczy infolge seiner noch immer an¬
gegriffenen Stimme trotz dreier Gastrollen nicht zu reussiren. Auf sechs Mo¬
nate wurde Frau Wild, auf fünf Monate Frl. Murska engagirt. Erstere
zeigte als Norm«, Lucrezia, Leonore (Troubadour) und Donna Anna umfang¬
reiche üppige Stimme, correcten Vortrag, aber Mangel an dramatischem Talent
und geistiger Belebung. Die Gesangsweise der Letzteren ist bekannt: leichte An¬
sprache der hohen Töne, Biegsamkeit einer nicht starken Stimme befähigen sie
vorzugsweise zum kolorirten Gesang, wie sie denn auch als Königin der Nacht,
Dinorah, Katharina, Page Oscar (Maskenball) besonders gefällt. Ein gewisser
krankhafter Beigeschmack ihrer Stimme beeinträchtigt jedoch den Genuß ihres
Gesanges nicht wenig. Von den langjährigen Mitgliedern ist namentlich Frau
Dust manu viel beschäftigt. In mancher Rolle wie z. B. Agathe, Pamina,
Norm« verdient sie volle Anerkennung, während ihr Spiel und Gesang als
Clytämnestra etwas stark ans Unedle streifte. Ein junges Mitglied, Frl. Benza,
bisher nur in kleineren Rollen beschäftigt, hat plötzlich als Iphigenie einen
weiten Vorsprung gewonnen. — Von den Männern sind Walter, Beck und
Dr. Schmid Lieblinge des Publikums; leider war Letzterer durch Krankheit
längere Zeit der Bühne entzogen. Beck, voll Ausdruck im Gesang, lebhaftem
Spiel, mit imposanter Stimme, ist eine Zierde der Oper. Sein Tell, Aga-
memnon, Nelusco sind wahre Musterleistungen. Walter ist der lyrische Sän¬
ger xar excelleueL, der sich das Studium seiner Kunst angelegen sein läßt
und von Jahr zu Jahr Fortschritte zeigt. Rollen wie der Tamino sind für
ihn wie geschaffen. Nvkitansky ist ein tüchtiger Baß; Mayrhofer ein nicht
zu unterschätzendes Mitglied der Oper; er hilft überall aus, singt heute Papa-
geno, morgen Mesisto und so fort Orovist, Plunket, Leporello, und jede Rolle
mit gleichem Eifer. Die Veteranen Erl (Tenor) und Draxler (Baß) stellen
noch immer ihren Mann; freilich sind die Stimmen nicht mehr dieselben wie
vor dreißig Jahren. — Seit Anfang Juli d. I. bis Mitte November waren
mit je einer Oper vertreten: Weber, Spohr, Doppler, Gounot, Rossini,
Gluck und Beethoven; mit je zwei: Mozart, Bellini und Flottow. Donizetti
lieferte 3, Verdi 4 und Meyerbeer 3 Opern. Die meisten Abende hatten Bel¬
lini, Gounot, Donizetti (je 7), Flottow (8), Verdi (13), Meyerbeer (20) in
Anspruch genommen. Von deutschen Opern wurden gegeben: Fidelio, Iphi-
genia in Antis, Nachtlager, Illa, Zauberflöte, Don Juan, Jessonda und
Freischütz. Vergebens sucht man in der besprochenen Zeit nach einer neuen
Oper; die neu in Scene gesetzte Iphigenia war die einzige Heldenthat während
es früher Jahre gab, in denen man 6, 8 ja 12 neue Opern (so 1849) aufführte.
Mit der Aufführung der Gluck'sehen Oper in der Bearbeitung Wagners wurde
ein langgehegter Wunsch aller Musikfreunde erfüllt. Die Oper wurde am
12. Oct. d. I, zum erstenmal wieder gegeben, nachdem sie seit dem 30. März
1810 geruht hatte. Die erste Vorstellung in Wien fand am 14. Dec. 1808
statt, also 34 Jahre nach der Pariser Vorstellung (19. April 1774). In Wien
gab im Jahre 1808 die Rolle der Clytämnestra jene Mlle. Milder, die auch
als Fidelio auftrat. Von ihr schrieb Beethoven 1806 Röckel, dem Sänger des
Florestan: „Morgen komme ich selbst, um den Saum ihres Rockes zu küssen."
Iphigenia sang damals Mlle. Laucher; Agamemnon, den Vogel vorzüglich gab,
war nun durch Reck ebenso vortrefflich besetzt. Die Oper, von Esser mit aller
Sorgfalt einstudirt. fand eine warme Aufnahme. Möchte der Versuch, Glucks
Werke der Stadt in der er vorzugsweise lebte und in der er starb, wieder ins
Gedächtniß zu rufen, nicht vereinzelt bleiben; es gibt viel Schuld an ihn ab-
zutragen. Seine „Alceste", 1781 zum erstenmal gegeben, wurde nur 1782 und
1810 repetirt; „Armida" wurde 1808 zum ersten- und letztenmal aufgeführt;
„Orteo ca LuriSios", neu 1762, wurde nur noch 1782 viermal wiederholt.
Am häufigsten wurde „Iphigenia aus Tauns" gegeben (zuerst 1781 aufgeführt);
noch 1862 trat in dieser Oper der unglückliche Ander auf. Neben Gluck
wäre auch Cherubini nicht ganz zu vergessen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß
dessen „Medea" auch jetzt noch einen großen Eindruck hervorbringen würde.
Fr. v. Voggenhuber, die eben jetzt als Gast in Beethovens „Fidelio" mit
einstimmigem Beifall auftritt, wäre wie geschaffen für die großartige Titel-
Rolle. — Dem Uebelstande, daß in fünf Monaten nur zwei Opern von Mo¬
zart aufgeführt wurden, will man nun abhelfen, indem man „die Entführung
aus dem Serail" neu in Scene setzt. Mit der wiederholten Aufführung der
Zauberflöte hat die Direktion ihrer Kasse eben nicht geschadet. Die Besetzung
ist aber auch eine nicht gewöhnliche; namentlich glänzt Frl. Murska als Königin;
ihre drei Damen zeichnen sich durch prächtige Stimmen aus; Tamino, Pamina
und Papageno sind vorzüglich besetzt; Sarastro imponirt schon durch die Fülle
der Jahre — selbst der Mohr thut seine Schuldigkeit. — Der Bau des neuen
Theaters schreitet rüstig vorwärts; die Tageblätter unterlassen nicht, gewissen¬
haft zu berichten, wie viel Frescogemälde. Decorationen, Stuckatur- und Bild¬
hauerarbeiten schon vollendet sind; nur eins weiß noch Niemand: wie der Bau
in akustischer Beziehung ausfallen wird — die Lebensfrage für ein Opernhaus.
Von den musikalischen Vereinen steht, schon ihres Alters wegen, die Ge.
sellschaft der Musikfreunde obenan. Trotz der Zerwürfnisse im Schooß
dieser Gesellschaft haben deren Concerte unter Herbecks energischer Leitung
doch wieder glänzend begonnen. Von hier aus sind in letzterer Zeit, zum Theil
unter wirksamer Beihilfe des mit der Gesellschaft in Verbindung stehenden
»Singvereins", namentlich größere Schubert'sche Werke zum erstenmal bekannt
geworden. Die Ausführungen von Beethovens großer Messe, Bachs R-moll
Messe und der Matthäus-Passion gehören zum Vollendetsten, was die Gesell-
schaft überhaupt seit ihrem Bestehen geleistet hat. Herbccks Verdienste um die¬
selbe sind oft und in gerechter Weise gewürdigt worden.
Dem von der Gesellschaft geleiteten Konservatorium steht nothwen-
digerweise über kurz oder lang eine gründliche Reform bevor. Das Institut,
von den maßgebenden Kreisen nur spärlich unterstützt, fühlt sich in seiner Ent¬
faltung nach allen Seiten hin beengt. Wahrend das Couservatorium zu Mai¬
land einst eine jährliche Dotation von 37,000 si. in Silber von der sser. Re¬
gierung genoß, muß sich die im Herzen der Monarchie, in einer der Haupt¬
stadt des Landes bestehende Anstalt, in geradezu unwürdiger Weise mit einer kaum
nennenswerthen Unterstützung von Hof und Magistrat begnügen. Und doch
wird einer Anstalt, die den Sinn für Musik in alle Schichten der Bevölkerung
verbreiten, bei zahlreichen Künstlern den Grund zu ihrer künstigen Existenz legen
und neue Talente wecken soll, ganz besondere Wichtigkeit zugeschrieben werden
müssen. Selbst das in Sachen der Musik so oft verschriene England beschämt uns,
die wir doch an der Quelle selbst sitzen, in dieser wie in mancher anderen Be¬
ziehung. Wo fände sich in Wien ein Mäcen, der gleich dem schottischen
General Reed, einem Privatmanne, die Summe von L2.000 Pfd. Stig. zur
Gründung einer Musik-Professur für ewige Zeiten legirte! Das weit abgelegene
Irland preist in seiner Einfalt freilich Länder an, die mehr für Musikbildung
zu leisten im Stande seien, als England. Die Times vom 11. Dec. 1866
berichtete, daß eine Deputation irischer Musikfreunde dem Lord-Lieutenant von
Irland ein Memorial überreichte, um vom Parlament eine angemessenere Unter¬
stützung der Musikacademie in Dublin zu erbitten. Der ehrenwerthe Lord nahm
die Deputation gnädig aus und versicherte, daß er sein Möglichstes thun werde,
eine Sache, die ihn persönlich interessire, zu fördern; müsse er doch eingestehen,
daß die 600 Pfd. Stig>, mit denen die Academie bisher jährlich unterstützt
worden, eine allzu geringe Summe bildeten. „Kein Staat in Europa gäbe
so wenig für solchen Zweck!"
Blickt man das wiener Conservatvriumsgcbäude unter den Tuchlauben auch
nur flüchtig an, so wird man anders urtheilen. Die Uebungssäle sind unzurei¬
chend, die Schulzimmer eng und dumpf, zum Theil mittelst Mauerdurchbruch in
die anstoßenden Häuser, zum Theil in das vierte Stockwerk verlegt, wo die Ge¬
sangsschüler auf schmaler Wendeltreppe keuchend anlangen. Das kostbare Ar¬
chiv, die Bibliothek, ebenfalls über 4 Stiegen untergebracht, sind bei der ge¬
ringsten Feuersgefahr unrettbar verloren; eine besondere Abtheilung des Archivs,
das Nudolsinum, ein großartiges Vermächtniß des verstorbenen Erzherzogs
Rudolf, ist aus Mangel an Platz in einem Nebengemach des Musiksaales auf¬
gestellt, das zugleich als Garderobe und als Rumpelkammer für Tische und
Stühle dient, für Archivzwecke somit kaum zu benutzen ist; zu Kanzlei- und
Direktionssitzungszimmern dienen endlich wahrhaft burgvcrließähnliche Räume.
Fürwahr, wenn je ein Neubau mit Recht herbeigeseufzt wurde, so ist es der
eines neuen Conservatoriums. Mit dem Bau eines solchen ist freilich begon¬
nen worden, nachdem auf dreimaliges Bittgesuch ein ausgiebiger Flächenraum
auf den ehemaligen Glacisgründen bewilligt und auch der Ertrag einer offene-
Wen Lotterie zu gleichem Zwecke angewiesen worden. Der Bau selbst aber
ist so kostspielig angelegt, daß nicht abzusehen ist, wo die Mittel zu seiner Voll-
endung hergenommen werden sollen. Auch steht zu befürchten, daß das Ge¬
bäude als zu abgelegen für Concertzwccke kaum brauchbar sein dürfte; und doch
spielen diese für die Einnahmen des Hauses die Hauptrolle, wie man ja auch
durch Anlegung zweier großer Säle auf dieselben Rücksicht genommen hat. —
Die Philharmonischen Concerte haben auch diesen Winter wieder
ihren doppelten Cyclus auf würdige Weise begonnen. Die Entstehung dieser
Concerte fällt in eine Zeit, zu welcher Opernfantasten von Liszt und Thalberg noch
in voller Blüthe standen. Mendelssohn nur spärlich vertreten war. Schumann
für eine Unmöglichkeit galt. Bach ganz ignorirt wurde. Es war zu Anfang
des Jahres 1842. als einige Kunstfreunde in zufälligem Gespräch den dama¬
ligen Hoftheaterkapellmeister Otto Nicolai zu der Idee anregten, mit seinem
Orchester große Concerte zu veranstalten und die vorzüglichsten Werke der besten
Meister in möglichst vollendeter Weise aufzuführen, zugleich damit aber auch den
Orchestermitgliedern eine hübsche Einnahmequelle zu eröffnen. Das Resultat
war das erste Concert am 28. März 1842, dessen gediegenes Programm die
Männer, welche die Anregung gegeben, geradezu moralisch zwang, das Unter¬
nehmen zu unterstützen. Es wurden aufgeführt: Ouvertüren op. 124, Ouver¬
türe zu Leonore Ur. 3 und die 7. Symphonie von Beethoven; Staudigl sang
eine Arie aus Faniska; Jenny Lutzer eine Concertarie von Mozart (Violine —
Mayseder), Wild und Hasselt-Barth trugen ein Duett aus Medea vor. Die
Aufführungen waren wie aus einem Guß, der Erfolg glänzend. Die Anwesen¬
heit des Hofes, der bis zum Jahre 1848 fast an keinem Abend fehlte, nöthigte
zugleich jene Kreise zur Theilnahme, die in früheren Zeiten die Tonangeber in
Sachen der Kunst gewesen waren. Bis zum März 1847 leitete Nicolai, mit
einmaliger Ausnahme, sämmtliche Concerte, in denen er namentlich alle Beet-
hovenschen Symphonien (die erste abgerechnet) aufführte.
Nach Nicolais Abgang tappte der Orchcstcrkörper nach einem Dirigenten
herum, versuchte es zweimal mit Hellmesberger sorr., je einmal mit Neuling
und Proch; aber sie waren alle nicht im Stande, Nicolai zu ersetzen; die poli¬
tischen Ereignisse jener Zeit ließen ohnehin der Kunst keinen Raum, die Revo¬
lution hatte alle Begeisterung absorbirt. — Endlich zeigte sich der rechte Mann,
diesmal Carl Eckert, unter dem die Concerte mit dem 17. Dezember 1854
wieder begannen, im Herbst 1856 aus dem großen Redoutensaale ins Opern¬
haus übersiedelten und nach einer längeren Unterbrechung (von März 1857 bis
Januar 1860) in steigender Zahl zunahmen, sodaß statt der früheren zwei Con¬
certe nun deren acht jedes Jahr stattfinden. Der jetzige Dirigent Otto
Dcssvff leitet dieselben seit dem 4. Nov. 1860 mit aller Umsicht. Mond.
ten die Philharmoniker neben dem blos Orchestralen auch zuweilen Stücke jener
älteren Opern berücksichtigen, deren vollständige Aufführung uns jetzt versagt
ist. wie z. B. die Finales aus Titus. Idomeneo u. A. —
Für Gesangproduktionen besteht außer dem schon genannten Singvcrein auch
eine Singakademie, die aber erst im Dezember ihre Wirksamkeit wieder auf¬
nimmt. Mit Männergesangvereinen ist Wien fast überschwemmt; den akade¬
mischen Gesangverein ausgenommen überragt jedoch der ursprüngliche erste
wiener Männergesangverein, im Jahre 1844 von Dr. Aug. Schmidt
gegründet, alle andern durch Stimmenanzahl und vollendete Vorträge. Schu¬
bert ist hier durch seine herrlichen Chöre vorzugsweise vertreten und dieselben
werden wohl nirgends mit größerer Vollendung vorgetragen. Dies ist das
Verdienst des jetzigen Hofkapellmeisters Herbeck und daneben des Chormeisters
Weinwurm. Bei der großen Anzahl Gesangskräfte, die Wien besitzt, ist
lebhaft zu bedauern, daß nicht wenigstens einmal jährlich sämmtliche Vereine
sich verbinden, um ein großes, auf Massen berechnetes Oratorium aufzuführen.
Wien besitzt dazu einen Saal, wie kaum eine zweite Stadt — die große Reit¬
schule in der Burg, welche in früherer Zeit der Schauplatz für alle großen
Musikfeste abgab. —
Die Privateoncerte gewinnen diesmal durch Betheiligung der gefeier¬
ten Künstler Joachim, Rubinstein und Brahms einen besonderen Reiz. An
Rubinstein bewundert man wieder wie vor zehn Jahren den unvergleichlichen
Anschlag, die Zartheit und männliche Kraft, welche letztere freilich zuweilen über¬
schauend; man tadelt aber auch die Ungleichheit seiner Leistungen (namentlich
bei fremden Kompositionen), in denen auch das virtuose Element allzusehr her¬
vortritt. Von seinen Kompositionen griffen am meisten sein Clavierconcert
in v-moll, ox. 70 und das H-moIl Trio durch; die kleineren Klavierstücke sind
fast alle unbedeutend, oft seelenlos. Daß des Künstlers umfangreicheren Wer¬
ken meist die Einheit gebricht und daß dieselben in ihrer Ganzheit selten einen
vollkommen befriedigenden Eindruck gewähren, ist schon früher oft beklagt
worden. Man bedauert diese Mängel um so mehr, als man überzeugt ist.
daß denselben abgeholfen werden könnte; überall sind herrliche Anläufe und
Gedanken, deren Wetterführung aber sehr selten auf der Höhe der Intention
bleibt. — Brahms hat mit Joachim zusammen ein Concert gegeben und in
demselben ganz unvergleichlich gespielt; doch scheint er es bis jetzt zu verschmähen,
sich neben seinem Kunstbruder hervorzudrängen. Selbst mit neueren Kompo¬
sitionen war er zurückhaltend; mit um so größerem Interesse sieht man darum
der Aufführung seines neuen deutschen Requiem entgegen. — Joachim hat
wieder einen jener Triumphe gefeiert, wie sie nur solchen vergönnt sind, welche
schon in der Wiege die Weihe als Priester der Kunst empfingen. Sein echt
männliches Spiel, frei von aller eiteln Selbstsucht, sein anspruchloses Auftreten
hat wieder alle Herzen gewonnen. Er will nie glänzen, ihm ist es nur darum
zu thun, das was er vorträgt zum rechten Verständniß der Zuhörer zu brin¬
gen; sein Spiel ist höchster Genuß für Herz und Sinn. —-
Mit besonderer Anerkennung sind die Quartettproduktionen zu
zu nennen, die Concertmeister Hellmesberger alljährlich veranstaltet. Hellmes¬
berger übernahm die Aufführungen nach dem Abgang Jansas, eines ehemaligen
Mitgliedes der k. k. Hofkapelle. Unter ihm hörte Wien im Dezbr. 1843 nach län-
gerer Unterbrechung zum erstenmal wieder öffentliche Kammermusik. In Folge
eines „politischen Vergehens" (man hatte ihn in London zur Mitwirkung in
einem Concert zum Besten der Ungarn gepreßt) wurde Jansa, der in Sachen
der Politik so unschuldig war wie der Vogel in der Luft, seiner Stelle entsetzt
und aus Oestreich verbannt. Dem Manne wurde dadurch hart mitgespielt.
Er büßt seitdem sein Verbrechen in London ab, wo er sich als eingefleischter
Oestreicher doch schwerlich heimisch fühlen wird. Die Mitspieler der Kapelle
haben unterdessen alle gewechselt, Hellmesberger selbst harrt aber auf seinem
Posten aus und trägt nicht wenig zur Verbreitung klassischer Musik bei. Er
war es namentlich, der für Schumann, dessen Musik bis dahin nur schwer in
Wien Eingang fand, plötzlich im Jahre 1832 durch Aufführung eines Quartetts,
das begeisterte Ausnahme fand, Bahn brach. Außerdem hat er die für öffent¬
lichen Vortrag ungeeignet gehaltenen letzten Quartette Beethovens durch vor¬
treffliche Aufführungen dem Publikum zugänglich gemacht. Manches aufkei-
mende Talent, dessen Composttionen bei Hellmesberger zum erstenmal gespielt
wurden, hat durch diesen Förderung und Aneiferung erhalten. —
Was die Kirch cnmusik betrifft, so gibt es kaum eine Stadt, in der soviel
zur Ehre Gottes gesungen, gespielt und geblasen wird, wie Wien. Von den Kirchen
in der innern Stadt steht oben an die Hofkapelle unter Leitung der Hofkapell-
Meister Herbeck und Preyer; .dieser zunächst kommen die Kirchenchöre von
Se. Stephan, Se. Augustin, Se. Anna, Se. Peter, der Dominikaner- und
der nat. National- oder Minoritenkirche. Unter den Vorstädten ist nebst den
Chören zu Se. Carl, Se. Ulrich und einigen andern vorzüglich die Altlerchen-
selderkirche hervorragend, die sich eine wirkliche Pflege der Kirchenmusik ange-
legen sein läßt. In den übrigen Kirchen behilft sich der Regenschori in der
Regel so gut als es die Mittel erlauben; und diese sind bescheiden genug, denn
für die Musik ist eben nur soviel angewiesen, um die.allernothwendigsten Be¬
dürfnisse zu bestreiten. Allzugroße Schwärmerei für Musik kann man der Geist¬
lichkeit überhaupt nicht vorwerfen; wie es damit außerhalb Wiens bei uns be¬
stellt ist, davon hier zwei Beispiele. In einer kleineren Stadt, etwa 12 Stun¬
den von der Residenz, fragte der neu eingetretene gewissenhafte Regenschori am
Vorabend eines Festes seinen vorgesetzten Geistlichen, ob er einen besonderen
Wunsch für die Wahl der Komposition habe. „Führen Sie aus, was und von
wem Sie wollen, aber nur kurz", war die entschttdende Antwort. — Daß ti«
Musik jedenfalls kurz ausfalle, dafür dürfte jener Schullehrer in einem von
Wien nicht allzufernen Dorfe garantiren, dem für die Mufikauslagen an den
Festtagen für das ganze Jahr volle fünf Gulden angewiesen sind! — Die best-
dotirten Kirchen Wiens, unterstützt von musikbedürftigen Dilettanten, führten
in der zweiten Hälfte dieses Jahres Messen, Gradualien, Offertorien auf von
Mozart. Haydn, Beethoven, Cherubini, Schubert, Lindvaintner, Wittasek,
Hummel, Weigi, Eybler, Worzischeck, Salieri. Winter. Preindl, Mercatante,
Kemptner, Umlaufs. Seyler u. A. — Von neueren Namen: Preyer, Roller,
Weiß, Krenn, Gotthardt, Bilzisty, Kummenccker, Wcinwurm. Kloß, Bibl,
Wolff. Lachner, Mendelssohn, Schumann. Zur Fastenzeit werden übrigens in
einigen Kirchen auch die alten Italiener berücksichtigt.
Faßt man alles zusammen, was die Kaiserstadt dem Freunde der Tonkunst
an Theater-Kirchen-Orchester- und Kammermusik bietet, so gilt trotz mancher
Mängel noch immer der Ausspruch einer alten Wienerchronik aus dem 16.
Jahrhundert:
Hier sind vit Singer, saytenspil,
Allerley gsellschaft, freuten vit;
Mehr Musicus vnd Instrument
Finde man gewißlich an kamen End.
