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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur.
2K. Jahrgang.
I. Semester. I. Band.
Leipzig.
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Wilh. Grunow.)
1867.
Preisdrama. S. 229.
Compendium des englischen Staatsrechts.
422.
Akademien und der Kunstunterricht.
434.
Cornelius Tode. S. 472.
s sechzigjähriges Doctorjubiläum. S. 516.
Goethes Briefwechsel mit Sternberg.
521.
deutsche Buchhandel der letzten Monate
ebr. 1867). S. 267.
e Besprechungen literarischer Er¬
nungen.
chichte, Literaturgeschichte ze.: Krey-
, Geschichte der französischen Nationallite¬
ur. S. 199. — Gödekc und Tittmann,
derbuch aus dem 16. Jahrhundert. S. 239.
Denkwürdigkeiten des Landgrafen Karl
n Hessen-Kassel. S. 364.
ie, Romane ze.: Rückert, Lieder und
prüche. S. 80. — L. Rosen, Novellen.
119, — Niendorf, Contraste. S. 119.
Klausbcrg, Still und bewegt. S. 119.
Schmidt-Weißenfels, hinter Schloß und
egel. S. 119. — Ders. Polignac. S. 120.
Wolfram, verlorene Seelen. S. 120. —
dree, Vom Tweed. S. 199. — Storck,
e Ranken. S. 200. — Milow, Gedichte.
rlornes Glück. S. 200. — Storm, Jen-
des Meeres. S. 200.
ende Kunst: Umdrehen, der deutsche
aler-Radirer. S. 79.
ik: Pohl, Mozart und Haydn in Lon¬
n. S. 159.
mischtes: Hirths Parlamcntsalmanach.
280. — Andree, der Globus. S. 280.
Nationnlitntcnlampf in Galizien. S. 373.
uropäischen Türken. 1. S. 255.
Sociale und religiöse Emancipation in
der Türkei. S. 292.
Stuttgarter Conferenz. S. 275.
allgemeine Wehrpflicht und die Kaufleute.
281.
böhmischen Landtagswahlcn. S. 317.
Physiognomie des letzten böhmischen Land-
«. S, 426.
ouetten aus dem tiroler Landtag von
66. S. 322.
burgs und Brennus Eintritt in die deutsche
lllinie. S. 359.
Lage in Italien. S. 365.
freie Kirche im freien Staat. S. 489.
schleswig und die Wahlen. S. 396.
politische Flugschriften. S. 400.
er klcinstaatlichcr Vcrkchrspolitit. S. 405.
ische Proteste von einst und jetzt. S. 414.
allgemeine und geheime Stimmrecht vor
m Reichstage. S. 445.
Wort an Herrn ol'. Roth in Trautcnau.
475.
ste Lebenszeichen des Skandinavismus.
502.
cnbetrachtung. (1. Febr.) S. 236.
den RcichLtagswahlen. S. 155.
Es sei diesem Blatte gestattet, beim Beginn eines neuen Jahres Dank,
Gruß und Heilwunsch der hohen Versammlung zu widmen, in welcher während
der letzten Monate auf dem Wege friedlicher Vereinbarung zwischen Regierung
und Nation die Arbeit der Schlachtfelder gesichert wurde. Es ziemt den Libe¬
ralen grade jetzt, sich zu erinnern, welch unermeßlichen Werth die Thätigkeit des
hohen Hauses in den Jahren seines Bestehens für Bildung und Schicksal der
Deutschen gehabt hat. Achtzehn Jahre! ein kurzer Zeitraum im Leben unsrer
Nation. Und doch gab es vor dieser Zeit in Preußen kaum eine politische
Presse, kaum eine öffentliche Meinung, der Beamtenstaat, den die Hohenzollern
des 18. Jahrhunderts eingerichtet, stand hilflos und charakterschwach den wo¬
genden Zeitfordernngen gegenüber, welche aus dem Volk aufstiegen, wie dichter
Wasserdampf am Frühlingsmorgen. Ein halbes Menschenalter parlamentarischer
Kämpfe und Leiden hat die Preußen zu einem politischen Volke gemacht, in
kranken Jahren war die Tribüne des Abgeordnetenhauses die einzige Stätte
eines freien Wortes und männlicher Forderungen, jede der großen politischen
Fragen, welche unsere Zeit bewegt haben, ward dort mit deutscher Redlichkeit
Verhandelt, die Urtheile der preußischen Volksvertreter sind in Millionen Seelen
gedrungen, die Parteien des Hauses haben der deutschen Tagespresse Richtung
gegeben und das Interesse am Staat anch in den kleinen Kreisen zum Be¬
wußtsein gebracht. Und was noch segensvoller war, Talent und Charakter der
Einzelnen, weiche dort stritten, sind der Nation werth geworden. Gedanken und
Herzschlag vieler, von Waldeck und Schulze-Delitzsch an bis zum Grafen Bis-
marck. hat der Deutsche in den Räumen des preußischen Abgeordnetenhauses
beobachtet und diese Bekanntschaft, welcher Widerstand oder Hingabe folgte, hat
uns nicht weniger gefördert, als die Vermehrung politischer Einsicht. Durch
achtzehn Jahre war das Abgeordnetenhaus die große politische Schule der
Deutschen. Auch eine Schule für die Vertreter des Volkes selbst und für die
Minister, die ihnen gegenüberstanden. Wer die politischen Charaktere unsrer
Zeit gerecht beurtheilen will, der muß vor allem daran denken, daß wir in der
ersten Generation eines Vcrfassungslebens allesammt Lernende gewesen sind,
und daß durch das neue Zusammenstehen in großer Genossenschaft uns Privat¬
menschen. Bureaubeamten, Salonpolitikcrn nicht nur das Urtheil berichtigt, auch
der politische Charakter viel mächtiger beeinflußt wurde, als bei einem Volk mit
altem Verfassungsleben möglich ist. Wer den großen Abklärungsproceß des
Jahres 1848 unbefangen gewürdigt hat, der durste schon seit jenem Jahre
stolz behaupten, daß uns eine große politische Zukunft vorbehalten sei; denn in
einziger Weise überwand der Deutsche schon damals auf der Tribüne die unge¬
sunden Richtungen seines Schwächezustandcs, während dem fast alles aus den
Fugen gekommen war, und beinahe nur noch die Familie und die Moral des
Privatlebens unangezwcifelt feststanden. Nicht allein gewissenhaft und ehrlich
erwies sich die große Majorität der Abgeordneten in jenem Jahr, auch gescheidt
und keineswegs unpraktisch, und es war nicht ihre Schuld, daß der Widerstand
des alten Bestehenden übermächtig wurde.
Der schwersten Prüfung wurde das preußische Verfassungsleben unter¬
worfen, als das gegenwärtige Ministerium trotz dem Widerstand des preußischen
Volkes und seiner gewählten Vertreter durch Königswillen und Herrenhaus im
Amte gehalten ward. Jetzt in der Freude über große Erfolge Übersicht der
Preuße gern das Unrecht, welches ihm selbst in vergangnen Jahren zugefügt
worden, und es ist echt deutsch, wenn auch der Liberale hier und da mit schärferer
Kritik die Schwächen der eigenen Partei mustert, als das Unrecht der Gegner.
Und doch hat grade die Opposition dieser letzten Jahre bewiesen, wie vortrefflich
der Stoff unsres Volkes ist. Die damals in das Parlament kamen, waren in
der Mehrzahl Männer aus kleinen Kreisen des bürgerlichen Lebens, wie ihre
Wähler tief erbittert über das herrische Wesen und die Willkür der Regierung.
Und sie haben durch vier Jahre ihren Kampf geführt mit zäher Ausdauer und
strenger Gesetzlichkeit. Es war ihnen nicht immer vergönnt, den höchsten poli¬
tischen Gesichtspunkt bei Beurtheilung herber Gegensätze festzuhalten, aber ihre
Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, und in den meisten Fragen die bessere Ein¬
sicht in die innern Bedürfnisse des Staates soll ihnen niemand abstreiten. Sie
wurden gereizt und gequält, durch kleine Mittel verfolgt, wie nur je eine Oppo¬
sition. Das unablässige Reiben und fruchtlose Protcstiren war gewiß nicht an¬
gethan, der Nation die Eindrücke eines großen Kampfes zu geben, auch von
liberaler Seite wurde behauptet, daß die Kammer arm an Talenten sei. Aber
nicht die Talente waren klein, sondern die Kampfweise, die ihnen aufgenöthigt
wurde. In Wahrheit haben auch diese Jahre nicht verhindert, daß neue Männer
wie Tochter, Michaelis. Forckcnbeck, nicht zuletzt Schulze-Delitzsch als Speciali¬
täten, durch die Energie und Lauterkeit ihrer Gesinnung zu parlamenta¬
rischen Größen wurden. Wir könnten neben ihnen noch eine Reihe anderer
nennen, deren geschäftliche Tüchtigkeit jeder nationalen Versammlung zur Zierde
gereichen muss, und die sich jetzt als Abgeordnete für die höchsten Aemter des
Staates bilden. Welchen Grund haben wir, auf Herrn v. Hoverbeck weniger
Hoffnung zu setzen als auf irgendeinen preußischen Politiker, der in der letzten
Generation heraufgekommen ist? Wir alle erinnern uns des Jahres, in welchem
ein andrer Preuße Junker in des Wortes verwegenster Bedeutung war und
verspotteter Sprecher der Partei, welche die großen Städte als unleidliche Ver-
bildungen einer schlechten Zeit ansah; und derselbe Preuße hat jetzt eine so
hohe Stellung über den Parteien gewonnen, wie selten der Staatsmann eines
Volkes und in seinen letzten öffentlichen Erklärungen auch alten Gegnern die
Bewunderung abgenöthigt, welche kluge Rede, die in den meisten Sätzen den
Nagel auf den Kopf trifft, sich verdient. Wir sind alle noch in junger Lehrzeit;
der erste Minister Preußens ist jetzt sehr verschieden von dem Mann, der im
Jahr 1863 unwillig war, eine andere Politik einzuschlagen, als die Herr
v. Scheel-Plessen rieth; ebenso sind auch die preußischen Abgeordneten im Winter
1866 bessere Politiker als in den Wochen, wo Herr Tochter mit Herrn v. Roon
in persönlichen Conflict gerieth.
Wenn wir jetzt der Tüchtigkeit des preußischen Abgeordnetenhauses uns
freuen, und der guten Aussichten, welche viele Männer desselben für Deutsch¬
lands politische Zukunft eröffnen, so ist es auch unvermeidlich, an die Kata¬
strophe zu denken, welche dem preußischen Verfassüngsleben durch den Reichstag
des norddeutschen Bundes bereitet wird. Diese Verfassung ist nach der un¬
genügenden Kunde, welche uns bis jetzt davon geworden, von allen politischen
Improvisationen des Jahres 1866 die kühnste und großartigste. Sie erweckt in
der That die Hoffnung, daß ihr in kurzen Jahren gelingen kann, alle deutschen
Länder und Staaten in sich aufzunehmen. Daß aber ein preußischer Landtag,
wie er bis jetzt war, neben ihr nicht bestehen darf, begreift jedermann, und es
wird hier wiederholt, die Preußen sind es, welche für diesen Fortschritt am
meisten aufopfern müssen.
Wohl vermag der Reichstag Beginn eines großartigen politischen Lebens zu
werden. Die allgemeinen Wahlen, in welche sich die Deutsche» bis zur näch¬
sten Versammlung kaum hineinfinden werden, geben den kleineren Kreisen der
Bevölkerung und der Masse der Wähler einen so entscheidenden Einfluß auf die
Politik, daß wir vor den größten Veränderungen in der Tagespresse und in der
Organisation der Parteien stehen. Wir werden fortan große Volksversamm¬
lungen, Aufzüge, Massendemonstrationen, Anregen und Gewinnen der Menge
erhalten, wie es in Deutschland seit 1848 unerhört ist. Bei dreijähriger Wahl¬
periode wird sich diese Bewegung so oft wiederholen, daß ihr schnell eine Praxis
und eine gewisse Organisation der Massen, folgen muß. Von dem aufgeregten
Meere der Zukunft wird mancher Politiker sehnsüchtig auf den stillen Binnensee
der Dreiclassenwahl zurückblicken, und die Candidaten werden sich entschließen
müssen, die stolze Bescheidenheit, mit welcher sie jetzt den Wählern gegenüber-
standen, aufzugeben und einen Tag des Scandals, der faulen Aepfel und viel¬
leicht eines Straßentumults nicht zu scheuen.
Die Aufhebung der Diäten muß, wenn sie durchgesetzt wird, allmälig die
meisten Beamten von selbst ausschließen, und das halten wir für kein Unglück;
sie droht aber für die nächste Zeit auch viele andere tüchtige Männer vom
Reichstag fern zu halten, denn noch ist bei uns die Zahl wohlhabender Gent¬
lemen, welche Muße und Verständniß für die großen politischen Fragen haben,
nicht so groß, daß aus ihnen allein genügendes Material für den neuen Reichs¬
tag gewonnen wird.
Aber nicht dies ist die große Frage der Zukunft. Ob der Reichstag den
preußischen Landtag, ob der Landtag den neuen Reichstag überdauern und in
sich aufnehmen wird, das hängt im letzten Grunde von der Antwort auf eine
Frage ab: welcher Versammlung wird das Recht zustehen, die großen Staats¬
einnahmen und Ausgaben zu bewilligen und nicht zu bewilligen? Hier liegt der
Angelpunkt des gesammten Versassungslebens, und niemand hat das einfacher
und hochsinniger ausgesprochen, als neulich Herr Simson im preußischen Ab-
geordnetenhause. Erhält der neue Reichstag das Bewilligungsrecht für die
sechzig Millionen zu Heer und Flotte, so wird er, das läßt sich voraussagen,
der große Kampfplatz parlamentarischer Talente und die Stätte werden, in
welche sich der ganze Schwerpunkt des öffentlichen Lebens in Preußen und
Deutschland verlegt. Wird der genannte Theil des Budgets, wie man be¬
hauptet, in der Art eisern sundirt, daß er der Competenz des Reichstags ent¬
zogen bleibt, so wird diese Versammlung, wie weit gemessen ihre sonstigen
Befugnisse sein mögen und wie zahlreich ihre Talente, doch nur ein Zollparlament,
d. h. eine große technische Commission, welche Gutachten oder Gesetze gebend, der
Nation nicht in das Herz wächst. In diesem Fall behält der preußische Land¬
tag, selbst wenn er nicht verhindern kann, daß das halbe Budget seiner Competenz
entzogen wird, seine maßgebende Bedeutung für Deutschland, dann dauert er
als die große Instanz, mit welcher die Minister abzurechnen haben, und die im
Laufe der Jahre das Ministerium zwingen wird, sich ihren Majoritäten zu fügen.
An der Entscheidung dieser Frage hängt, wir sind innig davon überzeugt,
die gesammte parlamentarische Zukunft Preußens und Deutschlands. Hat Graf
Bismarck die Absicht, den Reichstag zu dem künftigen Parlament des deutschen
Reiches zu erheben, so muß er jedes Jahresbudget des Reiches zu einem Act
der Gesetzgebung machen, was gar nicht verhindert, daß bestimmte Steuern und
Julräder dafür angewiesen werden. Will und kann er das nicht, so wird nach
neuen Kämpfen, deren einzelne Phasen sich jeder Berechnung entziehen, Reichs¬
tag und Bundesverfassung allmälig von dem preußischen Landtag aufgesogen.
Im erstem Falle mag sich die neue Zeit unter Führung des jetzigen Minister¬
präsidenten gestalten, im andern Fall wahrscheinlich im Kampfe gegen ihn.
Von keinem der europäischen Großstaaten ist im Laufe des verflossenen
Jahres in der Presse so wenig die Rede gewesen, wie von dem russischen.
Wochenlang hat die Rubrik „Rußland und Polen" in den verbreitetsten Tage¬
blättern Deutschlands und Frankreichs leergestanden und die wichtigen Ver¬
änderungen, welche sich während der Frühlingsmonate des Jahres 1866 auf
dem Gebiete der inneren Politik dieses Staats vollzogen haben, sind, weil sie
mit den Wirren vor Ausbruch des deutschen Krieges zusammenfielen, im west¬
lichen Europa beinahe ganz ignorirt worden. So wunderlich es klingen mag,
es ist Thatsache, daß man in dem halbbarbarischen Nußland über das west¬
europäische Leben und dessen Eigenthümlichkeiten wie über die politischen Vor-
gänge in Deutschland, England und Frankreich beinahe immer besser unterrichtet
ist, wie umgekehrt. Ob dieser Umstand aus dem bekannten Talent der Slaven
für die Beobachtung fremder Zustände, oder aus dem höheren Interesse zu er¬
klären ist, welches die Culturwelt für den hat, der an ihren Gütern nicht direct
theilnimmt, geht uns hier nichts an: an der Thatsache als solcher nehmen
wir Veranlassung, dem deutschen Publikum eine zusammenfassende Uebersicht der
jüngsten Erlebnisse jener merkwürdigen Welt des Ostens vorzulegen, welche sich
nach Gesehen bewegt, die der westeuropäischen Logik vielleicht noch lange un¬
verständlich bleiben werden, weil in Nußland — wie ein Landeskundiger ge¬
legentlich in den Oppenheimschen Jahrbüchern sagte — „zwei mal zwei heute
gleich fünf, morgen gleich drei, aber niemals gleich vier ist."
Stellen wir uns an den Ausgang des Jahres 1866, um an der damaligen
Beschaffenheit der inneren Politik Rußlands einen Maßstab für den Umfang
der seit den letzten zwölf Monaten eingetretenen Veränderungen zu gewinnen,
so finden wir die seit dem polnischen Aufstande an das Ruder getretene national¬
demokratische Partei auf dem Zenith ihrer Macht und ihres Einflusses angelangt.
Die Russisicirung Lithauens und der Ukraine ist in vollem Gange: unter Leitung
des Führers jener Fraction, die den aristokratisch-polnischen Charakter dieses
Landes durch Vertheilung des gutsherrlichen Grundeigenthums unter Bauern
und Knechte in einen bäuerlich-demokratischen zu verwandeln strebt — des Ge¬
heimraths Nikolaus Miljutin, ist der Generalgouvemeur des wilnaer Militär-
bezirks General Kaufmann unermüdlich damit beschäftigt, katholische Kirchen
zu schließen oder in griechisch-russische zu verwandeln, Edelleute und Priester, die
sich zur Verläugnung der proscribirten polnischen Nationalität nicht entschließen
können, in das Innere des Reichs oder an die asiatische Grenze zu senden und
ihre Besitzungen unter „loyale" Bauern zu vertheilen. Demokratisch.socialistisch
gesinnte Beamte, die durch hohe Gehalte an die westliche Grenze gelockt sind
und sich der lange gesuchten Gelegenheit zur Verwirklichung ihrer Utopien er¬
freuen, wetteifern mit fanatischen Geistlichen der russisch-griechischen Kirche in rück¬
sichtsloser Bekämpfung des „aristokratischen" westeuropäischen Elements, das die
Polen repräsentiren, um dann in den Spalten der allgewaltigen Moskaner Zeitung
als „Missionäre der guten Sache" gepriesen zu werden. Das Verzeichnis) der
confiscirten, sequestrirten und parcellirten Güter in den westlichen Gouvernements
ist noch immer im Zunehmen begriffen, und da die erwarteten Käufer aus dem
Innern des heiligen Rußlands sich immer noch nicht finden wollen, wird eine
Bank zur Unterstützung russischer Güterkciufer^ in Litthauen gegründet. Parallel
mit dem Register der eingezogenen Güter läuft das der Convertiten und die
Bauern und kleinen Gutsbesitzer, welche von der katholischen zur griechisch-
orthodoxen Kirche übergetreten sind, werden schon nach Tausenden gezählt.
Ein Ukas Vom 10. December verbietet die Erwerbung in den westlichen
Gouvernements belegener Güter durch Personen polnischer Herkunft und decretirt,
daß das Grundeigenthum sämmtlicher durch den letzten Aufstand compromittirter
Polen binnen zwei Jahren verkauft sein soll. Beinahe gleichzeitig fühlt der
Minister des Innern sich bewogen, auch gegen andere „nichtrussische" Theile des
Reichs strengere Saiten aufzuziehen, ein Circularbeschl an die Censoren Liv-, Eheb¬
und Kurlands macht es diesen Beamten zur Pflicht, den Kampf der deutschen
Presse jener Provinzen gegen die russisicatorische Tendenz der moskauer und Peters-
burger Journale strengstens zu überwachen und jede Aeußerung zu unterdrücken,
welche von einer Verkennung des engen Zusammenhangs jener Provinzen mit
dem großen Reich zeuge. Der demokratische Domäncnminister Selenny ernennt
— gegen die unvordenkliche Praxis — einen Russen zum Chef der baltischen
Domänenverwaltung und nährt durch Vermittelung dieses die Intriguen der
jung-keltisch-panslavistischen Partei gegen das deutsche Element an der Ostsee;
um den wankenden Einfluß der griechischen Kirche in Livland zu kräftigen, schlägt
er vor, die Höfe der Domänengüter jenes Landes zu zerschlagen und Parcellen
derselben an der griechisck-russischen Konfession angehörige Bauernknechte zu ver¬
theilen, um auf diese Weise die „Glaubenstreue" jener Convertiten zu stärken
und zugleich dem Princip des russischen Gemeindebesitzes auch an den Stätten
deutscher Cultur die Wege zu bereiten.
Der überfluthende Einfluß der in den Brüdern Miljutin und ihrem Freunde
Selenny repräsentirten vüreaukratisch-demokratischen Partei, die aus ihrem Haß
gegen den russischen Adel und den großen Grundbesitz kein Hehl machte und
laut verkündete, der mit dem Volke verbündete Absolutismus müsse, um con-
sequent zu sein, mit der russischen Aristokratie ebenso rein Haus machen, wie
mit der polnischen — wurde von den Bvjarenkreisen Moskaus und Petersburgs
mit wachsender Eifersucht überwacht. Das aristokratische Petersburger Wochen-
blatt „Wesstj" führte gegen die Wirthschaft der Miljutin, Murawjew und Kauf,
manu seit Jahren einen erbitterten Kampf und sprach immer wieder davon, daß
das persönliche Eigenthum bedroht sei und mehr und mehr aufhöre, eine Grund¬
lage des russischen Staatslebens zu sein. In der That war in den neugeschaf¬
fenen Provinzialversammlungen der den Gemeindebesitz repräsentirende Bauern,
stand sehr viel reichlicher vertreten, als das persönliche Eigenthum an Grund
und Boden, d. h, der Adel. Das Bedürfniß nach einer Einschränkung des Ab¬
solutismus, nach Beschaffung wirklicher Garantien für Recht und Eigenthum
des Individuums wurde innerhalb der gebildeteren russischen Adelsverbände von
Jahr zu Jahr Lebhafter empfunden*). Jeder Versuch, den die Adelsversamm-
lungen Moskaus und Petersburgs gemacht hatten, um den Monarchen zu einer
freiwilligen Einschränkung seiner unbeschränkten Gewalt zu bewegen, diente aber
nur dazu, die Macht der büreaukratischen Anhänger des Absolutismus zu steigern:
die Adresse, welche der most'owitische Adel im Januar 1865 beschlossen hatte,
um den adelsseindlichen Machthabern ein Mißtrauensvotum zu ertheilen und
seinen constitutionellen Wünschen einen bescheidenen Ausdruck zu geben, war
vom Kaiser zurückgewiesen und mit einem Rescript an den Minister Walujew
beantwortet worden, das dergleichen Eingriffe in die kaiserliche Initiative ein
für alle Mal abschnitt.
Einer der Gegenstände, auf welchen die aristokratische Opposition bei ihren
Anklagen gegen das herrschende Regime immer wieder zurückkam, war der jam>
merliche Zustand der. Finanzen. Beim Beginn des vorigen Jahres wies das
Budget pro 1866 trotz der beiden neu emittirten inneren Prämienanleihen
im Gesammtbetrage von 200 Millionen Rubeln und trotz der allbekannten That-
sache. daß der eigentliche Zweck dieser Operationen nicht der Bau neuer Eisen-
bahnen (wie es in dem betreffenden Mas hieß), sondern die Zustopfung der
zahllose» Löcher des Staatshaushaltes sei — noch immer ein Deficit von nahe¬
zu 22 Millionen Silberrubeln auf. Seit dem polnischen Aufstande und der
Inauguration der fabelhaft kostspieligen Nussisicationspolitik, die eine Verstä»
kung des Militärbestandes zur Voraussetzung hatte, war dieses Deficit in fort'
währendem Zunehmen begriffen gewesen: im Jahre 1863 halte es 15V« Mill.,
1864 nicht weniger als 46'/- Millionen, 1865 trotz der neuen englisch-holländischen
Anleihe immer noch 22 Millionen betragen. Dazu kam, daß der Staat außer
Stande war, auch nur eine der nothwendigen neuen wirthschaftlichen Unter-
nehmungen wirksam zu unterstützen, daß die Eisenbahnbauten nur mit fremden,
hochverzinsten Capitalien fortgeführt werden konnten und die seit Jahren ver¬
heißene russische Bodencreditbank, deren der große Grundbesitz dringend bedürfte,
aus Mangel an Mitteln nicht zu Stande kam. Weil die fortwährend mit
Verlegenheiten dampfende Reichsbank die Concurrenz neuer Werthpapiere auf dem
Geldmarkt zu fürchten allen Grund hatte, sielen auch die zahlreichen privaten
Unternehmungen zur Begründung von Crcditgesellschaften zu Boden, mochten
sie von Ausländern oder Inländern projectirt worden sein. — Schlimmer noch
wie mit dem öffentlichen war es mit privatem Credit bestellt; der elende Stand
der russischen Valuta und die starken Coursschwankungen lasteten bleiern auf
Handel und Industrie und die Furcht vor einer auch nur augenblicklichen Ver¬
minderung der Zolleinnahmen verhinderte den Finanzminister an der Verwirk¬
lichung seiner freihändlerischen Pläne, die durch das bekannte Memorandum des
deutschen Handelstages angeregt, in den russischen Börsenkreisen übrigens mit
entschiedenem Mißfallen aufgenommen worden waren. Der Protectionismus und
die Phrase von der Nothwendigkeit einer nationalen, vom westlichen Europa
unabhängigen Industrie waren und sind integrircnde Theile des streng nationalen
Programms und werden von den russischen Journalen (die Se. Petersburger
Vörsenzeitung ausgenommen) ebenso unermüdlich wie andächtig wiederholt.
So war die Lage der Dinge beim Jahreswechsel und während der ersten
Monate des neuen Jahres: jeder Tag schien das Wachsthum der national¬
demokratischen Partei und ihres Einflusses zu kräftigen, die Männer der
Mäßigung, die Vertreter der westeuropäischen Cultur und der Toleranz gegen
die nicht russischen Eigenthümlichkeiten der polnischen, deutschen und finnländischen
Provinzen in den Hintergrund zu schieben. Da geschah es, daß der aus dem
Gouvernement Saratow gebürtige frühere moskauer Student Wladimir Kara-
kosow am 4. (16.) April ein Pistol gegen den im Sommergartcn lustwandeln¬
der Kaiser abschoß und durch dieses wahnsinnige Unternehmen die dritte große
Wandlung in der Politik dieses Herrschers herbeiführte. Der Name für diesen
dritten Abschnitt der Negicrungsgeschichte Alexanders des Zweiten (die erste
Epoche, 18S6—1863, kann als die liberale, die zweite, 1863—1866. als die
streng nationale bezeichnet werden) ist noch nicht gesunden, selbst über die Natur
seiner charakteristischen Merkmale läßt sich noch streiten, aber ihr Vorhandensein
glauben wir durch die Zusammenstellung der russischen Regierungshandlungen
vom Januar bis December 1866 nachweisen zu können.
Der Augenblick des ersten starren Entsetzens über die That vom 4. April
wurde von der national-bureaukratischen Partei mit großem Geschick benutzt.
„Das kann nur ein Aristokrat, ein Pole oder ein Deutscher gewesen sein", hieß
es in der von dieser Fraction inspirirter Presse, welche die Rettung des geliebten
Czaren. durch die Hand eines Bauern aus Kostroma zugleich als „symbolische"
Volksthat mit lautem Jubel verkündete. Um den bezüglichen Wünschen gleich¬
zeitig nach mehren Seiten zu entsprechen, verbreitete die russische Se. Peters-
burger Zeitung das Märchen, der Attentäter (dessen wahrer Name Wochen lang
nicht ermittelt werden konnte) sei ein polonisirtcr Deutscher. Bald aber wandte
sich das Blatt: der Verbrecher war ein Russe und zwar ein Socialist der extrem¬
sten Partei, zugleich Mitglied einer in Moskau und Petersburg verbreiteten
revolutionären Gesellschaft, in deren Reihen weder Deutsche noch Aristokraten
und uur einige weniges dazu ganz unbedeutende Polen zu finden waren. Der
Anhänger des reinen aus Frankreich importirten Socialismus, an deren Spitze
der später als „Jdeolog" bei Seite geschobene Herzen gestanden hatte, gab es
in Rusland seit dem Jahre 1863 nicht mehr sehr viele; das Gros der Partei war
beim Ausbruch des polnischen Aufstandes in das national-demokratische Lager
übergegangen, hatte seinem ursprünglich gegen die Regierung gerichtet gewesenen
Zcrstörungstriebe im Kampf gegen Polonismus und Katholicismus ein neues
Object geschaffen und sein socialistisches Gewissen mit dem Troste abgefunden,
durch Einführung des russischen Gemeindebesitzes in Polen und Litthauen werde
der gänzlichen Vernichtung des persönlichen Eigenthums an Grund und Boden
am besten vorgearbeitet. Die Minorität der entschiedenen Socialisten hatte sich
dem Drange der Umstände nur widerwillig gefügt; sich selbst überlassen, ver¬
tiefte sie sich in die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, alle bestehende
Ordnung über den Haufen zu werfen, Eigenthum, Staat, Kirche, Ehe, Gesell¬
schaft u. s. w. gewaltsam zu vernichten, statt des Socialismus den Communis¬
mus auf den Thron zu setzen und dieses große Werk mit der Ermordung des
pscudo-liberalen Czaren einzuleiten. Man nannte diese kleine, aber fanatische
Gruppe (die Turgcncw in seinem Romane „Väter und Söhne" trefflich charak-
terisirt hat) die „Nihilisten", weil sie absolut nichts gelten ließen und nur in
der Zerstörung des Vorhandenen das Heil sahen. Zwischen ihnen und jenen
oben erwähnten, gut kaiserlich gesinnten Männern der national-demokratischen
(richtiger socialistischen) Partei lag eine tiefe Kluft — daß es an Berührungs-
punkten aber nicht ganz fehlte und daß der wichtigste derselben in der fana¬
tischen Verehrung des altrussischen Gemeindebesitzes bestand, ließ sich doch nicht
läugnen. Dieser Umstand genügte, um den Conservativen für den Augenblick
das Uebergewicht zu verschaffen. Zum Gcncraldirector der geheimen (politischen)
Polizei wurde wenige Tage nach dem Attentat der Generalgouvemeur von
Liv-, Esth- und Kurland, Graf Schuwalow, ein hochbegabter Administrator und
entschiedener Gegner der Miljutin, ernannt, die Leitung der Untersuchung gegen
Karatosow und Genossen wurde dem Grafen Murawjcw übertragen, der zwar
ein entschiedener Polcnfcind, ja der erste Nussificator Litthauens gewesen war,
als alter Soldat und Aristokrat aber von tödtlichen Haß gegen seine früheren
Bundesgenossen erfüllt war. Hatte er die socialistischen Bureaukraten auch zur
Zeit seines wilnaer Proconsulats vielfach benutzt, so wollte er doch von ihren
„modernen" und „demokratischen" Tendenzen nichts wissen, — er gehörte der
nikolaitischen Schule an und sah es schon ungern, daß Nichtmilitärs überhaupt
zur Geltung kamen. Das erste Opfer seines neugewonnenen Einflusses war
der Unterrichtsminister Golownin, ein Anhänger seines Todfeindes des Gro߬
fürsten Konstantin; man machte es diesem Staatsmann zum Vorwurf, durch
seine Begünstigung des Realschulwesens und der naturwissenschaftlichen Studien
der Verbreitung der communistisch-materialistischen Lehren des Nihilismus vor¬
gearbeitet zu haben und ersetzte ihn durch den conservativen Grafen Tolstoy,
einen Freund Schuwalows.
Von dem wachsenden Einfluß dieses Mannes, der gegenwärtig dem kaiser¬
lichen Vertrauen am nächsten stehen dürfte, zeugte alsbald eine Reihe anderer
wichtiger Veränderungen. Schuwalows Nachfolger in Riga wurde der conser-
vativ-liberale und dabei höchst human gesinnte Graf Baranow, ein persönlicher
Freund des Kaisers; Finnland erhielt den gleichfalls der gemäßigten Partei an-
gehörigen Grafen Adlerberg (den zweiten Sohn des Hofministers) zum Statt¬
halter, der derselben Richtung angehörige Geheimrath Deljanow wurde Gehilfe
des Untcnichtsministers, der livländische Landmarschall und bewährte Führer
der liberalen Partei des tur- und Inländischen Adels Fürst Paul Liewen
Kurator des Petersburger Lehrbezirks und Oberceremonienmeister. Schuwalows
Einfluß endlich war es zuzuschreiben, daß der Finanzminister v. Reutern vor
dem ihm bestimmten Loose, Murawjews Grimm zu verfalle» und seinem Freunde
Golownin in das Privatleben zu folgen, bewahrt blieb: er mußte sich dazu
verstehen, einen Freund des jungen Polizeiministers, den General Grcigh, zu
seinem Gehilfen zu nehmen. Diesen Personalveränderungen, die rasch auf ein¬
ander folgte», gab ein kaiserliches Rescript vom 23. Mai alsbald die authen¬
tische Interpretation: Recht, Eigenthum und Religion — so hieß es in jenem
Actenstück, das von der damals mit Kriegssorgen überbeschäftigten deutschen
Presse vollständig ignorirt wurde — seien durch gefährliche socialistische Um¬
triebe, denen man zufolge des Attentats auf die Spur gekommen, schwer
bedroht; die liberalen Absichten der Negierung seien mißverstanden worden, der
Kaiser erkläre feierlich, daß er die Nothwendigkeit des Eigenthums anerkenne,
daß er sich auf die conservativen Elemente des Staatslebens, zumal auf den
Adel stützen und jede Agitation gegen denselben, rühre sie her von wem sie
wolle, — niederhalten werde.
Dieser kaiserlichen Willcnsmanifesiation folgten verschiedene Regierungs-
handlungen, welche darauf schließen ließen, daß man die Zügel schärfer anzu¬
ziehen entschlossen sei. Zwei radical-demokratische Journale wurden unterdrückt
und die bis dahin allmächtig gewesene Moskaner Zeitung, von der ausgemacht
war, daß sie über dem Gesetz stand, wegen Ungehorsam gegen die Anordnungen
des Ministers Walujew (sie hatte eine ihr ertheilte Verwarnung nicht abgedruckt)
auf zwei Monate suspendirt. Wie groß aber war das allgemeine Erstaunen,
als gegen Ende des Maimonats bekannt wurde, das Haupt der socialistisch,
bureaukratischen Partei, der entschiedenste Feind des Adels und der conservativen
Principien, der Geheimrath Nikolaus Miljutin, sei zum Staatssekretär für Polen
ernannt und der bisherige Chef dieser Administration Platonow verabschiedet
worden. Deutlicher als durch diese Ernennung konnte nicht gesagt werden, daß
die kaiserlichen Entschließungen zu Gunsten des konservativen Princips eine sehr
bestimmte Grenze hätten, daß Polen außerhalb des Gesetzes stehe, daß man es
versuchen wolle, hüben mit conservativen, drüben mit socialistisch-terroristischen
Grundsätzen zu regieren, hier das Eigenthum und das formelle Recht zu con-
serviren, dort die rücksichtsloseste Utilitätspolitik walten zu lassen.
Die Sommermonate, welche der Kaiser dieses Mal in und bei Moskau
zubrachte, waren beinahe vollständig mit der Theilnahme an den Ereignissen in
Deutschland ausgefüllt. Beim Ausbruch des Krieges waren Hof und Gesell¬
schaft entschieden östreichisch gesinnt. Die Königin von Würtemberg hatte ihren
Aufenthalt in Se. Petersburg dazu ausgebeutet, gegen Preußen und für den
deutschen Particularismus zu agitiren und während der ersten Wochen des böh¬
mischen Feldzugs überboten die russischen Zeitungen einander in Jnvectiven
gegen die bismarcksche Politik. Die zufolge eines Jmmediatgesuchs bei dem
Kaiser rehabilitirte Moskaner Zeitung warnte vor der Zunahme der preußischen
Macht, erklärte, daß Rußlands Einfluß an der Ostsee schwer bedroht sei und daß
die Regierung ihre Maßnahmen zu Gunsten der Nussificirung Polens, Lithauens
und der Ostseeprovinzen möglichst beschleunigen müsse, wenn es einer preußischen
Invasion in diese Grenzlande begegnen wolle. Nach der Schlacht bei Königs-
grätz änderten zuerst die officiellen, später auch die unabhängigen Blätter den
Ton. „Wir haben kein Interesse an dem Fortbestande der östreichischen Monarchie
und ihrer Großmachtstellung" lautete jetzt die Parole. Man ließ sich die preu¬
ßischen Erfolge gefallen, weil man von ihnen zu Gunsten des erweiterten russi¬
schen Einflusses in den süd- und westslawischen Ländern Oestreichs und der
Türkei Vortheil zu ziehen hoffte und zugleich meinte, Graf Bismarck werde die
Zustimmung Rußlands zum nikolsburger Frieden und den Annexionen in Deutsch¬
land mit der Verpflichtung auf eine directe oder indirecie Unterstützung der
orientalischen Politik des Petersburger Cabinets erkaufen müssen. —
Was dem französischen Volk die Rheingrenze, ist dem russischen die orien¬
talische Frage: Der Punkt, auf welchem die verschiedensten Parteien und Rich¬
tungen einander begegnen. Die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, die
Fahne mit dem griechisch-russischen Kreuz dereinst am Bosporus aufzustecken
und von Stambul aus ein orientalisches Slawenreich zu begründen, wurzelt
ebenso tief in den religiösen, wie in den politischen Traditionen des russischen
Volks, das sich nicht nur den slawischen Stämmen der Türsei eng verbrüdert
weiß, sondern auch die heilige Verpflichtung fühlt, jenes Byzanz. das die Wiege
der christlichen Cultur Rußlands war, von den Greueln der Ungläubigen zu
reinigen und wiederum zum Mittelpunkt der orientalischen Christenheit zu machen.
Beinahe ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres Einflusses auf die Lösung
der orientalischen Frage wurde die große Umgestaltung Deutschlands in Nu߬
land aufgefaßt und beurtheilt. Während im westlichen Europa die deutsche
Frage auch in den letzten Monaten des abgelaufenen Jahres im Mittel¬
punkt aller Interessen stand und die Beschäftigung mit den Borgängen an der
unteren Donau, auf den türkischen Inseln und in Galizien auf einen ziemlich
kleinen Kreis von Politikern beschränkte, wandte man in Nußland den deutschen
Dingen schon Anfang September beinahe vollständig den Rücken, um wieder
und immer wieder von der Erweiterung der russischen Macht im Südosten
Europas zu handeln. Die russische Presse sprach sich mit einer beinahe beispiel¬
losen Einstimmigkeit gegen die Anerkennung des Prinzen von Hohenzollern und
gegen die Vereinigung der Donaufürstenthümer aus. in welcher man ein Werk
westmächtiicher Intriguen sah. — Die Moskaner Zeitung, noch immer das ton.
angehende Blatt, erklärte wiederholt, sie sehe den pariser Frieden für nicht mehr
rechtsverbindlich an und müsse im Namen der Nation die Ncvindication des
18S6 verloren gegangenen Theils der Moldau, sowie die Besetzung der Donau¬
mündung fordern: wo es die Ehre und die geheiligte Tradition des Vaterlandes
gelte, müsse jede andere Rücksicht, auch die auf die Finanzlage schweigen. Nach
längerem Zaudern entschied die Regierung sich dafür, dieses Mal noch nicht zu¬
zugreifen; sie ließ es geschehen, daß die von ihr wiederholt und entschieden ge¬
mißbilligte Union der Fürstenthümer zur vollendeten Thatsache wurde und behielt
sich nur die freie Action für die Zukunft vor. Die Rücksicht auf die Finanzen
ist neben der Hoffnung auf die zunehmende Zersetzung des östreichischen Kaiser¬
staats als Hauptgrund dieser Zurückhaltung anzusehen, in welche die große
Mehrzahl der russischen Politiker sich nur ungern gefügt hat.
Die Theilnahme für die Dinge in der Türkei ist während der letzten Mo¬
nate nur noch von der überboten worden, welche die russische Gesellschaft für
das Schicksal der angeblich in ihren heiligsten Interessen bedrohten Nussincn
Galiziens an den Tag gelegt hat. Das Verhältniß zwischen Russen und Polen
ist in der südöstlichen Hälfte Galiziens genau dasselbe, wie in Litthauen und der
Ukraine, hier wie dort steht dem polnisch-katholischen Adel ein russisch-orthodoxes
bäuerliches Element entgegen. Die Ernennung Goluchowskis, des Hauptes der
galizischen Adclspartei, zum Statthalter des Großfürstcnthums, ist von den
nationalen und Demokraten Rußlands mit einer Bitterkeit aufgenommen wor¬
den, die ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat. Dieser „letzte Act der
polnischen Tragödie" ist in den Augen der russischen Politiker der Rechtstitel
zu einem Einschreiten des in seinen polnischen Landestheilen bedrohten Nußland
in die inneren Verhältnisse der slawischen Völker Oestreichs. Die Organe der
Petersburger und der moskauer Presse wetteifern in leidenschaftlichen Mahnungen
zu Gunsten einer Intervention, welche den Sieg des demokratisch-russischen über
das polnisch-aristokratische Element vollenden und der orientalischen Politik Ru߬
lands die moralische Unterstützung der außerrussischcn Slawcnstcimme für alle
Zeiten sichern soll. Mit der Lösung jener großen Frage der Zukunft müsse
unter allen Umständen in Oestreich der Anfang gemacht werden.
Zu den interessantesten und wichtigsten Merkmalen des politischen Lebens
in Nußland gehört, daß die inneren Fragen, um welche es sich im Kampf
der Parteien handelt, beinahe ohne allen Zusammenhang mit den auswärtigen
sind, daß es bezüglich dieser in der Regel keine Meinungs- und Parteiverschicden-
heiten giebt, die sich außerhalb der Hof- und Regie.rungskreise bemerkbar machten.
Der politische Jnstinct dieser Nation ist trotz des niedrigen Bildungsgrades so
ausgebildet, daß sich eine auswärtige Verwickelung nur am Horizont zu zeigen
braucht, um sofort allen inneren Händeln Schweigen zu gebieten. Wenn das
im letzten Halbjahr nicht so vollständig der Fall gewesen ist. wie in früherer
Zeit, so hat das einfach darin seinen Grund, daß die Regierung die Vorgänge
in Galizien und an der Donau scheinbar ihren Gang nehmen ließ und ihre
Abneigung, zur Zeit in kriegerische Verwickelungen einzutreten, wiederholt und
deutlich documentirte, weil sie den Augenblick nicht für geeignet hielt. Daraus
erklärt sich, daß trotz der Theilnahme, welche man den Ereignissen im Westen
schenkte, die Kämpfe und Arbeiten im Innern ihren ununterbrochenen Fortgang
genommen haben.
Anfang Juni trat die seit Jahren vorbereitete Neugestaltung der Justiz für
Moskau, Petersburg und die angrenzenden Gouvernements ins Leben, fürs Erste
mit entschieden günstigem Erfolg. An zahlreichen Mißgriffen der jungen Ge¬
schworenengerichte hat es zwar nicht gefehlt, desto glücklicher ist der Griff ge¬
wesen, den die Negierung mit Einführung des Instituts der Friedensrichter für
Bagatellstreitigkeiten und Polizeivergehen gethan hat. Das tief erschütterte Ver¬
trauen des Volks zu der Rechtspflege hat sich plötzlich gehoben, die „neuen
Gerichte" sind der Gegenstand der allgemeinsten und dankbarsten Verehrung
aller Classen, und in die sonst tief verachtete Classe der Jnstizbcamten scheint ein
neuer Geist gefahren zu sein. Die Erwartung, welche die Negierung an die
neuen Gerichtshöfe gestellt hatte, sind so glänzend übertroffen worden, daß der
Justizminister, seiner ursprünglichen Ansicht zuwider, die Ausdehnung derselben
auf eine größere Zahl von Gouvernements angeordnet hat. Merkwürdig genug,
daß die Reform der Justiz, zu welcher eigentlich niemand in Nußland rechtes
Vertrauen hatte, sehr viel glücklicher von Statten gegangen ist als die Mehrzahl
der übrigen Reformen.
Desto trauriger sah und sieht es mit den Finanzen aus. Trotz einer neuen
Anleihe zur Deckung der fälligen Zinszahlung der auswärtigen Schuld und der
Emission Von 9 Millionen neuer Schatzschuldscheine, ist das Deficit für 1866
von 21 auf 36 Millionen gestiegen und die Noth so groß, daß man zu Er¬
sparnissen auf allen Gebieten seine Zuflucht nehmen mußte, um nur nothdürftig
durchzukommen. Das Budget der Flotte geht bedeutenden Reductionen ent¬
gegen, die bereits sehr schlecht bezahlten Administrativbeamten sollen künftig noch
schlechter bezahlt werden, die Kosten für die Verpflegung der Armee sind auf
ein so geringes Maß herabgedrückt worden, daß kaum ein halber Silber-
groschen für den täglichen Unterhalt des Soldaten übrig bleibt, und die Haupt¬
quelle der indirecten Einnahmen des Staats, die Branntweinaccise ist so ma߬
los gesteigert, daß den Producenten eigentlich nur die traurige Alternative
gelassen ist. Betrüger oder Bankerotteure zu werden. Nur die Ausgaben für
den Hof und für die „Missionare" Büreaukratie in den früher polnischen Ländern
sind die alten geblieben und die Unkosten, welche die Vermählung des Thron¬
folgers Verschlungen hat, werden nach Millionen berechnet. — In directem
Gegensatz zu dem Gang der Ereignisse während des vorigen Herbstes und Win¬
ters haben die Parteikämpfe der letzten Monate zu einer Reihe von Niederlagen
der miljutinschen Partei geführt. Der plötzliche Tod des Grafen Murawjew be¬
freite den Grafen Schuwalow von dem gefährlichsten seiner Rivalen. Jetzt
ging der kühne junge Staatsmann dem Nachfolger Murawjews und Hauptwerk¬
zeug der Nationalitätsfanatiker zu Leibe; der Generalgouvemeur von Wilna,
Kaufmann, mit dem er bereits als Statthalter in Riga zu Gunsten verfolgter
und nach Kurland geflüchteter Polen manchen Strauß ge-kämpft hatte, wurde
von Schuwalow gestürzt und trotz der Verwendung des Kriegsministers und
seiner übrigen Freunde zu einer elfmonatlichen Reise ins Ausland veranlaßt,
zu seinem Nachfolger der eben erst in den Ostseeprovinzen heimisch gewordene
Gras Baranow ernannt, ein Mann, dessen milde edle Gesinnung die beste
Bürgschaft dafür bot, daß es mit dem Terrorismus in den westlichen Gouver¬
nements zu Ende sei.
Die Wirkung dieses kühnen Griffes war so groß, daß er Freunde wie
Gegner für einen Augenblick um alle Fassung brachte. Mit einer Leidenschaft¬
lichkeit, die der Sache der Konservativen nur schaden konnte, schleuderte die
Wesstj (das Organ der konstitutionellen Adclspartei) dem entsetzten wilnaer
Generalgouvemeur ihre Verwünschungen nach, und die kluge, fein berechnete
Haltung der geistigen Schöpferin der Russificirungspolitik in Polen, der Mos¬
kaner Zeitung, wurde im ersten Schrecken so vollständig außer Augen gesetzt,
daß der Leiter dieses Blattes erklärte, wenn die in Litthauen gethane russische
Arbeit nicht verloren gehen solle, müsse ein Staatssecretanat für die westlichen
Gouvernements geschaffen und diesem der neue Generalgouvemeur von Wilna
untergeordnet werden. Seitdem wogt der in der Presse geführte Parteitampf
leidenschaftlich hin und her: die Moskaner Zeitung, die den Finanzminister, den
Justizminister und den Minister des Innern zu Feinden hat, ist bereits soweit
gegangen, die russischen Conservativen als Polenfreunde und Verräther an der
nationalen Sache zu denunciren und dem Grafen Schuwalow wenigstens in-
direct den Krieg zu erklären. In den ersten Deeembertagen hat dieser einen
Sieg erfochten: sein Todfeind Miljutin, der abgöttisch verehrte Vorkämpfer der
national-demokratischen Sache ist von einem Schlaganfall zu Boden geworfen,
er selbst mit der Leitung der polnischen Angelegenheiten provisorisch betraut
worden.
In einem Staate, dessen Verhältnisse lediglich durch den unberechenbaren
Willen eines Einzelnen bedingt sind, in dem vor den sachlichen rein persönliche
Einflüsse bestimmend wirken, läßt sich keine Cvnjccturalpolitik treiben. Rußlands
innere Politik steht an einem Scheidewege — ob sie rechts oder links wenden
Wird, ob man es versuchen wird, wie bisher einen Mittelweg zu gehen, hier
im liberalen Sinne zu reformiren, dort zu Gunsten blinder Nationalitätsleiden¬
schaften eine vorhandene Culturentwickelung niederzutreten und den maßlosesten
Terrorismus walten zu lassen — das weiß niemand zu sagen. Die verhäng-
nißvolle polnische Frage ist es, welche die Zukunft Rußlands bedingt, welche
seit vier Jahren auf alle inneren Fragen entscheidend eingewirkt, das Leben der
Nation gewaltsam in neue Bahnen gedrängt, seine Entwickelung zu höherer Cul¬
tur, wahrer Freiheit und echter Menschlichkeit gehemmt hat. Ueber die Zukunft
Polens ist das letzte Wort aber noch nicht gesprochen: wenn es gesprochen wird, hat
Deutschland auch mitzureden und, Dank den großen Ereignissen des Sommers
1866, wenn das Deutschland unserer Zeit seine Stimme erhebt, kann sie nicht mehr
überhört werden. Das Panier der deutschen Eroberung Polens ist ein anderes
als das russische. Nicht das Schwert und nicht das byzantische Kreuz, auch nicht
der Köder der Ackervertheilung ist es, der unsern Culturpionieren vorausgetragen
wird, die Kraft der höheren Gesittung, der im Dienst eines sittlichen Princips
gethanen Arbeit ist es, was ihnen den Sieg verbürgt. Die Russen wissen das
Wohl und die Furcht davor, die Germanisation werbe die Weichsel überschreiten,
bevor die Russisicirung auch nur bis an die Grenzen des Königsreichs gedrungen,
ist eines ihres Hauptargumente für Beschleunigung der blutigen Arbeit auf
polnischer Erde. Führt eine frühere Krisis in der orientalischen Frage nicht zur
Entscheidung über die künftige Stellung Rußlands in der europäischen Welt,
so wird sich — wie wir die Dinge ansehen — dereinst zwischen Weichsel und
Njemen die Frage lösen, ob die Slawen wirklich berufen sind, die Träger der
Cultur der Zukunft zu werden, oder ob es mit der Aufgabe, welche das deutsche
Volk auf Erden zu lösen hat, noch nicht zu Ende ist.
Von mehr wie einer Seite her ist dem Ministerium Bismcirck vor Aus-
bruch des letzten Krieges zugerufen worden, Preußen gehe einem zweiten Jena
entgegen. Aus der Thatsache der Entfremdung von Regierung und Regierten
wollte man bereits die Gefahr vollständiger Auflösung und Zersetzung des
Staatsorganismus deduciren. Daß Befürchtungen dieser Art überhaupt mög¬
lich waren, zeugt ebenso von der Befangenheit und Einseitigkeit, in welche ge-
wisse Führer des Volks zufolge des Jahre langen Kampfes um die Verfassung
gerathen waren, als von der diametralen Verschiedenheit zwischen den Forde¬
rungen, welche unsere Zeit an das Staatsleben stellt und denen, auf weiche
man sich vor sechzig Jahren beschränkte. Weder in Bezug auf die auswärtige
Politik, noch rücksichtlich der inneren Zustände oder des öffentlichen Geistes läßt
sich die geringste Aehnlichkeit zwischen dem Preußen von 1866 und dem von
1806 nachweisen.
Stellt man zuvörderst die auswärtige Politik der Haugwitz und Lombard
der des Grafen Bismarck entgegen, so steht man zwischen Gegensätzen, die kaum
ein tertium eompA-ratioiris bieten. Damals galt es die Aufrechterhaltung der
Stellung, welche Preußen seit dem Hubertsburger Frieden wenigstens scheinbar
eingenommen hatte, die Behauptung der Grenzen und des stark gefährdeten
Ansehens der Monarchie Friedrichs des Großen, — im Sommer 1866 die Er¬
reichung des höchsten Ziels, welches dieser Staat überhaupt anstreben konnte.
Aus Furcht vor einer kriegerischen Auseinandersetzung verpaßte man den Zeit¬
punkt, in welchem der Kampf gegen Frankreich noch zum Volkskriege werden
konnte; ohne Rücksicht darauf, daß der europäische Credit Preußens bereits so
tief herabgekommen war, daß er nur durch eine kühne energische That gerettet,
durch das geringste Vergeben seiner Würde aber zum Bankerott werden konnte,
suchte man in feigem Tcmpvrisiren und Abwarten das Heil. Während das
Volk im Gefühl der zunehmenden Fäulniß des inneren Staatslebens nach einer
auswärtigen Action verlangte, wurde ihm diese gewaltsam vorenthalte». In
directem Gegensatz hierzu zog der Leiter der preußischen Politik von 1866 von
Hause aus die Gefahr eines „Endes mit Schrecken" dem „Schrecken ohne Ende"
vor, in welchen Preußen durch seine Isolirtheit in der Schleswig-holsteinischen
Frage und zufolge des inneren Conflicts zu gerathen schien; der als nothwendig
erkannte Kampf gegen Oestreich und dessen kleinstaatliche Vasallen wurde auf¬
genommen, noch bevor seine Dringlichkeit von den Massen ganz verstanden war,
gewaltsam die Aufmerksamkeit des Volkes von den inneren auf die aus-
wärtigen Fragen abgelenkt. In der richtigen Erkenntniß, daß der Krieg gegen
Oestreich zur Zeit noch in einen Volkskrieg verwandelt werden konnte, daß diese
Möglichkeit aber durch eine längere Fortdauer der inneren Verwickelung täglich
abnehmen müsse, zog Graf Bismarck durch Besetzung Hannovers und Sachsens
einen dicken Strich durch die Rechnungen einer Vergangenheit, deren Bücher
von beiden Seiten zu schlecht geführt worden waren, als daß ein gewohnheits¬
mäßiger Abschluß derselben möglich geblieben wäre.
Vielleicht noch größer war die Verschiedenheit zwischen den inneren Ver¬
hältnissen des preußischen Staats von 1866 und denen von 1806. Unzufrieden¬
heit mit einem bestimmten Regierungssystem und Abwendung von den Staats¬
interessen als solchen, sind zwei Dinge, die trotz mancher äußeren Ähnlichkeit
nichts mit einander gemein haben. Ein einigermaßen gesundes Volk kann ein
großes Maß schlechten Regiments, eine Regierung, die an die Principien ihrer
Handlungsweise glaubt, ein gut Theil Volksunzufriedenheit vertragen: wenn
aber die Beziehungen beider Theile zu einander aufhören, wenn es keinen Punkt
mehr giebt, auf welchem die Interessen zusammentreffen, — dann tritt die
Gefahr einer Zersetzung des staatlichen Organismus ein. Eine solche war seit
dem Tode Friedrich Wilhelm des Zweiten thatsächlich im Gange. Das alt-
preußische System hatte das Volk dem Staat entfremdet, die Regierung Friedrich
Wilhelm des Dritten kam in den Jahren vor der napoleonischen Invasion über
die Sorge für Beschaffung der Mittel zur Fortführung des Staatsgcschäfts
nicht hinaus, sie hatte das Bewußtsein von der Solidarität ihrer Interessen
mit denen der Nation verloren. Jede gesunde Betheiligung der Staatsbürger
an dem öffentlichen Leben hat ein gewisses Behagen der privaten Existenzen zur
nothwendigen Voraussetzung — für die materiellen Interessen muß mindestens
nothdürftig gesorgt sein, ehe der Staat die Theilnahme seiner Bürger für die
res Mblieg, in Anspruch nehmen kann. Grade dieses Behagen war den preu¬
ßischen Staatsangehörigen am Wendepunkt des Jahrhunderts abhanden ge¬
kommen. Die wirthschaftlichen Interessen der Nation waren von der damaligen
Regierung so vollständig vernachlässigt worden, daß das Volk kaum mehr wußte,
ob das Wohl und Wehe des Einzelnen mit dem des Staatsganzen etwas zu
schaffen habe; dieses Ganze war den Massen gleichgiltig geworden und weil
man Staat und Negierung identificirte, galt die möglichst wohlfeile Abfindung
mit dem ersteren für die höchste Bürgerweisheit. In directen Gegensatz zu dem
leidenschaftlichen Eifer, der Anspannung aller Mittel und Kräfte, in welchen
Regierung und Volk bei den jüngsten Verfassungskämpfen wetteiferten, um
gewisse Ideen darüber, was dem Staate fromme, durchzusetzen, überboten
beide Theile damals einander in der Entfernung und Entfremdung von der
Staatsidee.
Wie es um die materiellen Interessen und um den Eifer für das staatliche
Leben bei dem preußischen Volke von 1866 aussah, braucht von uns nicht
näher untersucht zu werden: daß ein Volk Jahre hindurch keinen anderen Ge¬
danken als den an den Ausbau seiner Verfassung hegt, daß es durch eine
Frage, wie die nach der Durchführung oder Sistirung der Militärorganisation,
um alle Ruhe und alles Behagen gebracht werden konnte, ist unseres Bedünkens
ein so redender Beleg für den blühenden Zustand seiner materiellen Interessen
und für das hohe Maß seiner Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten,
daß alle weiteren Anführungen zum Nachweis derselben überflüssig erscheinen.
Ist man in der Lage, durch seine Theilnahme an der Erörterung von Fragen,
die vorzugsweise theoretischer und abstract politischer Natur sind, vollständig
absorbirt zu werden, so muß man mit der Sorge um die primären Existenz¬
bedingungen sicher längst fertig geworden sein. — Zu dem Verständniß und der
Theilnahme für (oder wider) eine Angelegenheit, wie es die Militärreorganisation
war, hätten es die Preußen von 1806 überhaupt gar nicht gebracht. Man hat
die Rolle, welche diese Angelegenheit in dem Leben der preußischen Nation
spielte, häusig mit dem Versassungsstreit vor Ausbruch der großen englischen Re¬
volution verglichen: zieht man aber in Betracht, daß es sich damals um ein
Volksrecht der faßbarsten, für jedermann leicht verständlichen Natur (das Steuer«
bcwilligungsrecht). in Preußen um eine Angelegenheit handelte, die zunächst nur
das gegenseitige Verhältniß der Factoren der Regierung berührte, so wird man
einräumen müssen, daß der preußische Verfassungskampf unserer Zelt ungleich
verfeincrtere Ansprüche an das Staatelcben zur Voraussetzung hat, als der bri¬
tische parlamentarische Conflict von 1642. Daß das Bedürfniß nach einem
größeren Maß der Betheiligung an den öffentlichen Angelegenheiten der Grund
zu der oppositionellen Haltung des preußischen Volks war, bot im Grunde die
beste Bürgschaft dafür, daß man dasselbe auf dem Platze finden werde, wo es
sich um die Existenz des Staats handelt.
Wie grundverschieden ist endlich der straffe rührige Geist, der Negierende
und Negierte vor Ausbruch des letzten Krieges beseelte, von dem faulen, gehalt¬
loser Optimismus, der die Signatur der Zeit vor der Schlacht bei Jena aus¬
machte! Während es von der einen Seite nur Mangel an Selbstvertrauen
war, der den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich und seinem
kriegerischen Beherrscher immer wieder hinausschob, verblendete man sich anderer¬
seits absichtlich gegen die Gefahr, in welcher Preußen bereits seit Jahren steckte.
In dem Gefühl der Verwahrlosung der heiligsten Interessen des Staats scheute
man sich, eine klare Einsicht in die Lage des Landes zu gewinnen und das
Verhältniß des Volkes zur Regierung einer ernsten, nüchternen Prüfung zu
unterziehen. Die Männer des alten Systems sahen in der Selbsttäuschung das
beste Mittel, über die Schwierigkeiten der Lage hinwegzukommen und suchten
sich selbst und die Massen durch prahlerische Hinweise auf die große Vergangen-
heit der Monarchie Friedrichs des Großen Muth zu machen. — Die ernsten
Warnungsstimmen Steins und der Wenigen, die gleich ihm klar zu sehen den
Muth hatten, wurden als unpatriotische Verkleinerungen der Macht und Größe
des Vaterlandes ärgerlich überhört und nur ihrer bevorzugten Stellung hatten
jene Patrioten es zu danken, daß ihre Zweifel an der Unfehlbarkeit der Re¬
gierungsweisheit straflos blieben.
Die Geschichte jener traurigen Zeit ist ihren Hauptzügen nach längst bekannt,
die Lehre, die man aus ihr gezogen, eine so folgenreiche gewesen, daß der
Mangel freudigen Zusammengehens von Volk und Regierung auch unter sonst
grundverschiedenen Verhältnissen zu Warnungen vor einem zweiten politischen
Bankerott des preußischen Staats führen konnte. Jener gedankenlose Optimismus,
der zu den charakteristischsten Merkmalen des aueier» r6Ziu<z wie verkommener
Regierungen und Völker überhaupt gehört, dieses Mal war er nicht im preu¬
ßischen Lager, sondern bei denen zu Hause, die es „im deutschen Interesse" für
nothwendig hielten, dem mächtigsten und lebenskräftigsten der deutschen Staaten
ein zweites Jena zu bereiten! Immerhin wird man auch in Preußen wohl
daran thun, die Erinnerung an die Zeiten der Haugwitz und Lombard als
warnendes Exempel im Gedächtniß zu behalten und die großen Erfolge des
Sommers 1866 davor zu bewahren, den preußischen Staatsmännern eine Quelle
ähnlicher Selbstverblendung zu werden, wie sie der siebenjährige Krieg den Mi¬
nistern Friedrich Wilhelm des Dritten war. Die Befangenheit in dem Gedanken, daß
eine von einer starken Armee gestützte Regierung an sich selbst genug habe, daß
große Traditionen dazu hinreichten, den patriotischen Sinn des Volks wach zu
erhalten, daß es nicht darauf ankomme, die Beziehungen zu demselben durch
ununterbrochene Kenntnißnahme und Berücksichtigung der nationalen Wünsche
wach zu erhalten. — sie beschränkte sich in der Blüthezeit des alten Systems
keineswegs auf exklusive Hof- und Militärkreise, sie war auch bei Männern zu
finden, deren Patriotismus außer Zweifel stand, die sich wohl rühmen dursten,
Erben der altpreußischen Tüchtigkeit, Berufstreue und Thatkraft zu sein. Einen
redenden Beweis dafür glauben wir in dem Actenstücke zu besitzen, das die
Veranlassung zu den vorstehenden Bemerkungen bietet.
In der Reihe der Männer, die Friedrich Wilhelm der Dritte um seinen Thron
versammelt hatte, um das Werk der Neugestaltung des unter seinem Vorgänger
verkümmerten Staatslebens durchzuführen, nimmt der Cabinetsrath, spätere
Justizminister und Großkanzler Beyme einen ehrenvollen Platz ein. Es ist be¬
kannt, daß die Berufung Steins von Beyme lebhaft unterstützt wurde und daß
dieser Mann, auch als er später zu dem großen Reorganisator Preußens in
entschiedenen Gegensatz trat, aufgeklärt und patriotisch genug war, diesem das
Feld zu räumen und seine Stellung im königlichen Cabinet mit einem höheren
Justizamt zu vertauschen, das ihn um den politischen Einfluß brachte, dessen er
sich bis dahin erfreut hatte. Während der ersten Regierungsjahre des Königs-
galt er — und mit Recht — für einen der redlichsten und patriotischesten Rath¬
geber des Monarchen, für einen unerschrockenen Gegner der haugwitzschen
Politik, für einen Mann der Volkspartei, der ein offenes Ohr für die
Wünsche und Nöthe der Classen hatte, die systematisch von aller Theilnahme
und allen Vortheilen des staatlichen Lebens ausgeschlossen waren. An diesen
Mann wandte sich im November 1803, ein Jahr vor der Schlacht bei Jena, ein
berliner Schriftsteller, den man heute nur noch als Verlästerer Goethes und
der Romantiker kennt, der aber zu den wenigen gehörte, die einen klaren Einblick
in die damalige Lage der Dinge hatten, — Garlieb Merkel, der Redacteur
des „Freimüthigen," — um von der Regierung Mittel zur Begründung eines
Volksblattes zu erbitten, dessen leitender Gedanke die Wiedererweckung eines
kriegerisch-patriotischen Sinnes, die Vorbereitung eines Volkskrieges gegen die
Franzosen sein sollte.
Die enge Grenze, welche diesen Blättern gesteckt ist, verbietet uns, auf die
Persönlichkeit und die damalige Wirksamkeit Merkels einzugehen.') Für unsern
Zweck genügt die Bemerkung, daß der Freymüthige zu den verbreitetsten Jour¬
nalen der damaligen Zeit gehörte. Er zerfiel in zwei Theile, einen literarischen,
der die Bekämpfung Goethes und der Romantiker und die Anpreisung der
„alten Schule" zu seiner traurigen Aufgabe gemacht hatte und einen politischen,
der den wunderlichen Titel ..Unpolitische Zeitung" führte und die Bekämpfung
Napoleons und der französischen Politik mit seltener Zähigkeit und einem da¬
mals unerhörten Muth verfolgte. Jenes Blatt war das erste deutsche Organ,
das eine umständliche Veröffentlichung über die Ermordung Palus gewagt und
mit einem flammenden Aufruf zur Erhebung aller Deutschen gegen den fran¬
zösischen Unterdrücker begleitet hatte, jede Nummer desselben enthielt boshafte
Ausfälle auf die Franzosen und die Nheinbundfürstcn, Reminiscenzen an die
alte Herrlichkeit Preußens, patriotische Lieder und Gedichte zur Belebung des
Nationalgefühls. Neben dem mehr berüchtigten als berühmten Kohcbue zählten
Alexander v. Humboldt, Johannes v. Müller, Böttiger u. a. zu seinen Mitarbei¬
tern. Einfluß und Wirkung des Freimüthigen wird am besten durch die An¬
führung der Thatsachen bezeichnet, daß der Herausgeber desselben auf das aus¬
drückliche Verlangen Schulenburgs Berlin an dem Tage nach der jenaer Schlacht
verlassen mußte und noch sieben Jahren später von den nach Rußland einge-
drungenen Franzosen verfolgt wurde.
Der Hauptgedanke, den Merkel in seiner publicistischen Thätigkeit (insoweit
dieselbe nicht rein literarischer Natur war) verfolgte, war die Herbeiführung einer
Volksbewaffnung nach dem Muster der spanischen. Um diesem Gedanken mög¬
lichste Verbreitung und namentlich Eingang bei den niederen Classen zu ver¬
schaffen, verband er sich mit Johannes v. Müller zur Herausgabe eines Volks-
blattes. das den Namen „Der Zuschauer" führen sollte. Um die Concession
und womöglich auch die Mittel zur Verwirklichung dieses Unternehmens zu er¬
halten, wandte er sich mit einem ausführlichen Memorial an die Regierung,
der er seinen Plan vorlegte. Privatim wurde Beyme durch die Vermittelung
gemeinsamer Freunde um seine Unterstützung angegangen. Die Antwort, welche
Merkel wurde und aus welcher er bereits in den zwanziger Jahren einige
(übrigens vollständig unberücksichtigt gebliebene) Stücke veröffentlichte, übergeben
wir? nach dem Original, das sich in dem Nachlaß dieses vor einigen Jahren
verstorbenen Schriftstellers gefunden hat, der Oeffentlichkeit. Als charakteristisches
Symptom der politischen Anschauungen und Täuschungen, welche damals in
den preußischen Regierungskreisen ihr Wesen trieben, wird es vielleicht noch
heute von Interesse sein.
. Potsdam. 20. November 1805.
„Sowohl der Zweck, den Ew. Wohlgeboren bey Ihrer neuen Zeitschrift sich
vorgesetzt haben, als der dazu entworfene Plan, verdienen den Beyfall eines
jeden Patrioten. Ihre eignen Talente und die Talente Ihrer Mitarbeiter lassen
etwas nicht gemeines erwarten. Darum danke ich Ihnen nicht allein für meine
Person, sondern ich kann Ihnen auch die Versicherung von dem Beyfall
Sr. Majestät des Königs geben, so daß Sie sich bey der Ausführung des Bey-
standcs der Regierung versichert halten dürfen. Wenn die Ausführung, wie
ich nicht zweifle, der Erwartung entspricht, so wird die Regierung Ihnen auch
gern thätige Beweise Ihres Beyfalls geben und ich werde es mir zur ange¬
nehmsten Pflicht machen, Ihnen auf alle Weise dankbar und nützlich zu seyn.
Zwar kann die Preußische Negierung es mehr als irgendeine andere entbehren,
die öffentliche Meinung durch öffentliche Blätter zu stimmen, weil Ihr gantzes
Thun in einer Reihe von, nach einer unverrückter weisen......... laut
und wahr genug zu ihren Unterthanen spricht. Aber in einer Periode, wie die
jetzige, wo die Entschlossenheit der Negierung durch ungewöhnliche Anstrengung
der Unterthanen unterstützt werden muß, kann eine solche Zeitschrift dazu dienen,
den Enthusiasmus zu beleben und zu erhalten, vorzüglich aber dem Auslande
zu beweisen, daß. wer den König angreift, es mit der gantzen Kraft der Unter¬
thanen zu thun bekömmt. Schon haben die Unterthanen dem Könige sehr
sprechende und rührende Beweise davon gegeben. Es liegt in dem Charakter
unserer Regierung nicht viel zu sprechen, sondern zu handeln. Aber die Unter-
thanen erkennen aus den Handlungen der Regierung ihre Absichten oder er-
rathen solche vielmehr. Der König rüstet seine Armee und läßt solche zum
Schutze seines Reiches ausrücken, während er rastlos daran arbeitet, den allge¬
meinen Frieden in Europa wieder herzustellen und darin den Frieden für sein
eignes Reich und zugleich Genugthuung, die schönste die sich denken läßt, für
widerfahrnes Unrecht zu suchen. Wir haben noch keinen Krieg, noch keinen er¬
klärten Feind, und die Schritte der Regierung sind so wenig mit Glanz um¬
strahlt, daß sie überall, außer in den Preußischen Staaten, eher das Gegentheil
als die Aeußerungen des Patriotismus zu wecken geeignet scheinen. Dennoch
haben die Stände in den Marken in Pommern und in Magdeburg bey der
ersten Nachricht von der Ausrüstung der Armee sogleich ohne alle Veranlassung
beschlossen, das zur Verpflegung der Armee erforderliche Getreide und Mehl
dem Könige unentgeldlich zu liefern. Bürger und Bauern und alle Classen
von Unterthanen haben sich an die Stände enge angeschlossen und dadurch den
übrigen Provinzen das Beyspiel gegeben, so daß die Provinzen mit einander
wetteiferten die Kosten der Ausrüstung der Armee zu tragen. Die ganze Rein¬
heit dieses edlen Wettstreites äußerte sich in ihrem schönsten Glänze darin, daß
keine ihr patriotisches Opfer zuerst darbringen, sondern alle gemeinschaftlich es
dem Könige zu Füßen legen wollten. Jede aber ging in ihren Anstrengungen
weiter, als es das Bedürfniß erforderte und als ihre Kräfte es verstatteten.
So hatte die Churmark allein dem Könige ein Geschenk von 10,000 Wispel
Roggen votirt. Und dies alles geschah in einem Jahre wo manu nur eben,
durch die größten Aufopferungen der Regierung, einer Hungersnoth entgangen
war; so daß der König ins Mittel treten, das Opfer sich verbitten, und damit
keine Provinz über ihre Kräfte angestrengt wurde, die Lieferungen für ange¬
messene Mittelpreise verhältnißmäßig auf das gantze Land vertheilen mußte.
Wo hat manu je ein so schönes EinVerständniß zwischen Herrn und Volk ge¬
sehen? Wo anders als in Preußen kann manu so etwas erwarten. In Preußen
allein, dessen Völker den 7 jährigen Kampf gegen fast ganz Europa ruhmvoll
bestanden und nicht verzweifelten, als die Hauptstadt zweymal in die Hände
des Feindes gerieth, als nach den unglücklichen Schlachten bey Collin und
Cunersdorff fast alle Provinzen vom Feinde überwältigt waren und der Staat
nur in den Lagern der zusammengeschmolzenen Heere des großen und einzigen
Königs zu suchen war, ist so etwas möglich.
Lange habe ich angestanden, ob ich auch nur einmal diese Thatsache bekannt
werden lassen sollte. Der Gedanke, daß das Verschweigen derselben eine Un¬
gerechtigkeit gegen die heldenmüthige Nation seyn würde, wozu Ew. Wohl¬
geboren Plan mir Veranlassung gab, siegte endlich und ich bitte Sie daher,
den Vorgang, ohne alle Schminke, die ihn nur entstellen würde, im Frey-
müthigen zu erzählen und hiernächst in die Zeitungen ni'ergehen zu lassen. Ich
komme in einigen Tagen nach Berlin und da soll es mir sehr angenehm seyn
Spielbanken bestehen gegenwärtig noch an folgenden Orten Deutschlands:
1. Baden-Baden, 2. Doberan, 3. Eins, 4. Hofgeismar, 6. Homburg, 6. Nenn»
dorf. 7. Nauheim. 8. Pyrmont, 9. Travemünde, 10. Wildungen, 11. Wiesbaden,
12. Wilhelmsbad.
Außerdem finden wir in Europa solche Staatsanstalten nur noch in Helgo¬
land, wo sie die englische Regierung mindestens duldet, und in dem Halbsouve¬
ränen italienischen Zwergstaat Monaco, wo sie der Fürst unterhält. Die Spiel¬
hölle in Genf, welche so oft abgelciugnet wurde und dennoch bestand, hat wohl
seit dem Sturze James Fazys aufgehört.
Vor dem Krieg von 1866 vertheilten sich die Spielbanken auf die einzelnen
deutschen Länder wie folgt:
Die Spielbank in Baden-Baden. Dem Pächter, einem Franzosen Namens
Benezet. ist der Pachtvertrag gekündigt, und zwar schon seit 1863 oder 1864.
Die Regierung wird das Spiel binnen einer Frist von wenigen Jahren seinem
Ende entgegenführen.
Das Spiel in Homburg vor der Höhe. Pächter ist ein Franzose Namens
Blanc. Als diese Landgrafschaft im Frühjahr 1866 an den Großherzog von
Hessen-Darmstadt siel, schien das Spiel bedroht. Denn in diesem Großherzog,
thun sind durch die Gesetze vom 21. März 1843 und vom 30. October 185S
die Hazardspiele mit schwerer Strafe bedroht, sowohl für den Bankhalter als
auch für die Spieler; und es konnte doch nicht in demselben Lande eine Hand¬
lung an dem einen Orte erlaubt und sogar begünstigt und privilegirt sein,
welche an allen andern Orten ungiltig und mit schwerer Strafe bedroht ist.
Allein der vielgewandte Staatsminister Freiherr Reinhard v. Dalwigk, der
intime Freund des frommen Bischofs Wilhelm Emanuel v. Ketteler in Mainz,
wußte Rath. Die Landgrafschaft Hessen-Homburg wurde nicht dem Hessen-
darmstädtischen Reiche einverleibt — letzteres wäre dadurch auch offenbar zu
groß geworden —, sondern nur für den Großherzog acquirirt und mit dessen
übrigen Landen diesseits und jenseits des Main- und des Rheinstroms, nach
lauenburgischem Muster, durch das Band der Personalunion vereinigt, so daß
in Homburg das Gegentheil Rechtens sein konnte, als in Darmstadt. Durch
diese Rettung des homburgischen Selbflbestimmungsrechtes. durch diese Wahrung
des Grundsatzes der „localen Centren", der deutschen Mannigfaltigkeit, der
Gleichberechtigung aller deutschen Staaten und Stämme — mitinbegriffen den
großen Bolksstamm Hessen-Homburg, der nicht so viel Seelen de>t wie ein ge¬
wöhnliches ungarisches Dorf —, durch diese echt „föderative" Maßregel des
nationalgcsinnten Freiherrn v. Dalwigk war der Fortbestand der dessen-homburgi-
schen Spielbank, welche einen Pachtvertrag auf 99 Jahre hat gesichert bis an
das Ende aller Dinge. Leider aber kam das Ende aller Dinge viel früher, als
dies die darmstädtische Vorsehung calculut hatte. Durch die Friedensverträge
vom Herbst 1866 fiel Homburg an Preußen. Freilich darf nicht verschwiegen
werden, daß die süddeutschen Volksvereine und sonstigen Föderativrepublikaner
die Giltigkeit dieser Abtretung anfechten, weil die Grundsätze des „Selbst,
bcstimmungsrechtes der Nationen" erfordern, daß die dessen-homburgische Nation
aus dem Wege des allgemeinen Stimmrechts darüber entscheide, wen sie zu
ihrem Souverän haben will, und weil vorauszusehen ist. daß sie nicht den
König von Preußen, in dessen Monarchie Spielbanken nicht geduldet werden,
wählen wird, sondern in Ermangelung des Großherzogs von Hessen, welcher
das Land nun einmal schon unwiderruflich abgetreten hat, und in Ermangelung
des Landgrafen von Hessen-Homburg. welcher nun einmal schon unwiderruflich
todt ist, — ohne Zweifel nach dem Grundsatze: „Der Zug des Herzens ist des
Schicksals Stimme!" ihre Wahl auf den gegenwärtigen Spielpächter Monsieur
Blanc richten würde. Leider erlaubt uns der Raum nicht, des Tieferen auf
diese aleatorisch-föderativ-republikanische Staatsrechtstheorie einzugehen, vielmehr
müssen wir uns darauf beschränken zu constatiren: Hessen-Homburg ist bis auf
Weiteres preußisch, — mit inbegriffen die Spielbank, und die Entscheidung über
das Schicksal der letzteren liegt in den Händen des Königs, der berliner Kam¬
mern, des norddeutschen Bundes, des Parlaments, — auf keinen Fall aber
mehr in denen Sr. königlichen Hoheit des Großherzogs und Höchstseincs Herrn
v. Dalwigk.