Niemand, der aufmerksam um sich schaut, kann sich darüber täuschen, daß
wir einen bösen Winter vor uns haben; ich meine augenblicklich nicht hin¬
sichtlich der hohen Politik und Kriegsgefahr, sondern in materieller Beziehung.
Die Ernte die im größten Theile Deutschlands und namentlich in Oestreich
reichlich gewesen, war in Frankreich und England ungenügend. Die Farmer
machen dabei allerdings vortreffliche Geschäfte, denn sie bekommen durchschnitt¬
lich 1 Pfd. Stig. mehr für den Quarter Weizen als voriges Jahr, und man
hört von allen Seiten, daß sie Hypotheken kündigen und Schulden bezahlen'
aber man bedenke, was diese Verteuerung, welche für die Hauptkornarten in
England gewiß auf etwa 20 Millionen Pfd. Strlg. anzuschlagen ist, für die
arbeitenden Classen bedeutet! Schon jetzt im Anfang des Winters sind die
Brodpreise auf eine lange nicht gekannte Höhe gestiegen, wir haben in Exeter,
Oxford u. s. w. ernste Brodkrawalle gehabt und werden uns auf noch schlimmere
gefaßt machen müssen. Dabei liegen Handel und Wandel danieder, Kaufleute,
Fabrikanten und Arbeiter klagen gleichmäßig über den Stillstand des Verkehrs,
der nun schon 12 Monate dauert und selbst die Steuereinnahme» herabgedrückt
hat; 21 Millionen Pfd. Strlg. Gold liegen müsstg in der Bank, der Disconto
für kurze Wechsel ist auf 1'/- Pro Ce. gesunken, auf langaussehende Unter¬
nehmungen läßt sich niemand ein, die kleinern Fabriken in Lancashire stehen
fast still, größere arbeiten mit Verlust; im Osten Londons, in Manchester, Bir¬
mingham, Sheffield ist die Noth schon jetzt groß, wie wird es im Fortgang des
Winters werden, der so früh begonnen? — Und diese Noth hätte zu keiner un¬
günstigeren Zeit kommen können wie zur jetzigen; schon vorher hat sich in weiten
Kreisen ein Geist der Gesetzlosigkeit kundgegeben, der ernste Besorgnisse erregen
muß. Die Sache sing vor 18 Monaten mit jenem Krawall in Hr/depart an,
ein ernstes Einschreiten der Regierung hätte wahrscheinlich schnell die Ruhe her¬
gestellt, aber der schwache Walpole drohte, bat. weinte und ließ schließlich ge¬
währen! „Großer Gott." rief ein einsichtiger Mann, als er von ferne den
Pöbel die Gitter des Parks einreihen sah, „das sollen unsere zukünftigen
Herren sein!" Als die Herren von der Ncformliga: Brales, Bradlaugh und
Konsorten sahen, wie schwach die Negierung sich zeigte, gingen sie um so
rüstiger vor, im December wurden Masscnprozessioncn für die Reform organisirt,
dann gegen Frühjahr ein Monstremceting in Regentpark, wogegen das Ministe¬
rium ein Verbot erließ, um dasselbe bald darauf zurückzuziehen; es brachte darauf
eine Bill ins Unterhaus, welche Politische Meetings in den Parks verbot, gab
sie aber bei der ersten Opposition auf. Das stärkste Stück jedoch spielte kürz¬
lich im Ministerium des Innern. Eine Massendcputation erschien dort unter
Führung eines gewissen Finlan, um eine Petition für die verurteilten Fenier
zu überreichen. Der Minister ließ dieselbe entgegen nehmen, lehnte es indeß
ab, die Deputation persönlich zu empfangen: darauf stürmt die Menge in das
Haus, überwältigt die Diener, setzt sich in Besitz eines Saales und hält dort
ein Jndignationsmeeting! Die Regierung aber läßt alles geschehen, rührt sich
nicht und versucht nicht einmal einen Prozeß gegen die Rädelsführer! — Statt
energisch solchen Ausschreitungen entgegen zutreten, macht das Toryministerium
den Arbeitern den Hof, organisirt konservative Arbeiterbankette, bei denen Lord
John Manners und Disraeli ihr volles Vertrauen zu der politischen Einsicht
der Massen erklären. Die Mehrzahl der arbeitenden Classen läßt sich übrigens
durch solche Manöver nicht blenden und glaubt nicht an den Humbug. daß die
Tones die rechten Volksmänner seien, Disraeli ist ihnen Wohl ein monstrous
elever tellon, aber Vertrauen zu ihm haben sie nicht. Freilich ist auch auf der
andern Seite kein Führer, dem die Nation unbedingt zu folgen geneigt wäre.
Stände jetzt eine Neuwahl des Unterhauses nach der Reformbill bevor, so
dürfte die politische Erregung, welche sie unzweifelhaft hervorrufen würde, als
Ableiter für die sociale Gährung dienen, aber der kluge Benjamin hat absicht¬
lich die schottische und irländische Reformbill bis zum nächsten Jahr verschleppt,
um so länger am Nuder zu bleiben. Auch in materieller Beziehung wirkt die
Reformbill übel, sie hat bekanntlich den sogenannten comxouliä lrouselroläer
abgeschafft, der seine Gemeindesteuern durch einen Durchschnittszuschlag auf die
Miethe bezahlte. Jeder Hausbewohner soll jetzt seine Steuern persönlich zahlen;
als Folge zeigt sich, daß die Hauseigenthümer, angeblich weil die Preise der
Lebensmittel so sehr gestiegen, durchgängig dieselbe Summe als reine Miethe
verlangen, welche bisher den Steuerabschlag einbegriff, sodaß die Leute ihre
Steuer noch außerdem zu bezahlen haben. Das muß die Unzufriedenheit noth'
wendig steigern, denn woher sollen die ärmern Classen bei schlechtem Verdienst
das Geld für solchen Mehrbedarf nehmen? Mit dem Geschrei gegen Bäcker
und Fleischer, das die Times erhoben und das in allen Provinzialblättern sein
Echo gefunden, ist auch nichts gethan, so lange nicht Mittel angegeben werden,
billigeres Brod und Fleisch zu erhalten; es reizt die Proletarier nur zu Kra¬
watten, die besonders deshalb gefährlich sind, weil sie für den Augenblick lokal
zu helfen scheinen, indem die bedrohten Händler in der Angst um ihr Leben,
sich vorübergehend oft damit helfen, mit Verlust zu verkaufen. Nehme man
zu diesem allen noch die Anarchie der Trabes-Unions und den Fcnianismus,
so wird die Behauptung kaum gewagt erscheinen, daß seit langer Zeit kein
Winter unter so drohenden Vorzeichen begonnen hat. Nach allen Nachrichten
scheinen die Dinge in Frankreich nicht viel besser zu stehen.
Während sich die Theilnahme der sächsischen Staatsbürger an den Vor¬
gängen des letzten Reichstags auf gewisse Kreise beschränkt hat, die sich nach
Ansicht der Partikularistischen Partei mit der Regierung in die Verpflichtung zur
Bundestreue zu theilen haben, ist die Aussicht auf eine „Parlamentsreform"
im Königreich Sachsen allenthalben mit ziemlich lebhafter Theilnahme aufge¬
nommen worden. Gerade diejenigen Parteien, welche von der norddeutschen
Bundesverfassung am wenigsten wissen wollten, haben sich am lebhaftesten be-
eifert, das von derselben adoptirte allgemeine Stimmrecht für ein deutsches,
beziehungsweise sächsisches Grundrecht zu erklären, dessen Anerkennung die Vor¬
ausbedingung zum Friedensschluß in der sächsischen Verfassungsfrage sei. Freilich
soll die Diätenlosigkeit, durch welche jenes Stimmrecht seine Beschränkung
erhält, nicht aus der Bundesverfassung mit hinüber genommen werden, denn
die Männer der Volkspartei, die eigentlichen Träger der Bewegung, sehen
den Anspruch aus Vergütung der von den Volksvertretern für das Wohl des
Vaterlandes aufgewandten Zeit und Mühe, für eines der theuersten Güter
deutscher Volksfreiheit ein. Mit einem Eifer, den man der Sache des gesamm-
ten Vaterlandes oft genug s.,buldig geblieben ist und dessen eigentlichen Nerv
das erhebende Bewußtsein bildet, es handle sich diesmal um eine specifisch
sächsische Sache, in welche das übrige Deutschland nichts drein zu reden habe,
wird gegen dieselbe Negierung, deren „Freisinn" man häufig genug dem preußi¬
schen „Junkerthum" anzupreisen für nothwendig hielt, agitirt und discutirt. Die
Gewohnheit, die Angelegenheiten des Cantons für die eigentlichen Lebens¬
fragen anzusehen, hat unbeschadet der Thatsache, daß den lokalen Landtagen
seit Errichtung des neuen Bundes blos beschränkte Bedeutung innewohnt, ihr
altes Recht geltend gemacht, und wie in den Zeiten des durchlauchtigen deutschen
Bundestages steht wieder der Kirchthurm im Mittelpunkt aller Interessen. Dem
berechtigten Streben nach Abstreifung der Fesseln, in welche die Bcustsche Ver¬
fassungsänderung die sächsische Volksvertretung geschlagen hat, mischen sich Mo¬
tive der zweifelhaftesten Art zu, man fühlt sich bereits in die „besseren Tage"
versetzt, deren Wiederkehr der „Kalender der sächsischen Militärvereine" noch
neuerdings so zuversichtlich prophezeit hat, und es ist wie eine Symbolik der künf¬
tigen vielköpfigen Herrlichkeit, daß die Zahl der verschiedenen Meinungen über die
brennende Frage bereits fast so groß wurde, als die der streitenden Köpfe.
Die Hauptschuld daran, daß das projektirte neue Wahlgesetz zu einer Agitation
Veranlassung gegeben hat, deren Ziel und Zweck manchen Agitatoren selbst unklar
ist, trägt aber nicht das sächsische Volk, sondern dessen Vertretung und zwar die
erste Kammer. Die blinde Leidenschaftlichkeit, mit welcher eine Pairie, die in
Wahrheit jeder wirklichen Grundlage ihrer Ansprüche auf selbständige Bedeu¬
tung entbehrt, den Kochschcn Anträgen begegnet ist, war in der That dazu
angethan, die Erbitterung des Volks zu provociren und dasselbe im voraus
gegen die Reformpläne mißtrauisch zu machen, mit denen sich die Negierung
trug. Als diese veröffentlicht wurden, mußten sich alle, die an den öffentlichen
Angelegenheiten überhaupt Antheil nahmen, sagen, daß eine Reform, welche der
ersten Kammer im wesentlichen ih ren bisherigen Bestand sicherte, alle Concessio¬
nen an das Volksbedürfniß, welche der zweiten Kammer gemacht wurden,
illusorisch erscheinen lasse. Daß die Gesichtspunkte für eine billige Beurtheilung
der Reformbill von vornherein verschoben wurden und alle liberalen Parteien
erklärten, sie wüßten mit dem neuen Wahlgesetz nichts anzufangen, war unter
solchen Umständen begreiflich.
Bevor wir in eine Prüfung des materiellen Inhalts der Vorschläge zur
Lösung der sächsischen Verfassungsfrage eintreten, wird es nothwendig sein, das
Verhältniß derselben zu dem norddeutschen Bunde und dessen Parlament ins
Auge zu fassen. Erst wenn wir wissen, ob auf die Mitwirkung außersächsischer
Faktoren zu rechnen ist oder nicht, werden wir die Grenze des zur Zeit in dieser
Angelegenheit Erreichbaren abzustecken im Stande sein.
An und für sich wäre es wünschenswert!), eine Angelegenheit, welche den
nächst Preußen größten Staat des norddeutschen Bundes betrifft, auf dem
Forum dieses Bundes zu entscheiden. Jener sächsischen Demokratie, welche den
Bund als Feigenblatt des Absolutismus verabscheut, würde die Gelegenheit
geboten werden, sich davon zu überzeugen, daß der deutsche Staat auch ein
Anwalt deutscher Freiheit ist während das kleinstaatliche Interesse mit dieser
nichts zu thun hat. Wie die Dinge zur Zeit liegen, entbehrt die Annahme,
der Bundesrath oder der Reichstag würden sich zu einer Theilnahme an der
Losung des „Conflicts" herbei lassen, aber aller thatsächlichen Begründung. Die
Resolution, durch welche die bekannte mecklenburger Petition abgelehnt wurde,
hat bewiesen, daß die Stunde noch nicht gekommen ist, in welcher der Bund
ein wirksames Eingreifen in die inneren Angelegenheiten seiner Glieder für
geboten hält, daß man sich vor Lösung der süddeutschen Frage darauf beschrän¬
ken will, die deutschen Gesammtangelegenheiten in einer Weise zu ordnen, welche
der Würde unsrer Nation entspricht. Es erscheint uns darum zweifellos, daß die
Motive, welche zur Ablehnung der mecklenburger Petition führten, Sachsen gegen¬
über in erhöhtem Maße zur Geltung kommen müssen, daß eine „motivirte"
oder „unmotivirte" Tagesordnung die einzige Antwort wäre, auf welche wi-
llt Berlin zu rechnen hätten. Der Effekt, den eine solche auf die specifisch
sächsischen Liberalen und Demokraten,ausüben müßte, erräth sich von selbst und
würde der nationalen Sache sicher nicht zu gute kommen. Seine Ungunst
würde auch dann nicht gemindert, wenn sich vielleicht ein Theil der Reichstags¬
glieder der Sache des sächsischen Volkes annimmt, einige Reden über die un¬
glücklichen Folgen des Beustschen Regimes gehalten, vielleicht gar einige das
Volksrecht anerkennende Motive der Resolution auf Tagesordnung beigefügt
werden. Die Bedeutungslosigkeit von Erfolgen dieser Art ist durch die Geschichte
des parlamentarischen Lebens in Deutschland in so zahlreichen Fällen bewiesen
worden, daß es neuer Belege für dieselbe nicht erst bedarf, wenigstens für dieje¬
nigen nicht, denen es bei der Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten um
die Erreichung realer Zwecke zu thun ist, Mit den für und wider eine säch¬
sische Petition gehaltenen Reden, den Zeitungsberichten, Leitartikeln, Telegram-
um über dieselben wird an der Sache selbst nichts geändert und die Freude
über einen den Gegnern bereiteten Aerger würde reichlich aufgewogen durch den
Verlust an Einfluß, der die Folge jedes Mißerfolges ist.
Läßt sich von einem Appel an die Beihilfe der Bundesgewalt in der vor¬
liegenden Angelegenheit nichts hoffen, muß dieselbe innerhalb Sachsens ausge¬
tragen werden, so wird sichs zunächst um eine Entscheidung darüber handeln,
ob die von der Regierung gemachten Vorschläge zur Basis weiterer Verhand-
lungen dienen können oder nicht. Betrachten wir das neue Wahlgesetz, insoweit
es sich aus die zweite Kammer bezieht und lassen wir das Haus der sächsischen
Lords zunächst aus dem Spiel, so kann diese Frage unserer Anschauung nach
bejaht werden. Die Hauptmangel der alten Verfassung, der Bezirkszwang und
die einseitige Vertretung der Berufsstände sind gefallen, die indirekten Wahlen
in direkte verwandelt worden. Das Hauptargumcnt, welches die Demokratie
gegen das neue Wahlgesetz anführt, das Fortbestehen eines Census, können wir
für keinen Nachtheil halten, zumal wenn das allgemeine Stimmrecht Hand in
Hand gehen soll mit der Beibehaltung der Diäten. Das allgemeine Stimmrecht,
welches für die Wahlen zum Reichstag besteht, ist noch für keinen einzigen
Locallandtag eingeführt worden und wir haben allen Grund zu der Annahme,
daß das nicht so leicht geschehen, die Beschränkung des Wahlrechts zu den terri¬
torialen Landtagen vielmehr als heilsames Korrektiv gegen die Gefahren auf¬
recht erhalten bleiben werde, welche das allgemeine Stimmrecht unzweifelhaft
im Gefolge hat. Dazu kommt, daß der von der sächsischen Regierung vor¬
geschlagene Census ein außerordentlich niedriger ist und bei dem Fortbestehen
der Diäten für einen der liberalsten in ganz Deutschland gelten kann. Durch¬
aus verwerflich erscheint uns dagegen, daß die Regierungsvorlage an dem
Unterschiede städtischer und ländlicher Wahlbezirke festhält und auf die Hin¬
wegräumung dieser Verletzung des constitutionellen Princips sollten die säch¬
sischen Liberalen ihr Hauptaugenmerk richten und dasselbe zu einer Bedingung
weiterer Verhandlungen machen. Bei der Zähigkeit, mit welcher alle specifisch
sächsischen Parteien an der Beibehaltung der Diäten hängen, scheinen uns die
Anstrengungen zu Gunsten des allgemeinen Stimmrechts von vornherein über-
flüssig zu sein, da sie an dem entschiedenen Widerspruch der Regierung scheitern
müssen, und man thäte darum wohl, sich mit dem in Vorschlag gebrachten niedri¬
gen Census zu begnügen. An diesem festzuhalten scheint uns um so noth-
wendiger zu sein, als die Wirksamkeit jeder sächsischen Parlamentsreform von
der Beseitigung der ersten Kammer abhängig ist, gegen diese aber nur
Sturm gelaufen werden kann, wenn die Zusammensetzung der zweiten für eine
gehörige Vertretung auch der conservativen Interessen Garantien bietet.
Einer der verhält^nißvollsten Irrthümer, welche der deutsche Parlamen¬
tarismus, zumal der klcinstaatliche aus den Zeiten herüber genommen hat, in
denen die falschen Montesquieuschen Vorstellungen von dem Wesen der englischen
Verfassung noch maßgebend waren — ist die Lehre von der absoluten Noth¬
wendigkeit des Zweikammersystems gewesen. Die Vorzüge desselben zu ver¬
kennen sind wir weit entfernt — von diesen Vorzügen kann aber nur die Rede
sein, wenn jede der beiden Kammern wirklich vorhandene Interessen, lebendige
Factoren des Staatslebens reprcisentirt. An dem gehörigen Material zum Auf¬
bau einer ersten Kammer, an Vertretern eines großen selbständigen Grund¬
besitzes und einer vom Hofdienst unabhängigen Aristokratie hat es wie in der
Mehrzahl der deutschen Staaten, so auch in Sachsen vollkommen gefehlt, weil
es in dieser Beziehung nichts zu vertreten gab. In der ersten sächsischen Kam¬
mer sitzt eine Anzahl Leute beisammen, die durch kein besonderes Interesse mit
einander verbunden sind, die, wenn die Session geschlossen ist, Nichts mehr mit
einander gemein haben, die sich durch nichts von den übrigen Staatsbürgern
unterscheiden und keine selbständige Macht im Staatsleben repräsentiren. Im
Wesen und Begriff der Volksvertretung liegt es aber, daß dieselbe ein Abbild
der im Staatsleben wirklich thätigen Elemente bilde. Nach der Macht, welche
durch die erste sächsische Kammer reprcisentirt wird, sehen wir uns im wirklichen
Leben aber vergeblich um. Welche Rolle spielt das Hochstift Meißen, welche das
Collegiatstift Würzen für die Entwickelung Sachsens? Welche politischen Inte¬
ressen sind durch den dresdner Oberhofprediger, den leipziger Superintendenten
oder den bautzener Stistsdetan vertreten? Welchen Sinn hat es, daß sechs
städtische Bürgermeister der sächsischen Pairie zugezählt werden, während das
Wohl ihrer bereits in der zweiten Kammer vertretenen Städte mit dem aller
übrigen Theile des Landes vollständig zusammenfällt? Worauf endlich stützt sich
die Ausnahmestellung der 22 Rittergutsbesitzer, welche dieser Körperschaft an¬
gehören? Ein Land, in welchem es keine Aristokratie gibt, in welchem der
Grund und Boden in tausende mittelgroßer Güter zerschlagen ist, der Adel fast
nur noch aus einer Summe meist vermögensloser Staatsbürger besteht, die
bei Vertheilung der Offiziers- und Beamtenstellen bevorzugt zu werden ge¬
wohnt sind, muß der Natur der Sache nach auf ein Oberhaus verzichten.
Die eigentlich herrschende Classe ist die der Inhaber des beweglichen Vermögens,
und daß diese in die Volkskammer und nicht in die Pairie gehört, steht in
jedem politischen A-B-C-Buch. Die erste Kammer ist thatsächlich nie mehr
gewesen, als eine Vertreterin des Partikularismus und der gouvernementalen
Bequemlichkeit — was das Land an unabhängigen, selbständige Interessen re-
präsentirenden Kräften besaß, hat, wenn es überhaupt sich am öffentlichen
Leben betheiligte, in der zweiten Kammer Platz genommen. Daß in Zukunft
nur die Hälfte der vom Könige lebenslänglich ernannten Pairs aus Ritterguts¬
besitzern bestehen soll, ändert an der Sache nichts. Vertreter „großer Inter¬
essen", wie die Sachs. Zeitung es nannte, sind in Sachsen nur unter den
Industriellen, den Männern des beweglichen Vermögens zu^ finden und diese
gehören ebenso wenig in die erste Kammer, wie die in Vorschlag gebrachten
Vorsteher der bedeutenderen Handelskammern oder die Bürgermeister.'
Steht es somit fest, daß eine wirkliche Pairie, eine aus aristokratischen
Elementen bestehende erste Kammer in Sachsen nicht beschafft werden kann, und
daß das, was gegenwärtig diese Stelle einnimmt, nur zu leicht Interessen ver¬
treten wird, welche denen der wirklich herrschenden Classe zu wiberlaufen, so
bleibt nichts übrig, als aus das Zweikammersystem zu verzichten. Die für die
Beibehaltung der ersten Kammer seitens der Regierung angeführten „Gründe"
beschränken sich aus die Versicherung, die Zusammensetzung derselben „sei eine
ähnliche wie in allen übrigen constüutioncllcn Staaten" — Deutschlands fügen
wir hinzu, denn Sachsen mit selbständigen Staaten, wie England, Frankreich,
Schweden u. s. w. zu vergleichen, kann unsere Regierung nicht wohl beabsich-
tigt haben. Die Mehrzahl der kleinen deutschen Staaten begnügt sich aber
thatsächlich mit je einer Kammer und was die größeren Staaten anlangt, so
scheint — ganz abgesehen davon, daß mit den Herrenhäusern derselben wenig er¬
freuliche Ersahrungen gemacht worden sind — eine Berufung auf sie nach dem
isatze, daß die quantitative Verschiedenheit schließlich in eine qualitative „um¬
schlägt", durchaus unrathsam zu sein. Sachsen gehört eben zu den kleineren
deutschen Staaten und ist als solcher von den größeren auch „qualitativ" ver¬
schieden. Daß seinen Institutionen, durch Uebergang zum Einkammersystem
der „Charakter eines selbständigen Staatswesens" genommen würde, müssen
wir aus doppelten Gründen leugnen: einmal besteht' diese Selbständigkeit seit
dem I. 1866 thatsächlich nicht mehr und zweitens hat dieselbe mit der Frage
„Ein oder Zweikammersystem" absolut nichts zu thun. Ein Staat kann trotz
zweier Kammern unselbständig und mit einer Kammer selbständig sein, der
Staatsbegriff wird durch den Modus der Volksvertretung nicht geändert.
Wie wir die Dinge ansehen, sind alle liberalen Parteien des Landes in
gleicher Weise dabei interessirt, den Fortbestand der ersten Kammer, die von je
ein wesenloses Ding gewesen ist, zu verhindern. In diesem Sinne wäre auf
die Regierung und auf die Volksvertretung einzuwirken; besteht die erste Kammer
fort, so'bleibt jede sächsische „Parlamentörcform" illusorisch—wird dieselbe dagegen
beseitigt und versteht die Regierung sich dazu, den Unterschied zwischen städtischen
und ländlichen Wahlbezirken fallen zu lassen, so ist das wahre Interesse des
Volks gewahrt, und verliert die Agitation für Abschaffung der Censuöbeschrankung
jeden Sinn. Voraussichtlich wird aber weder das eine noch das andere geschehen
und aus diesem Grunde die ganze Angelegenheit in Sand verlaufen. Kann die
Regierung doch bei der gegenwärtigen Besetzung der Kammern darauf zählen,
daß dieselben, unbekümmert um die'Wünsche der Bevölkerung, den Entwurf ge¬
nehmigen, höchstens den Versuch machen werden, demselben einige angeblich „ra-
dicale" Spitzen abzubrechen! — Die Zehner-Kochsche Angelegenheit hat deutlich
bewiesen, daß die sächsische „Pairie" ein von der übrigen Bevölkerung geson¬
dertes künstliches Leben führt und den freiheitlichen Bedürfnissen des Volks
ebenso fremd ist, wie den nationalen. Ihr Fortbestand läßt alle Veränderungen
w der zweiten Kammer unwichtig erscheinen. Was die sächsische Demokratie
anlangt, so ist dieser wiederum mehr darum zu thun, auf Grund des allgemei¬
nen Stimmrechts erwählten radialer „Jdealpoiitikern" auf die parlamentarische
Tribüne zu verhelfen, als eine Volksvertretung zu schaffen, welche im Stande
^äre, die realen Interessen des Landes in wirksamer Weise zu verfechten.
Wir würden dem angefachten Streit darum ziemlich hoffnungslos zusehen,
büßten wir nicht, daß'die Zukunft Sachsens wie die Deutschlands durch andere
Factoren, als jene heimischen Whigs und Tones bestimmt werden wird.
Liebesgeschichten. Neues aus den alten vier Wänden von Rudolf Reiche-
nau. Zweite Auflage. (Verlag von F. W. Grunow, Leipzig.)
Der Verfasser hat in dem vorliegenden Buch eine Fortsetzung seiner anmuthigen
Skizzen „Aus den vier Wänden" geliefert, welche bereits in der neunten Auflage
vorliegen. Dieselben Gestalten, denen wir in der „Kinderstube", auf den Spielplätzen
der „Knaben und Mädchen" „auswärts und daheim" begegnet waren, treten uns
„in den Liebesgeschichten" als Jünglinge und Jungfrauen entgegen und werden
bis an die Schwelle des reiferen Lebens geleitet. Auch der Verfasser ist der alte
geblieben und weist dieselben Vorzüge aus, welche er in seiner früheren Schrift zur
Geltung brachte: Einfachheit, Frische und Herzlichkeit der Empfindung, anspruchslose
Genügsamkeit an dem, was sich durch alle Wandlungen des Staats- und Gesell-
schaftslebens gleich bleibt, — der Welt des Hauses und Herzens. Ihre eigenthüm¬
liche Anziehungskraft hatten die Bilder „aus den vier Wänden" dadurch ausgeübt,
daß sie auf das von vielen Einflüssen des modernen Lebens unberührt gebliebene
rein Menschliche, die Freude an Haus und Kindern zurückgegangen waren und im
voraus darauf verzichtet hatten, über den Kreis der „seligen Verschollenheit" hin¬
auszugreifen, in welchem das Kind lebt. Mögen alle Verhältnisse des äußeren
Lebens dem Wandel unterworfen sein, die Freude und Sorge an den Kindern
bleibt dieselbe; Knaben und Mädchen üben die jugendlichen Kräfte an denselben
Spielen, haben beim Eintritt in das wirkliche Leben mit denselben Irrthümern und
Schwierigkeiten zu kämpfen, streben während der Ucbcrgangsjahre in derselben Weise
nach weitauseinandcrliegendcn Zielen, um sich schließlich zu einem Bunde zusammen¬
zufinden, wie der ihrer Eltern war.
"
Auch in den „Liebesgeschichten hat sich Reichenau bemüht, diese Grenzen mög¬
lichst festzuhalten und diejenigen Gebiete des Lebens, welche außerhalb des Kreises
der Idylle liegen, nur flüchtig zu berühren. Der Natur der Sache nach müssen
aber bei Schilderung der Beziehungen zwischen Jüngling und Jungfrau die
Einflüsse der modernen Cultur stärker berücksichtigt werden, als bei Schilderun¬
gen aus dem Kinderleben. Im allgemeinen ist dies in richtiger und geschmack¬
voller Weise geschehen; der Abschnitt „Eveline vormals Evchcn" entwirft z. B. ein
recht anmuthiges Bild von der Verwirrung, welche die Beschäftigung mit den Erzeug¬
nissen der modernen Lyrik in dem Gehirn eines jungen Mädchens anrichten kann.
Bei der Beschränktheit des Vorwufs hat die Darstellung nicht immer Wiederholungen
und einzelne Monotonien vermeiden können, in der Regel die Klippe, an welche der
Nachen der Idylle stößt. Der gesunde Sinn des Verfassers hat sich aber auch darin
bewährt, daß das Büchlein auf einen bescheidenen Umfang beschränkt geblieben ist
und mit dem Zeitpunkt schließt, wo auch im wirklichen Leben die idyllische Lebens¬
auffassung aufhören muß, bei der Eheschließung.
Mit Ur. K beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im December 1867.Die Werlagshandlnng.
Die jüngsten Vorgänge in den russischen Ostseeprovinzen Liv-, Est- und
Kurland haben das Interesse der deutschen Presse in ungewohnt lebhafter Weise
in Anspruch genommen. Ohne Unterschied der Partcifarbe haben berliner und
Münchner, groß- und kieindeutsche, demokratische und hochconservative Journale
von den Vorgängen Act genommen, welche bestimmt waren, die deutsche Ge¬
schäftssprache jener Länder zu Gunsten der russische» abzuschaffen, der Einfüh¬
rung russischer Schulen die Wege zu bahnen u. s. w. Der Natur der Sache
nach ist der Werth dieser Mittheilungen ein sehr ungleicher gewesen: namentlich
die Kreuzzeitung, die Augsb. Allg., die Kölnische Zeitung u. A. haben sofort
die richtigen Gesichtspunkte für Beurtheilung der eigenthümlichen Verhältnisse
des Ostseclandes zu finden gewußt. Die Einstimmigkeit aber, mit welcher die
deutsche Presse sich der versprengten deutschen Colonie im baltischen Norden an¬
nahm, hat in erfreulicher Weise bekundet, daß das deutsche Nationalgefühl an
Weitsichtigkeit und Selbstbewußtsein zugenommen hat.
Fraglich aber dürfte es erscheinen, ob und in wie weit diese Aeußerungen
berechtigter Theilnahme an dem Geschick eines in das deutsche Rechts- und Cul¬
turleben gezogenen Landes, den Liv-, Est- und Kurländcrn von praktischem
Werth in ihrem Kampfe gegen die moskauer Nationalpartei gewesen sind. So
heilsam es wirken muß, wenn die deutsche Presse für das gute Recht der balti¬
schen Deutschen eintritt und die Schädigung desselben als mit dem Geist des
Jahrhunderts und dem eigenen Interesse Rußlands unverträglich bezeichnet, ebenso
Zweckwidrig, ja schädlich würde es wirken, wenn einzelne Stimmen zu einer diplo¬
matischen Intervention des norddeutschen Bundes drängten oder — wie es neuer¬
dings geschehen ist — der preußischen Regierung einen Vorwurf daraus machten,
daß sie das protestantisch-deutsche Element an der russischen Westgrenze nicht direct
unter ihren Schutz genommen. Zunächst kann als zweifellos angesehen werden, daß
eine officielle diplomatische Intervention, auch wenn sie auf einen Notenwechsel
beschränkt blicke, unter allen Umständen eine Trübung der immerhin erträglichen
Beziehungen Preußens zum russischen Cabinet zur Folge haben würde. Sie
würde außerdem die Schwierigkeiten, welche Einmischungen in die inneren Verhält¬
nisse eines fremden Staats immer bereiten, im Gefolge haben; sie würde endlich,
wenn sie zu ernsteren Verwickelungen führte, in Deutschland selbst mehr Gegner
als Freunde finden. Seit Preußen in die Reihe der mächtigsten Staaten Eu¬
ropas getreten ist, verlangt seine Würde, daß die Regierung, wenn sie eine
diplomatische Action überhaupt aufgenommen, dieselbe rücksichtslos zu Ende
führe und keine andere als die Sprache des „entweder oder" rede. Etwas anders
ist es freilich, wenn eine befreundete Regierung der andern in vertraulicher Weise
ihre Wünsche und Ansichten über die Jnconvenicnz einzelner Maßnahmen mittheilt;
solche Einwirkung würde durch öffentliche Besprechung in diesem Falle aber nicht
gefördert werden. Den Argwohn Rußlands zu reizen und das Mißtrauen der
moskauer Nationalpart-i gegen die Loyalität der Liv-, Est- und Kurländer
wachzurufen, würde aber zu allen Zeiten ein Unrecht involviren.
Gerade weil es der Machtzuwachs Preußens gewesen ist, der die Besorg¬
nisse der moskauer Demokraten für den Besitz des Ostscelandes wachgerufen
hat, wird die deutsche Presse klug handeln, wenn sie auf die nationale russische
Empfindlichkeit Rücksicht nimmt und ihre berechtigte Theilnahme für das Ge¬
schick der gefährdeten Stcuumesgcnossen von dem Charakter politischer Drohung
frei hält Die Wickung eines in Deutschland zu Gunsten der Ostseeprovinzen
gesprochenen Wortes wird um so größer und nachhaltiger sein, wenn dieses Wort
sich auf das in der Gegenwart Erreichbare beschränkt.
Die schlimmste Folge all zu eifriger Forderungen an die Thätigkeit der
preußischen Regierung ist aber die, daß dieselbe zu einer Unterschätzung des
deutschen Elements in Liv-, Est- und Kurland verleitet wird, welche in Ru߬
land ein tausendfaches Echo findet und denen, die man zu unterstützen wünschte,
den größten Schaden bringt. Das hat sich bei Gelegenheit der Kammerdcbatte
über das Budget für das Ministerium des Auswärtigen in peinlicher Weise
gezeigt*) und zu Erörterungen geführt, welche im Interesse der preußischen Re¬
gierung wie in dem der baltischen Protestanten besser unterblieben wären. Wir
fürchten, die Antwort, welche der Ministerpräsident auf die indirekte Jnterpella-
lion des Herrn Löwe-Calbe gab, hat — zuverlässig gegen die Absicht des Grafen
Bismarck selbst — der deutschen Sache in den baltischen Provinzen bereits ernsten
Schaden gethan.
Unserer Ansicht nach ist zu wünschen, daß die deutsche Presse fortfahre,
mit warmer Theilnahme das Geschick unserer Landsleute in den Ostseeprovinzen
zu begleiten und ihre Rechte zu vertreten, daß aber weder Presse noch Lan-
desvertretung zur Zeit die Bundesregierung zu officiellen Schritten zu drängen
suche. Was nach dieser Richtung geschehen kann, wird, wie die Dinge liegen,
um so wirksamer sein, jemehr es sich öffentlicher Verhandlung entzieht. Gerade
wer der moralischen Unterstützung praktische Wichtigkeit zuschreibt, möge daran
denken, daß die deutsche Presse den baltischen Landsleuten nur dann wahrhaft
nützen kann, wenn ihre Forderungen mit den Interessen Preußens in Einklang
gebracht werden und mit den wahren Interessen derer, denen geholfen wer¬
den soll.
E. Pfeiffer, die Staatseinnahmen. Geschichte, Kritik und Statistik
derselben. Stuttgart und Leipzig, A. Kröner.
Kaum ein Jahrhundert ist verflossen, seitdem J u se i die Regeln der Stnats-
wirthschast zu einer Art wissenschaftlichen Systems zusammenfaßte, und welche
Summen von beachtenswerthen Monographien und hervorragenden Gcsammt-
werken hat allein Deutschland in diesem Zeitraum hervorgebracht! Dennoch sind
wir von einem wirklich befriedigenden Abschluß dieser Entwickelung weit ent¬
fernt. Es mußte zu Ungeheueres geleistet werden, bevor es gelang, dieser Dis¬
ciplin ein einigermaßen rationelles Gepräge zu geben; denn keine andere
Wissenschaft ist so durchaus unwissenschaftlichen Boden entsprossen wie diese.
Wer es unternommen hätte, die Lehre der Staatswissenschaft aus dem reinen
Begriffe zu construiren, würde sicherlich zu einem ganz andern Systeme ge¬
kommen sein, als es uns heute in der Schule geläufig ist. Wie die Dinge im
wirklichen Leben gestaltet lagen, galt es. in ein zerfahrenes, Plan- und ge¬
wissenloses Gewirr von Finanzmaßrcgeln zunächst Zusammenhang, und in diesen
wissenschaftlichen Geist zu bringen. Sie mit den Forderungen einerseits des
allgemeinen Staatsrechts, andererseits der Volkswirtschaftslehre in Einklang
^ setzen, ist die Aufgabe, an welcher noch heute vollauf zu arbeiten ist. Der
Eiser dieser Arbeit aber muß wachsen mit dem Vorschreiten des Constitutiona-
lismus; je mehr dieser sich befestigt, um so dringender wird das Interesse an
vollständiger Aufklärung über das Wesen des Staatshaushalts.
Eine neue Bearbeitung des finanzwissenschastlichen Gebiets wird daher
immer willkommen geheißen werden, sei es nun, daß sie die Doctrin selbst
revidire und fördere, sei es, daß sie sich die popularisirende Verallgemeinerung
politischen Wissens zur Aufgabe mache. Indem der Verfasser des oben ge¬
nannten Werkes diese letztere Seite als Hauptzweck ins Auge faßte, verzichtete
er keineswegs auf eine gründliche Berücksichtigung der ersteren. Eine allge-
mcinsaßliche Darstellung und zugleich eine schonungslose Kritik, und Verwerfung
des anerkannt Schlechten, Vorschlag zu Neuem und Bessern der Lesewelt vor¬
zulegen, war Pfeiffers Absicht. Nicht das ganze Feld der Finanzwissenschaft
umfaßt der Titel seines Buchs; für den angedeuteten Zweck mochte es genügen,
den der Gesammtheit des Volks am meisten in die Augen springenden, die
Privatinteressen am empfindlichsten berührenden Zweig der Staatswirthschaft,
die Staatseinnahmen, eingehender zu beleuchten. Doch hat der Verfasser nicht
versäumt, auch über die Totalität der Disciplin einen klaren Ueberblick zu er¬
theilen, ja, um für die Beurtheilung des Einzelnen einen gemeingiltigcn Ma߬
stab festzustellen, wird selbst eine höchst ausführliche Darlegung der Prinzipien
des Rechtsstaats mit in den Kauf gegeben. Diesen Maßstab fest in der Hand
durchwandert der Verfasser das ganze dermalen in Anwendung begriffene Sy¬
stem der Staatseinnahmen, und überall zwingt ihn die Consequenz seines Ver¬
fahrens zur Negation, fast zum Pessimismus gegenüber dem Bestehenden. Eine
radicale Umgestaltung, ein ganz neues und allerdings unendlich vereinfachtes
Prinzip ist es, das er an dessen Stelle vorschlägt. Ohne Zweifel ist die Frage
für das ganze Staatsleben von so eminenter Bedeutung, daß ein näheres Ein¬
gehen auf dieselbe schwerlich der Entschuldigung bedarf.
Es gab eine Zeit, wo die Bestreitung des Staatsbedarfs fast ausschlie߬
lich auf dem eignen Erwerb der Regierung — aus Domänen und Regalen
lastete. Mit dem Wachsen des öffentlichen Aufwands, besonders mit der Aus¬
bildung der stehenden Heere, machten sich regelmäßige Beiträge der Staats¬
angehörigen nothwendig, die Entwickelung des modernen Staatsprinzips drängte
diese Verträge in den Vordergrund. Nichtsdestoweniger hing die Staatsver¬
waltung noch bis auf unsere Tage mit besonderer Vorliebe an jener ersten Art
der Einnahme. Bei einer Negierung von absolutistischen Prinzipien durchaus
begreiflich. Die Beisteuer der Staatsangehörigen war von jeher von der Be¬
willigung der Stände abhängig gewesen, ein Recht, das sich nur vorübergehend
gewaltsam unterdrücken ließ. Hier aber besaß man eine Einnahmequelle, die
nicht allein frei von solch lästiger Beschränkung ihren Beitrag spendete, sondern
zu ihrer Verwaltung auch ein äußerst zahlreiches Personal erforderte, welches
als abhängiges Beamtenthum der Staatsgewalt unbedingt ergeben war. Die
Entwicklung der konstitutionellen Idee indeß, unterstützt von den dringendsten
Forderungen der Volkswirtschaft, mußte der eignen Erwerbsthätigkeit der Ne¬
gierung aufs entschiedenste entgegentreten. Wenn Pfeiffer den Rath ertheilt,
daß sich der Staat seiner Domänen entäußere, ja wenn er dies von einem
verschuldeten Staate ohne Nachsicht verlangt, so ist er nicht der Erste auf die¬
sem Wege. Schon längst hat Nan im Prinzip die gleiche Forderung ausge¬
sprochen, nur daß er nicht so entschieden damit herausgeht. Uebrigens ist auch
Pfeiffer nicht der Mann, der, an abstracten Postulaten haftend, den concreten
Umständen nicht Rücksicht zu zollen verstände: auch er bezeichnet die Verhält-
nisse, unter denen eine BeHaltung der Domänen vorerst noch räthlich, ja selbst
die eigne Bewirtschaftung von Seiten des Staats erforderlich sei. Allein die
Grundforderung verliert er niemals aus dem Auge. So verwirft er denn auch
ganz und gar das von früheren Volkswirthen so hoch gerühmte Prinzip der Erb¬
pacht, weil „dadurch dem Staate der Verkauf seiner Domänen erschwert, fast un¬
möglich gemacht werde." Unzweifelhaft sieht er diese Verwaltungsart in zu un¬
günstigem Lichte, denn mehrere der Fehler, welche er ihr vorwirft, sind ihr in der
That nicht nachzuweisen. Wie Rau sie auffaßt, würde sie sich recht wohl als
Uebergangsstadium zur vollständigen Veräußerung der Domänen empfehlen. —
Auch gegenüber dem Pfeifferschen Vorschlage zum Verkauf der Staatswaldun¬
gen stellen wir uns auf Raus Seite und plädiren, wenigstens solange nicht
eine genügende Anzahl von Privatwirthen sich einem gründlichen Studium der
Forstwissenschaft widmet, für Beibehaltung der Doinanuilforsten. Von ganzem
Herzen aber stehen wir zu Pfeiffer, wenn er die von Nan angegebenen Be¬
dingungen bekämpft, unter welchen Staatsmonvpolc noch ferner aufrecht er¬
halten werden könnten. Unsere Zeit ist einstimmig in ihrer Verurtheilung.
Aus eine Deckung des öffentlichen Bedarfs aus dem eignen ErwerbScin-
tvmmen der Regierung ist somit nicht zu rechnen. Das Hauptaugenmerk also
wird auf die Heranziehung des Vermögens der einzelnen Staatsangehörigen zu
richten sein.
Nichts scheint gerechter, als daß der Einzelne, der die Vortheile des Staats¬
vereins genießt, auch die durch seine Antheilnahme verursachten Kosten trage.
Zugleich leuchtet freilich aus den ersten Blick ein, daß nicht im entferntesten die
Möglichkeit gegeben wäre, diese Quote in jedem concreten Falle festzustellen.
Einige Staatseinrichtungen jedoch sind immer vorhanden, welche nachweisbar
der Eine ungleich mehr in Anspruch nimmt, als der Andere. Hier ist die ein¬
fache Forderung der Gerechtigkeit, daß Jeder in jedem einzelnen Falle die pro¬
vocirten Kosten bestreite, damit er auf diese Weise genau nach dem Maße seiner
Benutzung der betreffenden Institute herangezogen werde. Lediglich Sonder¬
interessen sind es, für welche hier die Hilfe des Staats in Anspruch genommen
wird, und solange sie sich eben als solche unterscheiden lassen, ist es nöthig,
daß der Einzelne allein für sie auskomme. Nur wo die Befriedigung der In¬
teressen des Einzelnen ununterscheidbar mit der der Interessen Aller zusammenfällt,
tritt die Verpflichtung der Gesammtheit in Kraft. Die Vergütungen, welche
der Einzelne in jedem bestimmten Falle für die durch ihn nachweislich entstande¬
nen Kosten entrichtet, heißen Gebühren, der Aufwand für die durch die Ge¬
sammtheit der Staatsangehörigen nöthig gewordenen Einrichtungen wird durch aus
die Einzelnen angemessen vertheilte Beiträge, d. h. durch Steuern gedeckt. —
Uebrigens erhellt sofort, daß es ungerechtfertigt wäre, durch die Gebühren¬
erhebung die ganze Summe der Unterhaltungskosten der betreffenden Institute
aufbringen zu wollen. Liegt doch das Bestehen der Letzteren im allgemeinen
Interesse, ganz einerlei, ob jeder Einzelne sie benutzt oder nicht. Somit wird
ein Theil des durch sie erforderten Aufwandes durch Steuern bestritten wer¬
den müssen.
Es ist das Verdienst der scharfsinnigen Umpscnb ach sehen Untersuchung,
den Gebühren diese organisch-nothwendige Stellung in der Wissenschaft gege¬
ben zu haben; in den frühern Systemen finden sie sich meist höchst begrifflos
mit andern Dingen durcheinandergeworfen. Rau freilich theilt ebenfalls die
Auflagen auf die Staatsbürger in Gebühren und Steuern, verhält sich aber
wesentlich negativ gegen die ersteren. Nur einzelne scheinen ihm unschäd¬
lich, im Prinzip aber ist er unverkennbar gegen alle. In gleicher Weise ist
Pfeiffer vorgegangen. Obgleich er das Umpfenbachsche Räsonnement im wesent¬
lichen wiederholt findet er die Gebühren doch nur da am Platze, wo sie eine un¬
nöthige und vielleicht muthwillige Belastung der Staatsbehörden verhüten kön¬
nen, — ein Zweck, der schon durch eine äußerst geringe Abgabe erfüllt werden
würde. Uns will bedünken, als habe er sich durch die unbeschreiblich gewissen¬
lose Wirthschaft, welche die bisherige Finanzpraxis mit den Gebühren getrieben,
zu dieser Nichtberücksichtigung der ganz veränderten wissenschaftlichen Stellung
hinreißen lassen, welche ihnen Umpfenbach gegeben. Die factisch vorhandene
Unzahl derselben, und mehr noch ihre unverhältnißmäßig hohen Beträge
finden in letzterem wahrlich nicht den gelindesten Verurtheiler. Seine Absicht
war, auf Grund der von ihm entwickelten Theorie ein ganz neues System
dieses Staatseinkommenzweiges zu schaffen. Freilich, wenn Pfeiffer ihn bekämpft,
daß er die Einnahmen aus Post, Eisenbahnen, Telegraphen in dieses Gebiet
hereingezogen, so stimmen wir dieser Polemik vollkommen bei. Das Umpfen¬
bachsche Prinzip aber ist trotzdem festzuhalten. — Unter allen Umständen
jedoch steht fest, daß auf diesem Wege immer nur eine relativ geringe Quote
des Staatsbedarfs aufgebracht werden kann. Die Anstalten, deren Kosten durch
die Gebühren vergütet werden sollen, sind nicht aus finanziellen Rücksichten
geschaffen; zum Erwerbe benutzt würden sie ihrem eigentlichen Zwecke eilt-
fremdet werden. Vielmehr ist es nöthig, daß der Bürger sie um ein Geringes
in Anspruch nehmen könne, um nicht von ihrem Gebrauche abgeschreckt zu
werden. — Das Hauptinteresse der Finanzwirthschaft wird sich also an die
Steuern heften.