Die Spielbanken in Nenndorf, Nauheim. Wilhelmsbad und Hofgeismar.
Die Spielpächter sind Franzosen: Bialy. Jouffroy, Marquis de Livry, und ein
Belgier: Jean de Wetters, der auch an der Spitze der nassauischen und waldeck-
schen Spielbanken steht. Die Spielbanken in Nenndorf und Hofgeismar zeich¬
nen sich durch ihre radikalen und volkstümlichen Gesinnungen aus, indem sie,
um keinen, auch nicht den gering Bemittelten, von den Wohlthaten des Spiels
auszuschließen, unter Zustimmung ihres hohen Erbleihherrn, Sr. königlichen
Hoheit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, den Einsatz im NvuKttespiel. der sich
in den übrigen Bädern aus der mehr aristokratischen Höhe einer Minimaltaxe
von einem Gulden oder einem Thaler hält, zu Gunsten des gemeinen Mannes
auf zehn Silbergroschen herabgesetzt haben.
Das bisher kurhessische Spielbad Reinheim ist durch die Verträge Von
1866 an das Großherzogthum Hessen gefallen, und der dessen-darmstädtische
Minister Freiherr Reinhard v. Dalwigk wird nun Gelegenheit haben, alle die
väterlich wohlmeinenden Absichten, welche er für das leider an Preußen ge¬
fallene Homburg hegte, für das von Kurhessen an Hessen-Darmstadt gefallene
Bad Nauheim zu realisiren, wenn ihm nicht etwa Regierung und Parlament
des norddeutschen Bundesstaats einen Strich durch die Rechnung machen.
Hier wird im Bade Doberan vom 16. Juni bis Is. October Roulette und
Pharao gespielt. Das Spiel wird auf Rechnung des Großherzogs betrieben.
Derselbe hat fünf Unternehmer „in Gnaden zu Groupiers ernannt". Diese
erhalten Vom Reingewinn vierzig Procent. Die übrigen sechzig Procent fließen
in die grvßherzogliche Kasse. Wer sich näher unterrichten will, dem empfehlen
wir das treffliche Buch von Moritz Wiggers über die mecklenburgischen Finanzen,
welches ein in die moderne Zeit hineinragendes corrumpirtes Stück Mittelalter
beleuchtet. Die mecklenburger Junker betrachten das Spiel als „eine berechtigte
Eigenthümlichkeit" der Nation der Obotriten und Wenden; und wenn auf dem
Landtag Anträge auftauchen, das Spiel aufzuheben, dann werden solche mit
großer Majorität abgelehnt oder gelangen auch gar nicht zur Verhandlung.
Die frühere Regierung des Landes zeichnete sich aus durch ihre gastfreund¬
liche Zuvorkommenheit gegen die Fremden, für welche sie Spielbanken gründete,
Während sie ihren eigenen Unterthanen das Spiel an den vom Staate concessionirten
und privilegirten Instituten durch das Gesetz vom 21. November 1827 verbot, unter
Androhung von Geld- und Freiheitsstrafen, welche letztere im Falle wiederholter
Contravention bis zu einem Vierteljahre Arbeitshaus steigen. Eine am 17. No¬
vember 1866 durch den Herzog Adolf concessionirte und privilegirte Actien-
gesellschaft, deren Actien sich vielfach in den Händen der Günstlinge des Hoff,
der Hofdienerschaft und der Staatsbeamten befinden, betreibt das Roulette- und
das treuet-et-<MÄrg,lies-Spiel in Wiesbaden und in Ems. so daß die wunder¬
vollen Heilkräfte dieser berühmten Bäder und Quellen vollständig in den Hinter¬
grund gedrängt sind durch den Glückstisch und die ganze Unsittlichkeit, die an
ihm tafelt und von seinen Brocken lebt. Unter diesen Anhängseln machen sich
am geräuschvollsten und widerwärtigsten bemerkbar die mobilen Colonnen in
Paris abgängig gewordener äsmi-wonäe. Sie werden durch die Spielbank
requirirt, um ihr als Lockvögel zu dienen. Auch zahlt ihnen die Spielbank
Sonnabends ihren Wochenlohn aus und erstattet ihnen die Verluste, welche sie
am Roulette erlitten. Es ist dies indeß keineswegs eine Specialität von Wies¬
baden. In Homburg, welches weniger natürliche Nesourcen bat und wo das
Spiel das „Ein und Alles" ist, gehts mit alle dem noch weit toller; und auch in
Nauheim, Wilhelmsbad, Wildungen u. s. w. soll man bestrebt sein „zu machen, was
zu machen ist", je nachdem es die schwächer» Mittel des kleineren Ortes erlauben.
An der Spitze der Spielgesellschaft steht derselbe Belgier Jean de Wetters, den
wir auch in den waldeckschcn und kurhessischen Spielbcidcrn finden. Bisher re¬
gierte mit und neben ihm als zweiter Konsul der von Herzog Adolf ernannte
landesherrliche Commissär. Als solcher fungirte keine geringere Person als der
Finanzminisier selbst, welcher neben den 6,000 Gulden Gehalt, die er aus
Landesmitteln erhielt, noch eine Ncbeubcsvldung von 3,000 Gulden und sonstige
Vergünstigungen aus den Mitteln des Spiels bezog. Auch sämmtliche Mitglieder
der Pvlizeidirection in Wiesbaden bezogen daher höchst ansehnliche Neben-
revenüen. Der Spielpacht beträgt jährlich 90.000 Gulden. Derselbe fließt in
die sogenannte Kurhauslasse, deren Einkünfte zu wenigstens neunzig Procent dem
Herzog zukamen. Für das herzogliche Theater und sogenannte „Verschöneiungen"
— das Steckenpferd des Herzogs —, wurden jährlich 45.000 Gulden aus den
Mitteln des Spiels aufgewendet. Andernfalls wären diese Ausgaben dem Herzog
zur Last gefallen. Die Spielpachtgclder kamen also direct oder indiret dem
Herzog zu gut. Der Staat und die Gemeinde bezogen außer der Gewerbe¬
steuer, die ja auch von andern unmoralischen Häusern erhoben wird, nichts
davon. Der Gewinn der Spielbanken von Wiesbaden und Eins beträgt jähr¬
lich nicht viel weniger als das ganze Einnahmebudgct des Staates Nassau,
nämlich nahe an zwei Millionen Gulden. Die Spielbank macht auch viele
Ausgaben „zur Hebung der Badeindustrie". Diese Ausgaben sind jedoch alle
weniger darauf berechnet, die Benutzung der Heilkräfte von Brunnen und Bädern
dem Publikum möglichst zugänglich, wirksam und comfortable zu machen, als
vielmehr darauf, die ganze Bademaschine so zu stellen, daß alle Wege nach Rom
führen, d. h. zur Spielbank, welche die Hintcrcoulisse jeder localen Perspektive
bildet. Seit 1858 haben die Landstände alljährlich, oft mit Stimmeneinhelligkeit,
die Vertreter von Wiesbaden an der Spitze, die Aufhebung der Spielbank ge¬
fordert. Allein der Fürst hatte für die Stimme des Landes kein Gehör. Seine
Höflinge hatten ja Antheil an der Beute. Bei der Concessionirung des Spiels
wurde vorbehalten, daß die Spielgesellschaft und die Actionäre nicht berechtigt
seien, Entschädigung zu fordern, wenn die Aufhebung des Spiels erfolge kraft
eines Bundesbeschlusses oder sonst irgendeiner „höheren Gewalt" (koree ma-
Mrv). Eine solche Höhere Gewalt ist jedenfalls die Centralregierung und
das Parlament des norddeutschen Bundes. Auch die preußische Landwehr,
Welche am 12. Juli 1866 in Bad Ems einrückte, war eine. Sie unterdrückte
das Spiel sofort. In Wiesbaden wurde es nicht unterdrückt. In Eins lebte
es später wieder auf. Die Militär- und Civilautoritätcn scheinen verschiedener
Meinung gewesen zu sein, die der letzteren — vorläufig nichts zu thun —
scheint gesiegt zu haben.
Die nassauischen Taunusbäder Schwalbach und Schlangenbad hatten früher
auch Spielbanken. Seit Abschaffung derselben haben beide Bäder einen be¬
deutenden Aufschwung genommen. Derselbe würde noch weit größer gewesen
sein, wenn nicht das Monopol der herzoglichen Domänenverwaltung im Wege
gestanden hätte, die sich in den alleinigen Betrieb der Heilanstalten zu setzen
gewußt hat.
hat Spielbanken in Pyrmont und in Wildungen. Dieselben sind an einen
Franzosen Namens Fossard und an den bereits öfters genannten Jean de Wetters
verpachtet. In dem Pachtvertrag ist der Fall einer Unterdrückung der Spiele
durch den Bundestag oder was an dessen Stelle tritt vorgesehen. In diesem
Falle ist die Regierung berechtigt, ohne Ersatzleistung den Vertrag einseitig auf¬
zulösen. Der Pachtertrag fließt direct oder indirect in die Staatskasse, beläuft
sich indeß im Ganzen nur auf 7 — 8,000 Thaler. Das Spiel selbst hat be¬
scheidene Dimensionen und soll in einzelnen Jahren mit Unterbilanz „gearbeitet"
haben.
hat eine Spielbank in Travemünde, ist indeß im gegenwärtigen Augenblicke da¬
mit beschäftigt, dieselbe zu beseitigen, weshalb füglich das bisherige nicht sehr
löbliche Treiben mit dem Mantel der christlichen Liebe bedeckt bleiben mag. —
Folgendes ist das statistische Ergebniß unserer Rundschau. Es bestehen
dermalen noch Spielbanken in Deutschland:
Hessen-Homburg. Kurhessen und Nassau haben aufgehört als Staaten zu
existiren. Die dort concessionirten Spielbanken haben die Dynastien überlebt,
welche sie concesstvnirt haben. Die Frage ist, auf wie lange?
Von den sieben Spielbanken, welche in diesen Ländern existiren, kommen
gegenwärtig nur sechs auf Preußen. Dies sind: Hofgeismar, Nenndorf. Wil¬
helmsbad, Ems und Wiesbaden; aus Hessen-Darmstadt überkommen: Homburg.
Das nichtpreußische norddeutsche Bundesgebiet zählt fünf: Doberan, Trave-
münde, Pyrmont, Wildungen und Nauheim. Letzteres liegt nämlich in der
darmstädtischen Provinz Oberhessen, die. weil nördlich vom Main gelegen, dem
norddeutschen Bunde einverleibt ist.
Von den zwölf in Deutschland noch ihr Dasein fristenden Spielbanken
gehört sonach die Hälfte zu Preußen; alle, bis auf eine, zum norddeutschen
Bundesgebiet. Dieser einzigen in Baden ist der Tag ihres Verhängnisses be¬
reits unwiderruflich fixirt. Die Frage der Spielbanken ist also gegenwärtig
nicht mehr die Sache des Bundestags und sieben verschiedener Territorialgesetz¬
gebungen souveräner Länder und Ländchen, sondern nur noch eine preußische
Frage, oder was so ziemlich dasselbe ist, eine Frage des norddeutschen Bundes.
Die zu letzterem Bunde bis jetzt nicht gehörigen süddeutschen Staaten,
nämlich Bayern, Würtemberg und Hessen-Darmstadt mit seiner Rheinprovinz
und seiner Provinz Starkenburg, haben keine Spielbanken und das Hazardspiel
ist dort mit strengen Strafen bedroht.
Dasselbe ist der Fall in dem bisherigen Preußen. Die preußische Re¬
gierung hat schon vor langen Jahren die einzige Spielbank, welche innerhalb
der Grenzen ihres Reiches existirte, nämlich die in Aachen, aufgehoben. Sie
hat vor wie nach 1848 wiederholt Schritte bei der Bundesbehörde gethan, um
die Aufhebung aller Spielbanken in ganz Deutschland herbeizuführen. Bei dem
Bundestag hatte alles das begreiflicherweise keinen Erfolg. Das deutsche Par¬
lament dagegen beschloß, trotz des Widerspruchs von Jacob Venedey, welcher die
seltsame Laune hatte, sich der homburger Spielbank anzunehmen, am 8. Januar
1849: „Alle öffentlichen Spielbanken sind vom 1. Mai 1849 an in ganz
Deutschland geschlossen und die Spielpachtverträge aufgehoben;" und der Reichs-
verweser verkündigte den Beschluß als Gesetz. Leider war es damals schon
schlecht bestellt mit dem Vollzug der Beschlüsse des Parlaments und der Befehle
des Reichsverwesers und seiner Reichsministcr. Der Spielpächter Blanc in
Homburg spöttelte: „Mein Spielreich in Homburg wird länger halten als das
deutsche Reich in Frankfurt." Er widersetzte sich der Reichsgewalt. Diese
schickte ihm ein paar Compagnien „Reichstruppen" auf den Hals. Allein Herr
Blanc wußte sich zu helfen. Er sagte: „Das Reichsgesetz verbietet das öffent¬
liche Spiel, aber nicht das geheime", und stellte einen Portier an die Thür
des Spielsaals, der nur Leute zuließ, die Eintrittskarten hatten. Eine solche
Eintrittskarte zum Spielsaal bekam aber jeder, der sie begehrte. Sogar die
Offiziere der Reichsexecutivnsarmee sollen solche begehrt, erhalten und darauf
mitgespielt haben. So verhöhnte ein französischer Spielpächter das deutsche
Reich, das eine Centralgewalt, ein halb Dutzend Neichsmimster und ein großes
Parlament voll berühmter Leute hatte, aber bei aller Fülle der Befugnisse und
der Beredsamkeit fehlte leider das kleine einsilbige Erforderniß — Macht!
Im norddeutschen Bunde wird das anders sein. Vielleicht werden dort
die Minister' und die Mitglieder des Parlaments weniger populäre und gefeierte
Namen haben, aber wenn ein Beschluß des norddeutschen Reichstags die
Sanction der Bundesregierung erhalten hat, dann wird er vollstreckt werden.
Er wird nicht das Schicksal des Parlamentsbeschlusses vom 8. Januar 1849
theilen. Dessen können wir versichert sein. Und das ist der wesentlichste Unter¬
schied zwischen dem alten und dem neuen Parlament.
Als Preußen die Territorien erwarb, in welchen Spielbanken bestehen, er¬
wartete jedermann und auch die Spielintcressentcn fürchteten, die Regierung,
welche so lange am Bundestag für Beseitigung der Hazardspiele gekämpft und
den beabsichtigten Erfolg nicht erreicht hatte, weil ihr die Gesandten der nun
annectirten Spielstaaten ein höhnisches Veto entgegenriefen, werde ohne Weiteres
die Spielbanken schließen und die Spielverträge zerreißen.
Es geschah noch nicht. Das Motiv der Unterlassung des allgemein erwarte¬
ten Acts kennen wir nicht. Daß man das Spiel zu Berlin unter die „berech¬
tigten Eigenthümlichkeiten" rechnet, glauben wir nicht. Vielleicht handelt es sich
auch hier um einen Act jener eigenthümlichen Schonung, mittelst welcher man
in Hannover eine so temeräre, frivole und schonungslose Opposition mit gro߬
gezogen hat. Noch wahrscheinlicher aber ist, daß man in Berlin vorläufig an
die Frage der Spielhöllen gar nicht gedacht hat, weil man dringlichere Arbeiten
vor sich hatte, — vor allem die Militärorganisation und die Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht in den neuerworbenen Ländern. Doch sei dem, wie
ihm wolle; die den Spielbanken gewährte Frist hat den Spielinteressenten
wieder mächtig den Muth gehoben. Sie pochen, wie der weiland Bundestag
es auch that, auf ihr formelles Recht und streuen Zeitungsnachrichten aus,
Preußen und der norddeutsche Bund würden die bestehenden Spielpachtverträge,
die zum Theil noch bis 1880 oder 1890 und in Homburg gar bis tief in das
zwanzigste Säculum hineinlaufen, respectiren. Diese Nachricht wird dann von
den preußenfeindlichen Blättern, namentlich den wienern, mit Frohlocken auf¬
genommen und glossirt: „Seht, wir Wiener sind doch bessre Menschen! Wir
haben die Spielbanken aufgehoben; aber Preußen respectirt sie, — dieses
Preußen, welches die Throne nicht respectirt hat," u. s. w.. u. s. w. Man kennt
ja die Melodie!
Ein preußischer König, ein deutsches Parlament wird, auch abgesehen von
dem Willen, an welchem wir durchaus zweifeln, diese Anstalten nicht halten
können. Sie sind gegründet von französischen Abenteurern, welche in ihrer
Heimath Frankreich mit ihrem schmutzigen Gewerbe unterdrückt, es hinüber¬
trugen auf den geduldigen deutschen Boden, wo denselben einige sehr kleine
Ländchen, wie Homburg, Lübeck und Waldeck. und einige sehr schlecht regierte
Staaten, wie Kurhessen. Nassau und Mecklenburg, ein Asyl bereiteten aus Be¬
weggründen, welche zu errathen nicht schwer ist.
Nicht nur die beiden Großstaaten. sondern auch sämmtliche deutsche Mittel-
staaten, namentlich die Königreiche Würtemberg. Bayern, Sachsen und Hanno¬
ver haben sich wohl gehütet, ihren Boden mit solchem Unkraut zu bepflanzen.
Und was das kleinere und noch nicht erprobte Preußen nicht duldete, das wird
das vergrößerte, mächtige und hochgeachtete Preußen noch weniger dulden dürfen.
Was dem Parlament von 1849, das keine Executive hinter sich hatte, mißlang,
das wird dem Parlament von 1866 ohne Zweifel gelingen. Auch wird sich in
ihm kein Jacob Venedey finden, um für die Spielhölle zu Plaidiren.
Eine andere Frage ist die des Vollzugs. Hier bedarf es in den neu er¬
worbenen preußischen Provinzen Wohl schonender Uebergänge. Wir wollen die
Interessenten nicht vertheidigen. Aber es verdient immerhin berücksichtigt zu '
werden, daß es die vergangenen Regierungen von Hessen-Homburg. Nassau und
Kurhessen waren, welche ihre Badeorte und ihre Unterthanen systematisch ver¬
leitet haben, ihre Intelligenz und ihr Capital einem unsolider und unmorali¬
schen Erwerbe zuzuwenden, während sie solche für productive und gemeinnützige
Zwecke hätten nutzbar machen, und vor allem die natürlichen Heilkräfte ihrer
Brunnen und Bäder besser hätten ausbeuten sollen, als dies bis dahin ge¬
schehen ist.
Hier bedarf es zur Vermeidung von Krisen einer wohlwollend führenden
Hand; und wenn — wie wir glauben — die Möglichkeit geboten ist, die Ver¬
führten zu retten, so soll man es thu», und wäre es auch auf Kosten des
Verführers.
Otto Stobbc, Die Juden in Deutschland während des Mittelalters in politischer.
socialer und rechtlicher Beziehung. Braunschweig. C. A. Schwetschke und Sohn
(M. Brühn). 1866. 8. X u. 312 S.
Der Verfasser, durch seine Arbeiten auf dem Gebiet des deutschen Rechts
auch in weitern Kreisen als ausgezeichneter Kenner dieses Fachs bekannt, hat
das Thema seines neuesten Werkes schon vor Jahren in einem Aufsatze be¬
handelt, der in diesen Blättern (1859, Ur. 17) abgedruckt ist, und wenn er das
Resultat seiner fortgesetzten Studien über diesen so interessanten Gegenstand
erst jetzt in einer umfangreichen Monographie veröffentlicht, so wird man ihm
gewiß nicht Uebereilung vonverfe» dürfen. Er hat einen werthvollen und
dankenswerthen Beitrag nicht blos zur Geschichte der Juden, sondern auch zur
Culturgeschichte des deutschen Mittelalters geliefert, der überall den Eindruck
gewissenhafter Forschung und objectiver, streng unparteilicher Beurtheilung der
Thatsachen macht und auch dem Laien auf dem Gebiete des deutschen Rechts
(Referent ist ein solcher) eine übersichtliche, im besten Sinn des Worts populäre
Belehrung bietet. Die Ergebnisse der Untersuchung sind in einer fortlaufenden
Darstellung zusammengefaßt, das ungemein reiche Material, auf dem sie beruht,
ist in einen besonder» Anhang (S. 197 —312) verwiesen, in dem man auch
einige wichtige Privilegien abgedruckt findet.
Aus dem mannigfaltigen Inhalt dieses Buchs dürften die Abschnitte über
die Kammerknechtschaft und den Judenschutz, sodann über die Handels- und die
Geldgeschäfte der Juden vom allgemeinsten Interesse sein. Die Anschauung
des ganzen spätern Mittelalters. daß die Juden die Knechte des Kaisers sind,
in seinem Schutz stehn und ihm dafür Abgaben zahlen müssen, war in der
kaiserlichen Pflicht begründet, den Bedrängten überall im ganzen Reiche gegen
ihre Bedrücker beizustehen: und wer bedürfte dieses Beistandes mehr als die
Juden, besonders seit im Zeitalter der Kreuzzüge die fromme Wuth gegen die
Feinde Christi von neuem entbrannt war und sich in schaudervollen Ausbrüchen
kundgab? Das Mhängigkeitsverhältniß der Juden war aber keineswegs ein
vereinzeltes. Jeder, der sich nicht selbst beschützen konnte und sich deshalb in
den Schutz eines Mächtigen begab, dem er für diese Vogtei Abgabe zahlte, war
nickt mehr vollkommen frei, und Knecht, 8<zrvu8, hieß nicht blos der rechtlose
Mann, sondern auch der, welcher nicht frei über sich verfügen konnte und in
bestimmte» Beziehungen dem Willen eines andern unterworfen war. Auch den
Ministerialen, den Ritter unfreier Abstammung nannte man so, noch zu einer
Zeit, in welcher er sich längst über den freien Bürger und über den Bauer er¬
hoben hatte. Die Kammcrknechtschaft der Juden bedeutet also nur, daß sie dem
Kaiser unterworfen und zu Abgaben an die kaiserliche Kammer verpflichtet,
nicht daß sie Leibeigne seien. Doch wurde ihre Schutzlosigkeit mehr und mehr
als Vorwand gebraucht, um ihre Bedrückungen und Beraubungen zu einem
kaiserlichen Monopol zu machen, und allmälig kam der Satz zur Geltung, daß
den Juden ihr Vermögen nur xroeario gehöre und ihnen jeder Zeit vom Kaiser
wieder genommen werden könne, ja auch daß ihr Leib und Leben zur unbe-
schränkten Verfügung des Kaisers stehe. In vollster Nacktheit spricht dies eine
Urkunde des Markgrafen Albrecht von Brandenburg vom Jahr 1462 aus: „Dann
so ein yeder Römischer könig oder tapfer gekröner wird, mag er den Juden
allenthalben jm Reich alle jr gut »eme», dazu jr leben, und sie tödten bis auf
ein anzal, der lutzel sein soll, zu einer Gedcchtnus zu erhalten." (Schon im
elften Jahrhundert sagt ein französischer Benedicti»ermönch: es sei nöthig, daß
einige von ihnen übrig blieben zum Zeugniß des von ihnen vergossenen
Blutes Christi, und darum werde es wohl die göttliche Vorsehung zugelassen
haben, daß die Wuth der Christen gegen sie sich zur Zeit gemildert habe.)
Dafür, daß der König von seinem Recht aus das Leben der Juden keinen
Gebrauch machte, mußten sie ihm bei der Krönung oder Huldigung eine be¬
sondere außerordentliche Abgabe bezahlen.
Der Judenschutz war ein Regal, das nur infolge kaiserlicher Verleihung
auf andere Fürsten und Herren übergehen konnte, und nicht in der Landes¬
hoheit einbegriffen war. Der Kaiser konnte dies Recht in den Territorien der
Landesherrn sich reserviren, er konnte es auch auf dritte Personen z. B. hohe
Reichsbeamte, benachbarte Landesherren übergehen lassen, so daß diese die Be-
fugniß erhielten, in eine fremde Landeshoheit hineinzugreifen. Die Uebertragung
des Judenschutzes erfolgte auch in der Form, daß der Landesherr oder die Obrig¬
keit eines Gebietes, auf dem noch keine Juden saßen, die Erlaubniß erhielt, sie
aufzunehmen. Solche Privilegien, Juden zu halten (^uclÄeos Irabero, tenoro)
scheinen zuerst unter Friedrich dem Zweite» ertheilt zu sein, seitdem geschah es
vielfach. Kaiser Karl der Vierte räumte in der goldenen Bulle (13S6) allen
Kurfürsten das Judenregal ganz generell ein; nachdem dort die ihnen auf ihren
Territorien zustehende» Bergwerksnutzungen aufgezählt sind, heißt es: „ebenso
sollen sie Juden halten dürfen und die Einkünfte von den Zöllen erheben".
Der Grund, weshalb Fürsten und Städte sich um das Recht der Juden-
aufnahme bewarben, war hauptsächlich der Wunsch, Capitalisten im Lande zu
haben, die sowohl in hohem Grade steuerkräftig waren als auch mit Credit
und baarem Gelde aushelfen konnten. Seit den Kreuzzügen waren die Juden
vom Großhandel ausgeschlossen und auf Schacher und Wucher beschränkt: der
Wucher machte sie einerseits unentbehrlich, andrerseits zum Gegenstande des
Hasses und der Verachtung. Da die Kirche den Christen das Ausleihen von
Geld auf Zinsen streng verbot, mußte sie den Juden den Wucher gestatten, der
nun ihre Haupterwerbsquelle Ward, seit die Ausbildung des gewerblichen Lebens
und des Innungswesens sie vo» Hcuidwerk und Handel ausschloß. Als Bern¬
hard von Clairvaux 1146 während des zweiten Kreuzzuges vo» der Verfolgung
der Juden abmahnte, brauchte er auch das Argument, daß wenn die Juden
nicht da wären, die christlichen Wucherer es noch übler wie die Christen machen
würden. Die den Jude» gestatteten Zinse» waren enorm hoch. Der gesetzliche
Zinsfuß im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert schwankte zwischen 21^
und Procent. Wie durch diesen Wucher, in den, die Juden durch keine
Concurrenz beschränkt waren, der^ Judenhaß immer neue Nahrung gewann,
ist selbstverständlich, und die periodisch eintretenden, durch das ganze spätere
Mittelalter sich Hinzichenden Judenverfolgungen waren die unausbleiblichen
Folgen dieses Hasses.
Ueber die Judenverfolgungen ist der Verfasser mit Recht kurz gewesen; es
ist ebenso ermüdend als widerwärtig, die zahllosen, wesentlich in der Regel
dasselbe enthaltenden Berichte darüber der Reihe nach zu lesen. „Es bietet kein
eigentliches Interesse dar, zu verfolgen, wie überall in allen Gegenden Deutsch¬
lands und der gesammten christlichen Welt immer dieselben Gräuel von den
Landesherrn, der Geistlichkeit und dem Pöbel begangen werden, wie immer
dieselbe» Vorwürfe, welche ebenso wie die Anschuldigungen, denen in den Hexen¬
processen Tausende zum Opfer fielen, das beklagenswerthe Erzeugnis; unglaub¬
licher Dummheit und abgefeimter Bosheit sind, gesucht und gefunden werden,
um das unglückliche Volk zu peinigen und zu martern." Doch hat der Verfasser
ein gewiß sehr vollständiges Verzeichnis; der bekannten Judenverfolgungen (von
denen nur sehr wenige der Zeit vor den Kreuzzügen angehören) gegeben.
Der Versasser sagt in der Lorrede, an die neuesten Judenkrawalle in Böhmen
erinnernd, daß die Juden, wenn der Staat sie nicht schützte, noch immer der
Mißhandlung des Pöbels ausgesetzt sein würden. Er hätte hinzufügen können,
daß der rohe Judenhaß des Pöbels an manchen Orten Deutschlands sogar ge¬
flissentlich genährt und gereizt wird. Die Augsburger Allg. Zeitun.g brachte im
April d. I. in ihren Beilagen (Ur. 102—109) eine Reihe von Artikeln unter
der Ueberschrift „Der Judenmord zu Deggendorf", aus der liebenswürdigen
Feder L. Steubs, eine Erholung für die Leser dieser Blätter, die jetzt bekannt¬
lich meist mit dilettantischem oder tendenziösem Geschwätz, mit Anzeigen von
Büchern wie die „Geheimnisse des sächsischen Cabinets" und selbst die „Hohen-
zollernkönige von Venanz Müller", mit giftigen Ausbrüchen noch mehr der
Preußenfurcht als des Preußenhasses und mit („nicht für die er-rpuls geschriebe¬
nen") Präconisirungen des großen Beust und der übrigen mittelstaatlichen Staats-
männer, der edeln, echt christlichen Landesmutter Karoline von Neuß ältere Linie
u. dergl. gefüllt werden. Steub hatte einmal von dem großen Judenmord in
Deggendorf an der Donau (1337) gesprochen, der jetzt noch durch Processionen,
Wallfahrten, Predigten und Ablässe gefeiert werde. Hierauf erfolgte (A. A. Z.
21. Januar) eine Berichtigung. „Was zu Deggendorf gefeiert werde , sei nicht
der angebliche „große Judenmord", sondern das große Wunder, durch welches
Gott vor 500 Jahren das katholische Dogma von der heiligen Eucharistie in
augenfälliger Weise zu documentiren und zu verherrlichen gewürdigt, seien die
consecrirten Hostien, welche jüdische Wuth und Verblendung in schmählichster
und schrecklichster Weise mißbraucht, die aber bis zur Stunde noch ganz unver¬
sehrt erhalten seien." Steub hat sich nun die Mühe genommen, die deggen-
dorfer Tradition genau zu untersuchen, und a. c>. O. (nach einer voraus¬
gesandten länger» Einleitung über die ältern Judenverfolgungen) darüber einen
ebenso gründlichen als schlagenden Bericht gegeben. Es ist eben eine der un¬
zähligen Geschichten von durchbohrten und blutenden Hostien, die den Mord
der dortigen Juden veranlaßt hat oder beschönigen sollte, deren allmälige Aus¬
bildung der Verfasser bis zu den neuesten im Jahr 1864 (!) „mit scheußlichen
Holzschnitten" gedruckten Wallfahrtsbüchlein verfolgt und vorgelegt hat. Er
bemerkt, daß in Deggendorf sich aus dem benachbarten Böhmen viele Czechen
einfinden, „und ihre jetzigen Heldenthaten lassen sich vielleicht eben mit dieser
Wallfahrt in einige Beziehung bringen." Wir können uns nicht versage», den
Schluß der trefflichen Abhandlung herzusetzen:
„Während andere Leute philosophische Systeme ausoachten. die nordwestliche
Durchfahrt versuchten, Planeten entdeckten, Telegraphen erfanden, Pfahlbauten
ausgruben, breiteten die Deggendorser alle Jahre von Michaelis bis Francisci
(29. September bis 4. October) ihre Arme aus, empfingen mit Freundlichkeit
die zahlreichen Schaaren der Wallfahrer, zeigten ihnen Ahle, Dorn und Hostie»,
hielten einen gcwcrbsamcn Jahrmarkt, tractirtcn ihre bessern Gäste mit leichtem
Bier, mit Bvressen, Sauerkraut und Schweinshcixeln, warfen mitunter einen
Andächtigen, der sich betrunken hatte, zur Thüre hinaus, und priesen dankbar
ihre Ahnen, die durch eine heroische That nicht mehr verstandener Frömmigkeit
sowohl für die Ehre Gottes als auch zum Gedeihen ihrer Nachkommen so ver¬
dienstlich zu wirken gewußt. Im Jahre 1837 wurde das halbtauscndjährige
Jubiläum begangen .....
Wir wollen übrigens noch etwas weiter zurückgehen und anmerken, daß
sich Johann Christoph Freiherr v. Arelim in seiner Geschichte der Juden in
Bayern (1803), die obwohl in glaubensloser Zeit geschrieben, doch viel mehr
Christenthum athmet, als die jetzigen Wallfahrtsbüchlein, also vernehmen läßt:
„Daß auch eine Litanei, die voll von fanatischen Beschimpfungen der Juden
war, jährlich in Deggendorf gehalten und der Pfarrer Gotting, der sie abstellen
wollte, durch die damalige Inquisition unglücklich gemacht wurde, ist ohnehin
bekannt." Dieses ist zwar jetzt nicht mehr „ohnehin bekannt", aber wir glauben
es dem edlen Freiherrn auf sein ritterliches Wort."
Der Versasser erwähnt noch ein damals gegebenes Trauerspiel „Der Ne-
iigionscyser oder die Ausrottung der Juden in Deggendorf" und darauf bezüg¬
liche Bilder, die noch heute i» der Kirche des Dorfes Grassau am Chiemsee
sind, wo es unter dem elften Bilde wörtlich heißt: „Die Juden wurden von
denen Christen mit rechtmäßigem, Gott gefälligem Eifer ermordet und ausge-
reutet. Gott gebe, daß von diesem Höllengcschmeiß unser Vaterland bewahrt
bleibe." Der Verfasser fährt fort:
„Ich bedauere das Volk, dem solche Speise geboten wird, sagte August
v. Platen in der Kirche zu Fischbach-in, als er von den Wunderkräften des
heiligen Scapuliers predigen hörte. Dürfen wir nicht noch in-ehr die blöden
Wallfahrer von Deggendorf bedauern? Und ist es zu viel gesagt, wenn wir
behaupten, daß die oft beklagte Rohheit und die blutigen Thaten unsres Land¬
volks auch daher rühren, daß ihm solche Speise geboten wird? daß es wenigstens
nicht besser werden kann, so lange ihm Raub und Mord, sei es auch nur an
Juden verübt l!) als gottgefälliges Werk empfohlen werden?" —
Der Staat, von dem ich rede, umfaßt keine 150 Quadratmeilen. Sein
zum Theil reicher Grund dehnt sich an den beiden Ufern jenes Stromes aus,
der schon dadurch beweisen kann, daß er nicht Deutschlands Grenze bildet.
Wenn unten an den sonnigen Halden der Vorberge die Rebe knospt und
die Aprikose blüht, liegt hoch oben im Gebirge noch der Schnee und der Postillon
treibt die keuchenden Pferde, daß sie den schweren Wagen nicht stecken lassen.
Drüben über dem Strom ein leichtlebiges Volk, dem Wein statt Blut durch die
Adern läuft. Diesseits des Stroms kreist das Blut langsamer; in der tabak-
und getreidebaucndcn reichen Ebene gemahnt freilich das Aussehen der Land¬
schaft an die.Landsleute im Westen; die ländliche Tracht ist hüben und drüben
verschwunden, und die Sprache klingt fast gleich und ähnelt den Dialekten, in
denen Nadler und Schanden» ihre Gedichte schrieben. Hinter der Gebirgswand
im Osten wohnt der minder reiche Theil der Bevölkerung. Mühsam klettert
das Spannvieh an den Bergen hinauf und des Landmanns „Gust und Gott"
klingt wie eine Stimme aus den Wolken gegenüber dem „Har und Gott" des
Tabakbauers im Thal. Dem Feldbau sind diese Berge häusig zu steil und die
Thäler zu unwirthlich; nur selten verirrt sich der fremde Wanderer hierher.
Aber der Bauer sitzt oft behaglich auf dem Erbe seiner Voreltern, deren Tracht
er »och trägt: den langen blauen Nock, Kniehosen und Gamaschen und jenen
wunderlich aufgebauten Hut „Dreimaster" oder auch „Wettervertheiler" genannt.
Und wenden wir uns schließlich nordwärts, so kommen wir in den Theil des
Landes, dem der Staat seinen Namen verdankt. Hier sitzt der Kern jenes
Volkes mit grobgeschnitzten, charakteristischen Gesichtern und jener eigenthüm¬
lichen Tracht, die bei dem weiblichen Theil sich so bezeichnen läßt: was den
Röcken an Länge abgeht, haben sie an Umfang zugesetzt. Der Bauer der hessischen
Ebene sitzt auf fetten Gütern und das alte Sprichwort sagt, daß ihm nur Heu
und Holz fehle, um noch einmal so stolz zu werden. Was diesem versagt ist,
hat der Bauer des Gebirgs mit seinen Bergwiesen, Wäldern und Herden ge¬
drungenen Rindviehs. Höher hinauf kommen wir dann in die arme Region.
Der Bewohner fühlt sich in der ärmlichen Einsamkeit wohl, aber es kommt
einer Verbannung nach Sibirien gleich und wird für Strafe gehalten, aus dem
warmen Luftkreis der Residenz auf jene Höhen versetzt zu werden, wo d,er
Weinstock zur Mythe wird und der Fruchtbranntwein neben dem Biere herrscht.
Auch politisch bildet unser Staat ein Conglomerat vieler einzelner Souve-
ränetäten, die zum Theil aus halben und Biertclsdörfern bestanden hatten. Als
man sie in und nach den napoleonischen Kriegen zusammenschmiedete, da flammte
der Miniaturparticularismus in den Bezirken einzelner Mediatisirten auf und
der damalige Landesherr ließ seine Truppen marschiren zum Schuh der neuen
Grenzpfähle, die von rebellischen Bauern waren umgerissen worden. Aber die
ehemaligen souveränen Grasen und Fürsten, die heutigen Standesherren, be¬
wahrten, namentlich in den südlichen Landestheilen, aus jener Zeit des eigenen
Glanzes noch lange eine Anhänglichkeit an das östreichische Kaiserhaus. Die
jüngeren Glieder jener Familien dienen meist im kaiserlichen Heer und der
Geburtstag des Kaisers Franz Joseph ist dort feierlich begangen worden. In dem
Staat von Napoleons Gnaden waren schon von Alters her eine Masse von Land-
und Stadtrechten im Gebrauch. Dazu kam noch das französische Recht, das den
neu hinzugekommenen Landestheilen der Hauptsache nach gewährleistet ward.
Der Staat ist somit kein natürliches Ganze, sondern nach dem alten System der
Theilungen und des Länderschachers zusammengebaut; er hat im Lauf der Jahr¬
hunderte seine Gestalt mannigfach verändert, abgetreten, wo er.mußte, und
annectirt, wo er durfte. Schwach ist das Band, welches die einzelnen Theile
enger verbindet, man müßte denn grade die überall in den Landesfarben glän¬
zenden Wegweiser und Grenzpfähle als Bindemittel betrachten, außerdem auch
die officiellen Festtage oder die allerdings mit anderen Staaten gleichmäßig ge¬
führte Nationalhymne, welche die Möglichkeit bietet, den Namen des regierenden
Fürsten oder seinen Rang darin unterzubringen.
Die Bewohner des Landes dürfen sich im Ganzen einer guten Regierung
rühmen. Das Herrscherhaus weist manchen bedeutenden Namen auf und manche
herzgewinnende Erzählung aus den gemüthlichen Zeiten des Patrimonialstaates
lebt noch im Munde des Volks. Früher noch als die meisten anderen Fürsten
ertheilte einer der Regenten dem Lande eine Verfassung und der Zollverein
fand hier fast zuerst eine gute Statt. Es war im Ganzen ein mildes, Patri¬
archales Regiment, in deutscher Weise zuweilen emsig, wo der Fleiß nicht grade
nöthig war, und groß im Kleinen.
Das Jahr 1848 hatte entschieden ungünstig gewirkt. Mit der Verwilde¬
rung der Ansichten über Regierungsgewalt und Volksrecht war auch eine bedenk¬
liche Veränderung des äußeren Menschen vor sich gegangen. Wer erinnert sich
nicht noch der ungeheuern „Heckerhüte", die mit mächtigen Krämpen keck auf
dem Ohr getragen, für einen ganzen Bienenstock demokratischer Gedanken Raum
boten. Bei ordnungsliebenden Leuten war diese Tracht schon lange alß.
liebig geworden. Aber amb Anderes, was abwärts von den Hüten sich zeigte,
verrieth nicht selten eine Verwilderung, die mit der der politischen Ansichten
Hand in Hand ging. So hatte die Regierung unseres Staats mit Grund übel
vermerkt, daß auch die Staatsdiener sich des Tragens außerordentlicher Bärte
befleißigten. Wäre es nur bei kleinen Backenbärten geblieben! Aber diese
Wüsteneien hätte man sehen sollen! Nicht nur auf den Wangen trug man
Bärte von unanständiger Länge, sondern der Schnurrbart wuchs auch derart
über den Mund herab, daß das Sprichwort gerechtfertigt erschien: „Er hat
Haare auf den Zähnen", und von dem Kinn wallte es hernieder bis zur zotti¬
gen Hochbrust. Daß dies in geordneten Staaten zu einer Zeit wiederkehrender
Ruhe nicht geduldet werden konnte, war klar. Es erschien demgemäß eine Ver¬
fügung, daß von nun an alle Staatsdiener den Bart wegzuschneiden hätten
bis auf einen wirklich genügenden Ueberrest von Backenbart. Dabei war ge¬
nau darauf zu achten, daß dieser Rcstbart sich nicht zu weit nach dem Kinn zu
ausbreite und daß von der Kehle aufwärts nach dem Kinn nichts im Verborgenen
blühe. Wer wie einzelne übelgesinnte Advocaten sich dem Gesetz nicht fügen
wollte, wurde zu öffentlichen Vertheidigungen nicht zugelassen. Nur die Forst¬
leute, zur symbolischen Anerkennung ihres Amtes, durften den Wald im eigenen
Antlitz mit einigen normirtcn Beschränkungen Pflegen. Dazu kamen solche,
Welche bei den Soldaten gewesen und die, welche nachweisen konnten, daß ein
Bart für sie durchaus nöthig sei. Der eine erbrachte den Beweis, daß er seinen
Vollbart haben müsse, um ein Muttermal oder eine häßliche Narbe zu verdecken;
der andere ließ sich vom Arzt bezeugen, daß er ohne Bart an unerträglichem
Reißen zu leiden habe; Glückliche, heimlich beneidet von glätteren Freunden.
Aber im Ganzen erfreute sich das Volk einer gesitteten Nacktheit decenter
Körpertheile.
Auch in der Kleidung forderte man die Manifestation eines geordneten
Staatswesens, die Uniform. Bis dahin war so ziemlich jeder Staatsdiener nach
seiner Fa?on selig gewesen. Das Gerichtswesen und die öffentlichen Lehr¬
anstalten hatten zu den Jahren eines freisinnigeren Regiments richtige Urtheile
gefällt und wackere Männer herangezogen, jetzt erschien wünschenswerth, wenn
auch in diese Disciplin mehr Methode kam. Sorgfältig ward berathschlagt,
welches Tuch zu Staatsuniform und zum Paletot, zu den Beinkleidern für
allerhöchste Festtage und für die Werkeltage, — wozu auch die kirchlichen Fest-
tage gehörten, — zu nehmen sei; und wo die allgemein recipirten Grundsätze
sür Uniformen nicht ausreichten, wurde neu bestimmt, auf welche Weise man
die einzelnen Ministerien und in diesen wieder Excellenzen, Geheime-Ober-, die
Ober- und° Unter-, und dann den großen Haufen der untersten Staatsdiener von
einander zu unterscheiden habe. Und es begann ein reges Schaffen in der Be¬
völkerung.
So kam denn der große Tag, an dem der Staatsdiener von weitem als
solcher erkannt werden konnte, wo zum ersten Mal, seit die Welt steht, die Pro¬
fessoren des Gymnasiums, die Ober- und Unterlehrer in standesgemäßer Uniform
zur Schule zogen. Damals hingen die Schüler in den Gittern der Fenster und
empfingen mit Jubel, der je nach der Beliebtheit des Lehrers in größerem oder
geringerem Maß sich zeigte, die Bildner ihrer Jugend. Graue Beinkleider,
grauer Paletot mit hechtgrauem Sammetkragen, und o Wunder! aus dem Paletot
guckte der schwarzlackirte Gurt, an dem ein schöner Degen befestigt war. Den
Kopf bedeckte eine dunkelblaue Mütze mit hellblauem Rand. Denn hellblau war
das Abzeichen des Ministeriums des Innern, dem auch die Polizeidiener an¬
gehörten, weshalb oberflächlich Blickende stets geneigt waren, die Lehrer und
Polizeidiener zu verwechseln. Das Ministerium des Aeußern hatte dunkel¬
roth; auch die Justiz schritt mit eigener Farbe an Kragen- und Aermelaufschlägen
und Mühenrändern einher, und so hatte jede größere Abtheilung der Staats-
Maschine ihr sinniges Abzeichen.
Sonntags und bei feierlichen Gelegenheiten war es anders. Da erschien
der Staatsdiener in dunkelblauem Waffenrock, an dessen Stehkrage» wie bei der
östreichischen Armee die Würde mit Goldsternen angegeben war. Wer „Rath"
war oder dessen Rang hatte, bekam einen Goldkragen, das Ziel, nach dem
Viele mit stiller Sehnsucht zustrebten. Den Leib umspannte dann bei den
Unterbeamten der schwarze, bei den Beamten von einem Stern an aufwärts
el» goldner Degcngurt und den Kopf zierte ein Dreimaster, an dem die National¬
kokarde, zwischen Gold und Silber gebettet, weithin glänzte. Bei fürstlichen
Namens- und Gcburtsfcstcn Casimirhoscn. Manche, die an Geldmangel oder
schlechter Gesinnung litten, pflegten an solchen Tagen krank zu werden, oder
machten sich in stiller Frühe zu einer Landpartie auf. Wer Lehrer war. verfiel
vielleicht gar auf den Einfall, seine Schüler auf solche Fahrten mitzunehmen
und im nächsten Schulprogramm ward rühmend erwähnt, wie der Festtag von den
Schülern in würdigster Weise durch einen größeren Ausflug gefeiert worden sei.
Auch die Geistlichkeit ward i» Schwarz und ohne Degen uniformirt und
von oben wurde zeitweise strenge Musterung auf den Balleien gehalten nach
fehlenden Degen, schiefzugcknöpften Röcken und verrätherischen,-aus der Vor-
geschriebenen Halsbinde hervorstehenden Vatermördern. Nur die Universität
hatte sich für ihren Hausverkehr beharrlich der Neuerung widersetzt und erschien
nach wie vor in einfachem Schwarz. Aber auch da, wo man sich der Ver-
ordnung fügte, geschah es oft mit stiller Nachsucht; für die officiösen Stimmen
des Landes war in einer Zeit politischen Katzenjammers jenes Uniformedict
ein vortrefflicher Stoff der Erörterung. Man verfocht auch in der Presse
lebhaft die Zweckmäßigkeit, Schönheit und Billigkeit der Staatsdicnertracht und
brach Lanzen für den Bvrzug feucrvergvldeter Knöpfe. Nur eine Niederlage
erlitt die triumphirende Regierung. Sie bestrebte sich, ein gegenseitiges Grüßen
aller über die Straße wandelnder Uniformen durchzusetzen. Dieses jedoch er¬
schien als Tyurunei,' die Uniform wollte man sich zuletzt gefallen lassen, aber
gegen das Grüßen sträubte sich der Freiheilsstolz des Deutschen. Stumm wan¬
delten die Noth-, Blau- und Schwarzbelragtcn an einander vorüber und sie
thun es auch heute noch.
Aber die Regierung ging weiter. Bon den Beamten schritt sie zu einer
gewissen artigen Ünifvrmlrung der Landschaft selbst, in welcher die Beamten
wohnten. Das Land hatte sich seit längerer Zeit vortrefflicher Staatsstraßen
zu erfreuen. Die Waldungen waren im besten Stand und in vieler Beziehung
Muster für die Fvrstanlagcn anderer Länder. Bon der Residenz ans konnte
man stundenweit über Berg und Thal gehen, ohne das sichere Behagen zu ver¬
lieren, welches ungezwungene Parkanlagen auf den Beschauer machen. Die
Landesfarbe bekam man dabei freilich niemals aus den Auge»; denn an jeder
Ecke stand ein zierlicher vier- oder achteckiger Wegweiser, der entweder den
Namen der Waldschneise oder das nächste Ziel des Weges angab. Dabei las
man in schwarzer Farbe auch das Jahr vermerkt, in dem der Wegweiser zum
letzten Male angestrichen war. Wer je in diesem Theile Deutschlands gewandert
ist, wird diese Einrichtung hoher Civilisation wohl geschätzt haben, die ihm da,
wo sie häusig und kunstvoll wurde, sicher die Nähe einer größer» Stadt anzeigte.
War man auf solchem Marsche unter den stummen Lenkern bis zu einer Anhäufung
menschlicher Wohnungen gekommen, so sagte eine große Tafel, an einem bico>
loren Pfahl befestigt, selbstverständlich, wie dieser Wohnsitz heiße, ob es Markt¬
flecken, Dorf oder «labt sei und in welchem Landgericht und Kleisamt es liege;
stand die Tafel an der Staatsstraße, so erhob sich daneben ein zweiter, sorglich
angestrichener Block, mit der Aufschrift: „Pfad für Reiter", während ein Zwil¬
lingsbruder auf der andern Seite des Wegs die einsamen Wanderer einlud,
mahnte, und dringend ersuchte, den durch die Negierung apprvbirten „Pfad für
Fußgänger" nicht'außer Acht zu lassen.
Diese gefällige Adjüstirung der Wege und Stege brachte die Regierung
zur Entdeckung anderer geographischer Uebel'stände, welche unerträglich wurden. Es
erschien eine Verordnung, wonach alle Orischaften des ganzen Staats, die
in ihrem Namen ein Ober und Unter, ein Mittel, Klein, Groß, Kurz oder der¬
gleichen enthielten, nicht in einem Wort geschrieben werden durften, sondern
als zusammengesetzte Wörter mit Vcrbindungsstrichen zu schreiben waren. Ein¬
zelnen Ortsnamen wurde dabei ein „Groß" wider die historische Ueberlieferung
vorgehängt. Auf Grund dieses Edictes wurden, wie sich gebührte, Tüncher an¬
gestellt, um diese Fehler gegen die deutsche Grammatik aller Orten auszumerzen.
Neue Formulartöpfc wurden gedruckt, die Siegel geändert und es gab eine ein¬
schneidende Uniformirung localer Mischräuche.
So spielte sich der Drang unserer Regierung nach Uniform und Ordnung
aus der Geographie in die Grammatik. Dieselbe Thätigkeit, welche von den
Rebenhügeln im Süden bis zu den Höhen der nördlichen Provinz waltete, fand
natürlich am Sitz der Regierung eine ganz besonders günstige Gelegenheit zu
schaffen. Hier ist alles strammer, strenger, höher entwickelt. ' In der Residenz
wäre ein unerhörtes Berbreche», was in Provinzialhanptstätten wohl vorkommt,
daß man zugleich mit Uniform und dem Spazierstock sich anf der Straße zeigte;
es wurde auch vortrefflich dafür gesorgt, daß jeder einigermaßen auffallende
Punkt der Stadt oder ihrer Umgebung einen officiellen Namen erhielt. Man
ging dabei ganz amerikanisch zu Werke. Erst schuf man auf leerem Felde die
Straßennamen, dann mochte der getaufte Weg zusehen, wie er links und rechts
von sich Häuser bekam. Aber auch alte Straßen wurden grammatisch begut¬
achtet und sprachliche und etymologische Fehler verbessert. Die Bewohner
eines Stadltheils, die sich ungefähr zu den Bewohnern der Stadt verhalten,
wie die Sachsenhauser zu den Frankfurtern, sehen eines schönen Tages zu
ihrem nicht geringen Erstaunen, wie ein Tüncher ein kalligraphisch untadelhaftes
„Pantratiusstraße" zu Anfang und Ende der Von ihnen bisher bewohnte»
„Bangertsgasse" ausmalt. Gemeines Urtheil hatte bis dahin geglaubt, daß
„Bangert" in demselben Verhältnisse stehe zu „Baumgarten", wie „Wingert"
zu „Weingarten". Aber die Straße wurde jetzt eines Besseren belehrt und
unter den Schutz eines KalenderhcUigen gestellt. Wenn die Bewohner derselben
ihre Orangenbäume fortan leichtsinnig den Frösten des Mai aussetzen, so ist das
ihre Schuld. Die Regierung hat alles Mögliche gethan, die Leute zu warnen.—
Zuweilen geräth die Regierung bei solcher Thätigkeit selbst in die innerliche
Unsicherheit, welche dem Grammatiker nicht erspart bleibt. Der Tüncher z. B.
taufte eine Straße der Neustadt auf hohen Befehl „Kasernenstraße". Ader bald
kamen der Regierung ernste Bedenken über diese Maßregel. War solche Bezeich¬
nung nicht im Grunde ein Unsinn, da ja nur eine Kaserne und gar nur mit
einer Ecke in der Straße stand? Und bald daraus turnte abermals der Tüncher
die Leiter hinan und vertilgte das „n" als Fehler Wider die deutsche Gram¬
matik und die Straße hieß „Kasernestraße".
So wurde bei uns schlicht und gerecht, gutherzig und eifrig gelebt und das
Regiment war nicht unbeliebt. Viel war auch bei uns noch zu thun. Die
Uniformirung des Landes hatte noch große Fortschritte zu machen. Man hatte
die Männer des Staates in Regicrungskleider gesteckt, an unsern Staatsfrauen
war auch noch sehr Wesentliches zu cgalisiren, beim Ballet war bereits ein An¬
fang gemacht. Dann konnten die Säuglinge auf Schnürbänder in Landcsfarben
verpflichtet werden u. s. w.
Da kam das tolle Jahr 1866, es störte uns auf. zerriß die alte Ordnung
und das Gefüge des Landes. Was wird mit den alten lieben Straßentafeln
und Wegweisern um Biedcnkvvf geschehen? Die Herren Preußen sind zu vielem
fähig, sie sind auch capabel, KIcinmausheim zu schreiben, statt Klein-Mausheim.
Und wie werden die Amtskleider der Beamten von Oberhessen in dem neuen
Bundesstaat beschädigt werden! Diese und andere Fragen, welche dahinter
liegen, beunruhigen uns schwer. Und Sie fragen, ob wir Aussicht eröffnen,
mit der neuen Ordnung, die für uns die ärgste Unordnung ist, zufrieden zu
sein? Nein, versichere ich Ihnen. Wir sind sehr unzufrieden, mit uns selbst,
mit Ihnen draußen, mit der ganzen Welt.
Wir waren in Vielem Muster eines kleinen Staats. Auch in dem per¬
sönlichen Verhältniß eines gutherzigen Fürsten zu seinen Unterthanen. Aber es
giebt auch bei uns nicht wenige verständige Männer, welche aus diesen Monaten
einer friedlosen Auflösung alter liebgewordener Ordnung auch bereits eine rettende
bittere Arznei erkennen, gegen dies warme, bequeme Stillleben in gestickten Röcken
zwischen den hölzernen Pfählen der Landcsheimath.
Herr Pogge auf Pölitz giebt zu Protokoll:
Am 29. November ist bei Gelegenheit der Wahl zur Klosterrevisions-
comit6 meine Betheiligung an derselben von dem Herrn Vicelandmarschall
v. Maltzan auf Gr.-Luckow zurückgewiesen worden, und bin ich dadurch in
meinem, nach § 122 des landesgrundgesetzlichen Eibvergleichs als Mitglied der
Ritterschaft mir zustehenden Recht der Theilnahme an der Klosterverwaltung
behindert worden. Durch die Reversalcn vom 2. Juli 1S72 sind die drei Lan-
desilöster den Ständen überwiesen worden „zur christlich ehrbaren Auf¬
erziehung der inländischen Jungfrauen, so sich darinn zu be¬
geben Lust haben". Für die Ueberweisung der Klöster übernahm das Land
die Tilgung der landesherrliche Schulden im Betrage von 400,000 Goldgulden,
welche Summe von dem ganzen Lande, nicht von den Ständen
allein, aufgebracht wurde. Das darüber erschienene Contributionsedict hat
sich noch in den ständischen Acten erhalten, und heißt es darin unter anderm:
„Daß die Superintendenten, fürstliche Räthe und Diener, Kirchendiener,
Prädicanten, Küster und andere Kirchen- und Schulverwandten, und alle andern
Unterthanen und Schutzverwandten, so Handel und Wandel treiben, es sey an
Handelsleuten, Schäfern, Hirten, Schmieden, Pachtmüllern, Leinwebern. Schnei¬
dern, Krügern :c. auch der Fürsten eigene Bauern, dazu beigetragen."
Da das ganze Land die Mittel, welche die Ueberweisung der Klöster herbei¬
führten, hat ausbringen müssen, so liegt es auch in der Billigkeit, daß das
ganze Land an dem Nutzen, den dieselben gewähren, theilnimmt. Damit
im Widerspruch hat aber die Ritterschaft ihr ständisches Verwaltungsrecht dazu
benutzt, um aus den Erziehungsanstalten, die für das ganze Land
bestimmt waren, fast ausschließlich Versorgungsanstalten für die
Töchter des eingebornen und recipirten Adels zu machen! — Der
Werth der Klöster ist auf über sechs Millionen zu berechnen, deren Ertrag jähr¬
lich auf circa eine Viertelmillion sich beläuft. Würden diese in zweckmäßiger
Weise zu fundationsmäßigen Erziehungszwecken verwandt, so wären die Millet
geschaffen, um viele der Hauptübelstände zu beseitigen, an welchen das Schul¬
wesen im Lande leidet und die Reformbestrebungen wegen desselben scheitern.
In der jetzigen Benutzung der drei Klöster liegt mithin ein Unrecht gegen die
ganze Bevölkerung. So lange die jetzige ständische Verfassung, welche dem ein¬
gebornen und recipirten Adel den überwiegendsten Einfluß einräumt, bleibt,
wird dieser Uebelstand schwerlich beseitigt. Wenn aber die in Aussicht stehende
neue Ordnung der Dinge dahin führen sollte, daß Mecklenburg eine andere
Verfassung und von der ganzen Bevölkerung gewählte Landstände erhielte, so
ist die Hoffnung eine berechtigte, daß die anders zusammengesetzten Landstände
auch eine andere Verwaltung und Benutzung der Klosterrevenuen herbeiführen
werden, wozu sie um so mehr berechtigt wären, als die Neversalen von 1572
nicht dem eingebornen Adel, sondern ausdrücklich der Landschaft, d. h. gesammten
Landständen die Klöster zu Erziehungszwecken für das ganze Land überweisen.
Bei dem hohen materiellen Interesse, welches sich an die Klöster knüpft, ist aber
die politische Bedeutung derselben nicht zu übersehen. Der Werth von sechs
Millionen, den sie repräsentiren, bildet ein mächtiges, nicht zu verkennendes
Band, wodurch das Interesse des Adels an den Fortbestand der alten Landes¬
verfassung geknüpft wird. Ich halte es jetzt für nützlich, auf diese Verhältnisse
aufmerksam zu machen, da die Coujuncturcn den Bestrebungen derjenigen günstig
zu werden scheinen, welche eine gründliche Reform unserer Verhältnisse anstreben.
Der Herr Vicelandmarschall v. Maltzan hat mich durch Zurückweisung meiner
Betheiligung an der Wahl verhindert, meine A-bsichten in Betreff der Klöster
anderweitig geltend zu machen und so sehe ich mich veranlaßt, sowohl gegen
dieses Verfahren, als auch gegen die Benutzung der Klöster zu Gunsten des
eingebornen und recipirten Adels zu protestiren.
Der hohen Versammlung empfehle ich mich so hochachtungsvoll als ergebenst.
Infolge dieses Dictamens bringt das Rostocker Tageblatt in Ur. 293 einen
Aufsatz des Herrn Manccke-Duggenkovpel. „die Klosterfrage" betitelt, worin
nachgewiesen wird, auf welche sinnreiche Weise der augenblickliche Besitz der
Klöster durch den Adelsverein Vom 3. December 1795 so recht befestigt worden.
Derselbe lautet:
Man ist dem Herrn Pogge auf Pölitz, der es selbst unter den jetzt ob¬
waltenden Verhältnissen über sich gewinnen kann, den Landtag zu besuchen,
gewiß zu Dank verpflichtet, daß er diese so höchst wichtige Frage einmal wieder
in Anregung gebracht und in seinem Dictamen vom 3, December nochmals die
Gründe recapitulirt hat, welche gegen die augenblickliche Verwaltung und Be¬
nutzung der drei Landesklöster mit Recht vorgebracht werden können!
Noch umfassendere Darlegung dieser Frage findet man in der ganzen An¬
zahl der werthvollen Sendschreiben des Herrn Dr. Schnelle an die Gutsbesitzer
bürgerlichen Standes, namentlich des dritten von 1841, in der Sr. königlichen
Hoheit dem Großherzoge unterm 6. November 1841 überreichten „Begründung",
sowie im vierten, in der Verwahrung vom 23. November 1841 u. s. f.
Aus allen vorgebrachten Argumenten geht hervor, daß die jetzige Verwal¬
tung und Benutzung der Klöster im Widerspruch mit der Ueberwcisungsacte
vom Jahre 1572 steht. Wenn man auch Rücksicht nehmen muß. daß eine
solche Umwandlung aus Irrthum entstanden ist, so wird, nachdem dieser Irr¬
thum erkannt worden, das ganze Land auf die Billigkeit der sich augenblicklich
im Besitz befindenden Personen rechnen müssen, damit auch von dieser Seite
eine ruhige und vernünftige Regulirung dieser Angelegenheit Platz greifen kann.
Es sind aber zwei Punkte, welche solche Rectification besonders erschweren,
nämlich die sogenannten Exspectantenlisten und der Umstand, daß die Spitzen
der Regierung sich dieser Frage gegenüber in einer ganz besonderen Situation
befinden, indem dieselben auch zu dem sogenannten eingeborenen und recipirten
Adel gezählt sein wollen, über dessen Begriff noch immer seit den herzoglichen
Rescripten vom 7. März 1789 und 18, November 1793 eine gesetzliche Definition
fehlt, die aber as Keto agirt.
Die Exspectantenlisten sind schon vor dem Landesverglcich vom Adel auf
dem Landtage beliebt und dahin festgestellt, daß jedes Mitglied, welches sich
zum eingeborenen oder recipirten Adel zählt, befugt sein soll, gleich nach der
Geburt einer Tochter dieselbe bei den Klöstern anzumelden, wonach das Kind
in obige Listen eingetragen und nach der Reihenfolge zum Genuß von Ein¬
künften aus den Kassen der Klöster kommen kann. Ueber die Zahl der so Ein¬
geschriebenen ist zwar im Publikum nichts bekannt, doch kann man annehmen,
daß sie ziemlich groß sein muß.
Es wäre nun sowohl hart als unbillig, wenn man sowohl den bereits im Ge¬
nuß solcher Einkünfte sich Befindenden, als denen, welchen durch Eintragung in
die Exspectantenlisten die Aussicht darauf eröffnet ist, irgendetwas hiervon schmä¬
lern wollte, vielmehr müssen diese jedenfalls bis zu ihrem Ende in Besitz bleiben;
aber gerecht wäre es auch gewiß, wenn man diese Exspectantenlisten so bald wie
möglich schlösse, da ohne einen solchen Schluß die nothwendige Veränderung
nicht eintreten kann. Zum Glück giebt der qu. Erbvcrgleich von 1753 hierfür
in seinem § 123 einen gesetzlichen Anhaltepunkt, indem derselbe lautet:
„Die von der Landesherrschaft bisher» nicht abgenommenen Rechnungen
'dieser dreyer Klöster sollen nach Inhalt vorangegangener Neversalen von Uns
*
und den Ritter- und Landschaftlichen Deputaten aufgenommen, auch solcher
Gestalt alle Jahre gefertigt und abgeleget werden."
Ob eine solche Rechnungsablegung bisher stattgefunden hat, ist nicht be¬
kannt; daß sie aber nach diesem Paragraph Von großherzoglicher Regierung
Vorgenommen werden kann, leidet keinen Zweifel, Solche festgestellte Nechnungs-
ablegungen bezwecken aber nicht eine Prüfung in ealeulv allein, sondern er¬
heischen auch eine Prüfung in materi-rlibus, und würde sich dabei ja sofort der
Widerspruch, worin sich die augenblickliche Verwaltung und Benutzung der
Landesklöster mit der Fundationsacte befindet, herausstellen und ein Dringen
auf Wiedereinlenkung zu letzterer durchaus gerechtfertigt sein.
Zu einer solchen Maßnahme ist aber natürlich die Mitwirkung der höchsten
Spitzen der Regierung erforderlich; dieselben sind aber leider durch ein anderes,
oben erwähntes Verhältniß gebunden, wodurch es ihnen unmöglich sein wird,
auf die obenbcregte Maßnahme eingehen zu können.
Dies hemmende Verhältniß besteht nämlich darin, daß diese Herren als
zum „eingeborenen und recipirten Adel" gehörig selbst denjenigen Verpflich¬
tungen folgen müssen, welche ihnen durch folgenden Schlußpassus der Vereins¬
acte des Adels von 1795 auferlegt ist:
„So haben Namens des eingeborenen und recipirten Adels seine oben¬
benannte und aä acta legitimirte Bevollmächtigte, Namens der noch nicht reci¬
pirten adeligen Landbcgüterten aber sämmtliche Anwesende für sich und ihre
Nachkommen diese Vereinigungsacte unterschrieben und besiegelt, versprechen
auch für sich und ihre Erben darob nicht nur stets fest und unverbrüchlich zu
halten, sondern auch allem denjenigen willig die Hand zu bieten, und mit Per¬
son und Gut mitzuwirken, was nach gemeinsamer Beliebung zur Aufrecht¬
haltung der Gerechtsame des Standes die Zeitläufte erheischen werden,
wowider sie dann keine Ausflucht oder Einwendung, keine Rechtswohlthat
schützen soll, weil sie ihnen allen gleich, als wären sie hier namentlich
benannt, sammt der Rechtsregul, die-eine solche allgemeine Verzicht ungül¬
tig machen könnte, entsagen und die genaueste Erfüllung bei Adelichen Wort
und Ehren sich wechselsweise zusichern. Geschehen zu Sternberg auf dem all¬
gemeinen Landtage in der besonderen Versammlung des Adels, den 3. De¬
cember 1796."
Wenn nun zu solchen vermeintlichen „Gerechtsamen des Standes" gewiß
der augenblickliche Besitz der Klöster, als in erster Linie, vom eingeborenen und
recipirten Adel gerechnet wird, so ist es nicht möglich von jenen Herren zu ver¬
langen, daß sie, ohne von jener Verpflichtung entbunden zu sein, zu Maßregeln
die Hand bieten, welche den jetzigen factischen Zustand ändern.
Schon früher habe ich mir erlaubt, aus die Gemeinschädlichkeit dieses Ver¬
eins sowohl für das ganze Land als für die Mitglieder selbst aufmerksam zu
machen, das eine vorstehende Beispiel zeigt die Nothwendigkeit der Aufhebung
dieser Vereinsacte des Adels deutlich genug.
Diese Aufhebung und die oben angeführte Schließung der Exspectantenlistcn
bedingen sich somit gegenseitig, denn wenn das Object, die Klöster, wieder zu
Nutz und Wohlfahrt des ganzen Landes, wie es die Fundationsacte bestimmt,
dienen sollen, so hört auch die Hauptsache des Zwecks des Adelvereins auf.
Somit sind die Aufhebung der Vercinsacte des Adels vom 3. December
1795 und die Schließung der Exspectantenlistcn die ersten nothwendigen Vor¬
bedingungen, um die Klosterfrage einer ruhigen und vernünftigen Entwickelung
entgegenführen zu können.
December 1866.
Rechnet man hinzu, daß die Erlaubniß politischer Vereine laut Verordnung
von 1852 einzig von den Ministern abhängt, diese aber selbst Mitglieder deS
Adelsvereins, des gefährlichsten von allen sind und denselben ganz uneinge¬
schränkt dulden, so erscheint, wenigstens noch augenblicklich, das Bollwerk, wo¬
durch der Besitz der Klöster gesichert ist, bombenfest. Ob es mittelst der ge¬
zogenen politischen Geschütze der Neuzeit gelingen wird hier Bresche zu schießen,
ist eine der Fragen, deren Lösung wir aus dem Gang der Verhandlungen des
ersten norddeutschen Parlamentes wenigstens mit einiger Sicherheit hoffen pro-
gnosticiren zu können.
Als im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert das Interesse für das
entschwundene Alterthum in Italien zuerst wieder erwachte, durchsuchte man
nicht allein die Klvstcrbibliothcken nach den Schätzen der alten Literatur, sondern
Hand in Hand damit begann ein nicht minder eifriges Suchen nach den andern
noch unmittelbareren Zeugnissen des Alterthums, den Bau- und Bildwerken, die
sich aus dem großen Ruin barbarischer Jahrhunderte gerettet hatten. Anfangs
freilich sah es gar traurig aus . ein volles Jahrtausend hatte gründlich aufge¬
räumt. Wenn unter Konstantin die Menge der zu Rom befindlichen Statuen
sich noch hoch in die Tausende belaufen hatte, so konnte im Beginn des fünf-
zehnten-Jahrhunderts der unermüdliche Aufspürer jedes antiken Restes, der
große Handschriftcnentdccker Poggio Bracciolini nur noch fünf marmorne und
eine bronzene Statue im ganzen Umfang der ewigen Stadt auffinden! In¬
dessen bald änderte sich dies; unablässige Nachgrabungen wurden von fast regel¬
mäßigem Erfolge gekrönt, die Masse der Kunstwerke wuchs rasch zu stattlicher
Zahl. Wohl war es zunächst weniger das wissenschaftliche als ein künstlerisches
Interesse, mit dem mau sowohl deu schriftlichen wie den baulichen und bild¬
lichen Resten des Alterthums gegcnübcrtrat und dieselben zu freiem Schalten
und Walten, zu willkürlicher Ergänzung und zu eigner Nachbildung sich an¬
eignete. Aber man sammelte doch, man hegte und pflegte mit liebevollem Eifer,
was bis dahin unbeachtet gelegen hatte oder gar muthwillig zerstört worden
wgr. So ward der wissenschaftlichen Benutzung wenigstens der Stoff bereitet,
wenn auch die jugendliche, im Vollgefühl eigner Schöpferkraft schwelgende
Philologie der Italiener des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts selber
kaum den Anfang mit der Verwerthung machte.
Um die Mitte des letztgenannten Jahrhunderts siedelte die Philologie nach
Frankreich über, dann nach kurzer Blüthe, infolge der Hugenottenkämpfe, nach
den Niederlanden. Joseph Justus Scaliger ist der vollendetste Repräsentant
dieser Entwickelungsstufe, von Familie ein Italiener, das Haupt der französischen,
der Begründer der niederländischen Philologie. Aus dem Dilettantismus und
dem Birtuoscnthum bildete sich die ernste strenge Wissenschaft hervor, die ihren
Zweck in sich selbst hat, nicht für die Interessen des Tages arbeitet, deren Ziel
nicht das dem Einzelnen schön und gefällig Erscheinende, sondern das objectiv
Wahre, das Echte ist. Da war es aber vcrhcingnißvoll, daß der Sitz der
Wissenschaft sich immer weiter von dem Boden entfernte, auf dem das Alter¬
thum selber sein Leben entfaltet und die Zeugnisse desselben hinterlassen hatte.
Dieser Uebelstand machte sich vielleicht weniger bei den kritischen und linguisti¬
schen Arbeiten geltend, obgleich auch hier die Anschauung der antiken Reste wie
der fortlebenden antiken Sitte und die Vertrautheit mit manchen aus dem Latein
überkommenen Spracheigenthümlichkeiten vor Abwegen und vor Leblosigkeit der
Auffassung hätte bewahren können. Weit empfindlicher ward jene Entfernung
vom classischen Boden natürlich bei allen den Bestrebungen fühlbar, welche darauf
gerichtet waren, die realen Seiten des Alterthums zu erforschen und darzustellen.
Es fehlte nicht an der eifrigsten Thätigkeit auf diesem Gebiet. Casaubonus und
Salmasius, Lipsius und Meursius und so manche andre neben ihnen waren
unermüdlich thätig, um mit staunenswerther Gelehrsamkeit aus der alten Literatur
das Leben und die Einrichtungen der Griechen und Römer nach den verschie¬
densten Seiten hin aufzuhellen. Aber kaum hier und da wird einmal das eine
oder das andre Monument herbeigezogen, um diese oder jene Schwierigkeit in
den Werken der Schriftsteller damit zu beleuchten. Der Herausgeber von Sal-
masius' Briefen meint gradezu, Rom besitze nichts Besondres, um dessen willen
es sich lohne oder gar erforderlich sei, dorthin zu wandern; „überdies," fährt er
fort „haben wir ja alles, was nur zur gelehrten Kenntniß des Alterthums bei¬
tragen kann, Inschriften oder anderweitige Denkmäler, durch die Fürsorge der
Augenzeugen im Druck und in artigen Abbildungen dargestellt, sogar weit zier¬
licher und dess er, als diese Dinge an Ort und Stelle zu sehen sind."
Freilich dachten nicht alle wie dieser Jesuit. Die Zahl derer, welche nach
Italien pilgerten und nicht unbedeutende Früchte von ihren Wallfahrten herein¬
brachten, ist beträchtlich genug. In Italien selbst fehlte es auch nicht ganz an
Männern, welche den heimischen Antiquitäten ein ernsthafteres Studium zu¬
wandten. Desgleichen entstanden allmälig auch außerhalb Italiens Museen für
Alterthümer, namentlich Münzsammlungen. Inschriften und Münzen waren
überhaupt lange Zeit diejenigen Monumente, welche in vorzüglicher Gunst bei
Sammlern und Gelehrten standen; leicht transportabel waren namentlich die
Münzen am bequemsten zugänglich (freilich auch oft gefälscht), sie dienten nicht
allein historischen Untersuchungen, sondern waren auch besonders geeignet, hier
und da als Belege anderweitig überlieferter Nachrichten zu dienen. Denn das
ist im Wesentlichen die Anschauungsweise jener Zeit der „Antiquitäten", der
Werth der „Monumente" — um diesen allgemeinste» Ausdruck zu gebrauchen —
beruhe auf der Verwendbarkeit derselben zur Illustration unsrer literarischen
Quellen. Diese allein gelten für würdig, um ihrer selbst willen durchforscht,
verstanden, erklärt zuwerden, nur sie sind glaubwürdige Zeugen und beachtens-
werthe Productionen des Alterthums. ' Daß die Baudenkmäler und die Werke
der bildenden Kunst als directe Erzeugnisse des antiken Geistes ebenbürtig neben
den Werken der Literatur stehen und ihren selbständigen Werth in sich tragen,
daß ferner der Boden der classischen Länder in unmiilelbarster Beziehung zu
den einst darauf lebenden Völkern und deren Entwickelung steht, diese Betrach¬
tungsweise lag jener Zeit noch fast völlig fern. Wo einmal eine Richtung her¬
vortrat, welche jene Ketzereien mit einigem Erfolg durchzuführen suchte, da fand
sich auch alsbald ein Stockphilologe bereit „den anschwellenden Strom in seine
Kanäle abzuleiten", d. h. selber die verwerflichen Disciplinen zu lehren und sie
um so sichrer wieder in Vergessenheit zu begraben, je unwissender der Lehrer
darin war und je vollständiger ihm jede Liebe und Begeisterung für seinen
Stoff mangelte. Nicht zu übersehen ist dabei, daß grade dasjenige der clas¬
sischen Länder, welches die schönsten Kunstwerke barg und den Zusammenhang
zwischen Land und Leuten am klarsten vor Augen zu stellen vermochte, daß
Griechenland noch so gut wie unentdeckt war. Hatte doch gegen Ende des
sechzehnten Jahrhunderts ein deutscher Professor an seine theologischen Korrespon¬
denten in Konstantinopel alles Ernstes die Frage stellen müssen, ob es über¬
haupt noch ein Athen gebe! —
Aus den sandigsten Strecken der Mark Brandenburg erwuchs der Mann,
den zuerst die glühende Sehnsucht, nicht blos zu lesen in den Werken der Alten
und aus der Ferne das Alterthum zu erkennen, sondern zum lebendigen Er¬
schauen desselben zu gelangen gen Süden führte und neue Bahnen der Wissen¬
schaft einschlagen ließ. Schon als Student war Winckelmann, da Cäsars Schil¬
derung des gallischen Krieges ihn lebhaft ergriff, trotz gänzlicher Mittellosigkeit
aufgebrochen, um an Ort und Stelle dieselbe unmittelbarer auf sich wirken zu
lassen und gründlicher zu verstehen. Homer und Sophokles nebst den übrigen
griechischen Dichtern waren seine nächsten Vertrauten, die griechische Poesie in
ihrer lautern Schönheit war in ihm völlig lebendig geworden. Da „erweckten
die Kunstcabinete Potsdams und Dresdens in ihm den unbezwinglichen Wunsch,
die Lande der Römer und der Griechen, die er längst in der Seele suchte, nun
auch leibhaftig anzuschauen. Auch der theuerste Preis war ihm nicht zu hoch,
um dies zu erreichen. Kaum aber war er in Rom, so stürzte er sich mit ganzer
Seele in die Fülle der Eindrücke. Jedoch versank er nicht wie so Viele vor
ihm in den Strudel kleinlicher antiquarischen Detailuntersuchungen — so wenig
er dieselben auch, wo sie nöthig waren, verschmähte — sondern strebte unver¬
rückt dem einen Ziele zu, den Geist der Alten, insbesondere ihre Poesie in ihrer
Gesammtheit zu erfassen und in sich wieder lebendig werden zu lassen, die Poesie,
welche nicht blos in dem gesungenen und geschriebenen Dichterworte wirkt, son¬
dern ebenso die Werke der bildenden Künste geschaffen hat und durchweht.