Damit berühren wir das wichtigste und zugleich schwierigste Gebiet unserer
Wissenschaft. Die Regeln, welche über Besteuerung aufgestellt werden, greifen
unmittelbar in die kleinsten Verhältnisse hinein. Außer aller Frage steht das
Recht des Staats, selbst mit Anwendung von Zwangsmitteln die Deckung
seines nothwendigen Bedarfs von der Gesammtheit seiner Angehörigen zu er¬
wirken, nur handelt es sich darum: nach welchem Maßstabe ist jeder Einzelne
heranzuziehen? Daß an eine Bestreitung des Staatsaufwandcs durch Erlegung
der in jedem einzelnen Falle entstandenen Kosten nicht zu denken ist, wurde
bereits erwähnt; nur wenn der Staat wirklich die bloße arithmetische Summe
von Einzelnen und nicht ein selbständig lebender Organismus wäre, könnte von
solcher Möglichkeit die Rede sein. In der Praxis befolgte man längst den
Sah: „Ein jeder wird besteuert nach Vermögen", aber es galt noch, ihn theo¬
retisch zu begründen. Lange klammerte man sich an das Prinzip, daß die
größere oder kleinere Summe der durch den Staat genossenen Vortheile den
Besteuerungsmaßstab abzugeben habe, und man wußte sich dies Axiom geschickt
genug dienstbar zu machen, indem man schloß: je größer das Vermögen, um
so größer der durch die Staatsanstalt gewährte Schutz, um so größer also auch
die Verpflichtung zur Tragung der Staatskosten. Der erste scharfe Blick auf
diesen Beweis überzeugt von dessen vollständiger UnHaltbarkeit. Wäre über¬
haupt ein Beitrag nach diesem Grundsatz möglich, so würde er unter den im
Vorstehenden erläuterten Begriff der Gebühren fallen, und der überwiegend
größere Theil des Staatsbedarfs wäre wieder nach anderm Prinzip aufzu¬
bringen. Der wirkliche Sachverhalt vielmehr ist dieser. Der Staat besteht für
alle Einzelnen ohne Unterschied, er hat daher auch das Recht, seinen nothwen¬
digen Aufwand aus den Leistungen aller Einzelnen ohne Unterschied bezahlt zu
machen — Allgemeinheit der Besteuerung. Jeder Einzelne aber wird solche
Leistung als eine Schmälerung der Mittel, welche ihm zur Befriedigung seiner
Bedürfnisse zu Gebote stehen, d.h. als ein Opfer empfinden. Will der Staat
also seine Lasten gerecht vertheilen, so muß er darauf ausgehn, daß alle Ein¬
zelnen durch die Besteuerung das Gefühl eines gleich großen Opfers empfinden
Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Wo aber liegt der richtige Maßstab
für die Empfindung des Opfers? Offenbar in der Fähigkeit des Einzelnen,
zu steuern. Und diese Fähigkeit, wonach wird sie sich bemessen? — Die alte
Schule antwortete: nach dem Vermögen. Der Begriff Vermögen jedoch, als
lediglich den materiellen Besitz bezeichnend, ist für den vorliegenden Zweck zu
eng, die persönliche Erwerbsfähigkeit mit in sich begreifend, ist er dagegen zu un-
sicher. Eine directe Verminderung des Stammvermögens auf dem Wege deo
Besteuerung hat außerdem ihre sehr bedenklichen Seiten. Längst ist man daher
einig darüber, daß das Einkommen, und nicht das rohe, sondern das reine
Einkommen als Maßstab für die Beitragsfähigkeit zu betrachten sei.
Dies Prinzip in seiner Allgemeinheit ausgesprochen, bedarf jedoch eines
Corrcctivs, was wieder am schlagendsten durch Umpfenbach nachgewiesen wurde,
der zuerst zwischen abstracter und concreter Beitragsfähigkeit unterschied.
Diese letztere wird gefunden, wenn man „dem Momente der Verwendungszwecke,
denen das Einkommen in der Sphäre der privativen Vedürfnißbefricdigung
anheimfällt, die geeignete Rücksichtnahme geschenkt hat." Es scheint nämlich,
als müßte z. B. ein Einkommen, das blos doppelt so groß ist, als ein anderes,
dennoch eine mehr als doppelt so große Steuerfähigkeit besitzen, da die aus demselben
gemachten Verwendungen offenbar in weit ausgedehnterem Maße auf die Be¬
friedigung relativ entbehrlicher Bedürfnisse gerichtet sein werden, als im ersteren Fall,
Eine in gleicher Proportion wie bei jenem durchgeführte Beschränkung dieser Ver¬
wendungen muß somit eine weit weniger dringende Opfercmpfindung verursachen.
Diese Wahrnehmung veranlaßte den Vorschlag, die Besteuerung des Einkom-
l'ommens in stärkerer als blos arithmetischer Progression wachsen zu lassen.
Doch stellt sich heraus, daß jede solche Progression bald an einem Punkte an¬
kommen müßte, wo sie zur Aufzehrung des ganzen Einkommens durch die
Steuer, also zur absoluten Absurdität führt. Befriedigend wird das Problem
allein gelöst durch die Steuerfreiheit des sog. Exist euz in i miauens , d. h.
die Nichtbcstcucrung desjenigen Einkommcntheiles, welcher zur Bestreitung der
zur Führung eines menschenwürdigen Daseins durchaus nothwendigen Be¬
dürfnisse erforderlich ist. Ein Einkommen, welches zur Erreichung dieses Zweckes
eben nothdürftig hinreicht, unbestcuert zu lassen, ist ein durchaus selbstverständ¬
liches Postulat der Humanität, aber es muß hinzugefügt werden, daß diese
Quote alsdann nirgend, auch nicht bei dem größten Einkommen belastet wer¬
den darf. Wird nun aber demgemäß ein bestimmter Betrag als Existenzmini¬
mum von dem Einkommen jedes Einzelnen in Abzug gebracht, so ergibt sich
von selbst, daß, je nachdem diese steuerfrei gelassene Partikel einen kleineren
oder größeren Theil der Gesamtsumme bildet, das Einkommen in stärkerem
oder schwächerem Grade belastet ist. (Bei einem Existenzminimum z. B. von
100 Thlr. wären steuerfrei von einem Einkommen von 100 Thlr. 100 Proc.,
von 200 Thlr. L0. von 1,000.000 Thlr. nur 0,01 Proc.)
Eine höchst eigenthümliche Ungleichheit in der concreten Beitragsfähigkeit
bleibt aber doch noch zu beachten. Sie entspringt aus der Verschiedenartigkeit
der drei überhaupt möglichen Productionsfactoren von Einkommen: Boden,
Capital, Arbeit. Offenbar ist der Empfänger eines Einkommens aus Grund¬
rente oder Capitalzins vor dem eines gleich großen Einkommens aus Arbeits-
lohn bedeutend im Vortheil, insofern dort die Factoren unverändert dieselben
bleiben, hier aber die schaffende Kraft allmählich vollständig aufgezehrt wird.
Um dies Verhältniß auszugleichen, hat man wohl vorgeschlagen, jene beiden
mit höherer Besteuerung zu treffen, als diese, oder, da eine solche Maßregel
auf die größten Bedenken stieß, Steuerfreiheit verlangt für eine Quote des
Einkommens aus Arbeitslohn, welche, regelmäßig zu Capital geschlagen, dereinst
das consumiren Stammvcnnögcn (Erwerbsfähigkeit) zu ersehen vermöchte. In¬
deß es ist nicht crsichtltch, warum der Staat berechtigt sein soll, der eigen¬
thümlichen Natur dieses einen Productiousfactors zu Hülfe zu kommen und
sein einmal gegebenes Verhältniß zu den beiden übrigen willkürlich zu verän¬
dern. Wenn hier überhaupt eine Rücksicht ausgeübt werden soll, so kann es,
nach Umpfenbachö richtiger Ausführung, nur die vom öffentlichen Inter¬
esse selbst gebotene sein, daß man den Empfängern ova Arbeitslohn, soweit sie
lediglich auf diesen angewiesen sind, durch Steuerfreiheit einer gewissen Quote
die Möglichkeit gebe, ein Capital anzusammeln, welches seinem Besitzer dereinst
die Bestreitung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse sichert, damit derselbe nicht
dem Staate zur Last falle. Nicht mit Unrecht freilich wirft Pfeiffer ein, daß
gerade diese letztere Absicht in vielen Fällen vereitelt werden würde, da sich
doch nicht controliren lasse, ob jener steuerfreie Betrag wirtlich capitalisirt werde.
Dennoch aber schließt er sich einem Vorschlag an, der von dem angedeuteten
nicht so sehr abweicht, und in andern Dingen zumal hat er sich eng an
Umpfenbachs Seite gestellt. Besonders d c n Autoren gegenüber, welche, wie auch
noch Rau, statt der Steuerfreiheit eines für alle gültigen Existenzminima
eine entsprechende Berücksichtigung des „ standesmäßigen" Lebensunterhalts
fordern, tritt er der Berechtigung dieses vagen Begriffs aufs entschiedenste
entgegen.
Auf Grund dieser allgemeinen Sätze nun schreitet der Verfasser zur Unter¬
suchung der einzelnen Steuern. Aus Entwicklung eines festgeschlossenen Systems
verzichtet er zwar von vornherein, doch theilt er das Ganze nach dem Vorschlage
Rau's in Schätzungen und Aufsch lagst en am, diese letztere Benennung
statt der Rauschen „Anfwandsteuern" von Umpfenbach entlehnend. Außer den
«uf das Einkommen aus den drei bekannten Productionsfactoren sowie ans
das Vermögen schlechtweg gelegten Steuern hat er unter den Schätzungen anch
der Kopfsteuer ein Capitel, und zwar das erste, gewidmet. Unserer Ansicht
"ach hätte es hier bei einer Besprechung der II, S. 119 ff. aufgezählten, heute
"och erhaltenen Ueberreste dieser Schatzungsart, nebst einer kurzen Verurtheilung
des längst verworfenen Prinzips bewenden können.
Den ersten Platz im bestehenden Abgabcnsystem behauptet unstreitig die
Grundsteuer. Keine andere ist so eifrig untersucht, keine andere aber auch
i" so durchaus verschiedenartigem Sinne beurtheilt worden. Ohne Zweifel ist
Un lektercnr die Unbestimmtheit des Begriffes zum großen Theile Schuld ge¬
wesen. So war es denn Pfeiffers Absicht, vor allem Klarheit in das Wesen
dieser Auflage zu bringen. Zu dem Ende eruirt er aus dem Namen derselben nicht
weniger als vier verschiedene Steuern: eine Urgrund-, eine Grundlehn-, eine
Gruudeinkvmmen- und eine Grundrentensteuer. Unter der Urgrundsteuer
versteht er die Abgabe, mit welcher das Grundeigenthum schon in frühester
Zeit, wo man an eine Besteuerung sämmtlicher Einkommcnzwcige noch nicht
dachte, ausschließlich belastet wurde, und zwar nicht im Verhältniß zum Rein¬
ertrage, sondern lediglich zu der Große des Bestes. In Wahrheit und auf
die Dauer jedoch konnte sie offenbar nur auf der Thatsache fußen, daß hier ein
stcuerfähigcs Einkommen vorhanden war. Im Grunde also war sie eine Ein¬
kommensteuer, nur mit höchst irrationeller Veranlagung. Später nun, als man
den Grundsatz aussprach, jedes reine Einkommen gleichmäßig zu belasten, konnte
die Aufgabe der bisherigen Grundsteuer gegenüber natürlich keine andere sein,
als die irrationelle Veranlagung in eine rationelle umzuwandeln, keineswegs
aber, neben der bereits bestehenden Steuer die neue Einkommensteuer noch be¬
sonders einzuführen. Die andern Einkvmmenzweige, welche bis dahin frei aus¬
gegangen, waren früher entweder ebenfalls steuersähig, oder sie waren es nicht.
Waren sie steuerfähig, so lag in der ausschließlichen Heranziehung des Grund¬
einkommens eine Ungerechtigkeit, welche allein durch die gleichmäßige Erfassung
auch jener zu heben war. Waren sie nicht steuersähig, so zeigte die nunmeh¬
rige Belastung, daß sie es mittlerweile geworden, und es ist kein Grund vor¬
handen, daß das aus ihnen gezogene reine Einkommen in geringerem Grade als
das Grundeinkommen belastet werden solle. Wie daher Pfeiffer bei Einführung
der Grundeinkommensteucr die Beibehaltung, beziehentlich Ablösung seiner „Ur¬
grundsteuer" verlangen kann, ist schwer zu begreifen. Seine Grund lehr«
sieuer aber gehört bei Licht besehen gar nicht hierher. Sie ist eine in Geld
umgewandelte Rcallast aus den Zeiten des gutsherrlichen Verbandes, wobei
nur der zufällige Umstand obwaltet, daß nicht ein Privatlehnsherr, sondern der
Staat der Berechtigte ist.
Eine Grundeinkommensteucr kann nur erhoben werden von dem
Reinertrag des Bodens, d. h. von der Grundrente. Kaum trauen wir daher
unsern Augen, wenn wir nach Abhandlung der Grundeinkommensteuer im vorliegen¬
den Buche noch einen langen Abschnitt über eine Grundrentensteuer finden.
Hier wird zunächst sehr ausführlich die Entstehung und das Wesen der Grund¬
rente dargelegt, dann erklärt, daß gegen eine Besteuerung derselben rechtlich
durchaus nichts einzuwenden ist, schließlich aber bemerkt, daß eine solche wegen
der absoluten Unberechenbarkeit des Objects nicht ausführbar sei. Wo in aller
Welt steckt denn nun aber der Gegenstand der Pfeifferschen Grundeinkommen¬
steucr? . . . Es bleibt uns nur die Annahme übrig: unter dem Begriff Grund'
einkommen hat Pfeiffer das gesammte landwirthschaftliche Einkommen, also nicht -
allein die Grundrente, sondern auch den Capitcilzius und den Arbeitslohn
resp. Erwcrbsverdienst zusammengeworfen, und wir können ihn nicht anders
verstehen, als daß er die Absicht hat, die Grundrente noch besonders zu be-
steuern. Und warum das? Weil er sie, die ohne alle Mühe entstanden und
fortwährend gewachsen, insofern sie ausschließlich dem zufälligen Besitzer zu gute
kommt, für ein ungerechtfertigtes Einkommen hält. Freilich erkennt er gleich
selbst, daß diese Extrasteuer nur in sehr wenigen Fällen den ursprünglich Be¬
reichertem, in den meisten spätere Käufer, die den plötzlichen Werthzuwachs der
Grundstücke im Kaufschilling bereits bezahlt, treffen würde. Dagegen ist er
dem Vorschlage nicht abgeneigt, daß der Staat eines Tages decretire: von nun ,
an sei jede weitere Steigerung der Grundrente dieser besondern Belastung zu
unterwerfen. Der Versuch Pfeiffers, durch diese Unterscheidung von Grundein-
kommen- und Grundrentensteuer mehr Klarheit in die Sache zu bringen, ist
in das directe Gegentheil umgeschlagen. Ist es doch gerade das Verdienst der
neueren Finanzwissenschaft, den vagen' Begriff der Grundsteuer zu dem der
Grundrentensteuer präcisirt zu haben. Welche heillose Confusion aber die Pfeiffer-
sche Anordnung verursachen kann, bezeugt der Verf. in seinem eignen Werke. Wo
es sich (II. 203) darum handelt, ob die Landwirthe zur Gewerbesteuer heranzu-
ziehn seien, meint er: „Obwohl außer Zweifel, daß die Landwirthschaft ein ge¬
werbliches Unternehmen sei. dürfen doch diejenigen, welche durch eine Grund-
einkvmmenstcuer bereits getroffen sind, nicht zum zweiten Male von der Ge¬
werbesteuer berührt werden. Dagegen müssen um so mehr Pächter und solche,
die von keiner Grund- oder Bergwerksstcuer berührt werden, hier hereinge¬
zogen werden." Der Pächter also, wie durchaus in Ordnung, wird mit Ge¬
werbesteuer belegt, die Grundeinkommcnsteucr des durch ihn bewirthschafteten
Bodens trägt der Vcrvächtcr. Nun umfaßt aber die Pfeiffersche Grundeinkom-
mensteuer, wenn sie überhaupt begreiflich sein soll, nicht allein die Grundrente,
sondern auch Capitalzins und Erwcrbsverdienst. Der Verpächtcr wird also für
ein Einkommen besteuert, welches, wie wenigstens der Erwerbsverdienst, nur
vom Pächter bezogen werden kann. Und mehr noch: derselbe Capitalzins und
derselbe Erwcrbsverdienst würden durch die Belegung des Pächters mit Ge¬
werbesteuer noch einmal belastet!
Weniger verwickelt, als bei der Untersuchung der Grundsteuer gestaltet sich
die Kritik der übrigen Schätzungen. Gelegentlich der Haussteuer freilich be¬
fürwortet der Verfasser wieder ganz wie oben eine Extrabcsteucrung der Gründ¬
ete, gründet aber auch hier auf die angebliche Unmöglichkeit, die letztere auch
nur annähernd festzustellen, sein ablehnendes Votum. — Ferner finden die Ge¬
werbe-, die Lohn-, die Zinseinkommenstcuer eingehende Besprechung.
Bei allen aber scheinen ihm die unleugbaren Nachtheile dre Vortheile weitaus
m überwiesen. Soll einmal das Prinzip der Einkommensteuer aufrecht erhalten
werden, so dünkt ihm das Beste, das Gesamteinkommen eines Jeden nicht
nach der Verschiedenheit seiner Quellen zu zerlegen, sondern eine einzige all¬
gemeine Einkommensteuer an die Stelle der bisher genannten Schätzun¬
gen zu sehen. So allein, meint er, würde eine große Menge unausbleiblicher
Ungerechtigkeiten vermieden und der ungeheure Verwaltungsapparat der gegen¬
wärtigen Finanzwirthschaft um ein Bedeutendes vereinfacht werden können. Der
Vorschlag ist nicht neu, die Wissenschaft hat ihn längst nach seiner unberechen¬
baren Wichtigkeit gewürdigt, allein die anerkanntesten Autoritäten haben sich
gegen ihn entschieden. Freilich der Standpunkt der Beurtheilung, welchen sie
einnehmen, ist ein Von dem unseres Verfassers durchaus verschiedener. Dieser
berücksichtigt die Vorzüge der allgemeinen einzigen Einkommensteuer im Ver¬
gleich zu der bisher üblich gewesenen Finanzpraxis in ihrer ganzen Plan-
und Gewissenlosigkeit. Jene dagegen — wie z. B. Rau und Umpfenbach
— wägen die gepriesenen Vortheile gegenüber den zu erwartenden Wirkungen
eines auf durchaus wissenschaftlicher Basis erbauten correcten Systems von
Steuern, und wir stimmen ihnen bei, wenn sie die einfachere Methode zu
Gunsten der letzteren verwerfen. Daß die Abschätzung eines Gcsammteinkvm-
mens auch nur entfernt Anspruch auf Nichtigkeit erheben könnte, ohne sich
wieder ans Abschätzungen seiner einzelnen Zweige zusammenzusetzen, ist nicht
zu erwarten.
Soweit die Beschatzung nach dem Einkommen. Obgleich dieses Prinzip von
der Praxis längst in Anwendung gebracht ist, find doch in einzelnen Staaten der
Schweiz und der nordamerikanischen Union noch Vcrmvgensstencrn anzu¬
treffen. Sie geben Pfeiffer Veranlassung, in einem besondern Capitel das
Wesen dieser Steuerart zu ergründen und ihre überwiegenden Schattenseiten
zu constatiren.
Es ist nicht zu verkennen, Irrthümer und allerlei' Unebenheiten werden
bei der Beschatzung des Einkommens nicht zu umgehen sein. Indeß ist noch
ein anderer Weg denkbar, die Steuerfähigkeit zu erkunden und zu erfassen:
das reine Einkommen wird sich documentiren in den aus ihm vorgenommenen
Verwendungen. Eine Besteuerung dieser Verwendungen würde folgerecht eben
nichts Anderes, als das reine Einkommen belasten. Freilich liegt auf der
Hand, daß bei der großentheils ganz willkürlichen Verfügung des Einzelnen
über die Summen seiner Verwendungen eine Finanzwirthschaft, die ihren Be¬
darf ausschließlich durch eine Belegung eben dieser zu decke» beabsichtigte, auf
höchst schwankender Grundlage beruhen würde, insofern sich nämlich mit nur
sehr geringer Wahrscheinlichkeit die Größe des für eine bestimmte Periode zu
erwartenden Erträgnisses feststellen ließe. Die Schätzungen — da sie als Ne-
partitionssteucrn eine große Sicherheit gewähren — verdienen nach dieser Seite
hin unstreitigen Vorzug. Andrerseits aber haben dieselben den Nachtheil, daß
eine durch sie veranlaßte ungerechte Belastung von dem Betroffenen nicht um¬
gangen werden kann, während demselben freisteht, eine Verwendung, durch deren
Besteuerung er sich zu hart bedrückt fühlen würde, zu unterlassen. Dies die
Bedeutung der Aufwand- oder Aufschlagflcu ern »eben den Schätzungen.
Ihr Motiv ist klar und unanfechtbar, ihre Ausführung aber unterliegt den
ernstesten Bedenken. Zunächst ist selbstverständlich, daß die Verwendungen,
welche aus dem steuerfreien Existcnzminimum bestritten werden, also die Aus¬
gaben für den unumgänglich nothwendigen Lebensunterhalt, auch hier nicht
belastet werden dürfen. In Ansehung der übrigen Verwendungen aber erhellt,
daß die Besteuerung einer jeden für sich eine Unmöglichkeit wäre; vielmehr
müßten einzelne Ausgaben gefunden werden, welche sich als untrügliche Reprä¬
sentanten ganzer Classen von Verwendungen ansehn ließen. Mit welchen
Schwierigkeiten solche Aufstellung verknüpft sein muß. leuchtet ein: eine Ver¬
wendung, die leicht zu umgehen oder durch andere zu ersetzen wäre, würde
ihren Zweck vollständig verfehlen. Es werde» also ziemlich allgemein empfun-
dene und ungern entbehrte Bedürfnisse sein müssen, an die man sich zu halten
hat. Und dies ist der Punkt, an welchem Pfeiffer das ganze Aufschlagsystcm
zu treffen sucht. Die Voraussetzung, daß die Ausgaben für solche Gegenstände
sich nach der Größe des reinen Einkommens bemessen würden, findet er durch¬
aus unzutreffend; im Grunde vermag er in dem Aufschlagsystcm nichts
Anderes, als das Prinzip der Kopfsteuer zu erblicken. Freilich, die in den
Tabellen II, S09 und 516 gegebenen Zahlen liefern einen schlagenden Beweis
von ungerechter Ueberbürdung der ärmeren Klassen; nicht aber das Prinzip,
sondern nur die Wahl der beaufschlagten Gegenstände wird dadurch bloßgestellt.
Bei einer gerechten Handhabung des Aufschlagsystems werden nicht allein von
sämmtlichen Klassen der Gesellschaft stark begehrte, sondern auch dem Consum
der höheren Schichten mehr oder weniger ausschließlich eigene Artikel, und
zwar in höherem Maßstabe, zu belegen sein. Allerdings läßt sich nicht leugnen,
daß grade die eigensten Verwendungen der höchsten Klassen, der wirkliche Luxus,
am schwierigsten zu erfassen sind. Andererseits aber darf auch der Trost nicht
vergessen werden, daß gegenüber jenen allgemein begehrten Gegenständen bei
gleichem Quantum des Gebrauches die Genußcmpsindnng auf Seiten des
Aermeren eine weit größere ist, als auf jener des Reiche». Sobald also nur
"ut Umsicht und Gewissenhaftigkeit Verfahren und vor Allem von einer Besteue¬
rung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse abgesehen wird, mögen die Angriffe
von dirs^ Seite her zur Ruhe gebracht werden. Bedenklicher aber sind andere
^ebelstände. Es liegt in der Natur dieser Besteurungsart, daß sie zum größten
Theile nur auf indirectem Wege durchzuführen ist. Die dadurch ohnehin hoch¬
schraubten Erhcbungskosten müssen noch wachsen, je größer die Anzahl der
velschicdenen Arten belegter Artikel ist. Es wird also geboten sein, die Zahl
möglichst zu beschränken. Hier aber ergibt sich sofort wieder die Mißlichkeit,
daß man zur Defraudation anreizt, und zwar um so stärker, je höher die Steuer
gegriffen ist. So wird sich wieder ein Heer von Ueberwachungsbecnnten nöthig
machen, welches abermals die Erhebung um ein Bedeutendes vertheuert. —
So schwer aber auch diese Nachtheile ins Gewicht fallen mögen, wir halten
das Aufschlagsystem in unsrer Finanzpraxis dennoch für unentbehrlich. Unmög¬
lich läßt sich verkennen, welche unermeßliche Wohlthat es dem Aermeren ist,
seiner Steuerpflicht auf diesem Wege durch Abtragung kleiner Raten ohne die
harte Empfindung directer Belastung genügen zu können, — und wir ver¬
mögen schwer zu begreifen, wie Pfeiffer sich über diesen Vortheil so leicht hin¬
wegsetzen kann.
Indeß, wir vergessen, daß er uns ein Mittel an die Hand zu geben be¬
reit ist, welches die Krankheit des bisherigen Staatseinnahmesystcms ganz und
gar heilen soll. „Dieses heutige Finanzwesen", sagt er II, 534, „ist in der
That nichts anderes, als eine äußerst künstliche Aneinanderreihung von allen
möglichen Abgabenerhebungen, welche ohne jeglichen Zusammenhang unterein¬
ander, sich fast nur durch den Grad ihrer Verkehrtheit und Schädlichkeit von
einander unterscheiden. Diese heillose Vielheit der Steuern muß abgeschafft
werden, an ihre Stelle eine einzige Steuer treten." Welche aber ist diese einzige?
Wir haben bei Entwicklung der maßgebenden Grundsätze der Besteuerung das
reine Einkommen als den Gradmesser der Beitragsfähigkeit aufgestellt. Genau
hier aber ist der wichtige Punkt, wo Pfeiffer seine Hebel einsetzt. Er erkennt das
Einkommen als einen „ziemlich guten Maßstab für die Steuerfähigkeit an",
nicht aber als einen „genauen Werthmesser für die Opfer, welche dem Einzelnen
auferlegt werden", d. h. also für seine Steuerpflicht. Dann fährt er fort:
„Das Opfer, welches jemand bei einer speziellen Ausgabe empfindet, hängt
weniger von der Gesammtsumme seines Vermögens oder seiner Einnahme ab,
als von dem Verhältniß, in welchem diese besondere Auslage zu der Gesammt¬
summe seines übrigen Verbrauches steht" (II, 17). Dieser Satz gilt ihm als
Axiom, aus ihm zieht er die Consequenz: die einzig gerechte Auflage ist die
Heranziehung des Einzelnen nach dem Maße seines jährlichen Gesammtver-
brauchs, d. h. die allgemeine Verbrauchssteuer. Der ärgste Vorwurf,
den er der Bcschatzung nach dem Einkommen entgegenzuhalten wußte, schien
ihm der, daß sie den sparsamen zu Gunsten des Verschwenders überbürde.
Nicht allein diese, sondern auch alle sonstigen Ungerechtigkeiten hofft er durch
seinen Vorschlag zu beseitigen. „Wenn man denselben in Anwendung bringen
wird, wird sich gewiß jeder wundern, warum man so lange gebraucht hat, um
auf diesen so einfachen Gedanken zu kommen."
Der Verbrauch eines vernünftig wirthschaftenden Individuums ist zu be-
streiten aus seinem reinen Einkommen; je größer dieses, desto weiter der Spiel¬
raum für jenen. In allen Fällen, wo nicht eine Summe von der unmittel¬
baren Belehrung, zurückgehalten wird, müssen Einkommen und verbrauch sich
vollständig decken. Der einzige Unterschied beider Größen also liegt darin, daß
die letztere um einen beliebigen zurückgelegten Betrag geringer sein kann, als
die erstere. In diesem Unterschiede lediglich würde demnach auch der Grund
zu suchen sein, weshalb die Besteuerung nach dem Maßstabe des Gesammtver-
brauchs vor der nach dem reinen Einkommen so unzweifelhaft den Vorzug ver¬
dienen soll. Hiermit entsteht die Frage: ist es gerecht, jeden beliebigen Theil
des Einkommens, sobald er als Capital gespart wird, unbesteuert zu lassen? —
So willig Pfeiffer diese Frage bejaht, so entschieden müssen wir sie verneinen.
Es ist ein unbestreitbarer Satz: gleiches Einkommen gewährt gleiche Möglichkeit
des Genusses. Nur die gleiche Beeinträchtigung dieser Genußmöglichkeit ver-
mag die Empfindung gleichen Opfers zu erwecken. Die- concrete Ausübung
dieser Möglichkeit aber ist Sache des Einzelnen. Ob er seine Genüsse frei
wählt, ob er durch besondere Umstände an bestimmte Verwendungen gebunden
ist, hat der Fiscus nicht zu untersuchen. Wie weit dieser die concrete von der
abstracten Beitragsfähigkeit zu berücksichtigen hat, ist in unserer Auseinander¬
setzung über Steuerfreiheit des Existenzminimums und einer gewissen Capital!-
sirungsquote dargelegt; ein weiteres ist unzulässig. Es ist aber eine falsche
Ansicht, als vermöchte nur die unmittelbare Consumtion Genuß zu erzeugen.
Wo ein Theil des Einkommens gespart wird, da ist offenbar das Bedürfniß,
Capital zu besitzen, vorhanden, und zwar ist dies Bedürfniß um so stärker, je
mehr andre Bedürfnisse um seinetwillen zurückgesetzt werden müssen. Jede Befrie¬
digung eines Bedürfnisses aber ist Genuß, und zwar um so größerer Genuß, je
dringender das Bedürfniß war. Die ganze Genußempsindung aber, welche das
Capitalisiren von Einkommentheilen in jedem Falle verursachen muß, läßt die
Pfeiffersche Besteuerungsmethode ungeschmälert. Es leuchtet ein, daß der Grund¬
satz der Gerechtigkeit und Gleichmäßigkeit dadurch aufs schwerste verletzt ist.
Pfeiffer ist natürlich entgegensetzter Ansicht, So gibt er II. 630 ein Bei¬
spiel: Ein Mann hat ein Einkommen von 1000 Thlr., ein anderer ein solches
Von 1500 Thlr., jener verbraucht die ganze Summe, dieser legt 600 Thlr.
zurück. Jeder von beiden also verwendet auf seine Ausgaben den gleichen Be¬
trag, folglich sind sie gleich zu besteuern; denn jeder von beiden wird den glei¬
chen Abzug von der gewohnten Vcrbrauchssumme als gleiches Opfer empfinden.
Gut, acceptiren wir dies Beispiel, aber betrachten wir es von unserm Stand¬
punkte. Wir haben zwei Beamte, von denen jeder 1000 Thlr. Gehalt bezieht;
Während indeß ^. ausschließlich auf diesen angewiesen ist, besitzt N ein Ver¬
mögen, aus welchem er jährlich 600 Thlr. Zinsen einnimmt. ^ hat demnach
ein reines Einkommen Von 1000, N ein solches von 1600 Thlr. ^ ist nuper-
heirathet und verausgabt sein sämmtliches Einkommen, L ist verheirathet, verwen¬
det ebenfalls nur 1000 Thlr., legt aber 5>00 Thlr. zurück. Beide also werden,
da ihr Gesammtverbrauch dieselbe Summe beträgt, gleich besteuert. Nun aber
hat ^ den lebhaftesten Wunsch, in eigner Familie zu leben, allein er muß sich
sagen: mein Einkommen würde eben hinreichen, eine vielleicht zahlreiche Familie
anständig zu ernähren, unmöglich aber ließe sich noch etwas Ansehnliches erübri¬
gen, um die Zukunft meiner Angehörigen sicher zu stellen. So bleibt ihm als
gewissenhaftem Manne nichts übrig, als seinem Wunsche zu entsagen. L aber
ist im Stande, einen eigene» Hausstand zu gründen; offenbar ist ihm durch
sein größeres Einkommen auch ein weit größerer Genuß ermöglicht, als ^
durch das seinige. Und dennoch wird ^ die gleiche Schmälerung der Gc-
sammtgcnußempsindung zugemuthet als L. — Noch schlimmer aber: Ein Hand¬
werker hat ein Einkommen von 500 Thlr.; da er eine sehr zahlreiche Familie
besitzt, bleibt ihm zum Sparen nichts übrig; sein Gesammtverbrauch beträgt
demnach 600 Thlr. Ein Geizhals dagegen hat ein Einkommen von 2000 Thlr..
wovon er jedoch jedesmal 1800 Thlr. zurücklegt. Sein Gesammtverbrauch be¬
trägt also 600 Thlr. Die Folge ist, daß er nicht höher belastet wird, als jener
Handwerker; die unberechenbar große, und noch dazu so schmutzige Gcnußcm-
psindung des gierigen Zusammenscharrcns bleibt gänzlich unberührt! Wir kennen
gar wohl den Einwurf, den man uns hier entgegenhält: der Geizige, so tröstet
man, schaffe wenigstens neue Werthe, die der Volkswirthschaft doch über kurz
oder lang zu gute kommen müßten. Indeß, wir meinen, es sollte doch vor
allein das Prinzip der Gerechtigkeit im Auge behalte» werden, und dieses für¬
wahr ist in solcher Begünstigung des Geizhalses aufs auffallendste verletzt. —
Und nicht anders vermögen wir uns der ganzen Methode gegenüber zu stellen.
Es ist wahr, sie begünstigt die Sparsamkeit und ermuntert zu derselben; aber
wir bestreiten der Finanzwirthschaft das Recht, den sparsamen zu belohnen,
den Verschwender zu bestrafen. — Freilich beschuldigt Pfeiffer umgekehrt die
Einkommensteuer, daß sie die Verschwendung begünstige und die Sparsamkeit
bestrafe. Aber diese Behauptung gründet sich aus den Anspruch, daß der Spa¬
rende besondere Bevorzugung verdiene, und das eben ist es, was wir aus Grund
der von uns entwickelten Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichmäßigkeit
leugnen.
Wir sehen, der Vorzug der größeren Gerechtigkeit, welchen Pfeiffer dem
Prinzip der Einkommensteuer gegenüber für seinen Vorschlag so entschieden in
Anspruch nimmt, verwandelt sich in sein Gegentheil. Vielleicht indeß bietet die
allgemeine Verbrauchssteuer in ihrer praktischen Ausführung so eclatante Vor¬
theile, daß man sich doch noch mit ihr versöhnen könnte?
Die arge Thätigkeit der Erhebungen für die Einschätzung wird durch sie
gemindert, die Hemmung in der Gütercirculatiou durchaus vermieden. Es
werden nicht, wie bei dem Aufschlagsysteme, einzelne Gegenstände künstlich ver¬
teuert, es ist also auch keine Gelegenheit zum Umgehen, zum Hin- und Her¬
schieben der Steuer. Vor Allem aber wird die bedeutende Verringerung der
Kosten als großer Vorzug der allgemeinen Verbrauchssteuer gepriesen. — Die
Feststellung des Gesammtverbrauchs hält Pfeiffer für mindestens ebenso leicht, ja,
weil die Ausgaben eines Jeden immer weit bekannter seien als seine Ein¬
nahmen, für noch leichter als die des Einkommens. Uns aber scheint diese Be¬
hauptung keineswegs so selbstverständlich. Wie bei der Anlage der Einkommen¬
steuer, könne man sich theils an gewisse äußere Kennzeichen, theils an die Selbst¬
angabe der Steuerpflichtigen, theils an die Aufstellungen einer Schätzungs-
Commission halten. Indeß, was ist diese Bezeichnung gewisser Kennzeichen
anders, als das Verfahren des Aufschlagsystems, welches unser Verfasser so
gründlich verwirft? Will man in der Wahl derselben nicht schrankenloser Will¬
kür Raum geben, so wird man in einem allgemein gültigen Verzeichnis; eine
Reihe von Gegenständen festzusetzen haben, deren Konsumtion für ganze Rich¬
tungen des Verbrauchs als bezeichnend gelten kann. Da stehen wir also bei
den „Repräsentanten" des AufschlagfystemS! Freilich, der Unterschied ist der,
daß hier die Objecte nicht selbst zu Trägern der Steuer gemacht, nicht künstlich
vertheuert werden. Allein, wird ein Publikum, welches früher den Verbrauch
einer bestimmten Waare vermied oder verheimlichte, weil es den auf derselben
lastenden Aufschlag nicht bezahlen mochte, heute, trotz niederen Preises, nicht
ganz ebenso verfahren, wenn es weiß, daß die Anschaffung grade dieses Gegen¬
standes als Beweis höherer Steuerkraft betrachtet wird? — Beiläufig bemerkt:
noch an einem andern Punkte passirt es dem Verfasser, in dieser Weise mit sich
selbst in Widerspruch zu gerathen. Er rühmt an seiner Verbrauchssteuer, daß
sie jedem Einzelnen die Freiheit gebe, seine Belastung selbst zu ermäßigen,
indem er seinen Verbrauch einschränke, — aufs Haar derselbe Vorzug, den er
II., 352 f. bei Besprechung des Aufschlagsystems als einen Trugschluß bezeichnet
und aufs härteste verurtheilt. — Daß die Selbstangabe des Gesammtverbrauchs
zum Zwecke der Besteuerung richtiger ausfallen solle, als die des Einkommens, wird
ohne Grund angenommen. Wer so schlecht Buch führt, daß er nicht weiß, wie viel
er einnimmt, wird schwerlich seine Ausgaben genügend controliren. Wer aber aus
Eitelkeit sein Einkommen zu hoch angab, wird auch seinen Verbrauch übertreiben,
und wer aus Unredlichkeit sich dort zu niedrig schätzte, wird auch hier vor dem
Betrüge nicht zurückscheuen. — Was endlich die Thätigkeit einer Schätzungs-
Commission betrifft, so scheint uns diese dem Gesammtverbrauch gegenüber am
übelsten berathen. Alle die Anhaltspunkte, welche bei der Beschatzung nach dem
Einkommen eine ziemlich sichere Berechnung des Reinertrages ermöglichten,
gehen hier verloren. Die Gewißheit, mit welcher die Einnahmen von Beamten
aller Art festzustellen sind, gibt man aus der Hand. Die gesammte landwirth-
schaftliche Production liegt offen zu Tage, ihr Reinertrag ist in jedem einzelnen
Falle mit großer Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Wie aber will man con-
statiren, wie viel von diesem Reinertrage der Landwirth nach außen absetzt, wie¬
viel er im eigenen Haushalt verbraucht? Gesetzt auch, die Bauern eines Dorfes
wären, begünstigt durch die Lage der Verhältnisse, im Stande, einander bis ins
einzelnste zu controliren, — wie aber sollen sie den Gesammtaufwand eines in
ihrer Mitte lebenden reichen Gutsbesitzers abschätzen, der sich Genüsse verschafft,
von denen sie vielleicht nie eine Ahnung gehabt? Auch in der Region der
Gewerbe scheint uns die Berechnung des Einkommens sicherer zu bewerkstelligen,
als die des Verbrauchs; nur bei Abschätzung der ausschließlich sogenannten Ka¬
pitalisten mögen die Umstände der letzteren das Wort reden. — Kein Zweifel:
im Allgemeinen würde die Besteuerung auf Grund der Abschätzung der Gesammt-
ausgaben zu mancher Härte führen müssen, und besonders gegen die untere
Klasse. Denn je kleiner der Spielraum, der dem Einzelnen für seine über die
Befriedigung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse hinausgehenden Verwendungen
abgesteckt ist, desto leichter und sicherer werden seine Ausgaben controlirbar sein,
— je größer, desto schwieriger und unsicherer. Dazu kommt, daß Mancher —
wie die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse heute nun einmal besteht —
im Interesse seiner Stellung gezwungen sein wird, gewisse ostensible Ausgaben
zu machen, während er in andern der öffentlichen Beurtheilung entzogenen
Verwendungen karge. Wird hier eine Schätzung, die sich nur an den öffentlich
sichtbaren Aufwand halten kann, zu einem gerechten Resultate führen?
Nach dieser ganzen Ausführung ist klar, daß wir nicht gewillt sein können,
das Prinzip der Beschatzung nach dem reinen Einkommen zu Gunsten der all¬
gemeinen Verbrauchssteuer zu opfern. Pfeiffer indeß ist schon im Voraus nicht
im Zweifel darüber, welcher Widerspruch seinem Vorschlage entgegentreten wird.
Er ist.deshalb vorläufig zufrieden, wenn die allgemeine Verbrauchsteuer an die
Stelle der bisherigen Aufschlagsteucrn tritt, die übrigen Schätzungen aber durch
die allgemeine Einkommensteuer ersetzt werden. Auch verlangt er nicht plötzliche
und rücksichtslose Aenderung, sondern begnügt sich mit der allmäligen Einführung
dieser Neuerung. — Es würde dieser Combination dasselbe Prinzip, wie der bis¬
herigen Combination zwischen Schatzungs- und Ausschlagsystem zu Grunde liegen.
Allein, daß wir die allgemeine Einkommensteuer nicht zu befürworten vermögen, ist
bereits erwähnt. Es fragt sich, ob wir einer allgemeinen Verbrauchsteuer gegen¬
über andrer Ansicht sein können. Unleugbar ist es eine der größten Schwierig¬
keiten des Aufschlagsystems, eine richtige Wahl der zu belegenden Gegenstände
zu treffen. Indeß, es bleibt bei der Verschiedenheit der Objecte doch immer
die Hoffnung, was auf der einen Seite gesündigt wurde, auf der andern
wieder gut zu machen. Nichts dagegen von dieser Hoffnung, wo der gesammte
Verbrauch unter eine einzige Steuer fällt. Ist diese einmal falsch gegriffen, so
wird die Uebervürdung den Belasteten unausweichlich treffen, und zwar in
einem ganz andern Maße, als die geringe Vertheurung einer einzelnen Waare.
Was jedoch am ersten für die allgemeine Steuer sprechen mag/ wäre ihre
Wohlfeilheit gegenüber den enormen Kosten, welche durch die indirecte Erhe¬
bungsweise der Aufschlagsteuern veranlaßt werden. Allein auch über diesen
Punkt ist unser Urtheil bereits gesprochen. Wie die Verhältnisse heutzutage noch
liegen, scheint es uns unmöglich, den gesammten Steuerbetrag auf directem
Wege zu erheben.
Nach einem das Nöthigste umfassenden Abschnitte über die Staats¬
schulden schließt das vorliegende Werk. Ueberblicken wir noch einmal seine
ganze Anlage, so dünkt uns, als wäre dem Standpunkte des Verfassers die
Umpsenbachsche Eintheilung in organische und mechanische Quellen des Staats¬
einkommens weit entsprechender gewesen, als die — und zwar im Anschlusse
an Rau — wirklich getroffene. Nicht als ob wir die Bezeichnungen „organisch"
und „mechanisch" für besonders zutreffend hielten. Aber wenn dadurch ange¬
deutet wird, daß die Beiträge der Staatsbürger die wesentliche, für das Be¬
stehen des Staats unumgänglich nothwendige, die Einnahmen ans Domänen
und Fiscalvorrechten aber die unwesentliche, ohne Noth entbehrliche Quelle für
die Deckung des öffentlichen Bedarfs sind, so ist das mit der gegenwärtigen
Ausfassung der Staatswirthschaft unstreitig weit eher im Einklang, als jene
alte Anordnung, welche so leicht den Schein zuläßt, als wäre das Einkommen
aus eigenem Erwerb der Regierung noch immer die Hauptsache, die Beisteuer
der Staatsangehörigen aber nur eine bequeme Aushülfe, das Fehlende zu decken.
Allein es ist Pfeiffer nicht darum zu thun, an dem bestehenden Systeme aus¬
zubessern. Ueberhaupt wendet sich seine Kritik nicht eigentlich gegen die Theorie
der Schule, sondern gegen die Einzelheiten der Finanzpraxis: „Da die meisten
Abgaben ihr Dasein nicht einem System verdanken, so kann auch nicht daran
gedacht werden, System hineinzubringen." Wie sie sich einem Blicke in die
Wirklichkeit zeigen, erfaßt er die vielfachen Griffe der Routine, um sie eingehend zu
beleuchten und schonungslos zu verwerfen. Dabei begegnet ihm allerdings, daß
er ganz Fremdes in die Betrachtung hereinzieht, offenbar die gute Gelegenheit
benutzend, auch in Bezug auf diese Dinge seiner „Entschiedenheit" Luft zu
machen. So gesellt sich in diesem Buche zu einem Mangel an scharfer Defi¬
nition, an systematischer Gliederung und Geschlossenheit gar häusig eine gewisse
Weitschweifigkeit mit unwissenschaftlichen Anstrich; auch Flüchtigkeiten laufen mit
unter. Trotzdem soll der Werth desselben nicht geschmälert werden. Der Auf¬
gabe, die Lehre von den Staatseinnahmen weiteren Kreisen zugänglich zu machen,
hat der Verfasser — wie er denn als Verbreiter volkswirthschaftlicher Einsicht
löblich bekannt ist — anerkennenswerth Genüge geleistet. An Stelle der eigen¬
artigen und strenggelehrten Diction, Wie sie unter den Früheren, z. B. von
"
v. Malchus, unter den Neuern von Umpfenbach gehandhabt wird, ist eine
durchsichtige, gemeinfaßliche Sprache getreten. Das Verständniß und die Wür¬
digung jeder einzelnen Einnahme wird erleichtert durch einen kurzen Ueberblick
über ihre historische Entwickelung. Von besonderem Verdienst und Interesse
aber ist die reiche Anzahl statistischer Tabellen, namentlich zu einer Vergleichung
der Finanzwirthschaft in den verschiedenen Hauptstaaten Europas geeignet. Daß
das Buch noch vor der vorjährigen Katastrophe geschrieben ist, thut seiner
Brauchbarkeit keinen Eintrag.