Daher ist, wie erst vor Jahresfrist in diesen Blättern ausgeführt ward, Winckel-
manns Geschichte der alten Kunst ein Werk von' so unermeßlicher Bedeutung,
weit über die nächsten Grenzen des Stoffes hinaus, weil hier zuerst der Ver¬
such gemacht worden ist, ein Gebiet des poetischen Schaffens nicht vereinzelt,
sondern im Zusammenhange des Ganzen darzustellen, die Kunstentwickelung als
einen Theil der gesammten Geistes- und Culturentwickelung aufzufassen. Die
reine Sprachphiiologie hat es auch heute noch nicht aufgegeben, von der Höhe
ihrer doch auch erst allmälig erworbenen sichren Methode herab der Archäologie,
der Wissenschaft von der alten Kunst, ihren Mangel an Methode vorzuwerfen. Es
ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob dieser Vorwurf noch immer ein ge¬
rechter sei, wohl aber darf daran erinnert werden, daß von der Archäologie aus
der erste Versuch gemacht worden ist, in dem bezeichneten großartigen Sinn
einen Theil des Alterthums wahrhaft historisch zu erforschen und künstlerisch
darzustellen. Und auch das muß dankbar anerkannt bleiben, daß bei niemandem
zuvor die unvergängliche Schönheit der antiken Poesie und Kunst eine so helle
Flamme nachempfindender Begeisterung entzündet hatte, daß von keinem Andern
das Alterthum so lebendig angeschaut und mit so überzeugungskräftiger Wärme
geschildert worden war, wie von Winckelmann.
So lebhaft die Bewunderung war, welche diesem von künstlerischer und
literarischer Seite gezollt ward, so schwer konnte man sich in den Kreisen der
zünftigen Fachgclehrsamkcit entschließen, die ausgetretenen Geleise antiquarischer
Forschung zu verlassen und dem hohen Schwunge winckelmannscher Begeisterung
zu folgen. Einige wie der leipziger Ernesti leisteten bewußte Opposition, andere
wie Heyne in Göttingen wären schon gern mitgegangen, hatte ihnen nur nicht
künstlerischer Sinn und jegliche eigene Anschauung gemangelt. Es war eben
damals noch zu schwierig, die Reise gen Süden zu unternehmen und dort „ins
Volle zu greifen", die Stellung der Gelehrten noch zu bescheiden, um ihnen
eine Romfahrt zu gestatten; an einen Besuch Griechenlands vollends mochten
wenige denken. Winckelmann hatte auch diese Absicht gehabt, er hatte eine große
Ausgrabung in der mit leichtem Flußschlamm überspülten Ebene von Olympia
beabsichtigt — ein Plan, den fast hundert Jahre später die preußische Regierung
aufnahm und der nur am Auobruche des orientalischen Krieges scheiterte. —
Wie sehr aber damals und noch später Griechenland außerhalb des gewöhnlichen
Gesichtskreises lag. das zeigt sich recht deutlich an dem verschiedenen Grade von
Interesse, welches griechische und italienische Entdeckungen erweckten. Die ge¬
nauen Zeichnungen und Lermcssungen der Bauwerke und Sculpturen Athens,
welche um die Mitte des vorigen Jahrhunderts von den Engländern Stuart
und Revett aufgenommen und bald daraus dem Publikum vorgelegt wurden,
gingen an den Forschern lange Zeit fast spurlos vorüber, während doch zu
gleicher Zeit die aus der Asche wiedererstehenden Städte Italiens Herculanum
und Pompeji in der ganzen gebildeten Welt, bei Gelehrten wie Laien die aller-
lebhafteste Theilnahme fanden. Freilich ward man hier auf das Unmittelbarste
in das Leben der Alten selbst eingeführt, aber es waren doch nur kleine Pro-
vinzialstädte aus verhältnißmäßig später -römischer Zeit; in Athen dagegen ver¬
mochten die höchsten Meisterwerke von der glänzendsten Culturcpvche des ge-
sammten Alterthums das beredteste Zeugniß abzulegen.
Es sind vorzugsweise Engländer, denen wir die erste umfangreichere Kunde
des hellenischen Landes verdanken. Auf der einen Seite entzog Lord Elgin die
kostbarsten Werke des Phcidias und seiner Schule den muthwilligen Zerstörungen
kaltbereitcnder oder bilderschändender Türken, versetzte sie von den schwer zu¬
gänglichen Höhen der athenischen Mopolis in die Prachtsäle der britischen
Hauptstadt und machte hierdurch eine wirklich eindringende Würdigung, eine
lebendige Kenntniß und Anschauung dieser Werke und damit des eigentlichen
Centrums der ganzen alten Kunst erst möglich. Dies ist jedoch nur etwas
Einzelnes, wenn auch von'noch so großer Wichtigkeit. Daneben ist aus dem
ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts mit besonderem Dante namentlich dreier
Männer zu gedenken, welche mit unermüdlicher Ausdauer, keine Strapaze und
Mühsal scheuend — wie sie das Reisen in einem gänzlich uncivilisirten Lande
nothwendig mit sich brachte —, das ganze Hellas allmälig für die Wissenschaft
wiedereroberien: Dodwell, Gell und Leake. Ausgerüstet mit einer unverächt¬
lichen Kenntniß der alten Literatur, erfüllt von echter warmer Begeisterung für
das Alterthum durchstreiften diese drei Männer bald einzeln, bald gemeinsam
oder auch im Verein mit anderen Reisenden. Stackelberg. Bröndsted, Haller,
jeden Winkel Griechenlands, geleitet von dem vor siebenzehn Jahrhunderten
geschriebenen Reisehandbuch des Pausanias, dem treuesten Führer durch das
alte Hellas im neuen. Und zum Erstaunen der Reisenden bot das noch fast
unbekannte Land auf Schritt und Tritt den Forschern reiche Reste der alten
Cultur. Unzählbar ist namentlich die Menge der Burgen und Festungen, deren
Mauern. Thürme und Thore noch mehr oder minder wohlerhalten die Haupt-
stälten der griechischen Sage und Geschichte bezeichnen; von den regelmäßigen
Anlagen aus schön behauenen Quadern an, wie sie die durch Epaminondas
gegründeten Städte Messene und Mantincia darbieten, bis hinauf zu den nicht
minder kunstvollen Bauten der alten Heroenzeit. Da liegt im innersten Winkel
der Ebene von Argos. halb auf der Höhe, der Burghof von Mykenä, umfriedigt
von einem wohlgefügten Mauerring aus vieleckigen, sorgfältig an einander ge¬
paßten Steinen. Ueber dem Thor halten neben einer gcbälktragenden Säule,
der Andeutung des Palastes, zwei majestätische Löwen von hochalterthümlichem
Stile Wacht, treu ausharrend an dem Posten, den sie wohl schon zu jener Zeit
inne hatten, da nach hellenischer Sage die schauerliche Familientragödie des
Pelopidengeschlechts sich hinter diese» Mauern abspielte, von der Mahlzeit des
Thyestes an bis zu Orestes Muttermord. Sage und Drama im Verein haben
diesen Ort für alle Ewigkeit geweiht. Dicht daneben liegen in die Erde hinein¬
gegraben mächtige kuppelförmige Gewölbe mit Resten einstmaliger Erzbekleidung
an den Wänden, die Grab> und Schatzkammern der Atriden, welche noch heute
den Namen Agamenmons im Volke bewahren und Zeugniß ablegen von dem
sagenberühmten Reichthum des von der homerischen Poesie gefeierten Geschlechtes.
Wirkt hier neben den Erinnerungen der Sagenzeit die Massenhaftigkeit der ur¬
alten Bauten, so ist es anderswo das Ebenmaß, die Schönheit, die künstlerische
Vollendung. So namentlich in den herrlichen Tempelruinen, die von dem
schroffen Cap Sunion. der Südspitze Attikas, oder von den kahlen Felsen Aigi-
nas hinabschauen auf das weite blaue Meer, selber von dem reinsten Aether
umgössen, die unweit Phigaleias halbversteckl im baumreichen Hochgebirge auf
einsamer Höhe thronen, die das lautlos verlassene Wiesenthal Nemeas oder das
von Erdbeben verwüstete Stadtgebiet der alten Meerbeherrscherin Korinth zieren,
die endlich in unerreichter Schönheit des Marmors wie der Formen Stadt und
Burg Athen ihren unvergleichlichsten Schmuck leihen. Wie der Fels der Akropolis
stolz und gebietend aus der weiten Ebene hervorragt, so ist gleichsam durch
Naturnothwendigkeit der Parthenon aus dem Felsen emporgewachsen; die Kunst
hat sich auf das Innigste der Natur angeschmiegt, ihr das Schöpfungsgcheim-
riß abgelauscht und tritt nur als Fortsetzung, als Krönung und Abschluß der
Natur auf.
Wiederum eine neue Welt öffnet sich mit dem griechischen Jnselmeere, eine
Welt, in der wir den ganzen Zauber der Odyssee noch alle Tage von neuem
erproben können. Hat auch die strenge Forschung das homerische Ithaka als
ein bloßes Erzeugniß der frei schaffenden Poesie nachgewiesen, dem das wirkliche
Ithaka in allen wesentlichen Punkten nicht entspricht, dennoch ruhen jene Dich¬
tungen auf dem realsten Boden wirklicher Anschauungen, nur daß es das Recht
des Dichters ist, in einem Bilde zu vereinigen, was in der Natur weit zer¬
streut sich vorfindet. Wie einladend ist es jetzt wie einst für den Schiffer, von
Insel zu Insel sein Fahrzeug zu lenken, immer ein nahes Ziel im Auge, immer
auf allen Seiten von den schimmernden Kykladen umringt, und doch an jedem
Morgen in einer neuen, nicht minder schönen Umgebung. Läßt der Wind nach,
so wird auch heute noch zu den Rudern gegriffen, die in tactmäßigem Schlage
das Schiff vorwärtstrciben; wird der Wind oder die Strömung zu mächtig, so
lenkt der Steuermann in den nächsten schützenden Hafen, wo der Reisende eines
gastlichen Empfanges sicher sein kann. Der Eine ladet ihn in sein Haus, wo
die Tochter ihm einen Blumenstrauß zum Willkommen, die Gattin Erfrischungen
darreicht, der Andere sendet dem Fremden ein Lamm, der Dritte einen Korb
mit köstlichem Obst — man glaubt sich zum König Alkinoos und zu seinen
Phäaken versetzt! Fehlen doch auch dessen Zaubergärten nicht, wo Orangen und
Citronen in ganzen Wäldern die Luft mit ihrem Duft erfüllen, wo aus dem
breiten Blätterfuße die Aloe ihren hohen Schaft emportreibt, wo Gruppen
schlanker Palmen majestätisch ihr Haupt wiegen. Dabei steht das Haus nicht
leer von Besuchern, welche dem Ankömmling die alten homerischen Fragen
vorlegen:
Wer und woher der Männer? wo bauscht du? wo die Erzeuger?
Es ist auch wohl eine dunkle Kunde zu ihnen gedrungen von jenem kime-
rischen Lande, „woher unser König ist", wo das Wasser im Winter einem
Spiegel gleicht und wo die Menschen sich eiserne Platten unter die Füße
schnallen; ob es aber dort auch Häuser giebt, ob jene fernen Barbaren auch
Pferde haben, darüber sind die Meinungen getheilt. Abends versammelt sich
die Jugend,
Blühende Jünglinge dort und viclgcfeicrte Jungfrau»
Tanzen, all' an einander die Händ' an dem Knöchel sich haltend.
Bald nun hüpfen sie dort mit wohlgemessenen Tritten
Leicht herum, so wie oft die befestigte Scheibe der Töpfer
Sitzend mit prüfenden Händen herumdreht, ob sie auch laufe;
Bald dann hüpfen sie wieder in Ordnungen gegen einander.
Zahlreich steht das Gedräng' um den lieblichen Reigen versammelt.
Innig erfreut; vor ihnen auch singt ein göttlicher Sänger
Rührend die Harfe, und zween Haupttummeler tanzen im Kreise,
Wie den Gesang er beginnt, und drehen sich hierhin und dorthin.
Auch der Inhalt des Gesanges currere an die homerische Linosklage und
die „Heldenlieder", Es sind selbstgedichtete Lieder von den Thaten berühmter
Freiheitskämpfer aus dem Türkenknegc, von den letzten Räubern, deren Hin¬
richtung bedauert wird, „denn so tapfer sind wir nicht, wenn es einmal gegen
den Türken geht", von Charos, dem verderblichen Alten, der dem Hirten seine
Heerde raubt und ihn selbst zum Hades hinabzieht; oder es wird eine Sage
berichtet von dem heiligen Dionysios, der in seiner Kindheit nach Naxia zog
und dort die erste Rede pflanzte, welche schon selbiges Tages die Naxioten er«
quiekte und berückte. Wer den Dichter will versteh», muß in Dichters Lande
gehn. Hier ist alles homerisch, auch die Delphine, welche das Schiff umspielen,
wie einst das tyrrenische Fahrzeug, das den Gott Dionysos trug; ja in Syra
wimmeln zur Erinnerung an den ältesten berühmten Syrier, an den „göttlichen
Sauhirten" die steilen Straßen der Oberstadt von den Thieren, deren Hut auf
Ithaka einst dem geraubten Königssohne oblag. Freilich leben auch die unholden
Gesellen der Odyssee fort in den KIcphtcn und Räubern; nur die verderblichen
Ungeheuer jener Schiffermärchcn sind ganz und gar verschwunden oder haben
doch unbedeutenderen, weniger gefährlichen als lästigen Nachfolgern Platz
gemacht.
Erwecken so in Griechenland — und wenig anders ist es in Italien —
die Neste der Kunst wie die lebendige Umgebung bei jedem Schritt das Bild
der alten Zeit, so wird dieser Eindruck noch bedeutend erhöht durch den
unvergänglichen Hintergrund, den die stets sich wiederverjüngende Natur heute
Wie damals durch die ganze Gestaltung der Gegend geschaffen hat und schasst.
Wenn wir in den wild zerklüfteten Gebirgen des nördlichen Arkadiens in schauer¬
lichster Einöde einer kolossalen, himmelanstrcvenden Bergwand gegenüberstehen,
über welche im innersten Winkel der Schlucht der schmale Staubbach der Styx
hoch aus der Schneedecke des Bergstockes herabrinnt, da wird die Phantasie der
alten Hellenen in uns wieder lebendig, welche diese Gegend in die Unterwelt
versetzte, da begreifen wir die Gewalt des Schwures, welcher selbst die olympi¬
schen Götter band:
Zeuge mir jetzo die Erd' und der wölbende Himmel da oben,
Auch das kräuselnde Wasser des Styxfalls, was ja der größte
Und der furchtbarste Eidschwur ist für die seligen Götter.
Auch der alte Glaube an die gefährlichen Wirkungen des eiskalten Wassers ist
noch jetzt im Volke lebendig, niemand trinkt von der Fluth, die das umliegende
Gestein so giftig grün färbt. Nicht minder gewaltig wirkt auf ein für Natur-
eindrücke empfängliches Gemüth die enge Thalschlucht, an deren nördlichem
Rande Delphi liegt, terrassenförmig rasch emporsteigend zu dem künstlichen Pia-
denn des Tempos, bis die überragenden Steilwände des Parnasses eine Grenze
sehen: mit den geringsten Mitteln Hai hier die Natur einen Raum Von ernster
imposantester Großartigkeit geschaffen. Daneben fehlt es auch an freundlicheren
Bildern nicht. Reiten wir zum Beispiel i» die ätherische Ebene hinab und
überschauen die weite Fläche, aus deren Mitte der schroffe Tafelberg der Akro-
polis und der allmälig ansteigende Lykabettos mit seiner kühnen Felsenkrone
sich erheben, ringsum eingerahmt von den feinst geschnittenen Bergumrissen.
Wie ein leise bewegtes Giebelfeld hebt sich hier der pentelische Marmorberg
empor, dort senkt sich der massige Hymettos. noch heute durch seine Bienen
ausgezeichnet, steil gegen das Meer. Ein breiter silbergrüner Streifen durchzieht
die sonst fast baumlose Ebene, es sind die alten heiligen Oelbäume des Zeus
und der Athena. deren Oel den Siegern im panathenäischen Wettkampfe als
Preis gegeben ward. Von den Rändern des Kephissos ziehen sich Gärten Jahr
für Jahr näher an die niedrige Felshöhe des Kolonos heran, und bald wird
wie zu Sophokles Zeiten wiederum
singen in schattigen Auen
Die Nachtigall zahlreich schwärmend
Ihr hell ertönendes Lied,
es werden auch wieder muntere Narcissen und Krokus erblühen, wo jetzt nur die
bleiche Todtenblume Asphodelos den marmornen Grabstein Karl Otfried Müllers
um giebt.
Müller liegt dort begraben, eines der edelsten Opfer, das die wiedergewon¬
nene Anschauung Griechenlands von der Wissenschaft gefordert hat, einer der
eifrigsten Vorkämpfer in Wort und That für die damals noch neue Richtung
der Altertumswissenschaft. Schon im Beginne unseres Jahrhunderts hatte ein
Mann, dem wir die Einsich! verdankten, daß die homerischen Gesänge das Er¬
zeugnis? nicht eines einzelnen Dichters, sondern eines ganzen dichtenden Zeit¬
alters seien, hatte Friedrich August Wolf von der Philologie die engen Fesseln
abgestreift, welche die pedantische Schulgelchrsamkeit ihr angelegt hatte, und sie
zur Altertumswissenschaft erhoben, die keine Seite des antiken Culturlebens
unberücksichtigt zu lassen, sondern alle in einem einzigen B>the zusammenzufassen
hat. Damit war der Weg gewiesen aus der Enge der rein grammatischen Be¬
trachtung und der zersplitteristcn Kleinigkeitskrämerei zu der Ausfassung des
classischen Alterthums als einer einheitlichen, lebendig sich entwickelnden Geistes¬
bewegung. Man brauchte nicht zu sorgen, daß darüber die geringeren Aufgaben
der Philologie vernachlässigt werden möchten. Im Gegentheil, seit den Tagen
der italienischen Renaissance ist kein Zeitalter so unermüdlich thätig gewesen,
das philologische Material herbeizuschaffen, zu sichten, zu läutern. Wiederum
bleibt keine Bibliothek nndurchsucht, immer neu ans Liebt tretende Handschriften
bieten uns die alten Schriftsteller in reinerer Gestalt dar, große Sprachmeister
wie Immanuel Better. Gottfried Hermann und August Meineke, wie Karl Lach¬
mann, Nikolaus Madvig, Moritz Haupt und Friedrich Ritschl haben uns gelehrt, die
alten und neuen Schätze methodisch zu benutzen und die Mängel der Ueberlieferung
nach Kräften zu beseitigen, während August Böckh und Theodor Mommsen für
die inschristlichen Quellen die gleiche Aufgabe gelöst haben. So erhalten wir
erst jetzt eine wirklich sichere Grundlage für alle weitere philologische Arbeit.
Außerdem gewinnt die Grammatik nicht allein durch die erst so ermöglichte ge¬
nauere Durchforschung der classischen Sprachen selber, sondern ebenso sehr durch
die Einsicht in den Zusammenhang dieser Sprachen mit den anderen des indo¬
germanischen Stammes, durch die Sprachvergleichung, einen ganz neuen Auf¬
schwung. Je größer nun aber in den bezeichneten Gebieten die Thätigkeit ist,
je eifriger Kritik und Grammatik gepflegt werden, desto nöthiger ist es, auch
das letzte gemeinsame Ziel, wie Wolf es vorgezeichnet hatte, nicht aus den
Augen zu verlieren. Hierfür gebührt nächst Wolf und fast mehr noch als ihm
das Hauptverdienst August Böckh, der es taufenden von begeisterten Schülern
fest in die Seele geprägt hat, die Philologie habe die möglichst vollständige
Wiedererkenntniß alles dessen zum Ziele, was in dem geistigen Leben der
classischen Völker einmal erkannt oder empfunden ward. Denken und Empfinden
war aber bei jenen Völkern so wenig wie bei irgendeinem andern stets das
gleiche, sondern hatte im Laufe der Zeiten und Ereignisse eine höchst mannig¬
fache Entwickelung durchzumachen. Demzufolge wird die Philologie, so auf¬
gefaßt, unausbleiblich eine historische Wissenschaft, wie sie auch ihr Name als
die „Liebe zu den Ueberlieferungen" bezeichnet, sie wird am letzten Ende zur
Geschichte der alten Cultur. Die Grammatik gestaltet sich nunmehr um zur
Geschichte der Sprache als der Form für die Denkweise des Volkes, wandelbar
wie die Denkweise selbst. Die Mythologie hört auf, die Mythen und Sagen
der verschiedenartigsten Zeiten zu einem buntscheckigen und daher albern er¬
scheinenden Bilde zusammenzuwerfen, sie sucht vielmehr nachzuweisen, wie die
religiösen Anschauungen des Volkes allmälig sich entwickeln und umgestalten,
im Verein und in Wechselwirkung mit allen übrigen Seiten des Volksgeistes:
sie wird zur Religionsgeschichte. Es erhellt nun auch, von welcher Wichtigkeit
für die Philologie eine gesunde Entwickelung der übrigen Geschichtsforschung ist.
Schwerlich ist es zufällig, jedenfalls aber als ein besonderes Glück auch für die
Altertumswissenschaft anzuerkennen, daß zu gleicher Zeit mit dem geschilderten
Aufschwünge der Philologie ein Mann wie Niebuhr die Geschichtsforschung neu
begründete. Nicht allein daß er zuerst umsichtige methodische Kritik der Quellen
anwandte, er rückte uns ja auch zuerst die alte Geschichte dadurch näher, daß
er zeigte, wie die Volksentwickelung sich im Alterthum nach den gleichen Ge¬
setzen Vollzieht, wie noch heutzutage, so weit nämlich die äußeren Bedingungen
gleiche oder ähnliche sind. Wenn Niebuhr so die römische Geschichte aus der
früheren abstracten Auffassung befreite, wenn er sie sozusagen mit Fleisch und
Blut versah, so ward er freilich zunächst nur von den ihm angeborenen Eigen¬
schaften des echten Historikers, von lebendigstem Gefühl und feinstem Tact für
historische Erscheinungen, sowie von seinen staunenswerthen sonstigen Kenntnissen
geleitet; geschärft aber ward sein Blick nachträglich durch die langjährige leben¬
dige Anschauung des heutigen Bodens und Volkes von Rom. Dies Hinein¬
leben in den Charakter, in die Denkweise, in die Bräuche der heutigen Römer
und Italiener überhaupt, dann das klare Bild des Locals, i» dem die römische
Geschichte namentlich der ersten Jahrhunderte sich abspielt, das bewirkt ebenfalls
zu gutem Theile den wunderbaren Zauber der Frische und Lebendigkeit, welcher
sich über das Werk des größten Schülers Nievuhrs, die römische Geschichte
Theodor Mommsens breitet.
Grade hier greift die Thätigkeit eines anderen Mannes ein. dessen Wirk¬
samkeit für den schon mehrfach bezeichneten Gesichtspunkt nicht hoch genug an¬
geschlagen werden kann; ich meine den Schöpfer der modernen Geographie Karl
Ritter. Er hat zuerst scharf und consequent das Wechselverhältniß hervorgehoben,
welches zwischen der Natur eines Landes und dem darin wohnenden und sich
entwickelnden Volke besteht. Einseitig freilich würde es sein, wollte man die
Volksentwickelung lediglich als ein Product klimatischer und sonstiger äußeren
Einwirkungen der umgebenden Natur betrachten und alle anderen mitwirkenden
Bedingungen ignoriren, wie eng aber der Zusammenhang zwischen Natur und
Geschichte in der That ist, das zeigt sich wohl an keinem Lande so greifbar
wie an Griechenland. Italien mit seinem langen Rückgrat der Apenninenkette
ist weit einförmiger gestaltet und bietet einer einheitlichen Machtconcentration
weit weniger Hindernisse dar. Dort, in Griechenland, bilden zuvörderst die
fortlaufenden mehrfachen Reihen von Inseln, welche das äzäische Meer durch,
ziehen, die natürliche Brücke zwischen den reichen Flußebenen und weit vor¬
gestreckten Halbinseln des vorderen Kleinasiens. und der durch den gleichen
Formenreichthum ausgezeichneten Ostküste des griechischen Halbinsellandes. Das
ägäische Jnselmeer ist in der That der Mittelpunkt Griechenlands und der grie¬
chischen Geschichte, der Vermittler zwischen den asiatischen und europäischen
Hellenen. Während an der Ostküste Griechenlands ein schöner Hafen dem
andern, eine reichentwickelte Landschaft der andern folgt, ist die Italien zu-
gewandte Rückseite des Landes mit wenigen Ausnahmen durch flache sandige
Uferstrecken oder durch gefährliche zerrissene Steilküsten der Schiffahrt unzugäng¬
lich. Dem entsprechend tritt die Bedeutung dieser Landestheile in der Geschichte
zurück. Das östliche Arkadien, durch hohe mit einander Verbundene Bergzüge
in viele geschlossene Thäler getheilt, war der Sitz einer ganzen Reihe von selb¬
ständigen kleinen Herren oder Freistaaten, während der westliche nicht so klar
gegliederte, sondern von rauhen Gebirgen planlos durchzogene Theil derselben
Landschaft sich in unzählige unbedeutende Landgemeinden zersplitterte. Athen,
in der Mitte einer steinigen, ziemlich unfruchtbaren, auf drei Seiten von hohen
Bergen eingeschlossenen Ebene gelegen, ward von der Natur selbst auf das Meer
gewiesen, gegen das sich die Ebene im Südwesten öffnet; die köstlichste Hafen¬
halbinsel, welche die Welt kennt, die des Peiräeus, war die natürliche Wiege
der attischen Seemacht. Wie anders dagegen Sparta! Abgeschnitten vom Meere,
ringsum von schützenden Bergen umgeben, liegt das hohle Lakedämon, wie eine
Mulde voll des reichsten Fruchtsegens; hier der auch im heißesten Sommer nie
versiegende Eurotas, dessen Bette mit röthlichem Oleander auegesetzt ist, —
dort, unmittelbar am Fuße des jähen schneebedeckten Taygetos, ein lang hin¬
gestreckter Wald von Oelbäumen und Orangen — inmitten üppige Saatfelder.
Da hatten die Spartiaten alles beisammen, dessen sie bedurften, und doch sorgte
die rauhe Gebirgsmauer dafür, daß sie nicht verweichlichten, während in dem
benachbarten Messenien der dorische Bruderstamm verkam und unterging, weil
der noch weit reicheren Natur die Abgeschlossenheit und die rauhe, die Kräfte
Stadtende Gebirgsumgcbuug nicht in gleichem Maße zur Seite stand. Blicken
wir endlich noch nach Nvrdgricchenland, so finden wir, daß die einzige große
Landstraße von dem Nordrhore Griechenlands, den Thermopylen, nach dem
Peloponnes durch den weiten boiotischen Bergkessel führt, eingeengt zwischen
hohen Bergen und weiten Sumpfstrecken, bei Chäroneia, Orchomenos, Koroneia
vorbei bis in die südlichere Ebene von Leuktra und Platäa — so viel Namen,
so viel Entscheidungskampfe, von der glorreichen Abwehr der Barbaren, durch
die blutigen Fehden der griechischen Staaten unter einander, bis zum Unter¬
gange griechischer Selbständigkeit. Die Natur selbst hatte den Kriegen diese
Stätte bezeichnet.
Die Beispiele werden genügen, um auf den Zusammenhang zwischen der
physischen Beschaffenheit des Landes und der Entwickelung der Bewohner hin¬
zuweisen. Als Nun auf Böckhs Anregung die Untersuchung der einzelnen
griechischen Stämme, Staaten und Städte nach ihren Besonderheiten begann,
da machte sich bald auch für die Philologie die Nothwendigkeit fühlbar, das
Land selbst in seiner Bielgeflaltigkcit kennen zu lernen. Dies Bedürfniß im
Interesse der Philologie hat zuerst K. O. Müller nar erkannt und schon in
seiner Erstlingsarbeit über Aegina ausgesprochen; er hat es weiter verfolgt in
allen seinen späteren Werken und hat die ebendahin gerichteten Bestrebungen
Andrer mit dem lebhaftesten Interesse begleitet und gefördert, bis es zuletzt ihm
selbst möglich ward Griechenland aufzusuchen — um nicht wieder heimzukehren.
Sein eigener Lieblingsgott Helios-Apollon traf >du i» Delphi selbst, an den
Grundmauern des pythische» Tempels, mit den tödtlichen Pfeilen seiner Juli-
sonnc. Aber sein Reisebegleiter und späterer Nachfolger aus dem göttinger
Lehrstuhl, Ernst Curtius, zugleich ein Schüler Ritters und Böckhs. hat das
Werk des Meisters weitergeführt. Seine Schilderung des Peloponnesus kann
den Mangel eigner Anschauung, so weit das überhaupt möglich ist. weniger
fühlbar machen; seine Darstellung der griechischen Geschichte wird stets da am
schönsten, wo Naturschilderung und Erzählung der Thaten im Verein die Ver¬
gangenheit als Gegenwart lebhaft empfinden lassen.
Auch nach einer andern Seite ist zu gleicher Zeit in den griechischen Län¬
dern ebenso wie in dem Schwesterlande Italien gesucht und geforscht, auf dem
Gebiete der alten Kunst. Die von Winckelmcinn angebahnte, seitdem ins Leben
getretene Auffassung der Alterthumswissenschaft wies auch der Kunst ihre richtige
Stelle an. Die Schöpfungen derselben waren nicht mehr ausschließlich zu dem
Handlangerdienst verurtheilt, manche Dunkelheiten der Literatur durch Illustration
aufzuhellen. Gewiß gewähren sie auch diesen Nutzen, die Archäologie leistet
der Mythologie und Literaturgeschichte sogar noch erheblichere Dienste, indem
sie aus dem Schatze ihrer Denkmäler wichtige Ergänzungen der anderweitig uns
überlieferten Kunde darbietet. Aber die eigentliche Bedeutung der Kunstwerke
ist eine andre. selbständig und in gleicher Berechtigung stehen sie neben den
Erzeugnissen der Literatur, da sie nicht minder eine originale Schöpfung des
Geistes sind, als die Werke der Poesie. Ja die Alterthumswissenschaft kann
einer eingehenden Betrachtung der Kunst um so weniger entrathen, je ausnahms¬
loser sich zumal in dem hellenischen Volke das Bedürfniß zeigt, für den Inhalt,
den Kern, eine entsprechende Form zu finden, welche das Wesen und die Be¬
deutung desselben in veredelnder Weise zum Ausdruck bringt und erklärt, das
heißt eben eine künstlerische Form. Wo nur irgendein Gedanke eine Dar¬
stellung im Raume erheischte oder zuließ, die bildende Kunst der Griechen hat
sich dessen bemächtigt, von den zum täglichen Gebrauch bestimmten Gerüchen
bis zu den Schilderungen der Großthaten der Vorzeit, in glänzenden Werken
der Plastik und Malerei, bis zu dem unvergleichlichen Organismus des helleni¬
schen Tempels, wo alle Künste sich zum höchsten sichtbaren Ausdrucke der reli¬
giösen Gedanken und Gefühle vereinigt haben. Wer an all der Pracht vor¬
übergeht, ohne ihr mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken, der beraubt nicht
nur sich selber hohen Genusses, er lernt auch die Griechen nur halb kennen, er
gelangt nie zu einer vollen Anschauung hellenischen Geisteslebens, hellenischer
Schöpferkraft. Die Kunstgeschichte verlangt gebieterisch ihren Platz neben der
Geschichte der Literatur.
Die Entdeckungen auf diesem Felde gehen zum Theil Hand in Hand mit
der Ausbreitung der geographischen Kenntniß von den classischen Ländern. Es
ward oben bereits auf die Burgen und Tempelruinen Griechenlands hingewiesen,
welche zu Anfang unsres Jahrhunderts entdeckt oder durchsucht wurden; es ist
um so weniger nöthig diesen Punkt hier weiter zu verfolgen, als vor nicht gar
langer Zeit in diesem Blatte eine Betrachtung der Aufgaben, welche die Ge>
schichte der alten Kunst heutzutage zu lösen hat, auch zu einem Ueberblick über
die wichtigsten neueren Entdeckungen auf diesem Gebiete führte. Hier gilt es
nur darauf aufmerksam zu machen, wie leicht es allmälig einem jeden gemacht
wird, sich einige eigne Anschauung antiker Kunstwerke zu verschaffen. Fast jede
Universitätsstadt besitzt, seit Welcker in Bonn den Anfang gemacht, ihr größeres
oder kleineres Gipsmuseum; meistens fehlt es auch nicht an einem Docenten,
der die Adepten die schwierige Kunst des Sehens lehrt. Und wen führte sein
Weg nicht einmal nach Berlin und in das neue Museum? Audebert von dem
mykenäischen Löwenthor, dessen Abguß die preußische Expedition vom Jahre
1862 heimgebracht hat, mag er dort die ganze Folge der griechischen und rö¬
mischen Kunstentwickelung rasch überfliegen oder in sinniger Einzelbetrachtung
sich zu eigen machen, je nachdem Zeit und Lust ihn treibt. Andern wird die
nächste Bibliothek dies oder jenes Prachtwerk zu Gebote stellen, aus dem sie
sich ihre Anschauung holen können. Die Bemühungen des Buchhandels um
Popularisirung der Kunstforschung und um zweckmäßige Illustration der zahl¬
reichen, jenem Zwecke dienenden Handbücher setzen weiterhin einen jeden in den
Stand, seiner Bibliothek, auch der bescheidensten, das eine oder das andere
Anschauungsmittel einzuverleiben. Endlich haben sich längst der Mode der
Bisttenkartenporträls auch die alten Statuen und Büsten anbequemen müssen;
der Apollon vom Belvedere oder die sinnende Polyhymnia, auch sogar die
melische Aphrodite, obgleich ohne Arme und in gar nicht salonmäßigem Kostüm,
erfahren nicht selten die Ehre, im Photographiealbum den Platz hinter den
Schönheiten der Familie einzunehmen.
Aber noch weiter! Lange schon hat der alte Spruch
nicht ist jeglichem Manne die Reise vergönnt nach Korinthos
seine Wahrheit verloren und verliert sie von Tage zu Tage mehr. Italien ist
längst das Ziel zahlreicher Ferienreisen geworden, und die Zahl der jungen und
alten Alterthumsforscher, welche ein oder auch wohl mehre Wanderjahre dort
zugebracht haben, ist nicht mehr gering. Der preußische Staat entsendet all¬
jährlich einige junge Philologen aus öffentliche Kosten dahin, in richtiger Er¬
kenntniß der Bedeutung, welche die selbsterworbene Anschauung für die späteren
Schulmänner oder Universitätslehrer haben muß. Es ist ein rühmenswerther
Anfang, bescheiden freilich, wenn wir erwägen, welch ungeheure Summen die
Nachbarn jenseits des Rheins seit langer Zeit auf ihre 6voies trantzaisös in
Rom und Athen und auf ihre zahllosen mi8sions seierrMcjULS verwenden.
Griechenland ist schwerer zu erreichen, sowohl wegen der größeren Entfernung
und der mangelhaften Transportmittel, wie wegen der bedeutenderen Kosten einer
griechischen Reise. Und doch wächst auch die Zahl philologischer Namen im
athenischen Fremdenbuche unaufhörlich; ja es ließe sich ein deutscher Schulmann
nennen, der seine um acht Tage verlängerten Herbstferien von nunmehr vier¬
wöchentlicher Länge dazu benutzte, unmittelbar aus der Schulstube heraus in
acht Tagen bis Athen zu reisen, in den folgenden zwei Wochen Athen und
Korinth. Argos und Mykenä, Delphi und Theben, die Schlachtfelder von Chai-
roneia. Platäa und Marathon zu besuchen und dann eiligst heimzukehren;
Sonntag Abend wieder angekommen, tritt er am Montag Morgen vor seine
Schüler, und sicherlich hat die Stunde, da er ihnen frisch von den gesehenen
Wundern erzählt, tieferen Eindruck auf diese gemacht und reichere Anregungen
hinterlassen, als manche Woche des gesammten sonstigen Unterrichts. Sollen
wir noch einen Mann namhaft machen, der zeigen kann, welche Früchte die
Benutzung aller Hilfsmittel des Lernens und Schauens in einer glücklich org«-
nistrten, für alles Schöne und Echte empfänglichen Natur zu zeitigen vermag?
Es ist Friedrich Gottlieb Welcker. In liebevoller Vertrautheit mit den Klassikern
aufgewachsen, hat dieser Mann zuerst in der Jugend mehre Jahre in Rom
zubringen können; dann war es ihm, den Sechzigern nahe, noch beschieden
Griechenland und Kleinasien zu besuchen, grade noch zeitig genug, um alle Ein¬
drücke in voller Frische in sich aufzunehmen. Ohne je eine philologische Vor¬
lesung gehört zu haben, ist er einer der anregendsten und begeisterndsten Lehrer
der Wissenschaft geworden und hat sein ganzes Leben lang unablässig und
mit dem glänzendsten Erfolge gestrebt, das Alterthum in seiner Gesammtheit
zu erfassen und den Jüngern lebendig vor Augen zu stellen. Die griechische
Poesie in jeder Aeußerung zu verfolgen, in den verschiedenen Gattungen der
Literatur nicht minder als in den Werken der bildenden Kunst und in
den tiefsten Schöpfungen des Glaubens und religiöser Speculation, das
ist die Arbeit seines mehr als achtzigjähriger Lebens. So steht denn auch
seine ganze Thätigkeit selber da wie ein Kunstwerk, abgerundet und in sich
geschlossen, eine Quelle reichster Belehrung, dauernden Genusses, dankbarer
Bewunderung.
Schreiber dieses ist ein junger Justizbeamter und war einjähriger Frei¬
williger in der preußischen Armee. Er will es versuchen ein möglichst anschau¬
liches und vorurtheilfrcies Bild von dem zu geben, was die zahlreichen jungen
gebildeten Leute, die in den ncupreußischen Ländern jetzt zum Militärdienst
herangezogen werden, bei ihrem Eintritt erwartet. Er hofft ihnen damit
zugleich eine Beruhigung zu gewähren. Denn kaum irgendetwas wird in den
gebildeten Kreisen der neu erworbenen Landestheile als eine schwerere Last em¬
pfunden, als die Nothwendigkeit der persönlichen Ableistung des militärischen
Dienstes. Man wird diese Last um so mehr fürchten, als tausend Einzeln-
heiten über die schweren Anforderungen, die körperlichen Strapazen, die rück¬
sichtslose Behandlung, unter der die preußischen Freiwilligen zu leiden haben,
in die Welt gedrungen sind, selten aber sich eine Stimme erhebt, die die köst¬
lichen Früchte-des militärischen Dienstes, die daraus hervorgehende körperliche
und geistige Frische, das lebendige Vaterlandsgefühl mit beredten Worten preist.
Art. 34 der Preußischen Verfassungsurkunde sagt: „Alle Preußen sind wehr¬
pflichtig." Alle diejenigen jungen Leute, welche sich bis zu ihrem zwanzigsten
Lebensjahre eine gewisse wissenschaftliche Bildung angeeignet haben, welche durch¬
schnittlich der auf der Secunda eines deutschen Gymnasiums erworbenen ent¬
spricht, brauchen nicht drei, sondern nur ein Jahr beim stehenden Heer zu diene».
Sie heißen einjährig Freiwillige, haben als Abzeichen schwarz-weiße Schnüre
um die Achselklappen, erhalten im Frieden keine Löhnung und müssen sich die
Beklcidungsgegenstcinde selbst anschaffen. Die Waffen und Ausrüstungsgegen¬
stände (Gewehr, Seitengewehr, Tornister, Munition :c.) erhalten sie vom Staat
leihweise gegen eine geringe Vergütung.
Ausgenommen von dieser Pflicht sind selbstverständlich alle körperlich Un¬
tüchtigen — ein sehr dehnbarer und ausschließlich in das Gewissen der unter¬
suchenden Aerzte gestellter Begriff — außerdem nur die der Theologie Beflissenen,
wenn sie bis zu ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahre das erste theologische
Examen bestanden haben, und selbstverständlich die sich dem Militärstande Wid-
menden. Die Mediciner brauchen nicht mit der Waffe zu dienen, sondern
können nach Absolvirung des Doctorexamens ihrer Dienstpflicht genügen, indem
sie ein Jahr lang unentgeltlich als Militärärzte fungiren.
Andere Ausnahmen giebt es nicht. Wer sich die betreffenden Kenntnisse
angeeignet hat, muß sich in seinem zwanzigsten Lebensjahre stellen, er erhält
dann einen Berechtigungsschein als einjährig Freiwilliger zu dienen, und den
Eintritt in das Heer bis zur Vollendung des dreiundzwanzigsten Lebensjahres
hinauszuschieben. Im Fall einer Mobilmachung geht aber das Recht dieses
Aufschubs verloren.
Der einjährig Freiwillige tritt in das Heer als Gemeiner ein, er darf
sich die Waffengattung (ob er als Infanterist, Artillerist, Cavalerist oder Pionier
dienen will) und den Truppentheil sowie die Garnison selbst wählen. Er leistet
gleich nach seinem Eintritt den Fahneneid und untersteht selbstverständlich der
Militärgerichtsbarkeit, er muß alle Dienste des Gemeinen thun, hat jeden Char-
girten der ganzen Armee, also auch jeden Unteroffizier, als seinen Vorgesetzten
zu betrachten, muß die Uniform tragen und ist zu unbedingtem Gehorsam gegen
die Befehle der Vorgesetzten, zur Subordination verpflichtet. Er wird mit dem
gemeinsten Proletarier, ja mit solchen, die die Ehrenrechte verloren haben, in
Reih und Glied gestellt, und hat im Princip nichts vor ihm voraus, auf keine
mildere Behandlung als dieser Anspruch. Der Weg der Beschwerde steht ihm,
wie jenem in gewissen sehr beschränkten Formen offen, doch darf er sich bei Ver¬
meidung der strengsten Strafe erst nach Erfüllung desjenigen Befehles, durch
den er sich verletzt fühlt, beschweren.
Das ist denn freilich hart genug, und oft genug mag sich der gebildete
junge Mann innerlich empören über die rauhen und sehr derben Zurechtwei¬
sungen der meist an Bildung tief unter ihm stehenden Unteroffiziere, noch mehr
aber über die Ueberhebung, mit der zuweilen blutjunge und oft nur sehr ober¬
flächlich gebildete Offiziere die Freiwilligen behandeln.
In der That könnte bei der unbedingten Gewalt, die den Vorgesetzten über
die Untergebenen gegeben ist, die Lage des Freiwilligen eine unerträgliche wer¬
den. Aber hier tritt die Praxis mildernd ein: der Dienst wird nicht durch
die unmittelbaren Vorgesetzten, die Unteroffiziere, sondern durch die höhern
Offiziere bestimmt und controlirt, die durchweg der gebildeten Classe angehören.
Auch Pflegen die Unteroffiziere bei allem Diensteifer sich gern mit ihren Frei¬
willigen gut zu stellen.
Die wichtigste Person für den Freiwilligen ist der Hauptmann seiner Com¬
pagnie, resp, der Rittmeister seiner Schwadron und der Feldwebel, resp, der
Wachtmeister. Von deren Persönlichkeit hängt die Lage des Freiwilligen ab.
Da zu Feldwebeln nur langbewährte tüchtige und geschickte Unteroffiziere ge¬
nommen werden, so Pflegen diese von vornherein einige Rücksicht auf die Frei¬
willigen zu nehmen.
Einige Erleichterungen sind außerdem durch die Praxis durchweg eingeführt.
Da der Freiwillige keine Löhnung erhält, so wird er auch nicht zu eigentlichen
Arbeiten verwendet, sondern sein Dienst beschränkt sich auf Uebung in den
Waffen und in körperlicher Gewandtheit. Er kann essen und wohnen, wo er
will, erhält auch bald nach seinem Eintritt eine Urlaubskarte, welche ihm ge-
stattet, bis 11 Uhr Abends seine Wohnung zu verlassen, während sonst jeder
Gemeine vom Zapfenstreich bis zur Reveille, d. h. von 9 Uhr Abends bis Tages¬
anbruch in seinem Quartier bleiben muß. In großen Garnisonen, wie in Ber¬
lin, ist es dem Freiwilligen sogar gestattet, außerhalb des Dienstes in Civil zu
gehen. Die Zeit, die durch den militärischen Dienst täglich in Anspruch ge¬
nommen wird, ist sehr verschieden. Während der Recrutenzeit — d.h. regel¬
mäßig die ersten sechs Wochen — wird täglich 4—5 Stunden exercirt, im
Winter gewöhnlich von 9—11 und von 3—5, im Sommer von 7—10 und
von 3—5, außerdem wird wöchentlich mehrmals, gewöhnlich Abends von 6—7,
eine sogenannte Unterrichtsstunde abgehalten, in welcher der Recrut mit den
militärischen Einrichtungen und den dienstlichen Pflichten durch einen Unter-
offizier bekannt gemacht wird. Eine immerhin lehrreiche Stunde, oft eine ergötz¬
liche Erinnerung.
Nach Beendigung dieser Lehrwochen wird man in die Compagnie eingestellt,
und muß nun den ganzen Waffendienst der ausgebildeten Leute mitmachen. Es
wird in der Regel im Sommer von 7—9. Nachmittags von 3—4, im Winter
von 9—10 und von 3—4 exercirt. Doch Pflegen einige Nachmittage ganz
dienstfrei zu sein. Den Unterricht erhält der Freiwillige nun von gebildeten
Offizieren, es werden dazu zwei Stunden der Woche bestimmt.
Außerdem werden nun ganze Tage durch den Wachdienst in Anspruch ge¬
nommen. Der Freiwillige muß als Gemeiner mindestens drei Wachen thun.
Er hat sich dabei 24 Stunden hindurch im Wachlocal aufzuhalten und davon
8 Stunden — immer 2 Stunden hinter einander, mit Zwischenräumen von je
4 Stunden — Posten zu stehen.
Im Sommer und namentlich im Herbst sind die Schieß- und Felddienst¬
übungen sehr zeitraubend; die Schießübungen nehmen in der Regel einen Vor¬
mittag bis 11. die Felddienstübungen einen Nachmittag in Anspruch.
Bei einigen Truppentheilen existirt die leidige zeitraubende Einrichtung des
Appells, für den die höchst charakteristische Definition lautet: „Wenn man warten
muß". Er dauert Vs--1 Stunde, oft auch noch länger, und wird um die
Mittagszeit abgehalten; es werden dort die Befehle ausgegeben. Von dem Er¬
scheinen hierzu sind jedoch die Freiwilligen meist dispensirt, sie können sich die
Befehle durch einen Dritten überbringen lassen, sind aber natürlich selbst für die
gehörige Bestellung verantwortlich.
Für die Instandhaltung der Sachen, das Putzen der Knöpfe, Gewehre und
sonstigen Montirungsstücke ist der Freiwillige ebenfalls selbst verantworlich und
die minutiöse peinliche Sorgfalt, welche in Bezug hierauf in der preußischen
Armee herrscht, ist eine der unbequemsten Seiten des militärischen Dienstes.
Doch Pflegt man diese Bedientendienste nicht selber zu besorgen, sondern durch
einen Gemeinen, den sog. Burschen, der dafür eine monatliche Vergütung von
1—2 Thlr. erhält, besorgen zu lassen. Der Feldwebel weist dafür ordentliche
Leute zu.
Der Sonntag ist dienstfrei, höchstens wird man alle vier Wochen zur Kirche
commandirt, öfters findet wohl auch Sonntags einmal Appell statt.
Im Laufe des Jahres hat der Freiwillige außerdem auf 14 Tage Urlaub
Anspruch, und Dispens von einzelnen Dienststunden wird bei besonderen Ver¬
anlassungen und sonstiger guter Führung regelmäßig ertheilt.
Man wird aus dieser Schilderung der durch den militärischen Dienst in
Anspruch genommenen Zeit ersehen, daß es recht gut möglich ist, noch nebenbei
sich für seine bürgerliche Laufbahn auszubilden. Freilich einen regelmäßigen
Erwerbszweig wird man nebenbei nicht betreiben können; aber wer, wie dies
bei einer sehr großen Zahl der Freiwilligen der Fall ist, studirt, und zumal
in den ersten Semestern studirt, verliert für seine Carriöre nicht eine Stunde,
wenn er wirklich seine Zeit benutzen will. Durch ausdrückliches Ministerial-
rescript soll in den Universitätsgarnisonen von Seiten der Militärbehörde darauf
Rücksicht genommen werden, daß den Freiwilligen der Besuch der Collegien er¬
möglicht wird. Wer als junger Beamter dient, kann die Bureaustunden von
10—1 und von 4—6 ziemlich regelmäßig einhalten, wer Kaufmann oder Oekonom
ist. hat hinreichende Zeit, um in dem Dienstjahre seine bürgerlichen Kenntnisse
in einer für seine Laufbahn förderlichen Weise zu erweitern, z. B. Buchführung,
Französisch und Englisch zu lernen.
Es ist eine oft ausgesprochene Behauptung, daß der Dienst körperlich so
anstrenge, daß eine ernste geistige Beschäftigung nebenbei nicht möglich sei.
Diese Behauptung kann nur von solchen ausgesprochen werden, die zu ernster
geistiger Beschäftigung keinen Trieb habe». Während der ganzen sechs Monate
von November bis April besteht der Dienst, mit Ausnahme der wenigen Wachen,
fast nur im täglichen Exerciren, allenfalls einigen Schießübungen. Letztere sind
körperlich gar nicht anstrengend, erstere geben eine gesunde körperliche Motion,
die nicht mehr ermüdet, als durch einen nächtlichen achtstündigen Schlaf voll¬
kommen ausgeglichen werden kann. In den heißen Sommermonaten freilich ist
die körperliche Anstrengung, besonders bei dem Exerciren in größeren Massen
und bei den Felddienstübungen, oft groß, so daß der Körper auch in den Tages¬
stunden der Ruhe bedarf. Aber diese Monate gehen auch im bürgerlichen Leben
für ernste geistige Beschäftigung fast gänzlich verloren.
Die vom Schreiber dieses während seiner Dienstzeit gewonnene Ueber¬
zeugung ist, daß bei einigermaßen milder Handhabung des Dienstes von Seiten
des Compagniechefs es dem Freiwilligen sehr wohl möglich ist. das Jahr, welches
seinem Körper so äußerst wohlthätig ist und manche geistige Eigenschaften,
Pünktlichkeit, Ordnungsliebe. Geistesgegenwart, Selbstbeherrschung in hohem
Grade entwickelt, auch für seine bürgerliche Stellung sehr nutzbar zu machen.
Aber der junge Mann darf kein Weichling sein, er muß ernsten"Willen haben,
denn es ist freilich dem Trägen und Lässigen ein willkommener Vorwand,
körperliche Uebermüdung hindere ihn an geistiger Arbeit. Besonders sich
selbst wird er damit sehr häusig betrügen, um den Weg in die Restauration,
statt zur Arbeit zu nehmen. Den gesunden Menschen macht die körperliche
Motion vielmehr zu geistiger Arbeit doppelt tüchtig, und wenn Schreiber dieses
aus eigener Erfahrung sprechen darf, so muß er gestehen, daß er immer mit
größerer Lust und frischerer Kraft an seine juristischen Arbeiten geht, wenn der
Körper vorher sich eine Stunde in freier Luft getummelt hat, als wenn er
eben dem trägen Bette entstiegen ist.
Eins freilich bleibt wahr: unbequem ist das Militärjahr. Keinen Augen¬
blick darf der Freiwillige sich selber aus den Augen verlieren, auf der Straße
muß er die Aufmerksamkeit auf die Vorübergehenden richten, damit den Vor¬
gesetzten die vorschriftsmäßigen Honneurs gemacht werden, zu Hause muß er
seine Sachen im Stande halten, um jeden Augenblick im Dienst erscheinen zu
können. Ein altes Witzwort sagt: „Was muß der Soldat zuerst thun, wenn
er Morgens aus dem Bette steigt?" — Antwort: „Er muß Abends vorher
seine Knöpfe geputzt haben!" Ueber keine vor ihm liegende Stunde kann der
Freiwillige mit Sicherheit disponiren, — der königliche Dienst ist unbedingt,
keine Rücksicht des bürgerlichen Lebens, keine Entschuldigung gilt, selbst die
Stunden der Nacht schützen nicht vor ihm, denn das Allarmsignal zwingt zu
sofortigen Erscheinen.
Der Freiwillige steht unter einem eisernen Gesetz: ein nicht geputzter Knopf,
eine versäumte Minute, die geringste Vergeßlichkeit setzt ihn der Gefahr harter
und demüthigender Strafen aus. Hat er das Unglück körperlich ungeschickt zu
sein, so muß er nachexerciren und ist dem Spott und den Zurechtweisungen der
subalternen Vorgesetzten ausgesetzt. Kleineren Strafen, wie nachexerciren, ist
man oft beim besten Willen zu entgehen nicht im Stande. Wohl noch kein
Freiwilliger mag sein Dienstjahr beendet haben, ohne einmal unverdienterweise
verwiesen oder bestraft worden zu sein. Sich zu beschweren ist mißlich, da man
unweigerlich bestraft wird, wenn die Beschwerde unbegründet erfunden wird.
Die Arreststrafcn. die vom Hauptmann für jedes kleinste Versehen, z. B.
Zuspätkommen, schlechtes Putzen, mangelhaftes Grüßen u. dergl.. verhängt wer¬
den können, sind für den Gebildeten fast unerträglich. Mittelarrest, eine ge-
wöhMch auf drei Tage für kleinere Vergehen festgesetzte Strafe, besteht z. B.
in der Einsperrung in einen schwach erleuchteten, käfigartigen Raum mit einer
Holzbank als Möbel und einem schweren Schwarzbrod als ausschließlicher
Nahrung. Jedes Vergehen auf Wache, z. B. das sich Hinsetzen eine» auf
Posten Befindlichen, zieht dagegen schon achttägigen strengen Arrest nach sich;
da wird der Mann in einen leeren Käsig gesperrt, der durch ein faustgroßes
Loch Licht erhält. Jeden vierten Tag kommt er in ein Mittelarrestlocal, erhält
einen Strohsack und etwas warmes Essen.
All dies scheint bedrohlich und sann auch lästig werden; Thatsache aber
ist, daß nur ein sehr kleiner Theil der Freiwilligen im Laufe seines Jahres ein¬
mal mit Arrest bestraft ist. und ebenso sicher ist, daß noch kein Freiwilliger sein
Jahr abgedient hat, ohne nicht ein und das andre Mal nach dem Gesetz die
Hältesten Strafen verdient zu haben.
Wenn sich nun auch nicht läugnen läßt, daß der Freiwillige gar manche
Unbill erdulde» muß, so ist es doch leicht, mit einem gewissen Idealismus über
all das Schwere hinwegzukommen. Es ist ja keine Unehre, als Soldat vieles
thun, sich vieles gefallen zu lassen, was im bürgerlichen Leben theils lächerlich,
theils anstößig erscheinen würde. Man ist Soldat, jeder muß es sein in Preußen,
der Vornehmste wie der niedrigste muß diese Zeit durchmachen, der Offizier selbst
muß eine Zeit lang als Gemeiner gedient haben; also der Person kann der
Dienst nicht zur Unehre gereichen, und die Sache, nun die ist wahrhaftig groß-
artig genug, um auch Schlimmeres zu dulden.
Uebrigens avancirt der Freiwillige bei einigermaßen guter Führung rasch.
Mit sehr seltenen Ausnahmen wird er nach sechs Monaten Gefreiter und thut
als solcher Unterofsizierdienstc, d. h. er braucht nicht selbst in Reih und Glied
mit dem Gewehr zu exerciren, sondern erhält ein Kommando über 6—12 Mann.
Schon früher wird er oft zum Commandiren verwendet, damit er auch diese
Kunst erlernt. Ueberhaupt wird bei seiner Ausbildung von dem Grundsatz aus¬
gegangen, daß man in ihm einen künstigen Offizier sieht, und in der That be-
steht die ganze zahlreiche Classe der bei jedem Kriege in Action tretenden Vice-
feldwebel und Landwchrossiziere ausschließlich aus früheren Freiwilligen. Zur
Qualifikation als Landwehrofsizier ist allerdings ein Examen nöthig, das in der
Regel sämmtliche Freiwillige im elften oder zwölften Monat ihrer Dienstzeit
absolviren. Neben unbedeutenden schriftlichen Arbeiten über den Dienst im
Krieg und Frieden besteht dasselbe aus praktischen Uebungen im Exerciren einer
Compagnie. Wer es besteht, wird bald darauf Unteroffizier und als solcher
entlassen, wer es nicht besteht, wird freilich auch nach zwölf Monaten ent.
lassen, avancirt aber nicht.
Natürlich ist die Dienstpflicht mit dem einen Jahre nicht zu Ende. In
Friedenszeiten erfolgt indeß für die Offiziersaspiranten, d. h. die das Land-
wehrofsiziersexamen bestanden haben, nur noch eine Einziehung aus sechs Wochen,
in der dieselben zu Offizieren ernannt werden. Bei einer Mobilmachung wer¬
den natürlich auch die nicht Avancirten eingezogen und wie Gemeine beharr-
delt oder zu Unteroffizieren gemacht, und sie erhalten wie alle Eingezogenen und
auch alle ihr Jahr Abdienenden als mobile Truppen Löhnung und Kleidung,
haben aber kein Abzeichen und müssen all und jeden Dienst thun. So sind
im letzten Kriege eine große Zahl gebildeter junger Leute in den Festungen zu
Erarbeiten verwendet worden. Uebrigens werden bei diesen Einziehungen Re-
clamationen wegen Unentbehrlichkeit im Civildienst oder für die Ernährung der
Familie möglichst berücksichtigt.
Zum Offizier muß man übrigens durch Wahl der Offiziere des Regiments,
zu dem man gehört, vorgeschlagen werden. Diese Wahl wird jedoch nur ver¬
weigert, wenn ganz bestimmte Gründe, wie persönliche Mißliebigkeit, oder Be«
scholtenheit vorliegen.
In den nächsten Jahren nach Abdienung des Jahres gehört man zur Re¬
serve, dann tritt man in das erste Aufgebot der Landwehr über und wird nur
bei Mobilmachung eingezogen. Nach weiteren sieben Jahren kommt man zur
Landwehr zweiten Aufgebots, endlich mit vollendetem neununddreißigsten Lebens¬
jahr zum Landsturm, der nur auf besonderen Befehl des Königs zur Landes¬
vertheidigung berufen wird. In diese Kategorie gehören auch die jungen
Leute von 17—20 Jahren.
Werfen wir aber auch einen Blick auf die großen moralischen und phy¬
sischen Errungenschaften, die der militärische Dienst grade für den Gebildeten
mit sich bringt.
Vor allem wird der Körper allseitig ausgebildet, gestärkt und in der Er-
duldung von Kälte und Hitze, Hunger und Durst geübt, doch wird dabei immer
eine Grenze beobachtet, welche eine dauernde Benachtheiligung der Gesundheit
ausschließt. Dieses Moment gewinnt an Bedeutung, wenn man bedenkt, wie
sehr die jungen Leute der Jetztzeit zur Verweichlichung hinneigen. Mag der
Freiwillige Student. Kaufmann oder Beamter sein, fast überall führt ihn sein
Beruf auf eine sitzende Lebensweise, die muß er als Freiwilliger aufgeben, die
freie Lust ist das Medium, in dem naturgemäß der militärische Dienst geübt wird;
der junge Mann ist zu einer gesunden Lebensweise gezwungen. Langes Schla¬
fen und Nachtschwärmereien verbieten sich von selbst, wenn der frühe Morgen
den Mann auf dem Exercirplatze finden muß. Freilich das muß zugegeben
werden, eine einseitige ausschließliche Berufsthätigkeit ist während des Dienst¬
jahrs nicht möglich. Aber grade darin liegt eine nicht leicht zu überschätzende
Lichtseite: wer zu einer einseitigen vom übrigen Leben ausschließenden Thätig¬
keit hinneigt, der wird aus dieser oft so verderblichen Neigung herausgerissen.-
Die Menschen- und Weltkenntnis), besonders das Talent mit Menschen umzu¬
gehen, wird durch das Dienstjahr ungemein gefördert. Wo hat sonst der Ge¬
bildete Gelegenheit mit dem gemeinen Mann zu verkehren und als Gleichstehen¬
der zu verkehren? Ais Freiwilliger hat er nicht nur die Gelegenheit, er muß,
er mag wollen oder nicht, sich dazu bequemen, mit dem sich auf einen leid¬
lichen Fuß zu stellen, aus den er in seiner bürgerlichen Stellung herabsehen
würde, mit ihm aus einer Flasche zu trinken, von einem Brode zu essen, die-
selbe Cigarre zu rauchen, denselben meist humoristischen Ton des Gesprächs
anzuschlagen — denn es giebt unter den Soldaten einen esxrit as earxs, gegen
den niemand ungestraft ankämpft, und dieser ist doppelt mächtig, weil hier
einer auf des andern Hilfe angewiesen, mit ihm Freuden und Leiden des
Dienstes zu theilen gezwungen ist. Wer den Kameraden seiner Compagnie ein
offenes frohes Antlitz, einige Kraft und guten Willen zeigt, mit ihnen zu ver¬
kehren, der wird bald erkennen, wie gutherzig sie sind, und wie bereitwillig und
vertrauend sie grade die geistige Ueberlegenheit des Freiwilligen anerkennen. Gute
Kameradschaft auch mit dem Gemeinen zu halten ist aber auch ein dringen¬
des Gebot, wenn man nicht dem Spott und dem Haß der Kameraden preis¬
gegeben sein will, und in diesem Fall sind sie auch nicht grade heilet in
der Wahl ihrer Mittel, wenn es gilt ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.
Es giebt aber zwei Arten gute Kameradschaft zu halten, wie es zwei Arten
gesellig zu verkehren giebt — man kann zu den Leuten herabsteigen und sie
zu sich hinaufziehen. Wie das Letztere zu machen ist. läßt sich natürlich rictu
beschreiben, das muß dem Tacte des Einzelnen überlassen bleiben; das aber ist
sicher, daß. wenn es für den Gebildeten zu den höchsten geistigen Genüssen
gehört, von seiner Bildung anderen etwas mitzutheilen, kaum jemand dazu so
herzerfreuende Gelegenheit findet als der preußische Freiwillige. Und darin
liegt die hohe sittliche Bedeutung dieser Staatseinrichtung für die Volksbildung.
Durch die Zahl der Freiwilligen, deren sich durchschnittlich etwa vier auf hundert-
undfunfzig Gemeine finden, wird, wenn auch im Einzelnen unmerklich, doch sicher
der Bildungsgrad des Heeres gehoben, und dem Gemeinen manches Korn fei¬
nerer Bildung eingepflanzt. Wer nach dem diesjährigen Krieg den Urtheilen
der Ausländer gefolgt ist, wird auch bemerkt haben, daß man namentlich in
England grade diese Bedeutung des Freiwilligenthums sehr richtig gewürdigt
hat. so sehr, daß man diesem Momente einen Theil der wunderbaren Erfolge
des preußischen Heeres im vergangenen Sommer vindicirt hat.
Endlich muß hier noch darauf hingewiesen werden, welch eine unübertreff¬
liche Vorschule das Dienstjahr für das künftige praktische Leben ist. Wer nicht
schon früher sich an Pünktlichkeit, Ordnungsliebe und peinliche Sauberkeit ge-
wöhnt hat, der wird es dort thun. Auch männliche Tugenden, Entschlossenheit
und Geistesgegenwart werden geübt. Denn der Dienst erfordert oft die An¬
spannung aller geistigen Kräfte, um in jedem Augenblicke sich bewußt zu sein,
was man zu thun, zu sagen, wie man sich zu verhalten hat. Eine Unzahl von
Kleinigkeiten müssen so gelernt werden, daß man jeden Moment danach zu
handeln im Stande ist. Das militärische Commando erfordert augenblickliches
Nachkommen — die lässige Befolgung gegebener Anweisungen, wie sie im
bürgerlichen Leben gewöhnlich ist. wird nicht gelitten. Das eben vernommene
Commando muß den Körper schon zur Ausführung bereit finden. Und diese
*
Zucht, welche den Körper in ganz neuer Weise dem Geiste gehorsam macht,
welche die Willenskraft steigert und zu schweller Entschlossenheit hinleitet, bleibt
jedem, der gedient hat, ein unermeßlicher Segen für das ganze Leben. Sie
macht den Mann noch in späteren Jahren sicher und fest in seiner Umgebung,
in vielen Fällen seinen Berufsgenossen überlegen.
So ist das Dienstjahr reich an segensreichen Wirkungen für Körper und
Geist. Durch das Gefühl, selbst von der Pike auf gedient zu haben, wird
jene tüchtige Staatsgesinnung, die wir an den Völkern des Alterthums preisen,
großgezogen, und selten mag' ein Preuße es bereut haben, ein Jahr lang ein¬
mal einen Theil seiner Kräfte dem Vaterlands gewidmet zu haben — selbst
wenn es ihm nicht vergönnt gewesen ist, im Kampfe für das Vaterland seine
Kräfte zu proben. Wem aber auch dies Glück zu Theil geworden ist, der wird
das als etwas Großes für immer empfinden, und wohl ist es für die Gebil¬
deten Preußens ein erhebendes Gefühl, daß die köstlichen Erfolge nicht von
einer Soldatenkaste, sondern von dem ganzen Volke im wahrsten Sinne des
Wortes errungen sind.
Unter den Kämpfern bei Königsgrätz haben junge Beamte, Kaufleute, Oeko-
nomen, Studirende, Gelehrte ebenso gut ihre Waffe geführt, wie der gemeine
Knecht, wie der Proletarier. Das ist etwas Großes, die Früchte sind nicht aus¬
geblieben und auch das mag man bedenken, daß, wo die Gebildeten so eminent
angekämpft haben für die Erhaltung und Erweiterung des Vaterlands, da haben
sie auch ein besonderes Recht erworben, an der Regierung des Staates theilzu-
nehmen; mit andern Worten: dort findet das verfassungsmäßige constitutionelle
Staatsleben einen gesunderen und berechtigteren Boden, als wo die Gebildeten,
die in und durch die Volksvertretung das Staatsschiff lenken wollen, auf ihren
Schätzen und in der warmen Häuslichkeit saßen, während draußen das arme
Volk auf den Schlachtfeldern Gut und Blut für sie opferte.
Wen also jetzt die Wendung der deutschen Geschicke, wenn auch noch
Wider seinen Willen, zwingt, aus dem bürgerlichen Leben in die Reihen der
preußischen Armee zu treten, der mag sich der hier in Kurzem entwickelten hohen
Bedeutung dieses Waffendienstes bewußt werden, und wen der patriotische Ge¬
sichtspunkt nicht tröstet, weil ihm sein Vaterland zu neu ist, der mag sich
der segensreichen praktischen Wirkungen freuen, die das Militärjahr für ihn
haben wird.
Zum Schluß mag den Neupreußen hier der Rath ertheilt werden, sich wo
möglich zur Ableistung der Dienstpflicht große Garnisonen, wie Berlin, oder
Universitätsgarnisonen zu wählen. Berlin bietet vor allen andern die größte
Freiheit außerhalb der Dienststunden, da eine Controle nicht möglich ist und
auch nicht geübt wird. In Universitätsstädten Pflegen stets auf die Freiwilligen, die
dort immer als Studirende vorausgesetzt werden, billige Rücksichten genommen
zu werden. Abzurathen ist von allen Festungsgarnisonen.
In Bezug auf die Truppengattung bildet natürlich die Infanterie die
Regel, auf die auch hier besonders Rücksicht genommen ist. Bei der Cavalerie
ist der Dienst für den, welchem Reiten vertraut ist, etwas leichter aber weit
kostspieliger.
Die hannoverschen Offiziere stehen durchschnittlich den bürgerlichen Kreisen
nicht so nahe wie z. B. die kurhessischen Offiziere. Kein gemeinschaftlicher Ver¬
fassungskampf hat sie mit einander verknüpft; im Gegentheil, je mehr sich im
Bürgerthum die Opposition gegen den Hof befestigte, desto weiter ward die
Kluft, die die Zöglinge des Cadettenhauses von der großen Masse der übrigen
Berufsstände schied. Wenn man sie im Hoftheater das Parquet füllen sah,
lauter Uniformen, fast ohne alle Unterbrechung durch einen schwarzen Rock oder
das Kleid einer verlegen dasitzenden versprengten Dame, so hatte man ein ziem¬
lich getreues Bild ihrer socialen Stellung vor sich. Deshalb war es eine un¬
gleich allgemeinere Sorge, womit die Bevölkerung Kurhesseus während des
Krieges der Rückkehr auch der Offiziere, nicht blos der Truppen, von ihrer
ziemlich unfreiwilligen Fahrt nach Süddeutschland entgegensah, als womit man
im Lande Hannover neuerdings auf die Entscheidung des Schicksals der ehemals
hannoverschen Offiziere wartete. Unmittelbar berührte diese Angelegenheit nur
den Adel und die von jeher zum Adel haltenden sogenannten Beamtenfamilien.
Die Masse des Volks schaute der Entwickelung der Sache nicht Viel aufgeregter
und beunruhigter zu als die deutschen Politiker aller Orten.
Es wäre natürlich anders gewesen, wenn man nicht von beiden Seiten
alles gethan hätte, um die Sache der Offiziere von derjenigen der Unteroffiziere
und Gemeinen zu trennen. Preußischerseits war es nicht etwa ein Ausfluß
macchiavellistischer Politik, wenn dem Fahneneid der Offiziere eine höhere Un-
verbrüchlichkeit beigelegt, für sie daher von der Aufhebung der Verbindlichkeit
dieses Eides alles abhängig gemacht wurde; es entsprach lediglich der An-
schaungsweise. welche die maßgebenden Kreise in Berlin beherrscht. Aber es
hatte auch so die nützliche Wirkung, den inneren Zusammenhang eines so be¬
deutenden und widerstandsfähigen Körpers wie des hannoverschen Heeres auf¬
zulösen. In ihm stellte sich der preußischen Annexionspolitik augenscheinlich die
sprödeste Schwierigkeit entgegen. Es war die größte geschlossene Masse natür¬
licher Gegner in den neuen Provinzen; es hatte glorreiche Traditionen, der¬
gleichen ja immer erst aus einem Haufen uniformirter Wasserträger eine wirk¬
liche Armee machen. Die Wucht dieser aufrechterhaltenden geschichtlichen Ueber¬
lieferungen wurde noch unendlich verstärkt durch den Umstand, daß die Politik
des preußischen Ministeriums einen Zusammenstoß der Preußen mit den Han¬
noveranern zu einer Zeit erfordert hatte, wo letztere eine sehr erhebliche nume¬
rische Ueberlegenheit besaßen, und daß infolge dessen das hannoversche Heer
einen kantischen Triumph noch in dem Augenblick davontrug, ehe es strategisch
und politisch für immer unterging. Demzufolge zerstreuten sich die Bataillone
und Schwadronen nach der Capitulation nicht beschämt und gedemüthigt, sondern
erbittert. Die zurückkehrenden „Sieger von Langensalza" Sälen den Preußen¬
haß in jedem Dorfe des Königreichs aus. Eine besondere Wuth und Zähig¬
keit der Feindschaft entwickelten die Unteroffiziere oder die es werden wollten,
denn ihnen nahm die Einverleibung in der That mehr als nur die Bequem¬
lichkeit gewohnter Zustände. Sie wußten, daß mit den preußischen Farben die
allgemeine Wehrpflicht ins Land komme, das Ende aller Stellvertretung, von
der sie ein so hübsches vieljähriges Einkommen gezogen hatten. Im preußischen
Heere winkte ihnen nichts als der Sold, und nach dem Ablauf der Dienstzeit
die auch in Hannover nicht fehlende, ja in Hannover durchschnittlich noch höhere
Besoldungen darbietende Anwartschaft auf Civilversorgung. Daher die leiden¬
schaftliche Erbitterung dieser Leute, die sich stellenweise in der widerwärtigsten
Mißhandlung preußisch gesinnter Nachbarn und Landsleute Luft gemacht hat. Man
kann fragen: ob die Regierung dies nicht hätte voraussehen und deshalb einer
Zerstreuung der feindlichen militärischen Propaganda über das Land hin hätte
vorbeugen müssen? Allein auf der einen Seite scheint es denn doch von end¬
lichen Menschenkrciftcn zu viel verlangt, wenn man meint, Graf Bismarck oder
Herr v. Roon hätte am Vorabend der ungeheuern Entscheidungskampfe in
Böhmen der Behandlung einer eben gewonnenen Provinz, die dort erst wahr¬
haft erobert werden konnte, eine gründlich eindringende Aufmerksamkeit zuwenden
sollen; und für Beamte zweiten oder dritten Ranges war die Angelegenheit zu
schwieriger politischer Natur. Auf der andern Seite läßt sich wohl auch zwei-
feln, ob irgendeine der denkbaren Vorbeugungsmaßregeln nicht schlimmer ge¬
wesen wäre als das wirklich eingetretene Uebel. Eine Abführung der gefangenen
Armee nach preußischen Festungen hätte nicht blos bedeutende Kosten verursacht,
nicht blos über eine gewisse kurze Zeit hinaus billigerweise doch nicht festgehalten
werden können, sondern sie würde wahrscheinlich auch die Bevölkerung noch
tiefer gegen den Lauf der Ereignisse und die neuen Zustände verstimmt haben.
In den Kasematten von Stettin und Köln wären die hannoverschen Truppen
vielleicht mehr zu fürchten gewesen, als da sie Groll und Siegerhochmuth frei
daheim unter den Ihrigen auslassen durften.
Inzwischen wurde Oestreich niedergeschlagen und die Einverleibung der be¬
setzten Gebiete nördlich vom Main von den andern Großmächten allerseits zu¬
gestanden. Daß die Bevölkerung Hannovers fortan ihren Beitrag zum preu¬
ßischen Heere ganz in derselben Weise stellen werde, wie die alten preußischen
Landestheile, war niemand im entferntesten zweifelhaft. Es fragte sich im
wesentlichen nur noch, was die Berufssoldaten, der Hauptsache nach also die
Offiziere, thun würden; ob sie preußische Dienste nehmen, oder wie ihre Vor¬
fahren in früheren Zeiten fremder Ueberziehung dem einmal geleisteten Treu¬
schwur ritterlich anhangen sollten? Die allgemeinen Umstände des Falles und
der Zeit waren gegen die letztere Alternative. Der unter ihnen herrschende
Geist war eher dafür, und wurde von der Denkungsweise dessen, der sie formell
allein vom Fahneneide entbinden konnte, kräftig unterstützt. Nichtsdestoweniger
ist die Frage nach drei oder vier Monaten wesentlich im Sinne der ersteren
Alternative entschieden worden. — ein neues Zeichen für die innere Gesundheit
und Vernunft des über Deutschland gekommenen großen Umschwungs.
Die nationale Ausfassung, welche seit 1848 und zumal seit 1859 wieder
im deutschen Bürgerstande mehr und mehr die tonangebende wurde, hat im
hannoverschen Offiziercorps gewiß nur w.nige Proselyten gemacht. Wer sie
nicht schon in die Kaserne oder auf die „Messe" mitbrachte, unterlag sicherlich
keiner Ansteckungsgefahr. Aber die Begebenheiten sorgten für einige aufklärende
Ersahrungen. Die theoretische Erkenntniß, daß eine kleine Armee heutzutage
im Grunde gar keine Armee mehr sei, d.h. kein zu selbständiger Action und
Politik befähigter militärischer Körper, ging von den einzelnen nachdenkenden
Köpfen, deren ursprüngliches Eigenthum sie war, rasch auf weitere Kreise über,
als die Theilnahme an der Bundesexecution in Holstein dazu ihre praktischen
Commentare lieferte. Mochte nach der erzwungenen Räumung 'Rendsburgs und
später ganz Holsteins im Sommer 1864 die Wunde des gekränkten Selbst¬
gefühls anfänglich noch so schmerzhaft brennen, und mochte sich der Groll der
gedankenlosen Mehrzahl immerhin ausschließlich gegen Preußen kehren als den
mächtigen Beleidiger, den zu hassen obendrein die stillschweigende Vorschrift von
oben her war: eine nicht unbeträchtliche Anzahl tüchtiger Offiziere gerieth seit¬
dem doch in die Stimmung, das Aufgehen in irgendeiner größern Armee selbst
für den höchsten Preis nicht zu theuer erkauft zu achten. In der Artillerie
und einigen Jnfanteriebataillonen beobachtete man schon im Herbste 1864
diese Stimmung als die herrschende. Von ihr aus wurde es dem hannoverschen
Offizier auch leichter, die patriotischen Bestrebungen der liberalen Partei zu
verstehen; und die seinem Beruf eigenthümliche realistische Denkungsweise
sorgte dafür, daß er nicht in die Excesse der Phantasie verfiel, die es seit jenen
Tagen so manchem ehrlichen Liberalen erschwerte, sich mit dem Gange der vater¬
ländischen Dinge zu befreunden.
So darf man annehmen, daß eine sehr bedeutende Minderheit, vielleicht
sogar schon die Mehrheit der hannöverschen Offiziere vollkommen bereit war,
ins preußische Heer überzutreten, als die Verhandlungen früh im Herbste be¬
gannen. Noch aber hielt der von dem vertriebenen Hofe her genährte Geist
feindseligen Widerstandes diese Neigung im Zaume. In der „Neuen Welt" zu
Hietzing bei Wien, dem Asyl des Exkönigs und seiner paar Getreuen, scheint
man sich geraume Zeit dem Wahne hingegeben zu haben, man könne die Masse
des Offiziercorps überhaupt vom Eintritt in die preußische Armee zurückhalten.