Jedes neue Gebiet großer Interessen ändert der Nation Blick und Urtheil
über die Vergangenheit, sie sucht die Anfänge von allem, was ihrer Gegenwart
Bedeutung gewinnt, in Zuständen und Charakteren früherer Zeit. Wir sind,
jetzt nicht mehr zufrieden, in den geistigen Führern des vorigen Jahrhunderts
die Männer zu bewundern, welche die moderne Poesie und Literatur Deutsch¬
lands großzogen, wir mustern auch ihren politischen Inhalt, ihr Verständniß
für die großen Fragen ihrer Zeit und die Stellung, welche sie dazu nahmen.
Nicht immer ist es leicht, bei solcher Prüfung gegen die Vergangenen ge¬
recht zu werden, denn ihre politischen Urtheile sind in der Regel ihre schwache
Seite. Am meisten da, wo sie persönliche Eindrücke berichten, welche ihnen von
vornehmen Herren, den Trägern damaliger Cabinetspolitik, gemacht werden.
Kein größerer Gegensatz ist denkbar, als zwischen den hochgebildeten, feinfühlen¬
den Idealisten, welche die weichen Empfindungen schöner Seelen in sich ver¬
arbeitet hatten, und zwischen den harten Vertretern jener schlauen, hinterhälti¬
gen scrupulöser Politik, welche im Ganzen während des 18. Jahrhunderts die
Signatur der einflußreichsten Diplomaten auf dem Kontinent war. Trafen ein¬
mal die beiden Methoden der Bildung gesellschaftlich zusammen, so waren die
schönseeligcn Humanisten in der Regel die Dupirten, die Ehrfurcht vor erlauch¬
ter Geburt war weit größer, als in der Regel jetzt, für die großen Gesichts¬
punkte eines Politikers fehlte vielen Interesse und Verständniß, der Fürst und
Staatsmann, welche sich mit den Ideen und der Bildung unserer neuen Hu¬
manisten zu putzen wußten, wurden rückhaltlos bewundert, wie unbrauchbar sie
auch als Politiker waren; Dalberg war weit mehr nach dem Herzen des weima-
rischen Kreises, als Herzberg, und Kaiser Joseph galt ihnen lange für eine
höhere Jncarnation von Regentenweisheit als Friedrich II.
Von diesem Standpunkt sind politische Urtheile der vornehmen Vertreter
unserer klassischen Literaturcpoche, wie wenig sie uns befriedigen, doch sehr lehr¬
reich. Wir dürfen uns mit Recht rühmen, daß der Nimbus vornehmen Wesens
jetzt weniger imponirt, und daß wir den Phrasen, welche ein erlauchter Herr
in dem Bedürfniß, zu gefallen, etwa ausspricht, kein so großes Gewicht bei¬
legen. Der bisher ungedruckte Brief Herder's welcher im Folgenden mitgetheilt
wird, soll die alte Zeit in diesem Sinne charakterisiren.
Herder hatte bei seinem Aufenthalt in Florenz im Mai 1789 eine längere
Audienz beim Großherzog Leopold, von welcher er dem Herzog Carl August
Bericht erstattete, der bei manchen Stellen wohl verstanden haben wird, was
für ihn zwischen den Zeilen zu lesen sein sollte. Man wird diesen, immerhin
charakteristischen Brief nicht ohne Interesse lesen.
Er ist nicht nur für das Wesen des Schreibenden bezeichnend, auch für
Leopold II. Die Unterredung fand eben acht Monate vor dem Tage statt, an
welchem Leopold als Nachfolger Josephs II. den Kaiserthron bestieg, um den
Staat, welchen sein Bruder zerrüttet und in die gefährlichste Lage gebracht
hatte, durch die Diplomatie einer feinen, sichern und hinterhältigen Natur
wieder zurecht zu rücken. Als der Großherzog die Unterredung mit einem der
Chorführer des damaligen Deutschlands suchte, war der kluge Lothringer sich
wohl bewußt, daß in Deutschland seit einigen Decennien das Völkchen der
Schriftsteller eine Macht geworden sei, die ein Fürst für sich zu gewinnen
Ursache habe. Man erkennt aus dem Briefe, wie sehr ihm dies bei Herder
gelungen ist. Der Text lautet folgendermaßen:
— — „Sehr interessante Stunden waren es für mich, da ich nach so
vielem Merkwürdigen, das ich in Florenz gesehen hatte, die Ehre und das
Glück genoß, den Großheczog selbst zu sprechen, ohne daß ich darum angehalten
hatte. Er hatte durch den Grasen Hohenwart von mir gehört, und als er an
einem seiner gewöhnlichen Tage in die Stadt kam, um die Klagen oder Bitten
seiner Unterthanen anzuhören, war ich um 11 Uhr bestellt, da er dann sogleich
mich vor sich ließ und bis fast zwei Uhr sich über eine Menge Dinge mit mir
so gedrängt und lebhaft unterhielt, daß während dieser ganzen Zeit kein leerer
Augenblick sich zwischen einzuschleichen Raum hatte. Das Gespräch betraf fast
mit keinem Worte die Gelehrsamkeit, und noch weniger die gemeinen Triviali-
täten, von denen man mit Reisenden reden zu müssen glaubt, wenn man nichts
bessers weiß: sondern, wenn ich so sagen darf, allgemeine Bedürfnisse der
Menschheit, Anstalten für dieselbe, den Zustand der und jener Nation, Grund¬
sätze dieser oder jener Regierung, mit so manchem, was davon abhängt oder
sich daran bindet. Der Großherzog selbst leitete das Gespräch; er fragte und
sagte seine Meinung; das letzte allemal mit der Energie, die ihn ganz charakte-
ristrt, und die bei jedem Worte zeigte, daß er in diesen Sachen zu Hause ist,
daß er sie oft durchdacht bat, und darin, wie in einem Geschäft, wie in einer
Kunst lebet. Ich glaube nicht, daß er sich von einer bloßen Wort-Theorie nur
einen Begriff machen kann, ob er gleich viel und täglich liefet, die besten Schrift
ten der aufgeklärten Nationen Europas kennet und sein System daraus gebildet
hat; es ist aber ein praktisches System, sein Geist ist ganz energisch und thätig,
wie es auch seine Gestalt und seine tägliche Lebensart zeiget. Ich glaube
nicht, Euer Durchlaucht von der letzten unterhalten zu dürfen, da sie bekannt
ist; und auch den Faden eines so gedrängten, lebhaften Gesprächs zu wieder¬
holen, würde mir unmöglich sein, so sehr ichs wünschte. Unvermerkt legt man
Poesie in solche Gesprächsccnen, sobald man sie niederschreibe; und immer
geben sie doch nur ein täuschendes, unvollkommenes Bild des wahren Gesprächs.
Aber die Grundsätze, die aus des Großherzogs Seele, sowie aus allen seinen
Urtheilen und Aeußerungen hervorleuchteten, haben sich zu kenntlich in mein Ge¬
müth gedrückt, als daß ich von ihnen nicht sicher sprechen und schreiben könnte;
seine Negierung selbst ist auch zu ihnen gleichsam die Probe, und ich kann mir
nach dieser Unterredung manches in dieser erklären, was ich vorher nicht recht
zusammenzureimen wußte.
Nichts drückte sich so augenscheinlich in seinem Gespräch ab, als daß er
den Kriegsgeist wilder Eroberung nicht liebe, und die Regierungskunst in ganz
etwas anderes setze, als in eine unruhige, oder eigennützige, oder eitle Erwei¬
terung der Länder. Natürlich hat ihn seine Situation in Italien, in welche er
früher kam und in der er solange fortgewirkt hat, in dieser Denkart bevestigt;
sie ist aber auf etwas Tieferes und Edleres, als auf diese seine jetzige Lage
gegründet, nämlich auf Einsicht in das Wohl eines Landes und den Zweck
aller menschlichen Regierung. Er hat seit einer Reihe von Jahren bessere Be¬
schäftigungen eines Regenten kennen lernen, als zu Friedenszeiten ein
einfältiges Puppenspiel mit menschlichen Maschinen treiben,
die man zu Kriegszeiten oft für oder wider nichts aufopfert/)
Er sprach vom Eroberungsgeiste als von einem Nest voriger roher und barba¬
rischer Zeiten so bestimmt, hat es auch sowohl durch die Grundsätze, nach denen
er regiert und die Stände seines Landes betrachtet, als auch durch die Grund¬
sätze, in denen seine Punzen erzogen werden, wie mich dünkt, genugsam erwie¬
sen, daß der Geist seiner Regierung bürgerlich, nicht militärisch sei. Und
eben hiedurch, glaube ich, wird er, falls das Schicksal ihn noch zum Nachfolger
seines Bruders bestimmt hätte, den Staaten desselben sehr aufhelfen, indem er
in solchem Fall gewiß zeigen würde, was durch Ordnung, Klugheit und feste
Verträge der Friede über den Krieg vermag. Als vom Fürstenbunde die Rede
war, sagte er: „Wenn der Fürstenbund nichts als die Erhaltung der deutschen
Konstitution zum Zwecke hat, so ist er nicht zu tadeln, und ich sehe nicht,
warum nicht der Kaiser selbst ein Mitglied davon sein könnte; die Konstitution
Deutschlands zu erhalten, ist er ja eben Kaiser." Ueberhaupt hat er von dem.
was wahre Constitution eines Landes ist, sofern solche auf Gesetzen, aus inner¬
licher Ordnung und Beobachtung gegenseitiger Pflichten, auf einem Gleichge¬
wicht der verschiedenen Stände gegen einander beruhet, einen hohen Begriff,
wie er denn auch seinem Lande, das vorher im Grunde keine Constitution
hatte, zuerst eine solche gegeben. Gegen den Despotismus sprach er mit einer
Art Eifer: er redete von ihm als von einer nicht nur ungerechten, sondern
unverständigen Sache. Der Despotismus helfe nichts, sondern bringe alles
in Verwirrung. Gesetze müßten regieren, nicht Willkühr; denn am Ende könne
doch die Willkühr des Fürsten weder die Dinge, wie sie sind, noch ihre
Folgen ändern. Er sprach von einem benachbarten Hofe, der auch in welt¬
lichen und in Regierungssachen infallibel sein wollte, mit einer Art von Ver¬
wunderung, wie man so sein könnte; und er selbst hat sich nicht geschämt,
Gesetze frei zurückzunehmen, sobald sie nicht taugten. Er geht aber auch mit
langsamem Schritt zu wirklich neuen Gesetzen; er versucht die Sache, sobald sie
ihm zweifelhaft scheint, erst durch particuläre Befehle, bis er sich von der
Güte derselben überzeugt hat, da ihn dann auch nichts mehr wankend macht,
oder davon abwendet. Energie scheint mir überhaupt die Basis seines Charak¬
ters zu seyn; Calcul und Ordnung sind die nothwendigen Erfordernisse, seine
Wirksamkeit zu bestimmen und einzuschränken.
Als ich ihm über die letzte ein Kompliment machte, sagte er: „Da loben
Sie mich über etwas, was ich wirklich aus Bequemlichkeit thue, und aus
Noth thun muß. Nichts erspart soviel Zeit, als Ordnung: nichts gibt so
klaren Begriff einer Sache, als der Calcul. Wer beide nicht von selbst lernen
will, den muß sie die Noth lehren." In beiden aber hilft ihm auch ungemein
sein großes Gedächtniß; sowie ich gegenseitig glaube, daß dies sein ungeheueres
Gedächtniß, von dem man mir sonderbare Proben erzählt hat, sich eben auch
durch die Ordnung, die in seinen Geschäften herrscht, durch den immer frischen
Anblick, den er sich Von Personen und Sachen gibt, durch die Erzählungen,
die er sich dabei thun, durch die Nachrichten, die ersieh von individuellen Um¬
ständen sortgesetzt geben läßt, sehr geordnet und gestärkt habe. Daß dabei ganz
der Geist des zu kleinen Details zu vermeiden seyn sollte, läßt sich nicht ver¬
muthen; indessen ist dem Großherzoge dadurch sein kleines Land so übersehbar
geworden, daß ers beinah wie ein Hausvater sein Haus oder Landgut kennet.
In manchen Dingen, versichert man, um die er sich in den ersten Jahren viel¬
leicht zu sehr bekümmerte, hat er einen großen Theil seiner Aufmerksamkeit
nachgelassen; und es kann nicht fehlen, daß er sie in manchem nicht noch mehr
herabstimmen sollte, wo sie nicht zu seiner täglichen Lebensweise gehört. Er
ist nahe am Ziel, sein Land völlig umgeschaffen und eingerichtet zu haben; und
er hat, nach dem Zustande, in welchem er es fand, nach dem Verhältniß, das
er insonderheit gegen Rom hat, nach der Proportion desselben zu seiner Fa¬
milie und s. f. während seiner langen Regierung und täglichen Bemühung gewiß
regieren gelernt.
Vielleicht sagen Euer Durchlaucht, woher es denn komme, daß bei allen
diesen, und so lange fortgesetzten Bemühungen fürs Wochl seines Landes den
Großherzog nicht eben die allgemeine Liebe seines Volks belohne? woher es
komme, daß zumal in Florenz die alte Fröhlichkeit und mit ihr ein Theil des
Genies dieser geniereichen Nation unterdrückt und aus eine Zeit erstorben
scheine? wie es sein könne, daß ein so einsehender Regent an einigen revol-
tantcn Einrichtungen mit einer Vcstigkeit hange, die mehrere Begüterte aus
dem Lande getrieben? ja vielleicht noch manches andre, das die sogenannte
Hofpartei der Jansenisten, die Unzufriedenheit des Adels, das Mißtrauen der
Fürsten gegen die Nation, die Mutlosigkeit der Academien, die Schläfrigkeit
der Universitäten anbetrifft u. s. f. Allein in allem diesem greifen so mancher¬
lei Dinge ineinander; es scheint mir dabei so vieles auf die Lage von Florenz
und seine vorige Beschaffenheit, auf die Erziehung und Familiendenkart
des Großherzogs, auf die Nähe Roms, auf die ganze jetzige Gestalt und den
Grad der Cultur Europas anzukommen, daß hierüber zwar Manches zu muth¬
maßen, zu reden, weniges aber zu behaupten und zu schreiben sein dürfte.
Keinem Sterblichen haben die Götter Alles verliehen: so auch keinem Lande,
keiner Zeit alles. Der ökonomisch-politische Geist unseres Jahrhunderts drückt
ja nicht nur in Florenz, sondern überall aus alles sein Siegel. Und gewiß
werden nicht allenthalben so große Anstalten für die Nachwelt gemacht, wie in
Toskana. Das ganze Instrument wird rein gestimmt und ist scharf bezogen;
kann doch einst ein jüngerer Nachfolger hie und da eine Saite nachlassen, wo
sie ihm überspannt dünkt. Den Schlüssel zu einer milden Harmonie muß ihm
alsdann der Geist seiner Zeit geben."---
Politische Erbschaften können bekanntlich nicht mit dem dencüomm invvir-
t-nil angetreten werden — man muß sie in Besitz nehmen, wie sie gehen und
stehen. Das zweite französische Kaiserthum erbte von der Präsidentschaft die Sorge
für die weltliche Macht des Papstthums, die Louis Napoleon im I. 1849 über¬
nommen hatte, um die klerikale Partei in Frankreich für die Zwecke seiner
inneren Politik zu gewinnen. Darüber sind viele Jahre vergangen, der Krim¬
krieg ist inzwischen geführt, Oestreich aus Italien verdrängt, die italienische
Einheit begründet, die mexikanische Tragödie inscenirt, endlich das Natio¬
nalitätsprinzip verkündet und Preußen in die Reihe der mächtigsten europäi¬
schen Staaten erhoben worden. Die Consequenzen der römischen Expedition
glaubte man längst mit der Abschlagszahlung der Scptemberconvention befrie¬
digt und aus der Weli geschafft zu haben. Da drängt sich gerade in dem
Augenblick, wo der Kaiser das Murren seines Volks über das an Preußen ver¬
lorene Prestige beschwichtigt und nach manchem sorgenvollen Tage einen Augen¬
blick der Sammlung erreicht zu haben glaubte, die weltliche Macht des Papst¬
thums wieder vor und präsentirt den Wechsel, der ihm vor neunzehn Jahren
ausgestellt worden. Zum zweitenmal werden französische Soldaten über das
Meer gesendet, um die italienischen Patrioten von den Mauern Roms zurück¬
zudrängen, und noch bevor es dem Marquis de Moustier gelungen, eine euro¬
päische Konferenz zusammenzuberufen und in die Hände dieser das lästige In-
ventarstück von 1849 niederzulegen, haben die Macht der Umstände und die
Konsequenz der Sache die Regierung gezwungen, sich durch den Mund des
Ministers Nouher von jeder Gemeinschaft mit dem Nationalitätsprinzip loszu¬
sagen, ein neues Bündniß mit dem neunten Pius zu schließen und durch die
Erklärung „Rom soll niemals italienisch werden", den Lebensfaden guter Be¬
ziehungen zum florentiner Cabinet zu durchschneiden!
Diese neue Wendung, welche Frankreichs auswärtige Politik genommen hat,
ist so unerwartet gekommen, daß weder die übrigen europäischen Staaten, noch
auch die französischen Parteien Zeit gehabt haben, feste Position zu fasse».
Die Großmächte haben sich begnügt, aus dem Geschehenen den kurzen Schluß
zu ziehen: die Conserenz kommt nicht zu Stande. In den Reihen der Oppo-
sitionsmänner des vvips Ivgislutit ist von gemeinschaftlichen Beschlüssen da¬
gegen nicht mehr die Rede, unter denselben herrscht eine Verwirrung, die aufs
Neue den Beweis führt, wie ohnmächtig eine Partei ist, die keinem positiven
Programm folgt und deren Glieder allein durch die Negation der bestehen¬
den Ordnung zusammengehalten werden. Während Jules Favre die Alliance
Frankreichs mit dem Papstthum einer vernichtenden Kritik unterzieht, wissen
Thiers und Berryer an derselben nur zu tadeln, daß sie nicht vollständig genug
gewesen. Emile Ollivier macht der Negierung wegen der unfreundlichen Haltung
Vorwürfe, welche sie Deutschland gegenüber angenommen, Simon verlangt in
Uebereinstimmung mit Thiers, daß Frankreich seiner alten Politik treu bleibe, die
Mächte zweiten Ranges unterstütze und die Bildung großer Staaten möglichst
verhindere. Eine wirkliche Uebereinstimmung der Parteigenossen ist aber im
kaiserlichen Lager ebenso wenig zu finden, wie im oppositionellen; wenn auch die
Masse der 273 bedingungslos Gouvernementalen, dem „^aeneis, Sinais" des
Herrn Nouhers seine begeisterte Zustimmung schenkte, es steht fest, daß ein
großer und nicht unwichtiger Theil der Anhänger des Kaiserthums die Los¬
sagung von den Prinzipien der Nationalität und Freiheit für einen Mißgriff
hält und von dem Unbedingten Eintritt Frankreichs für das üominium teinpor^to
nichts wissen will. Mag immerhin wahr sein, daß Herr Rouher im Austrage
des Kaisers gesprochen und von diesem für seine Rede als „Wiederherstelle!
des parlamentarischen Regiments" begrüßt worden ist — der Eifer, mit dem
de Moustier den Conferenzvorschlag in das Project einer Vorbesprechung der
Großmächte umzugießen bemüht ist, läßt durchsehen, daß das Tuilleriencabinet
sich in der neugewonnenen Position keineswegs sicher fühlt. Das Aufsehen,
welches Nouhers verhängnisvolle Worte gemacht haben, ist allerdings im Stande
gewesen, den Eindruck der vernichtenden Rede Favres zu übertäuben, die Schwie¬
rigkeiten aber, in welche Frankreich durch die römische Frage gebracht worden
ist, sind durch dieselben eher vermehrt, als vermindert worden. Darüber daß
das Nichtzustandekommen der Conferenz Frankreich mehr denn je isolirc, daß
Preußen und England mit der herausfordernden Haltung, welche man Italien
gegenüber angenommen, nicht sympathistren, kann man im kaiserlichen Cabinet kaum
verschiedener Ansicht sein. Lenkt man zu Gunsten einer Verständigung mit Victor
Emanuel ein, so bedeckt die französische Politik sich mit der Schmach einer In-
consequenz, die sie kaum mehr tragen könnte; läßt man es zum Aeußersten kommen,
so ist ein Bruch mit Italien und Menabrea, dem maßvollsten und conscrvativsien
aller in Florenz möglichen Staatsmänner, unvermeidlich. Die Schärfe, mit welcher
die „Kreuzzeitung" die Wahrscheinlichkeit, ja Nothwendigkeit dieses Bruchs schon
vor acht Tagen hervorgehoben hat, legt uns Schlüsse auf die Aufmerksamkeit
nahe, mit welcher man in Berlin der französisch-italienischen Verwickelung folgt.
Trotz aller Verschiedenheit der hüben und drüben angewandten Mittel läßt sich
einmal nicht leugnen, daß die Einigung Italiens mit der Deutschlands in einem
verhängnißvollen Zusammenhang steht. Dem Grafen Cavour wird bekanntlich
das ahnungsvolle Wort in den Mund gelegt, die Schleswig-holsteinsche Frage
werde Venetien frei machen und mit Italien vereinigen. Unter den gegenwär¬
tig gegebenen Umständen und angesichts der Unzuverlässigkeit der französischen
Friedensversicherungen (deren neueste Formulirung mit der der kaiserlichen
Thronrede keineswegs identisch ist), kann man sich dem Gedanken nur mühsam
entziehen, die Zukunft Roms werde mit der der Mainlinie und des neuen
deutschen Bundes in engem Zusammenhang stehen. Selbst Beobachter, welche
kein direktes Interesse an den deutschen Dingen haben, weisen in englischen
und französischen Journalen (z. B. der IncloxLnäaneö belZe) darauf hin, daß
die Strömung, in welche das französische Staatsschiff neuerdings gesteuert ist,
keineswegs parallel mit dem Rhein fließe und daß die Elemente, welche sich
gegen Italiens Einigung verbunden, im Großen und Ganzen dieselben seien,
die vor zehn Monaten die Nothwendigkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung
mit dem neuen deutschen Staat gepredigt hätten. Damit stimmt, was aus
Süddeutschland über die zunehmende Rührigkeit der französischen Diplomaten
in Stuttgart und München und über die neuesten Phasen der patriotischen
Politik des Freiherrn von Varnbühler gemeldet wird, der das königliche Schlag¬
wort von Erreichung einer äußersten Grenze der Preußen zu machenden Conces¬
sionen neu in Cours gesetzt haben soll.