Im nächsten Frühling hoffte man ja die Turcos und Zuaven am Rheine er¬
scheinen zu sehen, und dann war alle Noth vorüber. Da dieses Luftschloß sich
doch nur für die erregbare Einbildungskraft der Emigration, nicht aber für die
prosaischen Existenzsorgen der in den Schoß ihrer Familien zurückgekehrten
Offiziere bewohnbar erwies, so nahm man den Traum eines Masseneintritts in
die sächsische Armee und ähnliche Projecte auf. Dort sollten die Ritter des
entthronten Welfenhauses bei erträglicher Leibeskraft und Berufsübung erhalten
werden, bis die Trompete sie zum Nachezuge abrief. Allein auch diese Nebel»
gebilde zerrannen bei genauerer Betrachtung. Gleichzeitig entwickelte man preu-
ßischerseits in Berlin und Hannover eine musterhafte Geduld. Man litt es,
daß eine Anzahl höherer Offiziere von keineswegs sehr ausgeprägter Preußen¬
freundlichkeit sich als eine „Commission" für die Leitung dieser Angelegenheit
aufwarfen, und unterhandelte mit ihnen sogar in Berlin. Der Generalgou¬
vemeur ließ es sich gefallen, daß diese Commission, ohne es ihm nur anzukün¬
digen, von seinen ihr zu enge dünkenden Jnstructionen an die oberste Instanz
appellirte. General v. Voigts-Nhetz entfaltete überhaupt in dieser ganzen lang¬
wierigen Unterhandlung eine Rücksicht, die dem ebenfalls so rücksichtsvollen Ci-
vilcommissär an seiner Seite schon viel zu weit ging. Aber das Ergebniß hat
alle beobachtete Rücksicht, nun gerechtfertigt. Nachdem der König Georg noch
die redlichen Bemühungen des General v. d. Knesebeck hartnäckig zurück¬
gewiesen, denselben sogar durch seine Creaturen ungehindert hatte beleidigen
lassen, gab er am Tage vor Weihnachten den dringenden Vorstellungen einiger
Mitglieder der oben erwähnten Commission nach. Sie haben ihn wahrschein¬
lich darauf hingewiesen, daß die Masse der Offiziere auf keine Art länger zu¬
rückzuhalten sei. In der That hatten die Meldungen zum Eintritt auf alle
Gefahr hin bereits begonnen. Unter diesen Umständen bequemte sich der ver¬
jagte Welfenkönig. vernünftigem Rathe Gehör zu schenken, anstatt noch länger
auf die leidenschaftlichen Eingebungen seiner Exilsgefährten oder solcher jun-
gerer Offiziere, die bereits einer Anstellung in Rußland oder Oestreich sicher
waren, zu hören. Kaum war denn auch diese Nachricht auf den Schwingen
des Telegraphen ins Land gedrungen, als beim Generalgouvernement massen¬
hafte Meldungen zum Eintritt einliefen. Durchaus nicht blos die Masse der
jüngeren, auch viele ältere Offiziere haben sich entschlossen fortzudienen. Da¬
mit und mit den bereits begonnenen Anstalten zur Einreihung der Zwanzig¬
jährigen ist der Proceß der militärischen Einverleibung Hannovers in Preußen
als vollendet anzusehen. Die Selostverbannung einzelner Offiziere hat ebenso
wenig auf sich wie die Flucht einiger Haufen bethörter Baueinbursche übers
Meer. Ein abgesondertes hcmnovcrsches Contingent wird die Welt schwerlich
je wieder sehen; was an den früheren Thaten der hannoverschen Armee unsterb¬
lich ist. vermischt sich fortan untrennbar mit den Annalen des ruhmreichen
preußischen Heeres.
Wer die preußischen Soldaten bei ihrem Siegeseinzuge in Berlin am 20.
und 21. September gesehen hatte, dem mußte es auffallen, mit welchem Gleich¬
muth diese Männer, einschließlich der Offiziere jeden Ranges, dahinzogen, als
kämen sie eben von einem gewöhnlichen Uebungsmarsch. Keine Spur einer be¬
sonderen Erregtheit, nur der Ausdruck der Sicherheit und der Zufriedenheit mit
sich selbst. Man hatte seine Schuldigkeit gethan und war durch das, was man
geleistet hatte, nicht überrascht. Dieselbe Erscheinung mögen die Truppen wohl
in allen Provinzen geboten haben; an den beiden äußersten Punkten nur, in
Köln und in Breslau, ist es lebhafter zugegangen. Dagegen haben sich ohne
Zweifel am ernstesten und stillsten die Ostpreußen verhalten. Sie fast allein
trugen das herbe Gefühl, sich in diesem Feldzuge nicht genug gethan zu haben.
Ausmarschirt in der Erwartung und mit dem Vorsatze, sich hervorzuthun und
als die würdigen Söhne des yorkschen Corps zu bewähren, welches dereinst an
der Katzbach, bei Leipzig und am Montmartre gekämpft, — mußte grade das
ostpreußische Armeecorps das Schicksal einer Schlappe treffen. Zwar haben
diese wackeren Soldaten sich bei Trautenau mit Erbitterung geschlagen; aber sie
erhielten den Befehl zum Rückzug und mußten die Siegesarbeit der Garde
überlassen. Während des ganzen übrigen Feldzugs brannte das Corps vor
Begierde, diese Scharte wieder auszuwetzen, aber es wurde ihm weder bei
Königsgrätz. noch bei Tobitschau hinreichende Gelegenheit dazu. Die Kampflust
mußte in sich selbst verkosten; und so kehrten sie denn heim mit Gram und
Unmuth im Herzen. Genugthuung und Gewähr für besseres Geschick in künf¬
tigen Tagen wurde ihnen dadurch gegeben, daß der ruhmgekrönte Vogel
v, Falkenstein das Commando erhielt. Sollte es in Jahr und Tag wieder zu
einem Kriege kommen, dann mag der Feind sich vor dem falkensteinschen Corps
hüten.
Es ist selbstverständlich, daß die ganze Provinz an dem Mißgeschick ihrer
tapferen Soldaten theilnimmt. Dies häusliche Interesse hat lange hin alle
anderen zurückgedrängt. In der inneren Politik ist die Stimmung sehr konser¬
vativ geworden. Der altpreußische Stolz ist zu tief aufgewühlt durch die äuße¬
re» Gefahren und den Neid der Nachbarn, als daß man sich nicht mit neuer
Hingabe an die Regierung anschließen sollte. Die letzten Nachwahlen haben
davon Kunde gegeben. War Preußen bisher die liberalste Provinz, welche ver¬
hältnißmäßig die meisten Abgeordneten den entschieden liberalen Fractionen zu¬
führte, so hat sie schon zum jetzigen Hause fast zum Drittel conservativ gewählt:
bei einer Auflösung würde die Neuwahl vermuthlich eine noch höhere Ziffer nach
dieser Seite aufweisen. Ganz besonders würden neue ernste Conflicte in mili¬
tärischen Fragen — die bis jetzt glücklich vermieden sind — jenes Resultat ge¬
zeitigt haben.
In dem westlichen Theile unserer Provinz, noch mehr in Posen ist die
Siegesfreude unter den Deutschen eine um so größere gewesen, als durch jede
Erhöhung und Machtcrweiterung des Staats der gegenwärtige Zustand in die¬
sen Provinzen und deren Besitz überhaupt um so sicherer wird. Die Polen
dagegen haben sich dadurch keineswegs beugen lassen, sondern sie sind rüstig
damit beschäftigt, die Bereinigung dieser „polnischen Erde" mit dem Gesammt-
rciche, dessen Wiederherstellung diesmal — inutatio äsleewt — von Oestreich
erwartet wird, vorzubereiten. Die Zähigkeit, mit der dieses Volk an seinem
geträumten politischen Leben hängt, ist die eines irre gewordenen Greises, der
sich die fixe Idee in den Kopf gesetzt hat, noch Jüngling zu sein; sie kann
dem, welcher die Leute aus der Nähe kennen gelernt hat, wenigstens nicht Be¬
wunderung erregen. Nichtsdestoweniger muß der Alte immerwährend beobachtet
werden; denn Unheil genug kann er noch anrichten. Für Männer aber ist es
unwürdig, von der Humanität der in jedem Sinne mächtigeren Nachbarn und
Hausgenossen zu leben. Und was sonst als freie Humanität verhindert die Re¬
gierung, gegen sie ebenso zu verfahren, wie ihre Stammverwandten, die Russen,
deren Einmarsch sie von Zeit zu Zeit herbeiwünschen? Einen Ausnahmezustand
über die unzuverlässigen Kreise zu verhängen, wäre sie alle Augenblicke berechtigt.
Es ist nicht nöthig, darauf aufmerksam zu machen, daß nicht alle polnischen
Adeligen und Priester mit der Agitationspartei in ein Horn stoßen; aber es
sind deren immer nur wenige; denn es gehört ein fester Charakter dazu, wenn
man sich von allen Standesgenossen trennen und sich ihren Anfeindungen aus¬
setzen will. In dieser Lage befinden sich unter anderen Graf Taczanowski, auf
dem letzten posener Provinziallandtage Vicelandtagsmarschall, Erzbischof Graf
Ledochowski und Bischof von der Marwitz von Kulm. Der letztere ist zwar von
deutscher Abkunft, aber seine Muttersprache ist die polnische. Er hält treu zu
Preußen. Als man in seinem Sprengel während des letzten Krieges so keck
war, für die östreichischen „Glaubensbrüder" Geld zu sammeln und es ihm im
Vertrauen auf seine Gcsinnungsübereinstimmung zur Beförderung einschickte,
lieferte er den Betrag zur Kasse für preußische Verwundete ab. Dennoch hat er
es nicht hindern können, daß einige Pfäfflein seiner Diöcese die polnischen
Landwehrmänner aufforderten, nicht auf die „katholischen Brüder" in der weißen
Uniform zu schießen. Einer dieser Fanatiker hat zur Strafe gezogen werden
können.
Ihre Agitationen haben jetzt zunächst zwei Ziele: sie wollen eine polnische
Universität in der Provinz Posen, natürlich durch preußische Staatsgelder, zu
Stande bringen und die Wahlen zum norddeutschen Parlament möglichst auf
Mitglieder ihrer Nationalpartei lenken. Wenn die Universität zu Stande käme,
woran freilich nicht zu denken ist. würden sie wohl die meisten Lehrstühle an
die Jesuiten, die alten Erzieher ihres Volkes, vergeben wissen wollen. Außer¬
dem besitzen die Polen auch nach ihrer eigenen Versicherung eine ganze Reihe
von Philosophen, welche eigene Systeme „auf slawischer Grundlage" aufgebaut
haben.. Diese großen, bisher in der Republik der Gelehrten unbeachtet geblie¬
benen Geister finden Platz genug in Lemberg oder Krakau, wo das deutsche
Wort nicht mehr Träger der Wissenschaft ist und polnische Logik sogar der
praktischen Politik zu Grunde zu liegen scheint.
Was die polnischen Abgeordneten zum norddeutschen Parlament betrifft, so
sollen sie selbstverständlich den billigen Coup der Tschechen von 1849 durch
feierlichen Protest gegen ihre eigene Einberufung noch einmal wiederholen, um
so mehr, da man über den Protest von Libell und Genossen auf dem preußi¬
schen Landtage im vergangenen September zur Tagesordnung übergegangen ist.
Sie erwarten zwar ebenso wenig, daß sich Graf Bismarck dadurch wankend
machen lassen werde, als sich ihre eigenen Vorfahren auf dem Reichstage zu
Ludim durch den Protest der westpreußischen Stände gegen die Einverleibung
in Polen, sowie durch die Thränen und den Kniefall der Lithauer aus der¬
selben Veranlassung erschüttern ließen; sie erreichen aber doch so viel dadurch,
daß das Ausland, sei es Frankreich oder Oestreich oder Rußland, gelegentlich
daraus zurückkommt und solche Erklärungen als Handhabe benutzt. Indeß die
zähen katholischen Protestanten dürfen sich doch nicht verhehlen, daß seit dem
Sommer des vergangenen Jahres alle politischen Proteste gar sehr im Preise
gesunken sind.
Das allgemeine directe Wahlrecht, wie es nun für das norddeutsche Par¬
lament zur Anwendung kommen soll, ist übrigens, wenn irgendwo, so für die
polnischen Gegenden des preußischen Staates ein zweischneidiges Messer. Der
große Haufe der ungebildeten Polen läßt sich in den Dingen, die er nicht ver-
steht — und dazu gehört vor den vielen andern jede Landtagsangelegenheit,
geschweige eine Wahl zu einem neuen Reichstage — blind von seinen Priestern
leiten, die eng mit dem polnischen Adel verbunden sind. Selbst die deutschen
Katholiken vom Lande werden, wie schon früher oft. auf deren Seite stehn,
und wir besorgen, daß das Gebot der Bischöfe, die Geistlichen hätten sich aller
politischen Agitationen zu enthalten, nur halben Gehorsam finden wird. Da
die protestantischen Deutschen sich bis jetzt niemals so allgemein an den Wahlen
betheiligt haben, weil ihnen die energischen Treiber fehlten, so war zu fürchten,
daß nur in den ganz oder fast rein deutschen Wahlbezirken von Westpreußen
und Posen deutsche Parteiwahlen stattfinden, die meisten aber polnisch ausfallen
würden. In allen gemischten Gegenden, selbst in der Stadt Posen, wo zum
preußischen Landtage immer ein deutscher Abgeordneter durchgesetzt wird, schienen
die Deutschen ihr Spiel verloren zu geben. Nur in Bromberg, von jeher der
regsamsten Stadt beider Provinzen, hatte man zeitig Vorberathungen gehalten
und gutes Resultat vorbereitet.
Da war es ein Resultat von ernster Bedeutung, daß sich sämmtliche poli¬
tische Fractionen der Deutschen zu gemeinsamer Agitation für die Wahlen ver¬
bunden haben. Zum ersten Mal seit dem Erwachen unseres parlamentarischen
Lebens findet eine solche Vereinigung der Kräfte statt. Es war hohe Zeit. Wir
aber erfüllen eine patriotische Pflicht, wenn wir den Vertretern sämmtlicher —
bisher so schroff entgegengesetzter Richtungen für ihre Selbstverläugnung danken
und den Wunsch aussprechen, daß die Einigung bei den Wahlacten selbst ein
wirkliches aufrichtiges und energisches Zusammenwirken zur Folge haben möge.
Denn noch wichtiger als der Vertrag der Führer ist das feste und entsagende
Zusammenstehen der deutschen Parteien in den einzelnen Wahlkreisen, und dafür
zu wirken ist jetzt Pflicht jedes Deutschen in Preußen und Posen.
Das kaiserliche Patent, welches eine außerordentliche Neichsrathsversamm-
lung zum 25. Februar nach Wien beruft, motivirt die Dringlichkeit dadurch,
daß die Zeitverhältnisse in kürzester Zeit einen Abschluß der Verfassungsfrage
nothwendig erscheinen lassen. Diese Motivirung erinnert sehr an frühere Pa¬
tente, in denen befunden wurde, daß ein Wegfall des jährlichen Deficits noth¬
wendig sei. Wenn nur das für uns Nothwendige sich dxrch Decrete und con-
stituirende Versammlungen schaffen ließe!
Das neue Patent wird, das ist zu befürchten ^ eins der zahlreichen ver¬
geblichen Experimente sein, welche bei uns kaum noch Hoffnungen erregen. Es
war wahrscheinlich eine Absicht, durch dasselbe dem norddeutschen Reichstage,
der fast in denselben Tagen zusammentreten soll, ein Paroli zu biegen. Dies
Jahr wird stark an Parlamentsreden und Verfassungskämpsen sein. Aber ihre
Aufgabe ist in Oestreich und in Norddeutschland sehr verschieden. Bei Ihnen
trotz allem Eigensinn einzelner Landschaften eine frische aufsteigende Kraft; auch
unter denen, welche ihre eigenen Regierungen haben, ein feuriges Gefühl der
Zusammengehörigkeit, bei uns unter einer einheitlichen Regierung allgemein ein
Gefühl der Kraftlosigkeit, im letzten Grunde selbst bei den rennenden Ungarn,
und daneben fast überall das Bestreben sich abzusondern und von einander zu
trennen.
Man hat bei Ihnen doch keine Ahnung von den tief schmerzlichen Ge¬
fühlen, mit denen die gebildeten Deutschöstreicher ihre politische Trennung von
den Landsleuten betrachten. Unser Geist und Gemüth ist durch tausend Fäden
an Deutschland gebunden und man möchte manchmal laut aufschreien über das
Verhängnis), welches uns das Vertrauen auf die Zusammengehörigkeit ver¬
ringert hat.
Die deutsche Presse Oestreichs giebt von diesem bittern Schmerz gar keine
Vorstellung, die großen Zeitungen sind Spcculationsunternehmungen, unter den
Mitarbeitern sind einzelne sehr ehrenwerthe Männer, aber sehr viele charakter¬
lose und unsichere Gesellen, auch ist unsere Presse viel unfreier und viel ab¬
hängiger von der Regierung, als man nach außen gestehn will, und nur wenige
unserer Journalisten sind im Stande, die deutschen Verhältnisse unbefangen zu
würdigen.
Aber sehr traurig ist die Stimmung und das Schicksal den Tausende ge¬
bildeter Familien, welche gewöhnt sind, Bildung und geistige Nahrung aus
Deutschland zu holen und jetzt eine Jsoluung empfinden, welche sie täglich be-
drückt, wenn sie an die Länder jenseits der böhmischen Berge gedenken. Möchte
man auch bei Ihnen nicht vergessen, wie groß die Zahl gebildeter und fein-
fühlender Menschen bei uns ist, welche die Liebe zu Deutschland bewahren, und
wie gut und tüchtig trotz aller Unbildung das Wesen unserer Bevölkerung
zumal auf dem Lande blieb.
Harte Ereignisse haben uns die Erkenntniß unserer sehr gefährdeten Lage
gebracht. Noch schmerzen unsere Augen von den Blitzstrahlen dieses Sommers.
Aber wir begreifen vollständig die Gefahr, in welcher wir schweben. Unläug-
bar ist das deutsche Element seit dem Jahre 1844 in beständigem Rückschritt
in Böhmen, Mähren, Kärnthen, Krain, Jstrien, in Galizien und in Ungarn.
Dauern die Fortschritte der Fremden in derselben Weise noch durch ein halbes
Menschenalter, so sind diese Landschaften dem Deutschthum ganz entfremdet.
Auch für Deutschland liegt' darin eine große Gefahr. Die Czechen saßen seit
vielen hundert Jahren wie eine Insel von Deutschen umgeben, und waren in
früheren Jahrhunderten auf dem besten Wege selbst deutsch zu werden, wird
jetzt Mähren ganz slavisch, so streckt die Slava ein zusammenhängendes Länder-
gebiet bis in das Herz Deutschlands und eine neue Form des Panslavismus
macht den weisen Czaren zum Schutzherrn des Landgebietes bis an die bay¬
rischen Berge. Ebenso frißt das welsche Wesen in Tirol und dem Littorale
weiter und unsere Alpen werden zur Zeit der Enkel im Besitz von slavischen
und welschen Stämmen sein.
Wir Deutsche sind zu schwach, durch eigene Kraft dieses moderne Etabliren
fremder Nationalitäten in unsern Grenzen zu verhindern. Und die Scham
darüber wird unter uns um so größer, weil wir die Willkür und Hohlheit die¬
ser Eiferer übersehen, welche mitten unter uns fremde, schwache Nationalitäten,
die bereits halb germanisirt waren, unserer Bildung entfremden. Die Art und
Weise, in welcher die fremden Sprachen und Literatur jetzt gemacht werden,
ist so abgeschmackt als möglich, aber wir haben das Recht verloren, darüber
zu spotten, denn wir haben keine genügende Widerstandskraft. Diese Fremden
sitzen unter uns als Professoren in der Universität, als Beamte der Regierung,
ja sie sind, man erröthet es zu schreiben, zum Theil abtrünnige Deutsche, jeden¬
falls Männer, die ihre ganze Bildung der deutschen Literatur verdanken. Un¬
serer Regierung fehlt jedes Verständniß für diese Gefahr. Mit vornehmer
Gleichgiltigkeit sieht sie über die Maulwurfsarbeit weg, welche im Staate die
Wurzel deutscher Cultur untergräbt. Gelehrte, Czechen und Slovenen, czechische
Beamte, polnische und magyarische Edelleute sind der Reihe nach die Begün¬
stigten. Wir Deutsche gelten der Regierung noch als Theilhaber und Mit¬
schuldige an ihrer wankenden Herrschaft über die Fremden. Ist doch Wien
groß geworden durch das Geld, welches fremde Grundbesitzer bei uns ver¬
zehren. Welches Recht haben wir also zu murren?
Und warum fehlt uns Deutschen so völlig die Kraft, Welsche, Slaven und
Magyaren mit uns zu verbinden? Es giebt nur eine Antwort darauf, die man
mit Achselzucken oder einem Fluch von jedem gebildeten Deutschöstreicher hören
kann: Uns ruinirt die Kirche und Schule, wie sie bei uns verkommen, verfallen,
verdorben sind. Die gute Art unseres Volkes ist unverwüstlich, aber es lebt
wie im Traume dahin, die Intelligenz fehlt, die Strebsamkeit und das frohe
Gefühl der Kraft, welches durch Wissen und Können in Ihre Norddeutschen
gekommen ist. Die Verfassung der alten Kirche liegt als ein Alp auf dem
Volke, der Eifer unserer deutschen Geistlichen geht nur dahin, die ketzerische
Bildung vom Lande fern zu halten, der Eifer unserer slavischen Geistlichen ist
aus demselben Grunde, die fremde Nationalität, der sie angehören, oder die sie
angenommen haben, vor deutscher Ketzerei zu schützen.
Wenn jetzt das Ministerium Beust-Belcredi ein neues Verfassungsexperiment
macht, so setzt es auf ein rissiges Haus, dessen Grund in unsichrem Moorgrunde
steht, wieder einmal ein neues Dach. Schon oft sind die Ziegel desselben um¬
gelegt und immer wieder ists von unten geborsten.
Für uns giebts nach menschlichem Ermessen nur zwei Wege der Rettung,
die wir beide zu finden zur Zeit nicht im Stande sind. Entweder ein eiserner
Reformator, der mit seinem Heere jeden Widerstand niederbricht, die Herrschaft
der Kirche zerschlägt und das Volk in die deutsche Schule treibt. Wo aber soll
uns eine solche gepanzerte Kraft herkommen, ein liberaler Tyrann, der zugleich
Kriegsherr und Schulmeister ist?
Und kommt er uns nicht, dann bleibt uns kein anderer Wunsch übrig, als
daß alles Land, was diesseits der Leitha liegt, gleichviel auf welche Weise, so
bald als möglich mit dem übrigen Deutschland zu einem Staat vereinigt werde.
In dem Bewußtsein, daß wir es heut zu Tage namentlich in der Photographie
so herrlich weit gebracht, hat unser Kunstpublikum den Sinn für die strengen, künst¬
lerischen Neproductionswciscn in betrübenden Grade eingebüßt. Der blos illustrirende
Holzschnitt, der neuerdings auf bestem Wege ist, sich zum Spottvogel aller verviel¬
fältigenden Künste zu degradiren, indem er sie sämmtlich nachahmt, uneingedenk
feines herrlichen Berufs, bei dem er leider nur selten angetroffen wird, ferner die
seicht gewordene Lithographie, welche den Ernst, dessen sie gar wohl fähig ist, fast
ganz hinzugeben scheint für den kümmerlichen Ehrgeiz, banalsten Anforderungen zu
genügen, haben die selbständige Vervielfältigungstechint in Mißcrcdit gebracht. Aber wo
wir eine Gelegenheit erhalten, uns wieder auf sie zu besinnen, da wird Segen gestiftet;
denn es ist eine große Sache um echtes Künstlcrbemühn, das auf populäre Wirkung aus¬
geht. Daß wir auch nach dieser Richtung wieder in aufsteigender Entwicklung sind,
dafür bürgt neben dem Sammlerflciße, der keineswegs ausgestorben ist, vorzüglich das
Erscheinen solcher Werke wie das vorliegende. Der Verfasser, der sich bereits durch seinen
deutschen temere-Oraveur einen guten Namen gemacht hat, unternimmt es, auch
von den künstlerischen Originalarbeiten der neuesten Zeit Rechenschaft zu geben.
Indem er mit Hilfe seiner ausgebreiteten Kenntnisse und Erfahrungen an die stille
Arbeit der Aetzkunst erinnert und ihre Meister charakterisiert, weist er zunächst die
Künstler auf eine langversäumtc edle Pflicht zurück, giebt dem Forscher die reichsten
Hilfsmittel und wird auf diese Weise beitragen, daß unsrem Publikum mit dem
Stolz aus das, was wir besitzen, auch der Geschmack und die Liebe zur echten Re-
productionskunst wiederkehre. Der erste Abschnitt des vorliegenden Bandes, der sich
zeitlich an den einstigen Abschluß des deutschen l?Ljntre-Kravöür anschließt, umfaßt
die älteren Namen I. A. Koch, I. M. v. Wagner, Haach, Berthold, Dahl. Sprosse,
Wilh. v. Kobell, Heinel; der zweite das umfangreiche Werk I. C. Reinharts. Kein
derartiges Werk kann ganz vollständig sein, aber was es als Grundlage und durch
seine Anregung wirkt, ist schon dankenswerth genug; hier haben wir überdies eine
Leistung, die alle Garantien der Trefflichkeit giebt und für welche dem Autor und dem
Verleger warmer Dank der echten Kunstfreunde gebührt. —
Eines der lieblichsten Angebinde für feine Gemüther. Daß sich unter den mehren
Hunderten kleiner poetischer Gaben, die hier vorliegen, sehr viele unbedeutende und
alltägliche Gedanken finden; daß der Greis nicht mehr mit dem Schwunge des
Jünglings dichtet, wird niemanden Wunder nehmen. Aber die unwiderstehliche An¬
muth des rückertschcn Verses, die knappe, sinnige, zierliche Form ist geblieben, und
das zarte Gefühl, mit dem der liebenswürdige Alte bis zum letzten Herzschlag aus
jedem blühenden Strauch, aus jedes Vogels Lied die Harmonie der Welt heraus-
empfunden, die edle Ergebung, mit der er von dem allen Abschied nimmt, hat etwas
innig Rührendes. Keiner, der von Rückert ein volles Gcistesbild zu haben wünscht,
kann des Büchleins entbehren, keiner, der ihn einmal lieb gewonnen, wird es ohne
Dank aus der Hand legen.
Alles was ist, sagt der wohlwollende Staatsweise, hat seine Berechtigung;
denn weil es geworden ist, waren die Vorbedingungen seiner Existenz vorhanden,
es mußte so kommen. Aber es giebt, Gott sei Dank, auch ehrliche Narren in
der Welt, welche das Gewordene mit Vergnügen untergehen sehen, sogar solche
Existenzen, welche uns durch ihr Dasein zum Lachen brachten. Damit die Heiter¬
keit nicht ausstirbt, verzeichnet man diese Curiosa. Schon in wenigen Jahren
dürfte ihnen der Glaube fehlen und das jetzige Geschlecht muß die Glaubwür¬
digkeit attestiren, unsere Nachkommen müssen manche Dinge bezeugt haben, ihr
Verstand würde sie zweifeln lassen an der Historie.
Zwischen den Flüssen Rhein und Main, so ziemlich bis in die Ecke ihres
Zusammenflusses, lag früher das Herzogthum Nassau, ein schönes Land mit
Bergen und Flüssen reich bedacht, mit herrlichen Wäldern, den edelsten Wein¬
bergen. Fruchtthälern und Weiden bedeckt; die steilen und unfruchtbaren Felsen
bergen die Metalle, als Eisen. Blei, Silber, auch Kupfer. Zink und entsenden
die berühmtesten Mineralquellen Europas an das Tageslicht. In einem großen
Kriege geschah es, daß dieses Herzogthum erobert wurde und daß das König¬
reich Preußen sich das Land einverleibte. So reich und schön das Land ist.
so ist es doch nicht groß und ein rüstiger Fußgänger möchte es wohl in einem
Sommertage von Aufgang bis Untergang der Sonne durchschreiten. Aber es
war ein Reich für sich, hatte einen Herrscher, ein Parlament, und zwar ein
Oberhaus und Unterhaus, eine Armee. Minister und ein Heer von Beamten.
Alles war wohldisciplinirt und der Herrscher kannte alle seine Leute von Person
und alle seine Beamten nach den Neigungen ihres Herzens, wußte, wo sie ihren
Schoppen Wein zu trinken pflegten und mit wem sie umgingen. Natürlich gab
es auch politische Parteien im Lande, und da eine davon sich überzeugt hielt,
daß auf dieser Parcelle deutschen Landes ein eigner selbständiger Staat nicht
gedeihen könnte, predigte sie die Einheit Deutschlands und zunächst den Anschluß
an den größten Nachbarstaat Preußen; deshalb hieß sie die Umsturzpartei. So „
lange die Parteien Krieg führten, wurde der Beamtenstand gezwungen zu denken
wie das Staatsoberhaupt, und da man die Gedanken der Menschen erkennen
kann aus ihrem Umgang und dem Vocal, wo sie ihren Schoppen Wein trinken,
so theilte man die Beamten ein in gute und schlimme, und soweit man die
ganz schlimmen nicht absehen konnte, feste man sie an Orte, wo das Klima
am rauhesten und die Einsamkeit am größten war, und zog die andern in schöne
Städtchen und in die Flußthäler des Rheins, des Mains, der Lahn, Es konnte
nicht ausbleiben, daß unter den Gutgesinnten sich prächtige Exemplare ausbil¬
deten, denn sie hatten schöne Stellen, ein gewisses Wohlleben, freie Bewegung.
Es mißfiel zuweilen den Bürgern, daß sie sich sollten regieren lassen von Ori¬
ginalen, aber der Mensch ist geduldig und was in allerhöchster Huld stand, das
brauchte sich nicht zu kehren an das Murren beschränkter Unterthanen.
Ein kleines Bild aus dem beschriebenen Kleinstaat möchten wir als voll¬
ständig beglaubigt der Nachwelt aufbewahren zur Erheiterung und als Beitrag
zur Culturgeschichte. Sollte jemandem der Umstand auffallen, daß zur Zeit der
Existenz der zu berührenden Persönlichkeit nichts laut wurde von dem merk¬
würdigen Thun derselben, so bemerken wir ihm, daß der vergangene Staat
nicht immer darauf bedacht war, wirkliche Tüchtigkeit zu fördern, aber die ge¬
ringste Anspielung auf die Person eines seiner Mandarinen als Amts¬
und Dienstehrenkränkung mit strenger Ahndung heimsuchte. Dem Erzähler
ist die Wahrheit durch Actenstücke und Zeugnisse aus eigener Wahrnehmung
bewiesen.
Das Herzogthum Nassau hatte mehre Einrichtungen, die einzig in ihrer
Art waren, erinnerte manches an das Mittelalter, so war anderes doch neu¬
geschaffen nach ganz eigenen nirgends nachgeahmten Recepten.
So ist z. B. in diesem Lande im Jahre 1849 die Justiz von der Ver¬
waltung getrennt worden, und zwar nur um im Jahre 1854 wieder damit ver¬
einigt zu werden. In unterster Instanz sprechen Recht die sogenannten Aemter,
besehe mit einem Amtmann, einem bis'zwei Assessoren und einem oder mehren
Accessisten. Der Amtmann und die Assessoren richten als Einzelrichter in erster
Instanz ohne Beschränkung ihrer Competenz in Civilsachen, außer bei Eheschei¬
dungen, und haben auch in Kriminalsachen als erkennende und vor allem als
Untersuchungsrichter wichtige Functionen. Die Accessisten arbeiten dem Namen
nach unter specieller Aufsicht der verantwortlichen Einzelrichter, Amtmann und
Assessoren, in Wirklichkeit aber selbständig. Außer der Nechtssprechung hat aber
das Amt alle Verwaltungsgeschäfte, es conscribirt, baut Wege. Wasseranlagen,
leitet die Erziehungsanstalten, den Communalhaushalt, die Forstwirthschaft, hat
die ganze Polizei, Verkehrs-, Sarnath-, Sicherheitspolizei u. s. w. Ein Amt
hat gewöhnlich 10 — 20,000 Seelen. — Zur Besorgung der Geschäfte der frei¬
willigen Gerichtsbarkeit, Führung der öffentlichen Grundbücher, zur Mitwirkung
in Vormundschaftssachen, bei Theilungen, ja sogar bei der Gnmdsteuerreguiirung
besteht eine eigene Magistraten, der Landoberschulthciß, auch ein Jurist, und
zwar nach neuester Willkür ein Mann mit fester Besoldung, während der Staat
die Gebühren für alle vorerwähnten Acte einstreicht. Rentabel ist dies Geschäft
natürlich nicht.
Ein dritter unerläßlicher Posten in jedem Amt ist der Necepturbeamte,
auch Rentmeister genannt, der ErHeber und Verrcchner aller öffentlichen Gelder,
der Verwalter der nutzbaren Vermögensobjccte des Staats und der Domäne,
auch Agent der Ccntralstaatskasse und der Landcsbank. Die weiteren Posten,
in jedem Amt sich wiederholend, können wir übergehen, d«r Staat hat bei uns
für alles gesorgt und alles angestellt und rangirt: Aerzte und Apotheker, Bau¬
techniker und Forsttcchniker, Meister in allem Wissen und Männer von allen
Fähigkeiten.
Nun war aber in unserem Herzogthum ein Amtsbezirk vorhanden, eine
Enclave, abgetrennt von dem Hauptlande, die nur zwei Dörfer hatte und in
beiden circa 1,400 Seelen, 800 in dem einen, 600 in dem andern. Man konnte
wegen der Entfernung keinem der Einwohner zumuthen, sein Gericht und seine
Vorgesetzten überhaupt in dem Hauptlande zu suchen, das war ein Weg von
vielen Meilen und doch hat man im Interesse der Unterthanen denselben alle die
staatlichen Wohlthaten wollen zu Theil werden lassen, wie den übrigen glück¬
lichen Nassauern.
Man hat ihnen also ein eigenes Amt gegeben und einen eigenen Land-
oberschultheiß, und einen eigenen Ncccpturbeamten, außerdem natürlich alle
nöthigen Gesundheits-, Forst- u. s. w. -Beamten. Das Amt freilich bestand nur
aus dem Amtmann und einem Accessisten, der Landobcrschultheiß hatte keinen
Gehilfen, der Necepturbeamte keinen Secretär, alle drei Stellen vielleicht einen
Schreiber gemeinschaftlich. Aber auch so war doch die Arbeit zu klein für drei
Menschen und es mußte sich die Befürchtung aufdrängen, daß einer den andern
zu Tode ärgern würde, um nur nicht selbst auf der vereinsamten Insel, rings
vom Ausland umgeben, aus Mangel an Bewegung umzukommen. Da ist
unsern Staatslenkcrn kluger Nath gekommen und man hat alle drei Aemter
einer Person übertragen und einen Mann bestellt, daß er Recht spreche und
Verwaltung treibe, die freiwillige Gerichtsbarkeit leite und Steuerkataster auf¬
stelle, Hypothekcnbüchcr führe und alle und jede Leistung an den Staat oder
Von dem Staat einnehme, ausgebe und verrechne. Das ist manches Jahr so
gegangen und, wenn es auch oft mißlich war, die Beschwerde gegen das Ver¬
fahren in der freiwilligen Gerichtsbarkeit ordnungsmäßig bei dem Amtmann
anzubringen, da der juäsx a puo und aä guha eine und dieselbe Person waren,
so hatte immer die Partei oder der Beamte nachgegeben und dann gings mit
einigem Schwanken ganz gut.
Da ereignete es sich, daß der Stammhalter einer alten Familie, die ihren
Sitz auf der Bank irgendeiner Ritterschaft im heiligen römischen Reich behauptet
hatte, zum Amtmann in Reicheleheim, dieser einst nassauischen Enclave im Groß-
herzogthum Hessen, ernannt wurde, dadurch zugleich die Fuiictioncn des Land¬
oberschultheiß erhielt und auch Recepturbeamter sein mußte. Die drei Aemter
drückten schwer.
Der neue Beamte sann darüber nach, wie er seine Lasten trage und nicht
Verwirrung in die verschiedenen Angelegenheiten seiner drei Beamtungen bringe.
Wie er es fertig brachte im Laufe der Zeit und sich wohnlich einrichtete in dem
einzigen Staatsgebäude seines Bezirkes, das hätte nicht leicht ein Anderer aus-
denken mögen, obwohl die Idee der deutschen Trias schon lange erfunden ist.
Zuerst ging er daran, seine Dreifaltigkeit äußerlich zu kennzeichnen und die
Locale der dreifachen Thätigkeit gehörig zu trennen. In dem Amthause be¬
fanden sich bald nachher an drei Thüren des Erdgeschosses drei Blechtafeln mit
großen Inschriften: „Herzogliches Amt", „Herzogliche Landoberschultheißerei
„Herzogliche Rcceptur", gewissenhaft wurden die Bureaustunden vertheilt und der
Herr Amtmann arbeitete so viel Stunden in dem Zimmer des Amtes, um so¬
dann als Beamter der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf dem Bureau der Land¬
oberschultheißerei zu sitzen und schließlich als Rentmeister Kassenbuch und Kassen¬
schlüssel zu handhaben.
Hätten die nassauischen Beamten Uniformen tragen müssen, wie alle gro߬
herzoglich hessischen, die verschieden sind für jedes Departement und jeden Grad
in dieser Hierarchie, so hätte der Herrscher von Reichelsheim noch zweimal des
Tages seine Gewandung wechseln müssen — denn in Hessen z. B. ist sogar der
Stoff so genau vorgeschrieben, daß der Oberstaatsprocurator als Vorgesetzter
der Notare diesen in einem Rescripte die Heiligkeit der Dienstkleidung einschärfte
und gleichzeitig zwei Muster von Sommerhosenstoffen nebst Adresse der Lieferanten
beilegte —. In diesem Fall brauchte er blos durch eine Thür zu gehen, um die
Metamorphose zu vollenden.
Der herzoglich nassauische Amtmann ist der Vertreter der Staatshoheit, im
Range steht er also über allen Beamten des Bezirks, soweit aber seine specielle»
Functionen nicht reichen, ist ihm der Rentmeister, der Medicinalrath. der Ober¬
förster, der Baumeister coordiuirt. Der Beamte der freiwilligen Gerichtsbarkeit
steht unter dem ordentlichen Richter seines Bezirks, wird von diesem controlirt.
ist ihm subordinire. Das darf man nicht vergessen und selbst der arme Beamte,
der sich selbst subordinire und coordinirt war, konnte das nicht.
Der Vorgesetzte rescribirt an den Untergebenen, jedes Schriftstück des
Amtmanns an den Verwalter der freiwilligen Gerichtsbarkeit ist ein Rescrip-
tum. Die Vorgesetzten coordinirter Dienststellen schreiben aneinander, ihre
Correspondenz heißt „Schreiben". Der subordinirte Beamte berichtet an
die vorgesetzte Stelle. Der Amtmann in Reichelsheim war in der glücklichen
Lage, daß er an sich selbst berichten, schreiben und rescribiren konnte.
Und das hat der Mann nicht unterlassen, und wahrend die anderen Beamten,
welche alle für Bureauaufwand ein Aversum beziehen, auf schlechtes Papier
schreiben lassen und sich schlechte, d. h. billige Schreiber zu halten Pflegten, sorgte
der Neichelsheimer für das Aeußere seiner schriftlichen Ausfertigungen auf das
glänzendste.
Er hatte eine in ritterlichen Kreisen seltene benausische Neigung und trieb
in seinen Mußestunden, deren er trotz der vielen Aemter immer noch mehre
des Tages hatte, die edle Buchdruckerkunst, und so ließ er sich nicht verdrießen,
in schönen großen Lettern die Köpfe seiner amtlichen Schreiben zu drucken und
hatte daran eine dreifache Freude, denn es erquickt den Menschen das Bewußt¬
sein. Schönes geschaffen zu haben, und es erfreut den Schreiber, auch äußerlich
die Spur seiner geistigen Thätigkeit in schönem Gewand zu erblicken und dem
Adressaten macht ein schönes sauberes Schriftstück auch mehr Vergnügen als
schlechtes Gekritzel auf schlechtem Papier. In dieser Privatofficin entstanden
darum zahlreiche Impressen und Formulancn und auf schönem Papier die Köpfe
der Berichte an Regierung, Staatsministerium, Finanzcollegium, Obergericht
(Hof- und Appellationsgericht), Knegsdepartement, Oberjägermeisteramt u. f. w.
an alle Staats- und Hofstellen. Davon reichten aber stets wenige Exemplare
aus, der Verkehr der Localstellen unter einander ist natürlich bedeutender und
seine schriftlichen Pioducte sind massenhafter. Dafür war ebenfalls gesorgt und
schöne Bogen mit den zierlichen Aufschriften „Das herzogliche Amt zu
Reichelsheim an die herzogliche Landoberschult heißerei daselbst",
„Das herzogliche Amt zu Reichelsheim an die herzogliche Necep-
tur daselbst", „An herzogliches Amt zu Reichelsheim gehorsam¬
ster Bericht der herzoglichen La n d o be r schuld hei ß e r e i dasebst"
lagen auf den verschiedenen Bureaus des einen und doch dreifältigen Beamten.
Wenn ein Unterthan mit Hinterlassung minderjähriger Kinder gestorben, so
machte der Bürgermeister davon vorschriftsmäßig die Anzeige an das Amt. Der
Amtmann nahm einen sauberen Kopfbogen mit der Aufschrift „Das herzog¬
liche Amt an die herzogliche La ut ob erschulth eißerei" und schrieb
darauf: „Ich beauftrage Sie mit der Vornahme der Jnventarisation und Thei¬
lung und sehe der Vorlage der Theilungsacten innerhalb vier Wochen entgegen."
Er hatte sich selbst einen Auftrag gegeben und nachdem er ihn vollzogen, nahm
er einen Bogen mit der Aufschrift: „An herzogliches Amt gehormsamster Be¬
richt der herzoglichen Landoberschultheißerei" und schrieb darauf, nachdem er
rechts oben die Rubrik gesetzt: „Die entstandenen Acten lege ich gehorsamst
vor." Er theilte sich selbst Acten mit. Auf dem einen Bureau sitzend, schrieb
er an die herzogliche Ncceptur, indem er die Liste der bestraften Fcldfrcvler zur
Erhebung und Verrechnung der Geldstrafen mittheilte und der Bureaudiener
siegelte den Brief und addresfnte ihn: „An herzogliche Receptur dahier" und
trug ihn hinaus aus der Amtsstube und hinüber über den Gang in das Local
der Receptur und legte ihn dort auf den Tisch, damit nachher der Herr Rent-
meister ihn finde, eröffne, mit dem xrg.os0uta.tum versehe und registrire. Adressant
und Adressat sind eine physische, aber zwei moralische Personen und die Er¬
scheinung, daß der Briefsteller auch selbst sich die Antwort schreibt, dürfte
nicht leicht so oft vorgekommen sein, als in der nassauischen Enclave in der
Wetterau.
Die Details dieser amtlichen Thätigkeit und die seltsame Sprache des
Herrn Amtmanns, wenn er einen „gehorsamen Bericht" des herzoglichen
Landoberschultheißen nunmehr zum dritten Male in Erinnerung bringen mußte,
die Rescripta des Amtmanns an den Landvbcrschultheißen, wenn er zufolge
seiner Dienstvcrpflichtung die ganze Verwaltung der freiwilligen Gerichtsbarkeit
einer sorgfältigen Controle unterzogen hatte und allerlei zu tadeln fand, sind
nicht in die Oeffentlichkeit gedrungen, es waltete darüber das Dicnstgeheimniß
und das mag gut sein, der geneigte Leser kann sich ohne Sorge das Fehlende
ergänzen: Zwiegespräche zweier Seelen in einer Brust.
Manches Jahr ist das so fortgegangen und mehrentheils wohl in Ordnung,
die verschiedenen Behörden unter einem Dache und einem Kopfe haben sich
vertragen, das Gegentheil ist wenigstens nicht bekannt geworden. Wo aber die
Keime zu einer Verwickelung liegen, findet sich die Gelegenheit, und so ging es
auch hier.
Der herzogliche Landoberschultheiß, der Beamte der freiwilligen Gerichts¬
barkeit in Reichelsheim. hatte eines Tages ein Testament aufgenommen, worin
ein kinderloser Unterthan die Erbfolge nach seinem Tode zu ordnen suchte. Wie
es gesetzliche Vorschrift ist, hatte der Landoberschulthciß das Testament zu den
amtlichen Depositen gegeben, es bei sich selbst hinterlegt. Der Testator ist bald
darauf mit Tode abgegangen, und wie es ebenfalls das nassauische Gesetz vor¬
schreibt, wurde das Testament beim Amte in Gegenwart der Jntcstaterben ge¬
öffnet und verkündigt. Was aber der Testator gewollt hatte, daß nach seinem
Tode seine Erben in Friede und mit Vernunft nach den Bestimmungen des
Testaments sich auseinandersetzen sollten, das traf nicht zu, wie so häufig die
letzten Wünsche der Menschen vereitelt werden. Die Erben genethen in einen
Proceß und das Testament gerieth in die Acten, es war ein Beweisstück und
seine Auslegung ein Hauptgrund der Entscheidung. Und die Entscheidung hing
von dem herzoglichen Amte ab, das in erster Instanz Urtheil sprechen mußte.
Der herzogliche Amtmann gab sein Urtheil ab, und es mußte einer oder
beiden Parteien nicht gefallen haben, denn es wurde dagegen Appellation an¬
gezeigt, und ging diese an das vorgesetzte Obergericht, das Hof- und Appellations-
gericht zu Dillenburg. Die Acten wurden dahin gesandt und das neue Urtheil
gesprochen. Mit einer Abschrift dieses Erkenntnisses kehrten die Acten zurück
und in einem Nesripte hatte diesmal das Obergericht zu Dillenburg das herzog¬
liche Amt angewiesen, wegen eines Formfehlers oder einer Nachlässigkeit in der
Redaction des bewußten Testaments dem Landoberschultheißcn einen Verweis zu
ertheilen und denselben aufzufordern, in Zukunft streng nach der Vorschrift zu
Verfahren. Der Beamte hatte natürlich nur einen der schönen Kopfbogen vor
sich zu legen und diesen Verweis dem hohen Auftrag entsprechend an seinen
Untergebenen zu richten, es mag sein, daß er sich nicht gefreut hatte, einen
solchen Auftrag zu erhalten, Thatsache aber ist es, daß er erst in Aerger aus¬
brach, als er nach einigen Stunden den sich selbst ertheilten Verweis auf seinem
andern Arbeitstisch, an welchem er sich als Landoberschulthciß fühlte, vorfand
und zur Kenntniß nahm. Der Landoberschulthciß konnte nun vor Aerger nicht
mehr ruhen, er setzte sich sofort hin und berichtete eine lange und gelehrte Ver¬
theidigung an das Amt und setzte darin auseinander, warum er also verfahren
bei Abfassung des Testamentes und bat schließlich, diese seine Nemonstration an
das Obergericht gelangen zu lassen. Was in dem Mann kochte, war nunmehr
heraus, es stand auf schönem Papier und der Bureaudiener siegelte es, adrcsstrte
es und trug es hinüber in das andere Zimmer, wo der Herr Amtmann zu
sitzen Pflegte. Nach einiger Zeit fand sich auch der Amtmann ein und erbrach
den Bericht des Landoberschultheißcn und ohne einen Schein von Parteilichkeit
legte er die Vertheidigung mit einem Berichte dem Obergericht vor.
Dasselbe muß nun im Recht gewesen sein oder die Gründe des großen
Juristen und Praktikers nicht gewürdigt haben; es rescribnte, daß es bei dem
Verweis bleiben solle und in Zukunft anders verfahren werden müßte. Auch
diesen harten Bescheid theilte der Amtmann in großer Seelenruhe dem unter¬
geordneten Landoberschultheißcn mit; und es war erst an diesem zu ergrimmen
und mit heftiger Feder dem Gerichtshof zu Leibe zu rücken, der in seiner All¬
wissenheit glaubte, keines Menschen Gründe hören zu dürfen. Es mag diese
zweite Nemonstration etwas unhöflich gewesen sein und es sollen überhaupt die
Juristen leicht bei Streiten über wissenschaftliche Sätze oder deren Anwendung
auf einzelne Fälle in kleine Anzüglichkeiten gerathen — zum Beweis die be¬
kannte «ZMLLtio vomiti-eng, und die Antwort des Juvcntius darauf — oder
war der Herr Referent am Obergericht sehr empfindlich gegen Angriffe auf seine
Autorität, genug es erging von neuem ein Rescript an das Amt, worin dem
Landobcrschulthcißen der Verweis wiederholt bestätigt und ihm nebenher wegen
einiger bitteren Bemerkungen über den ganzen Nescriptsproceß eine Discipiinar-
strafe von si. ö angesetzt wurde. Der Amtmann mußte diese Strafe in das
Strafmanua! eintragen und er hat dies, wie die Geschichte in ihrem Verlauf
zeigt, redlich gethan, jedenfalls auch sein in einer anderen Beamtung steckendes
Selbst durch Rescript benachrichtigt.
Nun wäre die Sache sehr wohl erledigt gewesen, wenn einestheils der
Herr sich über den Verlust von fünf Gulden hatte trösten können und andern-
theils nicht noch eine Jnsta.iz übrig war, die schützen konnte gegen solche miß-
verstandene Anwendung der Disciplinargewalt.
In dem gewesenen Herzogthum Nassau konnte jeder, der mit irgendwelcher
Strafe von dem Gerichte oder im Disciplinarweg, ja von dem Bürgermeister
als Ortspolizeirichter belegt worden war, dagegen die Gnade des Souveräns
anrufen, und er konnte dies nicht blos, sondern bei jeder wenigstens gerichtlichen
Verurtheilung mußte der Richter dem Cvnbemnaten seine Zuständigkeiten genau
bezeichnen und nöthigenfalls erklären und zu diesen Zuständigkeiten gehörte der
Gnadenweg.
Der Herzog hatte sein schönstes Recht theilweise dem Ministerium über¬
tragen, einer Behörde, die unter dem Titel „Haus- und Staatsministerium"
eine Recursinstanz über die verschiedenen Departements bildete und die Functionen
des Justizministers hatte; dieses Mimsterium, besetzt mit einem Minister, der
sich seine Qualifikation als hessischer Eavalerieossizier erworben, und einigen
Räthen, entschied auf Gnadengesuche, wenn die Strafe nicht mehr betrug als
30 Gulden an Geld oder 28 Tage Gefängniß.
Der arme bestrafte Landobcrschultheiß suchte um gnädigen Erlaß seiner
Geldstrafe nach, und, wie es so ging, hatte das Gesuch in der Kanzlei des Mi¬
nisteriums kein anderes Schicksal, als daß es der vorgesetzten Behörde zum
Bericht verschrieben wurde und es hatte der dreifache Gewalthaber in Reichels-
heim nunmehr über sein eignes Strascrlaßgcsuch zu berichten und mochte wohl
fühlen, daß auf seinen gut motivuten Antrag viel ankommen könne.
Während dieser Manipulationen war nunmehr ein Monat zu Ende ge¬
gangen und es hat am Schlüsse eines jeden Monats jeder Beamte einen Aus¬
zug seines Strafmanuals der oberen Finanzbehörde vorzulegen, welche denselben
festsetzt und der betreffenden Erhebungsstelle, der Receptur des Amtes, zur Er¬
hebung überträgt. Und so geschah es auch diesmal und das Furanzcollegium
zu Wiesbaden mandirte den Reccpturvecunten in Reichelsheim, die im Straf¬
manual des Amtmanns angesetzte Strafe von dem Landoberschultheißen zu er«
heben. Die Rcccpturen haben Uiitcrerheber. welche nur im Bertragsverhältniß
zu den Receptulbeamten stehen und von den erhobenen Steuern, Strafen, Ge¬
fallen eine Provision beziehen. Dieser Uutererhcber erhielt denn hier von dem
Recepturbeamtcn. der stets dieselbe Kleidung trug, wie sein anderes Selbst der
Amtmann oder seine dritte Incarnation, der Landoberschultheiß, den Auftrag,
fünf Gulden Strafe von dem Landoberschultheißen zu erheben und abzuliefern.
Aber damit war der Condemnat nicht einverstanden, sondern er erwirkte sich
bei dem Amtmann eine Bescheinigung, daß er ein Gnadengesuch eingereicht habe
und damit bis zur erfolgten Entschließung hierauf eine Sistirung des Bei¬
treibungsverfahrens. Als dann so die unmittelbare Gefahr einer finanziellen
Execution sich verzogen, machte sich der Amtmann daran und berichtete eingehend
über sein als Landoverschultheih eingereichtes Strascrlaßgesuch und soll in diesem
Berichte in unparteiischer Auseinandersetzung endlich gefunden haben, daß er
als Landoberschuitheiß ohne Fehl und streng gesetzlich gehandelt und in seinen
Nemonstrationen gegen die oberrichterlichen Verweise den passenden Ton nicht ver¬
letzt habe.
Und so ging dieser Bericht ab und das herzogliche Amt setzte von dessen
Abgang vorsorglich die herzogliche Receptur in Kenntniß, damit sie sich ungefähr
denken könne, wie lange sie die Beitreibung der Geldstrafe gegen den Land¬
oberschultheißen sistiren dürfe. Denn es darf hier nicht verschwiegen werden,
daß die schönen Kopfbogen aus der eigenen Druckerei des Herrn Amtmanns,
Landoberschultheißen und Rentmeisters jeden der drei Gewalthaber in der Drei¬
einigkeit zu kalligraphischen und stilistischen Uebungen nur zu leicht verführten.
Es währte aber lange mit der Entscheidung auf das so eigenthümlich eingeführte
Strafcrlaßgesuch, und der Recepturveamte, der gern seine Restanten schwinden
sah. mahnte öfters den Schuldner und erhielt die amtliche Antwort, daß noch
nicht decretirt sei auf die Eingabe, und auch der Herr Amtmann soll erbittert
gewesen sein über die Verzögerung; nur der Herr Landoberschultheiß habe
immer gelächelt und sich gefreut, denn so lange die Entscheidung auf sich warten
ließ, so lange behielt er seine fünf Gulden in der Tasche. Aber es sollte alles
anders kommen, als der dreieinige Beamte sich vorgestellt hatte und kam
recht hart.
Die herzoglich nassauischen Beamten der Justiz in unterster Instanz standen
in Disciplinarsachcn nicht unter den Gerichten, sondern unter der Verwaltung,
da sie gleichzeitig Verwaltungsbeamte waren und man die Verwaltung als die
Hauptsache, die Rechtsprechung immer nur als ein Nebengeschäft betrachtete.
Die oberste Verwaltungsbehörde hieß die Landesregierung und hatte etwa die
Functionen eines Ministeriums des Innern. Mit dieser, also dem Amte zu
Netchelsheim vorgesetzten Behörde hatte das Appellationsgericht zu Dillenburg,
welches die Strafe gegen den Landoberschuitheiß verfügt hatte, sich in Benehmen
gesetzt, als es das Straserlaßgesuch mit dem schonen Berichte des Amtes erhielt,
und da ihm die unterhaltende Korrespondenz einer Person in amtlicher Stellung
mit sich selbst doch zu scherzhaft erschien, auf eine Untersuchung dieses Curiosums
angetragen. Und diese harte Regierung ließ die Acten einfordern und so sehr
der Herr Amtmann betheuerte und nachwies, daß alles in Ordnung sei. alles
nach Gesetz und Brauch hergegangen sei, fand sie das ganze Manöver schlecht
geeignet, eines Beamten Ansehen zu fördern, sie tadelte es unerbittlich und
setzte dem ordnungsliebenden Mann, der unter der Last dreier Aemter, um die
verschiedenen Geschäfte nicht zu vermischen, sich selbst getheilt hatte, eine
empfindliche Geldstrafe an.
Von da an soll er an sich selbst nur noch in solchen Sachen geschrieben
haben, wo er nicht auch Partei war, also volle Unparteilichkeit in allen drei
Aemtern wahren konnte, und er soll, trotzdem es ihm unverständlich blieb, wie
man ihn tadeln konnte, doch stets besorgt gewesen sein, Acten, in denen solche
Selbstgespräche vorkommen, der Cognition der Oberbehörden so viel als möglich
zu entziehen.
Jetzt ist der Mann gestorben und das Herzogthum Nassau verschwunden,
es mag aber noch ähnliche Zustände im deutschen Reiche geben. Gott bessere es!
In ihrem Rückblick auf das Jahr 1866 gesteht die Times unumwunden
zu, daß der Einfluß Englands in der auswärtigen Politik (irr dirs eouueils ok
etre porta) stetig abgenommen habe oder doch wenigstens suspendirt sei und
schreibt dies der relative ineküeisirev ok tue rmtiorml armaivents zu. Ueber
die Thatsache selbst kann kein Zweifel sein, England gilt in Europa augenblick-
lich als Macht zweiten Ranges, aber wir zweifeln, ob die geringe Zahl seiner
Soldaten der einzige Grund hierfür ist und nicht vielmehr die eigentliche Ursache
jn dem Mangel jeder bestimmten Politik liegt. Von Waterloo bis zur russischen
C ampagne haben die englischen Regimenter nirgends in europäischen Angelegen¬
heiten gefochten und doch war der britische Einfluß mächtig, weil man wußte,
daß hinter dem Wort der Minister der Entschluß zu handeln stand. Lord Russell
hat England um diesen Einfluß gebracht, es war schon an sich der größte Miß.
griff, einem Manne, der sein ganzes Leben sich ausschließlich mit inneren Fragen
beschäftigt, das Auswärtige Amt zu übergeben, blos weil er es verlangte, um
^eine Sympathie für Italien zu zeigen und man seines Beistandes nicht ent«
^ath en konnte, um das derbysche Cabinet zu stürzen. Er hat dann in allen
Fragen zwar eine große Geschäftigkeit gezeigt, aller Welt Lectionen über ihre
Pflichten ertheilt, aber niemals gehandelt. Er nahm mit Frankreich die Sache
Polens auf und erklärte im kritischen Augenblick, England werde niemals dafür
Krieg führen, er nahm bald darauf in der unverständigsten Weise Partei für
Dänemark und überließ es seinem Schicksal, er hatte nicht den Muth, die
amerikanische Conföderation anzuerkennen und compromittirte doch das Ver¬
hältniß Englands zur Union durch die versteckte Duldung der Ausrüstung von
südlichen Kapern und die schroffe Abweisung der Entschädigungsansprüche wegen
der Alabama, er zeigte endlich im verflossenen Sommer die lauteste, aber auch
unfruchtbarste Sympathie für Oestreich bis zu dem Augenblick, wo seine Re¬
gierung durch die halbschlächtige Reformbill Gladstones siel. Daß an seine Stelle
Lord Stanley trat, mußte jeden befremden, der nicht mit dem englischen Partei¬
wesen bekannt ist, gleich Lord Russell hatte sich sein Nachfolger niemals um
auswärtige Angelegenheiten bekümmert, vielmehr ausschließlich inneren Fragen
zugewandt, er hatte Indien und Amerika bereist, aber der Kontinent war ihm
fremd. Seine Ernennung hatte denn auch nur den Grund, daß die Partei
Disraeli, dessen Ehrgeiz das Foreign Office seit lange erstrebt, dort nicht haben
wollte, weil sie ihm mißtraut, die Tories können den talentvollen Emporkömm¬
ling nicht als Führer des Hauses entbehren, aber sie wollen ihn nicht zu einer
Stellung gelangen lassen, wo sein Thatendrang unbequem werden könnte, man
fürchtete, er könne England in einen Krieg stürzen, deshalb wies man ihm das
Schatzamt zu, wo er füglich nichts weiter thun kann, als die gladstonische
Finanzpolitik fortzusetzen. Lord Stanley hat nun allerdings den Tact gezeigt,
sich nicht wie sein Vorgänger als unberufener Rathgeber überall aufzudrängen,
er hat dem großen Umschwung der öffentlichen Meinung entsprechend eine
freundliche Stellung zu Preußen angenommen und wünscht dem deutschen
Einigungswcrke Gelingen, aber seine ganze Politik hat doch nicht mehr
positive Ziele als die der Whigs und geht nur darauf hinaus, England vor
jeder Verwickelung ängstlich zu bewahren. Es steht indeß dahin, ob nicht
grade diese Tendenz zu Verwickelungen im Osten führen muß, hätten die
Wcstmächte die kandiotische Frage gleich ernstlich in die Hand genommen, so
hätte sie niemals ihre gegenwärtige Bedeutung gewinnen können. Allein dem
hiesigen Cabinet. wie dem Kaiser Napoleon schien das Wiederaufleben der
orientalischen Frage sehr ungelegen, Marquis de Moustier führte, als er sich
von Konstantinopel nach Paris begab, um sein Portefeuille zu übernehmen,
auf der Durchreise in Athen eine fast drohende Sprache, England secundirte,
dadurch ward die Pforte halsstarrig gemacht, verweigerte jede Concession und
suchte nur die Unterwerfung der Kandioten zu formen, bis die Katastrophe von
Arkadi der Welt zeigte, daß es sich hier um einen Vernichtungskampf zwi¬
schen Griechen und Türken handelt. Jetzt wandte sich nun wieder das Miß-
Vergnügen der Westmächte gegen die Pforte und sie tadelten laut, daß dieselbe
keinerlei, Concessionen mache, sie verlangen jetzt, man solle in Konstantinopel
den Forderungen Serbiens nachgeben, welche vorläufig dahin gehen, daß die
türkischen Besatzungen aus den dortigen Festungen zurückgezogen werden sollen..
Die Pforte aber erklärt es unmöglich, die Citadelle von Belgrad zu räumen,
weil das Aufgeben dieses Gibraltars in den Augen ihrer muselmännischen Be¬
völkerung, in welcher schließlich ihr ganzer Halt ruht, eine Selbsterniedrigung
wäre. Außerdem weiß man sehr wohl in Konstantinopel, daß dieser Forderung
andere folgen würden, weil Serbien dieselbe Unabhängigkeit erkämpfen will,
welche die Donaufürstenthümer errungen haben. Inzwischen läßt die griechische
Regierung die. Maske der Neutralität immer mehr fallen, der diplomatische
Bruch mit der Türkei wird sich schwerlich noch lange hinausschieben lassen und
demselben dürften thatsächliche Feindseligkeiten bald folgen. Daß Rußland im
Stillen schürt, zeigt die ganze Haltung seiner officiösen Presse, Fürst Gortscha-
koffs Ziel ist es, Rußland von den Fesseln des Vertrages von 1836 loszu-
machen, seine Organe sind geschäftig zu beweisen, daß die dort stipulirte Un-
verletzlichkeit der Türkei durch die Einführung der Erblichkeit in Aegypten und
den Donaufürstenthümcrn aufgegeben sei, daß die christlichen Unterthanen der
Pforte droh des Hatti - Hamagun nur um so mehr gedrückt seien, daß also
vom pariser Frieden nichts übrig sei als die gegen Rußland gerichteten Be¬
stimmungen.
Was werden England und Frankreich dieser wachsenden Bewegung gegen¬
über thun? Vorläufig scheinen sie nur zu dem Einverständnis, gelangt, in eng¬
ster Gemeinschaft bleiben zu wollen, damit sind alle weitergehenden Plane,
welche wohl sonst der Politik beider vorgeschwebt haben, wie z. B. die Er¬
werbung Aegyptens durch England, für jetzt bei Seite geschoben. Aber werden
sie sich über eine positive Action einigen, wenn alle Versuche, die Bewegung
einzudämmen, gescheitert sind? Es ist erlaubt, hieran zu zweifeln, bis man Be¬
weise des Gegentheils hat, hier wenigstens wird auch für diesen Fall bereits
stark absolute Nichtintervention gepredigt, eine Politik, die ganz mit den Wün¬
schen der Moskaner Zeitung übereinstimmt, welche dagegen die Garantie geben
will, daß Nußland auf jede Vergrößerung im Oriente verzichte.
Oestreichs innere Lage ist so verzweifelt, daß es schwerlich irgendwie activ
in jene Verhältnisse eingreifen kann, Preußen ist in der günstigen Situation
nicht direct betheiligt zu sein und daher um seine Freundschaft werben lassen zu
können.
Im Ganzen macht freilich unstreitig die auswärtige Politik der englischen
Negierung die geringste Sorge, die große Frage, mit der Lord Derby steht und
fällt, ist die Parlamentsrcform, welche die Session von 1867 wohl zu der be¬
wegtesten seit Abschaffung der Korngesetze machen wird.
Dos vorige Jahr, welches die Stellung der europäischen Mächte so gründ¬
lich verändert hat, ist für die neue Welt kaum weniger bedeutsam gewesen.
Zwar der furchtbare Kampf, welcher jahrelang die Union verwüstet, ihl beendet,
die große Nordarmee ist aufgelöst und ihre Mitglieder sind wieder zu ihren
bürgerlichen Beschäftigungen zurückgekehrt, aber die politischen Folgen des Krieges
und des Sieges des Nordens treten eist jetzt mit voller Konsequenz hervor in
dem Conflict zwischen dem Kongreß und dem Präsidenten. Der Krieg, welcher
die volle Concentration aller Kräfte verlangte, hatte die Macht, der Execution
sehr erhöht, aber niemand sah dies mit Mißtraue», so lange Lincoln an der
Spitze stand, der seine Gewalt nur im Einverständnis; mit der großen Mehrheit
des Volkes brauchte, indeß die Situation änderte sich, als sein Nachfolger nach
Beendigung des Kampfes immer offener für den besiegten Süden vortrat. Wir
sind überzeugt, daß Präsident Johnson in vielen Punkten seiner Politik an sich
vollkommen recht hat und daß die Durchführung des radicalen Programms mit
großen Unzuträglichsten verbunden sein wird, aber die Weise, in welcher er
seine Absichten durchzusetzen trachtete, war höchst verkehrt und muß ihm ver-
hängnißvoll werden, während ein staatskluges Einlenken im Anfang des vorigen
Jahres noch zu einem Compromiß hätte führen können. Damals waren außer
den Demokraten noch eine bedeutende Anzahl der gemäßigten Republikaner für
eine Verständigung, der Kongreß opponirte sich nicht, als das Amendement zur
Verfassung, welches die Sklaverei aufhob, den legislativen Versammlungen der
Südstaaten zur Sanction unterbreitet ward und die nothwendigen zwei Drittel
Majorität erhielt, damit hatte man aber auch offenbar zugegeben, daß diese
Versammlungen wieder gesetzliche Existenz gewonnen. Die Proteste der Führer
der radicalen Partei, Thaddcus Stevens und Siunmero. blieben unbeachtet und
man ging ein auf die Frage der Wiederzulassung der Südstaaten in die Union.
In der langen Debatte, welche sich hierüber in beiden Häusern entspann, ge¬
wannen indeß die republikanischen Tendenzen mehr und mehr Boden, man er¬
zielte endlich eine Uebereinstimmung durch das bekannte Censtitutional-Amende-
ment. Dasselbe bestimmte allerdings, daß Personen, welche in den Einzelstaaten
kein Stimmrecht hätten, auch für Wahlen in Bundesangelegcnheiten dasselbe
nicht genießen sollten, aber es schloß alle diejenigen von Staats- und Bundes¬
ämtern aus, welche früher der Union Gehorsam geschworen und nachher doch der
conföderirten Negierung gedient hatten. So gerecht dies im Princip sein mochte,
so schwierig war es in der Ausführung, denn in den eigentlichen Südstaaten
waren damit eigentlich alle Kandidaten von irgendwelcher Bedeutung ausge¬
schlossen, in der That haben dann außer dem Süden auch die sogenannten
Grenzstaaten dem Amendement ihre Zustimmung verweigert. Der Präsident
trat seinerseits immer offener auf die Seite des Südens, er machte von seinem
Begnadigungsrechte den umfassendsten Gebrauch, sanctionirte die Bildung von
Regierungen in den Staaten der frühern Konföderation, verlangte vom Kon¬
greß die Zulassung von Senatoren und Abgeordneten derselben und setzte der
Bill für Verlängerung der dem Freedmen - Bureau übertragenen Gewalt sein
Veto entgegen. Aber hiermit nicht zufrieden, griff er seine Gegner auf das
ungemcssenste persönlich an. am Geburtstage Washingtons scheute er sich nicht
auf offener Straße zu erklären, daß die Führer im Kongreß Pläne gegen sein
Leben verfolgten, auf einer Herbstrundreise durch die nördlichen Staaten, die er
unternahm, um seinen erschütterten Einfluß herzustellen, erging er sich in den
maßlosesten Jnvcctiven gegen die Republikaner und klagte bei einer Gelegenheit
den Kongreß an, „g.8 g, usurxivA doa^, >vlrieri rexresLirtsä ont^ g, seetioir
ot ddo KeMdlie". Weit entfernt seiner Sache zu nützen, erbitterte er
seine Gegner durch derartige Ausfälle noch mehr und beleidigte selbst seine
bisherigen Anhänger. In den bald darauf folgenden Wahlen siegte in allen
Nordstaaten die republikanische Partei, so daß er in dem zum März eintretenden
neuen Kongreß mehr als zwei Drittel Majorität gegen sich haben wird, ja selbst
in der gegenwärtigen Versammlung ist die herrschende Partei stark genug, ihre
Maßregeln gegen sein Veto durchzusetzen und wenn er in der Botschaft seinen
Standpunkt starr festhält, so kann dies nur den Sinn haben, daß er ohne
Hoffnung seine Sacke durchzusehen wenigstens den Ruhm der Konsequenz
ernten will.
Es ist indeß fraglich, ob ihm dies nicht theuer zu stehen kommen wird.
Bereits im Herbst drohten seine Gegner laut mit Verfolgung und nach Zu¬
sammentritt des Kongresses erhielt der Antrag Ashleys, „zu untersuchen, ob sich
irgendwelche Beamte der Union des Hvchverrathes oder andrer Vergehen schuldig
gemacht", nur deshalb nicht die erforderliche Majorität von zwei Drittel, weil
er als zu Vag betrachtet wird, ein neuer Antrag, weicher darauf gehen soll zu
untersuchen, ob das Verfahren des Präsidenten hinreichenden Anlaß zur Ver¬
haftung giebt, wird wahrscheinlich angenommen werden, außerdem ist die Justiz-
commission des Hauses beauftragt, die Praxis bei Verhaftungsfällen festzustellen.
Man wird bis März schwerlich über diese Präliminarien hinauskommen und
die Entscheidung dem neuen Kongreß überlassen. Die Verfassung besagt über
diesen Fall folgendes. Art. II, Tit. 4:
„Der Präsident, Vicepräsidcnt und alle Civilbeamten der Vereinigten
Staaten sollen des Amts entsetzt werden, wenn sie wegen Verrath, Bestechung
oder anderer Staatsverbrechen und Vergehen verhaftet und überführt sind."
Art. I, Tit. 1 und 3: „Das Haus der Repräsentanten soll allein das Recht
der Verhaftung haben, der Senat allein soll in solchen Fällen entscheiden, in
diesem Falle sollen die Mitglieder speciell vereidigt werden. Ist der Präsident
der Vereinigten Staaten angeklagt, so soll der Oberrichter (Odiet justice) Prä¬
sidiren, niemand soll ohne eine Majorität von zwei Drittel der anwesenden
Stimmen verurtheilt werden können. Das Urtheil soll nur gehen auf Amts-
entsetzung und Unfähigkeit, irgendeinen Ehren«, Vertrauens- oder einträglichen
Posten in den Vereinigten Staaten zu bekleiden, doch bleibt die verurtheilte
Partei haftbar für andre Anklage, Proceß, Verurteilung und Bestrafung nach
dem Gesetze."
Diese Bestimmungen sind wenig eingehend und überlassen sehr vieles dem
Ermessen des Hauses der Repräsentanten, sowohl hinsichtlich der Vergehen,
wegen derer ein Beamter verhaftet werden soll, als hinsichtlich der Formen,
nach denen man vorzugehen hat, die Urheber der Verfassung haben offenbar
vorhergesehen, daß, da eine Verhaftung des Präsidenten etwas ganz Abnormes
ist, auch jeder Generation ein gewisser Spielraum gelassen werden muß, nach
bewandten Umständen zu verfahren. So scheint es diesmal die Absicht, den
Präsidenten während des Processes von seinen Functionen zu suspendiren, was
in der Verfassung nicht vorgesehen, aber dadurch begründet wird, daß Johnson
gedroht, sich seiner Verhaftung mit allen Mitteln zu widersetzen. Es würde
dies der erste Fall eines Hochverrathsprocesses gegen einen Präsidenten sein,
nur fünf Fälle gegen andere Beamte sind überhaupt vorgekommen, merkwür¬
digerweise ist Johnson selbst der Urheber der letzten Verhaftung, indem er als
militärischer Gouverneur von Tcnessee den Richter Humphries anklagte, daß er
in öffentlicher Rede das Secessionsrecht von der Union vertheidigt.
Wie erwähnt wird aller Wahrscheinlichkeit nach erst der kommende Kongreß
eine Entscheidung in dieser merkwürdigen Frage bringen, aber auch die übrigen
sachlich weit gewichtigeren Maßregeln, namentlich die Rcconstruction des Südens,
die Zulassung der Farbigen zum Stimmenrecht und Aemtern und die Finanz¬
politik, scheinen bis zum Frühjahr vertagt werden zu sollen. Das einzige Ge¬
setz, was bis jetzt zu Stande gekommen, ist die vistriet ot Liowmdig, LuttraZL
Lili, welche den Farbigen in dem Washingtoner Regierungsbezirk Stimmrecht
verleiht. Dies weist auf gleiche Maßregeln hinsichtlich der Südstaaten, welche
die Majorität des Kongresses zu Territorien degradiren will; ob es möglich ist,
die 5—6 Millionen Weiße im Süden in permanenter Unterwerfung zu halten,
wird die Zeit lehren, aber augenblicklich haben die Radicalen Macht, alles
durchzusetzen. Das merkwürdigste politische Resultat des Krieges ist überhaupt
die ungeheure Vermehrung der Macht des Congresses und die ihr entsprechende
Verminderung der Macht des Präsidenten, bisher waren die begrenzten Functio-
nen der Bundesregierung sehr wesentlich in den Händen des letzteren, der Krieg
dehnte die Macht der Centralgewalt sehr aus. Lincoln war zu einer Zeit so
allmächtig wie Napoleon der Dritte, aber es war nur. weil er in Ueberein¬
stimmung mit der großen Mehrheit der Bevölkerung regierte, die Johnson gegen
sich hat. Die straffere Centralisation wird bleiben, aber sie wird nicht mehr
von der Execution, sondern von der Legislativ» geübt werden. Staatssecretär
Seward äußerte kürzlich gegen ein englisches Parlamentsmitglied: „Bei Ihnen
geht die Tendenz vom parlamentarischen zum Volksregiment, bei uns umgekehrt
vom Volksregiment, als dessen Repräsentant bisher der Präsident galt, zum
Parlamentarismus."
Mehr Erfolg hat die auswärtige Politik des Präsidenten gehabt, denn
wesentlich auf das Drängen Amerikas hat Napoleon sich zum Rückzüge aus
Mexico verstanden und in der Aufrechthaltung der Monroedoctrin sind alle
Parteien einig. Seit dem Siege des Nordens war das Experiment eines
lateinischen Kaiserthums im Westen unrettbarem Untergang verfallen, aber die
Anarchie scheint nach Abzug der Franzosen grauenvoll zu werden und es bleibt
abzuwarten, ob die Vereinigten Staaten durch die Uebernahme einer Art von
Protectorat dem Unwesen steuern werden, womit ihr Schützling Juarez bereits
seinen Wiedereintritt in das unglückliche Land bezeichnet habe. Die Differenzen
mit England haben im verflossenen Jahre keine Lösung gefunden, Lord Stan¬
ley hat sich zwar in der Alabamafrage entgegenkommender gezeigt als sein Vor¬
gänger, aber auch er wird sich so wenig als irgendein anderer englischer Minister
dazu verstehen können, einfach die amerikanische Entschädigungsforderung zu
acceptiren, deren Betrag noch nicht einmal fest genannt ist, jedenfalls aber enorm
sein muß.
Die glänzendste Seite des verflossenen Jahres für die Union bieten ihre
Finanzen, doch ist dies ein so reiches und merkwürdiges Capitel, daß wir es
uns für einen besonderen Artikel zurücklegen.
Die nationale Verflachung, der unerquickliche Kosmopolitismus, welcher
im letzten Jahrhundert der römischen Republik alle Schichten der Gesellschaft
mit hellenischer Tünche überkleidete, äußerte auch einen bedeutenden Einfluß auf
Erziehung und Unterricht. Nicht genug, daß die griechische Sprache und die
griechischen Wissenschaften sich als integrirendc Bestandtheile der italienischen
Bildung einbürgerten; auch auf den lateinischen Unterricht ging griechischer
Geist und griechische Methode über. Die Häufung des Bildungsstoffes erzeugte
eine Erweiterung der Disciplinen, eine Verlängerung der Lernzeit und eine
Steigerung der Unterrichtsziele, und da überhaupt die Ausbildung des Körpers
durch Gymnastik, die in Hellas so harmonisch mit der Cultur des Geistes Hand
in Hand ging, bei den Römern nur als Vorbereitung zum Kriegsdienste ge¬
trieben wurde, so bekommt durch die vorwiegende Berücksichtigung der geistigen
Ansprüche, sowie auch durch die Benutzung der griechischen Sprache als eigen¬
thümlichen BUdungszweiges der damalige Unterricht manche Ähnlichkeit mit
dem modernen und es verlohnt sich deshalb um so mehr, an ein paar durch
auffallende Absonderlichkeit ausgezeichneten Lehrern aus dem Ende der Republik
und' der ersten Kaiserzeit auch die Verhältnisse, in welchen sich die Vertreter
der Pädagogik der Schule und dem Leben gegenüber befanden, näher zu be¬
leuchten.
In dem unruhigen Consulatsjahrc Ciceros (63 v. Chr.) geschah es, daß
aus dem ungefähr dreißig Meilen von Rom entfernten Benevent, einer schon
damals durch Fruchtbarkeit der Gegend und belebte Straßenzüge in blühendem
Zustande befindlichen Stadt Samniums. der Schulmeister Orbilius Pupillus
nach der Hauptstadt übersiedelte. Berufungen von Professoren kannte man in
jener Zeit noch nicht; alle Schulen waren Privatunternehmungen, um die sich
die Stadt nicht kümmerte. Der Mann aus Benevent kam also jedenfalls nach
Rom, um hier durch eine auf eigenes Risico etablirte Anstalt mehr Ruhm und
Gewinn zu erzielen als in seiner Vaterstadt, wo wahrscheinlich, wie in Venusia.
dem Geburtsorte des Horaz, die Söhne wichtigthuender Centurionen dre Haupt¬
rolle unter der Schuljugend spielten. Keineswegs war aber Orbilius ein
Glücksritter nach Art seiner griechischen College», die damals schaarenweise nach
Rom strömten, um ihre Weisheit an den Mann zu bringen, welche auch bei
immer stärker werdender Nachfrage genug Käufer fand. Orbilius hatte überdies
keine Ursache, auf Fmtunas Gunst zu bauen; er hatte eine schicksalsschwere
Vergangenheit hinter sich liegen und die Blüthe des Mannesalters bereits über¬
schritten, denn er zählte genau fünfzig Jahre; aber er brachte eine reiche Be¬
rufserfahrung mit. Seine Aeltern scheinen grade nicht in ärmlichen Verhältnissen
gelebt zu haben, da Orbilius schon a!s Knabe mit großer Lust den Wissen¬
schaften oblag; vielleicht trieb sein Vater ein einträgliches Handwerk. Aber eine
entsetzliche Katastrophe vernichtete plötzlich des Knaben Jugendglück. Seine
beiden Aeltern wurden, wie Sueton in seinen kurzen Biographien berühmter
Grammatiker erzählt, an einem und demselben Tage ermordet. Da dies nicht
bei einem räuberischen Ueberfalle geschah, sondern „durch die Arglist ihrer Feinde",
so ist es leicht möglich, daß politische Motive zu Grunde lagen und daß der
Vorfall mit den erbitterten Parteikämpfen vor dem Auslnuchc des Bnndes-
genossenkriegcs in Zusammenhang stand. Ob die Familie zufällig schon den
Beinamen Pupillus, d. h. „Waise", „Mündel", führte, oder ob der junge Or¬
bilius infolge seiner Verwaisung von seinen Landsleuten so genannt wurde,
wissen wir nicht. Jener Schlag beraubte ihn wahrscheinlich aller Existenzmittel;
denn er sah sich gezwungen, auf irgendeine Weise sein Brod zu verdienen, und
da er kein Handwerk gelernt hatte, so übernahm er ein subalternes Amt im
Dienste der städtischen Behörden, entweder als Lictor mit dem Stecken vor den
hochvermögcnden Zweimänuern oder den Aedilen Bencvents heischreitend, oder
als beflügelter Amtsbvtc deren Befehle verkündend, oder — und dies ist wohl
das Wahrscheinlichste — als Schreiber oder Rechnungsführer in der Kanzlei
beschäftigt. In allen diesen Fällen w.ir der Lohn ebenso gering als das An¬
sehen des Standes vor der Welt, und wenn sich in Rom nur Leute niederer
Herkunft zu solchen Anstellungen drängten, so war es natürlich in einer Pro-
vinzialstadt nicht anders. Nur wenige Jahre kann Orbilius diesen friedlichen
Dienst bekleidet haben, als er, vielleicht um das Jahr 90 v. Chr. zur militä¬
rischen Carriere überging. Ob dies aus freiem Entschlüsse geschehen sei odcr
ob ein Aushcbungscommissär ihn ausfindig gemacht habe, bleibt dunkel; beinahe
möchte man sich aber für das Zweite entscheiden, weil seit Marius die Con-
scription in ganz Italien stattfand, weil sein kleines Amt ihm nicht Dienstfrei¬
heit verschafft haben mag und weil zum Dienstcrlaß jeder Zeit eine reiche Geld¬
spende für die mit der Aushebung betrauten Offiziere unerläßlich war. Als
Vaterlandsvertheidiger diente der künftige Schulmonarch nach Sueton in Ma¬
kedonien. Zu dieser Provinz gehörte aber auch Thessalien und es ist mehr als
wahrscheinlich, daß er dort den zwischen 87 und 85 sich abspielenden Krieg
gegen den Pontischen Mithridates mitmachte. Er brachte es sogar hier bald
zum Adjutanten des Legionsobersten, vielleicht weniger durch seine Tapferkeit
als durch seine Feoergcwandtheit, da nun die Kanzlei des Commandirenden zu
seinem Ressort gehörte. Sein Posten stand aber immer noch einen Grad unter
dem Hauptmann, wenn er auch im Avancement vom Gemeinen an die zehnte
Stufe einnahm! Der Sold betrug also wohl höchstens das Doppelte des ge¬
wöhnliche», d. h. damals etwa 100 Thaler und Orbilius legte deshalb bald
seine Auszeichnung, einen mit zwei Hörnchen verzierten Helm ab, um — zur
Cavalcrie überzutreten, zu der er vielleicht eine besondere Passion verspürte, bei
der ihm wenigstens die dreifache Löhnung winkte. Die Zeit, wo die Blüthe
der aristokratischen Jugend sich zum Reiterdienst stellte, war damals längst vor¬
über. Die römischen Ritter wurden Wohl noch vom Censor gemustert und
hielten jährlich einmal einen glänzenden Paradcaufzug durch die Stadt; aber
die Reiterei im Felde bestand lediglich aus Nichtrömern. besonders Kelten und
Germanen, nebenbei auch aus italienischen Freiwilligen. Es war also eine
sehr bunt gemischte Truppengattung und Orbilius mag sich in solcher Umgebung
vereinsamter als je gefühlt haben und oft genug in trübe, bittere Stimmung
gerathen sein. Seine Dienstzeit hätte eigentlich zwanzig Jahre gedauert. Es
scheint aber doch, als ob sie auf irgendeine Weise verkürzt worden sei. Es
heißt nämlich bei Sueton: „Nachdem er den Kiegsdienst überstanden, kehrte er
zu den Studien zurück, mit denen er sich schon von den Knabenjahren an eifrig
befaßt hatte (es läßt sich voraussehen, daß er auch als Soldat an seiner Weiter¬
bildung arbeitete!) und war lange öffentlicher Lehrer in seiner Baterstadt, bis
er endlich im funfzigsten Jahre nach Rom zog." Bet vollständigem Ausdienen
der üblichen Jahre wäre schwerlich eine „lange" Zeit für sein Lehramt in
Benevent übrig geblieben.
Ais Orbilius nach Rom kam, hatte sich der Unterricht schon in verschiedene
Stufen gespalten, wenn auch die Lchrziele der einzelnen Schulanstalten noch
keineswegs fest standen. Auf den Elementarlehrer folgte der sogenannte Gram¬
matiker und von diesem gingen die jungen Leute zum Professor der Rhetorik
über. Orbilius ist lange mit Unrecht in jeder Weise herabgesetzt worden; er
lehrte keineswegs die ersten Elemente des Lesens, Schreibens und Rechnens,
sondern muß den wissenschaftlich gebildeten Grammatikern als Mittcllehrern zuge-
rechnet werden. Dennoch wird die Einrichtung seiner Schule ebenso einfach
und den Gewohnheiten des Südens angemessen gewesen sein, wie die der nie¬
drigeren Lehranstalten, d.h. er miethete sich außer seinem Logis eines jener
luftigen Locale, die außerdem auch zum Ausstellen von Bildern benutzt zu wer¬
den pflegten und aus vcrandaähnlichen Borbauen parterre oder auf dem stachen
Dache bestanden, welche nach der Straße zu ganz offen waren. Bon hier aus
erschallten nun schon in der frühesten Morgenstunde zum Aerger der unerbitt-
lich dadurch den Armen des Schlafes entrissenen Nachbarn die Stimmen der bei
Lampenschein in buntem Chöre rccitirenden Schüler, unterbrochen von dem
„Donnern" des „laut schreienden" Lehrers. Die Schule des Orbilius erwarb
sich bald einen guten Ruf. Fünf Jahre nach ihrer Eröffnung ward der junge
Horaz nach Rom gebracht. Sein Bater war rü Erziehung desselben so gewissen-
haft, daß er nickt nur die besten Lehrer, deren sich kein Senators- oder Nitters-
sohn schämen konnte, aufsuchte, sondern auch selbst an Stelle des sonst zu diesem
Zwecke dienenden Pädagvgus oder Gouverneurs den Lehrstunden beiwohnte. Es
gereicht also dem Orbilius zur Ehre, daß der ältere Horatius seinen Sohn ihm
anvertraute und der Dichter nennt unter allen seinen Lehrern grade nur den
Mann aus Benevent. Auch Domitius Marsus. ein bedeutender Epigrammen¬
dichter, genoß seinen Unterricht. Bon Horaz erfahren wir nebenbei, daß Orbilius
Pupillus nach allgemeiner Sitte seinem Unterrichte die lateinische Übersetzung
der Odyssee von dem merkwürdigen Poeten, Schauspieler und Schulmeister
Livius Andronikus zu Grunde legte. Die roh gezimmerten und harten satur¬
nischen Verse derselben wurden den Knaben vorgesprochen n»d dictut, auswendig
gelernt und in singendem Tone stehend wiederholt. Dabei sah der Lehrer nicht
blos auf die Rechtschreibung, auf Grammatik und Metrik, sondern knüpfte auch
an die Erklärung geschichtliche, mythologische, geographische Notizen. Ob Orbi¬
lius das philologische Gebiet überschritt und auch rhetorische Uebungen vornahm,
wissen wir nicht; wenn wir es aber auch annehmen, so waren letztere gewiß
nur propadeutischer Natur und beschränkten sich auf die ersten Versuche im Frei¬
sprechen und Stilisiren.
Trotz des rühmlichen Namens, den sich Orbilius bei den Zeitgenossen er¬
rang, hat ihn die Nachwelt zu einem abschreckenden Beispiel gestempelt, indem
sie sich unter einem Orbilius einen allezeit schlagfertigen, gefühllosen Schul¬
tyrannen dachte. Und allerdings hat Sueton einen Vers von Domitius Marsus
aufbewahrt, welcher lautet:
„Wen Orbilius einst mit Ruth' und Peitsche gezüchtigt",
und noch gravirender ist die Aeußerung von Horaz:
„Nicht als wär' ich ein Feind von des Livius Versen und wünschte
Alles vertilgt, was Orbilius einst unter Schlägen— noch weiß ich's —
Vordeclnmirt dem Knaben."
Freilich trifft ein guter Theil des Vorwurfs den ganzen römischen Lehrer¬
stand, der sich wie der griechische von dem Gebrauch der Nuthe und sogar der
Peitsche viel zu versprechen pflegte. Prügelten schon die dem Sklavenstande
angehörenden Hofmeister die ihnen anvertrauten Knaben oft bei dem geringsten
Vergehen, so war es in der Schule gradezu Regel, dem Verständniß mit dein
Stocke nachzuhelfen. Quintilian sagt: „Wiewohl es gewöhnlich ist und von
Chrysippus nicht getadelt wird, daß die Lernenden geschlagen werden, so mag
ich doch nichts davon wissen." Seine Gründe drangen jedoch nicht überall
durch. Noch Martial nennt den Stengel des Gertcnkrauts „ das Scepter der
Pädagogen" und schilt auf einen neben ihm wohnenden Lehrer, der vom
ersten Hahnenschrei an seine Prügeltrachten auszutheilen Pflegte. Ja, die ein-
zige Abbildung einer Schulstube, die wir aus dem Alterthum besitzen, ein her-
kulanisches Gemälde, stellt den Moment einer solchen Strafexecution dar.
niedergeschlagen sitzen drei Bildungsvbjecte an ihren Plätzen, hinter welchen,
augenscheinlich gelangweilt, wartende Hofmeister und Diener stehen und lehnen.
Im Vordergründe aber saust die verbellende Ruthe auf den Rücken eines Delin¬
quenten herab, den ein vierter Mitschüler an den Armen über seinen Rücken
gezogen hält, während der fünfte durch Emporheben der Beine die Kehrseite
des Unglücklichen in eine prügelrcchtc schiefe Ebene verwandelt!
Was Orbilius betrifft, so kommen anch die sittlichen Zustände der Zeit in
Anschlag, die in höchsten und niedrigsten Kreisen den schrecklichsten Verfall off-m-
barten und unfehlbar auf sein Schülcrpubiikum ihren Rückschlag äußern mußten.
Die jüngeren Brüder jener Modeherrcn der catilinarischen Zeit mögen die.
Bubenstücke ihrer Vorbilder nur zu bald zu üben begonnen und beim Schwin¬
den aller erziehende» Unterstützung von Seiten des Hauses den Lehrer oft bis
zum Verzweifeln geärgert haben! Wenn solchen verzogenen, keine Autorität
achtenden Burschen gegenüber Orbilius zum Stocke griff, so ist ihm dies wohl
um so eher zu verzeihen, als er durch seinen langjährigen Militärdienst an
strengen Gehorsam und pünktliche Pflichterfüllung gewöhnt war. Es wäre
überhaupt vollkommen ungerechtfertigt, wollte man ihn deshalb zu einem Lehrer
machen, der im Schlagen und Strafen ein Vergnügen, eine Art von Erholung
gesucht habe, ungefähr so, wie der von Friedrich Jakobs in seinem classischen
Brief an Döring geschilderte Professor oder wie der Schwabe Johann Jakob
Häberle, welcher binnen eines halben Jahrhunderts über 900.000 Stockschläge
und 24.000 Nnthcnbiebe, 18.000 Maulschellen und Ohrfeigen und 1,113.800
Kopfnüsse ausgetheilt haben soll! Doch läßt sich auch nicht läugnen, daß die
Herbigkeit der Lehr- und Wanderjahre in dem Charakter des Orbilius ihren
Nachgeschmack zurückgelassen haben muß. Er war reizbar, knrzangcbunden und
Von göttlicher Grobheit. College», die andere Grundsätze als er befolgten und
veriheidigten, nahm er auf das bitterste mit und wehe überhaupt jedem, der ihm
zu nahe trat! Einst diente er als Zeuge gegen einen Angeklagten vor Gericht.
Dessen Vertheidiger, der Vater des nachmaligen Kaisers Galba, wollte den ihm
wohlbekannten Schulmeister verblüffen und sich stellend, als kenne er den Beruf
desselben nicht, fragte er maliliös: „Was treibst Du und welches Handwerk
hast Du gelernt!" — „Ih pflege Bucklige im Sonnenschein zu frottiren!"
erwiederte barsch Orbilius; der Sachwalter war nämlich so mißgestaltet, daß
schon ein anderer Zeitgenosse von ihm gesagt hatte, sein Geist habe sich ein
schlechtes Quartier ausgesucht! Dagegen zeugt es wieder von seiner Ehrlichkeit
ebensowohl als von wissenschaftlichem Sinne, daß er. wie Sueton berichtet, ein
in falsche Hände gerathenes Werk des gelehrten Grammatikers Pompilius An-
dronikus wieder auflöste und unter dem Namen des Autors herausgab (was
ihm schon deshalb keinen Gewinn einbringen konnte, da die Buchhändler kein
Honorar zahlten). Verschiedene Andeutungen Suetons beweisen auch, daß Orbi¬
lius mit mehren eigenen Schriften an die Öffentlichkeit getreten ist, und wie
er überhaupt in Rom zu Ruf würde gekommen sein, wie ihm Benevent, und
noch dazu auf seinem Capitole, eine Statue errichtet haben würde, wenn er
nur als qualificirter Stockmeister gewirkt hätte, ist schwer einzusehen. Wieland
und viele, die ihm nachbeteten, hat daher über Orbilius ganz schief geurtheilt,
indem er schrieb: „Orbit war ein abgedankter Soldat, derben Schulscepter aus
Noth ergriffen hatte, als der Knabe Horaz bei ihm lesen und schreiben lernte.
Wahrscheinlich reichte seine eigene Gelehrsamkeit nicht weit und er las mit sei¬
nen Schülern den Livius (Andronikus), weil es der Autor war, aus dem er
selbst lesen gelernt hatte."
Die merkwürdigste Schrift des Orbilius war ohne Zweifel diejenige, in
welcher er seine eigenen langjährigen Erfahrungen niederlegte, insbesondere über
das Verhältniß der Schule zum Hause. Sie führte den bezeichnenden Titel
„Der Vielgeplagte" und enthielt nach Sueton Klagen über die Kränkungen, die
den Lehrern durch die Nachlässigkeit und Eitelkeit der Aeltern zugefügt würden,
„ein Thema," sagt Gottl. Lange, ein Vertheidiger des Orbilius, „das in neuerer
Zeit oft wieder behandelt worden ist und immer wieder behandelt werden wird,
worin aber auch der Aufschluß über die Grämlichkeit manches wackeren Schul¬
manns liegt."
Orbilius war natürlich auch in seiner derben und geraden Weise gar nicht
der Mann dazu, sowie es die durch die devote Schmeichelei und Heuchelei der
Griechen verwöhnten Vornehmen wollten, sich zu geben oder sich in weg¬
werfender Weise behandeln zu lassen. So wird er sich denn durch Wahrheit
und Offenheit manchen Verdruß zugezogen haben, den ein Geschmeidigerer und
Gefügigerer vermieden hätte. Dazu kam, daß man wohl die Lehrer der Wissen¬
schaften benutzte und bewunderte, aber im socialen Leben verachtete. Gelehrte
Männer waren ja für Geld zu kaufen und wenn sie auch ungeheure Summen
kosteten, so waren sie eben weiter nichts als Sklaven. Auch die Schulinhaber
waren mit wenig Ausnahmen Freigelassene und nur Leute niedrigen Standes
wagten es daher, sich ihnen beizugesellen und sich mit einem Berufe zu befassen,
an dem auch, als einem Lehrgewcrbe, ein Makel haftete. So schreibt selbst
Cicero in seinem Werke über den Redner: „Aber (sagt man) das Lehren ver¬
trägt sich nicht mit der Ehre! Gewiß, wenn es wie in der Schule getrieben
wird; wenn aber auf dem Wege des Ernährers, des Ermunterns, des Fragens,
— so weiß ich nicht, warum man nicht lehren wollte, falls man einmal
dadurch die Leute besser machen kann." Orbilius erlebte es noch in seinem
69. Jahre, daß Cäsar die öffentliche Achtung des Lehrerstandes dadurch hob,
daß er allen Docenten das römische Bürgerrecht ertheilte. Er selbst war
wohl seit dem Vundesgenossenkriege als Beneventer dieser Ehre theilhaftig ge¬
worden.
Endlich hatte es vielleicht Orbilius grade seinen eckigen Manieren mit
Schuld zu geben, wenn er, wie Sueton erzählt, „mit größerem Rufe als Ge¬
winn" lehrte. Ueberhaupt dürfte ja der Mittellehrer weniger fordern als der
Rhetor und des letzteren Ehrensold betrug zu Juvenals Zeit nicht ganz 150 Thlr.
für jeden Schüler. Am besten fuhren wohl diejenigen, welche, wie der gewandte
und artige Zeitgenosse und College des Orbilius: Antonius Gnipho, gar keine
Uebereinkunft über das Schulgeld trafen, sondern dies der Liberalität der Aeltern
anheimstellten, Orbilius kam wenigstens nicht dazu, sich einen Sparpfennig für
sein Alter zurückzulegen und doch war es ihm beschicken, beinahe das hundertste
Jahr zu erreichen! So donirte er denn fort, bis die Kräfte abnahmen und die
Zahl der Schüler sich verringerte. Schon in der genannten Schrift erwähnte
er, daß er „unter den Dachziegeln", also wahrscheinlich mehre Treppen hoch,
wohne,, als einer von denen, „welchem," wie Juvenal sagt, „allein vor Regen
ein Dachstein Schirm verleiht, wo die zärtlichen Tauben nisten." Zuletzt verlor
er sein treffliches Gedächtniß gänzlich, fo daß ein Vers des spitzigen Jamben-
dichters Furius Bibakulus lautete: „Wo ist Orlul. der Wissenschaft Vergeßlich¬
keit?" Wie es heute noch so oft geschieht, hatten die bitteren Erfahrungen des
Vaters seinen Sohn dennoch nicht abgehalten, denselben Beruf zu wählen. „Er
hinterließ einen Sohn," heißt es bei Sueton, „der ebenfalls Lehrer der Gram¬
matik war." Es scheint, als habe Sueton die Bildsäule des Orbilius Pupillus
zu Benevent sich selbst zeigen lassen; denn er weiß genau, daß sie auf der linken
Seite des Capitels stand und daß der Gefeierte in sitzender Gestalt und im
griechischen Mantel (wodurch man ihn wahrscheinlich als zur griechischen Ge¬
lehrten- und Philosvphenzunft gehörig bezeichnen wollte) aus Marmor gebildet
war, während zwei jener großen cylindrischen Schachteln, in denen die Bücher¬
rollen verwahrt wurden, neben ihm standen.
Orbilius starb ungefähr ein Decennium vor Christi Geburt. Der zweite
Schulmann, dem wir Beachtung schenken, wird grade zu unserer Zeitrechnung
das Licht der Welt erblickt haben. Es liegen also zwischen der Zeit, wo Orbi¬
lius aufhörte zu wirken und seinem Auftreten als Grammatiker kaum fünfzig
Jahre. Wie mancherlei änderte sich dennoch in dieser kurzen Periode im Schul¬
wesen! Hatten die Bürgerkriege am Ende des Freistaats auf alle literarischen
Verhältnisse störend und hemmend gewirkt, so traten die Studien und wissen¬
schaftlichen Interessen unter Begünstigung des Hofes bald so in den Vorder¬
grund, daß geistige Cultur und Bildung schnell aufhörte das Besitzthum Weniger
zu sein. Natürlich gewannen dadurch Schulen und Lehrer an Schätzung und
Umfang. Der Unterricht wurde rationeller und schmiegte sich passender an die
verschiedenen Altersstufen an. Besonders aber wuchs das Material, indem man,
von stümperhaften Übersetzungen absehend, die Meisterwerke der eigenen Lite¬
ratur den Schülern vorlegte und Cicero, Virgil, Horaz und andere nationale
Schriftsteller zu tractiren begann. Andererseits freilich wurden diese Fortschritte
paralysnt durch die wachsende Verderbniß und Charakterlosigkeit der häuslichen
Erziehung. Die Blasirtheit und Altklugheit der Jugend.brachte den ungebun¬
denen Ton des lasterhaften Hauses mit zu dem Lehrer und? strebte auch bei
vorhandenem Eifer immer mehr nach dem Genusse des prickelnden Schaumes
als nach gründlicher Befriedigung des Wissensdranges. Besonders schwärmte
das Zeitalter für die öffentlichen Productionen einer sophistischen Rhetorik und
die Examenprobe des römischen Schülers war ein dcclamatonsches Schaustück.
Viele Lehrer gingen aus Elugeiz oder Gewinnsucht auf die Thorheiten des
Zeitalters ein. Namentlich zogen die Grammatiker die Künste der Rhetorik in
ihren Bereich hinein, so daß Quiutilion sagt: „Es ist doch höchst lächerlich, daß
man einen Knaben nicht eher zum Lehrer der Declamirkunst schicken zu dürfen
glaubt, als bis er schon zu declamiren versteht." Höchst ungünstig charakterisirt
die Nachgiebigkeit und Unselbständigkeit der Lehrer Tacitus in seinem Gespräche
über die Redner. Nachdem davon die Rede gewesen ist, daß die jungen Leute
zu Hause und in der Schule von nichts sprächen als von Schauspielern, Gla¬
diatoren und Pferden, fährt er fort: „Selbst die Lehrer unterhalten sich über
feinen Gegenstand häusiger mit ihren Zuhörern. Denn sie sammeln sich
Schüler nicht durch Strenge der Zucht, noch durch Beweise von Talent, sondern
durch antichambrirende Wvhldienerei und durch den Köder des Schmeicheln?."
Ein recht auffallendes Beispiel für die Möglichkeit, in jener Zeit bei der
niedrigsten Gesinnung und dem unsittlichsten Lebenswandel sein Glück als Lehrer
machen zu können, liefert der Grammatiker Quintus Rhemmius Famulus Pa-
lämon, dessen Blüthe in die Regierungszeit der Kaiser Tiberius, Caligula und
Claudius fällt. Er stammte aus Biccnza im Benetianischen und war ein ge¬
borener Sklave. Die Arroganz und Zungenfertigkeit, welche er später entwickelte,
stand vielleicht nicht außer Zusammenhang mit seinen ersten Lebensumstände»;
denn die im Hause aufwachsenden Sklaven wurden theils von den Gebietern
verhätschelt, theils lernten sie auch genau die Geheimnisse und schwachen Seiten
derselben kennen und infolge dessen war ihre Dreistigkeit und geschmeidige
Schlauheit sprichwörtlich. Sein Herr, Rhemmius Famulus, scheint frühzeitig
gestorben zu sein. Die Wittwe verkannte oder mißachtete die Fähigkeiten des
jungen Burschen und steckte ihn in die Spinnstube, wo die Spinnmädchen die
Spindel drehten und die Weberschiffchen durch den Aufzug schwirrten, begleitet
von zeitverkürzendem Gesang der Weber und Weberinnen. Die Erlernung der
Weberei, einer Kunst, welcher in der guten alten Zeit die Hausfrauen selbst im
Atrium obgelegen hatten, wird dem anstelligen Palämon nicht schwer gefallen
sein. Wer konnte auch wissen, wozu ihm einst diese Kenntnisse nützen sollten?
denn er lernte nichts umsonst in seinem Leben, dieser Egoist. Da geschah es
aber, daß das Söhnlein des Hauses soweit heranwuchs, daß er zur Schule
wandern mühte, und Palämon wurde seines Dienstes entKoben und dem Knaben
zucommandirt. um diesem, der sich nach dem guten Ton nicht mit dem großen
Pennäle, das Bücherrollen, Schreibmaterialien u. tgi, enthielt, befassen durfte,
als Träger desselben zu diene». Als literarischer Handlanger seines Herrn be¬
kam Palämon auch das Recht, unentgeltlich in dessen Unterrichtsstunden zu hos-
pitiren. Hier ging ihm eine neue Welt auf und kein Schulmeister von Vicenza
wird wohl einen wisscnsourstigere» Zuhörer gehabt haben, als der Schnurrant
Palämon war! Wir wollen dem eigentlichen Nhemmius Famulus nicht Unrecht
thun; aber wir glauben doch dann nicht zu irren, daß er weniger lernte als
sein Famulus. Dieser wurde ülmgens einige Zeit später, vielleicht durch
Testament seiner Herrin, freigelassen (wobei er den Familiennamen seiner Herr¬
schaft der Sitte nach zwischen den Stlavennamen Palämon und den neu ge¬
wählten Vornamen Quintus setzte) und widmete sich ganz der Philologie. Nach¬
dem er sich vielleicht schon in Oberitalien im Lehramte geübt hatte, zog er
unter Tiverius nach Rom. Hier gewann er bald pädagogischen und wissen¬
schaftlichen Ruf und galt endlich für den ersten Grammatiker der Residenz. Eine
ungemeine Gewandtheit im Sprechen und ein großes Sachgedächtniß fesselte
die Leute. Er war wohl im Stande, den unverschämten Anforderungen an die
Gelehrsamkeit der Lehrer, welche Juvenal in seiner pikanten Satire aufzählt,
entsprechen zu können. Außerdem verfertigte er aber auch Gedichte aus dem
Stegreife und schrieb in verschiedenen künstlichen Strophenarten. In der
Grammatik war er scharfsinnig und seine Eintheilung der Nedctheile, wie seine
Definition der Pronomina, Conjunctionen und Präpositionen wurden von spä¬
teren Grammatikern adoptirt. Auch scheint er der Erste gewesen zu sein, der
die Jnterjection als besonderen Redeiheil erkannt hat. Kurz, er galt als eine
Autorität in seinem Fache. Als solche bezeichnet ihn auch Quintilian, indem
er ihn neben dem berühmten Aristarch nennt, und Juvenal, indem er den Namen
Palämon figürlich für die ganze Grammatikerzunft setzt und an einer Stelle
von den überbildcten Frauen sagt: ,
„Ich hasse auch jene,
Welche mir immer von neuem die Kunst des Palämon abhaspelt,
Stets beachtend den Brauch und die regelnde Satzung der Sprache,
Als Altforschcrin mir unerkundete Verse bereit hält,
Und Ausdrücke, von uns überhört, der altfränkischen Freundin
Tadelt. Dem Ehhcrrn soll Sprachschnitzer zu machen erlaubt sein."
Zu seinen Schülern zählte der Satiriker Persius und der edle Quintilian.
Wenn dieser in seiner Anweisung zur Redekunst von einigen Schuleinrichtungen
seiner früheren Lehrer spricht, so hat man volles Recht, dabei vorzüglich an
Palämons Schule zu denken. „Ich weiß," sagte er, „daß eine recht nützliche
Sitte von meinen Lehrern beobachtet wurde, indem sie uns Knaben in Classen
getheilt hatten und nun nach den Kräften des Geistes die Reihe des Vertrags
bestimmten; so declamirte jeder an einem höheren Platze, je nachdem seine
Fortschritte zuzunehmen schienen. Darüber wurden Urtheile ausgetheilt und es
herrschte unter uns ein außerordentlicher Wetteifer um den Preis; Oberster der
Classe zu sein, war das Herrlichste. Jedoch wurde der Beschluß nicht nur ein¬
mal gefaßt; der dreißigste Tag gab es dem Besiegten in die Hand, den Kampf
zu erneuern. So wurde der Höhere durch den Erfolg nicht lässig und den
Besiegten reizte der Schmerz, die Schmach von sich abzuwenden. So weit ich
dem Urtheile meines Geistes traue, möchte ich behaupten, daß jene Maßregel
einen kräftigeren Sporn für unseren wissenschaftlichen Eifer abgegeben hat als
die Ermahnungen der Lehrer, die Aufsicht der Hofmeister, die Wünsche der
Aeltern." Palämon hatte es um so nöthiger, seine Schüler nach Classen zu
sonder», als er ungemein großen Zulauf gehabt zu haben scheint. Nach Sueton
brachte ihm seine Schule jährlich 400,000 Sestertien oder 29,000 Thaler ein.
Diese Summe ergiebt aber schon 200 Schüler, wenn man das von Juvenal
genannte Honorar der Rhetoren für diesen Fall gelten lassen will; so hoch
(2,000 Sestertien jährlich) darf man aber schwerlich greifen und man kann da¬
her getrost seine Schülerzahl aus 300 stellen. Wir denken nur bei den Classen
sogleich an getrennte Schulzimmer und ebenso viele Unterlehrer als Classen.
Wie man aber noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts bei uns oft
mehre Schulclassen in einem Auditorium gleichzeitig unterrichtete, findet sich
für jene Zeit keine Spur von geschiedenen Räumen; ja auch die Unterlehrer,
welche allerdings erwähnt werden, erinnern mehr an die aus reiferen Schülern
gebildeten Monitoren der lankasterschen Methode als an College» des Directors.
Es scheint, als ob der literarische und pädagogische Ruf unserem Palämon
über den Kopf gewachsen sei. Er bekam allmälig einen so hohen Begriff von
seinem Werthe, daß endlich seine Einbildung die zeitgenössischen Gelehrten mehr
ergötzt als geärgert haben mag. Sueton hat uns einige Proben seiner thörichten
Arroganz aufbewahrt. So soll er geprahlt haben, daß die Wissenschaften mit
ihm auf die Welt gekommen seien und mit ihm auch untergehen würden!
Auch rühmte er sich, daß ihn einst Straßenräuber nur um der Berühmtheit
seines Namens willen verschont hätten (vielleicht glaubten sie eher, bei einem
auf einer Ferienreise begriffenen Schulmeister sei nicht viel zu holen). Teren-
tius Varro, den fleißigsten und gelehrtesten Römer (er soll 620 Bücher verav-
faßt haben!), welchen er wahrscheinlich wegen seiner Systemlosigkeit und seines
altfränkischen Festhaltens am nationalen Römerthum haßte, wagte er gradezu
mit dem Ehrennamen „Schwein" zu belegen. Endlich äußerte er — vielleicht
doch nur in halbem Scherze! — schon Virgil habe auf ihn als den einstigen
höchsten Kritiker aller Poeten und deren Producte hingewiesen, weil nämlich in
dessen dritter Idylle als Schiedsrichter des Wechselgesangs ein benachbarter Hirt,
Namens Palämon, auftritt!
Diese Selbstüberhebung bildete jedoch noch nicht die schlimmste seiner Eigen¬
schaften. Alle grobsinünchcn Neigungen der herabgewürdigten, sittlich erniedrigten
Menschenclasse, welcher er ursprünglich angehörte, suchten in ihrer ganzen Ge¬
meinheit Befriedigung, sobald der Erfolg in seiner Berufsthätigkeit die Mittel
dazu bot. Er ergab sich allen Vergnügungen und Ausschweifungen, an denen
das hauptstädtische Leben so widerlich reich war. An Unkeuschheit wetteiferte
er mit den berüchtigtsten Non6s, so daß wir das, was Sueton darüber berichtet,
nicht wiederzugeben vermögen. Als besonderes Zeichen seiner Ueppigkeit und
Verschwendung erwähnt derselbe Autor nur, daß er mehre Male am Tag sich
zu baden Pflegte, während hierzu eigentlich nur die Stunde nach der Siesta be¬
stimmt war. Es bekommt diese Notiz erst ihr rechtes Licht, wenn man bedenkt,
daß die zu jener Zeit mit der luxuriösesten Pracht ausgestatteten Thermen Orte
der unsinnigsten Schwelgerei und Vergnügungssucht waren. Das warme, bei
zu häufiger Wiederholung entnervende Bad selbst war eigentlich nur Neben¬
sache. Am meisten kosteten die theuren Salben, die Zechgelage, die Rendezvous,
und schon im Trinumus des Plautus legt der rechnende Sklave el» Haupt¬
gewicht darauf, was wurde „verschmaust, vertrunken, versalbt, verwaschen in
den Bädern". Kurz, wir müssen es dem Sueton glauben, daß Palämon nicht
im Staube war, mit seinen Einnahmen aus der Schule seinen Aufwand zu
bestreiten. Aber er wußte sich zu helfen, indem er sein industriell-Speculatives
Talent zu Rathe zog. Zunächst verwerthete er die in seiner Jugend erworbenen
Kenntnisse im Webersache. Hatte seine Herrin in Vicenza, wie alle wohlhabenden
Leute für den Hausbedarf spinnen und weben lassen, so errichtete er für weniger
bemittelte Personen, die ihre Bedürfnisse kaufen mußten, eine Fabrik von Stoffen
und fertigen Kleidern, die dann in mehren Magazinen in der Stadt zum
Verkaufe standen. Doch damit begnügte er sich nicht. Wie mancher Präceptor
suchte sich schon einen oft Von der Concurrenz angefeindeten Nebenverdienst zu
verschaffen, indem er die Lieferung des nöthigen Schrcibmatcrialö für seine
Schüler übernahm! Dies wäre für Palämon zu kleinlich gewesen; auch be¬
malte ja meist die Jugend nur die Rückseiten schon beschriebener Blätter! Er
legte, wenn auch nicht eine Papierfabrik, so doch eine Appreturanstalt an, in
welcher er eine bisher in einer Fabrik neben dem Amphitheater zu Alczandria
in Aegypten gefertigte und danach benannte Papiersorte einer Umarbeitung nach
eigener Erfindung unterwerfen ließ, wodurch das Papier aus einem Fabrikat
vierten Ranges zur vorzüglichsten unter allen Sorten emporstieg. Plinius der
Aeltere schreibt hleiüocr: „Der nächste Name. Amphitheaterpapier, stammt von
dem Orte der Bereitung her. Dieses übernahm zu Rom die scharfsinnige
Werkstätte des Famulus, verdünnte es durch eine sorgfältige Zurichtung, nack'te
es aus einer geringeren Sorte zum feinsten Papier und gab ihm den Namen
(es hieß „das fannische"). Was eben nicht so umgearbeitet ward, blieb nach
wie zuvor Amphitheaterpapier." Dieses Unternehmen mag ihm großen Nutzen
gebracht haben; denn erst unter Claudius kam ein nach dem Kaiser benanntes
Papier auf. welches nicht blos glatt und dünn war, sondern das fannische auch
an Dichtigkeit übertraf.
Doch den besten Wurf that er vermöge seines praktischen Blickes durch
eine ökonomische Speculation. Die Ländereien in der Nähe der Stadt standen
damals niedrig im Preise und viele von ihnen waren auch durch Nachlässigkeit
in der Cultur zurückgekommen. Nun hatte aber grade ein gewisser Acilius
Sthenelus, ein Mensch von niedriger Herkunft, aber ein tüchtiger Landwirth,
auf dem ungefähr fünf Stunden von Rom entlegenen Gebiet von Nomentum.
wo eine treffliche Weinsorte wuchs, ein Landstück von sechzig Morgen durch
sorgfältige Cultur so emporgebracht, daß er es für 29,000 Thaler wieder ver¬
kaufte. Palämon folgte diesem Beispiel und erwarb ein Landstück um 43,000
Thaler, worauf er nach der Theorie des Sthenelus den Weinbau begann. Wenn
Plinius der Aeltere. dem wir auch diese Nachricht verdanken, meint, Palämon
habe das Unternehmen aus reiner Prahlerei und nicht aus kühner Entschieden«
seit angegriffen, so irrt er wohl darin, daß er die bei Palämon im Dienste des
Egoismus stehende Energie unterschätzt. Der Erfolg war kein Zufall, sondern
das Resultat kluger Berechnung. Genau den Sthenelus nachahmend im öfteren
Umgraben des Bodens und Behacken der Pflanzen erzielte er von Jahr zu
Jahr reichlichere Ernten und im achten Jahre verkaufte er die Weinlese, wie sie
an den Reben hing, für 29,000 Thaler, also zwei Dritttheile des Gutspreises!
Die Leute strömten zusammen, um die Unmasse der Trauben zu'sehen — nach
Sueton trug ein einziger Weinstock deren 3KS! — während die benachbarten
Oekonomen ihrer eigenen Faulheit nichts vergehend die Erfolge des Palämon
seinen gelehrten Kenntnissen zuschrieben, vielleicht sogar von geheimen Zauber-
mittelu munkelten! Zuletzt wurde der reiche Philosoph Annäus Seneka so
lüstern nach dem Besitze des Grundstückes, daß er seinen tiefen Widerwillen
gegen Palämon und den Aerger darüber, daß er demselben einen Triumph auch
auf diesem Gebiete einräumen mußte, überwand, mit ihm über den Kauf in
Unterhandlung trat und endlich 174,000 Thaler, also das Vierfache des ursprüng¬
lichen Kaufgeldes dafür bezahlte!
Daß Palämon zu der Zeit, wo Seneca als Gelehrter und Hofmann auf
dem Gipfel seines Ansehens stand, noch lebte, beweist wenigstens, daß er sein
Leben über fünfzig Jahre brachte. So alt wie Orvilius wird er seiner Lebens-
weise nach schwerlich geworden sein und, wäre es geschehen, so hätte er wohl
nicht in einer Dachstube geendigt. Palämon paßte zu allem mehr als zum
Lehrer und Erzieher der Jugend; ja die Kaiser Tiverius und Claudius hatten
unverhohlen geäußert, er sei der Letzte, dem man Knaben und Jünglinge an¬
vertrauen dürfe. Aber alles half nichts; die Menge ließ sich durch den Flitter«
schein seines Wissens blenden und Palämon, wenn er seine Memoiren geschrieben
hätte, würde wohl nicht den Titel „der Lielgcplagte" gewählt haben, sondern
vielleicht den passenderen: Nrmäus vult, äscixi!
Das übliche Nenjahrsgeschenk der östreichischen Regierung für ihre getreuen
Völker ist auch diesmal nicht ausgeblieben. Der Minister Bach seligen An¬
denkens liebte es bekanntlich, mit der Verkündigung neuer Gesetze, ersehnter
Reformen, mitunter auch unerwünschter Anleihen die Welt zum Jahresschlusse
zu überraschen. Bei dieser Sitte ist es auch seither geblieben. Die Wiener
Zeitung vom 31. December und der Moniteur vom 2. Januar, weicher Napo¬
leons Neujahrsrede mittheilt, spannten regelmäßig die Neugierde aller Politiker
und das erstere Blatt befriedigte sie auch gewöhnlich. Das Angebinde zu diesem
Jahre besteht aus dem Wehrgcsetze, welches auch in Oestreich ein Volksheer
schaffen will, aus der Einberufnag eines außerordentlichen Reichstages zur Re¬
gelung der Verfassungsfrage und aus dem Finanzberichte des Grafen Larisch,
welcher in dürren Worten constatirt, daß im Jahre 1866 in „Galizien und
Bukowina Hungertyphus, in Ungarn allgemeiner Nothstand herrschte, in Steter-
mark und Kärnthen die Verarmung in bedenklicher Weise zunahm, bei dem Aus-
bruche des Krieges nur Böhmen, Mähren und Schlesien steuerfähig waren, der
Steuerausfall in den ersten fünf Monaten sie v ze h n Millionen betrug".
Zu politischem Grübeln wäre also el» reicher Srvff geboten. Aber nicht
genug daran. Oestreichs Lage ist nachgrade ein Gegenstand europäischer Sorge
geworden und wenn das Wort vom kranken Manne jemals Sinn hatte, in
Bezug auf den Kaiserstaat trifft es zu. Der kranke Mann ist nicht fern in der
Türkei zu suchen, im Herzen Europas hat er sein Schnrerzcnslager aufgeschlagen.
Wer ehedem in Oestreich lehre, hörte wohl hier und -da selbst von guten
Patrioten, ja grade von den besten und wohlmeinendsten Männern den Staat
verfluchen und daß das wüste Konglomerat von Ländern und Stammen bald
zusammenbreche, wünschen. Aber das geschah leise, nur unter den vertrautesten
Freunden und wurde geäußert, wie man eben Träume ausspricht, ohne die
Ahnung möglicher Erfüllung. Daß sich laut und öffentlich der Gedanke eines
zerfallenden Oestreichs kundgiebt, daß in einer politischen Versammlung in Wien
der Kronprinz Nudolpl, als Romulus Augustulus bezeichnet, im böhmischen
Landtage die Schlacht am weißen Berge als das größte Unglück der Nation
dargestellt, die freie Fürstcnwahl als ein praktisch wichtiges Recht proclamirt
wird, mußte auch den Insassen der Hofburg den Schrecken in die Glieder jagen,
wenn man hier nicht Hoffen und Fürchten längst verlernt und das in den
Tag Hineinleben zum Grundsatze angenommen hätte.
Was in Oestreich vorgeht, ist keine innere Frage mehr, ganz Europa ist
da«n interessirt und vor allem wir Preußen haben alle Ursache, mit der größten
Aufmerksamkeit den Verlauf des Processes, — ist es ein Proceß der Neube¬
lebung oder der Zersetzung? — zu beobachten. Mit dem reorganisirten Oest¬
reich, das die Kraft zu existire» in sich' selbst findet, können wir friedlich ab¬
rechnen und freundliche Beziehungen unterhalten. So weitverbreitet auch in
Oestreich der Glaube ist, daß Bismarck auf den Verfall des Kaiserreichs spe-
cuiire, jeder Preuße in Erbfeindschaft gegen Oestreich erglühe, so wenig ist der¬
selbe doch in Wahrheit begründet. Unser Kampf galt Oestreich als dem Hort
der deutschen Klcinstaatsmisöre, galt seinen unberechtigten Ansprüchen auf die
Herrschaft in Deutschland. Mit Oestreich, welches seinen Schwerpunkt nicht
mehr außerhalb seiner Grenzen sieht, nur Culturinteressen mit Deutschland ge¬
meinsam hat, drohen uns keine Conflicte. Dagegen sind wir uns dessen Wohl
bewußt, daß ein so gewaltiger Körper nur nach heftigen Zuckungen absterben
kann. Gewinnen auch die leitenden Kräfte in Wien die Ueberzeugung, daß für
den Staat die Wege der Regeneration versperrt sind, so werben sie noch einen
und den andern Verzweiflungsstreich wagen, um auf dem alten gezwungen ver¬
lassenen Wege die Macht, wenn auch nur für kurze Zeit, wieder zu erringen.
Solchem desperaten Streiche zu wehren, den Arm des Wahnsinnigen zu lähmen,
ehe er uns verwundet, ist unsere Pflicht.
Wenn sogar das ultraconscrvalive „Vaterland" das Bekenntniß ablegt, so
wie bisher gehe es nicht weiter, so sind wir wohl des Beweises von der Un-,
Haltbarkeit der gegenwärtigen Zustände enthoben. Darübci ist alle Welt einig.
Was aber an die Stelle des Alten treten soll, weiß niemand zu errathen, posi¬
tive Rathschläge wagt niemand zu ertheilen. Wie häuften sich in früheren
Jahren die Verfassungsprvgrammc, mit welcher Gewißheit proclamirte jede
Partei die glänzendsten Erfolge für den Staat, wenn er ihre Grundsätze an¬
nähme. Jetzt weist man nur achselzuckend aus d>e Schwierigkeiten hin, welche
sich der Constituirung des Gemeinwesens entgegenstellen, selbst politische Char-
latcme verzichten darauf, an der östreichischen Verfassungsfrage ihre Kunst zu
zeigen.
Soll etwa der Kaiser den Knoten einfach zerhauen, einen Staatsstreich
wagen und im Namen der materiellen Interessen, die in dem ewigen Ver¬
fassungsstreite so furcktbar leiden, die absolute Gewalt an sich reißen? Im An¬
fange der fünfziger Jahre erging man sich in allerhand Dictaturgelüste», pries
Louis Napoleon als nachahmungswcrthen Helden; man verstand ihn aber nur
in einem Punkte wirklich nachzuahmen, in dem brutalen Umsturze der Ber.
fassung. In allem Uebngen blieb es bei Velleitäten, die die Furcht vor der
absoluten Gewalt bald in Verachtung verwandelte. Was damals nicht gelang
mit verhältnißmäßig frischen Kräften, bei gehobenem Selbstvertrauen, matten,
ruhebcdürftigen Böllern gegenüber, damit kann man jetzt noch weniger durch¬
dringen, wo nur ausgeschwitzte Staatsmänner und muthlose Politiker zu finden
sind. Die vollständige Unfruchtbarkeit des Absolutismus von 1849—69 hat.
es mag Vielleicht paradox klingen, etwas Beängstigendes. Denn es brach sich
derselbe nicht an dem zähen Widerstande, an der Opposition der Regierten:
durch die Unfähigkeit der Staatslenker ging er zu Grunde. Eine Machtfülle,
wie selten zuvor, war in ihren Händen angesammelt, selbst ein gewisser Schein
des Rechts mangelte nicht. Inmitten der allgemeinen Zerfahrenheit, des Kam¬
pfes Aller gegen Alle konnte der höhere Staatswille nur durch greifbare Härte
sich geltend machen. Aber diese rücksichtslose Zurückweisung aller Sonderrechte
mußte durch das Angebot eines reichen Kulturlebens gesühnt, durch materielle
Vortheile ersetzt werden, was an Rechtsformen verloren ging. Zehn Jahre
eines absolutistischen Regiments brachten jedoch nur ein Resultat: Theatralisch
geputzte Gensdarmen. deren jeder für sich die Ehren von Geßlers Hute in An¬
spruch nahm.
Von dem Alpe einer absolutistischen Reaction, wie sie 1849—18S9 herrschte,
sind die östreichischen Völker befreit. Aber auch das einigende constitutionelle
Band ist ihnen abhanden gekommen. Von dem Augenblicke an, wo wir uns
überzeugten, der kr ernsterer Versa ssun g s e new urf sei einfach ein histo¬
risches Actenstück, für seine Verwirklichung erhebe sich keine Partei, sein Inhalt
sei aus der Erinnerung ausgewischt, sanken unsere Hoffnungen, jemals eine
constitutionelle Ordnung in Oestreich herrschend zu sehen. Unter den Proto¬
kollen des krcmsterer Verfassungsausschusses stehen die Namen Lesser und Brahei,
Hein und Smolke, Fischhof und Rieger, Pinta und Palazty, Jachimovicz und
Ziemialkowsky friedlich neben einander. So gut ist es Oestreich nie wieder
geworden, die Vertreter der verschiedenen nationalen und politischen Parteien
haben sich seitdem nicht mehr zu einem gemeinsamen Werke verbunden. Die
kremsierer Verfassung war ein ehrliches Kompromiß zwischen Deutschen und
Slawen, zwischen Föderalisten und Centralisten. Als der Verfassungsausschuß
— er hatte glücklicherweise sich erst nach dem Octoberaufstande constituirt —
zusammentrat, war der revolutionäre Rausch bereits verflogen, der träumerischen
politischen Phantasie von dem praktischen Verstände das Feld wenigstens theil¬
weise abgewonnen worden.
Die Partei, welche in dem Kaiserreiche nur einen Haufen zusammengewor¬
fener Werksteine sah, die sich bei neuen politischen Bauten besser verwenden
lassen und deshalb den Haufen auscinanderschlagcn wollte, hatte die Flucht
ergriffen oder sich in verzagtes Schweigen gehüllt, die Anhänger des Hofes, die
Beamten glaubten noch nicht, auch ohne Zugeständnisse mit der Revolution
fertig werden zu können. Die extremen Meinungen nach rechts und links regten
sich nicht, das Gefühl der Zusammengehörigkeit der einzelnen Provinzen und
Stämme machte sich in hohem Grade geltend, man sah die Nothwendigkeit
einer Einigung ein, weil namentlich kein außerdeutschcr Stamm für sich hin¬
reichende Lebenskraft besaß, man erkannte auch die Möglichkeit derselben. Das
praktische Beispiel der Verträglichkeit bewies der kremsterer Reichstag und je
länger er tagte, eine desto geringere Macht übten die anfangs so schroffen
nationalen Gegensätze auf seine Beschlüsse aus. Die streng politischen Grund¬
sätze des kremsierer Verfassungsentwurfs lassen sich nicht anfechten, sie trugen,
um Dauer zu gewinnen, viel zu sehr die Spuren der achtundvierziger Stim¬
mung an sich, sie waren zu start von der betäubenden Märzlust durchzogen.
Das Problem, innerhalb der durch die östreichische Staatsidee gebotenen Gren¬
zen den einzelnen Nationalitäten und Provinzen gerecht zu werden, löste eben
die kremsterer Verfassung vollkommener als jede spätere Constitution.
Doch was nützt die Trefflichkeit einer Verfassung, wenn sie nun einmal zu
den begrabenen und vergessenen Dingen gehört. In Briefen, die zwischen den
Mitgliedern des kremsierer Reichstags gewechselt wurden, hallte die Erinnerung
an sie bis etwa in die Mitte der fünfziger Jahre nach. Der alte wackere Viser
in Linz gönnte wenigstens im Postscriptum der kremsierer Thätigkeit ein freund¬
liches Wort, der viel zu früh verstorbene Pinta in Prag hielt das kremsierer
Werk hoch in Ehren, auch aus Fischhofs, des Vielgeprüften und doch Ungebro¬
chenen, Munde vernahm man ein billiges Urtheil, aber die große Masse des
Volks, die spätere Generation der Politiker weiß nichts mehr von Kremsier.
Die Czechen beeilten sich, zu ihrer unfruchtbaren föderalistischen Doctrin zurück¬
zukehren, die Polen waren froh, auf eigene Faust wieder Intriguen schmieden
und ihren Phantasien nachgehen zu können, die deutschen Liberalen in Wien,
insbesondere die Helden des juridisch-politischen Lesevereins, hielten sich für viel
zu vornehm, um einen Bersassungsplan, den sie nicht selbst geschaffen, zu stützen.
Die Clique, die mit Bach gute Freundschaft pflegte und dann mit umgewcnde-
tem Rocke unter Schmerling diente, konnte es niemals verschmerzen, daß sie im
Jahre 1848 zum Kegelschieben in Döbling und anderem still ländlichen Zeit-
vertreib verurtheilt war. während bloße Provinzler, in den Augen des echten
alten Wieners untergeordnete Kreaturen, das große Wort im Reichstage führten.
Es mag conservativer scheinen, daß man auch nach dem Sturze des Absolutis¬
mus 1859 nicht an die achtundvierziger Vorgänge anknüpfte, es mag dem
Organisationstalente der östreichischen Staatsmänner schmeicheln, daß jeder neue
Verfassungsentwurf von der früheren Gestaltung des Landes absieht: in der
Thatsache, daß der kremsierer Verfassungsentwurf ganz vergessen werden konnte,
sehen wir nur den Beweis, daß das östreichische Gemeingefühl an Stärke ver¬
loren hat. Für den kremsierer Berfassungsenlwurf stand die entschiedene Majo¬
rität der östreichischen Völker ein, für die Verfassungspläne, die in den letzten
Jahren auftauchte», können immer nur Minoritäten gewonnen werden.
Zu den trefflichen statistischen Tabellen, welche Ficker vor vier Jahren
(Bevölkerung der östreichischen Monarchie, Gotha, Perthes) herausgegeben hat,
fehlt eigentlich ein Supplemenlheft. welches die Verbreitung der centralistischen,
dualistischen und föderalistischen Politik graphisch darstellte. Die schwersten Be¬
denken gegen die Durchführung irgendeines der letzthin gepriesenen Verfassungs¬
pläne würden dann erwachen. Der Centralisation, wie sie das Februarpatent
verkündigt, sind nur die Deutschen und Ruthenen, bedingungsweise vielleicht
auch die Rumänen in Siebenbürgen zugethan, also höchstens 39 Procent der
Gesammtbevölkerung; 63 Procent (Magyaren und Slawen) stehen in leiden¬
schaftlicher Opposition. Der Dualismus, die Trennung Oestreichs in zwei
Hälften, in deren jeder wieder die Centralisation herrschte, kann wieder nur auf
die Stimme der Magyaren und eines Bruchtheils der Deutschen, etwa 25 Pro-
cent rechnen, gegen den Föderalismus endlich würden sich die Deutschen,
Magyaren. Ruthenen einmüthig erheben, also würde nahezu die Hälfte der
Bevölkerung, wobei das Gewicht Wiens, der Einfluß des ungarischen Adels
und die Traditionen des Hofes, die durchweg antislawisch sind, noch auf die
Wagschale gelegt werden müssen. Diese Schwierigkeiten werben in tonangeben¬
den Kreisen keineswegs übersehen. Eben weil kein Verfassungsprincip sich in
Oestreich rein verkörpern läßt, weil es auf das Balanciren der verschiedenen
Systeme vorzugsweise ankommt, konnte nicht der gewöhnliche Weg eingeschlagen,
mußte das außerordentliche Ziel auch durch außerordentliche Mittel erreicht wer¬
den. Zu den letzteren rechnet man denn die Berufung des Herrn v. Beust aus
dem sächsischen in den östreichischen Staatsdienst.
Oestreichische Journale ließen sich duich ihre Abneigung gegen alles Fremde
zu der Frage verleiten: Was will Herr v. Beust von Oestreich? und waren
indiscret genug, auch Verhältnisse zu berühren, welche die heiligsten Privat-
gefühle des Herrn v. Beust verletzen mußten. Wir begnügen uns zu fragen:
Was soll Herr v. Beust in Oestreich? Daß wir das Porträt, welches officiöse
Blätter von dem Vielgewandten. Vielduldenden entwarfen: Herr v.Beust in weißem
Friedenskleide mit dem Oelzweige in der Hand, nicht ähnlich? finden, wird
dieser selbst begreifen. Hätte er in Ischl und dann in Prag dem östreichischen
Hof keinen andern Rath zu ertheilen gewußt, als: Liebet euch, Kindlein, und
küsset die Hand, die euch züchtigt, so wäre ihm gewiß in höflicher aber ent¬
schiedener Weise die Thüre gewiesen worden. Herrn v. Beusts Rechtstitel war
sein persönlicher Haß auf Bismarck, seine Ansprüche auf das höchste östreichische
Staatsamt gründeten sich auf seine Lust und seine Fälligkeit, an Preußen Rache
zu üben. Er hat wohl nicht in einen rothen Mantel gehüllt, bei fahlem Fackel¬
scheine mit gezücktem Dolche eine Rachearie gesungen, er hat aber nichts gethan,
um die von ihm gehegten Erwartungen zu zerstören, wenn man seine ^Ten¬
denzen falsch auffaßt, die Irrthümer zu zerstreuen. Die Stimmung am Hofe
ließ sich doch nicht mißverstehen. Man denkt daselbst etwa so. wie Haupt-
mann Vivenot sich die ganze Sachlage vorstellte. Nachdem Hauptmann Vivenot
den preußischen Staat in seinem berüchtigten Buche über den Herzog von
Sachsen-Teschen mit der Feder vernichtet hatte, wollte er ihm auch mit dem
Schwerte Garaus machen. Er sammelte einzelne Versprengte und Marodeurs
der östreichischen Armee, zog noch mehre Bauern an sich und führte an der
Spille dieser Bande, Landsturm genannt, in den böhmisch-schlesischen Grenz-
districten Krieg mit den Telegraphendrähten und Prvviantfuhrcn. Auch Pro-
clamationen streute er mit freigebiger Hand aus, in welchen er den unerhörten
Frevel Preußens enthüllte. „Der Kurfürst von Brandenburg" wagt den
Kaiser mit Fehde zu überziehen. Ob die böhmischen Bauern Vivenots Ent¬
setzen theilten, wissen wir nicht, das aber ist uns genau bekannt, daß in den
höchsten Kreisen das Wagniß Preußens gleichfalls als ein unerhörtes galt, als
eine Auflehnung gegen die höhere Autorität angesehen wurde und daher der
glorreiche Erfolg der Rebellion auf das tiefste verletzte. Oestreichs Niederlage
erscheint nicht als ein Unglück, sondern als eine Schande, die um jeden Preis
gelöscht werden müsse. Und bei en>>r solchen Stimmung soll die Mahnung, zu
vergeben und zu vergessen, Eindruck gemacht haben? Die Freunde des neuen
östreichischen Ministers können höchstens behaupten, daß auch noch andere Eigen¬
schaften desselben zu seiner Berufung führten. Er kam mit den leitenden wiener
Kreisen zu einer Zeit in Berührung, in welcher sich dieselben in ohnmächtigem
Grimm verzehrten, was zu thun und zu lassen sei, platterdings nicht wußten.
Sie erwarteten, den Herrn V. Beust noch rathloser und niedergeschlagener zu
finden. Wie erstaunten sie, als sie in ihm nicht allein die Zuversicht zu sich
selbst, den Glauben an seinen Stern ungebrochen entdeckten, sondern von ihm
auch erfuhren, daß noch eine ganze Apotheke voll von untrüglichen Heilmitteln
für Oestreich existire. Oestreich fehle nur der Muth, wieder groß und mächtig
zu werden. Es müsse nicht alle Fragen und Gefahren wie bisher an sich kommen
lassen, sondern ihnen herausfordernd die Stirne bieten, es müsse die Initiative
ergreifen, bei allen Actionen in erster Linie stehen, dann könne es nicht
fehlen, daß es zur alten Herrlichkeit emporsteige. Es klage über seine Isolirtheit,
sind denn aber nicht die depossedirten und auch die auf Wartegeld gesetzten deutschen
Fürsten seine natürlichen Bundesgenossen, gebe es nicht tausend Mittel, um
sich die Freundschaft Frankreichs zu sichern? Da sei die polnische Frage. Wenn
man sie wieder in Fluß bringe, bereite man Preußen eine schwere Verlegenheit,
erobere sich die Gunst der öffentlichen Meinung Europas, zwinge Frankreich aus
der reservirien Stellung herauszutreten. Da sei die orientalische Frage. Man
müsse Rußland die Sympathien der christlichen Bevölkerung in der Türkei ab¬
gewinnen, auf diese gestützt sich den Wcstmächten unentbehrlich machen. Kein
Zweifel, daß diese für Oestreichs Kooperation sich erkenntlich beweisen werden.
Es ist gewiß schnöder Undank, wenn Herr v. Beust für seine Rührigkeit von
manchem mürrischen Altöstreicher mit dem Namen eines Farceurs beschenkt wird.
Der Sorge können aber auch wir uns nicht entschlagen, daß der elastische Staats¬
mann dem schwerfälligen östreichischen Körper zu Viel zumuthet. Durch die
Theilnahme, die er den Polen widmet, hat sich Herr v. Beust allerdings den
Dank der Ultramontanen gesichert und das Mißtrauen, mit welchem kirchliche
Würdenträger anfangs den protestantischen Minister des kaiserlichen Hauses be¬
trachteten, verscheucht. Die römische Curie hat bekanntlich mit der Bekehrung
der orientalischen Christen kein sonderliches Glück. Was kann sie ihnen auch
bieten? Einen pomphaften Cult? diesen besitzen die orthodoxen Griechen in
ungleich reicherem Maße. Den wirksamen Schutz der Heiligen? Die griechischen
Heiligen sind aber viel tractabler, sie lassen sich zwingen, ihren Verehrern zu
helfen, stehen auf einem ganz vertrauten Fuße mit ihren Bekennern. Zum we¬
nigsten soll aber die griechische Kirche nicht ausschreiten, nicht die Grenzen der
lateinischen Christenheit einengen. Mit banger Furcht steht die Curie das
griechisch-orthodoxe Element in Polen vordringen. Wer es mit Polen hält, ver¬
theidigt auch die Rechte der Kirche. Zur Sicherung seiner persönlichen Stellung
bedient sich daher Herr V. Beust eines trefflichen Mittels, wenn er sich zum
Gönner der Polen aufwirft. Gewiß hatte es aber auch gute Gründe, daß ein
so eminent östreichischer Staatsmann, wie Graf Stadion, von der polnischen
Wirthschaft nichts wissen wollte. Eine dauernde politische Agitation in Galizien
ist mit dem wirtschaftlichen Ruine des Landes gleichbedeutend. Der Finanz-
minister mag Herrn v. Beust sagen, ob die ökonomischen Verhältnisse in Ga¬
lizien so geartet sind, daß sie eine tiefere Störung vertragen können. Dann
aber muß Herr v. Beust mit sich darüber fertig sein, ob Oestreich eine seiner
größten und militärisch wichtigsten Provinzen verschenken kann.
Fühlen sich die Polen stark genug, um loszuschlagen, um Rußland und
Preußen, wie Herr v. Beust hofft, eine ernste Verlegenheit zu bereiten, so werden
sie auch die Bande, die sie an Oestreich knüpfen, zerschneiden. W>r fürchten aber
*
für den Ruhm des Herrn v. Beust, daß sie auch jetzt wieder den rechten Zeit¬
punkt übersehen, zu früh oder zu spät die ihnen zugemuthete Rolle zu spielen
anfangen werden und die Verlegenheit nur auf Herrn v. Beust und den
von ita geleiteten Staat zurückwerfen. — Eine noch größere Vorsicht möchten
wir ihm in der Behandlung der orientalischen Frage empfehlen. Denn mit
Polen mag er in seiner früheren Stellung sich vertraut gemacht haben, schwer¬
lich aber hatte er in Dresden Muße, die verschlagene List südslawischer Führer
zu studiren. Wir bedauern Herrn v. Beust, wenn es wahr ist. was die Zei¬
tungen verkündigen, daß er die thatkräftige Politik Oestreichs im Orient mit
der Unterstützung der katholischen Bosniaken beginnt. Das ist der kürzeste Weg,
das Mißtrauen der griechisch-katholischen Bevölkerung — und diese giebt den
Ausschlag — zu wecken. Wir würden ihn aber noch mehr bedauern, wenn «r
wirklich von Garaschanin und Marinovich sich in das Schlepptau hätte nehmen
lassen und Serbiens Forderungen an die Pforte unter Oestreichs Schutz nehmen
wollte. Frankreichs Wohlwollen kann sich Herr v. Beust damit erkaufen, denn
beide Männer sind Frankreichs anerkannte Schützlinge, haben ihren Feldzugs¬
plan längst in Paris verabredet. Schwerlich wird es aber zu Oestreichs Vor¬
theil ausschlagen, wenn auch unter seine südslawische Bevölkerung der Keim
der Agitation geworfen, die Gravitation nach Belgrad noch stärker wird, als es
schon jetzt der Fall ist. Schwerlich wird es Oestreich kräftigen, wenn die
Magyaren zu einem Verzweiflungskampfe getrieben werden, um sich der Ein¬
schnürung durch slawische Staaten zu entziehen. Es giebt keinen ungarischen
Politiker, der nicht die größte Gefahr für sein Vaterland in der Zerstückelung
der Türkei, in der Ecwecknng selbständiger südslawischer Staatskörper erblickte.
Herr V. Beust fand freilich erst lange nachdem er das Ministerium angetreten
hatte, Muße, sich in den ungarischen Angelegenheiten zu orientiren, diese That¬
sache aber, daß die Ungarn alles eher dulden werden als die Schöpfung eines
Mittelpunktes für die südslawische Agitation, war ihm gewiß nicht unbekannt.
Kein östreichischer Staatsmann wird mit verschränkten Armen zusehen, wenn
die türkische Erbschaft zur Vertheilung kommt, aber kein östreichischer Staats-
mann, der nicht ganz und gar der Lust zu intriguiren verfallen ist. wird noch
bei Lebzeiten des Erblassers die Hand auf ein Beutestück ausstrecken. — Der
Sieg der nationalen Politik in Italien und Deutschland hat Oestreich blos auf
seine natürliche Machtsphäre zurückgewiesen. Der Triumph derselben im Osten
würde den Kaiserstaat auseinandersprengen. Die Nachrichten, daß Herr v. Beust
den Ungarn günstig gesinnt sei und daß er ein kräftiges Protectorat über die
christlichen Stämme in der Türkei führen wolle, widersprechen einander. Thut
er das Eine, so muß er das Andere lassen. Der Ausgleich mit Ungarn ist aber
nicht allein dringender, sondern auch möglicher als der Gewinn einer festen
Position im Orient. Die östreichischen Finanzen wissen davon zu erzählen,
was dem Staate der unüberlegte Streich des Fürsten Schwarzenberg, den mon¬
tenegrinischen Protector spielen zu wollen, kostete. Der Ausgleich mit Ungarn
ist möglicher, aber nicht wahrscheinlich, wenn die Einberufung des außerordent¬
lichen Reichstages nach Wien das letzte Wort ist. welches die Regierung in
dieser Sache zu sprechen weiß.
Wir begreifen, daß die Regierung nach einem Ausweg suchen mußte, um
aus der unseligen Lage, in welcher sie sich seit einem Jahre befand, herauszu¬
kommen. Das Februarpatent, das gestehen auch seine Bertheidiger ein. hat
nur taube Frucht getragen, das Sistirungspatent war eben nur der Ausdruck
absoluter Rathlosigkeit. Bei letzterem konnte man nicht länger bleiben, zu
ersterem nicht füglich wieder zurückkehren, nachdem außer den Czechen auch die
Polen und die deutschen Autonomistcn dem Februarsystem untreu geworden
sind. Die Regierung mußte also einen Staatsstreich wagen. Daß sie dieses
aber nur in verschämter Weise that und nicht den Muth zu einem unverschämten
Staatsstreiche fand, ist in ihrem und vielleicht auch im Interesse des Staates
zu beklagen. Es wird ihr auch nicht der geringste Borwurf erspart, sie kann
sich aber über den Vorwurf nicht durch irgendeinen erreichten Vortheil trösten.
Sie läßt die Landtage nach den Grundsätzen des Febru^rpatents zusammen¬
treten, stellt es aber den Landtagen frei, ob sie die Abgeordneten zum Reichs¬
tage entweder aus 'den Gruppen der Großgrundbesitzer, Städte. Jndustrieorte,
Landgemeinden, wie es die Februarverfassnng vorschreibt, oder einfach aus der
Landtagsmitte, wählen wollen. In diesem Belieben liegt der Rechtsbruch. Es
wird dadurch keine beiläufige Bestimmung des Februarpatcnts, sondern sein
Eckstein umgestoßen, das Princip der Majoritäten, welches die Fcbruarver-
fassung sorgsam vermieden hatte, durch ein Hinterpförtchen verstohlen und
heimlich eingeführt. Hätte die Regierung directe Reichstagswahlen ausgeschrieben
oder wenigstens auch bei den Landtagswahlen gleiches Recht für alle procla-
mirt, so würde sie ein klares und vielbestcchendcs Princip verwirklicht haben.
Den Anhängern der Februarvcrfassnng wäre das Protestiren erschwert worden,
denn das Majoritätssystem besitzt nach constitutioneller Lehre den Vorzug vor
dem Grnppensystem und den Ungarn hätte sich die Ueberzeugung deutlich ein¬
geprägt, daß ihrem Parlamente eine wirkliche unverfälschte Volksvertretung
gegenüberstehe. Jetzt hat die Regierung nur das'erreicht, daß die Polen und
Czechen etwas weniger unzufrieden sind als früher, wogegen unter den Deut¬
schen und Ruthene» die Mißstimmung den höchsten Grad erreicht hat und die
Ungarn über den halbwüchsigen Reichstag verächtlich die Achseln zucken. Die
Tendenz des Ministeriums bei der Veränderung der Wahlordnung war offen¬
bar, dem augenblicklich mit dem Adel verbundenen slawischen Elemente das
Uebergewicht im Reichstage zu verschaffen. Wie stimmt das wieder mit dem
Wunsche, die ungarische Angelegenheit endlich zu regeln, zusammen? Die Czechen,
wenn sie consequent sind, müssen für die Theilung des ungarischen Reiches in
vier oder gar fünf nationale Staatsgruppcu stimmen. Neigt sich die Majorität
dieser Ansicht zu. so reicht das hin, um das radicale Element in Ungarn Mieder
in die Höhe zu bringen, es genügt aber nicht, um die widerspenstigen Magyaren
zu bändigen. Denn dann werden nicht nur die deutschen Demokraten wie im
Jahre 1848. sondern auch die Conservativen gegen die Regierung auftreten und
ob in der Armee, die an und für sich streng centralistisch gesinnt ist, die Lust
groß sein wird, für die problematischen Figuren einer Slowakei. Magyarei,
Walachei u. s. w. zu kämpfen, steht dahin. Hält die Negierung, wie noch
immer behauptet wird, an einem dualistischen Programme fest, so hat sie durch
den Ausschluß der Deutschen ihrer natürlichsten Bundesgenossen sich beraubt.
Zwar hat der Dualismus unter den Deutschen bis jetzt nur wenige zerstreute
Anhänger: überzeugen sie sich aber, daß die Centralisation nicht durchführbar
sei, so werden sie doch noch eher zum Dualismus sich bekehren, als dem slawi¬
schen Föderalismus huldigen. Sie wollen freilich überhaupt nichts von dem
außerordentlichen Reichstag wissen, denselben nicht beschicken. Die Demonstra¬
tion wäre imposant, wenn in den rein deutschen Provinzen Einmüthigkeit
herrschte. Sie ist auch nur in diesem Falle anzurathen. Können sich die
Deutschöstrcicher nicht einigen, bleiben die Deutschen in Böhmen und Nieder¬
östreich bei der Weigerung, fügen sich dagegen die Steiermärker und Tiroler,
dann wäre es besser gewesen, die Deutschen hätten nie mit dem „UesLrmo"
gedroht. Die Schule, die eine Minorität durchmachen muß, bleibt ihnen in
feinem Falle erspart. Es ist eine harte, aber besonders für die Dcutschöstreicher
Während das Jah.' 1863 auf diesem Felde eine Anzahl Werke von blei¬
bender Bedeutung zu Tage gefördert hat, wird von den 1866er Erzeugnissen
das Meiste (eine' glänzende Ausnahme davon macht das reizende jüngste Kind
der reuterschen Muse) schon nach wenigen Jahren der Vergessenheit anheim¬
gefallen sein. Je massenhafter — wie dies bereits in einer der letzten Nummern
hervorgehoben wurde — die Production gewesen war. um so betrübender fällt
uns die fast'durchgängige Mittelmäßigkeit des Gebotenen auf. Indessen das
Vorzügliche kann nicht immer neu, das Neue nicht immer vorzüglich sein und
auch die bescheidenen Pflänzchen, die nur auf eine geringe Weile sich selbst und
den Garten schmücken, dürfen auf flüchtige Beachtung Anspruch machen; wäh¬
rend man andrerseits vom Unkraut, auch wo es in unscheinbarer Gestalt auf¬
wuchert, die Beete säubern soll. Aus diesem Gesichtspunkte werfen wir einen
Blick auf einige der jüngsten novellistischen Producte.
Immer zunehmenderer Beliebtheit erfreut sich die Feuilletonnovelte, die in
furzen pikanten Zügen den bequemen Leser der Neuzeit alltäglich oder allwöchent¬
lich, je nach demi Verhältniß seines Bedürfnisses, zu amüsiren weiß. Einige
Wenige haben sie wahrhaft künstlerisch zu gestalten gewußt; unter ihnen steht
Paul Heyse obenan, dessen letzte Erzählung: „Auferstanden" in der Gartenlaube
mit seinen elegantesten früheren Schriften wetteifert. Sonst pflegen diese Ge¬
schichtchen die kurzlebigsten aller Eintagsfliegen zu sein, unter deren Schwärme
freilich auch manches verloren geht, das eines längeren Lebens nicht unwerth
Wäre. Dahin rechnen wir z. B. eine kleine Sammlung
deren Verfasser zwar noch etwas schülerhaft durch freundliche Schickungen des
Zufalls jede sich irgendwie auflhürmende Schwierigkeit und Bedenklichkeit klüg¬
lich zu entfernen weih, sich jedoch durch originelle Erfindung und hübsche Dar-
stellungsweise bereits vortheilhaft auszeichnet und bei größerer Vertiefung in
Charakter- und Weltstudien im Stande sein wird, auf diesem Felde recht Gutes
zu leisten.
Einige hübsche kleine Dorfgeschichten ähnlicher Art finden sich bei
als Zugaben unter einer Partie kleiner Aufsätze, die zur Hebung bäuerlicher und
kleinbürgerlicher Verhältnisse aus dem Gebiete der socialen und politischen Bil¬
dung bestimmt sind. Hätte das Buch statt seines wunderlichen Titels die ein¬
fache Ueberschrift: „Bilder aus dem Leben eines preußischen Landwirths", so
würde es mit seiner gesunden, einfachen Darstellungsweise bald sein geeignetes
Publikum und den verdienten guten Erfolg erlangen. —
Angstvoll suchten früher unsere Mütter nach passender Lectüre für ihre
heranwachsenden Töchter; jetzt, seit Tauchnitz seine Lolloctioll ok britislr autlrors
erscheinen läßt, wählen sie unbedenklich jedes Buch daraus, dessen Autor das
Glück hat, sich mit der Paßkarte ,Msij" legitimiren zu können, und der uner¬
meßliche Absatz, dessen diese Literatur sich beim letzten Feste zu erfreuen hatte,
zeigt aufs neue, wo das gelobte Land liegt, zu dem man in dieser Hinsicht das
höchste, ja fast ausschließliche Vertrauen hegt. Doch sind wir in der Lage, ihnen
auch aus deutscher Feder wenigstens ein anziehendes Büchlein für ihre Zwecke
empfehlen zu können, nämlich:
Schilderung eines edlen Madchencharakrcrs, die, wenn sie an realistischer
Treue jenen englischen Erzeugnissen nachsteht, dafür eine idealistische Seite an¬
schlägt, welche um so vernehmlicher und harmonischer in unserer deutschen Brust
wiederklingt und in ihrer freundlichen Einfachheit jedenfalls besseres Vorbild
darbietetals die frömmelnden Erbaunngsnvvellen, für deren Hervorbringung
neuerlich auch bei uns so manches Treibhaus entstanden ist."
Uns Männern hat das verflossene Jahr eine Anzahl „historisch-politischer
Tendcnznvvcllen bescheert. Auf diesem Geriete sehen wir namentlich Schmidt-
Weihenfels thätig, freilich nicht immer mit gleichem Glücke. Interessant ist
seine kleine Skizzcnsammlung:
Ein sehr dankbarer Vorwurf: was wären unsere modernen Novellisten,
Scott und Dumas obenan, ohne die Gefängnisse? welcher ihrer Romane hätte
nicht seine spannendsten Effecte in den Kerkcrscenen? Der Verfasser führt uns
in diese wichtige Maschinerie der Romantik mit der planvoll durchführten
Absicht ein, die Strafe des Gefängnisses und das Loos der Gefangenen unter
richtige Gesichtspunkte zu fassen und zu einer brennenden Frage unserer Zeit
zu machen. Auf den Namen „Geschichte" können diese vielfach durchaus nicht
nach den authentischsten Quellen berichteten Erzählungen nur in beschränkterem
Sinne Anspruch machen, auch führt den Verfasser der Eifer für seine Sache
stellenweise zu weit. So kann doch sicherlich die Verurtheilung Neys nur
unter bedenklichster Verwirrung aller lltechlsbegriffe ein „politischer Mord" ge¬
nannt werben. 'Abgesehen von solchen Einzelheiten muh man zugestehen, daß
der Verfasser nicht nur etwas Iiueressanles, sondern auch Verdienstliches ge¬
liefert hat.
Welt minder gelungen ist sein neuestes Buch:
Schmidt-Weißenfels bekämpft hier die Willkür und ÄewaltlhäNgteit des
Absolutismus, indem er uns das französische Ministerium der Preßvrdvnnanzen
und dessen Gegner darzustellen versucht. Aber ein deutliches Bild von den da¬
maligen Zuständen Frankreichs erhallen wir nicht, namentlich nicht Von dem
französischen Geiste, der jene Tage durchspricht. Was wir zu erkennen vermögen,
ist nur die Absicht, nur Gedanken, die in steif geschnittenen Schablonenfiguren
verkörpert sind, enim Kampf gegen gewisse Zustände unseres Vaterlandes ein¬
zugehen, der in dieser Gestalt grötzlenlheils bereits zum Anachronismus ge¬
worden ist. Keine rührigen, pratlljchen Franzosen bevölkern dieses Buch, Mdern
fast nur schwerjällige Ideologen, deren Deutschthum sich auch äußerlich lo wenig
verläugnet, daß einer unter ihnen, Gras Quömvnl, seinen zum Constuutiona-
lismus umgeschlagenen Sohn einen „Schwärmer Marquis Posa" nennt. Das
Buch ist ein in bester Absicht ulllernommener, aber in der Ausführung ver¬
kümmerter Versuch. Die Skizzen aus dem Leben der Heimath, die der Ver¬
fasser in einem früheren Werke mit geschickter Hand gezeichnet hat, sind jeden¬
falls das geeignetere Feld für seine Thängkelt.