Die Abhängigkeit, in welche Frankreich und die verschiedenen französischen
Parteien von den Fragen der auswärtigen Politik gerathen sind, beweist deut¬
lich, daß eine Gesundung dieses Staatskörpers auf anderem wie chirurgischen
Wege kaum mehr möglich ist. Das öffentliche Interesse concentrirt sich nicht
darum, wie es um Frankreichs innere Zustände bestellt ist, — was Frankreich
der übrigen Welt bedeute, ist die Frage, über welche gestritten wird, und auf
welche es ankommt. Erwägungen über ein Wachsthum dieser Bedeutung sind
es mithin, welche für die Handlungsweise des Kaisers und seiner Regierung
maßgebend sein werden, und diesen hat die Opposition nichts entgegen zu
setzen, seit ihre Einheit an einer Klippe der auswärtigen Politik gescheitert ist.
Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß der Glaube an die Möglichkeit
oder Unmöglichkeit einer friedlichen inneren Regeneration für den besseren Theil
der Franzosen bei der Entscheidung über Krieg und Frieden bestimmend sei.
Nach den neuesten Vorgängen in Paris ist es wahrscheinlicher denn je, daß
Volk und Regierung sich in dem Wunsche nach einem gewaltsamen Auswege
aus den inneren Schwierigkeiten begegnen werden. Die Verwirrung, welche
die römische Frage in beiden Lagern angerichtet hat, muß das Gefühl der Un¬
fähigkeit zu innerer Regeneration über sein gewöhnliches Maß hinaus steigern,
und welches die Folgen einer inneren Banquerotterklärung des französischen
Volkes sind, wissen wir seit siebenzig Jahren und länger aus eigenster Erfah¬
rung. Allerdings werden die Verhandlungen über Preßgesetz und Militärreor¬
ganisation den Favre, Pelletan, Thiers, Berryer und Ollivier noch manchen
Angriffspunkt bieten, jener erste „clioc" «der, in welchem die Hauptstärke fran¬
zösischer Redner wie französischer Soldaten besteht, hat nur die Hälfte seiner
Wirkung gethan und der Opposition mindestens ebensoviel geschadet, wie der
Regierung. Die Meinungsverschiedenheit der Führer über die Fragen der aus¬
wärtigen Politik ist der Haupteindruck, den das französische Volk von der Favrc-
schen Jnterpellation empfangen hat — die Beziehungen zu Rom und Italien,
bleiben darum im Vordergrunde der öffentlichen Theilnahme und absorbiren
das beste Theil des Interesses, das sonst den Fragen der innern Politik des
Staats zu gute gekommen wäre. Während für diese letzteren auch in Frank¬
reich auf ein gewisses Maß gesunden Volksvcrstandes gerechnet werden kann,
müssen wir uns auf eine allgemeine Verwirrung der sittlichen und politischen
Begriffe gefaßt machen, wenn die Massen in die Beschäftigung mit Diplomatie
hineingezogen und zum Meinungsaustausch über die Beziehungen Frankreichs
zu Italien und Deutschland angeregt werden. —
Während die französische Volksvertretung fast ausschließlich mit äußeren
Fragen beschäftigt gewesen ist, hat das preußische Abgeordnetenhaus nut
dem Budget, der Abfindung der Deposscdirten und der twestcnschen Angelegenheit,
kurz mit Dingen rein häuslicher Natur vollauf zu thun gehabt. Der Rücktritt
des Iustizmin Secrs Grafen zur Lippe ist das „Ereignis;" des laufenden Monats
gewesen und hat zu Deutungen der verschiedensten Art Veranlassung gegeben.
Läßt sich ein Zusammenhang zwischen der Verabschiedung dieses Ministers und
der Verurtheilung des Abgeordneten Tochter auch nicht leugnen, so fehlt doch
aller Grund dazu, dieselbe als parlamentarischen Sieg zu feiern; selbst den
günstigsten Fall angenommen, ist es nur der Gegensatz des Justizministers zum
Ministerpräsidenten, nicht zu der Majorität des Abgeordnetenhauses gewesen,
dem Herr Dr. Leonhardt sein Portefeuille verdankt. Die innere Politik des
preußischen Staats wird für die nächste Zukunft bleiben wie sie war, und wir
müssen zufrieden sein, wenn Concessionen im Einzelnen gemacht und extreme
Parteiübergriffe vermieden werden. Zu einem dauernden Einfluß auf die inneren
Fragen sann die nativnalliberale Partei nur gelangen, wenn sie unverdrossen
an dem Werk jortarbeitet, zu dessen Vollendung sie sich verbunden hat, wenn
sie sich im Eifer für dieses von keiner der übrigen Fractionen überflügeln läßt.
Das eigentliche Feld ihrer Thätigkeit wird darum — vielleicht noch lange —
der Reichstag bleiben, in welchem ihre Stellung wesentlich günstiger ist, als
in dem Hause am Dönhofsplatz. Schon aus diesem Grunde begrüßen wir die
vom Grafen Bismarck in Aussicht gestellte Uebertragung des Etats für das
Ministerium des Auswärtigen auf das Budget des norddeutschen Bundes mit
besonderer Genugthuunc?. —- Wie die Zeitungen wissen wollen, werden sich die
preußischen Gesandten zu Wien und London schon im Januar 1868 in Bun-
desgesandte vciwandeln. Die Debatte, welche zu dieser Mittheilung Veran-
lassung gab, war an und für sich nicht erhebend. Mag die Verhandlung des
Budgets im Plenum des Abgeordnetenhauses immerhin durch Parteirücksichten
geboten worden sein, es läßt sich nicht leugnen, daß dieselbe einen wenig er¬
quicklichen Eindruck macht und für die mißgünstige Kritik der demokratischen
Presse ergiebiger ist, als für den Fortschritt und die> Entwickelung unseres par¬
lamentarischen Lebens. Ermüdung und Unaufmerksamkeit des Hauses sind die
unausbleiblichen Folgen einer Art der Geschäftbehandlung, die es selbst als
ihren Hauptzweck bezeichnet hat, möglichst rasch zu Ende zu kommen und
ihre Arbeiten vor Beginn des neuen Jahres zu beenden, ein Zweck, der —
beiläufig bemerkt — nicht ein Mal erreicht worden ist. Die preußischen Partei-
Verhältnisse haben sich seit der Vergrößerung dieses Staats genugsam Veranden,
um die Gefahren beseitigt erscheinen zu lassen, welche bis zum Jcchre 1866 jede
Budgetberathung umgaben; seit man nicht mehr zu fürchten hat, die doctrinäre
Starrheit einer allmächtigen Demokratie werde in ihrer Abneigung gegen die Re¬
gierung jeden Budgctposten allein unter dem Gesichtspunkt der durch Streichung
desselben zu ermöglichenden Rcgicrungevcrlcgcnheit betrachten, sind auch die Gründe,
welche die Majorität des Landtags vom He>bst 1866 bewogen, den Staatshaus¬
halt nicht in einer Commission, sondern im Plenum zu berathen, unserer Ansicht
nach weggefallen. Will man sich den Umschwung der Verhältnisse, der seit dem
Sommer vorigen Jahres eingetreten ist, wahrhaft zu Nutz zu machen, so wird
man — wie uns scheint — zu dem früheren Modus zurückkehren und dadurch
den Gegnern den Beweis liefern müssen, man fürchte sie tut geschlossenen Thüren
ebenso wenig, wie Vor offenem Hause. Daß das Plenum nicht der geeignete
Ort für Behandlung von Detailfragen sei, hat sich bei mehr wie einer Ge¬
legenheit gezeigt. Wie viel fruchtbarer hätte z. B. die Debatte über die Be¬
willigungen für die Verwaltung der neuen Provinzen sein können, wenn sie
in einer Commission geführt worden wäre. Die wichtige Frage nach der künf¬
tigen Organisation Hannovers, Schleswig-Holsteins u. f. w. ist ungeachtet der
Betheiligung einer Reihe von hervorragenden Rednern so gut wie unbeantwortet
geblieben, und das Jntcrimisticum, welches Graf Eulenburg gegen die Meinung
der gründlichsten Sachkenner für nothwendig hielt, trotz der vom Abg. Laster
bewirkten Abzüge, durchgesetzt worden. Ueber die „Meinungen des Hauses" be¬
züglich der Grundsätze der Organisation in den neuen Provinzen wäre der
Minister des Innern in einer Commission sicher sehr viel vollständiger unter¬
richtet worden, als in einer Plenarsitzung, deren Interesse (nach der zutreffenden
Bemerkung des Abg. Windthorst) durch die Fractionsverhandlungcn Vorwegge¬
nommen worden war. Eine gleich günstige Gelegenheit zur Erörterung der
Schäden der Preußischen Kreis- und Provinzialversassung wird schwerlich sobald
wiederkehren, denn es ist mehr wie wahrscheinlich, daß die Organisation der
Verwaltung in den annectirten Previnzen binnen Jahr und Tag eine vollendete
Thatsache sein wird, über deren nachträgliche Beeinflussung durch die Meinung der
Volksvertretung man sich keine Illusionen zu machen braucht. — Voraussichtlich
werden schon die nächsten Tage eine Unterbrechung der Thätigkeit des preußischen
Parlaments bringen; von den Vorlagen, welche nach Beginn des neuen Jahres
zur Verhandlung kommen sollen, wird das von dem Abg. Glaser beantragte
Hypothekengesetz ein besonderes Interesse haben und wir tonnen damit zufrieden
sein, daß dasselbe erst nach Beschluß der dringenden und drängenden Budget¬
arbeiten an die Reihe kommt. —
Für Oestreich steht mit dem Schluß des Jahres auch die Erledigung der
Verhandlungen über den Ausgleich mit Ungarn bevor, der trotz der Ausstellungen,
welche der Reichstag im Einzelnen gemacht hat, seinem Abschluß nahe ist.
Freilich bleibt die Entscheidung über die definitive Uebernahme des vollen Rehes
der Staatsschuld, welche Ungarn den cisleithanischen Ländern aufbürden will,
noch in suspenso, und ist das Auskunftsmittel, durch welches der Reichstag
sich vor der Hand zu helfen versucht hat, mit einem Panique der Börse beant¬
wortet worden. Nichtsdestoweniger ist der Beginn der Delegationsverhandlungen
schon für die Mitte des nächsten Monats angesetzt worden und das wiener
Publikum erwartet stündlich die Constituirung eines cisleithanischen Ministeriums.
Die Aussichten auf Verständigung über die Staatsschuldenfrage sind damit
nicht günstiger geworden, vielmehr liegt die Befürchtung nahe, der wachsende
Einfluß der magyarischen Honvedvartei werde schon in nächster Zeit seine Wir¬
kungen zu äußern beginnen und sein Aeußerstes thun, um das Maß der von den
Döatisten gemachten Concessionen hinabzudrücken. Die blinde Leidenschaftlich¬
keit, mit welcher die Anhänger Kossuths auf eine Störung des kaum geschlos¬
senen östreichisch-ungarischen Friedens hinarbeiten mit für Trennung der unga¬
rischen von der österreichischen Armee agitiren, ruft gegründete Zweifel an der
vielgerühmten politischen Reife und constitutionellen Bildung des Magyaren-
thums wach. Daß das Programm D«5als die äußerste Grenze war, bis zu
welcher Herrn v. Beusts Willfährigkeit gehen konnte, sollte den ungarischen Po¬
litikern am wenigsten zweifelhaft sein, denn sie müssen aus der Geschichte ihres
Landes wissen, daß ihnen das gleiche Maß von Autonomie bis dahin nie¬
mals zugestanden worden und daß es nicht ihr Verdienst, sondern die Macht
der inzwischen wenigstens theilweise wieder veränderten Verhältnisse war, was
Oestreich hinter die Grenzlinie zurückdrängte, an welcher sämmtliche wiener
Staatsmänner bis zum Jahre 1866 festgehalten hatten. Wird an der militä¬
rischen Einheit des Staats gerüttelt, so ist der Beweis dafür, daß der Aus¬
gleich ungarischerseits nicht ehrlich gemeint war, so gut wie geliefert; nur ein
Ungarn, das die erste Gelegenheit zur Losreißung vom Hause Habsburg be¬
nutzen will, bedarf einer selbständigen Armee. Dieselbe Frage, welche heute
Von den Percjel und Genossen mit frevelhaftem Leichtsinn als Sturmkopf gegen
das Ministerium benutzt wird, ist für die Geschichte Ungarns schon einmal, im
Jahre 1848, verhängnisvoll gewesen: von dem Tage, an welchem Kossuth gegen
den Kriegsminister Meszaros für Trennung der (damals in Italien kämpfenden)
ungarisch-österreichischen Armee eintrat, schreibt sich, nach dem Zeugniß Springers,
das Uebergewicht der Radicalen und damit der Bruch her, der zu dem blutigen
Aufstande, der Katastrophe von Villagos und dem Haynauschen Blutregiment
führte. Es würde von einem verzweifelt kurzen Gedächtniß zeugen, wenn
Ungarn die damals empfangene Lehre vergessen hätte und zum zweiten Mal in
das Fahrwasser der Revolution steuern wollte. Und doch liegt diese Gefahr
nicht mehr außerhalb des Bereiches der Möglichkeit. Das außerungarische
Oestreich wird früher oder später auf die Forderung der Uebernahme eines
größeren Antheils an den Lasten des Staatshaushalts zurückkommen und die
Döakisten werden kaum wagen dürfen, die Befriedigung dieser Forderung in
ihr Programm aufzunehmen. Gewinne die Linke an Einfluß, so wird sie sicher
den Perczelschen Wünschen Rechnung tragen und dann steht der Anfang des Endes
vor der Thür. Die cisleithanischcn Provinzen haben Ungarn ein so bedeutendes
Maß von gutem Willen entgegen getragen, daß jede neue an sie gestellte Forderung
als Provocation erscheint und einen jähen Umschlag herbeiführen muß. Die
Feindschaft des slawischen Elements gegen das Magycuenthum ist bis jetzt durch
die entschiedene Haltung der deutschen Kronländer paralysirt worden, — ist es
mit der Geduld und dem guten Willen dieser zu Ende, so tritt Ungarn in
einen Kampf ein, den sämmtliche östreichische Slawen (die Polen allein aus¬
genommen) sehnlich erwarten. Die Aufregung in Kroatien und an der Militär¬
grenze hat bereits gegenwärtig einen bedrohlichen Grad erreicht und es kann
Oestreich nicht zugemuthet werden, daß es Ungarn zu Liebe seine slawischen
Unterthanen vollends in die Arme des Panslawismus treibe. Bewegen sich
die Dinge schon sechs Monate nach Abschluß des Friedens um die äußersten
Grenzen der Concessionen, welche man sich gegenseitig machen will, so ist eine
gedeihliche Weiterentwicklung kaum zu hoffen, wenn anders man nicht rechtzeitig
in Ungarn zu einer nüchterneren als der bis jetzt bekundeten Auffassung der
Situation kommt. Daß Oestreich auch nur einen Schritt rückwärts mache, ist
unmöglich. —
Wie eigenthümlich die Anschauungen sind, mit denen man sich trotz aller
Schwierigkeiten der gegenwärtigen Situation und trotz des Aergers über die
liberalen Anläufe des Freiherrn von Beust bezüglich der Zukunft des östreichi¬
schen Kaiserstaates in den specifisch katholischen Kreisen Süddeutschlands trägt.
— das hat sich neuerdings in der Rede gezeigt, mit welcher der Abgeordnete
Jörg in der zweiten bayrischen Kammer den Plan einer Reorganisation der
bayrischen Armee bekämpfte. Die Reorganisation — so führte der Redner aus
— wird Preußen zu Liebe und in Hinblick auf die Alliance mit diesem Staat
unternommen-, da aber eine Kräftigung Oestreichs und mit dieser eine Wiederauf¬
nahme der östreichischen Feindschaft gegen Preußen möglich und wahrscheinlich
ist und für den Fall eines Konflikts zwischen beiden Mächten die bayrischen
Soldaten massenweise zu Oestreich desertiren würden, sei es überflüssig, die
Armee n.res preußischer Art zu reorganisier! In der That ein Ki-gumenwm
irae Irominem wie es schlagender kaum ausgebracht werden konnte! Der Glaube
an die Unfehlbarkeit des östreichischen Glückssterns entzieht sich wie jeder Glaube
der Kritik: stützt er sich aber — wie im vorliegenden Fall anzunehmen ist, —
auf die Ü berzeugung von der europäischen Nothwendigkeit einer Großmacht an
der Donau, so ist daran zu erinnern, daß diese Nothwendigkeit durchaus keine
deutsche ist. Die wachsende Bedeutung des Panslawismus macht die Existenz
Oestreichs in der That unentbehrlich, aber nur eines Oestreich, das seinen
Beruf im Osten sucht und das sich an einen wirklichen deutschen Staat lehnt.
Wmiderbar genug, daß der Partikularismus sich nur ein Oestreich denken
kann, wie er es eben braucht, und daß der Glaube an die Möglichkeit der
Wiederherstellung dieses Horts der kleinen Souverainetäten stärker ist. als die
Wirklichkeit, in welcher wir seit nunmehr achtzehn Monaten leben! Es werden
nicht nur die süddeutschen Staaten selbst durch diesen Glauben an einer rich¬
tigen Beurtheilung der realen Verhältnisse verhindert, die östreichischen Staats¬
männer stehen fortwährend unter dem Einfluß der Gläubigkeit ihrer früheren
Bundesgenossen und können nicht umhin, derselben Rechnung zu tragen. Die
Spanne Zeit, welche zwischen der Annahme der preußischen Zoll- und Bünd-
nißverträge und dem Zusammentritte des Zollparlaments liegt, wird jenseits
des Main gerade so benutzt, als ließe sich an den Verpflichtungen, welche
man übernommen hat, nachträglich etwas ändern. Man thut sein Möglichstes,
um die eiserne Nothwendigkeit, welche vor kaum vier Wochen zur Fügsamkeit
zwang, zu vergessen und Übersicht dabei, daß den lustigen Träume.n, denen
man sich hingegeben, ein desto peinlicheres Erwachen folgen muß. So
groß ist die Macht der vorgefaßten Meinungen und die Gewohnheit,' an
liebgewordenen Vorstellungen festzuhalten, daß man Untersuchungen darüber,
ob Preußen während des vorigen Jahres an eine Grcnzberichtigung mit
Frankreich gedacht hat, für wichtiger hält, als Betrachtungen über die
gegenwärtige Annäherung Oestreichs an den „welschen Erbfeind". Was man
auf bloße Vermuthungen hin für einen genügenden Grund zur Verlästerung
der Bismarckschen Politik ansieht, heißt, wenn Herr v. Beust ins Spiel kommt:
traurige Folge unglücklicher Verhältnisse! — So bringt seit Auflösung des
alten Bundes jeder neue Tag neue Zeugnisse dafür bei, daß die süddeutschen
Staaten zu einer selbständigen Existenz unfähig sind. Die anderthalbjährige
Periode ihrer Hcrrenlvsigkcit ist wenig mehr, als eine Kette von Vanqncrottcrklä-
rungen der Politiker gewesen, welche Jahrzehnte lang von der Möglichkeit eines
von Preußen und Oestreich unabhängigen Deutschland fabelten und auf Rechnung
desselben jeden Versuch Preußens, Klarheit und System in die deutsche Ver¬
wirrung zu bringen, vereitelten. Die Lehrzeit, welche seit dein Sommer 1866
hinter ihnen liegt, hat lange genug gedauert, um im allseitigen Interesse und
besonders im Interesse Oestreichs einen Abschluß nothwendig zu machen, wie
wir ihn vom Jahre 1868 erwarten. Für Preußen ist die Auflösung des Bundes¬
tags der Ausgangspunkt einer neuen politischen Aera gewesen, Oestreich wird
die Möglichkeit einer solchen erst durch den vollständigen Eintritt der süddeutschen
Staaten in den neuen Bund geboten werden. Erst wenn der Kreis geschlossen
ist, dessen Mittelpunkt die Schwaben »ut Baiern langsam aber unaufhaltsam
zugedrängt werden, wird sich das Verhältniß zwischen Oestreich und dem neuen
Deutschland klären. So lange die Süddeutschen dem Wahne leben, sie hätten
immer noch zwischen Wien und Berlin zu wählen, so lange sie sich mit der
Hoffnung schmeicheln, es sei am Ende gar möglich, einen Zweiherrendienst zu
organisiren, sind sie es, welche eine Verständigung zwischen den beiden Gro߬
mächten Mitteleuropas verhindern. Vor Lösung der deutschen Frage ist eine
Ausgleichung des Zwiespaltes zwischen Oestreich und Preußen undenkbar —
nach Eintritt der Süddeutschen in den neuen Bund muß dieser Ausgleich sich
von selbst erzwingen oder durch die orientalische Frage erzwungen werden. — Die
Hemmung, welche diese während der abgelaufenen zwölf Monate erlitten hat,
wird sie, wenn nicht alle Anzeigen trügen, während des Jahres 1868 mit
raschen Schritten einholen. Der Artikel des russischen Invaliden, dessen Inhalt
uns der Telegraph vor wenigen Stunden mitgetheilt hat, zeigt deutlich an,
daß die Entscheidung über die Zukunft des Orients vor der Thüre steht.
Oestreich wird noch einmal zu wählen haben zwischen der Alternative, entweder
an der Seite Frankreichs zweien Gegnern entgegen zu treten, oder durch ehr¬
lichen Verzicht auf eine Einmischung in die deutschen Dinge, einen zweifelhaften
Bundesgenossen zu Gunsten der Entwaffnung eines Gegners aufzugeben, von
dessen zweifelloser Gefährlichkeit es sich durch eine lange Reihe von Erfah¬
rungen überzeugt haben muß.