Zum Schluß wenden wir den Blick auf eine Tendcnzschrist wider den
Katholicismus, deren Titel anziehend genug klingt:
Der Auior klagt über die Schwierigkeit, für unser jetziges verwöhntes
Publikum einen pikanten Romanansang zu bieten, findet ihn indessen glücklich
in einer schlüpfrigen Situation. Doch wird der Leser, den der Anfang ge¬
winnen sollte, bald ernüchtert. Das wäre nicht schlimm, wenn nur das übrige
Buch nicht zu sehr mit langweiligen theologischen Streitigkeiten angefüllt wäre,
die wiederum in ihrer Seichtheit und Unzulänglichkeit den tiefer Gebildeten ab¬
stoßen. Die beiden verlorenen Seelen sind: weibllcherseus eine Dame, die, um
sich scheiden zu lassen, Protestantin wirb und als angehender Freigeist sich be¬
sonders mit Laugnung der persönlichen Unsterblichkeit hervorthut; männlicher-
seits ein Geistlicher ans vornehmer Familie, der durch naturwissenschaftliche
Studien seinem Stand entfremdet, >n demselben doch unter allerhand Schwan¬
kungen verharrt, bis seine Oberen, da sie ihre Hoffnung, sein Erbe zu er¬
schleichen, vereitelt sehen, ihn unter lügnerischen Vorspiegelungen in ein Kloster
locken und dort als Sträfling gefangen halte»; dies endlich bewirkt, nachdem
es ihm gelungen, zu entkommen, seine Bekehrung zum Protestantismus und
die Vermählung nut der andern „verlorenen Seele". Die Geistlichkeit stiehlt
in diesem Buche kostbare Diamanten und schiebt dasür geringere unter; sie
dingt den ersten besten Lump, um zu einer gläubigen Christin die Geisterstimmen
ihrer verstorbenen Aeltern reden zu lassen und das Mädchen dadurch zu einer
unnatürlichen Ehe zu bestimmen; versteht sich^ wieder um Geld zu erpressen,
— und tgi. mehr. Wer solche selbstgemachte Strohpuppen verbrennt, hat frei¬
lich leichtes Spiel, aber in Wahrheit fehlt ihm von den realen geistigen Mächten,
über die der Katholicismus gebietet, jeder Begriff und er besitzt daher für die
Bekämpfung desselben den allergeringsten Beruf. — Die Entwicklung ist nach¬
lässig und erfordert beständige Einschaltungen und Nachträge; der Stil ist un¬
Für den Freund des Schönen bietet die Art. wie das Seewesen in den
letzten Jahrzehnten sich entwickelt hat, trotz aller seiner technischen Vervollkomm¬
nung wenig Erfreuliches. Die stolze Pracht des Segelschiffes früherer Zeiten
ist zum großen Theil verschwunden: die Formen des Körpers strecken sich immer
länger und geradliniger dahin, die Takelage wird verhältnißmäßig immer niedriger,
und wenn dies schon von den Schiffen der Handelsmarine gilt, so ist es noch
viel mehr der Fall bei den Kriegsschiffen. Der kühne luftige Bau der hoch¬
ragenden Masten mit ihren schlanke», in wundervoll pyramidaler Proportion
sich verjüngenden Raaen und Spieren, das kunstvolle dichte Gewirr der Taue
und sein fciiics, bunt sich durchkreuzendes Netzwerk, in dem doch die strengste
Regelmäßigkeit herrscht; die reiche Fülle der weißen Segel mit ihren üppig ge¬
rundeten Konturen, die sonst die Takelage des ganzen Schiffs wie weiße Fest-
tleidung dicht verhüllten — all diese Schönheit welkt seit der allgemeineren
Anwendung der Dampfkraft; den Todesstoß erhält sie durch das Aufkommen
der Panzerschiffe, dieser ungeschlachten schwarzen Kolosse, denen ihr unge¬
heures Eisengewicht nur niedrige Bemastuuc; gestattet. Zwar haben die Panzer-
sregatten der Engländer noch eine so reiche Takelage, als ihre eiserne Beschwe¬
rung irgend zuläßt, aber sie ist lang hingedehnt über den enormen Rumpf dieser
Rlcsensahrzeuge und läßt die schöne ästhetische Wirkung der früheren Holzschiffe
ganz vermissen. Die französischen und die italienischen Panzcrfrcgattcn haben
sich noch mehr beschränk!, denn sie haben eine kümmerliche Barktakelage ange¬
nommen, die Amerikaner und ihnen folgend die Nüssen haben die Takelage
ganz fallen küssen. Kein Wunder also, wenn diese Fahrzeuge kaum noch den
Eindruck von Schiffen machen, wenn sie in ihrem Aeußeren nichts von jener
imposanten Majestät haben, durch welche früher die schlanken Fregatten, die
noch schöneren, noch ebenmäßiger geformten stolzen Linienschiffe im Schmuck
ihrer weißen Batterien sich auszeichneten.
Aber auch in technischer Beziehung sind diese neuesten Schöpfungen der
Schiffsbaukunst keineswegs fehlerfrei. Wir hatten diese Wahrnehmung schon
früher aus Schilderungen und Rissen amerikanischer Panzerschiffe gemacht; sie ist
durch die persönliche Anschauung des Miantonom o h, des neuen amerikanischen
Monitors, welcher letzthin die baltischen und die Nordsee-Hafen besuchte, nur
noch sicherer bestätigt worden. Wir haben im Auslande Panzerschiffe der ver¬
schiedensten Systeme in allen Stadien der Vollendung kennen gelernt, und
namentlich einen großen Theil der Schiffe, welche in der Seeschlacht bei Lissa
mitthätig gewesen sind: wir müssen aber gestehen, daß uns selten so viel Mängel
bei genauerer Untersuchung zu Tage getreten sind, als bei dem so viel gepriesenen
amerikanischen Panzerschiff, das nur dem Unkundigen durch die kolossalen Di¬
mensionen einzelner Stücke, wie der Geschützausrüstung, imponiren kann, seinen
Ruhm aber wesentlich der Reclame verdankt.
Die amerikanischen Panzerschiffe, die .Monitors", weichen von denen andrer
Nationen in ihrem Bau sehr bedeutend ab — wie es denn überhaupt eine sehr
große Anzahl von Panzerschiffsystemen giebt, von denen allein in der englischen
Flotte sechzehn vertreten sind. Im Allgemeinen scheiden sich die Panzerschiffe
hauptsächlich nach dem großen Gegensatz von Breitseitenarmirung und
Armirung mit Pivotgeschützen. Bei der Breitseitenarmirung stehen die
Geschütze an beiden Seiten des Schiffes hart an Bord, und entsprechen sich
immer paarweise einander gegenüberstehend, so daß eins rechts, eins links
hinausschießt. Beim Pivoisystem steht nur je ein Geschütz von doppelter oder
noch größerer Schwere in der Mittellinie des Schiffs auf dem Oberdeck, und
läßt sich um eine senkrechte Achse drehen und so nach jeder Seite hin verwenden.
Gedecke sind die Geschütze bei dem Breitseitensystem, welches Takelage zu
führen gestattet, und dessen Schiffe (die Panzerfregatten) somit den Holz¬
schiffen einigermaßen ähnlich aussehen, durch die Schiffswand selber, die meistens
mit 4V, Zoll starken Eisenplatten gepanzert ist. Dagegen sind bei den Schiffen
des Pivotsystems die Geschützdrehscheiben mit ihren beiden Geschützen durch
eiserne Kuppeln (enxola) oder Thürme (turrets) gedeckt: jede Drehscheibe krä^t
zwei Geschütze neben einander, einmal um den Raum auszunutzen, und dann,
um durch das Einschlagen zweier Kugeln dicht neben einander größeren Effect
zu erzielen; die Geschütze können nämlich selbständig keine Seitenrichtung nehmen,
diese wird allein durch Drehung des Thurms bewirkt. Da die Höhe der Ge¬
schütze über Waffer das Maßgebende für die ganze Construction des Schiffes
ist, und aus Rücksicht für die Stabilität des Fahrzeugs nicht gut höher als
9 Fuß über Wasser gebracht werden kann, so kommt natürlich bei den Schiffen
des Pivotsystems das Oberdeck weit tiefer zu liegen, als bei den Panzerfregatten.
Durch diese Niedrigkeit des Schiffs wird nun allerdings die Zielfläche für den
Feind sehr verringert, aber ebenso leidet dadurch auch seine Seetüchtigkeit: und
in gleicher Weise steht dem Vortheil der Thurmschiffe, ihre Geschütze nach allen
Seiten verwenden zu können, der Nachtheil geringerer Festigkeit und Solidität
der drehbaren Maschinerie gegenüber.
Nur aus diesem Verhältniß läßt sich der jetzt in England so heftig geführte
Streit „droaäsiäe versus wrrst" erklären, in welchem die königliche Admiralität
auf Seiten der Breitseitenschiffe steht, während ein großer Theil der Tagespresse
dem geistvollen Erfinder des Pivotsystems. Capitän Cowper Coles, beisteht,
und seine Construction vertheidigt und anempfiehlt. Coles hatte ursprünglich
als Geschützdeckung nicht Thürme, sondern Schilder (snielcls) vorgeschlagen, die
man sich wie stark gewölbte Uhrgläser über die Drehscheibe gedeckt denken mag.
sodann die niedrigen Kuppeln. Die Form hoher cylinderförmiger Thürme da¬
gegen, die in vieler Beziehung weniger zweckmäßig ist, rührt von dem Schweden
Ericson her, der das colessche Pivotsystem zuerst praktisch ausführte, und dessen
erstes Thurmschiff, als „Mahner" für den rebellischen Süden „Monitor" ge¬
nannt, Typus dieser ganzen Classe von Fahrzeugen geworden ist.
Der Miantonomvh, dessen Construction von den anderen Exemplaren
der Monitors darin abweicht, daß er statt eines Thurmes deren zwei hat. ist
der erste seiner Gattung, der es überhaupt gewagt hat, über den atlantischen
Ocean zu kommen, nachdem mehre seinesgleichen, darunter auch der ursprüng¬
liche „Monitor" und ein russisches Fahrzeug dieser Art in den Wellen ihr Grab
gefunden. Die Dimensionen des Miantonomoh sind weder besonders groß noch
auch in ihrem Verhältniß zu einander besonders gefällig oder zweckmäßig.
Sein Tonnengehalt ist nur 1,564 Tons, also kaum viel größer, als die großen
Klipper der neueren Handelsmarine, die gewöhnlich 900 — 1,800 Tons haben,
während sonst die Kriegsschiffe selbst geringeren Ranges bedeutend größer sind.
So haben z. B. die größern Schraubencorvetten meist circa 1.800, die großen
englischen Fregatten sogar 2.000 —3.000, Linienschiffe 3,000—4.000 Tons und
die gewaltigen englischen Panzerriesen wie der Warrior oder die Schiffe der
Minotaurclasse erheben sich bis zu 6.600 Tons bei 400 -420 Fuß Länge.
Wie klein erscheint hiergegen der so vielgepriesene Neuling! Ist nun seine Größe
wenig imponirend, so gilt dies noch mehr von seinen Formen und Dimensionen
(259 Fuß Länge. 59 Fuß Breite. 19 Fuß Tiefe, wovon 15' 10" unter Wasser).
Die Breite des Schiffs ist im Verhältniß zur Länge außerordentlich groß, so
daß es fast das Aussehn eines Präsens oder Waschkastens gewinnt, wie uns
die Hamburger Seeleute mehr als einmal spöttelnd bemerkten; hierdurch wird
seine Schnelligkeit außerordentlich beschränkt. Trotz seiner Maschinen von 800
Pferdekraft, die von der Mannschaft des Schiffes als Maschinen von 4,000 aus-
gegeben wurden, vermag der Miantonomoh nicht mehr als 8'/» Knoten (im
Ganzen also 2V, Meilen in der Stunde) zurückzulegen. Zwar hat er die Ueber¬
fahrt von Amerika verhältnißmäßig schnell gemacht, aber nur indem er meist
geschleppt wurde und sich fortwährend guten Wetters erfreute. Bei der Probe¬
fahrt, die er mit dem preußischen Panzerschiffe in Kiel anstellte, hat letz¬
teres ihn nicht blos bedeutend hinter sich gelassen, sondern ist sogar rund um
ihn herumgelaufen — der glänzendste Beweis Von Ueberlegenheit, der über¬
haupt geliefert werden kann. Diese Thatsache wiegt um so schwerer, als heut¬
zutage die Schnelligkeit, mit der ma» sich dem Gegner entziehen oder ihn ver¬
folgen kann, oder mit der man ihm die Flanke einzurennen vermag, die aller-
wichtigste Eigenschaft jedes Kriegsschiffs ist. Die Seeschlacht bei Lissa hat in
dieser Beziehung allen Zweifeln ein Ende gemacht. Ein Theil der Langsamkeit
des Miantonomoh ist übrigens auch der Form seines Borschiffs zuzuschreiben,
welches überdies nicht einmal, wie die meisten englischen und französischen
Panzerschiffe mit einer Spitze oder Schneide zum Einrennen feindlicher Fahr¬
zeuge versehn ist. Auch die Form des Hinterschiffs ist wenig geschickt, wenn
auch vortheilhafter, als sich nach der Form des Deckes schließen läßt; er ist
nämlich nach dem neuen Princip mit zwei Schrauben, einer auf jeder
Seite des Steuerruders, versehen, um leichter wenden zu können, und zum
Schutz der Schrauben wie des Steuers ist das Deck hinten weit über letztere
überragend gebaut worden.
Die Höbe des Decks über Wasser beträgt blos etwa 3 Fuß (wir maßen
nur 2 Fuß 8 Zoll), im Gefecht sogar nur 6 Zoll, da da-? Schiff durch Ein¬
nehmen von Wasserballast noch gesenkt werden kann, um dem Gegner weniger
Zielfläche darzubieten. So weit es aus dem Wasser herausragt (3 Fuß) und
noch 6 Fuß tiefer unter der Wasserlinie ist es mit 6 über einander gemieteten
zolldicken Eisenplatten gepanzert, die ihrerseits auf 3 Fuß dicken Widerlager
von bestem Eichenholz aufgebolzt sind. Das Deck besteht aus übereinander be¬
festigten etwa zolldicken Eisenplatten von Zoll Stärke im Ganzen, und
ruht auf 18 Zoll dicken eichenen Deckbalken, während es selbst oben noch mit
3 Zoll dicken gewöhnlichen Planken belegt ist, so daß es wie ein gewöhnliches
Schiffsdeck aussieht. Aus diesem Plankcnboden des Decks ragen nun an ver¬
schiedenen Stellen eiserne Klampen und Ringe zum Belegen und Festmachen von
Tauen hervor, und am Rande des Decks erheben sich an jedem Bord 4 Darieh
(Stützen, in welchen die Boote hängen,- und die sich beim Klarmachen zum Ge¬
fecht wegnehme» lassen), während aus der Spitze an jedem Ende des Schiffs
je eine Flaggenstange in die Luft ragt und außerdem nach vorn die Krahn-
ballc» und anderweiten Ankervorrichtungen angebracht sind: sonst aber ist, ab¬
gesehen von den Thürmen und dem Raum zwischen ihnen, das ganze Deck eine
flache Platform ohne irgendwelche Unterbrechung, ohne irgendeins der Aus¬
rüstungsobjecte; durch welche der Anblick anderer Schiffe so reiche Mannigfaltig¬
keit erhält. Nicht einmal eine Schanzklcidung, eine Brüstung umgiebt das Deck
— man steht auf demselben wie aus einer recht niedrigen Landungsbrücke hart
am Wasser.
In der Mittellinie des Schiffs, mit ziemlich bedeutendem Abstand von den
beiden Enden, erheben sich um die hohen schwarzgcfunißten Thürme; und in
dem Raume zwischen denselben trägt eine große Zahl schlanker Eisenstützen eine
breite Brücke, die vom Dach des einen Thurmes zu dem des andern führt, und
in der Mitte durch den gewaltigen schwarzen, unten stark gepanzerten Schorn¬
stein, sowie durch ein mächtiges Ventilationsrohr durchbrochen wird. Diese
Brücke, die aus Rösterwerk (rostartigen, engem Holzgitterwerk) besteht, um dem
Wasser leichteren Abfluß zu gestatten, ist während der Reise der Hauptaufenthalt
der dienstthuenden Mannschaft, wie sich denn auch hier die Telegraphen des
Capitäns für die Steuerung und die Maschine, und außerdem die beiden
wunderhübschen vierpfündiger Signalkanonen befinden (Booisgeschütze nach dem
Das>,pen'ystem). Das Deck selbst ist nämlich während der Fahrt-.fortwährend
von Seen überspült: es wurde uns versichert, daß in See an der vorderen
Flaggenstange das feste Wasser, nicht etwa bloße Spritzwcllen, 18 Fuß hoch
gestanden habe — indessen ist diese Angabe wohl mit Vorsicht aufzunehmen, da
sie etwas zu amerikanisch klingt.
Vielleicht das Jnteressanteste an dem ganzen Schiff sind die Thürme. Man
denke sich kolossale schwarze Cylinder von 21^/2—23 Fuß Durchmesser, aus
deren festgefügten Panzerplatten die nieder mit runden Köpfen herausstehcn,
wie bei einem Dampfkessel, während sie sonst bei den Panzerschiffen gewöhnlich
eingelassen sind. Glatt, ohne irgendeine Oeffnung außer den beiden Geschütz¬
pforten, steigen die schwarzen Wände senkrecht empor bis zu 9 Fuß Höhe;
dann bildet eine aufspringende Galerie aus leichtem schwarzen Eisenblech den
Abschluß, wie der „Mordgang" an den mittelalterlichen Erstellen. Das Ge¬
länder dieser Galerie ist mit einem Streifen weißen Segeltuchs umspannt, der
das Commandantenthürmchen von außen wenig sichtbar werden läßt: für den
Commandeur jedes Thurmes befindet sich nämlich mitten auf demselben eine
kleinere, etwa mannshohe Trommel mit 12 Zoll starkem Panzer und schmalen
horizontalen Schlitze» zum Anflügen während des Gefechts. Außerdem ist auf
dem vorderen Thurme noch ein Steuerrad angebracht, das während der Reise
gebraucht wird, und dessen Bemannung hier sowohl vor der See einigermaßen
' geschützt ist, als auch einen vorzüglichen Ueberblick über den vorderen Theil des
Fahrzeuges hat. Der ganze Thurm aber mit sammt seinem Steuerrad und
Commandantenthürmchen ist schließlich mit einem Weißen, kegelförmigen Zelt¬
dach überspannt, das während des Gefechts natürlich entfernt wird, sonst aber
dem Ganzen fast das Aussehen eines Carrousscls verleiht, ein Eindruck, der
durch die bunte dicht sich drängende Menge der Besucher im Hafen noch ver¬
vollständigt wird. Die Decke des Thurmes enthält zugleich den einzigen Zu-
gang zum Innern des Fahrzeuges während der Gefechtsbereitschaft, denn die
Luke (horizontale Fallthüre im Deck), welche sich vor jedem Thurm befindet, ist
nur so lange geöffnet, als das Schiff im Hafen liegt; in See und vollends
während des Gefechts ist sie mit starken Eisengittern und wasserdichten Deckeln
völlig geschloffen. Begiebt man sich nun durch eine dieser beiden Luken in den
unteren Raum, das Zwischendeck, des Schiffs, so findet man die Einrichtung
von der anderer Kriegsschiffe nicht sehr verschieden, mit der einzigen Ausnahme,
daß hier alles künstlich erleuchtet ist, weil der Raum fast ganz unter Wasser
liegt und das Wenige, was über Wasser emporragt, durch die Panzerung luft¬
dicht geschlossen ist.
Im hintersten Theil des Schiffes befindet sich nun die Offijiersmeß. ein
elegant eingerichteter Salon mit den anstoßenden Cavinen der einzelnen Offi¬
ziere und einer prächtigen Wasserheizungsanlage; darauf folgt der Raum unter
dem Hinteren' Thurm mit seinen starken Eisenwellen und der Drehungsmaschi¬
nerie; sodann kommt der schöne, sehr bequem und luftig eingerichtete Maschinen¬
raum, mit einer besonderen Maschine von 400 Pferdekraft für jede Schraube
und 24 Oefen unter den gewaltigen Kesseln. sowie mit der ausgezeichnet schönen
Ventilationsmaschine, welche fortwährend Ströme frischer Luft einpumpt und die
warme verdorbene Luft oben zu den Thürmen hinaustreibt. Noch weiter nach
vorn liegt der zweite Thurm und dann kommen die Ankervvrrichtungen, mäch¬
tige eiserne Ankerketten, dicke eiserne Spillen, um welche die Ketten sich auf-
winden, und das eigentliche Steuerrad, das nach den telegraphischen Befehlen
bedient wird, welche der Capitän vom vorderen Thurm aus giebt. Nach vorn
wird das Zwischendeck abgeschlossen durch zwei mit getheerten Segeltuch ver¬
hängte Räume, vor denen Seelsoldaten mit gezogenem Säbel stehen — das
Lazarett) und das Arrestlocal. Unheimlich klingt aus letzterem das Rasseln der
Ketten hervor, mit denen die überhaupt etwas barbarische Disciplin der Ame¬
rikaner den Delinquenten auf viele Tage krummgeschlossen selbst ganz kleine
Vergehen büßen läßt.
Die Mannschaft machte im Allgemeinen einen sehr angenehmen Eindruck:
die Mehrzahl Leute aus den Neuengiandstaaten oder Deutsche, blühende, frische,
meist noch sehr junge Gesichter, unter die natürlich auch recht verwitterte Theer¬
jacken gemischt waren, und selbst einige Neger befanden sich, auffällig genug,
unter der Bemannung. Das Schiff hat im Ganzen 160—170 Mann Be¬
satzung; als ihr Logis dient das Zwischendeck, das wir soeben durchschritten
haben — die Haken in den Deckbalken, an welche die Hängematten befestigt
werden, sowie die Kästen mit den Kleidersäcken ringsum an der Schiffswand
deuten schon genügend darauf hin. Unter dem Zwischendeck befindet sich end-
lich der Raum für Ballast und Vorräthe an Lebensmittel» und Süßwasser,
das aber nur für 20 Tage ausreicht und dann durch destillirtes Wasser ersetzt
werden muß, wie es eine am Bord befindliche Destillirmaschine liefert. In
diesem Raume liegen auch die Kohlen. Es ist der wunde Fleck aller nach dem,
Monitorsysteme gebauten Schiffe, daß der Mangel an Hcizungsmaterial ihnen
keine weiten Fahrten gestattet. Viel Kohlen vermag kein Panzerschiff einzu¬
nehmen wegen des eigenen großen Gewichts; aber den Panzerschiffen anderer
Systeme, welche eine Takelage führen, gestattet die letztere, bei günstigem Winde
auch ohne Kohlcnverbrauch vorwärts zu kommen, während die Monitors stets
dampfen müssen und überdies ihrer Bauart wegen nur sehr langsam fort¬
kommen. Deshalb hat denn auch jeder Monitor, der länger als eine Woche
in See bleiben will, stets einen Tender mit sich, einen anderen Dampfer, .der
ihm die Kohlen nachbringt und auch sonst ihm zu helfen bestimmt ist; doch
leuchtet ein, wie schwierig es bei schlechtem Wetter für den Monitor sein muß,
Kohlen von dem Tender an Bord zu nehmen. Dem Mantonomoh war als
Tender der Raddampfer Augusta beigegeben. Dem Kohlcnmangel kann also,
wenn das Wetter günstig ist, der Tender abhelfen; wobei er aber nicht helfen
kann, das ist, wenn dem Monitor an seiner Maschine ein Unglück passirt oder
wenn die über die Thürme brechenden Wellen ihm die Feuer unter den Kesseln
auslöschen. Dann ist das Ungethüm bei dem gänzlichen-Mangel an Masten und
Segeln völlig unbeweglich, und durch die Unbeweglichkeit unfähig zu steuern,
ein unglückliches willenloses Spiel der Wellen, die ihm bald sicheren Untergang
bringen, wenn es dem Tender nicht gelingt, das Panzerschiff in den nächsten
Hasen zu bugsiren. In dieser Weise sind denn schon mehrfach Monitors unter¬
gegangen, so der erste dieser Gattung bei Cap Hatteras und noch einige vor
Charleston, sowie zwei russische in dem Geschwader, das zur Theilnahme am
Flottenfest von Chervourg bestimmt gewesen war, und der italienische „Affon-
datore" vor Ancona, während Panzerschiffe des Breitseitcnsystcms bisher noch
nie untergegangen sind.
Wenn es dagegen zwei andern amerikanischen Monitors, dem Passaik und
dem Monadnoik, die wie der Mantonomoh indianische Namen sühren, gelungen
ist, bis in den großen Ocean zu gelangen, so möchten wir dies als einen reinen
Ausnahmefall betrachten. Die Monitors sind nämlich in See nicht blos durch
Unglücksfälle an der Maschine gefährdet, sondern mehr noch dadurch, daß das
ungeheure Gewicht der Thürme nicht fest mit dem Schiff verbunden, sondern
beweglich ist und bei dem furchtbaren Hin- und Herschleudern in See oder bei
starken aufschlagenden Schüssen natürlich gelockert wird. Beim Miantonomoh
haben sich die massiven eisernen Balken, welche die Thürme tragen, in See
um volle 2'/^ Zoll gegeben, und bei den Monitors vor Charleston wurden die
Thürme durch die feindlichen Schüsse gar oft festgeklemmt und unbeweglich und
unnütz gemacht. Sowohl in dieser Beziehung, in Rücksicht auf die Solidität,
wie hinsichtlich der Takelage ist das Breitseitcnsystcm der Panzerfregattcn ent-
schieden vorzuziehen, >werrn bei ihm auch andrerseits die Verwendung der Ge¬
schütze und die Gewichlsvcrthcilung weit ungünstiger ist. Die Vortheile beider
Systeme aber vereinigt das N in genn ne lsy se e in, bei dem die Thürme fest
und durch einen Tunnel verbunden sind, während um jeden Thurm in der
Höhe der Geschützpforten ein drehbarer Nrng liegt/) Das Ringtunnelsystem
soll namentlich dem schwerwiegenden Uebelstande vorbeugen, daß durch aus¬
schlagende Schüsse die Drehuugsmaschineric der Thürme leidet, die grade beim
Miantonomoh sehr angreifbarer Natur ist, und deren Eigenthümlichkeiten gleich
beim ersten Blick alle aufzufassen selbst für den Sachverständigen Schwierigkeiten
bietet. Der ganze Thurm ruht auf einer kolossalen 14 Zoll starken massiv-
eisernen senkrechten Achse, auf deren beiden Kragen sein Fußboden und seine
Decke fest aufliegen. Der Fuß dieser Welle läßt sich durch Untertreiben von
Keilen einige Zoll heben.respective wieder senken: ist die Welle gesenkt, so
ruht der untere Rand der Thurmpanzcrung fest auf dem hier art Kauischuck
belegten Deck und läßt so keinen Tropfen Wasser eindringen, wobei dann aber
der Thurm nicht gedreht werden kann. Ist dagegen die Welle gehoben, so
schwebt die ganze kolossale Gewichtsmasse des Thurmes (etwa 80 Tons — 1,600
Centner oder das Gewicht zweier Locomoiiven) frei auf dieser Welle, ohne auf
dem Deck aufzuliegen, und dann kann der Thurm sich frei schwebend drehen.
Begreiflicherweise ist aber hierbei äußerste Gefahr, wenn dreihundert- oder gar
sechshnndertpfündige Geschosse des Gegners die ganze Masse stark erschüttern,
so daß d>e Welle gebogen und der Thurm unbrauchbar wird, während die Ge¬
schütze dann blos nach einer einzigen Richtung zu verwenden sind. Außerdem
ist es ein Fehler, daß die Thürme nur durch Dampf gedreht werden können
(und zwar einmal herum in 90 Secunden): denn bei einem Versagen der Ma¬
schinerie ist die Bewegung des Thurms und der Geschütze wiederum unmöglich;
die Drehung durch Menschenkraft bleibt aber ausführbar, so lange überhaupt
noch Bemannung auf dem Schiffe ist.
Auch die Geschützausrüstung des Miantonomoh ist keineswegs fehler¬
frei. Die beiden Kanonen jedes Thurmes sind trotz ihrer gigantischen Dimen¬
sionen (14 Fuß 1 Zoll Länge, 4 Fuß Dicke hinten, am Stoß — denn das
ganze Geschütz ist flaschcnförmig) den schweren Geschützen andrer Floftcn auf
größere Distanzen nicht im Entferntesten gewachsen. Erstens sind diese Geschütze
nicht gezogene Kanonen, sondern sie haben glatte Läufe, wodurch die Sicherheit
des Schusses und die Tragfähigkeit bedeutend beeinträchtigt werden. Sodann
sind diese Kanonen keine Hinterlader, wie die preußischen gezognen Geschütze
und die englischen Armstrongs, sondern Vorderlader, so daß sie nach jedem
Schusse zum Laden zurückgezogen werden müssen. Das Material der Geschütze
ist nicht Gußstahl oder die noch zähere aber allerdings schwerere Bronce, son¬
dern gewöhnliches sprödes Gußeisen nach dem Nvdmangeschützsystem, und
endlich läßt die geringe Wandstärke der Mündung (2^ Zoll) darauf schließen,
daß die drcihundertsechzigpsündigen Bomben (Hvhlgeschosse) und die vierhundert-
achtzigpfündigen Vvllgeschvssc (runde Kugeln, nicht Bolzen) sehr großen Spiel¬
raum im Laufe habe», wodurch natürlich ein großer Theil der Pulverkraft ver¬
loren geht. Die Gcschützpforten sind elliptisch, so daß die Geschützmündungen
beliebige Elevation nehmen können; während des Ladens, wo die Geschütze
zurückgezogen sind, werden die Pforten durch kolossale 13 Zoll starke massive
Eisenkrummzapfen (port-stoxpLrs) geschlossen, indessen nicht ganz dicht. Für
den Sachverständige» haben die Geschlitzpforten insofern hervorragendes Interesse,
als sich hier die Dicke des Panzers controliren läßt. Der amerikanische
Panzer besteht aus zehn einzölligen aufcinandergenieteten Platte», ist also
nur zehnmal so stark als eine einzöllige Platte, während die in den Mariner
aller andern Länder gebräuchliche Panze ung mit massiven 4'/s zölligen Platten
20'/4 Mal so stark ist als einzöllige Panzerung. Der Grund dieses theoretisch
richtigen und bei den englischen Schießversuchcn in Shoeburyneß praktisch er¬
probten Verhältnisses möchte darin zu suchen sein, daß bei einer Erschütterung
der äußeren zolldicken Schicht durch feindliche Geschosse diese Schicht nicht
vibriren kann, ohne durchweg an der dahinterliegenden Schicht einen Rückhalt
zu haben, während bei einzölligen Platten dieser Rückhalt blos an den Niet¬
stellen vorhanden ist und somit ein Springen der Platten viel leichter vorkommen
kann. Bei den folgenden Platten ist dann genau dasselbe Verhältniß. Es ist
also der zehuzvllige Panzer, von dem die Amerikaner so viel Rühmens machen,
keineswegs ein Bortheil, sondern vielmehr ein durch die Verhältnisse der ameri¬
kanischen Eisenfabnkaiion bedingter schwerer Nachtheil: das preußische Panzer¬
schiff Arminiuö mit seinen englischen 4V» völligen Platten ist dem Miantonomoh
an Widerstandsfähigkeit des Panzers um mehr als das Doppelte überlegen.
Ebenso übertrifft die Trefffähigteit und Durchschlagskraft seiner weittragenden
Kanonen die des amerikanischen Schiffs der Art, daß der Führer des Arminius,
der berühmte Cvrveltencapitän Werner, ohne Gefahr dem Miantonomoh ein
Duell zur See anbieten konnte; seine Schnelligkeit überragt die des Amerikaners
in noch höheren Grade, wie auch die Drehung der Maschinerie, die von zwei
Leuten bedient wird, und in Rollen läuft, weit einfacher und dauerhafter ist —
kurz der Arminius übertrifft den Mianlvnvmoh fast in jeder Beziehung und
mit vollstem Recht hat die preußische Negierung es abgelehnt, den Miantonomoh
zu kaufen, obwohl er ihr für nur Zwciorittel der Herstellungskosten (Vs Mil¬
lion Dollars) angeboten war.
Für jede» Norddeutschen ist eS ein Stolz, sich sagen zu dürfen, daß schon
jetzt Schiffe der Marine seines Vaterlandes die vielgepriesenen amerikanischen
Wunder übertreffen! Wie herrlich wird sich die Zukunft der norddeutschen
Marine erst gestalten, wenn der neue Bund seine Segnungen entfaltet, wenn
die Wehrkraft zur See gestärkt, der deutsche Seehandel ordentlich beschützt, alle
Hilfsquellen völlig erschlossen sein werde», wie es mit einer der wichtigsten eben
jetzt wieder durch die Gründung der B r e mer N ort s e efis es er el gesell Schaf t
geschieht. Dann wird Deutschland bald eine Seemacht werden, die Frankreich
nicht nachsteht, dann erst wird die Zukunft Deutschlands wahrhaft sicher gestellt
Ein nach Plan und Ausführung so eigenartiges Werk wie die Bavaria
verdient auch in diesen Blättern etwas mehr als gelegentliche Erwähnung in
der Reihe andrer Novitäten des Büchermarktes. Die deutsche Landes- und
Volkskunde ist ja von den Grenzboten, wie sie schon durch ihren Namen ver¬
pflichtet sind, stets mit Vorliebe gepflegt worden und hier haben wir es mit
einem Ausschnitt davon zu thun, der mehr als einen bloßen partiellen Beitrag
dazu liefern will. Denn selbst wenn wir die burleske Phrase des Kerndeutsch-
thums jener Theile des deutschen Volkes, die unter dem Gesammtbegriff des
bayerischen hier zusammengefaßt auftreten, weil sie politisch mit dem Königreich
Bayern verbunden sind, als das was sie ist gelten lassen, so ergiebt doch der
Augenschein, daß eS sich um ein ethnographisches und sitten^eschichtiiches Bild
von fünf Millionen deutscher Leute handelt, die wenigstens alle großen typischen
Gestaltungen des südlichen Hanpltheils unseres Volkes darstellen. Bayern,
Schwaben, Franken, dazu noch ein Stück Rheinland constituiren das heutige
Königreich Bayern und wenn auch keine dieser Landschaften vollständig von
seinen Grenzen umschlossen ist, außer daS eigentliche Bayern selbst, so hat doch
jede davon ansehnliche Stücke zu dem neumodischen Bau des wittelsbacher
Reiches geliefert.
Unsere einschlägige Literatur besitzt kein anderes Werk, das ein so weit
gestecktes und zugleich so fest begrenztes Ziel verfolgte. Wir sind nicht arm an
Landesbeschreibungen älteren und neueren Ursprungs. Manche geben nur die
gewöhnlichen statistischen Data, manche bringen noch eine bescheidene Zugabe
geschichtlicher Notizen, einige der allerneusten haben sich die neuere Behandlung
der Geographie zu Nutze gemacht und sie zur Belebung ihres an sich trockenen
Stoffes verwandt. Ebenso wenig fehlt es an ethnographischen und sitten-
gcschichtlichen Schilderungen aus den verschiedensten Theilen Deutschlands. Meist
von etwas dilettantischem Anflug und fast ausnahmslos bestrebt so piquant als
möglich zu sein, bilden sie ja seit einer Reihe von Jabren ein Hauptstück unseres
journalistischen Repertoirs, aber sie wagen sich auch immer häufiger selbständig
und oft mit rechter Keckheit heraus. Die Bavaria will aber zugleich Landes¬
beschreibung und Volkskunde sein, und beides in der tiefsten oder geistvollsten
oder modernsten Fassung dieser Aufgaben. Ihr Herausgeber, unser Land- und
Leutekundiger par excLllouee, Nicht, bürgt schon durch seinen Namen, daß hier
die Sache nicht nach alter Art mit beschränkter Pedanterie und in den möglichst
eng gezogenen Fachgrenzen. sei es des Geographen, des Statistikers oder des
Historikers angegriffen wird. Wie er es sich selbst zum bleibenden Verdienst
anrechnen darf, das Auge der Gegenwart auf die Totalität aller Erschwungen
des Volkslebens geschickt hingelenkt und diese alle zusammen, groß und klein,
massig und geringfügig, als organische Gestaltungen einer und derselben be¬
dingenden Gruudmacht zu begreifen gelehrt zu haben, so darf man auch hier
auf etwas aus weitesten Gesichtspunkt Gesehenes und doch wieder im Detail
fein Empfundenes und Gegliedertes rechnen.
Gewiß tritt man so mit den besten Erwartungen an das Buch heran. Der
Titel, die ominöse Bavaria, wobei manchem manches einfällt, was zu den minder
erfreulichen Seiten des deutschen Lebens gehört, kann noch verdaut werden,
wenn man billig erwägt, daß es auf seine möglichst kurze und wuchtige Fassung
ankam. Die Glosse „Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern" ist
als solche untadelhaft, wäre aber unpassend als eigentlicher Rufname. Der
weitere Zusatz „bearbeitet von einem Kreise bayerischer Gelehrter" kann nur Ver¬
trauen erwecken, denn selbstverständlich müssen die Landeseingebornen oder Landes-
eingescssenen — der Herausgeber zal'le ja auch nur zu der letzten Kategorie und
hat sich seine Andacht zum bayerischen Volksthum erst anerworben — die ge¬
eignetsten Kräfte zu solcher Arbeit liefern, vorausgesetzt, daß sie überhaupt Kräfte,
wie man sie dazu braucht, zu liefern im Stande sind.
Der bekannte Separatlitel „herausgegeben auf Veranlassung und mit Unter¬
stützung Seiner Majestät des Königs von Bayern Maximilian des Zweiten"
kann als allgemein giltige Empfehlung dienen. Jedermann weiß, welche statt¬
liche Reihe der trefflichsten Arbeiten aus dem Bereiche der deutschen Geschichts-
kunde diese selbe bescheiden-stolze Aufschrift trägt. Einiges Mittelgut läuft frei-
lich auch zwischen durch, aber wenigstens zweierlei höchst wünschenswerthe
Eigenschaften besitzt jedes Buch, das dieses Zeichen aufweist, es ist mit einer
in Deutschland durchschnittlich unbekannten Eleganz und Vornehmheit ausgestattet
und es ist trotzdem zu einem Preise käuflich, wie er auf dem deutschen Bücher¬
markt sonst nicht üblich ist. Auch die Bavana nimmt Theil an diesen beiden
Vorzügen: aus dem Kreise der verwandten Bücher, also unserer deutschen Landes¬
und Volkskunde, läßt sich ihr kein einziges in der einen wie andern Hinsicht
an die Seite stellen. Dazu mag auch noch gleichfalls als ein nicht geringer
Vorzug gerechnet werden, daß sie mit einer in Deutschland sonst ungesehenen
Naschheit gefördert worden ist. Im Jahre 1860 erschienen die beiden ersten
Bände. Herbst 1866 der siebente, dem der achte und letzte bald folgen wird.
Da dieser Schlußband die überrheinischen Theile Bayerns, die Nheinpfolz um¬
faßt, so darf mit dem, was bereits erschienen ist, die eigentliche Aufgabe der
Bavana für gelöst gelten. Denn jene rheinischen Lande und Leute hängen,
wie männiglich sattsam weiß, so lose an dem sonst kräftig-derben Rumpfe des
bayerischen Staates, daß man sie und nicht blos auf dem Papier, recht Wohl
ganz abgetrennt denken kann, ohne daß jener etwas von seiner natürlichen Kraft
verlieren würde. Die äußere Vollständigkeit erheischt freilich auch die Berück-
sichtigung jener Glieder, die man in mehr als einem Sinne grade von dem
Standpunkt aus, welchen die Bavana durchweg zur Geltung zu bringen sucht,
unorganisch nennen mußte. Aber eben deshalb mag es auch erlaubt sein, schon
jetzt das ganze Werk als ein fertiges zu betrachten und zu beurtheilen.
Den stattlichen acht Bänden — jeder hat im Durchschnitt fast 600 Seiten
größtes Octav — oder, wenn wir der Bezeichnung des Buches selbst folgen,
den vier Bänden in je zwei Abtheilungen, ist auch noch eine brauchbare Zugabe
gratis durch die Munificenz des königlichen Urhebers und Protectors beigefügt,
eine Uebersichlskarte des diesseitigen Bayerns, also mit Ausschluß der Rhein¬
pfalz, in nicht weniger als fünfzehn Blättern Großfolio. Die Karte kann dem¬
nach, trotz ihres anspruchslose» Titels, schon ziemlich ins Detail der geographischen
und topographische» Darstellung eingehn. Es liegt ihr die große bayerische
Generalstabskarte zu Grunde, denn billigerweise kann man für den Zweck, den
sie zu erfülle» hat, l'are vollständige Neuarbeit verlangen. Nach jener, deren
Zuverlässigkeit freilich durch allbekannte Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit
nicht über allen Zweifel erhaben sein dürfte, ist diese auf galvanvplastischcm
Wege copirt. Es sind saubere Blätter, nur infolge des Verfahrens bei ihrer'
Herstellung mitunter etwas undeutlich in der Darstellung des Terrains. Doch
da sie dem .Käufer des Werkes rein geschenkt werden, hat er auch kein Recht
sie zu tadeln. Da der Preis jedes Halbbandes etwa zwei Thaler beträgt, so
sind diese Kalten wirklich und nicht blos nominell, wie in andern Fällen, eine
Graels^ugabe. Einen seltsamen Eindruck macht es, daß eine Anzahl davon,
welche nach der Abiheilung des zu Grunde gelegten quadratischen Netzes blos
kleinere Grenzausschnitte Bayerns darzustellen haben, nur diese und nichts
weiter von der Umgebung darstellen. Die kleinen und kleinsten Stücke bayerischen
Landes mit ihren Bergen, Flüssen, Wäldern und Ortschaften schwimmen so
gleichsam in dem leeren Nichts. Ob es mit Absicht geschehen ist oder nicht,
es erinnert den Beschauer daran, daß vor dem officiell königlich bayerischen
Auge nichts weiter in der Welt, als das gesegnete Bayerland selbst ex>feire.
Wer will, mag darin auch eine Art von Erklärung für die eigenthümliche Be¬
schränkung der geographischen Kenntnisse in der königlich bayerischen Armee
während ihrer jüngsten Kriegsfahrten finden. Man war bekanntlich grade nur
so weit onentirt, wie hier diese Karte reicht. Man ahnte nicht einmal auf eine
halbe Stunde von der Grenze das Dasein ganz bedeutender Städte, Berge und
Flüsse. -
Der Plan einer solchen Arbeit wie die Bavaria ist in seinen Hauptzügen
von selbst gegeben. Wenn Land und Leute Bayerns in ihrem gegenseitigen
Verhältniß und ihrer Bedingtheit durch die Einflüsse der geschichtlichen Ent¬
wickelung geschildert werden sollen, muß mau mit dem Land anfangen und
dann die Leute folgen lassen. So ist das allgemeine Schema leicht gefunden.
Hier, wo ein in solchen Dingen recht eigentlich heimischer Redacteur die Zügel
in die Hand nehmen durfte, ließ sich um so eher erwarten, daß ein wobl-
gegliedcrter Schematismus nicht blos aufgestellt, sondern auch wirklich eingehalten
werde. Denn freilich ein Kreis von „Gelehrten", bayerischen oder anderen,
mag, wenn es sich darum handelt, die eigene Unfehlbarkeit einer fremden unter¬
zuordnen, nicht so leicht zu einem stricten Einhalten des einmal vorgezeichneten
Formulars zu bringen sein. Ohne eine möglichst weitgehende Theilung der
Arbeit wäre aber gar nichts auszurichten gewesen: geistreiche Apercus über Land
und Leute kann wohl ein Einzelner geben, wo es sich aber darum handelt, Specia¬
litäten als solche methodisch zu behandeln, müssen viele zusammenhelsen. still¬
schweigend setz! man dabei voraus, daß jedesmal die von selbst dazu berufenen
auch an dem ihnen gebührenden Platz erscheinen: da Bayern doch ziemlich groß
ist, so ließ sich erwarten, daß daran kein Mangel sein werde, besonders da die
äußeren Anreize zu einer Betheiligung an einem mit so rückhaltloser Liberalität
begonnenen und durchgeführten Unternehmen stark genug wirken mußten. Ist
ja doch der Plau, wie uns der Herausgeber sagt, in dem Geiste des königlichen
Beschützers der Wissenschaft selbst entstanden. Die bekannte Devise seines
Privatwappens, das so viele großartige literarische Publicationen der letzten
Jahre ziert, „Gott und mein Volk", steht darum hier mit vorzugsweiser Be¬
rechtigung gleiet'sam als Motto oder als Schlüssel seiner Tendenz. Wir und
mancher andere wissen sehr wohl, daß unter dem Volke nur das bayerische ge-
meint ist, dem wir in dem Sinne, wie es gemeint ist, das Recht nicht zuerken¬
nen, ein Boll genannt zu werden. Doch sehen wir davon ab, so bleibt es
immer ehrenwerth genug für den königlichen Mäcenaten. daß er sich ernstlich
und angelegentlich um derartige ideale Interessen kümmerte und wenn auch
nicht selbst Bücher schrieb, doch die Veranlassung war. daß solche geschrieben
wurden. Vielleicht noch mehr Anerkennung verdient es, daß er aus seiner gei¬
stigen Autorschaft und materiellen Unterstützung keine das Gedeihen des Unter¬
nehmens beengende oder gefährdende Ansprüche ableitete. Nachdem die all-
gemeinen Grundzüge festgestellt und approbirt waren, behielt der Herausgeber
völlig freie Hand und dürfte sich mit seinen bayerischen Gelehrten abfinden, wie
er mochte und konnte. Wer einige Erfahrung aus dem häklichen Gebiete fürst¬
licher Patronisirung der Kunst und Wissenschaft hat. wird diese bescheidene Ent-
sagung Max des Zweiten nach Gebühr würdigen und sie ihm zu höherem Ver¬
dienst anrechnen als vieles andere, weshalb er in und außer Bayern bei
Lebzeiten und nach dem Tode apotheosirt zu werden pflegte. Denn „Gott und
mein Volk" ist ein schöner Wahlspruch für einen König, und seine Paraphrase
aus demselben Munde „ich will mit meinem Volke Frieden haben" klingt noch
schöner. Doch will es uns bedünken, als wäre jenes „Gott und mein Volk"
keine ganz glückliche Parodie des echten „Gott und mein Recht", das in seiner
schlichten Naivetät und seinem unkirchlichen Selbstvertrauen das wahre Wort
eines Fürsten ist, während das andere im Grunde dasselbe meint, aber es aus
Schicklichkeitsgründen nicht sagt. Auch kommt es immer noch darauf an, wie
beschaffe» das Volk ist, mit dem man Frieden haben will und haben kann,
wenn man als Fürst „Gott und mein Recht" im Herzensgrunde zur Devise
des Lebens und Empfindens gemacht hat. Für Max den Zweiten war es nicht
so schwer, mit seinem Volke, d. h. was er und andere als sein Volk gelten
ließen, Frieden zu halten: andere Fürsten würden und einem anderen Volke
andere Erfahrungen gemacht haben und er selbst gewiß nicht minder, hätte ihn
nicht die Gunst des Geschickes aus den Thron der Wittelsbacher oder der Bayern
dieser Tage geführt. —
Aber so wenig gegen die Basis der Schematisirung in der Bavaria ein¬
gewendet werden kann, so viel Bedenken muß ihre Durchführung hervorrufen.
Es ist die Eintheilung getroffen, daß jeder einzelne Band oder je zwei Halb¬
bände je eine der größeren landschaftlichen und volkstümlichen Gruppen um¬
fassen sollen, in die das bayerische Reich zerfällt. Demnach ist das eigentliche
Bayern oder wie es im Lande selbst heißt, Altbayern, mit einem Bande bedacht,
aber gleich mit diesem Anfang stockt auch die Durchführung der Regel. Der
zweite Band mußte, um dem ersten äußerlich gleich zu werden, nicht blos die
Oberpfalz, sondern auch das bayerische Schwaben umfassen, und für den dritten
ist wieder ganz Franken zu viel, darum bringt der vierte den Nest davon,
sammt der NheinpfaU. Da die Eintheilung in vier Bände eigentlich nur
nominell und offenbar irgendeiner fixen Idee historischer Romantik zu Liebe ge-
macht ist. so gestaltet sich in der Wirklichkeit die Sache praktischer: jeder
sogenannte Halbhart umfaßt je einen der acht Kreise Bayerns. Doch von dem
Standpunkte der Wissenschaft aus, die sich hier zum ersten Male ein stattliches
Denkmal zu selten berufen war. der modernen Landes- und Volkskunde ist auch
gegen eine solche Schematisirung sehr viel zu sagen. Wo sind hier die natür¬
lichen Gruppen, auf deren Entdeckung und organische Darstellung sie sich so
Viel zu Gute thut? Wir wissen wohl, daß man in dem officiellen und nicht-
officiellen Bayern sich mit der Cabinetsordre König Ludwig des Ersten vom
so und so vielten August 1837 befriedigt, wodurch die „alte durch die Geschichte
geheiligte Eintheilung des Reiches" wiederhergestellt wurde. Wir anderen aber
sind nicht so leicht zu befriedigen. Wir sehen in dem neuen Oberfranken,
Mittelfranken, Unterfranken u. s. w. nichts, was vor der Prüfung der Geschichte
— wenn diese nun einmal doch maßgebend sein soll — besser Stich hielte als
der alte Obermain-, Rezat- und Untermainkreis. Historisch berechtigt ist an
dem neuen Namen nichts weiter als das in ihnen enthaltene Wort Franken;
ein Ober-, Mittel- und Unterfranken sind historisch genommen eigentlich noch
frevelhaftere Attentate als Ober- und Untermain- oder Rezatkreis, denn die
letzteren sind um etliche zwanzig Jahre älter als die ersteren und folglich um
so viel mehr unter die Sanction der Geschichte gestellt. Wir sehen in jener
Umlaufung nichts weiter als ein Symptom des Organisationssiebers, jener dem
geschichtlichen und politischen Pathologen wohlbekannten Monomanie ni alle»
Von Napoleon geschossenen Staatsgebilden, die nirgends stärker als in Bayern
grassirte und grassirt — viele Längs Memoiren, wer die Sache nicht aus
Autopsie kennt. Was es mit diesen historisch berechtigten Eintheilungspnucipicn
auf sich habe, ist hier nicht der Ort, im Detail zu erläutern; nur eins noch:
wie kommt es denn, daß, wenn sie einmal gefunden waren, sie so oft wieder
altenrt wurden? daß das Landgericht so und so heute zu Mittclfrcinkcn oder
Schwaben, morgen zu Oberfranken oder Oberpfalz geschlagen wurde? Aus
keinem andern Grunde, als weil man eben immer fort neu „organisiren" wollte
und man konnte es ohne Schaden an der Heiligkeit der geschichtlichen Tradition,
weil gar keine solche vorlag. —
Jedenfalls dürfte so viel über alle Anfechtung sicher sein, daß man da. wo
es sich um irgendwie von der Sache selbst gegebene — also im wichtigsten
Sinne organische — Grundlagen und Eintheilungsgründe einer geographischen,
ethnographischen und culturgeschichtlichen Beschreibung handelt, nicht auf jene
königliche Cabinetsordre und ihre Orakel recurriren wird, die weder der Histo¬
riker, noch der Ethnograph, noch der Geograph respectirt. Da die ganze neu¬
modische Kreiseintheilung nach jeder Seite hin in der Luft schwebt, so mußte
man auch, wenn man überhaupt den altmodischen unorganischen Weg so vor¬
nehm verachtete, wie es die Gelehrten der Bavaria zu thun sich die Miene
geben, sie ganz ignoriren und sich nach anderen Momenten der Gliederung des
Stoffes umsehe». Sie wären nicht schwer zu finden gewesen, freilich aber hätte
dann jene von oben ausgegangene und systematisch cajolirte Fiction fallen
müssen und dazu fehlt in Bayern der Muth und die Selbsterkenntniß. Es
steckt darin eine gute Partikel des staatlichen Dünkels, dessen Ausgeburten auf
diesem Felde noch am unschuldigsten sind, weil sie der Sache von ganz Deutsch¬
land hier am wenigsten schaden. Aber dem Buche haben sie doch sehr geschadet,
wie wir im Verlaufe noch zeigen werden.
Wenn in der bekannten medischen Auffassung das Land als elementare
Grundlage des Volkslebens gilt, so hat das erstere einen vollberechtigter An>
Spruch, in allen seinen Charakterzügen zur Anschauung gebracht zu werden.
nicht selbst hat eine solche Aufgabe in einer Reihe glänzender Genrebilder go
löst, von denen einige der gelungensten in seinem vielgelesenen Buche „Land
und Leute" sich mit den hier in der Bavaria indicirten Stoffen beinahe decken.
Hier aber schien es sich und mit Recht um etwas mehr als um holländische
Kammermalerei zu handeln. Der Genrestil paßte für die Würde des Gegen¬
standes und der ernsten Wissenschaft nicht, es mußte sozusagen der Stil der
Historienmalerei an seine Stelle treten. Was dadurch an pikantem Reize für
das flüchtige Geschlecht der Unterhaltungsleser verloren ging, konnte durch die
nachhaltige Wirkung auf ein ernster gestimmtes Publikum reichlich ersetzt werden.
So ungefähr mag sich der Herausgeber selbst die Sache zurechtgelegt haben,
aber unbegreiflich bleibt es, daß er die Art ihrer Ausfühlung für die der Ten¬
denz des Unternehmens passende hielt. Da steht an der Spitze jedes Bandes
„Erstes Buel, Naturwissenschaftliche Darstellung des Süddonaugebietes, des
oslbayerischen Grenzgebirgcs" ober was sonst, entsprechend dem Schematismus
des ganzen Welkes, für eine Nomenclatur des jedesmaligen EinzelabschnitteS
gewählt sein mag. Diese „naturwissenschaftlichen Darstellungen" zerfallen wieder
1) in eine geognostische Darstellung der betreffenden Tcrrainabschnitte, 2) in
eine Darstellung der Begctationsverhäitnisse, 3) der Thierwelt, gelegentlich ist
noch ein besonderer Hauptabschnitt über die Meteorologie des Gebietes ein-
geschoben, das ein ander Mal als Anhang zu einem der anderen angebracht ist.
Gegen diese natürliche und hergebrachte Gliederung ist nichts einzuwenden.
Sehen wir nun aber zu, wie der wohlgefügte Rahmen ausgefüllt ist. Der be-
kannte Mineralog und Geolog Guadet in München hat durch alle Bände hin¬
durch den geognostischen Abschnitt -bearbeitet. Seine Befähigung in Hinsicht
aus Fachkenntniß ist, so viel wir wissen, allgemein anerkannt und obgleich sonst
der richtige Grundsatz meist befolgt ist, eigentlichen Local» und Specialkennern
die jedesmaligen Lvcalabschnitte des allgemeinen Schemas anzuvertrauen, so
mag er denn wirklich die befähigtste Kraft in ganz Bayern sein, um diese Auf¬
gabe für ganz Bayern zu lösen. Aber wie? Da er sich wohl sagen konnte,
daß die Bavaria fast ausschließlich in die Hände von Lesern gerathen würde,
deren naturwissenschaftliche Kenntnisse, namentlich die für jeden Gebildeten die¬
ser Tage noch immer etwas sehr abgelegenen geognostischen und mineralogischen,
nicht viel größer als Null seien, hielt er es für nöthig, möglichst populär auf¬
zutreten. Die Grundbegriffe der Specialwisscnschaft werden gewissenhaft aus¬
einandergesetzt und man erhält so eine Art von Vorschule der Geognosie und
Geologie, Mineralogie und Paläontologie, gelegentlich auch mit einem Ausblick
auf die schwebenden Controversen. Dann folgt die eigentlich geognostische Be¬
schreibung, d. h. es werden die verschiedenen vorkommenden Formationen in der
Terminologie der Wissenschaft aufgezählt und nach ihren Verbreitungsgebieten
topographisch fixirt. Eine Probe davon, zugleich die ersten Worte des ersten
Abschnittes des ersten Landes: „Die ältesten Sedimentgebilde, welche in den
bayerischen Alpen vorkommen, bestehen aus zumeist rothgefärbten Sandstein-,
Schiefer-, Thon- und Cvnglomeratschichtcn; ihnen schließt sich der nur stock-
förmig auftretende Salzthon, das sogenannte Haselgebirg mit seinen Steinsalz-,
Gips- und Anhydritmassen an." — So geht das geognostisch - mineralogische
Latein mehre Bogen weit fort und zwar in jedem Bande ungefähr in gleichem
Umfang. Wir gestehen, daß uns schon bei den ersten Zeilen die Sinne ver¬
gingen und wahlscheinlich werden wir nicht die Einzigen sein, die einen solchen
Effect einer ohne Zweifel auf gediegenster Forschung und Sachkenntnis! ruhenden
Arbeit verspüren. Sobald man sich etwas erholt hat, fragt man natürlich:
was soll dies alles für die Bavaria? Der dortrinäre Schematiker mag darauf
antworten, daß es zur wissenschaftlichen Begründung der Charakteristik des
Landes unerläßlich sei: der gesunde Menschenverstand ober der einfache Jnstinct
des Lesers wird diese Antwort abgeschmackt finden.
Doch weiter: An den „Vegctationsverhältnissen" hoffen wir uns etwas zu
erholen, nachdem wir die Steinwüste der Geognosie hinter uus haben. Aber
auch hier derselbe Eindruck, auch hier gleichen die für die verschiedenen Terrain-
abschnitte meist verschiedenen Verfasser einander und ihrem geognostischen Vor¬
mann aufs Haar, daß sie uns zuerst mit den Elementen der wissenschaftlichen
Botanik vertraut machen. Wir erfahren davon etwa so viel, als man früher
als königlich bayerischer Studio in dem sogenannten philosophischen, alias
Fuchsexamen, nach Ablauf des ersten Studienjahres des vierjährigen Cursus
wissen sollte, aber nicht wußte. sind wir darüber glücklich hinweg, so erstarren
wir wieder in der trockensten Nomenclatur oder in dem nur einem Fachmann
verständlichen Jargon des Faches. Ganz dasselbe begegnet uns zu guter Letzt
bei der Thierwelt, zu der wir uns als zu etwas xar Exeolleuee Lebendigem
mit einer gewissen Hoffnung gewandt haben, und selbst wo die an sich einem
allgemeineren Veisiäudniß und Interesse so leicht zu erschließende Meteorologie
auftritt, ist es unmöglich, sich durch den Wust von Tabellen und Einzelbeobach-
tungen hindurchzuarbeiten, wenn man nicht Fachmann ist. Noch dazu erfahren
wir hier so Mssg-ire, daß die bedeutendste Autorität des Faches. die Bayern
besitzt, die beruhigende Ansicht ausspricht, im ganzen Gebiete von Bayern
existirten noch gar keine wissenschaftlich brauchbaren meteorologischen Beobach¬
tungen. —
Noch einmal fragen wir: was hat dies mit der „Bavaria" zu schaffe»?
Ein volles Dritttheil jedes Bandes ist mit diesem Ballast angefüllt, macht für
das Ganze etwa 1,000 Seiten groß Octav. — Ader wenn der gewöhnliche
Leser, d. h. derjenige, der im Besitz einer nach heutigem Maßstab sonst genügen¬
dem Durchschnittsbildung ist, aus der Bavaria gründliche Belehrung über das,
was sie verspricht, zu erlangen wünscht, gar nichts damit anfangen kann, so
dürfte doch vielleicht der Mann vom Fache, also der Geognost, der Meteorolog,
Botaniker :c,, sich für seinen Theil befriedigt fühlen? Es wäre eine Art von
Ersatz für das. was hier so ganz der vernünftig verstandenen Aufgabe zuwider
geschehen ist. Aber auch der Fachmann wird sich hier wenig Trost holen. Für
ihn ist alles> was dem andern ein populäres Verständniß eröffnen soll, trivial
und überflüssig und das Uebrige viel zu oberflächlich, eben weil es ja für ein
nicht fachgelehrtes Publikum bestimmt ist, das man doch unmöglich mit allem
Detail der Wissenschaft überschütten darf. Daher denn auch unaufhörlich Wen¬
dungen wie folgende: „Wir könne» nach dem Zwecke unserer Darstellung nur
das Allgemeinste, nur eine summarische Uebersicht geben", „wir müssen hier kurz
abbrechen, denn das Weitere würde langweilen", oder es erscheinen umgekehrt
wieder ganze Seilen voll lateinischer Namen von Steinen und Blumen, Käfern
und Schnecken, die im südlichen Bayern oder in Unterfranken vorkommen, zu¬
letzt mit einem etc. apokopirt, wodurch der einzige Nutzen, der aus einer solchen
statistischen Nomenclatur möglicherweise gezogen werden könnte, die Vollständig¬
keit der Uebersicht dem Gelehrten entgeht. So wird es höchstens auf ein paar
gelegentliche Notizen hinauslaufen, die in dem ungenießbaren Wüste vergraben
sind, aber eben deshalb wohl nicht zu leicht denen zu Gesicht kommen, die sie
brauchen könnten. —
Es bleibt unbegreiflich, nicht wie Fachgelehrte in dem besten Bestreben,
populär zu sein, solche Mißgriffe begehen konnte», sondern wie die Redaction
sich damit befriedigt fühlen mochte. Iltiehl selbst hat, wie man weiß, dem Be¬
griff einer Schilderung des Landes als natürlicher Basis des Bvlksdasems eine
ganz andere Lebensfülle zu geben verstanden und wenn er es auch nur als
Genremaler gethan hat. so durste man ihm doch zutrauen, daß er auch die For¬
derungen einer höheren Gattung wenigstens zu erkennen und zu würdigen,
wenn auch nicht selbst durchzuführen verstand. Hätte er doch ganz einfach die
betreffenden Abschnitte aus Walthers tvpischer Geographie von Bayern wieder¬
gegeben ober geben lassen, so wäre zwar nicht das eigentlich Beabsichtigte ge-
leistet, aber doch etwas, von dem jeder Leser anschauliche Belehrung mitgenommen
haben würde, während er so am besten thut, jedesmal 2—300 Seiten einfach
zu überschlagen. Denn die Bodcnplastik allein würde noch nicht ausreichen, um
die Einflüsse des Landes auf das Volk zu erklären: es gehört dazu alles, was
man die natürliche Ausstattung des Bodens nach allen Seiten hin nennen
würde, das Klima und die Erzeugnisse seines Innern wie seiner Oberfläche.
Doch flüchten wir uns auf das erquicklichere Feld der Volkskunde. Ihre
Schematisirung ist durch alle Bände, d. h. also für alle Theile des bayerischen
Volkes so ziemlich dieselbe, zunächst zwei Hauptabtheilungen, die eine die eigent¬
liche Volkskunde, die andere ein Abriß der Ortsgcschichte. Wir halten uns an
die erstere, die in folgende Anders theilungen zerfällt ist: 1) Geschichts- und
Kunstdenkmale, also die kunstgeschichtliche Entwickelung der verschiedenen Theile
Bayerns von kulturgeschichtlichem Standpunkt aus. Diese Rubrik ist von Sighart
in Freising, dem bekannten Verfasser der bayerischen Kunstgeschichte, sür alle
Theile des Werks bearbeitet. 2) Haus und Wohnung, wobei verschiedene Ver¬
fasser je nach den verschiedenen Landschaften thätig waren. 3) Volkssagen.
4) Die Mundarten des Volks. 5) Volkssittte. 6) Volkstracht. 7) Nahrung.
8) Volkekrankheitcn und Volksmedicin. 9) Betriebsamkeit. 10) Volksbildung
und Unterricht. Für alle diese Rubriken gilt dasselbe wie für die zweite; ver¬
schiedene Augen und Hände haben daran mitgeholfen, obwohl die Trennung
nicht immer scharf nach der Kreiseintheilung vollzogen ist, welche sonst das be¬
stimmende Princip für die einzelnen Bände ist. Bemerkenswerth erscheint, daß
sich der Redacteur selbst nirgends betheiligt hat, obgleich grade ihm diese Sphäre
so recht naturgemäß sein mußte. Er ist immer hinter den Coulissen geblieben,
denn was er selbst für das Zusammenarbeiten der clisjeetg. msmbra gethan hat,
verschweigt er bescheiden. Ja sollen wir seiner eigenen Angabe trauen, so hat
er für gut befunden, dafür nicht viel zu thun. Er betont in dem Vorwort
ausdrücklich, daß die einheitliche Redaction so bescheiden als möglich ihre Hand
über das Ganze gehalten habe.
Ueberblicken wir die aufgestellten Rubriken, so umfassen sie alle Kategorien,
welche nach dem heutigen Stande der Volkskunde in Betracht kommen können.
Höchstens eine einzige, die in anderen Arbeiten ähnlicher Tendenz nicht fehlt,
könnte man auch hier vermissen. Es ist zwar eine etwas heikele, aber doch
interessante, ja eigentlich unentbehrliche. W>r meinen die öffentliche Sittlichkeit
oder die sittlichen Zustände des Volks. Unter den Capiteln Volkssitte. Volks-
aberglauben, Vvlksmedicin begegnet zwar manches hierher Gehörige, aber
nur beiläufig und nicht aus einem Augenpunkt gesehen. Und doch böten grade
diese Zustände des bayerischen Volkes an sich und noch mehr, wenn man die
selbstverständlichen Parallelen mit den verwandten Erscheinungen anderer Aus¬
schnitte Deutschlands ziehen wollte, Stoff zu tiefen Einblicken in sein innerstes
Leben, wie uns scheint tiefere und lehrreichere als jene ausführlichen Schilde¬
rungen seiner Gupfen und Mutzen. Letztere sind freilich mit geringerem Odium
begleitet, gewähren sogar dem Helden, d. h. eben diesem Volke, eine Art von
romantischem Relief, was durch eine verständige und wahrheitsgetreue Beleuch¬
tung seiner Criminalstatisiik — wenn man auch weiter nichts geben wollte
— fatal gestört würde. Parallelen nach den übrigen Theilen des deutschen
Volks hin zu ziehen, welche nicht zu den kerndeutschen Stämmen unter wittels-
bacher Scepter gehören, namentlich etwa zu den nur deutsch angcfunißten Blend¬
lingen im Norden und Nordosten, kann den Gelehrten der Bavaria natürlich
nicht zugemuthet werden. Uns anderen, die wir nicht zu dieser auserwählten
Zunft gehören, ist es aber bekannt, daß sich das bayerische Autochthoneuthum durch
eine ganz unverhältnißmcißig große Zahl der schwersten Criminalfälle auszeich¬
net, die es den Schwurgerichten bringt. Auch wissen wir über die Art derselben
einiges Specielle: es sind überwiegend die brutalsten Vergehen gegen das Leben
und die Sicherheit der Personen aus Zorn und Rache oder bloßem Uebermuth
und Völwei, in zweiter Linie gegen die öffentliche Sittlichkeit im engsten Wort¬
sinn, in dritter Raubmord, Straßenrand und gewaltsame Aneignung fremden
Eigenthums. Meineid, Fälschung, Betrug, Diebstahl, kurz alle die Verbrechen,
die entwickeltere Culturzustände und eine durchgearbeitctcre Intelligenz des Volkes
voraussetzen, treten dagegen zurück. Bekanntlich blicken die romantischen Partei¬
gänger des Urbayerthums mit Genugthuung auf diese Thatsachen. Wir anderen
urtheilen anders darüber und glauben z. B. auch, daß Meineid, Betrug, Dieb¬
stahl :c. hier bald ebenso zahlreich heimisch werden dürft, wie in den verworfe¬
nen Ländern nördlich der blauweißen Grenzpfähle. sobald nur die Cultur jene
Urbären etwas mehr beleckt hat, was doch nicht für immer ausbleiben kann.
Wenigstens zeigt sich in denjenigen Strichen Bayerns, in welchen die Volks-
bildung. die Industrie, der Verkehr ungefähr auf derselben Stufe wie außer¬
halb Bayern steht, in Franken und am Rhein, auch so ziemlich dieselbe Statistik
der Verbrechen. — Praktischen Werth hätte eine solche Darstellung auch noch
insofern gehabt, als sich daraus vieles zur Erklärung sonst unerklärlicher Dinge,
die aber doch vor unseren Augen geschehen sind und, setzen wir hinzu, jeden
Tag unter ähnlichen Verhältnissen wieder geschehen können, hätte entnehmen
lassen, wir meinen das Auftreten der bayerischen Soldateska auf ihrem letzten
Feldzuge, ncuncntllch im eisenacher Oberlande. ES ist nur auf ein anderes Ge¬
biet übertragen dasselbe Ergebniß, welches eine wahrhaftige und aufrichtige —
wir betonen diese Prädicate — Darstellung der Vvlkssittlichkeit für das innere
Volksleben liefern würde, wenn in Bayern jemand dazu den Muth und den
guten Willen hätte. —
Doch bleiben wir bei dem Vorhandenen, wie es ja die Sache jedes wohl¬
gesinnten Lesers und Beurtheilers ist. Vieles davon wird zu den wirklich ge-
lungenen Leistungen in seiner Art zählen dürfen, dahin rechnen wir fast alle
die in den verschiedenen Bänden zerstreuten Monographien über Volkssitte,
hauptsächlich in den großen Epochen des naiven Volkslebens, Geburt, Hockzeit,
Tod; über Volksnahrung, wo mit Glück die Gefahr, allzusehr ins Genrchafte
zu gerathen, gewohnlich vermieden ist; über Wohnung und Bauart des Hauses
und der kleineren und größeren Ansiedelungen; über Volksmedicin und Volks¬
krankheiten, ein Capitel, das hier überhaupt zum ersten Mal für eine aus¬
gedehntere und dock zugleich wieder fcstbegrcnzte Sphäre in sein auteur- und
sittengeschichtliches Recht eingesetzt wird; über Volksbildung, d.h. die positiven,
durch die Schule oder anderweitigen eigentlichen Unterricht überlieferten Elemente
des Wissens und, wenn auch mit einigen Bedenken, die Schilderungen der Volks¬
tracht. Ueberall wird der auteur- und sittengeschichtliche Forscher ein reiches
und. wie wir wenigstens nach theilweiser eigener, auf Autopsie beruhenden Prü¬
fung hinzusetzen, zuverlässiges Material finden, das ihm, wenn ihm die Autopsie
fehlt, unbekannt bleiben müßte. Auch der gewöhnliche Leser mag sich daran
ebenso sehr erfreuen und belehren und vergißt vielleicht, wenn er gutmüthig und
bescheiden genug dazu ist, jene trostlosen Einöden der Landeskunde, durch die er
sich arbeiten mußte. Hier und da möchte man gewisse dvctrinäre Allgemein¬
heiten weggelassen wünschen, die den Leser über die wissenschaftliche Bedeutung
des Gegenstandes aufzuklären bestimmt sind, zumal da sie sich in jedem neuen
Bande bei demselben Gegenstande wiederholen, ja oft in demselben Bande bei
verwandten Materien nur mit etwas anderen Worten drei-, viermal Paradiren.
Auch hat Richts Einfluß auf Stil und Diction häusig nicht günstig gewirkt.
Da er selbst, wie bemerkt, jedes directe Eingreifen der Redaction ausdrücklich
in Abrede stellt, so ist diese nur so zu erklären, daß die Mitarbeiter unwillkür¬
lich nicht blos die Schablonen, sondern auch gewisse eigenthümliche Formeln
von dem Meister entlehnt haben. Nicht selbst streift darin oft hart an die
Manier, wird die Manier nachgeahmt, so muß Manierirthcit daraus werden,
die nicht geschmackvoll ist.
Bei der Rubrik „Volkstracht" können wir einige Bemerkungen nicht unter¬
drücken. Sie gehört ohneZweifel z» „des Volkes Eigcnwescn", um einen unzählige
Male hier begegnenden riehlschen Terminus zu gebrauchen. Daß sie so ausführlich,
wie es hier geschehen, behandelt werden konnte, ist ein Beweis für die Libera¬
lität des Redacteurs oder seiner besonderen Vorliebe für das Rococo, dem sie
meistens entstammt, wie er selbst uns zuerst gelehrt hat. Aber je ausführlicher,
desto weniger anschaulich werden die Schilderungen, wenigstens für jeden, der
nicht Schneider von Profession ist. Hier halten ein paar Dutzend saubere
Holzschnitte, wo möglich colorire, manche Konfusion und manchen Zweifel zer-
streun können, der uns und gewiß vielen andern Lesern über den Schnitt ver¬
schiedener Jacken und Juppen, über die Form mancher Hauben und Kopftücher.
über die Länge der Mieder und Bänder u. s, w. aufgestiegen ist. Es bleibt
immer anerkennenswerth, mit welcher Penibilität die wackeren Forscher in die
innersten Geheimnisse der Toilette, besondere! der weiblichen, einzudringen be¬
müht waren. Gewiß werden sie auch unter den naturwüchsigen Kindern des
Volkes es nicht so leicht gehabt haben, wie man jetzt leicht darüber wegliest,
aber, wie gesagt, eigentlich ist doch ein richtiges Schneidergemüth erforderlich,
um ihre Bemühungen ganz zu würdigen und ob viele unter den Lesern der
Bavaria in dessen Besitz sind, wollen wir dahingestellt sein lassen.
Schwächer sind einige andere Rubriken gerathen. So die „Geschichte- und
Kunstdenkmale', der es schon nicht zum Vortheil gereicht, daß sie zum größten
Theile nichts weiter als ein Auszug aus ihres Verfassers größerem Werke
gleichen Inhalts ist, das wir vorher erwähnten. Noch ungenügender ist aber
durchweg die Darstellung der Volksmundarten in Bayern ausgefallen. Hier,
wo die wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiete recht eigentlich in dem
unvergleichlichen Schmeller ihren Ursprung genommen hat. durfte man doch
zum mindesten erwarten, daß die speciell für den bayerischen, oberpfälzer,
schwäbischen, fränkischen Dialect beauftragten Bearbeiter mit dem Stande der
heutigen Linguistik auf gleichem Niveau sich befinden würden. Aber das Ge¬
lindeste, was man von den Herren Sebastian Mützl, Magnus Jochen, Eduard
Fentsch und or. Haupt sagen kann, ist, daß sie der Schwierigkeit ihrer Auf¬
gabe überall auf eine sehr bequeme, mitunter auf eine sehr naive Art aus dem
Wege gegangen sind. Wir gestehen auch, daß es uns sofort befremdlich vor-
kam, als wir diesen ehrenwerthen Namen in der Verbindung mit dieser Auf¬
gabe begegneten, denn obgleich wir einigermaßen mit dem Gegenstand und den
dafür thätigen Kräften bekannt zu sein glaubten, war es uns doch überraschend,
grade diese Auswahl getroffen zu sehen. Wir vermutheten, daß man in einem
Lande, das einen Conrad Hofmann, Birlingcr, Frommann besitzt, diese mit
dem betraut hätte, was ihnen durch Beruf und Neigung und allseitig aner¬
kannte Leistungen naturgemäß zugewiesen ist. —
Die Darstellung der Volkskunde erhält nach dem Plane der Bavaria
ihren Abschluß durch einen „Abriß der Ortsgeschichte". Bei dem Worte Abriß
liegt es nahe an ein paar Seiten, höchstens ein paar Bogen zu denken, auf
welche die wichtigsten Thatsachen und Phasen der außer» Geschichte zusammen¬
gedrängt und in Verbindung mit den Erscheinungen des Volkslebens gesetzt sind.
Denn wie sie selbstverständlich dieses bedingen und modificiren, so sind sie auch
in gewisser Hinsicht unter den Einflüssen, die von der besonderen Volksart aus¬
gingen, entstanden und verständlich. Man wird daher überrascht, wenn man
im ersten Bande circa vierhundert Seiten dafür gewidmet findet und verhält¬
nismäßig ebenso viel in jedem der folgenden sechs. Die Ueberraschung ver¬
wandelt sich aber bald in befremdliches Erstaunen. Denn was ist dieser Abriß
der Ortsgeschichte? im Wesen nichts andres als eine populär sein sollende Zu¬
sammenstellung von allerlei historischen Notizen, wie sie ausführlicher und
gelehrter begründet in den Landesgcschichten und Ortsgescbichten gewöhnlichen
Schlages zu finden sind. So weit sie allgemeinere Verhältnisse betreffen, insbe-
sondere die ältere und neuere Geschichte der einzelnen Landschaften, Territorien und
einzelner hervorragender Orte, mag ein gebildeter Leser manches Belehrende
finden, das er in weitzerstreuten und oft schwer zu erreichenden Büchern
zusammensuchen müßte. Doch genügt es natürlich nur für ,den ersten Anlauf:
der Mann vom Fache, ober wer gründliche Belehrung sucht, kann sich damit
nicht befriedigen und da die Verweisung auf die einschlägige Literatur
meist lückenhaft ist, kann er auch nicht einmal daran eine Grundlage für
Weiteres haben. Völlig mißlungen ist die jeder geschichtliche» Abtheilung zu-
Gegcbene Uebersicht der Local- und Specialgeschichte. die auch wieder in jedem
Bande mehr als hundert Seiten füllt. Sie ist nach den jetzt bestehenden Ver¬
waltungsbezirken, den Landgerichten gegliedert. Die „Bavaria" weiß sich sonst
so viel mit der „organischen Gruppirung", mit dem organisch Gewordenen und
gegebenen und dem andern Apparat der modernen Volkskunde, der manchmal
freilich einen etwas antiquirten Zusatz von der Romantik der weiland histori.
schen Schule nicht verläugnen kann. Diese bayerischen Landgerichte, von denen
eins durch ein allerhöchstes Nescnpt von 1860, ein anderes durch ein derglei»
chen von 1863 aus dem Nichts ins Dasein gerufen wurde, um gelegentlich
weiter „organisirt", verkleinert, vergiößert, bald dem einen, bald dem andern
Kreise zugelegt zu werden, von denen keines auch nur über die montgelassche
Periode hinüber datirt, werden somit hier auf einmal zu „organischen Gruppen"
gestempelt. Noch dazu werden diese zufälligen Eintagsgestalten in alphabeti¬
scher Reihenfolge, ohne Rücksicht auf Lage und Nachbarschaft aufgezählt und
abgehandelt. Allerdings vertragen sie keine andere Behandlung, aber wir
fragen noch einmal, wo kommt da die organische Gliederung des Landes- und
Volkslebens hin? — Jedem einzelnen Landgerichte sind mehre Seiten ge¬
widmet und sie werden dazu benutzt, um die bedeutendsten Orte in seinem
Bezirke auszuführen und mit ein paar geschichtlichen Notizen abzuspeisen,
grabe so wie es die gewöhnlichen Landesstatistiken zu thun pflegen. Nur gehen
diese gründlicher und exacter zu Werke, denn hier in der Bavaria soll ja aller
trockene Notizenkram vermieden werden. Das ist denn auch geschehen und da¬
mit der einzige Vortheil entzogen, der in manchen Fällen, wo andere Hilfs¬
mittel gerade nicht zur Hand sind, durch irgendeine statistische oder historische
Notiz von greifbarer Zuverlässigkeit erwachsen könnte. Statt dessen wird uns
nicht einmal, sondern hundertmal mit der Wendung aufgewartet, daß N. N.
noch sehr viel über die Stadt, das Kloster, die Burg so und so sagen könnte,
wenn der Plan des Werkes ihm nicht das Eingeben in solche Einzelheiten
verböte. —
Allerdings ließe sich von den bayrischen Landgerichten sammt ihren Land¬
richtern ein interessantes Capitel für die bayrische Volkskunde schreiben. Dieser
merkwürdigen Institution ist zwar durch allerneueste Reformen etwas von ihrer
urbayrischen Originalität abgestreift worden, doch hat sie noch genug davon,
um in der „Naturgeschichte des Volks" Effect zu machen. Das Ausland weiß
davon so wenig wie von den meisten anderen originellen Typen des Bayern«
thums und die „Bavaria", so viel wird sich bisher schon gezeigt haben, geht
nicht daraus aus, ihre Kenntniß zu fördern. Es ist doch immerhin ein Stück
„Volkskunde", das zu allerlei Gedanken Anlaß giebt, wenn man die derbsten
und trotzigsten Bauerngestalten hundert Schritte vor ihrem Landgerichtsgebäude
mit demüthig gezogenem Hute oder Mühe, geduckten Nacken und schleichenden
Tritten ihre Ehrfurcht, oder etwas Anderes, vor dem Rechte und seinem officiellen
Verwalter bezeugen sieht, oder wenn gemeinhin — allerdings von Lästermäulern
— die Herren Landrichter nur Lanbpaschas geheißen werden. In Hinsicht auf
ihre Allmacht nach unten möchte ihnen der Name nicht übel stehen; nach oben
haben sie wenigstens keine seidene Schnur zu fürchten. Aber auch sonst würde
manche uns wohlbekannte Persönlichkeit im Turban und mit den obligaten Roß«
schweifen sich mindestens ebenso natürlich ausnehmen, als in der engen blauen
Uniform der königlichen bayrischen Civilstaatsdiener. Neigungen, Lebensge«
wohnheiten und Betragen stimmte bis vor kurzem bei vielen bestens dazu, und
wenn auch die Individuen, wie sie die Natur verschieden geschaffen hat, als
Landrichter nicht alle über einen Kamm geschoren werden konnten, so war eben
doch jedes davon ein Landrichter. Wir erinnern uns aus eigenem Gehör eines
Geschichtchens. Als gegen Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre Juden
und Protestanten durch das Ministerium Abel systematisch cujonirt wurden, ver¬
ließen die erstem massenweise ihre ohnehin nur provisorische blauweiße Heimath und
zogen über das Meer, so daß es zuletzt selbst den Helfershelfern zu diesem neuen
Exodus bedenklich wurde. So wollte denn auch ein gut sunbirter und allge¬
mein bekannter jüdischer Handelsmann ans einem fränkischen Markte die Bande
lösen, die ihn an Bayern ketteten und verlangte von seinem Landrichter den
Auswanderungsschcin. Dieser, ein Herr von >L. und doch ein wirklich humaner
Mann, fragte: „nun, was hast-denn du — selbstverständlich hat nicht blos der
Landrichter, sonder» auch jeder Büttel in Bayern das Naturrecht, jeden Juden
zu dutzen — an mir auszusetzen, daß du auch fort willst?" Darauf sagte der
Jude: „an dem gnädigen Herrn von hab ich gar nix auszusetzen, aber
bei Sr. Gnaden dem königlich bayrischen Landrichter Herr von mag ich
nicht länger bleiben; ich bin »in meinen Schein und werd ihn gleich bezahlen."