Die beiden bis jetzt erschienenen Bände dieser neuen Ausgabe umfassen auf
über 800 Seiten die Schillerschen Jugcndgcdichtc, die Räuber und das würtembcr-
gische Repertorium; nach ihnen kann man sich von dem Umfang, den das gesammte
Werk haben wird, eine Vorstellung machen. Daß der von dem Herausgeber herge¬
stellte Text ein durchaus korrekter ist und daß die zahlreichen historischen und kriti¬
schen Nachweise, welche denselben begleiten, in Bezug auf Gewissenhaftigkeit
nichts zu wünschen übrig lassen, versteht sich bei der unbestrittenen Kennerschaft
Gödekes von selbst — gegen die Art und Weise der Behandlung dürften aber
gewichtige Bedenken vorliegen. Vor allem möchten wir dagegen Einrede erheben,
daß der Herausgeber Schillers „Jugendversuche" (als solche werden die im ersten
Bande abgedruckten Gedichte ausdrücklich bezeichnet), soweit dieselben zugänglich
gewesen, ausnahmslos und ohne jede Prüfung ihres Werths und Inhalts den
„Werken" des großen Dichters einverleibt und als solche der Nation übergeben
hat. Von einer nicht unbeträchtlichen, vielleicht der größten Zahl derselben
läßt sich behaupten, daß sie für „Entwicklungsmomentc" oder „Belege zur Ge¬
schichte von Schillers Geist" nicht gelten können und darum auch keinen „rela¬
tiven" Werth besitzen. Was haben die Ausgeburten einer knabenhaften, sinnlich
entzündeten Phantasie mit dem unsterblichen Geist des Wallenstcindichtcrs zu thun?
welche Beziehungen Jud zwischen dem „hypochondrischen Pluto" dem Fragment „an
einen Moralisten" oder dem „Venuswagen" und der wahren dichterischen Natur
Schillers nachzuweisen? Die Pietät gegen den Dichter verlangt ebensowohl, daß
wir das unsterbliche Theil von den irdischen Schlacken, welche seiner Jugend anhaf¬
teten, auseinander halten, als daß wir den Spuren seiner Thätigkeit folgen, wo
wir sie finden. Es ist etwas anderes um eine Biographie, welche auch an den Irr¬
wegen nicht vorübergehen darf, welche der Mensch zeitweise eingeschlagen, und einer
Ausgabe der Werke, welche es nicht mit diesem, sondern allein mit dem Dichter
zu thun hat. Aufgabe einer kritischen Schillcrausgabe kann es nicht fein, dem
Volk Beweise dafür in die Hände zu geben, daß auch der geliebteste seiner Führer
der menschlichen Schwäche seinen Zoll gezahlt und in den schwülstigen Versen seiner
frühesten Lehrjahre Zeugnisse davon zurückgelassen hat, daß die Wellen der Sinnlich¬
keit auch über seinem Haupte zusammengeschlagen! Die Pietät verlangt, daß dem Bei¬
spiel des Dichters nachgeahmt, die Spreu vom Waizen gesondert, nicht aber, daß neu
ausgegraben und vor der Nation ausgebreitet werde, was er selbst verdienter Ver¬
gessenheit übergeben. — Aehnlich steht es mit dem erneuten vollständigen Abdruck
des würtembergischen Nepcrtoriums. Der Herausgeber scheint das selbst empfunden
zu haben, denn feine Vorrede hebt ausdrücklich hervor, „der Herausgeber der Räu¬
ber trage keine Verantwortung für dieselben"; nur drei Stücke aus denselben seien
— und auch diese erst nach Schillers Tode — in die „Werke" aufgenommen wor¬
den. Nach Gründen für den vorliegenden Abdruck sehen wir uns vergeblich um,
weder werden dieselben von der Vorrede geltend gemacht, noch ergeben sie sich aus
der Natur der Sache.
Bestreiter müssen wir ferner, daß es nothwendig gewesen, den Text mit einer
ausführlichen und minutiösen Angabe sämmtlicher Varianten, mögen dieselben sich
auch aus Worte und Silben beschränken, zu begleiten. Mit der Herstellung eines
reinen Textes wäre dem Bedürfniß der Nation genügt worden, denn ein Dichter,
der im Volke lebt, soll gelesen und verstanden, nicht wie ein Schriftsteller des Alter-
thums in philologischer oder grammatischer Absicht studirt und zur Befestigung in
der Form und Satzlehre analysirt werden. Daß es für den Herausgeber einer ge¬
nauen Vergleichung und Prüfung sämmtlicher älterer und neuerer Ausgaben bedurft
hat. weiß das Publikum, auch ohne daß ihm der gesammte Apparat, dessen es zu
dieser Arbeit bedarf, vorgelegt wird. Aus dem gleichen Grunde erscheinen die Hinzu¬
fügung der Autoren, welche in den Jugendschriften citirt sind, der Bemerkungen über
die Orthographie derselben ebenso überflüssig wie die Register über sämmtliche „reife"
und „unreife" Reime, und das „Wortvcrzcichniß" (eine Zusammenstellung unge¬
wöhnlicher oder auffälliger Ausdrücke und solcher Composita, welche Schiller später
verwarf). 'Dankenswert!) sind dagegen die biographischen Notizen über alle die Per¬
sonen, aus welche in den „Jugcndversuchcn" Bezug genommen wird.
Unsere Bedenken über die Methode der Herausgabe, welche Herr K. Gödcke ge¬
wählt hat, werden, wie wir glauben, auch in weiteren Kreisen getheilt werden. Ein
Dichter, der zu dem Bewußtsein der Zeit in so lebensvoller und direkter Beziehung
steht, wie Schiller, scheint uns wenig geeignet zu sein, das Objekt rein sprachwissen¬
schaftlicher Untersuchungen! abzugeben, welche den unmittelbaren Genuß schmälern
und den Leser störend daran erinnern, daß die Schätze, welche er als schlechthin der
Nation geschenkt anzusehen gewohnt war, mühsam geworden und durch die Sta¬
dien der Unfertigkeit und Unreife gegangen sind.
Die literarischen Hinterlassenschaften der trefflichen Frau, welche Schillers ver¬
traute Freundin in den schönsten und reichsten Tagen seiner irdischen Laufbahn ge¬
wesen, und an der Neigung, durch die der Dichter ihrer Schwester verbunden wurde,
einen fast überreichlicher Antheil gehabt hatte, liegt dem Publikum gegenwärtig in
zweiter Auflage vor und zeugt von der Wärme und Intensität der Dankbarkeit,
mit welcher die Nation auch an denen hängt, die dem Leben ihres populärsten
Heroen etwas bedeutet haben. — Den Eingang dieses zweibändigen Werks bildet ein
durch das „Tagebuch" und andere Beilagen vervollständigter Abriß des beinahe
vierundachtzig Jahre umfassenden Lebcnsgangs, den Caroline von Lengcfeldt (in
erster Ehe mit dem Legationsrath von Beulwitz, in zweiter Ehe mit Wilhelm von
Wolzogen, dem Jugendfreunde Schillers vermählt), am 11. Januar 1847 be¬
schloß. Sodann folgen (224 Seiten umfassend) Schillers Briefe an beide Schwe¬
stern, zum Theil während der Zeit seines Verlöbnisses mit Charlotten, seiner
nachmaligen Frau geschrieben. „Man wird in diesen Briefen" — so heißt es
in der Vorrede des Herausgebers — „das psychologisches Problem finden, im
Reiche der Geister das durchzuführen, was die Volkssage vom Ehebett des
Grafen Gleichen erzählt. In der Sicherheit seines hohen Geistes geht Schiller
auf dieser gefährlichen Bahn mit der naivsten Bewußtlosigkeit über ihre Ge¬
fahr und doch mit klarem Bewußtsein seiner nicht getheilten aber zweifachen Liebe."
In späteren Jahren hatte Frau v. Wolzogen selbst das Eigenthümliche dieses Ver-
hältnisses empfunden, und um die Innigkeit des Verhältnisses, durch welches Schwager
und Schwester verbunden gewesen waren, völlig außer Zweifel zu setzen, an den
Briefen „das unschuldigste und liebenswürdigste Falsum" vorgenommen, an be¬
sonders leidenschaftlichen Stellen, die „Caroline" gestrichen und durch eine „theure
Lotte" ersetzt u. s. w. Diese eine durch den Herausgeber natürlich zurechtgestellte
Thatsache genügt, um den intimen Charakter dieses Briefwechsels zu bezeichnen, der
uns mit Schillers großsinnigcr und reiner Natur in anziehendster Weise bekannt
macht. Der Schiller-Korrespondenz folgen zahlreiche und interessante Briefe Göthes,
Danneckers. Wilhelm v. Humbolds, des „alten Herrn" (Carl August von Weimar),
Körners, Wielands, ein (merkwürdiger Weise in französischer Sprache 'geschriebener)
Brief Steins (vom I. 1805) u. f. w. Ist es doch der eigenthümliche Vorzug des golde¬
nen Zeitalters unserer Literatur gewesen, daß, entsprechend dem aristokratischen Cha¬
rakter derselben, alle hervorragenden Geister der Nation zu einander in Beziehung
standen und durch gleiche Interessen mehr oder minder mit einander verbunden waren.
— Eine Bereicherung hat der erste Band dieser Reliquien in seiner neuen Ausgabe durch
zwei Briefe der Herzogin Helene von Orleans an Frau von Wolzogen erfahren, die aus
den Jahren 1834 und 1337 stammen und in der That als „einfache unschuldige Mädchen-
bliese" von der hohen und reinen Seele dieser schwergeprüften Fürsten ein liebenswürdiges
Zeugniß ablegen. Die Namen, welche uns im zweiten Bande begegnen, gehören zum
größten Theil gleichfalls dem beglückten Kreise an, dem es beschicken gewesen, Lust
und Schmerz des Lebens mit den beiden Unsterblichen zu theilen, die Weimar zum
Mittelpunkt des geistigen Lebens in Deutschland gemacht hatten: Seckendorf, Amalie
v. Jmhof,' Knebel, H. Meyer, Heinrich Voß; in zweiter Reihe sind außerdem
Schenkcndorf, Kotzebue, Laharpe (der Erzieher Alexander I. von Nußland), Johannes
v. Müller, Caroline Pichler, Pfeffel, der russische Historiker Karamsin u. s. w. zu
nennen. Den Abschluß bilden zwei Briefe Schillers an Hang und Voigt und ein
Brief des Malers Reinhardt. — Die Gunst des Publikums, welche die vorliegende
neue Ausgabe dieser liebenswürdigen Sammlung nothwendig gemacht hat. wird
derselben sicher treu bleiben.
Der früheren Auflage dieses Buchs ist in diesen Blättern so ausführliche und
dankbare Erwähnung geschehen, daß wir uns der neuen dritten Ausgabe gegenüber
daraus beschränken dürfen, ihr Erscheinen zu bestätigen. Wesentliche Abänderungen
hat das treffliche Werk auch in seiner neuen Form nicht erfahren. Bezüglich der
„geringfügigen Berichtigungen," zu denen die Vorrede sich ausdrücklich bekennt und
die der Versasser auf Grund eigener und fremder Forschungen vornahm, ist zu con-
statiren, daß dieselben vorzüglich die bekannte Abhandlung über Karl August von
Wangenheim, den Würtembergischen Minister der Restaurationszeit, und den Auf¬
satz „das deutsche Ordcnsland Preußen" betreffen; in diesem letzteren hat
unser Historiker sein hartes Urtheil über die russischen Ostseeprovinzen modificirt
und der Fortschritte, welche dieselben in den letzten Jahren gemacht, wenigstens
im Vorübergehen Erwähnung gethan. Wenn diese Modificationen auch den gegen¬
wärtigen Verhältnissen dieser nordischen Kolonie nicht vollständig Rechnung tragen,
so ist doch zu erkennen, daß dieselben an und für sich nicht unbedeutend sind.
Die Richtigkeit der Voraussicht, mit welcher der Verfasser die deutsch-russischen Ost-
secländcr „die am meiste» gefährdete Kolonie unseres Volkes" genannt, ist durch die
Ereignisse der letzten Monate vollständig bestätigt worden. — Schließlich ist der er¬
freulichen Thatsache zu gedenken daß gemäß den Andeutungen des Vorworts ein
zweiter Band „historisch-politischer Aufsätze" für die nächste Zukunft in Aussicht
steht. Bei der, lebhaften Anerkennung, welche Treitschkes frühere Schriften bei dem
gcscnnmten in politischen Dingen urtheilsfnhigen Theil des deutschen Publikums
gefunden haben, und dem bedeutsamen Einfluß, der denselben nachgerühmt werden
muß. wird diese Nachricht allenthalben mit lebhafter Befriedigung ausgenommen
werden.
Der auf dem Gebiet der geographischen Wissenschaft rühmlich bekannte Ver¬
fasser des vorliegenden Buchs bietet in demselben eine Arbeit, die an Gründlichkeit
und Gewissenhaftigkeit der Forschung jenen topographischen Werken an die Seite
gestellt werden kann, an welchen das 18. ^Jahrhundert so reich war und denen wir
es zu danken haben, daß die Statistik, als sie ihre großartige, alle Gebiete des Lebens
umfassende Thätigkeit in Angriff zu nehmen begann, eine Art von Fundament fand.
Die uns vorliegenden beiden Bände des zweiten Theils (1965 S. in 4°) umfassen
die Kreise Demmin, Anklam, Usedom-Wollin, Ukermünde und Randow und unter¬
ziehen sämmtliche in denselben befindliche Städte, Dörfer, Flecken, Rittergüter, For¬
steten :c. einer ausführlichen Beschreibung, die sich zugleich auf die Zustände der
Gegenwart und Vergangenheit erstreckt. Bevölkcrungsverhältnisse, Bodenvcrthcilung.
die verschiedenen gewerblichen und industriellen Berufszweige, die kirchliche», politi¬
schen und judiciärcn Anstalten :c. werden in besonderen Abschnitten genau behan¬
delt und an dem Schluß jedes Abschnittes befinden sich übersichtliche Tabellen der
höchstbcstcucrtcn Einwohner, der Staatsdomänen und ihrer Territorien, sowie Ge^
markungsverzcichnisse. Für die historischen Excurse wird kein gemeinsamer Aus¬
gangspunkt angenommen, sondern je nach dem Zeitalter, in welches die- geschichtlich
beglaubigten Zeugnisse reichen, zurückgegriffen. Entsprechend dem Hauptzweck des
Werks, die Zustände der Gegenwart in ein anschauliches und detaillirtes Bild zu¬
sammenzufassen, wird den Veränderungen und Institutionen der Neuzeit mit beson¬
derer Ausführlichkeit Rechnung getragen und durch die lebendige Beziehung, in welche
die Gegenwart zur Vergangenheit gesetzt wird, eine Vorstellung von dem Entwicke¬
lungsgange ermöglicht, den die einzelnen Theile Pommerns durch die verschiedenen
Phasen ihrer Geschichte bis in die Neuzeit genommen haben. — Werke dieser Art
haben der Natur der Sache nach auf kein großes Publikum im gewöhnlichen Sinne
des Worts nicht zu rechnen; desto größer ist die Bedeutung, welche sie für Biblio¬
theken und wissenschaftliche Anstalten haben müssen. Diese sowie die parlamentari¬
schen Vertreter Pommerns glauben wir aus die gediegene Bcrghaussche Arbeit, welche
sich in jedem einzelnem Abschnitt als Product eines eingehenden, gewissenhaften und
sachkundigen Studiums ausweist, angelegentlich aufmerksam machen zu müssen. Seit
die wirthschaftlichen Zustände der einzelnen Theile des neuen deutschen Staats ihrer
blos lokalen Bedeutung entrückt und zu Gegenständen geworden sind, welche das
Interesse einer ganzen Nation in Anspruch nehmen, gewinnen Werke von der Be¬
schaffenheit des vorliegenden eine allgemeine Wichtigkeit, die bis in die weitesten
Kreise hinübcrwirkt, zumal die Bekanntschaft mit Land und Leuten des Vaterlandes
auch in Deutschland eine ziemlich beschränkte ist und sehr häusig an den Schlag-
büumen des einzelnen Staats oder der einzelnen Provinz ihre Grenze hatte. Druck
und Ausstattung des „Landbuchs des Herzogthums Pommern und des Fürstenthums
Rügen" entsprechen allen Anforderungen, welche an Werke so weitschichtiger Art
gestellt werden können; seinen Abschluß wird dieses verdienstvolle Unternehmen vor¬
aussichtlich erst in einer längeren Reihe von Jahren finden.
Während die Mehrzahl der seit Aufhebung des Privilegiums, das die ursprüng¬
lichen Verleger der Heroen unserer Literatur ausübten, erschienenen Classikerbiblio-
thckcn Schiller und Göthe an die Spitze ihrer Programme stellen, hat es das vor¬
liegende Unternehmen vorwiegend mit den bekannteren Schriftstellern zweiten Ranges
zu thun, welche die Zeit- und Nuhmcsgcnossen der weimarischen Dioskuren waren.
Schlcyermachers „Reden über die Religion", Musäus „Volksmährchen", Herders
„Cid", Wielands „Oberon". Voß „Louise", ausgewählte „Oden" Klopstocks
werden neben Schutzes „bezauberter Reise", Saumes „Spaziergang nach Syra-
kus", des trefflichen Wilhelm Müller allzuschnell vergessene Dichtungen u. A.
dem Publikum in neuem Gewände vorgelegt. Die Namen der mit der Herausgabe
und Bearbeitung betrauten Schriftsteller bürgen sür die Solidität des Unternehmens,
und es kann nur willkommen sein, daß die Nation an den Reichthum ihres Besitzes
gemahnt und aufs neue mit der langen Reihe ausgezeichneter Geister bekannt ge¬
macht wird, welche wesentlich zu der Größe des Zeitalters beitrugen, das nach seinen
Führern benannt und doch keineswegs durch diese allein bedingt wurde. Namen
wie der des Maler Müller, Försters, ja selbst Herders und Klopstocks sind einem
großen Theil des heute lebenden Geschlechts nur noch aus der Literaturgeschichte,
nicht aus lebendiger Anschauung ihrer Werke bekannt, und doch muß diese von denen
verlangt werden, welche Anspruch erheben, auf der Höhe deutscher Geistesentwicklung
zu stehen. Eine richtige Vorstellung von dem geistigen Leben des 18. Jahrh, wird
aus der einseitigen Bekanntschaft mit den größten Dichtern der Nation nimmermehr
gewonnen werden können, es wird vielmehr nothwendig sein, auf die Schriftsteller
zurückzugehen, welche zunächst aus dem Bewußtsein ihrer Zeit herausschrieben, Licht
und Schattenseiten derselben in charakteristischer Weise repräsentirten. In dieser
Rücksicht können Seume und Voß wichtiger genannt werden, als manche ihrer ge¬
feiertsten Zeitgenossen, die sie an Talent weit überragten. Für besonders dankens-
werth halten wir es, daß neben den genannten Schriften auch Justus Mösers
„patriotische Phantasien" neu aufgelegt und der zeitgenössischen Lesewelt zugänglich
gemacht worden sind. Von den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts war Justus
Möser vielleicht der am meisten politische. Die Sicherheit, mit welcher er in der
Zeit einer kosmopolitisch heimatlosen Bildung und allgemeiner Entfremdung von
den nationalen Traditionen aus den preußischen Staat hinwies, und ahnungsvoll
verkündete, „unser historischer Stil werde sich in dem Verhältniß bessern, in welchem
der preußische Name sich auszeichne, da große Empfindungen immer nur von großen
Ereignissen herrühren könnten", die Unerschrockenheit, mit welcher er aussprach,
wir müßten „Nationalinteressen erhalten, bevor wir die Begebenheiten mächtiger
empfinden und fruchtbarer ausdrücken könnten", wir müßten, um eine wirkliche
Nation zu werden, „unsere Ehre nicht mehr im Dienst und der Gelehrsamkeit, son¬
dern in der Erreichung der Zwecke beider suchen", — sichert Möser den Anspruch
auf einen Ehrenplatz in dem Herzen der Generation, welcher es beschicken gewesen,
die Erreichung des Ziels zu erleben, auf welches der alte westphälische Jurist in den
Tagen tiefster Erniedrigung aus seiner einsamen Studierstube hinwies. Der Mann,
dem „der beste Gesang ein Bardiet, zur Vertheidigung des Vaterlandes in der
Schlacht gesungen", der „beste Tanz" der war, „der auf eine feindliche Batterie
führte" und der für die deutsche Bühne ein Schauspiel verlangte, „das der Nation
einen hohen Muth gibt, nicht aber dem schwachen Ausschuß des Menschengeschlechts
seine leeren Stunden vertreibt oder das Herz einer Hofdame schmachten macht", ver¬
dient wahrlich in dem Gedächtniß seines Volks länger zu leben als die große Zahl
derer, die zu der Schwachhcrzigkeit ihres Jahrhunderts bewußt oder unbewußt bei¬
trugen und doch gewohnheitsmäßig von einer Generation in die andere hinüber¬
genommen werden.
Von der Fortführung des in Rede stehenden Brockhausschen Unternehmens
hoffen und wünschen wir, daß dasselbe sich ganz besonders dem 18. Jahrhundert
und zwar den Schriftstellern zuwende, welche dem Bewußtsein unserer Zeit mehr oder
minder abhanden gekommen sind; auf diese Weise würde die „Bibliothek" an Plan¬
mäßigkeit und Zusammenhang gewinnen, Tugenden von welchen bei der Mehrzahl
ähnlicher Unternehmungen abgesehen worden ist. Nach der Anlage des Ganzen steht
zu hoffen, von der Aufnahme vereinzelter Werke unserer eigentlichen Klassiker
(Göthes Faust, herausgegeben von Moritz Carriere, und Lessings Emilia Galotti,
Minna v. Barnhelm und Nathan, herausgegeben von Hermann Hettner), die in die
vorliegende Sammlung mit hineingezogen worden, werde in Zukunft abgesehen
und auf diese Weise der Brockhausschen Classikerbibliothck ein selbständiger und
eigenthümlicher Werth gesichert werden.
Das Interesse an den einzelnen Gattungen der Künste scheint sich bei unserem
Volke periodisch abzulösen. Einmal hat die Poesie, einmal die Malerei oder Archi¬
tektur, dann die dramatische Darstellung die populäre Theilnahme fast ganz in
Anspruch genommen. Heute sind wieder die bildenden Künste bevorzugt, aber wir
haben schon in der gleichzeitigen Pflege der Musik einen guten Anfang für Fort¬
pflanzung des Verständnisses und Antheils für die Schwestermusen. Da ist nun
ein verständiger Führer, der sich ohne Aufdringlichkeit und mit liebevoller Schonung
der ungeordneten Triebe und unausgebildeten Organe des Volksgeschmackes bemäch¬
tigt, um ihm deutlich zu machen, was in den verschiedenen Künsten die Kunst sei,
ein sehr schätzbarer Freund. Und das Verdienst, so wirken wollen, muß bei
unserem Buche zunächst anerkannt werden; daß es auch willkommen gewesen und
wirklich schon Erfolg gehabt Hai, zeigt die zweite, wesentlich vervollständigte Auflage.
Ohne die Pedanterie einer stilistisch gemachten Gesprächsform behandelt der Verfasser
seine Gegenstände mit dem frischen lebendigen Ton mündlicher Rede, — wofür wir
ihm auch manche Ausdrucksweise gern zu gute halten — und gibt, ohne an sein
Publikum andere Voraussetzungen zu machen als die, welche jeder empfängliche
Sinn von einiger Bildung erfüllt, eine klare Darstellung der Aufgaben und der
Entwickelung der Künste.
Wir dürfen hoffen, daß das Buch, unterstützt durch die trefflich ausge¬
wählten Illustrationen, allmählich den Schaden wieder gut macht, den unklare
und fehlerhafte Werke wie u. a. die unglückliche Ch. Oeser'sche Aesthetik in der Be¬
arbeitung von Grube besonders in den Köpfen der Frauenzimmer angerichtet haben.
Das vorliegende Buch gibt bei aller Knappheit eine vollständige und sür Alt
und Jung praktische, auf durchaus gesunden Anschauungen beruhende Unter¬
weisung und lockt das eigene Nachdenken dadurch, daß es sich vor absichtlicher Lehr-
hastigkeit hütet.
Mit Ur. S beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im December 1867.Die Verlagshandlung.