Solche Capitel, wie das von den Landrichtern, würden die Volkskunde
unzweifelhaft nur dann fördern und wahrheitsgetreue Einblicke gewähren, wenn
sie nicht von dem officiellen Berichte der Gelehrten der Bavaria geschrieben
würden. Wir find ihnen dankbar für das was sie geleistet haben. Ziehen
wir alles ab. was jeder unparteiische Beurtheiler für gänzlich verfehlt halten
muß und legen wir nicht zu viel Gewicht auf das, was jeder wirkliche Kenner
des Volkslebens zu vermissen berechtigt ist, so bleibt immer noch viel Erfreu¬
liches und Brauchbares. Es ließe sich freilich ungefähr auf dem dritten Theile
des verbrauchten Raumes zusammendrängen, und man möchte wünschen, daß die
hier mit wahrhaft königlicher Munificenz gewährten Mittel etwas ökonomischer
und praktischer verwandt worden wären. Doch da es der erste größere Ver¬
such mit einem neuen Plan und einer neuen Methode in einer jungen Wissen¬
schaft ist, so hoffen wir, daß andere aus den hier gemachten Fehlern lernen
werden. —
Wir wissen nicht, wem zuerst der Gedanke gekommen sein mag. die neue
Monatsschrift, welche seit dein Januar des verflossenen Jahres in der nunmeh¬
rigen Hauptstadt Italiens erscheint und deren erster Jahrgang jetzt Vollendet
vorliegt, „neue Anthologie" zu nennen; aber der Gedanke war ein durchaus
glücklicher. Zwar sind es bereits fünfunddreißig Jahre, seit die alte Anthologie,
deren Stellung die neue Zeitschrift einzunehmen den Anspruch erhebt, indem sie
das Erbe des Namens antritt, dem Machtspruche einer engherzigen Regierung
erlegen ist; und das Geschlecht, das Vorzugsweise berufen ist, dem neuen Organ
durch tüchtige Arbeit den Werth zu verleihen, der ihm vom bloßen Namen und
einem ersten glücklichen Anlauf nicht kommen kann, erinnert sich meist nur noch
dunkel des elfjährigen Bestehens jener trcMchen Sammlung von Arbeite» der
edelsten, bcstgcsinnten Italiener einer Zeit, deren man jetzt zwar nicht grade
mit Haß und Bitterkeit, aber doch mit dem Gefühle dessen gedenkt,
der mit angstgevreßtem Odem
Dem Meere kaum entronnen, nun vom Strande
Auf die gefahrvoll wilde Fluth zurücksiarrt.
Aber die Erinnerung, welche von der allen Anthologie trotz der langen
Zeit noch geblieben, ist der Art, daß schon der Name jene freundliche Stim¬
mung weckt, mit der man dem unbekannten Sohne eines Mannes von aner¬
kannten Edelsinn entgegengeht, und daß sie auf jeden nicht ganz leichtsinnigen
Mitarbeiter erhebend und läuternd wirken muß. Der unvergeßliche Vieusseux
hatte eine Schaar erlesener Geister aus allen Gegenden des durch vielfache
Grenzen getheilten Landes zu gemeinsamer Arbeit um sich zu sammeln ver¬
standen und ließ von der Stadt aus, die der geistigen Regsamkeit bei aller
Aengstlichkeit der Regierung noch immer mehr Spielraum als die meisten andern
verstattete, jene Hefte über das ganze Land sich verbreiten, welche, von eigentlich
politischen Fragen sich selbstverständlich fern haltend, die gebildete Bevölkerung
zur Beschäftigung mit Gegenständen von nicht blos landschaftlicher Bedeutsam¬
keit anregten, sie an Zeiten früherer Größe des Vaterlandes mahnten, sie auf
noch immer bestehende gemeinsame Interessen hinwiesen und selbst ein Zeugniß
der noch immer nicht erloschenen schöpferischen Kraft der Nation waren. Männer
von den verschiedensten Bestrebungen fanden sich in der Anthologie zusammen,
der Guclfe mit dem Ghibelluien, der Republikaner mit dem Monarchisten, der
Freidenker mit dem Orthodoxen; alle aber verbunden durch die Ueberzeugung,
es habe ein jeder mit daran zu arbeiten, daß Italien hinter den übrigen Völ¬
kern im Ringen nach keinem edeln Ziele zurückbleibe, daß der physische, der
moralische, der intellectuelle Stand des Volkes sich hebe und daß die Hoffnung
auf bessere Zeiten in den Herzen der Besseren fortwährend wach bleibe. Herr
Tabarrini hat in einer der ersten Lieferungen des neuen Unternehmens mit ge¬
bührender Anerkennung der „alten Anthologie" gedacht und sich dabei nicht ver¬
hehlt, baß die Stellung der neuen eine vielfach schwierigere dadurch werde, daß
eS jetzt nicht mehr gelte, im Allgemeinen die Zuversicht auf eine schönere Zu¬
kunft rege zu erhalten, sondern die Mittel und Wege sofortiger praktischer Um¬
gestaltungen zu verhandeln und daß die gebieterische Nothwendigkeit, eine Partci-
stcllung offen einzunehmen und entschieden bei derselben zu beharren, dem ge¬
meinsamen Wirken mannigfache Hindernisse in den Weg legen werde. Dafür
mag einiger Ersatz in der größern Zahl derjenigen geboten sein, auf deren Mit¬
wirkung bei dem weitern Kreise der zur Behandlung kommenden Gegenstände
und bei der Sorglosigkeit, mit welcher jeder seines Schriststelleramtes warten
darf, gezählt werden kann. Möge nur dae. edle Maßhalten, die leidenschaftslose
Besprechung auch der am tiefsten eingreifenden Dinge mit dem Namen von der
alten auf die neue Anthologie übergehen und das, was für jene oft genug eine
harte Nothwendigkeit sein mochte, für diese eine frei geübte und darum um so
verdienstlichere Tugend sein.
Wir gedenken hier keineswegs einen Auszug aus den zahlreichen und aus den
verschiedensten Gründen anziehenden Aufsätzen zu geben, welche den ersten Jahr-
gang der florentiner Zeitschrift füllen; sind sie doch selbst theilweise die verdichtete
Wiedergabe größer angelegter Arbeiten. Doch wollen wir uns nicht versagen,
in gedrängter Uebersicht dem cisalpinischen Publikum, dessen Aufmerksamkeit die
schöne Unternehmung in hohem Grade verdient, die Gegenstände vorzuführen,
welche in der ersten Hälfte des Jahrgangs 1866 zur Behandlung gekommen
sind. Wir stellen das Geschichtliche (im weitesten Sinne) voran. Herr Dome-
nico Comparetti beschäftigt sich in einem länger» Aufsatze unter lobenswerther
Herbeiziehung der einschlagenden Arbeiten deutscher Forscher mit den Vorstel¬
lungen von Virgil, welche durch die Vermittelung der Schule oder der Gelehr¬
samkeit auf das Mittelalter und endlich auf Dante gekommen sind, und stellt
dieselben mit einer Schärfe und Bestimmtheit, an der man es bisher vielfach
hat fehlen lassen, denjenigen gegenüber, welche sich außerhalb der Schule, in
ganz anderem Maße von der geschichtlichen Wahrheit abweichend, über den
Zauberer Virgil gebildet hatten. — Herr Bvngi hat in den Archiven von
Lucca eine nicht unbedeutende Zahl von Urkunden entdeckt, welche die in den
letzten Jahren aus venetianischen und genuesischen Aufzeichnungen erwiesene
Thatsache eines in den italienischen Handelsstädten im vierzehnten und fünf¬
zehnten Jahrhundert sehr schwunghaft betriebenen Handels mit Sklaven und
namentlich mit Sklavinnen aus den Ländern am Schwarzen Meere bestätigen,
und stellt die von zwei anderen Gelehrten gewonnenen Ergebnisse, vermehrt
durch wesentliche eigene, zu einem recht anschaulichen Bilde von der Lage jener
Unglücklichen zusammen, über deren Herkunft, Zahl, Preise, rechtliche Stellung,
Verwendung er genauen Aufschluß ertheilt. — Ein Artikel des Herrn Amari
giebt aus arabischen und lateinischen Quellen, deren sorgfältige Aufführung und
Vergleichung in zahlreichen Anmerkungen an solchem Orte überrascht, die uns
erhaltenen Berichte über Seenntcrnebmungcn, welche im Anfange und gegen
Ende des elften Jahrhunderts die Pisaner und die Genueser, gegen Musel¬
männer auf Sardinien und in Afrika glücklich zu Ende führten. — Es sind
in jüngster Zeit in zwei Bänden die nachgelassenen Papiere des einstigen Vize¬
präsidenten der italienischen Republik, des Grafen Francesco Melzi, den Napo¬
leon später zum Herzog von Lodi ernannte, von dessen Großncffcn, dem Grafen
Giovanni Ültclzi herausgegeben worden; Herr Achrlle Mauri cnlwrrft, gestützt
auf die darin enthaltenen Angaben, ein Bild des vielbewegten Lebens jenes
wackeren Mannes und daran anschließend eine kurze Geschichte der Lombardei
seit der französischen Revolution bis zur Gründung des ersten Königreichs
Italien. Herr Cibrario giebt neue historische Studien über die Savoyische
Monarchie, in welchen er die Wechselfälle derselben während der ersten drei
Jahrhunderte lines Bestehens verfolgt. Herr Polari stellt daneben nicht un¬
passend eine Arbeit über die Hohenzollern und Friedrich den Großen, von
welcher jedoch nur der Anfang in den hier zur Besprechung gebrachten Heften
vorliegt. Die Hauptthatsächen der Geschichte der Donaufürstenthümer, nament¬
lich die siebenjährige Regierung des Obersten Couza und die friedliche Revolution
vom 23. Februar des verflossenen Jahres hat ein ungenannter Mitarbeiter zum
Gegenstande einer Besprechung gemacht, welche sich durch billiges Urtheil und
verständige Mäßigung in Hoffnungen und Forderungen auszeichnet.
Wir fügen hieran am besten die biographischen Arbeiten über einige be¬
deutende Männer, welche Italien in den letzten Jahren verloren hat. Giusti,
den in Deutschland durch Hcyses treffliche Übersetzungen bekannt gewordenen
„italienischen B6rcmger", Massimo d'Azeglio, dessen staunenswerthe Vielseitig¬
keit, immer rege Arbeitskraft und edle Gesinnung auch diesseits der Alpen die
verdiente Anerkennung gefunden hat, Angelo Blofferio, den rührigen Schrift¬
steller und Politiker, Francesco Silvio Orlandini, den Herausgeber von Foscolvs
Werken, den Dichter und gewissenhaften Schulmann, dem es nicht mehr ver¬
gönnt gemessen, das Ende der päpstlichen Herrschaft zu sehen, dessen er mit
nicht geringerer Ungeduld als sein Freund Niccvlini geharrt hat, Giuseppe*
Puccivni, dessen Verdienste um das Cmninalrecht von einem Fachgenossen
ausführlich gewürdigt werden. Ein im April gedruckter, somit jetzt bereits be¬
deutender Nachträge bedürftiger Artikel über die politische Thätigkeit des Grafen
Bismarck ist geeignet, die Vorgänge im staatlichen Leben Deutschlands während
der letzten zwanzig Jihre im Zusammenhang überblicken zu lassen; er ist höchst
lebendig geschrieben und zeigt bisweilen jenen Humor, der bei der Betrachtung
diplomatischer Strategie in einem ferner Stehenden leicht sich regt; sein Ver¬
fasser ist der nämliche Professor Ruggiero Bvnghi, dessen unlängst erschienene
Schrift über den „Universitätsunterricht in Italien" überall mit so großem In¬
teresse aufgenommen worden ist. Er leitet uns über zu den Beiträgen, welche
sich mit Fragen der praktischen Politik beschäftigen.
Im Vordergrunde steht hier selbstverständlich die römische Frage. Während
Herr Giuseppe Cancstrini, der verdiente Herausgeber der unedirten Werke Guic-
ciardiius, mit der bekannten Stelle im vierten Buche der „Geschichte»" dieses
letzter» und mit der nicht minder entschiedenen im ersten Buche von Machia-
vellis „Discorsi" Aussprüche zusammenstellt, i» welchen andere italienische Denker
des fünfzehnte» Jahrhunderts die weltliche Herrschaft des Papstes angreifen und
daran die Aufzählung vo» Thatsachen reiht, welche die Verderblichkeit derselbe»
erhärten sollen, zeichnet Givrgini die Stellung der liberalen Partei der Kirche
gegenüber und möchte das Parlament veranlassen, vo» der Herstellung der
„freien Kirche im freien Staate" abstehend, »meer Anerkennung des jetzigen
Kirchenstaates und aufrichtig gemeinter Versicherung der Nichteuimischung in die
inneren Angelegenheiten desselben, den Frieden mit dem Papste, eine Verein¬
barung über das Verhältniß der Kirche zum Staate und damit die Beruhigung
eines Theiles der Bevölkerung anzustreben, dessen Umfang er nicht zu unter-
schätzen räth. Die Römer würden einen Theil des italienischen Staats aus-
machen, im Parlamente mit vertreten sein, zugleich aber ein eigenes Gemeinwesen,
frei von der italienischen Conscription und Besteuerung bilden, welches sich
über seine innere Organisation mit dem Papste abzufinden hätte. Giorgini
tritt damit in entschiedenen Gegensatz zu dem Grafen Mamiani, welcher auf
eine nachdrückliche Aufzählung der Verschuldungen des päpstlichen Stuhles an
Italien den Nachweis der Nothwendigkeit und, der Möglichkeit, die geistliche
Gewalt von der weltlichen abzulösen, folgen läßt und sich von der Verwirk¬
lichung jenes cavourschen Programmes den besten Erfolg verspricht.
Wir übergehn, um nicht zu lang zu werden, die interessanten Besprechun¬
gen des italienischen Steuerwesens, der Handels- und Schifffahrtsverträge
zwischen Italien und Frankreich und andern Staaten, der Volksbanken, des
ZwangScurscs der Banknoten, des belgischen Armcnpolizeigesetzcs vom letzten
März, welche großentheils Fachmännner von Ruf zu Verfassern haben und
neben welchen noch regelmäßige Finanzberichte einhergehen. — Besondere Er¬
wähnung können wir hier blos noch der Fürstin Belgiojoso zu Theil werden
lassen, welche in einem Aufsatze über die gegenwärtige und die künftige Stel¬
lung der Frauen Vielleicht einen zu großen Theil der Schuld gegenwärtiger
Uebelstände auf die Männer wälzt und nicht in hinreichendem Maße die Wir¬
kung der physischen Verschiedenheit der Geschlechter anerkennt, indessen kaum
großem Widerstande begegnen wird, wenn sie in ihren Forderungen sich für
diesmal auf Zulassung der es wünschenden Mädchen zum wissenschaftlichen
Unterricht, welcher der männlichen Jugend ertheilt wird, und auf Zulassung der
Verwerthung amtlich erwiesener Kenntnisse beschränkt. —
Wenn wir auf das Gebiet der Naturwissenschaften übertreten, so finden
wir da vor allem eine Auseinandersetzung 'des Charakters der experimentiren-
den Wissenschaften, des Wesens des wissenschaftlichen Experimentes und der
Bedürfnisse des öffentlichen Unterrichtes in Bezug auf die Naturwissenschaften,
worin Herr Matteucci die Befähigung zu einem schwer in die Wagschale fallen¬
den Urtheile an den Tag legt, welche er sich als wissenschaftlicher Forscher und
als Minister des Unterrichtswesens erworben hat. Der Nämliche erstattet Be¬
richt über die Thätigkeit und Einrichtung der seit einiger Zeit auch in Ita¬
lien bestehenden Stationen zum Behufe meteorologischer Beobachtungen. Der
Astronom Donati in Florenz knüpft die Darlegung seiner Wünsche in Bezug
auf bessere Einrichtung der italienischen Observatorien an eine Eiinnerung an
die Italiener, welche zuerst aus dem Laufe und aus der Beleuchtung des Mon¬
des auf die Gestalt der Erde und auf die Beschaffenheit ihrer Oberfläche ge¬
schlossen haben. Herr Codazza endlich verfolgt die Lehre vom Aether und den
Atomen durch die mannigfaltigen Phasen, welche sie seit der Zeit der ältesten
griechischen Philosophen bis auf unsere Tage durchlaufen hat.
In einem Aufsatze, den zunächst Ascolis „kritische Studien" veranlaßt haben,
handelt Herr Nuggiero Bonghi, dessen Name schon oben genannt wurde, von
der Classification der Sprachen und beweist darin eine Vertrautheit mit Stein¬
thals, Max Müllers, Humboldts Leistungen, von der wir wünschen, sie möge
in seiner Heimath recht allgemein werden. Ob er mia't besser gethan haben
würde, den Lesern der „Anthologie" erst nach einiger Vorbereitung Theilnahme
und Verständniß für seinen Gegenstand zuzumuthen, wollen wir dahin gestellt
sein lassen.
Die bildenden Künste finden in der neuen Zeitschrift die gebührende Be¬
rücksichtigung, indem theils neue Kunstwerke beurtheilt, theils die Fortschritte
der Bildhauerei und der Malerei in Italien seit dem Beginne des Jahrhunderts
ins Auge gefaßt, theils Winke zu einer neuen Bearbeitung verschiedener Gebiete
der italienischen Kunstgeschichte gegeben und die Leistungen bisheriger Bearbeiter
gekennzeichnet werden. — Mit Theilnahme beobachten wir Deutsche in den
musikalischen Berichten das erwachende Interesse an deutscher Musik und die
gute Aufnahme, welche Mozart bei dem italienischen Opernpublikum findet!
durch Mozarts Vermittelung wird vielleicht auch seinen italienischen Zeitgenossen
und freilich überholten Lehrern die Bühne ihrer Heimath sich wieder aufthun
und nach und nach die Gesellschaft von allerlei ästhetischen Verirrungen zurück¬
kommen.
Wir würden die poetischen Beiträge, welche die „Anthologie" veröffentlicht,
nicht so weit zurückstelle», wenn sie nicht gar so spärlich zugemessen wären;
eine kleine Uebersetzung aus dem Indischen, Bruchstücke einer Faustübersetzung
von Massai, ebenfalls von ganz geringem Umfange, und ein nicht eben werth¬
volles dramatisirtcs Sprichwort sind alles, was wir von poetischen Leistungen
zu verzeichnen haben. Doch wollen wir ja nicht den Herausgeber, wenn ihm
diese Zeilen zu Gesichte kommen sollten, veranlaßt haben, auch nur einen
mittelmäßigen Vers aufzunehmen. den er sonst zurückgewiesen hätte.
Indem wir noch der Besprechungen neuer Bücher aus dem Inland und
aus der Ficmde und der allmonatlichen Uebersicht der politischen Ereignisse er¬
wähnen, glauben wir den letzten wesentlichen Zug beizufügen, welcher zum
Bild von der Thätigkeit der sehr schätzenswerthen Zeitschrift gehört. Doch nein,
es bleibt noch eines. Auf der Innenseite des Umschlages finden sich hinten,
ganz wie bei der hierin gewiß nicht mustergiltigen Revue des deux Mondes,
kürzere Recensionen, die für uns wenigstens gar nicht zu dem am wenigsten
Wertvollen gehören und die des weißen statt des rosenfarbenen Papieres nicht
minder werth sind und unter die Abfälle des Buchbinders zu gerathen nicht
eher verdienen, als manches was ihnen vorangeht.
Wir haben uns überzeugt, daß die „neue Anthologie" dem Ausländer er¬
möglicht, in einer recht ersprießlichen Verbindung mit dem geistigen Leben in
Italien zu bleiben; und das war, was unsere Selbstsucht zuerst von ihr ver¬
langte. Das, sie geeignet ist. innerhalb ihres Landes sehr wohlthätig zu wirken,
ist aber nicht minder unzweifelhaft.
Unter allen Deutschen in Oestreich sind wir in Böhmen diejenigen, welche
bei aller Bewunderung für die glänzende Manifestation deutscher Volkskraft, die
der vorjährige Krieg offenbarte, die Kehrseite seiner Erfolge am bittersten em¬
pfinden müssen. Denn nirgends trat die Rückwirkung derselben auf die nationalen
Verhältnisse so energisch hervor wie bei uns. Der Kampf der Czechen gegen
die Deutschen nimmt seitdem täglich größere Dimensionen an.
Der alte Bund, dem die andere kollincr Schlacht den Garaus machte, hat
wahrhaftig wenig Hervorragendes für Deutschland gethan; aber für uns hatte
er das Gute, daß er die Continuität deutschen Gebietes repräsentirte. Keinen
größeren Verdruß konnte man den mit nationalen Ungestüm anstürmenden
Czechen bereiten, als wenn man ihnen die Landkarte entgegenhielt: Böhmen ist
deutsches Bundesgebiet. So hatte seltsamerweise dieses klägliche Institut für
uns den Werth einer idealen Instanz. Jetzt wird aller Jammer und alles Elend,
welche der letzte Krieg über das Land brachte, den Czechen durch die Befrie-
digung aufgewogen, daß sie nun nicht mehr zum „deutschen Bunde" gehören.
Böhmen hat keinen deutschen Rechtstitel mehr, das ist die Errungenschaft des
Jahres 1866, welche laut und öffentlich von czechischcr Seite als das größte
Glück bezeichnet wird. Ist schon dieses Moment für Hebung des czechischcn
Selbstbewußtseins von Werth, so pochen andrerseits die Czechen auch darauf,
daß sie es gewesen seien, welche Preußen die Lust, Böhmen zu annectiren, ver¬
leidet hätten und vollständig wie vor achtzehn Jahren geberden sie sich wieder
als Retter des Reiches und der Dynastie. Seitdem der preußische Commissarius
während der Occupation Böhmens es für gut befunden hatte, in einem Auf¬
rufe „an die Bewohner des glorreichen Königreichs" den nationalen einige
Complimente zu machen, ist den Czechen ihre nun auch mit preußischem Piivi-
legio versehene Gloire zu Kopfe gestiegen und sie bilden sich ein, im Völker-
conccrte eine Hauptrolle zu spielen. Speciell in Oestreich erklären sie nicht blos
dieselben, sondern noch weit mehr Ansprüche machen zu dürfen, als selbst die
Magyaren, „denn," rufen die nationalen Organe mit Emphase aus, „die
czechische Nation ist in diesem Augenblicke für Oestreichs Geschicke die wichtigste
und wird in einem neuen Kampfe den Ausschlag geben."
Dabei bemüht man sich czechischerscits die Deutschen als „Abtrünnige" und
„Landesverräther" darzustellen, welche ihren Schwerpunkt „außerhalb des Reiches"
suchen und ruft jeden Augenblick nach der Polizei, sie möge doch ein wachsames
Auge auf diese deutschen Renegaten haben. Jüngst gab erst eine historische
Abhandlung, welche der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen ver¬
öffentlichte, betitelt „Die Brandenburger in Böhmen", den czcchischen Zeitungen
Veranlassung, ein Zetergeschrei über die Deutschen zu erheben, die „Eingewan¬
derten mit nichtswürdigen Zielen", welche Propaganda für Preußen machen
wollen und so oft irgendein Anlaß möglich, trachten die Czechen sich als öst¬
reichische Loyale exeLlloncL zu geberden.
Der immer schärfer sich zuspitzende Contrast zwischen Deutschen und Czechen
trat auch auf dem letzten Landtage, wiewohl derselbe nur äußerst kurz währte,
klar zum Vorschein und zwar ganz besonders gelegentlich der Debatte über die
an den Kaiser zu richtende Adresse. Während die von czechischer Seite vorge¬
legte Adresse die Zustimmung zu der Sistirungspolitik des gegenwärtigen Mi¬
nisteriums aussprach und nur dem Wunsche Ausdruck gab, es möge den „Län¬
dern der böhmischen Krone" vollständige Selbständigkeit gewahrt und diese durch
Krönung des Kaisers zum Könige von Böhmen dargethan werden,
hielt der deutsche Adreßentwurf dem Ministerium das ganze Sündenregister der
Sistirungspolitik vor, die Trostlosigkeit der allgemeinen Zustände, die Rück¬
schritte aus dem Gebiete des Justiz-, Finanz- und Unterrichtswesens und be¬
zeichnete schließlich als einziges Rettungsmittel die Rückkehr zu verfassungs¬
mäßigen Zustände». Die Rede, mit welcher Professor Herbst den deutschen
Adreßentwurf vertheidigte, war ein Meisterstück von Beredsamkeit. Wir er¬
innern nur an jenen Passus, welcher sich auf die Ausschließung Böhmens aus
dem deutschen Bunde bezieht:
„ Ein geehrter Redner," so lauten Herbsts Worte, „hat angeführt, daß
grade diese Ausschließung aus dem deutschen Bunde eine der günstigsten Folgen
sei, die wir im letzten Jahre erlebt haben; sie sei das glücklichste Product
unserer unheilvollen Zeit. Nach der Aufnahme, welche diese Worte gefunden
haben, muß ich annehmen, daß seine Ansicht in diesem hohen Hause nicht ver¬
einzelt sei. Ich will nun nicht davon sprechen, was es heißt, wenn eine bald
tausend Jahre alte Verbindung, wenn mannigfache, auch materielle Beziehungen
plötzlich eine Unterbrechung leiden, aber auf etwas, wozu jene Bemerkung An¬
laß giebt, sei mir erlaubt näher einzugehen.... Es ist an sich etwas Ent-
setzliches um den Krieg, aber er ist noch weit entsetzlicher, wenn der Krieg ohne
allen Grund geführt wird. Und wer wird wohl bezweifeln, daß das als so
erwünscht bezeichnete Ziel, die Ausschließung aus Deutschland, auf friedlichem
Wege sofort und ohne Weiteres hatte erreicht werden können. Deshalb also
sollte der Krieg geführt worden sein, um infolge einer Niederlage, wie sie in
Oestreichs Geschichte beispiellos dasteht, zu etwas zu gelangen, was man nun
selbst als wünschenswerth bezeichnet?"
Nun die Czechen haben doch im Landtage gesiegt, ihr Adreßentwurf erhielt
die Mehrheit und wurde vom Kaiser angenommen. Daß ein solches Resultat
zu Stande kam, daran ist vorzugsweise der Bund der Czechen mit der Adels¬
partei Schuld, eine der interessantesten Erscheinungen in unserem Parteileben.
Unter Schmerlings Regime ging nahezu die gesammte adelige Partei,
einige wenige Feudale, welche durchaus das alte Ständewesen nicht verschmerzen
konnten, ausgenommen, mit den Deutschen und da bei der Gruppirung des
böhmischen Landtages die Entscheidung von dem Adel abhängt, war die deutsche
Verfassungspartei durch diese Allianz in steter Mehrheit gegenüber den National-
Feudalen. Als Belcrcdi ans Nuder kam und seine erste rettende That die
Sistirung der Verfassung war, stellten es sich die böhmischen Hocharistokraten
zur Aufgabe, ihren Standesgenossen zu stützen und machten, als dieser mit dem
slawischen Berufe Oestreichs zu kokettiren begann, rasch eine gewaltige Schwen¬
kung nach rechts ins czechische Lager. Männer von reinster deutscher Abstam¬
mung, wie Fürst Fürstenberg, Fürst Thurn und Taxis, fanden es nicht unter ihrer
Würde, im Bunde mit den Germanophobcn Rieger. Sladkvvsty u. s. w. für
Czcchisirung der Universität. Unterdrückung des deutschen Elementes in Schule
und Amt zu stimmen. Nur wenige Aristokraten, wie Fürst Karlos Auersperg,
Graf Hartig, erklärten, sich unter solchen Verhältnissen jeder politischen Thätig¬
keit zu enthalten. Schon das muß, wie die Verhältnisse liegen, als patriotisches
Verdienst gelten.
Seit dieser Zeit ist das deutsche Element im böhmischen Landtage in steter
Minorität und mit gebundenen Händen der Koalition der nationalen, Feudalen
und Klerikalen übergeben, welche eben nach Belieben jeden Antrag, der gegen
deutsches Wesen und gegen die Verfassung ist, durchbringen. Eine Reihe von
Beschlüssen der zwei letzten Landtagssessionen zeugt klar davon; und wenn ein¬
mal die Revision der Landtagswahlordnung im czechischen Sinne nach Herzens¬
wunsch unserer nationalen erfogt ist, dann werden die Deutschen wohl daran
thun, sich ganz und gar vom Landtagssaale, in dem sie nur eine traurige Rolle
spielen, ferne zu halten.
Nicht blos die Landtagsscssion brachte den Deutschen manche trübe Stunde,
auch die letzten Gemeindewahlen in Prag zeigten in unverkennbarer Weise, wie
außerordentlich die czechische Partei in kurzer Zeit an Terrain gewonnen. Seit
der „constitutionellen Aera" (At pong, vel'do!) in Oestreich war der Wahlkampf
bei den Gemeindewahlen in der Landeshauptstadt stets sehr lebhaft und erregt,
die Czechen hatten zwar immer die Mehrheit der großen Masse der Wähler für
sich; allein die Deutschen brachten doch mehr als ein Drittheil ihrer Kandidaten
durch. Ganz anders sollte es diesmal werden. Die Czechen, seit dem Un¬
glückstage von Königsgrätz kühner denn je, wußten die schwankende Menge,
deren der liebe Frieden über alles geht, zu terrorisiren und die Deutschen,
deprimirt von den wuchtigen Schlägen dieses Sommers, müde des ewigen
Ringens, zogen sich verdrossen zurück, das Feld den Gegnern räumend. So
kam es, daß von den dreißig deutschen Candidaten für den prager Gemeinde¬
rath nur ein einziger durchdrang und dieser Einzige wurde in dem ehemaligen
Ghetto Prags gewählt, indem fast ausschließlich von Jsraeliten bewohnten
Viertel, welche mit der ihrem Stamme eigenthümlichen Zähigkeit für die deutsche
Kandidatenliste kämpften und an derselben festhielten trotz aller Drohungen des
czechischen Janhagels. Daß ob dieses Ausganges der Gemeindewahlen großer
Jubel im czechischen Lager herrschte, ist leicht begreiflich. Hatte man doch aber¬
mals einen Beweis für die beliebte Behauptung: die Deutschen seien ein ver¬
schwindender Bruchtheil der Bevölkerung Böhmens und Prag sei eine rein
czechische Stadt, in welcher von czechischer Gnade geduldet zu werden, die
Deutschen als ihr Glück betrachten müssen.
Und in der That hat der Sieg der czechischen Candidaten im Gemeinde¬
räthe nicht unwichtige praktische Folgen. Bei der Autonomie, welche jetzt der
Gemeinde in Bezug auf Unterrichtswesen, Polizeiregime, Verwaltung u. s. w.
zukömmt, ist den Vätern der Stadt ein weites Feld für nationale Propaganda
eröffnet. Die Schulen, die ohnedies bereits fast vollständig czechisüt sind, werden
nun noch um so mehr den nationalen Stempel erhalten, das Beamtenheer wird
czechisch organisirt und die Interessen des Handels und der Industrie, welche
zumeist in deutschen Händen, keiner Beachtung gewürdigt werden. Wo es sich
um politische Kundgebungen handelt, erscheint dann der Gemeinderath Prags
nur für czechische Zwecke besorgt und nach Außen hin hat es dann in der
That den Anschein, als ob es, wie sich ein Redner im Gemeinderäthe aus¬
drückte, in Prag gar keine deutschen Kinder gebe.
Dem Beispiele der Hauptstadt folgen die größeren Städte mit gemischter
Bevölkerung im flachen Lande. Die nationale Partei entwickelt die lebhafteste
Agitation und begünstigt vom gegenwärtigen Ministerium, beeilen sich die Ge¬
meindevertretungen ihren Schulen den czechischen Charakter zu verleihen. Der¬
gleichen geschah jüngst in Pilsen, wo plötzlich über Nacht die Realschule trotz
aller Proteste der Deutschen für eine czechische Anstalt erklärt wurde, so daß
mehr als ein Drittheil der Schüler, welcher nicht so glücklich ist, des czechischen
Idioms mächtig zu sein, ihre Studien abbrechen mußte. Mit Vernunftgründen
läßt sich gegen ein solches Vorgehen nicht ankämpfen. Die Journale der deut¬
schen Partei bringen energische Artikel dagegen, die deutschen Bürger machen
geeignete Vorstellungen — doch das alles hilft nichts, es walten höhere na¬
tionale Mächte.
Gegenüber dem stets weiter um sich greifenden Czcchimus muß von deut¬
scher Seite auch energisch gehandelt werden. Das sieht man denn nun doch
bei uns ein und die deutsche Partei beginnt, sich sorgsamer zu organisiren.
Die Zustimmungsadressen, welche aus allen deutschen Kreisen des Landes an
die deutschen Abgeordneten einlaufen, zeigen in erfreulicher Weise von richtigem
Verständnisse der Zeitverhältnisse und daß es selbst für deutsche Geduld eine
Die Wahlbewegung hat begonnen. Comites Gleichgesinnter treten zusam¬
men, Candidaten werden aufgestellt und durch Vorversammlungen wohlwollend be¬
gutachtet, in den Tageblättern beginnen hier und da die Angriffe und Anpreisungen
der Parteien. Noch ist es eine sehr mäßige Bewegung, aber schon jetzt ist zu er¬
kennen, daß das allgemeine Wahlrecht in dieser Ausdehnung ein Danaer¬
geschenk ist. welches dem deutschen Volke zu aller Unsicherheit seiner politischen
Zustände eine neue Gefahr bereitet. Denn es legt die Wahl überall in die
Hände derjenigen Schichten unserer Bevölkerung, welche entweder noch kein
sicheres Interesse an Politik haben, oder durch jeden kräftigen Schreier be¬
einflußt werden. Nicht unmöglich, daß wir schon in diesem Reichstag ein halbes
Dutzend Agitatoren aus der Schule Lassalles erleben, welche leider durch das
gegenwärtige preußische Ministerium großgezogen wurden. Ja, es ist fast zu
wünschen, daß der trotzige Unsinn dieser Gesellen in dem neuen Reichstage
hörbar werde, er wird eher als jeder Vernunftgrund sowohl das Ministerium
als unsere Idealisten bestimmen, das Wahlrecht in einer dem Standpunkt unsrer
politischen Volksbildung entsprechenden Weise zu normiren. Denn, wie jeder¬
mann weiß und jedermann offen aussprechen sollte, es giebt keine absolut
gute und richtige Wahlmcthode, welche für alle Zeit und jede Entwicklungs¬
phase eines Volkes paßt, es ist vielmehr Ausgabe der Gesetzgebung, immer wie-
der die Wahlberechtigung mit den Fortschritten der Bildung und der Umwandlung
der realen Verhältnisse in Einklang zu bringe». Die Dreiclassenwahl der
Preußen war in der Theorie eine höchst unvollkommene Methode, in der Praxis
hat sich dieselbe im Ganzen vortrefflich bewahrt. Die allgemeine Wahlberech¬
tigung, welche von jetzt in Deutschland gelten soll und welche zu der von 48/49
sich verhält wie ein Orkan aus der See zu sanftem Fahrwind,*) vermag uns in
wenig Jahren eine socialistische Organisation der arbeitenden Classen herzublascn,
welche noch andere Culturen zu beschädigen droht, als die politische. Denn die
Majorität der Land- und Stadtwähler wird in jeder aufgeregten Zeit Kandi¬
daten finden, welche geheime Diäten von ihren Wählern zu erheben wissen,
selbst aus die Gefahr geprügelt zu werden, wenn sie den Wählern Staatshilfe
u. s. w. nicht durchsetzen oder wenn sie in Verdacht kommen, auch vom Bundes¬
kanzler Geld genommen zu haben.
Während noch allgemeine Unsicherheit darüber herrscht, wer in dem Reichs¬
tage die Interessen der Nation vertreten wird, ist ebenso unsicher, worüber diese
Vertreter berathen sollen. Noch ist der Entwurf einer Verfassung des nord¬
deutschen Bundes ein Gegenstand vertraulicher Konferenzen zwischen dem aus¬
wärtigen Amte Preußens und Ministern der Bundesstaaten. Nur tropfenweise
haben officiöse Berichterstatter von dem neuen Trank, der uns kredenzt werden
soll, Proben mitgetheilt. Stellt man das Wenige, was zur Zeit öffentlich be¬
kannt geworden, zusammen, so ergiebt sich ungefähr folgendes: Das Bundes¬
präsidium ist die Krone Preußen, ihr Bundeskanzler — Gras Bismarck — leitet
die Geschäfte. Ihm zur Seite steht ein Bundesrath, gebildet durch Delegirte
der Bundesregierungen, deren Stimmenzahl gesetzlich normirt ist. Dieser Bundes¬
rath hat, so scheint es, sowohl die Functionen eines Staatenhauses neben dem
Reichstage, als in seinen permanenten Ausschüssen die Arbeiten der einzelnen
Ministerien unter-dem Bundeskanzler zu versehen. Daneben ein jährlich zu be¬
rufender Reichstag mit dem Recht der Initiative in der Bundesgesetzgebung,
aber nach dem ministeriellen Entwurf mit sehr beschränktem Budgetrecht, da
wenigstens die Ausgaben für das Heerwesen seiner Kompetenz entzogen zu sein
scheinen. Die Einnahmen der Bundeskasse bestehen aus den Zollintraden des
norddeutschen Bundes, «us den Überschüssen der Posten und Telegraphen und
aus den großen, inneren Verbtauchsteuern. Die Ausgaben sind für die Handels¬
interessen im Auslande, außerdem für Heer und Flotte. Zusammen ein ordent¬
liches Budget von mindestens 6S bis 70 Millionen, das aber durch Bau von
Bundeseisenbahnen und extraordinäre Ausgaben für Heer und Flotte beträcht¬
lich gesteigert werden kann.
Da die Heeresstärke auf Eins vom Hundert der Bevölkerung festgesetzt ist
und pro Mann ein Beitrag von 225 Thaler jedem Bundesstaat berechnet wer¬
den soll, so werden außer den Einnahmen von Zollen, Verbrauchsteuern, Posten
und Telegraphie von sämmtlichen Bundesstaaten noch directe Geldzuschüsse für
die Bundeskasse aufgebracht werden müssen.
Bis jetzt zog sich nach allem, was man vernimmt, in den berliner Con-
ferenzen die Verhandlung vorzugsweise um den letzten Punkt. Und in der That
sind die Schwierigkeiten, 225 Thaler pro Mann aufzubringen, für alle Bundes-
staaten, mit Ausnahme etwa von Sachsen und Braunschweig, unüberwindlich.
Die Kleinstaaten haben bis jetzt wenig für Militär ausgegeben, dagegen ist ein
großer Theil ihrer Einnahmen durch den Hofhalt, die größere Beamtenzahl,
ferner aber auch für Landesculturen ausgegeben worden, welche eine Restriction
nicht dulden, z. B. für Volksschulen und Lehrergehalte. Bei einzelnen dieser
kleinen Staaten ist die Mehrsordcrung zu Militärzwecken so bedeutend, daß sie
kaum gedeckt wird, wenn man die ganzen Kosten der Landeshoheit und der
Beamtenmaschinerie hineinrechnet. Da nun Preußen jetzt nicht Wunsch und
Willen haben kann, diese Staaten zu säcularisiren, so wird doch zuletzt eine
Ausgleichung der localen Lebensinteressen mit der preußischen Forderung erzielt
werden müssen, wahrscheinlich, indem man sich auf Uebergangsstadicn und ein
Jnterimisticum einigt.
Gegen einen andern Punkt richtet sich die Sorge der nationalen Partei
im Volke. Man fordert für den Reichstag das Budgetrecht. Und diese Forde¬
rung liegt so sehr im Wesen jeder parlamentarischen Versammlung, daß die
preußische Negierung derselben vielleicht schon bei definitiver Feststellung ihres
Entwurfs entgegenkommen wird, wo nicht, einen Kampf darum mit dem Reichs¬
tage zu erwarten hat. Aber auch wenn das Budgetrecht dem Reichstage be¬
willigt wird, bleibt die innere größere Schwierigkeit, daß der Reichstag nach
der Organisation des Bundes in Wahrheit vorläufig nicht ein wirkliches Budget¬
recht ausüben kann. Seine Fähigkeit über Einnahmen und Ausgaben zu dis-
poninn, muß doch höchst beschränkt bleiben, denn die Einnahmen ruhen zum
größten Theil auf Verträgen der Bundesstaaten oder auf Verträgen mit dem
Auslande, die Ausgaben geschehen zum größten Theil durch eine Macht, welche
sich seiner Controle entzieht, durch das Bundespräsidium, und nach den preußi¬
schen Bestimmungen über Heereseinrichtung. Der Bundeskanzler ist preußischer
Beamter, nur seinem König und dem preußischen Gesetz verantwortlich u. s. w.
Der Reichstag aber ist in Wirklichkeit trotz allen Ehren und Befugnissen, welche
man ihm zuertheilt. gegenüber dem festgefügten Bau des preußischen Staates
vorläufig nur ein Zoll- und Vcrkchrsparlcuncnt.
Ob er im Laufe der Zeit etwas Anderes werden wird und ob der Schwer¬
punkt des deutschen Verfassungslebens auf ihn übergehen oder in dem preu¬
ßischen Landtag bleiben soll, das ist eine Frage, welche zunächst die nationale
Partei sich selbst vorzulegen hat. Denn von der Antwort,Zwelche sie auf diese
Frage findet, hängt ihre Taktik in dem bevorstehenden Reichstage ab, ebenso
vielleicht die Haltung des preußischen Landtags bei den Opfern, welche ihm
zugemuthet werden, und darum in hohem Maße unsere nächste politische
Zukunft.
Es liegt nun im Wesen jeder parlamentarischen Versammlung, ihre Befug¬
nisse hoch zu fassen. Gestattet das neue Wahlgesetz, daß der Reichstag die
politischen Führer der Nation, die Blüthe unserer Intelligenz, vereinigt, und
gelingt es der nationalen Partei, in sich selbst Verständigung und einheitliches
Handeln durchzusetzen, so kann, wie auch der gegenwärtige Entwurf der Bundes¬
verfassung beschaffen sei, eine große Umbildung des deutschen Verfassungslebens
durch Reichstag und Bundesrath bewirkt werden. Erweist sich der Reichstag
als die Arena für die höchsten Interessen der Nation, so wird die Anfügung
der Südstaaten ohne große Schwierigkeiten erfolgen und ein deutscher Staat
vermag sich nach längeren parlamentarischen Kämpfen aus den Grundzügen der
gebotenen Verfassung aufzubauen. Auf einem Wege, der allerdings ungewöhn¬
lich und bis jetzt in der Geschichte ohne Beispiel ist.
Aber man darf sich nicht verbergen, daß in diesem Fall den Preußen die
größten Opfer zugemuthet werden. Und zwar sind es nicht nur verfassungs¬
mäßige Rechte des preußischen Volkes, welche für das Ganze hingegeben werden
müssen. Nicht geringer sind die Zumuthungen, welche den Regierenden in Preußen
gestellt werden.
Wir wissen wenig Sicheres über die Methode, nach welcher Graf Bismarck
seinen Bundesrath, das heißt die Staatendelegirten, für die administrativen
Geschäfte des Bundes zu verwenden denkt. Man darf annehmen, daß einige
von den Einrichtungen des seligen Bundestages für ihre Thätigkeit adoptirt
sind, und daß sie durch Ausschüsse und Commissionen unter dem Bundeskanz¬
ler die beaufsichtigende und controlirende Behörde in Bundesangelcgenheiten
sein sollen. Die Majorität dieser Staatsdelegirten besteht aus Nichtprcußen.
Es wird also unvermeidlich, daß auch NichtPreußen ein oberstes Aussichts- und
Verfügungsrecht über preußische Eisenbahnen, Posten, Verkehrsanstalten, über Zölle,
Handel, einen Theil der Justiz, ja sogar eine gewisse, wenn auch beschränkte
Mitwirkung bei Kriegswesen und Marine ausüben. Ein solches Eingreifen
Fremder in das Gefüge des preußischen Staates ist so sehr gegen alle Tradi¬
tionen der preußischen Beamtenaristokratie und so völlig gegen den preußischen
Iunkerstolz, daß von dieser Seite vielleicht die heftigste Opposition zu erwarten
ist. Die Ministerien der Finanzen und des Handels, ja theilweise sogar
der Justiz und des Krieges werden der Bundesverfassung untergestellt, fremde
Bundesrathe erhalten Einsicht und Mitverfügung über die Interessen der
preußischen Ressorts; der Bundeskanzler selbst tritt in ein ganz neues Verhält-
riß zu seinen frühern Kollegen. Wenn man weiß, wie zähe bis jetzt die Fach¬
minister in Preußen ihre Selbständigkeit innerhalb ihres Ressorts verfochten,
wie auch höchster Wille diese geschäftliche Trennung begünstigte, so wird unbe-
greiflich, daß z. B. Herr v. der Heydt und Graf Jtzcuplitz sich fortan in Steuer-
sachen, Postsachen, Eisenbahnsachen als Beamte des Bundes ^betrachten sollen,
welche von Commissionen desselben Anweisungen erhalten und die letzte Dis¬
position in den wichtigsten Angelegenheiten ihrer Ministerien diesen übergeben
müssen.
Und es ist nicht nur der persönliche Stolz preußischer Beamten, der dagegen
reagiren muß. und nicht nur ihre Sorge, daß aus dem Bundesrath allmälig
Reichsministerien herauswachsen können, sondern es ist in der That eine radicale
Umwandlung der preußischen Staatsmaschine, welche durch jede solche Bundes¬
verfassung eingeleitet wird. Und es ist wohl möglich, daß der Entwurf in
Preußen selbst größere Schwierigkeiten zu bekämpfen haben wird als bei den
Regierungen der Bundesstaaten und im Reichstage.
Uns Deutschen aber ist jetzt das höchste Interesse, daß der Reichstag nicht
resultatlos verläuft, und daß die Bundesverfassung, wie sie immer sei, so schnell
als möglich als Dach auf das neue Haus gesetzt wird. Denn dadurch erst wer¬
den die neuen Verhältnisse, welche der Krieg des vorigen Jahres geschaffen, ge¬
festigt. Was uns jetzt in einem Raume vereinigen soll. ist wie ein Notstand,
schnell zusammengefügt und nicht auf Dauer berechnet. Auch was wir jetzt schaffen
können durch unsere Mitwirkung in der Presse und am Reichstage, das wird,
dessen bleiben wir uns bewußt, nur ein Jnterimisticum und wahrscheinlich
eines von kurzer Dauer. Und doch hängt das Heil unserer Zukunft davon ab.
daß wir mit Hingabe und Selbstverläugnung arbeiten, dasselbe zu Stande zu
bringen.
C. F. Pohl, Mozart und Haydn in London. Wien. C. Gerolds Sohn,
18K7. Erste Abtheilung- Mozart in London.
Die im letzten Jahrzehnt sehr bemerkbar gewordene Vorliebe für die literarische
Cultivirung der Musikgeschichte, namentlich für biographische Darstellungen, hat neben
einer Reihe flüchtiger Producte ohne inneren Wardi, auch eine Anzahl von Büchern
hervorgerufen, die von ernster Forschung und gründlichem Quellenstudium Zeugniß
über Zeugniß ablegen. Zu diesen erfreulichen Erscheinungen gehört die Schrift von
Pohl, eine saubere Arbeit gewissenhafter Dctcnlfvrschung aus den Quellen, zuver¬
lässig und belehrend.
Der Verfasser, der als Musiklehrer einige Jahre in London lebte, faßte den
Gedanken, aus den reichen Hilfsmitteln der Bibliothek des britischen Museums und
ähnlicher Sammlungen alles zusammenzustellen, was sich auf den Aufenthalt Mo-
zarts und Haydns in London ermitteln ließe, um ein authentisches und leben¬
diges Bild der Verhältnisse, unter denen sie dort wirkten, zu gewinnen. Unver¬
merkt gestaltete sich diese Aufgabe während des Suchens und Forschens zu einer
Geschichte des Musiktrcibcns in London während der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts. Der Verfasser ist nicht müde geworden, in der Fluth von Zeitungen,
Programmen, Vrochnrcn, Korrespondenzen, Biographien — und wie die Abarten
dieser zcrfahrncn Literatur sich nennen mögen —- das Material in diesem Sinne zu¬
sammenzusuchen, ans welchem die Darstellung erwachsen ist, welche mehr leistet, als
sie verspricht. Denn den beiden großen Erscheinungen, welche im Vordergründe
stehen, hat er den sorgfältig ausgeführten Hintergrund einer anschaulichen Darlegung
der Verhältnisse und Persönlichkeiten gegeben, welche das musikalische Leben Londons
bedingten.
Nach einem kurzen allgemeinen Ueberblick macht er uns zunächst mit einer
eigenthümlichen Erscheinung näher bekannt, welche von hervorragendem Einfluß aus
die Gestaltung der musikalischen Verhältnisse war, mit den verschiedenen musika¬
lischen Vereinen. Die 8t. Oeeilicm Koeioty, die a-o-«lomz? ok imoiont musie, die
Ng,AriMl soeigty, der Mblomon ana Kontlomen (ZiUcm Olub in seinen eigenthüm¬
lich nationalen Geprägen, die wohlthätigen Institute der Lyvioty ok musioisus, welche
am Ende des Jahres 1865 über einen Fonds von 64,550 Pfund Sterling ver¬
fügte, und der Lai'pai'Mon c>s tluz song ok t-lis (Zlerz^ werden nach den Grund¬
zügen ihrer Art und Wirksamkeit in ihrer historischen Entwickelung charakterisier.
Daran schließt sich die Uebersicht der verschiedenen Conccrtinstitute und ihrer Auf¬
führungen während der Jahre 1764 und 1765, der Musikfeste in den Provinzen,
sowie der Musik in den Volksgarten — beides auch in culturhistorischcr Beziehung
von großem Interesse. In einer Reihe von alphabetisch geordneten Beilagen ist dann
über eine Anzahl hervortretender Musiker noch genauere biographische Auskunft ge¬
geben. Alles trägt den unverkennbaren Stempel zuverlässiger Quellenforschung, welche
auch durch genaue Nachweisungen die Controle überall ermöglicht und dem Mit-
forschcnden ein weites Gebiet der einschlägigen Literatur eröffnet. Wer einige, Be¬
kanntschaft mit den Schwierigkeiten hat, in Fragen dieser Art zuverlässige Auskunft
zu erlangen, wird dem Verfasser für diesen Schal) wohlgcprüftcr Mittheilungen sehr
dankbar sein.
Auf dieser sehr breiten Basis erhebt sich allerdings ein verhältnißmäßig kleines
Bild des Wunderknaben Mozart. Allein man darf nicht vergessen, daß es zugleich
die Grundlage für die Darstellung Haydns bildet, welche natürlich überall auf
diese Verhältnisse zurückgreifen muß. Was wir von Mozarts Aufenthalt in London
bisher wußten, ging auf die von Nissen gegebenen Auszüge aus den Briefen des
Vaters an feinen Freund Hagenauer in Saljbnrg zurück. Pohl hgt dieselben nicht
allein, durch die Detailschilderuug der dort kurz berührten Umstände und Persön¬
lichkeiten illustrirt, sondern durch die fortlaufenden Anzeigen und Berichte in den
Zeitungen die wechselnde Situation der Familie Mozart mit ihren „ Wundern der
Natur" dem londoner Publikum gegenüber ins Klare gebracht, und so zuerst dem
Bilde von Mozarts Aufenthalt in London Leben und Farbe gegeben.
Hoffentlich läßt die zweite Abtheilung, welche an Umfang und Inhalt noch be¬
deutender zu werden verspricht, nicht auf sich warten.
Wer die Verhältnisse Schleswig-Holsteins blos aus den Zeitungen kennt,
muß es wohl unbegreiflich finden, daß man seit längerer Zeit so wenig von
dort hört. Die Volksmassen, welche so oft ihren unerschütterlichen Widerstand
gegen jeden Uebergriff Preußens drohend verkündet haben, halten sich still, die
Resolutionen sind verklungen, überall geht man seinen bürgerlichen Beschäfti¬
gungen nach. Mancher unserer hitzigen Freunde, namentlich in Süddeutschland,
erklärt sich diese Erscheinung vielleicht aus dem eisernen Druck, der aus uns
laste, und meint, unsere Ruhe erinnere an das schauerliche „I'orärö rögriö g.
Varsoviv". Aber eine solche Parallele wäre ebenso grundfalsch, wie die Ver-
gleichung unseres früheren activen Auftretens mit den Todeskämpfen der Polen,
unseres verdrossenen Unmuthes mit ihrem glühenden Haß. Wir sind ja im
Grunde nie so aufgeregt gewesen, wie es in der Ferne scheinen konnte. Der
phlegmatische Charakter der Schleswig-Holstciner hat sich zu keiner Zeit ver-
läugnet. Sie haben allerdings hier und da geredet, gehuldigt, Fahnen aus¬
gehängt oder auch wohl durch Nichtflaggen demonstrirt, aber dabei haben sie
nie die Ruhe ganz verloren, nie vergessen, daß sie friedliche Bürger, keine Revo¬
lutionäre seien. Sie haben sich in der wirksamen Kraft ihres Willens getäuscht,
aber sie waren ja schon seit langer Zeit gewohnt, sich in ihr Mißgeschick zu
finden. Eine von außen an sie herantretende disciplinirende Macht, welche 1848
und in den folgenden Jahren tüchtige Soldaten aus ihnen schuf, fehlte dies¬
mal. Alle activen Widerstandskräfte, die in ihnen lagen, sind aber in der
Aufregung der letzten Jahre verbraucht, und als nun in diesem gewaltigen
Sommer das ganze Land definitiv in Preußens Gewalt geriet!), da bedürfte
es keiner Zwangsmaßregeln, um vollständige Unterwerfung und Ruhe zu be¬
wirken.
Ein unbestreitbares Verdienst des damals eingesetzten Oberpräsidenten,
Baron Scheel-Plessen ist es, diesen Zustand der Gemüther erkannt und danach
gehandelt zu haben. Allerdings war damals eine gewisse Repressiv» nicht
ganz zu vermeiden. Das Versammlungsrecht und die Preßfreiheit wurde erheb-
lich eingeschränkt, aber von scharfen Straf- und Präventivmaßregeln, wie man
sie in einem widerwillig unterworfenen Lande hätte erwarten sollen, war nicht
die Rede. Gewiß fühlten sich zahlreiche Beamte und Privatleute, die im
augustenburgischen oder östreichischen Sinne thätig gewesen waren, in ihrer Stel¬
lung oder ihrer Existenz bedroht, aber die Angst war umsonst: wer sich offen¬
barer Kundgebungen gegen die neue Ordnung enthielt, ward in Frieden gelassen
und so fügte sich denn auch Holstein ohne Widerstreben. In diesem Verhalten
des Oberpräsidenten liegt die beste Rechtfertigung seiner Wahl seitens der preu¬
ßischen Regierung. Freilich wird diese unsere Auffassung von vielen unserer
durch mancherlei Kränkungen erbitterter Freunde, wie auch namentlich in hohen
militärischen Kreisen nicht getheilt; man tadelt vielmehr unverhohlen das milde
Verfahren und das offenbare Bemühen Scheel-PIessens, einen Theil der hervor¬
ragenden Augustenburger zu gewinnen. Man beruft sich in dieser Hinsicht auf
diese oder jene schüchterne Demonstration gegen Preußen, welche bei einem
strengeren Regimente unmöglich wäre, aber man vergißt, wie wenig Bedeutung
dergleichen Aeußerungen haben, wie geringer Werth daher auch ihrer Unter¬
drückung beizulegen wäre. Die Gesinnung hätte man höchstens noch etwas
mehr verbittert, ohne etwas Wesentliches zu gewinnen.
Die dem Oberpräsidenten von uns gezollte Anerkennung ist um so unpar¬
teiischer, als wir im Uebrigen sein Anfahren in vieler Hinsicht durchaus mi߬
billigen müssen. So scharfsinnig und gewandt Scheel-Plessen ist. er scheint doch
weder durch seine wahre Gesinnung, noch durch seine ganze Vergangenheit zu
einem hochgestellten preußischen Vcnvaltungsbeamten vorwiegend geeignet. Sein
Ideal war die Personalunion mit Dänemark und zwar in der Art. wie sie bis
kurz vor der Revolution bestand, als der holsteinische Adel die dänische Mon¬
archie regierte. Von einer nationalen Auffassung, welche Preußen als den
deutschen Staat erkennt und deshalb die Aufnahme in jenes mit Freuden be¬
grüßt, scheint er weit entfernt. Freilich hat er, scharfsinniger als seine meisten
polirischen Freunde, früh erkannt, daß an eine so lose Verbindung Schleswig-
Holsteins mit Preußen, wie sie die Personalunion giebt, nicht zu denken wäre,
aber dennoch ist er bestrebt, möglichst viele und zwar auch sehr unberechtigte
Eigenthümlichkeiten zu retten und die nothwendige organische Einfügung in den
großen Staat hinauszuschieben. Ein Mangel an deutschem Sinn, welcher in
dem Umstand, daß seine sämmtlichen Güter in Dänemark liegen, einen bedenk¬
lichen Stützpunkt hehl^t, hat zwar nicht verhindert, daß er von Zeit zu Zeit mit
den nationalen gegen den gemeinschaftlichen Gegner, früher die dänische Demo¬
kratie, später die Augustenburger, gemeinschaftliche Sache machte, aber von beiden
Seiten hat man nie verkannt, daß keine volle Gleichheit der Gesinnung, keine
wahre Freundschaft vorhanden sei.
So ist denn der innere Zustand Schleswig-Holsteins noch immer derselbe,
wie zur Dänenzcit. Abgesehen von den militärischen Einrichtungen, rücksichtlich
deren der Oberpräsident natürlich den Forderungen der Centralregierung durch¬
aus nachkommen mußte, haben wir fast nur im Post- und Telcgraphenwcsen
Verbesserungen nach preußischem Muster zu nennen, aber auch hier ohne sein
Zuthun. Namentlich hat der Oberpostdirector Zschüschner, welcher schon vor
dem gastciner Vertrag hierher gesandt war, sich um die Hebung des ihm an¬
vertrauten Postwesens großes Verdienst erworben. In keinem der neuerworbe-
nen Länder thun aber eingreifende Reformen aller Art so dringend noth, wie
in Schleswig-Holstein. Hannover und Hessen können nöthigenfalls noch Jahre
lang die alten Justiz- und Administrationseinrichtungen behalten; wir können
das nicht, denn bei uns hat das Gesetzgebungswerk seit Jahrzehnten fast völlig
geruht. Die Verwaltung ist ganz die des achtzehnten Jahrhunderts; von der Justiz
theilweise noch gar nicht getrennt. Wichtigen Gebieten des Rechts liegen ab¬
solut veraltete Rechtsquellen zu Grunde, so daß sich die Praxis nur durch
deren vollständige Ignorirung und ihren Ersatz durch das richterliche Ermessen
helfen kau». In großen Theilen des Landes besteht eine Feudalherrschaft mit
Patrimonialgerichten und allem Zubehör, wie sie sich nicht besser in Mecklen¬
burg findet; sogar die Damenklöstcr haben ihre eigene Verwaltung, Gebiete
und Gerichtssprcngel. Die Städte erfreuen sich einer Verfassung, nach welcher
ihre Beamten fast alle vom Landesherrn ernannt werden. Das Steuerwesen
ist gründlich verworren und unzweckmäßig u. a. in. — Ich empfehle dem
Leser, sich einmal die Verordnung über die Eintheilung der Wahlkreise in
Schleswig-Holstein anzusehen. Hier kann er von der Buntschecklgkeit unserer
Administration eine Idee erhalten, wenn er erfährt, daß der Verschiedenheit der
Gütcrdistricte. Aemter. Landschaften, klösterlichen Gebiete u. f. w. eine ebenso
große Verschiedenheit der inneren Einrichtungen entspricht. Kurz der ganze Zu¬
stand ist unleidlich und wird auch von allen Gebildeten als unleidlich empfun¬
den. Alle Vorschläge zur Abänderung fallen hier nothwendigerweise weit radi-
caler aus als z, B. in Hannover, und niemand nimmt daran Anstoß. Aber
freilich, wird endlich Ernst gemacht mit den Verbesserungen, wie sie durch das
Local-, Provinzial- und Staatsinteresse gefordert werden, so wird gar mancher
Privatvortheil und manche Privatansicht verletzt werden, und selbst wenn, was
doch nicht anzunehmen, in jeder Hinsicht von preußischer Seite die denkbar
zweckmäßigsten Maßregeln zur Organisirung der Provinz getroffen würde», so
wird doch wahrscheinlich die erste Folge der Aenderung eine sehr weit verbreitete
Verstimmung, ein Wachsen der particularisiischen Gesinnung auch bei denen
sein, welche die UnHaltbarkeit der alten Zustände erkannt haben. Dieses Odium
scheint unser Oberpräsidium nicht auf sich laden zu wollen und dazu hat er
unzweifelhaft eine besondere Vorliebe für manches, was uns enidcrn durchaus
unhaltbar und zum preußischen Staat nicht passend erscheint. Er begnügt sich
deshalb mit kleinen Abänderungen und Zusätzen, wo eine vollständige Neu¬
schöpfung nothwendig ist. Wir müssen ihm dieses um so mehr anrechnen, als
er nach seiner Einsicht, seiner Thätigkeit und Energie gewiß der Mann dazu
wäre, die Umwandelung durchzuführen. Aber der Wunsch, Vorläufig alles mög¬
lichst beim Alten zu lassen, ist mächtiger i» ihm. Dieses Streben und vielleicht
noch ein stiller Wunsch, ergebene Diener zu besitzen, scheint Scheel-Plessen bei
der Wahl seiner Räthe geleitet zu haben. Es ist ein Zeichen der tiefen Er¬
schlaffung unserer Bevölkerung, daß sie die Ernennung von Männern, welche
einst in der dänisch-holsteinischen Regierung zu Plön gesessen hatten, und selbst
die Beförderung des durchaus dänisch gesinnten Willemoer-Suhen, des einstigen
Polizeimeisters von Altona, zum Amtmann in Rendsburg ruhig hinnahm. Nur
die beiden schleswigschen Blätter, welche unter den schwierigsten Verhältnissen
Preußens Rechte gegen die Dänen und die Particulansten Jahre lang verthei¬
digt hatten, wagten eine kurze Andeutung, daß sie in erster Linie die Anstellung
preußischer Beamter wünschten, daß sie aber auf keinen Fall die Verwendung
von „Männern aus der Hall-Moltckcschen Schule" billigen könnten. Aber diese
Kritik erbitterte den selbstherrlichen Stolz des Oberpräsidenten aufs äußerste,
zumal sie von der nationalen Partei ausging, von der er wußte, daß sie
durch und durch preußisch gesinnt sei, aber ihm nicht traue, und von der er in
früheren Zeiten allerdings nicht immer mit Rücksicht behandelt war. Er bedrohte
beide Blätter mit augenblicklicher Unterdrückung, wenn sie noch ferner solche
„regierungsfeindliche" Artikel brächten. Doch hier hatte er einmal über das
Ziel hinausgeschossen. Selbst die ministeriellen Organe in Berlin schüttelten
ub-er eine solche Behandlung gutpreußischcr Blätter den Kopf.
Aus alle dem geht hervor, daß uns nichts nöthiger ist als die Ein¬
setzung eines tüchtigen preußischen Oberbeamten, wie solche in Han¬
nover und Kurhessen fungiren. Wir haben die Verdienste unseres gegenwärtigen
Oberpräsidenten bei der Uebernahme Holsteins bereitwillig annkannt. aber die
durchaus nothwendige Organisation des Landes, die um so energischer in An¬
griff zu nehmen ist, als wir am 1, October in jeder Hinsicht vollberechtigte
Preußen sein sollen, ist kaum von ihm zu erwarten. Ein Man», der ohne per¬
sönliche Bitterkeit und Antipathie, aber mit entschiedener Einsicht und Willens¬
kraft und im vollen Gefühl seiner Veranlwvrilichkeit es unternimmt, unser Land
zu einem organischen Glied Preuße»s zu machen, wird sich unter den altpreu-
ßischen Beamten schon finde» lassen, Freilich Herr v. Zedlitz, an den man zu¬
nächst denken könnte, wäre aus vielen Gründen dieser Aufgabe entschieden nicht
gewachsen.
Inzwischen ist nun ein Einverleibungsgesetz auch für uns zu Stande ge¬
kommen und sanctionirt und ehe diese Zeilen gedruckt sein werden, ist die
Annexion sicher auch den Schleswig-Holsteincrn durch königliches Patent schon
verkündet. Bis zum letzten Augenblick haben sich selbst Leute, welchen man ein
gesundes Urtheil hätte zutrauen sollen, gegen den Gedanken an die Möglichkeit
dieses Ausganges gewehrt. Aber der größere Theil der Gebildeten hat sich jetzt
Wohl schon mit dem Schicksal, preußisch zu werden, versöhnt. Die glänzenden
Erfolge des vorigen Sommers, die Erwerbung Hannovers und Kurhesseus
haben doch manchen überzeugt, daß der Beruf Preußens keine bloße Phrase ist
und daß die Selbständigkeit kleiner Staaten keinen Schutz gewährt. Viele sind
froh, jetzt plausible Borwände für ihren Uebergang ins Lager der Sieger zu
haben. Selbst ein Mann, wie Herr v, Stccmann, welcher unter Gablenz hol¬
steinischer Regierungsrath war. sucht seinen Frieden mit der Regierung zu
machen, ohne dadurch große» Anstoß zu erregen. Viele gewissenhafte Leute sind
ferner durch die endlich erfolgte, aber noch immer dankbar hinzunehmende Re¬
signation des Prinzen von der letzten Fessel befreit, welche sie von Preußen
zurückhielt. Ein Zeichen der Besserung in der Gesinnung ist es auch wohl, daß
sich Treitzschkes Vorlesungen über neuere Geschichte eines stets wachsenden, weit
über die Univcrsitatskreise hinausgehenden Beifalls erfreuen. — Im deutschen
Schleswig ist endlich die Stimmung nie so verbittert gewesen, wie in Holstein.
Aber freilich würde man sich sehr irren, wenn man glaubte, die Schleswig-
Holsteiner seien auf dem besten Wege, gute Preußen zu werden. Die Massen
stehen verdrossen da oder fügen sich im besten Fall in das Unvermeidliche mit
der Stimmung des wahren Typus einer große» Classe des ganzen niederoeul-
schen Volkes, des unvergleichlichen Jochen Rüßler in Reuters „Stromtio", wenn
er sagt: „ijc, wat fall ick babi baun?" Die alten Führer können sich zum
großen Theil durchaus nicht von dem Gedanken eines selbständigen Schleswig-
Holstein trennen, und ebenso denkt immer noch ein großer Theil der Mittel¬
classe. Dazu wirkt die immerhin wahrscheinliche Abtretung eines Theiles von
Nordschleswig uiigünstig auf die Stimmung, wahrend diese freilich im Norden
selbst einen engen Zusammenschluß der Deutschen bewirkt hat. Eine fernere
Uisache antipreußischer Gesinnung, namentlich unter der Landbevölkerung, bilden
in Schleswig-Holstein wie in den anderen neucrworbencir Provinzen die preu¬
ßischen Militärcinrichtunge». Allerdings ist man dieses erste Mal von Seiten
der Militärbehörden mit solcher Rücksicht Verfahren, daß die Aushebung keines¬
wegs die ungünstige Wirkung gehabt hat, die man fürchtete.
Unter diesen Umständen nahen die Parlamentswahlen und geben unserem
Volke eine kaum gehoffte Gelegenheit, seine Meinung über die große» Ver¬
änderungen der letzte» Jahre auszuspreche». Bei der Allgemeinheit der Wahlen
und der geheimen Abgabe der Stimmen wäre es auch bei uns vollständig ver¬
kehrt, mit einiger Sicherheit den Ausfall vorherzusagen. Es kommen ja dabei
Volksclassen in Betracht, welche bis jetzt nie eine Rolle gespielt haben, wie
z. B. die Tagelöhner im östlichen Holstein; es haben sehr viele Leute Gelegen¬
heit, ihre Hcrzensmeinung auszusprechen, welche dieselbe sorgfältig zu verdecken
Pflegen; ferner werden unberechenbare persönliche Zuneigungen und Abneigungen
oft die politischen Rücksichten durchkreuzen. Vollständig sicher scheint nur das
Eine, daß im ersten schleswigschen Wahlkreis, dem eigentlichen Nordschleswig,
der dänische Kandidat, Krüger-Beftoft. mit großer Majorität gewählt wird. Von
dem Verhalten der Deutschen im zweiten Wahlkreise, welcher Flensburg und
einen großen Theil Angelus, aber auch das dänische Sundewitt und Alsen um¬
faßt, wird es abhängen, ob dieser der einzige Däne bleiben soll oder ob ihm
noch ein Genosse zur Seite tritt. Geschieht das Erstere, so ist zu schließen,
daß der zweite Reichstag das interessante Gegenstück zu den Polen, eine dänische
Partei, ganz wird entbehren müssen; denn da die eventuelle Abtretung jedenfalls
den größten Theil des ersten Wahlkreises treffen wird — und wenn nur die
deutschgesinntcn Orte Hadersleben und Christiansfelde erhalten bleiben, so ist
das kein so großes Unglück —, so werden später die Dänen nirgends mehr in
so compacten Massen sitzen, um einen Abgeordneten durchzubringen. In diesem
Wahlkreis ist vor allem darauf zu sehen, daß sich sämmtliche Deutsche über einen
Kandidaten verständigen, daß sich daher eventuell die Particularistcn einen preu¬
ßisch Gefärbten, die nationalen einen halben Particularistcn gefallen lassen.
Da die augustenburgischen Sympathien in diesem Theile Schleswigs nie sehr
lebhaft gewesen sind, so ist eine Vereinigung gewiß nicht schwer. Aber die Dänen
im Sundewitt und auf Alsen werden sicher auch ihr Aeußerstes thun, so wenig
daran zu denken ist, daß Preußen je ein Stück dieser militärisch so überaus
wichtigen Landschaften abtreten wird.
In allen andern Wahlkreisen werden sich die augustenburgischen Particu-
laristen mit ihren Gegnern zu messen haben. Die Organisation hat auf beiden
Seiten begonnen, ist aber noch nicht abgeschlossen, so daß noch nicht alle defi¬
nitive Candidaten aufgestellt sind. Die Particularistcn verfügen über keine
große Anzahl von Männern, welche Lust und Geschick haben, ihre Sache im
Parlamente zu führen, ohne dieselbe zu compromittiren. In dem rücksichtslosen
Demokraten Richard von Neergaard. einer Natur, welche im Grunde viel besser
zu den südwcstdeutschen Radicalen oder auch zu den Voltsmännern seines
Stammlandes Dänemark paßte, als zu den ruhigen ehrsamen Holsten, ist im
vorigen Herbst der bedeutendste Mann dieser Richtung plötzlich gestorben. Durch
Leute, wie den guten, populären, aber sehr beschränkten Zimmermeister Riepen
wollen sich aber die Gebildeteren der Partei nickt leiten lassen, schon aus Rück¬
sicht auf die Fortschrittspartei, mit der man es nicht gern ganz verdürbe.
Einige der bedeutendsten Führer haben keine Lust, eine veUorne Sache öffent¬
lich zu verfechten, und man wird Wohl noch allerlei Schwierigkeiten haben, bis
man sich über die Candidaten geeinigt hat. Eine grundsätzliche Enthaltung von
der Wahl, die hier und da vorgeschlagen ist, wird jedenfalls nicht stattfinden, so
sehr auch zu erwarten ist, daß ein großer Theil des Volks, besonders auf dem
Lande, aus Verstimmung und Trägheit sein Wahlrecht nicht ausüben wird.
Auch der Vorschlag, daß sich die Vertreter Schleswig-Holsteins blos zu dem
Ende ins Parlament begeben sollen, um zu protestiren und dann auszutreten,
wird schwerlich ausgeführt werden, obwohl sich der große Gustav Rasch erboten
hat, unter solchen Umständen ein Mandat anzunehmen. Leider hat seine Kan¬
didatur auch bei den Particularistcn so wenig Chance, daß den Gegnern die
großen Vortheile, welche seine Aufstellung geben würde, verloren gehn. Man
wird im Ganzen sich dafür entscheiden, daß die zu Wählenden der strengen
Durchführung des Einigungswcrkes von Seiten der Negierung alle möglichen
Hindernisse in den Weg legen sollen. Eine Handhabe dazu glaubt man hier
wie anderswo in der deutschen Reichsverfassung gefunden zu haben, von der
man jetzt in manchen Kreisen in einem ähnlichen Tone spricht, wie früher von
dem Schleswig-holsteinischen Staatsgrundgesetz.
Auch die preußisch Gesinnten sind durchaus noch nicht völlig einig. Das
Odium.welches sich die kleinenationalePartei vornunmehr zwei Jahren durch ihren
„Abfall" zugezogen hat. ist selbst bei vielen von denen nicht geschwunden, welche
allmälig die augustenburgische Fahne gleichfalls verlassen haben und jetzt na¬
türlich viel weiter gehen, als die nationalen damals gehen kouaten. Man
muß wissen, wie wenig man hier zu Lande gewohnt ist, die Sachen von den
Personen zu trennen, welchen Einfluß hier, wo jeder irgend hervorragende
Mann nach seinen Vorzügen und Schwächen von jedem gekannt wird, eine per¬
sönliche Verbitterung hat, wie sie in den Streitigkeiten der letzten Zeit leicht
entstanden, man muß die ganze Kleinlichkeit unserer Verhältnisse kennen, um
begreiflich zu finden, daß in der politischen Hauptstadt des Landes, in Kiel,
neben einander zwei in allen wesentlichen Zügen übereinstimmende Wahlanfruse
entstanden sind, welche die entschiedene Zurückweisung der Reichsverfassung ge¬
mein haben. So schlimm, wie es. hiernach zu urtheilen, in Kiel ist, haben wir
es freilich nicht leicht an einem andern Orte, und auch dort wird man in der
Hauptsache, der Abstimmung, ohne Zweifel zusammenhalten.
Die durchaus nothwendige Vereinigung mit der eigentlich conservativen
(ritterschaftlichen) Partei wird schon dadurch erleichtert, daß letztere fast nur in
solchen Gegenden Einfluß hat, in denen von einer liberaleren preußischen Partei
kaum die Rede sein kann, so daß man also durch Theilung eine Uebercin-
siimmung hinsichtlich solcher Kandidaten erreichen wird „welche die deutsche Po¬
litik der Regierung unterstützen wollen", wie die sehr glücklich gewählte Formel
lautet.
Bei Gelegenheit des kieler „Umschlages" kommen alljährlich von ganz
Schleswig-Holstein nicht blos alle größeren Grundbesitzer, sondern auch zahl-
reiche Geschäftsleute aller Art, Advocaten und andere Männer des ganzen Lan¬
des zu Geschäften und Besprechungen zusammen. Diese Gelegenheit wurde
schon in den letzten Jahren mehrfach zu politischen Erklärungen benutzt, dies¬
mal natürlich zu Besprechungen über die Wahlen. Zwar hat auch jetzt noch
keine Partei eine vollständige Liste aufgestellt, doch sind wenigstens von der preu¬
ßischen schon mehre Candidaten mit Bestimmtheit ins Auge gefaßt. Für die
auswärtigen Leser werden wenigstens die Namen der beiden ehemaligen Mit¬
glieder der Schleswig-holsteinischen Statthalterschaft, W. Beseler und Graf Re-
ventlow-Preetz von Interesse sein. Jenen hofft man in dem Wahlkreise durch¬
zubringen, der das ganze westliche Schleswig bis an die ehemaligen jütischen
Enclaven umfaßt, dieser ist in einer öffentlichen Versammlung in Kiel für den
Wahlkreis aufgestellt, dessen Mittelpunkt Kiel ist. Es ist zu hoffen, daß das
Ansehen dieser hervorragenden Männer auch auf gemäßigt pcuticularistische
Kreise wirken wird, zumal da beide sich in den letzten Jahren aus guten
Gründen von aller activen Betheiligung an der Tagespolitik zurückgezogen
habe». Graf Reventlow. der, wie die Zeitungen melden, zur Annahme der
Wahl bereit ist. dürfte auch der im kieler Wahlkreise schon einflußreicheren Rit¬
terschaft genehm sein.
Den Ausfall der Wahlen aber vorherzusagen wage ich durchaus nicht.
Es erscheint nicht als unmöglich, daß in Schleswig mit Ausnahme des dänischen
Theils die preußische Partei siegt; in Holstein stehn ihre Chancen aber jeden¬
falls ungünstiger und wir würden uns nicht wundern, wenn wir hier eine
Reihe der entschiedensten Preußenfeinde aus der Urne hervorgehen sähen. Sehr
vieles hängt hier aber, wie wir oben andeuteten, von Factoren ab. die sich der
Berechnung entziehen. Die lassallesche Arbeiterpartei zählt kaum; sie tritt zwar
auch in unsern Städten auf, aber glücklicherweise hat sie hier durchaus keinen
Boden; höchstens in Mona dürste auf ihre Stimme etwas ankommen.
' ! Ol> die Volksschule Sache des Staats oder der Gemeinde sei, ist ein alter
Streit; vielfach wird heute dafür vlaidirt, daß der Staat die Volksschullehrer
dotire und als seine Beamten behandle. Unläugbar läßt sich theoretisch viel
für solche Ausfassung anführen. Der Staat hat fast überall, in Deutschland
ohne Ausnahme, seinen Bürgern die Pflicht auferlegt, ihre Kinder während
eines gewissen Zeitraums in die Schule zu schicken; er nöthigt die Säumigen
selbst mit-Strafen dazu, und demgemäß sollte allerdings der Grundsat) gelten,
daß dem Rechte des Staats, dies von seinen Bürgern zu fordern, die Pflicht
entspreche, es ihnen zu ermöglichen, indem er für Schulen sorgt. Die Aus¬
bildung der Kinder geschieht nicht so sehr im Interesse der einzelnen Gemeinde,
wie in dem des Staats selbst; wie viele Erwachsene leben und wirken in Ge¬
meinden, in denen sie die Jugend- und Schuljahre nicht verbracht haben. Die
Gemeinde bildet sonach ihre Kinder zum Theil nicht für sich, sondern für andere
Gemeinden aus. Gemeindepflichten fordern überdies vom Einzelnen gewöhnlich
geringere Vorbildung als die staatsbürgerlichen, 'i' -Znu n'jzjl Mtwtnu
Je mehr erkannt wird, daß der ganze moderne Staat auf einer gewissen
allgemeinen Bildung ruht, desto einleuchtender muß werden, wie sehr es ihm
Pflicht gegen sich selbst ist, den Besuch der Volksschule zu einer Zwangsvflicht
zu machen, und unbestreitbar müßte theoretisch derjenige, welcher das Haupt¬
interesse an einer Sache hat, auch deren Lasten tragen, der Staat also die
Kosten der Volksschule bestreiten.
Dazu kommt, daß manche Gemeinde die Kosten der Schule zu tragen außer
Stande ist, daß die Last in den verschiedenen Gemeinden völlig ungleich drückt,
daß für die gänzlich unvermögenden Gemeindeglieder die Gemeinde als solche
eintreten muß, daß infolge davon sich ein drückendes Gefühl schon in den Kindern
erzeugt, die den Unterricht als Almosen der Gemeinde empfangen - von den
WMklichmlmAMHtMWmmschMn 'Mx) «bMehiM."!'-!? ;5»i,ijiimi
Trotz alledem glauben wir, daß in der Praxis die Sache sich anders stellt
und die Schule am besten Gemeindesache ist. i "u iz6i)(l s>i ZuzÄi'lWzT
>", .Sehen'wir die Schwierigkeit für den Staat, die enormen Kosten für das
gesammte Volksschulwesen zu beschaffen, ohne seinen Unterthanen einen entsetz¬
lichen Steuerdruck aufzuerlegen, ernstlich an, so erregt schon die Ausführbarkeit
großes Bedenken. Erfahrungsmähig ist jede Staatsverwaltung erheblich theurer
als die Gemeindeverwaltung, wie diese wieder theurer ist als die des Privat¬
mannes In gleicher Weise und aus ähnlichen Ursachen ist es Thatsache, daß
der Einzelne z. B. ein Haus billiger baut als die Gemeinde und diese wiederum
billiger als der Staat, und so in fast allen Dingen. Mangelndes persönliches
Interesse, das Gefühl aus großem Beutel zu wirthschaften, das Streben der
Betheiligten, thunlichst viel für sich zu verdienen, sind die Hauptfactoren, die
jenes Resultat zu Wege bringen. Der Einzelne scheut manche nicht schlechthin
nothwendige, aber ganz nützliche, wenn auch unbedeutende Ausgabe, weil sie
ihn allein trifft und dann drückt; wird solche Ausgabe auf die Gemeindeglieder
vertheilt, ist der Druck kaum fühlbar, daher wird sie leicht gemacht; und so in
größerem Verhältniß, wenn es sich um die Staatskasse handelt.
Zweifellos würde daher der Staat für denselben Stand des Volksschul¬
wesens erheblich mehr zu bezahlen haben als die Gescunmtsumme der von allen
Gemeinden dafür gemachten Ausgaben, und diese Summe müßte dann wieder
durch Steuern von den Gemeinden ausgebracht werden, die also dasselbe weit
theurer erkaufen müßten.
Dann werden auch Steuern für ferner liegende Zwecke, wie die gesammten
Staatsausgaben viel schwerer getragen und weniger gern gezahlt als für solche-
die vor Augen liegen und wobei die Verwendung des Geldes jedem unmittelbar
deutlich ist. Dazu kommt, und das ist wesentlich für unsere Anschauung, der Um¬
stand, daß jedem das, was er mit Aufwand eigener Kräfte erworben hat und
unterhält, lieber und theurer ist als das, was ihm ohne eigenes Zuthun von
außen her zugetheilt wird.
Grade das Gefühl, „es ist unsere Schule, unsere Väter haben sie ge¬
baut, wir erhalten sie mit schweren Opfern für unsere Kinder", ist bei der
Gemeindeschule jedem Einzelnen der lebendigste Antrieb, für die Anstalt zu
wirken, die Kinder zur Schule anzuhalten und an allem, was zur Schule ge¬
hört, Interesse zu nehmen. Muß der Vater virent für die Genieindeschule sein
Geld zahlen, so will er auch etwas dafür haben, und schickt seine Kinder auch
zur Schule. Lernen die Kinder in einer andern Schule erheblich mehr, weil dort
wegen besserer Dotation ein tüchtigerer Lehrer hat gewonnen werden können,
so regt sich das Streben in der Gemeinde, auch die eigene Schule mehr zu
heben. Das Verhältniß des Lehrers zur Gemeinde und zu den Kindern ist ein
innigeres; er ist ihr Lehrer; sie erhalten ihn, er ist mit der Gemeinde mehr
verwachsen. Das alles entbehrt die Staatsschule in hohem Grade.
Selbstredend ist dabei im Auge zu behalten, daß der Staat auch seinerseits
bei den Gemeindeschulen sich fördernd und unterstützend betheiligt, und wie er
zu Verbesserungen des gesammten Schulwesens stets anregen muß, auch that¬
kräftig bei solchen mit Geldovsern verbundenen Verbesserungen, die die Kräfte
der Gemeinden übersteigen, dieser zu Hilfe kommt.
Verlangt der Staat, daß seine Bürger ihre Kinder zur Schule schicken,
Verlangt er von der Gemeinde, daß sie zu dem Ende aus ihren Mitteln eine
Schule unterhält, so muß er auch dafür Sorge tragen, daß die Kinder genügen¬
den Unterricht empfangen und daß die Gemeinde zu dem Ende einen tüchtigen
Lehrer hält, und es ist nicht genug, daß er durch Bildungsanstalten für Lehrer
für deren Heranziehung Rath schafft, sondern er ist dann auch verpflichtet, dem
Lehrer die Möglichkeit standesgemäßen Lebens im Gemeindedienste zu verschaffen.
Er muß eben deshalb die Gemeinden, denen er die Volksschule überträgt, auch
zur ausreichenden Besoldung der Lehrer nöthigen; erst damit erfüllt er seine
Pflicht gegen die Lehrer und sich selbst. —
Fassen wir, um dies an einem thatsächlichen Beispiel zu erkennen, die
Verhältnisse der Volksschulen im ehemaligen Königreiche Hannover näher ins
Auge.
Bis zum Jahre 1848 hatte der Staat sich wenig um das Volksschulwesen
bekümmert; es bestand allerdings in den meisten Provinzen ein auf älteren
Provinzialverordnungcn ruhender mehr oder minder strenger Schulzwang; die
Schulen wurden von den Gemeinden unterhalten und der Staat leistete dazu
in einzelnen Fällen Beihilfe, die häufig auf privatrechtlichen Verpflichtungen des
Domanii beruhten; es bestanden einige, aber bei weitem nicht ausreichende
öffentliche Bildungsanstalten für Schullehrer, und übte auch der Staat ein ge¬
wisses Aufsichtsrccht über Lehrer und Schulen, so war doch fast alles provinziell
verschiede», feste gesetzliche Grundlage mangelte.
Im Jahre 1845 wurde dann ein Gesetz über das „christliche Volksschul¬
wesen" erlassen, das im Wesentlichen den obige» Grundzügen entsprechend den
Schulunterricht zur Zwangspflicbt macht, die Unterhaltung der Schulen den
Schulgemeinden auferlegt, als Minimum jeder Schulstellc eine Einnahme von
30 Thaler mit, oder 80 Thaler ohne Reihetisch außer freier Wohnung und
Feuerung für das Schullocal festsetzt. ferner normirt, daß ein Lehrer der Regel
nach mehr als 120 Kinder nicht unterrichte» soll und eine Anzahl anderweiter
hier weniger intercssirendcr Bestimmungen enthält.
Die Dicnsteinnahme betreffend war aber, abgesehen von der eben erwähnten
Bestimmung des Minimalsatzcs, noch vorgeschrieben, daß die Regierung befugt
sein solle, falls besondere Umstände eine Erhöhung des Einkommens erforderten
und diese vom Schulverbandc verweigert würden, eine Erhöhung der Dienst¬
einnahme, soweit sie nothwendig sei, für Land- und Fieckengcmeinden bis auf
jährlich ISO Thaler, für Städte bis auf 300 Thaler zu verfügen. Die Stände
stellten der Regierung gleichzeitig mit Erlaß des Gesetzes eine angemessene Summe
zur Disposition, um denjenigen Gemeinden, die zur erforderlichen Dotirung der
Schulstellen außer Stande seien. Beihilfe» zu gewähren.
Die angestellten Ermittelungen ergaben, daß unter den 3,426 vorhandenen
Schulstellen. deren durchschnittliches Einkommen sich allerdings aus 132 Thaler
jährlich belief, nicht weniger als 244 unter 30 Thaler mit Neihctisch und 1,252
unter 80 Thaler, darunter 733 unter 31 Thaler und über 200 Stellen unter
26 Thaler ohne Neihetisch hatten, so daß also 1,496 Stellen den doch sehr
mäßig gegriffenen Minimalsatz nicht erreichten.
Da die Ausführung des Gesetzes wegen der erforderlichen vorgängigen
örtlichen Feststellung der Schulbezirke, der Verhandlungen mit Schulvorständen,
Lehrern, Patronen :c. mit großer Schwierigkeit verbunden war, die Schul¬
verbesserungen auch in manchen Gemeinden auf hartnäckigen Widerstand stießen,
so brauchte man zur Realisirung der Einnahmeerhöhungen einen ziemlichen
Mtrawmul^n »z !',><>',»!' »',,!'.et-i.-.f!-.?!! «-'-im ,-s. mu .--w? «'.fis.si '
In den nächsten Jahren wurde dann ebenfalls durch Erweiterung der be¬
stehenden und Anlegung neuer Seminare, durch Einführung von Schullehrer¬
prüfungen und Schulinspectionen durch besondre zu dem Ende den Confistorial-
behörden zugeordnete Fachmänner für tüchtigere Leistungen im Schulfache Sorge
getragen, daneben aber die Verbesserungsarbeiten eifrig fortgesetzt. Nach elf
Jahren — 1836 — waren denn auch sämmtliche Schulstellen auf das Minimal-
einkommen gebracht, eine erhebliche Anzahl darüber hinaus erhöht, und so das
Durchschnittseinkommen, obwohl die Zahl der Stellen aus 3,812 gestiegen war,
an,f 14S^DHale« g»stbllkt,in «tun /n^I-.üiick^ rin --.-.jij.Li!.-s->/..-!!!ii.6' -,5j!>et'.si5
ii.isiJn demselben Jahre wurde dann durch ein neues Gesetz die Negierung
ermächtigt, das Diensteinkommen jeder Schulstelle bis aus 150 Thaler zu steigern,
wegen besonderer Umstände aber auf dem Lande bis zu 230 Thaler und in
Städten bis zu 400 Thaler. Die Negierung faßte diese Befugniß als Grund¬
lage für eine allmälig fortschreitende Verbesserung und suchte fürs Erste nur
dem dringendsten Bedürfniß abzuhelfen, wobei neben der Rücksicht auf eine
billige Schonung der Kräfte derjenigen Gemeinden, die durch die Verbesserung
auf Grund des Gesetzes von 1843 stark angegriffen waren, der Grundsatz! ma߬
gebend war, zur Beihilfe aus Staatsmitteln nur mit äußerster Beschränkung
zu greifen. So wurden bis zum 1. Juli 1861 im Ganzen 1,810 Stellen um
insgesammt jährlich 30,300 Thaler erhöht, wovon nur ein Zuschuß von 6,700
Thaler auf die Staatskasse übernommen war. ,^ luttiij'l,^
mi. Nachdem dann 1862 die Stände erweiterte Ausführung der Schulvtrbesse-
rung anheimgegeben und die öffentliche Kasse in ausgiebiger Weise zu Beihilfen
zun Verfügung gestellt hatten, nahm die Regierung die Angelegenheit von
neuem vor und stellte folgende leitende Grundsätze auf: Schulsiellen init einer,
Kinderzahl von 25 und mehr müssen mindestens 120'Thaler Einnahme» mit
einer Kinderzahl von 30 und darüber 140—150 Thaler, mit einer Kinderzahl
von über 60 mindestens 150—200 Thaler und Schulsiellen mit über 90 Kindern
200 —250 Thaler, studirte Lehrer (Nectoren) 330—400 Thaler Einnahme
haben; ist die Schulstelle mit einem Kirchendienste (Küster, Cantor) verbunden,
ist die Einnahme etwas höher zu bestimmen. So gelang es den Behörden,
vom 1. Juli 1861 bis 1. Januar 1864 nicht weniger als 665 Schulstellen um
insgesammt 32,930 Thaler zu verbessern, wovon aus Staatsmitteln nur 7.091
Thaler gedeckt wurden, während das Uebrige die-Gemeinden aufbrachten.
In dem Zeitraum von 1856—1864 war es sonach ermöglicht, im Ganzen
2 475 Schulstellen eins höhere Einnahme zu gewähren, und obwohl in diesen
acht Jahren die^Zcihl der Schulstellen von 3,812 auf 4.115 gestiegen war, war
dennoch das Durchschnittseinkommen von 146'/z Thaler auf 180 Thaler ge¬
steigert. Die Gesammtverbesserungssumme betrug 83,430 Thaler, wovon die
Staatskasse den Betrag von 13,791 Thaler hergab.
Im Jahre 1864 erklärten sich die Stände abermals mit den Bestrebungen
der Negierung durchaus einverstanden und ermuthigter dieselbe, ohne eine be¬
stimmte Erhöhung der betreffenden Budgetposition zu bewilligen, sich nicht ängst¬
lich an die budgetmäßigen Mittel zu binden, vielmehr nach Bedarf auch darüber
hinaus zu Schulverbesserungen Beihilfen zu gewähren. Da aber das Schul-
verbesscrungswerk von Regierung und Ständen stets als ein allmälig fortschrei¬
tendes, nicht bestimmt abzuschließendes angesehen ist, so wird auch dauernd an
dessen Fortführung gearbeitet. —
KII-^Genaue Zusammenstellungen des Ergebnisses der letzten Jahre für den
ganzen Bezirk des vormaligen Königreichs Hannover fehlen; dagegen liegen aus
einem Consistorialbezirk, nämlich der Provinz Ostfriesland, genommene stati¬
stische Erhebungen bis November v. I. vor.
Danach hat sich im Laufe der letzten beiden Jahre das hier an sich schon
Vor den andern Provinzen hervorragende Durchschnittseinkommen sämmtlicher
in der Provinz vorhandener 343 Bolksschulstcllcn wiederum um circa 23 Thaler
erhöhte >>it'ij ii-Zo inichin'inn l.»l!ijmN-^ -i-j-, ^-.likttchv?
Das um Mitte November v. I. in der Provinz Ostfriesland bestehende
Resultat ist folgendes:
Die 343 festen Vvlksschulstellen zerfallen in 203 sogenannte Haupt- und
140 Nebenschulstcllcn; die letztern befinden sich meist in nur dünn bevölkerten
armen Kolonien und bilden Durchgangsstellen für jüngere Lehrer. Die 140
Nebenschulstelle» haben ein Durchschnittseinkommen von jährlich etwa 165 Thaler
nebst freier Wohnung oder Miethcntschädigung.
Die 203 Hauptstellen dagegen haben ebenfalls neben freier Wohnung oder
Miethentschädigung ein Durchschnittscinkommen von 335 Thaler.
Der Gcsammtdurchschnitt aller Stellen beläuft sich auf 266 Thaler neben
freier Wohnung oder Miethcntschädigung. deren niedrigster Satz 15 Thaler
beträgt.
Unter den letztgedachten ist das Durchschnittseinkommen 691 Thaler und
das höchste Einkommen hat die Schulstelle im Dorfe Bingnm mit jährlich 877
Thaler. Das sind die inventarmässigcn Einkommenbcträge; in Wirklichkeit ist
indeß die Einnahme noch höher.
Bei Jnvcntarisirung des Einkommens ist nämlich principmäßig nur ein
E>trag angenommen, auf den stets unter allen Umständen mit Sicherheit zu
rechnen war. Es ist bei Einkommen aus Grundbesitz sowohl, wie bei Berech¬
nung des Schulgeldes, der aus einer längeren Reihe von Jahren gezogene
Durchschnitt als maßgebend angenommen, so daß, da die Grunderträge stets
steigen und mit der zunehmenden Bevölkerung auch die Schullinderzahl und
somit das Schulgeld wächst, die Einnahmen fast sämmtlicher Schulstellen schon
jetzt zum Theil nicht unerheblich mehr betragen, als das Inventar besagt.
Weniger bringt sicher keine Stelle auf.
Außer den im Obigen gegebenen Einnahmen nun haben 270 Stellen freie
Wohnung meist mit Garten, dessen Ertrag in obigem Einkommen ebenfalls
nicht mit enthalten ist; die übrigen 73 Stellen erhalten eine Micthcntschädigung,
die nach den Behältnissen des O>es verschieden bemessen ist, nie aber unter
15 Thaler beträgt.
Außer den 343 festen Schulstellen fungiren in der Provinz noch zwischen
80 und 90 Hilfslehrer, die nicht definitiv angestellt, bei Krankheit oder Behinde-
rung eines Lehrers dessen Dienst interimistisch wahrnehmen, oder bei Ueberfül-
lung einer Schnlclasse eine Abtheilung derselben unterrichten ober sonst älteren
Lehrern zur Hand gehen. Die Zahl dieser Gchilscnstcllen ist natürlich nicht
constant.
Der höchste Gehalt beträgt etwa 250 Thaler; die durchschnittliche Einnahme
aber besteht nur in 80—100 Thalern neben freier Station.
Bedenkt man nnn, daß irgend brauchbare junge Leute fast ausnahmslos
sofort nach Ablegung ihres Gehilfcnexamens eine Hiifslchrerstelle, und nach der
Hauvipnifnng, die der Bollendnng des meist benutzten aber nicht nothwendigen
SeminarcurseS ans dem Fuße folgt, eine feste Anstellung erhalten, daß sie mit
verhältnißmäßig geringem Kostenaufwande, zumal Stipendien für Aermere un¬
schwer zu erwerben sind, die nöthige Borbildung erlangen können, daß die jungen
Lehrer also meist im Beginn der zwanziger Jahre eine feste Einnahme von reich¬
lich 1S0 Thalem neben freier Wohnung zu genießen haben und dabei die
sichere Aussicht, früher oder später auf 3—400 Thaler zu steigen, neben der
Möglichkeit, erheblich höher kommen zu können — und, da 67 Stellen, also
ein volles Sechstheil aller Stellen, über 400 Thaler Einnahme haben, ist diese
Möglichkeit keineswegs eine geringe — so wird man gestehen müssen, daß in
der That hier für die Lehrer nicht grade übermäßig viel, aber doch erheblich
mehr geschehrn ist, als in den meisten andern Ländern.
Aber wie steht es in der That?
Die meisten Schuldotativnsgcsctze datiren aus neuerer Zeit, und ihre Aus¬
führung ist leider sehr unvollkommen; sonst würden nicht von allen Orten
Klagen der Lehrer über ungenügende Besoldung laut werden.
Nach einer Zusammenstellung c>,u<! den? Jahre 18t>3 waren in der ganze»
preußischen Monarchie nur neunzehn Elementarschnlstcllen auf dem Lande, die
über S00 Thaler Einnahme hatte», also noch acht weniger als in der einen
kleinen Provinz Ostfriesland. Und. wenn nicht ganz so günstig, so doch an¬
nähernd ebenso ist es auch in den übrigen Theilen Hannovers.
Wir legen daher auf diesen Punkt bei der Einverleibung in Preußen be¬
sondres Gewicht.
Unser Volksschulwesen ist im Ganzen vortrefflich eingerichtet, und nament¬
lich ist, wie oben gezeigt, für ausreichende Dotation der Lehrer wenigstens
einigermaßen gesorgt; darauf aber, daß eben fortdauernd mehr erreicht werde,
war die eifrigste Bemühung der Regierung gerichtet.
Wir besorgen nun zwar von der für Hebung und Förderung des Unter¬
richts so entschieden strebenden preußischen Regierung nicht, daß sie die in
Hannover gewonnenen Resultate, obwohl sie denen in den meisten altpreußischen
Provinzen zweifellos voranstehen, in irgendeiner Weise in Frage stellen werde.
Die einmal den einzelnen Schulstellen aus Staatsmitteln gewährte» regelmäßigen
Zuschüsse werden ihnen zweifellos bleibe».
Aber die Fortsetzung des so erfolgreich begonnenen Werkes ist eS, die uns
am Herzen liegt.
In Preußen bestehen anerkanntermaßen mancher Orten in den Schul-
angelegenheiten Zustände, die eine Abhilfe dringender erheischen als die hiesigen
Verhältnisse. Und sollen die aus öffentliche» Mittel» geschehenen Bewilligungen
zunächst dazu .bestimmt sein, alle Schulstclle» der ganzen Monarchie auf einen
gewissen Minimalsatz zu bringe», die besser dotirter Stellen aber vorläufig im
gegenwärtigen Status verbleiben, so würde Hannover ohne Zweifel wenig
erhalten, da sicher jetzt die ans Staatsmittel» aufgewandten Beihilfen für
Volksschulen — die jedenfalls bleiben müssen und werden — mehr betrage»
als der muthmaßlich nach der Größe Hannovers auf diese Provinz entfallende
Antheil an den gescnnmten Staatszuschüsscn.
Bei den reichen Mitteln, die die Provinz Hannover Preußen zubringt,
scheint uns der Wunsch nicht unbillig — und mehr berechtigt als das Ver¬
lange» nach Beibehaltung mancher sogenannter Eigenthümlichkeit — daß der
Provinz zur fortschreitenden Verbesserung ihres Volksschulwescns, falls nicht
für ganz Preußen in gleichem Verhältnisse öffentliche Mittel ! disponibel zu
machen sein sollten, vorab mindestens die Summen dauernd belassen werden, die
nach dem letzten hannoverischen Budget pro 1864/66 für das. Volksschulwesen
bestimmt waren. Diese betragen abgesehen por den hier nicht mit in Rechnung
gezogenen 28.000 Thalern für Schullchrerseminare:
Dazu kommen noch die aus dem sogenannten allgemeinen Klosterfonds
(einem besondern durch frühere Einziehung geistlicher Güter gebildeten Fonds,
dessen Erträge verfassungsmäßig nur für Kirchen- und Schulzwecke verwandt
werden dürfen) jährlich für das Volksschulwesen verausgabten xlus wenns
20,000 Thaler; also im Ganzen . . . . . . . >-j! 1,14,020 Thaler.
Da von der Lud 1) aufgeführten Summe factisch etwa 8,000 Thaler noch
nicht verwandt sind, und bei einzelnen Schulen die früher bewilligten Beihilfen,
wenn sonst eine erhebliche Verbesserung durch Land :c. eingetreten ist, zurück«
gezogen werden können, so läßt sich, wenn die oben erwähnten Summen auch
ohne Erhöhung nur nach wie vor der Provinz Hannover verbleiben, mit der
Verbesserung der Schulstellen in erwünschter Weise fortfahren.^
Eine Entziehung auch nur eines Theiles dieser Gelder aber würde im
ganzen Lande schmerzlich empfunden werden. ,^ jm,,!iijs>v.i 115^ sjchöuuz
Wir hoffen deshalb zuversichtlich, daß unser neues Heimathsland uns^ die¬
sen von vielen Tausenden sehnlich gehegten Wunsch erfüllt und unser. Volks-,
Schulwesen auf der betretenen Bahn weiter führt, daß der Grundsah:, >,Die
Schule ist Gemeindesache; der Staat gewährt nur soweit nöthig seine Unter-
stüiumg", nicht verlassen werde, und daß wir nicht in das von der berliner
Staatsbürgerzeilung eifrig verfvchtenc Experiment, sämmtliche Volksschulen in
Siaatsanstaiten und die Lehrer in Staatsdiener zu verwandeln, hineingezogen
werden. Praktisch sind diese Principien unseres Wissens noch nirgends in großem
Maßstabe durchgeführt. In Amerika und England giebt es bekanntlich keines
Staatsschulen, ja es existirt weder eine allgemeine Pflicht der Gemeinden,
Schulen zu unterhalten, noch der Aeltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken,
die Regierung kümmert sich um das Schulwesen ex otäeio nicht, obwohl sie aus
Antrag Unterstützungen für Schulen bewilligt.
In Frankreich besteht nur die Verpflichtung, für Gemeinden über 800
Seelen eine Schule zu halten, der Staat als solcher hält keine Elementarschulen;
eine Schulpflicht der Kinder existirt auch nicht. In Rußland sind zwar viele
Schulen vom Staate direct gegründet und werden von ihm erhalten, allein es
giebt keinen Schulzwang für die Kinder und die Anlegung von Gemeindeschulen
ist nicht allein gestattet, sondern wird vom Staate eifrig befördert.
In Preußen wie in den meisten deutscheu Staaten dagegen ist die dop¬
pelte Pflicht für die Gemeinde, eine Schule zu halten, und für die Aeltern, die
Kinder hincinzuschickcn, begründet, und mit diesem System das Resultat erzielt,
daß kein Volk sich einer gleichen allgemeinen Bildung rühmen kann.
Den Schulzwang für die Kinder beizubehalten, aber die Gemeindeschulen
in Staatsschulen zu verwandeln, ist durch ein praktisches Bedürfniß nicht ge¬
boten; und darum hoffen wir dringend, daß nicht in solcher Weise experimentirt
und damit der bisherige glänzende Erfolg unseres Volksschulwesens auf das
Spiel gesetzt wird.
Führen wir nun noch an, daß darüber, ob eine Gemeinde eine Beihilfe
aus Staatsmitteln als Zuschuß erhalten soll, in Hannover keine gesetzliche Norm
existirt. vielmehr lediglich das Ermessen der Regierung entscheidet, daß aber in
der Praxis, wenn die für die Schulstelle erforderlichen Leistungen nicht über ein
Drittel der gesammten von den Gemeindegliedern zu tragenden directen Landes¬
steuern betrugen, eine Beihilfe regelmäßig nicht gegeben worden ist. so glauben
wir, daß in dieser Richtung der Negierung auch dauernd eine gewisse Freiheit
bleiben muß, wenngleich eine ähnliche gesetzliche Norm, wie jener Grundsatz,
der in der Praxis sich gebildet hat, ohne Nachtheil erlassen werden könnte.
C> H. Bitter: El» versuch neuer Ilebersetzunncn von Mozarts Don Juan und
Glucks Iphigenie in Tauris. Berlin, F. Schneider. 186V.
Keine andere Oper, überhaupt fein anderes musikalisches Werk hat bis zu
der Zeit, da Richard Wagner die neue Heilslehre vom Drama der Zukunft ver¬
kündete — infolge deren sich alle vorher entstandenen Opern gleichsam in die
Rumpelkammer verwiesen haben —, so ungelenke Bewunderung gefunden, wie
Mozarts Don Juan. Dieses Werk war das Entzücken und die Freude aller
Musikliebhaber und die Wonne der Kenner, die darin den Triumph der musika¬
lischen Kunst überhaupt und den Scheitelpunkt aller dramatisch-musikalischen Lei¬
stungen insbesondere erblickten. Wir sagten, die Oper Don Juan war dies alles, wir
dürfen weiter gehen und behaupten, sie ist es noch, denn außer einer verschwin¬
dend kleinen Anzahl von Anhängern des Propheten der Zukunftsmusik, meist
solchen Leuten, deren Nerven durch ganz besondere Reizmittel erst gekitzelt werden
müssen, sollen sie einer Erregung fähig werden, und jenen literarischen Satelliten,
die als Apostel der neuen Kunstlehre mit beredten Worten die Unfehlbarkeit
ihres Propheten preisen und seine Thaten mit Hellem, weithin schallenden Po-
saunenton verkünden, ist doch die große Mehrheit der Künstler und des Publi¬
kums.den alten Ueberlieferungen und Anschauungen bis heute getreu geblieben
und eben jetzt hat die vor achtzig Jahren componirte Oper zu neuen Triumph-
zügen weit über Deutschlands Grenzen hinaus sich wiederum aufgemacht und
überall gründet sie sich eine Stätte, bezaubert und beseligt sie die Hörer, be¬
festigt sie ihren alten wohlverdienten Ruhm.
Der Don Juan wurde bekanntlich im Jahre 1787 componirt und am
29. October dieses Jahres zum ersten Male in Prag ausgeführt. Drei Stücke
der Oper sind erst im April 1788 entstanden, um bei der in Wien am 7. Mai
stattfindenden Darstellung verwendet zu werden. Die Oper wurde in Prag mit
dem lautesten Enthusiasmus, in Wien nur kalt aufgenommen. Dort war die
ganze Stadt dem Komponisten in Freundschaft und Bewunderung zugethan, hier
wimmelte es von Gegnern. Neidern und Feinden seines Talents. Nur allmälig
siegte das neue, wundersame Werk auch hier und von nun blieb es als Oper
aller Opern bis auf den von uns oben bezeichneten Moment in Wien wie über¬
all in unbestrittenen Vorrange.
Um keine andere Schöpfung des herrlichen Meisters, das Requiem vielleicht
ausgenommen, ranken sich so viele Sagen, Erzählungen und Anekdoten, keine
andere hat die Poesie reicher ausgeschmückt. Bei keiner seiner übrigen Opern
wurde ihm aber auch vom Dichter in glücklicherer Weise vorgearbeitet. Mit
dem Texte des Don Juan hat es eine eigene Bewandtnis;. Die Sage von
einem Helden dieses Namens reicht in das vierzehnte Jahrhundert zurück. Don
Juan Tenorio von Sevilla, ein Genosse des Königs Pedro des Grausamen
(regierte von 1330 — 1369). soll in seinem Uebermuthe die Statue eines von
ihm im Zweikampfe erschlagenen Cointhnrs Ulloa zur Tafel geladen haben.
Vergeblich von dem sich pünktlich einstellenden Gespenste zur Buße ernährt,
verfiel er endlich zur Strafe für seine Thorheiten und Sünden der Hölle. Schon
frühe war diese Sage von einem sonst wenig bekannten Dichter Juan de la Cueva
dramatisch bearbeitet und lange Zeit in den Klöster» unter dem Titel: it! ^tvistu
t'ulmimuw beifällig vorgestellt worden, bis endlich Gabriel Tellez, ein Zeit¬
genosse des Lope de Vega, Prior eines Klosters der barmherzigen Brüder in
Madrid, unter dem Namen Tirso de Molina als einer der ausgezeichnetsten
und fruchtbarsten dramatischen Dichter Spaniens bekannt, sich des Stoffes be¬
mächtigte und daraus seinen „Iwi'Iaäor et; Levit!» conviclaelo av Meil-a,"
schuf. Dieses nach Anlage und Ausführung etwas flüchtige Werk, das aber
trojzdcm zahlreiche Partien bietet, wie sie nur ein Dichter hohen Ranges zu
geben im Stande ist, enthält bereits die Grundzüge der ganzen Handlung der
späteren Oper. Das Stück kann als ein vortreffliches Sittengemälde gelten,
das vielfach mit jener Freiheit, Feinheit und Eleganz ausgeführt erscheint, welche
als charakteristische Mnkmale nur den Bühncnwerken der spanischen Dichter
eigen sind. Der Don Juan des Molina rief selbst in Spanien bemerkens-
werthe Nachahmungen hervor. 1725 bearbeitete Antonio de Zamora, Kammer¬
herr Philipp des Fünften, unter dem Titel: „Rom Ira-z? cleuäs, Al« von so lag'ne
Z5- eonvicliielo all piuärn," den gleichen Stoff und ein anderes höchst bedeutendes
Werk, der „Don Juan Tenorio", religiös-phantastisches Drama in zwei Ab¬
theilungen des Don Josv Zorrilla. entstand noch in unserem Jahrhundert.
Bon Spanien aus kam Mvlinas Drama bald (schon 1620) nach Italien.
Umgearbeitet von Onofrio Giliberti ward es 1652 in Neapel wiederum auf¬
geführt. Unter dem gleichen Titel ließen Giacinto Andrea Cicognini 1670 und
Andrea Perncci 1678 ihre Überarbeitungen folgen. Der Gegenstand erhielt
sich so ungeschwächt in der Gunst des Publikums, daß die italienischen Schau¬
spieler scherzweise sagten: der Urheber des Stückes müsse selbst sich dem Teufel
ergeben haben, sonst würde es nicht so unausgesetzt die Menge anziehen können.
Eine würdige Gestalt erhielt in Italien der Don Inca jedoch erst durch
Goldoni. der, wie er selbst sa^te, nur mit Entsetzen die muuvuiM pioeo
WMg'noto ansehen konnte. Sein Don KioviMlri Ivirorio ossiu. it vissoluw
wurde 1736 zuerst in Venedig dargestellt.
Seit den Zeiten der Königin Maria von Medici gehörten die Vorstellungen
italienischer Schausvielertruppen. zu denen sich bald auch die spanischen Komödian-
'
ten gesellten, zu den Lieblingsunterhaltungen des französischen Hofes und des
pariser Publikums. Einer Bühne, die so sehr unter fremdem Einfluß stand, daß
lange Jahre hindurch die nationale Entwickelung des Schauspiels wie der Poesie
überhaupt gradezu unmöglich gemacht war, konnte ein so origineller und an¬
ziehender Stoff nicht lange vorenthalten bleiben. Fast gleichzeitig führten Spa¬
nier und Italiener den Don Juan in Paris auf. Im Jahre 1659 ward
Molinas Burlador gegeben. Die Italiener waren dem aber zuvorgekommen,
denn schon 1657 agirten sie im Hotel du Bourgogne eine Farce Don Juan,
unter außerordentlichem Zulauf, der sich noch steigerte, als dieselbe 1673 und
1717 mit neuer und prächtigerer Ausstattung wiederholt wurde.
Die französischen Schauspieler, eifersüchtig auf den unerhörten Beifall, den
die Piöce bei ihren italienischen Nebenbuhlern fand, beeilten sich, den Stoff nun
auch für ihre Bühne zu gewinnen. Als Ludwig der Vierzehnte 1658 mit der
Prinzessin von Savoyen in Lyon zusammentraf, führte Dorimont eine Um¬
arbeitung des giliberiischen Stückes unter dem Titel: „I.o losem ä<z on
ve Ah erimiuLl" auf. Als er damit 1661 nach Paris kam, fand er, daß ihm
de Villers bereits zuvorgekommen war, der den Don Juan in französischer
Sprache schon seit 1659 gab. Bald gesellte sich zu diesen beiden Bearbeitungen
Molivres selbständige Dichtung: „von ^Sinn on lo alö pierre", die 1665
zuerst im Theater des Palais Royal dargestellt wurde. Dieses Werk, das von
dem heitern, phantastischen Charakter des Originals nur kaum erkennbare Spuren
übrig gelassen hatte, kam zu Lebzeiten des Dichters nur funfzehnmal zur Auf¬
führung. Erst als es Thom. Corneille in Verse umgedichtet hatte, erhielt es
sich (seit 1677) dauernd auf der Bühne, bis erst 1847 Moliöres Komödie wieder
in ihre Rechte eintrat.
Zu Anfang der siebziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts wurden im
Theater du Marais zu Paris die glänzendsten Decorations- und Svcctakelstücke
und zwar gegen hohe Eintrittspreise gegeben. Wie konnte hier der Don Juan
übersehen werden, der so schöne Gelegenheit bot zu prächtigen Scenen und
brillantem Feuerwerk? 1669 führte man daher auch hier eine 'IiÄgi-causale:
,,vo tsstin ne ?i<Zi-l-L on, l'gMÄstc; touclroz^ ZM- liosimoircl" auf. Der Be¬
arbeiter halte die Vorsicht gebraucht, die Handlung in bie Zeiten des Heiden-
thums zurückzuvcrlegen, um ungestraft seinen Atheisten recht prahlen und poltern
lassen zu können.
Der Don Juan war nun auf dem besten Wege, seine Reise durch Europa
zu vollenden. 1676 wurde in London mit großem Erfolg das Stück: „videi'-
eins acht-ro^oÄ" von Th. Shadwell (1640—1692). vootÄ laureatus unter
Wilhelm dem Dritten, gegeben und vermuthlich verschleppten endlich englische
Komödianten das Stück nach Deutschland. Man hat noch den Text einiger
alten in Augsburg, Ulm und Straschurg gegebenen Puppenspiele*). Den Juan
und Faust wurden und blieben die beiden Lieblingshelden der deutschen Bühne
des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Der berühmte Hanswurst des
wiener Theaters Pichauser machte 17l6 seinen ersten dramatischen Versuch als
Don Philipps im Don Juan, welches Stück regelmäßig bis 1772 in der Aller-
seelenoctav die Wiener entzückte, und der bekannte Schröder, der 1766 in Ham¬
burg den Spanarell spielte, übertraf in dieser Rolle selbst hochgespannte Er¬
wartungen. Schon seit 1742 befand sich übrigens ein Nachspiel Don Juan
auf dem Repertoire der ackermarinschcn Gesellschaft, der er angehörte.
Alle diese Stücke, mit Ausnahme der Originaldichtungen von Tirso de Mo¬
lina, Meliere und Goldoni und einigen anderen, waren sogenannte Farcen,
denen blos eine samische Anordnung zu Grunde lag, deren Dialog aber meist
nur improvisirt wurde. Daß bei solcher traditionellen Fortpflanzung der Piöce
allmälig das Burleske die Oberhand gewinnen mußte,- ist begreiflich. Zulcht
traten die Liebesabenteuer Don Juans vor seinen Mordthaten zurück und end¬
lich war nicht mehr er, sondern sein lustiger Diener Hanswurst die Hauptperson.
Die bisher gegebenen und hier der Reihe nach genannten Don Juans
waren Trauer-, Schon- und Lustspiele, wohl auch Possen der gewöhnlichsten
Art. Nun bemächtigte sich auch das Ballet dieses Stoffes. Es ist bekannt
daß Gluck zu einem 1761 in Wien aufgeführten Ballet dieses Namens die Musik
schrieb. Auch die ackermannsche Truppe gab seit 1769 ein pantomimisches
Ballet unter dem gleichen Titel, das jedoch wohl kaum das glucksche gewesen
sein dürfte.
Nicht genug damit, die Oper begann an diesem Gegenstände ebenfalls Ge¬
schmack zu finden. 1713 an ,jöu l'Oetavv brachte Le Tellier eine komische Oper:
1.6 destin cle ?ivrro in drei Acten und <zu vauävvilles sank? xrvRö auf das
Theater ac 1a koiro 8. (Zermain, die lebhaften Beifall fand und in den ersten
Aufführungen nur dadurch Anstoß erregte, weil zum Schlusse die Hölle vor¬
gestellt wurde. Die Polizei verbot daher die Fortsetzung der Ausführungen, ge¬
stattete sie aber wenige Tage nach Erlaß ihres Verbotes dennoch. Interessant
ist es, zu erfahren, daß bereits 1777 der beliebte Componist Vinc. Righini,
') Don Juan und Don Pietro oder das steinerne Todten - Gastmahl. Trauerspiel in
3 Theilen und 9 Auszügen. (Augsburg.)
Don Juan oder der steinerne Gast. Schauspiel in » Auszügen. (Straßburg.)
Don Juan. Ein Trauerspiel in 4 Aufzügen. (Ulm.)
Diese drei Stücke nebst Kahlerts lcscusivcrther Abhandlung über die Sage des Don
Jtian und Pr. Mvnmüe's: Die Seelen des Fegfeuers oder die beiden Don Juans, nebst
andern auf den Gegenstand bezüglichen Anmerkungen, find mitgccheilt in Scheiblcs Kloster
Vd. III. p, vsiZ—84N.
damals Sänger und Tonsetzer bei der bustellischen Truppe, ein diammg, ti-ggi-
eomiec) von ^u»n unter dem Titel: „II <:ynvj<Ate> all pistrg, osia it äissoluw"
in Prag auf derselben Bühne, auf der zehn Jahre später Mozarts Don Juan
zuerst erschien, zur Aufführung gebracht hatte. Diese Oper wurde auch in
Wien, Braunschweig und anderen Städten mit Beifall gegeben.
Noch erübrigt uns von einer Oper: ,,Loirvitg,to all xietra" von Gazzaniga.
1788 in Bergamo gegeben, zu sprechen. Dieses Wert, ob auf den Text
da Ponies componirt, vermögen wir nicht zu entscheiden, wurde 1789 in Mailand,
1791 in Paris, 1792 in Lucca und in London aufgeführt. Goethe sah es
1788 in Rom und erzählt, daß es vier Wochen hindurch ununterbrochen wieder¬
holt worden sei und daß niemand leben konnte, der nicht den Don Juan in
der Hölle hatte braten und den Gouverneur als seligen 'Geist gen Himmel
fahren sehen.
Ms diesem allbekannten und allbeliebten Stoffe nun schuf Loienzo da
Porte, der Sende seiner Zeit, geschickt und talentvoll wie dieser, wenn auch
nicht ebenso fleißig und- minder praktisch im Erwerben eines großen Vermögens,
einen neuen Operntext. Der Dichter erzählt selbst mit ergötzlichen Renvmmiren.
daß er gleichzeitig für Salicri den Tarar nach Beaumarchais, für Martini den
Baum der Diana nach eigener Eisindung und sür Mozart den Don Giovanni
geschrieben habe. Ehe er für Salieri arbeitete (des Morgens), begeisterte er sich
durch die Lectüre des Tasso, für Martini etes Abends) durch die des Petrarka,
um aber für Mozart sich in die rechte Stimmung zu bringen, wählte er die
Nacht und las vorher einige Seiten in Dantes Hölle. Hören wir seinen eigenen
Bericht über die Entstehung des Werkes, das im Verein mit I.g noüüv 6i ?i-
Mix) und (^ohl tan oden und in der Verbindung, die er durch diese Poesien
mit Mozart gewann, seinen Namen allein auf die Nachwelt bringen sollte,
denn seine übrigen Dichtungen sind vergessen. „Gegen Mitternacht," so erzählt
er selbst, „feste ich mich an meinen Arbeitstisch; eine Flasche vortrefflicher
Tokayerwein stand rechts vor mir. mein Schreibzeug links, eine Tabaksdose voll
Tabak aus Sevilla vor mir. Um jene Zeit wohnte ein junges und schönes
Mädchen von sechzehn Jahren, die ich nur halte wie ein Vater lieben mögen,
mit ihrer Mutter in meinem Hause; sie kam stets in mein Zimmer zur Ver¬
richtung kleiner innerer Dienste, sobald ich mit der Klingel schellte, um etwas
zu verlangen; ich mißbrauchte etwas diese Klingel, zumal wenn ich meine Wärme
schwinden und ein Erkalten fühlte. Dies reizende Mädchen brachte mir dann
bald etwas Bisquit. bald eine Tasse Chocolade, bald nur ihr stets heiteres,
stets lächelndes Antlitz, das eigens geschaffen war, um den ermüdete» Geist
wieder zu erheitern und die poetische Begeisterung neu zu erwecken. Ich unter¬
zog mich also zwölf Stunden täglich hinter einander mit ,nur kurzen Unter¬
brechungen meinen Arbeiten und dies zwei Monate hindurch. Während
dieser ganzen Zeit blieb mein schönes junges Mädchen mit ihrer Mutter in
dem benachbarten Zimmer, entweder mit Lectüre oder Stickerei oder mit andrer
Nadelarbeit beschäftigt, um stets bereit zu sein, beim ersten Glockenklang vor
mir zu erscheinen. Da sie fürchtete, mich in meiner Arbeit zu stören, saß sie
zuweilen unbeweglich, ohne den Mund zu öffnen, ohne mit den Augenlidern zu
blinzeln, den Blick starr auf meine Schreiberei geheftet, sanft athmend, anmuthig
lächelnd und zu Zeiten selbst zu Thränen geneigt scheinend über den Ausgang
der Arbeit, in welche ich vertieft war. Ich tluigclte schließlich weniger häusig,
um ihrer Dienste zu entbehren und mich nicht zu zerstreuen oder meine Zeit bei
ihrem Anschauen zu verlieren. So zwischen dem Wein von Totay, dem
Schnupftabak von Sevilla, der Klingel auf meinem Tische und der schönen
Deutschen, die der jüngsten der Musen glich, schrieb ich die erste Nacht für
Mozart die beiden ersten Scenen des Don Juan, zwei Acte vom Baum der
Diana und mehr als die Hälfte des ersten Actes von Tarare, welchen Titel ich
jedoch in den von Axur umänderte. Am nächsten Morgen trug ich die Arbeit
zu meinen drei Komponisten, die ihren Augen nicht recht trauen wollten. In
zwei Monaten waren Don Juan und der Baum der Diana beendigt, auch be¬
reits mehr als das Dritel des Axnr fertig."
Man sollte meinen, daß nach so zahlreichen Vorarbeiten, die da Ponte vor¬
lagen, ihm die Ausarbeitung des Librettos nur geringe Mühe machen konnte.
Aber abgesehen davon, daß schon die Wahl des Stoffes eine äußerst glückliche
genannt werden muß, so geben auch die Aenderungen, die er in den Gang der
Fabel brachte, Zeugniß von ungewöhnlicher Einsicht für das dramatisch Wirk¬
same und für ein ganz respectables poetisches Talent und ebenso ist der Fleiß
und die Sorgfalt, die er auf seine Verse verwandte, höchst anerkennenswerth.
Es gelang ihm, die im Laufe der Zeit zur gemeinen Burleske hcrabgesunkene
Fabel wiederum emporzuheben und aus der Hand eines talentvollen und geist¬
reichen Dichters ist so ein neues veredeltes Werk hervorgegangen, das fortan
der Theilnahme der gebildeten Welt sich würdig erwies und — allerdings fällt
dabei auf Mozart die größte Summe des Antheils — für alle kommenden
Zeiten Bewunderer finden wird. Wir wollen hier nicht weiter untersuchen,
welchen beachtenswerthen Förderer seiner Dichtung da Ponte in dem vortreff¬
lichen Tokayer und in seiner lieblichen Freundin fand, so viel ist unbestreitbar,
daß es wenig bessere Operntexte giebt als seineu Don Juan.*)
Es konnte, nachdem die neue Oper — von der man bald erkannt hatte,
daß sie in gleicher Weise den Gipfelpunkt der italienischen wie der deutschen
Musik bildete — perdienten Beifall einmal gefunden und ihren Weg durch die
Welt angetreten hatte, nicht ausbleiben, daß ihr Text auch ins Deutsche über¬
sehe wurde. Wenn Spanier, Franzosen und Engländer sich damit zufrieden
geben, eine Oper in einer Sprache vorgeführt zu sehen, die sie nicht verstehen,
so ist dies doch in Deutschland wesentlich anders. Unsrem Verlangen, nur
deutsch singen zu hören, haben wir eine unzählige Menge der abscheulichsten
Uebersetzungen und nur sehr wenige gute Originaltexte zu verdanken. Kein
anderer Operntext aber hat so zahlreiche Dolmetscher gefunden, als der des
Don Juan und es ist in der That interessant, die Bemühungen zu verfolgen,
die seinetwegen gemacht worden sind. Die Zahl der Uebertragungen wurde in
jüngster Zeit durch eine ebenso fleißige, als von größter Liebe und Einsicht
Zeugniß gebende Arbeit vermehrt; dennoch werden die Bestrebungen nach Voll¬
endetcren Ueberhebungen auch dadurch noch nicht als abgeschlossen zu betrachten
sein. Im vorliegenden Falle bestätigen eben die zahlreich versuchten Ueber-
tragungen zunächst das Interesse für das musikalische Kunstwerk und geben einen
unumstößlichen Beweis für dessen seltene Vorzüglichkeit und für die Anerkennung
derselben.
Die erste Ueberseizung wurde wohl von Mozart selbst begonnen, aber leider
nnr bis zum Schlüsse der Introduction vollendet; außerdem ist der größte
Theil des zweiten Finales von ihm übertragen. Mozart war bekanntlich ein
Meister in launigen Knittelversen. Viel höhere Anforderungen wurden aber zu
seiner Zeit in Wien an den Operntext nicht gemacht; wir finden in deutschen
Textbüchern ans jenen Tagen die abschreckendsten Reimereien. Mozarts Ver¬
deutschung ist kein poetisches Meisterwerk, aber es ist mindestens ebenso gut als
dasjenige, was Librettoschreiber von Ruf, z, B. Stcfsani d. I., Brctzner, sanfter,
Pcrinek, Schickancdcr und andere in diesem Fache gegeben haben. Als Beispiel
und zum Vergleich lassen wir eine allgemein bekannte Arie in Mozarts Ueber-
tragung hier folgen:
Ilitrodusioii«.
Leporello (krähet auf und ab).
Nacht und Tag im ganzen Jahr,
Keine Ruhe, meist Gefahr!
Schlechten Lohn und Prügel gar!
Wohl bekomm' es dir, Hans Narr;
Nein so kann es nicht mehr gehen!
Ja, ich laufe gleich davon!
Gute Nacht, mein Herr Patron!
O daß ihm der Spaß bekomme!
Drinnen löset mein Geselle
Und ich friere auf der Schwelle.
Aber he! — beim Elemente!
Lärmen giebt es wieder hier
Leporello sich' dich für. (Er salviret sich.) u. f. f.
Der Don Juan wurde bereits 1789 in Mannheim, Bonn und Hamburg
und 1790 auch in Berlin mit deutschem Texte aufgeführt. Wer diese Ueber-
setzungen gemacht hat, vermögen wir nicht anzugeben; wahrscheinlich waren sie,
wie dies gewöhnlich so geht, in der Eile verfertigt und als ganz werthlos später
wieder vergessen worden. Aber eine Übertragung aus dem Jahre 1789 und
zwar eine höchst interessante, hat sich glücklicherweise erhalten. Sie wurde von
dem donner Kapellmeister E. G. Reese. einem literarisch gebildeten und schriftstelle¬
risch geübten Manne gemacht und hat zunächst nur die Eigenthümlichkeit, daß der
Titel und das Personal durchweg und höchst auffallend verändert ist. Die
Oper heißt:
Der bestrafte Wollüstling oder der Krug geht so lange zu Wasser.
bis er bricht.
Ein komisches Singspiel in zwei Auszügen, nach der Musik des Herrn Kapell¬
meisters Mozart.*)
Personen:
Abgesehen von dieser geschmacklosen Umschreibung ist die Arbeit Necfes
gar nicht so übel und man darf unbedenklich behaupten, daß sie allen folgenden
Uebersetzungen zur Grundlage diente. Jedenfalls benutzte sie Schröder in Ham¬
burg und Rochlitz in Leipzig, dessen Uebertragung ja heute noch (leider!) in fast
allgemeinem Gebrauche ist. Neefes Uebersetzung ist nämlich, was einzelne Worte
und Barse anbetrifft, oft von Rochlitz herübergenommen worden. So gleicht
z. B. das Duett zwischen Don Juan und Zerline in der Fassung von Reese
der heute bekannten sehr:
H. v. Schwänkereich:
Laß uns von hinnen weichen,
Komm in mein Haus mit mir;
Die Hand dir dort zu reichen;
Es ist nicht weit von hier. u. s. w.
Röschen:
Wie? darf ich es wohl wagen?
Soll oder soll ich nicht?
Ich fühl mein Herze schlagen —
Ob er wohl ernstlich spricht!
H. v. Schwänkereich:
Komm doch, du mein Vergnügen!
Röschen:
Ihn, Gürgen, zu betrügen?
H. v. Schwänkereich:
Dich in dein Glück zu fügen.
Röschen:
Ja, ja! — ich muß erliegen u. f. w.
Allerdings finden sich bei Reese zahlreiche Geschmacklosigkeiten. So z. B.
ruft Ottavio, als er seine Braut ohnmächtig neben den Leichnam ihres Vaters
hingesunken sieht:
H. v. Frischblut:
O eilt zu Hilfe, Freunde,
Meiner Geliebten!
Holt Essig! Bringt Lebensbalsam her! u. s. w.
Und unendlich komisch klingt es, den Geist beim Eintritt zu Don Juan
singen zu hören:
Herr von Schwänkereich! Mit dir zu speisen
Bin ich geladen. Siehe! ich komme!
und Don Juan darauf antwortend:
Das hätt' ich nicht mehr gcglaubct.
Doch ich thu, was ich vermag.
Fickfack! laß ein andres Essen
Eilends auf die Tafel tragen, u. s. w.
Auffallend bleibt, daß man trotz des Gefühls für die UngenauigMen und
den Ungeschmack der rochiitzschen Leistung doch zu keiner vollständig neuen schritt,
sondern immer nur an den vorhandenen wiederum herumflickte. War doch dies
schon der Hauptfehler Nochlitzens selbst gewesen, der — er war Redacteur der
damals fast allmächtigen Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung — gar
wohl das Zeug gehabt hätte, auf Grund des Originaltextes und der Original¬
partitur ein frisches Libretto herzustellen. Aus der bei Breitkopf und Härtel in
Leipzig erschienenen Partitur ging die rochlitzsche Uebersetzung, die ihr beigegeben
war, in den ebenda gedruckten Klavierauszug und von dort in alle die zahl¬
losen Nachdrucke über. Nach dieser Ausgabe haben alle Sänger, die im Don
Juan zu thun haben, ihre Partien siudirt und hat das Publikum den Text
längst auswendig gelernt, man vermag daraus zu folgern, wie schwer es
nun halten muß, hier durchzugreifen und einer andern bessern Uebersetzung all¬
gemeinen Eingang zu verschaffen. An Versuchen hat es nicht gefehlt. Zuerst
nach Reese und Rochlitz versuchte sich der bekannte Kunstschriftsteller Kugler,
dann Vivi (Breslau, 1858) und fast gleichzeitig mit ihm Professor Bischof in
Köln. 1860 veröffentlichte v. Wolzogen seine Überarbeitung, der bald eine
andre von Dr. Wendung. Schloßverwalter in Nymphenburg bei München, einem
einsichtsvollen und begeisterten Musiker, sich gesellte. Außerdem existiren in den
Textbüchern der verschiedenen größeren Bühnen zahllose Varianten, die entweder
durch das Herkommen eine gewisse Berechtigung sich erworben haben oder durch
welche gewissen Widersprüchen, veranlaßt durch die Ungenauigkeit der Ueber¬
setzungen, abgeholfen werden soll. Noch bleibt hier eine Verdeutschung (von
C. v. Holtet?) zu erwähnen, die für das königstädtische Theater in Berlin, als
dieselbe noch eine italienische Oper hatte, gemacht wurde, auf die wir' aber hier
nicht näher eingehen, da sie nicht selbst zum Gesange bestimmt war, sondern
nur eine Uebersetzung des gegenübergedruckten italienischen Textes, wenn auch
in Versen, war. Die jüngste Bearbeitung endlich ist die Eingangs erwähnte
Uebersetzung von Bitter.
Um eine Uebersicht der verschiedenen Übertragungen zu gewinnen, stellen
wir hier z. B. die Kampfscene zwischen Don Juan und dem Comthur in einigen
Uebersetzungen sich gegenüber:
Wörtliche Uebersetzung:
Laß sie, Unwürdiger, schlage dich mit mir!
Fort mit dir! Nicht werth bist du,
Daß ich mit dir kämpfe!
Also willst du vor mir fliehen?
Fort, mit dir kämpf ich nicht!
Halt! gieb mir Antwort mit dem Degen.
Laß nur in Frieden meinen Degen.Trägst du den Degen und brauchst ihn nicht?
Väterchen weiß nicht was es spricht!
Comthur: Stehe mir!
Don Juan: Elender! Zittrc! du willst sterben!
Reese: Comthur: Laß sie, Verwegner!
Und schlag dich mit mir!Don Juan: Ich müßte mich schämen
Schlug ich mich mit dir.Comthur: So meinst du, Feiger.
Mir zu entgehn?Don Juan: Warte, bald soll dir
Dein Trotzen vergeh»!
Bube! zieh!
Narr! cntflieh!
Comthur (schlägt den D. I. mit dem
Degen):Schurke! zieh!
Don Juan: Elender! Nun wehr dich!
Es ist vorbei mit dir.
Rochlitz: Laß sie Verführer! Zieh deinen Degen!
Wie, grauer Alter, noch so verwegen?
Elender Bube, das sollst du seh»!
Das Feuer steht euch schön.
Feiger ich? (!!!)Comthur: Feiger du!
Don Juan: Feiger ich? Zittrc!
Bald soll dir dein Trotz vergeh» !
Bitter: Laß sie Uuwürd'ger! Steh mir zum
Kampfe!Fort, ich verachte es, mit dir zu fechte»!
Also vermagst du vor mir zu fliehn?
Ich mit dir fechten! Nein!
Feige vermagst du vor mir zu fliehn?
Elender!
Stehe mir!
Elender! Zittre! Der Tod harrt dein!
Wolzogen: Comthur: Don Juan: Nein! überlegen bin ich dir, Alter!
Comthur: Don Juan: Sei nicht verwegen, geh!
Comthur: Don Juan: Armer Greis?
Comthur: Schlage dich!
Don Juan:
Man vermag daraus ohngefähr zu ersehen, wie das Original von den
Uebe> Scherr behandelt wurde.
Zu den gelungensten Arien der Oper zählen unstreitig die unvergleichliche
Ncgisterarie und das reizende Ständchen, aber wie übel sind beide in den bis¬
herigen Uebertragungen weggekommen! Jede Originalität der musikalischen
Auffassung ist dadurch verwischt, jede Feinheit, jede Grazie des Originals ver¬
nichtet worden. Vergleiche man nur die unübertrefflich vom Komponisten aus¬
gedrückten Worte: lZ ig, grauäv maestosa, in, pieeiuu. ö aguor vo^^osa!
Nochlijz: Wolzogen:
Um dann jede Preis zu geben,
Das ist sein verdammtes Leben!Heftig schwärmt er für die Großen,
Liebt mit Kleinen (winzig Kleinen) auch
zu kosen.
Bitter:
Große liebt er stolz und prächtig,
Doch die Kleine reizvoll und schmächtig.
Rochus läßt jenes reizende Parlando auf la pieoma auf das Wort: jede,
was gar nicht hcrpaßt, Wolzogen, auf das Wort winzig, was einen ganz
falschen Sinn giebt, wiederholen und erst Bitter giebt den entsprechenden Aus¬
druck.
Wir berühren noch eine Stelle in derselben Arie, den ebenso wirkungsvoll
gesteigerten als burlesken Schluß. Man kann die Unverschämtheit eines vor¬
lauten Bedienten und brauchbaren Werkzeuges der Ausschweifungen eines leicht¬
fertigen Herrn, der die weinende verlassene Geliebte desselben, eine Dame von
Bildung und Stand verhöhnt, nicht stärker und treffender zeichnen, als es hier
vom Componisten geschehen ist. Die Worte da Pontes heißen: ?uiolrö porti
in Aonvollu,, voi LÄpeto, «mei ete tu,.
Wörtliche Uebersetzung:
Wenn sie nur den Unterrock trägt,
Ihr wißt ja, wie er's macht.
Bekannte Ueberhebung:
Und nun punktum, Streusand drüber,
Sehen sie, das ist ihr Mann.
Wenn allein ihr Mündchen weich ist,
Nun das Weitre giebt sich bald.
Reese:
Jeder Wcibsrock ist ihm recht
Und nun punktum,
Ich bin ihr ergebner Knecht.
Drum, o Schöne, laß ihn laufe».
Er ist deines Zorns nicht werth,
Alles nimmt er. was er kann
Nun — da kennt ihr euern Mann!
Bitter: Welche Schürze ihn auch anlacht —
Nun, ihr wißt ja wie er's macht.
Solche augenfällige Willkür und ein solches Verkennen des Verhältnisses
der Worte zur musikalischen Charakteristik bedarf keiner ferneren Bemerkungen.
Wir gehen nun weiter zu dem Ständchen. Man kann sich zu einer wonne¬
vollen Musik einen holperigeren, öderen Text nicht denken, als der es ist.
den man in der Regel dazu zu hören bekommt.
Rochlitz: Erklinge, liebe Zither: das Liebchen lauschet!
Erklinge bis sie Seel' um Seele lauschet!
Erzähl im sanften Ton der Schönsten meine Pein,
Dann schmilzt ihr weiches Herz und läßt mich glücklich sein.O du, in deren Busen Liebe thronet;
Blaues, schmachtendes Aug', in dem Sanftmut!) wohnet:
Du kennst von Liebe nur — ach, ihre Schmerzen,
Lern auch der Liebe Glück: hier, Herz am Herzen.Wolzogen: Horch auf den Klang der Laute und öffne mir, o Tranke!
Ach, lind're meine Pein und laß mich glücklich sein!
Läßt du mich trostlos flehen, so macht ein rascher Tod,
Harthcrz'ge, sollst es sehen, das Ende meiner Noth!Dein Auge gleicht der Sonne, dem Honigseim dein Mund,
O mach', du meine Wonne, mir bald mein Glücke kund.
Erhöre doch mein Flehen, du weißt ich hab dich lieb!
Laß dich doch endlich sehen, komm, loser Herzensdieb!Bitter: O öffne doch das Fenster, du Holde, Süße!
Hör' meine Klagen an, sieh' meine Thränen!
Giebst du mir keinen Trost, dann, Theure, wisse,
Vor deinen Augen hier starb ich vor Sehnen.
Dein Mund, so zart und rosig, hauchet Wonne,
Heiße Glut füllt die Brust mit. sanftem Triebe!
O sei nicht grausam mir, du meine Sonne!
Laß mich dein Antlitz seh'n im Strahl der Liebe!
Es würde zu weit führen, wollten wir die Auswahl solcher Partien und
die Gegenüberstellung andrer Lesarten fortsetzen. Schon aus wenigen Proben
wird man erkennen, wie hoch Bitters Uebersetzung über den früheren steht.
Unrichtigkeiten. Geschmacklosigkeiten, Willkürliches und Unpassendes ist fast in
allen früheren Übertragungen nachzuweisen und es ließe sich ein Buch darüber
schreiben, wollte man eingehend auf die einzelnen Fälle zurückkommen. Dennoch
war es den verschiedenen späteren Bearbeitern wirklich Ernst darum, eine des
Gegenstandes würdige Verdeutschung zu geben und wir haben es hier keines-
Wegs mit solchen Übertragungen zu thun, wie sie fabrikmäßig dutzendweise zu
andern italienischen und französischen Opern geliefert wurden. Jetzt erst hat man
erkannt, wie schwer dergleichen ist.
Zum ersten Male liegt nun in der bitterschen Uebertragung ein Textbuch
des Don Juan vor, dessen man sich durchgehends erfreuen kann. Möglich, daß
einstens noch eine Verdeutschung gelingt, die mehr poetischen Reiz, noch größeren
innerlichen dichterischen Zauber hat, die den Gedanken an eine Uebersetzung ganz
vergessen läßt, aber begnügen wir uns vorerst mit dem Vorhandenen. Der
Don Juan in dieser neuen Uebertragung ist zugleich eine anmuthende Lectüre.
der Musik und der Darstellung wird ihre Aufnahme wesentlich zu Statten
kommen.
Daß es der gründliche und musikalisch hochgebildete Biograph I. S. Bachs,
der jenem trefflichen ersten Werke in dem vorliegenden Buche so rasch ein neues
schätzbares Zeugniß seiner Studien und seines Kunsteifers folgen ließ, nicht blos
auf Herausgabe seiner Ueberseßung allein abgesehen haben konnte, versteht sich.
Sein Buch giebt nicht nur die vollständige Verdeutschung des italienischen
Originals, wie es da Ponte schrieb, sondern auch dieses selbst. Weiter enthält
es eine eingehende Würdigung aller bereits vorliegenden Übersetzungen, eine
ebenso wirksame als fesselnde Darstellung der Charaktere der Oper, Bemerkun¬
gen über die samische Darstellung und die ruhige, einsichtige Abwägung einiger
immer wiederkehrender Controversen in Bezug auf dieselbe, ferner Anhänge
und Nachträge, die in engster Beziehung zu dem Gegenstande stehen. Seinen
ästhetischen Entscheidungen Pflichten wir vollständig bei. Wer noch eingehendere
Darstellung alles desjenigen, was auf den Don Juan Bezug hat. wünscht und
sucht, der findet dieselbe in Jahns großer Mozartbiographie (Band IV). Aber
auch neben diesem Meisterwerke darf Bitters Monographie als eine wesentliche
Bereicherung der Mozartliteratur angesehen werden.
Wir verzichten darauf, auch noch den zweiten Theil des in Rede stehenden
Werkes, die Uebersetzung von „Glucks Iphigenie in Tauris" und die sie be¬
gleitenden kritischen Bemerkungen näher ins Auge zu fassen. Es läßt sich darüber
in Bausch und Bogen nur ebenso Günstiges sagen, wie über den Don Juan
und somit sei auch diese werthvolle Arbeit der freundlichen Beachtung und Theil¬
Die Schneeflocken tanzen, der Wintersturm fährt über die Bergtannen und
die Wogen des empörten Meeres, unter der schützenden Schneedecke harren die
Saaten des neuen Frühjahrs; unterdeß rüstet sich der Deutsche zu der ersten
großen Arbeit im neuen Staat und hofft, daß der neue Reichstag wie ein Thau¬
wind das Eis schmelzen werde, welches noch die Herzen vieler Deutschen von
dem neuen Staatsbäu fern hält.
Schaut man jetzt über die Grenzen des neuen Bundes, so zeigen sich über¬
all die innern Verhältnisse der Staaten einer friedlichen Durchführung unserer
Politischen Aufgaben günstiger, als man vor wenig Monden zu hoffen wagte.
In den Regierungen der Südstaaten ist die Ueberzeugung befestigt, daß Preußen
eine ernsthafte Abneigung dagegen hat, die Mainlinie für den Bundesstaat zu
überschreiten. Man vernimmt, daß mi Anerbieten von Hessen-Darmstadt, mit seinem
ganzen Territorium in den Bundesstaat zu treten, in Berlin nicht angenommen
worden sei, dagegen hat sich das berliner Cabinet dem Süden gegenüber be¬
reit erklärt, durch Specialvcrträge, welche verschiedene Kreise gemeinsamer Inter¬
essen umfassen, eine Verbindung herzustellen, welche die Selbständigkeit der
Südstaaten, wie sie im nikolsburger Frieden pactirt wurde, bestehen läßt, die
Gefahren ihrer Isolirung vermindert. In diesem Sinne sprach sich der neue
bayrische Minister, Fürst Hohenlohe aus, und wir begrüßen die entschiedenen
und klugen Worte desselben als' einen Fortschritt, seine Wahl als ein gutes Er-
eigniß für Bayern und uns. Er gehört einem deutschen Herrengeschlecht an,
welches unter dem hohen Adel unserer Mediatisirten gegenwärtig wohl das erste
an Ansehn. Bedeutung und Ausbreitung ist. Es wohnt in seinen verschiedenen
Häusern reich angesiedelt in Schlesien und Westphalen, in Thüringen, Bayern,
Schwaben, eng verschwägert mit mehren der stolzesten Negentenfamilien Europas;
die konfessionellen Unterschiede innerhalb der Familie haben den engen Zusam¬
menhang der Stammgenossen nicht aufgehoben, sie umfaßt eine namhafte An¬
zahl tüchtiger und ehrenwerther Männer, sie unterscheidet sich aber von vielen
andern Geschlechtern unseres hohen Adels dadurch, daß sie seit dem Jahre 1815
sich nicht mürrisch vom Staatsleben zurückgezogen hat. Als Preußische Minister
und thätige Mitglieder des Herrenhauses, im Heer und im Civiidienst hat ein Theil
der Stammgenossen sein Geschick eng mit dem des preußischen Staates verbun¬
den, andere sind die großen Paiis in Bayern und Würtemberg, eine Familie
derselben ist in Oestreich angesiedelt, ein Mitglied des Hauses Großalmosenier
des Papstes, ein anderes Capitain in der englischen Marine. Die Mehrzahl
seiner Glieder aber und die einflußreichsten Häupter haben sich dem Schicksal
und dem Dienste des norddeutschen Staates angeschlossen und gelten als
preußisch siesinnt. Für Bayern verheißt, wie dort die Verhältnisse liefen, die
Wahl eines unserer vornehmsten Herren zum leitenden Minister vorläufig das
Beste. nicht nur die äußere Politik Bayerns und die innern Reformen fordern
einen Führer, der in großen Verhältnissen gebildet ist, auch das persönliche
Verhältniß der Minister zur Krone bedarf dort, wenn die Staatsmaschine nicht
immer wieder stocken soll, einer Reform, welche der Autorität des Herrn
v. d. Pfordten nicht gelingen wollte, die aber dem Mitglied eines fürstlichen
Hauses nicht versagt werden kann. Die Regelung der Beziehungen zwischen
den Südstaaten und dem norddeutschen Bund verspricht nach Constituirunq des¬
selben den besten Fortgang, schneller, als wir hofften, ist ein Entgegenkommen
des Südens möglich geworden, und gewährt die Beruhigung, daß auch diese
Verbindung, die für so schwer galt, sich allmälig vertragsmäßig befestigen werde.
Nicht minder günstig für eine friedliche Entwickelung auf Vasis des prager
Friedens scheinen die Zustände Oestreichs. Leider sind sie uoch hoffnungsarm
für den Staat der Habsburger. Dort dauert Schmerz und Groll über die
preußische» Siege, auch der neue Handelsvertrag wird diese Stimmung der Ne¬
gierung nicht bessern, aber immer starker wird dort der Drang der innern
Schwierigkeiten; man möchte meinen, daß unter den Verfassungskämpfen und
dem Haß der Nationalitäten gegen einander der kaiserlichen Regierung sehr bald
ihr Wunsch, für die militärischen Niederlagen eine Satisfaction zu gewinnen,
begraben werden müsse. Aber freilich vermag eine Umwälzung in den Lebens-
bedingungen eines Staates nicht ebenso schnell umzuwandeln, was die leitenden
Menschen von Liebe und Haß und treibenden Ideen in sich tragen. Das Ver¬
nünftige für die kaiserliche Regierung wäre jetzt ohne Zweifel, aufrichtig und
ohne Hintergedanken ein freundliches Verhältniß und politisches Zusammen¬
wirken mit dem norddeutschen Bunde anzubahnen. Das erscheint in der Hof¬
burg unmöglich, übel verhüllt bricht der feindselige Gegensatz immer noch heraus,
es wird dem Hause der Lothringer zu schwer, hundertjährige Ansprüche auf
Deutschland aufzugeben. Für Preußen wird deshalb noch lange die höchste
Vorsicht geboten sein, denn die östreichische Sehnsucht nach einem Bündnis; mit
Frankreich hat leinen andern letzten Grund als den einer Revanche für Kvuigs-
grätz. und in Wahrheit birgt diese Coalition die einzige große Gefahr für den
Bundesstacit. ,
Unterdes fordern die Interessen Oestreichs bereits nach anderer Seite Auf-
merksamkeit und Rüstungen. Die orientalische Frage hebt sind im Süden Euro-
Pas aus dem Boden, gleich den untilgbaren Wurzelsprossen eines gefällten
Stammes, welche die Diplomatie vergebens abschneidet, so oft sie sich über der
Erde zeigen. Neiden Westmächten ist der Kampf ^in Kreta, die Gährung in
Thessalien und unter allen Südslawen die große Verlegenheit dieses Jahres,
und Rußlands Fortschritte sind kaum noch aufzuhalten. Auch Preußen hat an
der Frage ein Interesse der Ehre, denn der entschlossene Hohenzollern, welcher
sich in Rumänien auf eigene Hand durchgesetzt hat, ist ein deutscher Fürst, und
Preußen wird einen Sohn seines Herrcngeschlechts in der Stunde der Gefahr
die Hilfe nicht versagen, welche es gewähren kann, ohne seine deutschen Inter¬
essen gefährlich zu schädigen.
Wenn nicht alles trügt, so stehen wir vor einer großen Katastrophe im
Orient. Vielleicht ist es schon möglich, den Weg zu erkennen, auf dem sich in
der nächsten Zukunft die Auflösung der europäischen Türkcnherrschaft vollziehen
wird. Ueberall sind dort schwache Ansähe zu neuen Staaten vorhanden. Neben
Rumänien das politische Wesen der Serben, denen sich die Nasa in Bosnien
und der Herzegowina anzuschließen bereit sind, Griechenland mit dem Bestreben,
seine Grenzen nach Norden zu erweitern, auf den Inseln die Anfänge neu-
hellenischer Gemeinwesen, wie in Scunos auch in Kreta. Ueber die Lebensfähig¬
keit dieser schwachen und unfertigen Neubildungen abzuurtheilen, wäre vorschnell,
sie sämmtlich werden gehoben durch das Nationalitätsprincip, das herrschende
unserer Zeit. Wir sehen, wie schwer es auf altem Germanenboden und im
unteren Dvnauthal der östreichischen Regierung wird, die disparaten Völkcr-
trümmer, die seit der Wanderzeit dort angesiedelt sind, in einem Körper zu er¬
halten. Diese Erfahrung berechtigt zu dem Schluß, baß Rußland es nicht
Weniger schwer finden würde, die Länder im Süden der Weißen save und des
Balkan seinem großen Leibe zu vereinigen. Fast genau wie zur Hellcneuzcit
haben die Landschaften dort das Bestreben, sich in kleine politische Einheiten zu
sondern, und vielleicht würde ein föderatives Band, wie unkräftig es auch sei,
die sachgemäße Form sein, in welcher diese Staaten vorläufig neben einander
bestehen könnten.
Für den norddeutschen Bundesstaat ist die Ableitung der allgemeinen Sorge
nach dem Osten ein werthvoller Gewinn. Was in Deutschland geworden ist,
macht die Bundesgenossenschaft Preußens unentbehrlich bei der Entscheidung der
orientalischen Frage. In Frankreich aber hat sich der Groll gegen die Fort¬
schritte Preußens nur wenig gemindert. Kindisch sind die Denunciationen, welche
die Presse unserer Nachbarn im Westen über preußische Eroberungsplänc zu
Tage bringt. Preußische Generale sollen die Schweiz ausgekundschaftet haben,
Belgien soll noch immer von Preußen an Frankreich verrathen werden, Preußen
soll im Schilde führen, den Niederlanden das Schicksal Hannovers zu bereiten.
Dergleichen Geschwätz könnte uns wohl behagen, weil es immerhin beweist, wie
sehr die Erfolge unserer Waffen dem Auslande imponirt haben. Es ist aber
zugleich Symptom einer Gefahr, denn es verräth und unterhält eine stille
Aufregung im französischen Volk und mehrt dem Kaiser Napoleon die Schwierig¬
keiten seiner Stellung.
Wir betrachten die politischen Erfindungen deS Kaisers nicht immer mit
Sympathie, aber mit der Achtung, welche ein kluger und kühn combinirendcr
Wille sich erzwingt. Es wird uns schwer, bei den neuen Verfassungsänderungen
des Kaisers die oft bewährte Überlegenheit seines Urtheils zu erkennen. Die
Abschaffung der Adreßdcbatte und die sehr beschränkte Wiederherstellung des Jn-
terpellationsrechts erscheinen in der Ferne wie kleines Flickwerk, womit ein hin¬
fälliger Bau für das nächste Bedürfniß des Tages gestützt werden soll. Auch
der Wechsel im Ministerium, gleichviel ob er nothwendig war, oder ob er nur als
dramatischer Effect für zweckmäßig erachtet wurde, wird schwerlich die Franzosen
versöhnen. Achtzehn Jahre hat der Kaiser gearbeitet, zuerst sich selbst, dann
auch sein Haus in Frankreich festzusetzen. Er hat den Franzosen eine Anzahl
glänzender Überraschungen und Erfolge bereitet, er hat ihnen auch unläugbar
die wichtigsten nationalökonomischen Fortschritte aufgezwungen, und doch ficht
es aus, als ob der Imperialismus, das System seines Hauses, das so gut auf
Schwächen und Vorzüge der Nation berechnet war, und auf die Verhältnisse,
welche dort die Revolution des vorigen Jahrhunderts geschaffen, noch bei Leb¬
zeiten Napoleons des Dritten ein greisenhaftes Antlitz annehmen sollte. Auch
ihn trifft das Schicksal, welches keinem thatenreichen Politiker erspart bleibt: die
Folgen frühern Thuns legen sich belastend um sein Haupt und beschränken ihm
die Freiheit des Handelns. Der innere Widerspruch beengt, welcher 'zwischen
dem demokratischen Schein seiner Herrschaft und der minutiösen Vielrcgicrerei
und Fesselung der öffentlichen Meinung von je vorhanden war, und die kaiser¬
liche Partei beengt, die zahlreichen Menschen, welche als Diener seines Systems
heraufgekommen sind und seine Werkzeuge und Berather darstellen. Seine Me-
thode, zu regieren, der große Wurf seiner überraschenden Einfälle haben für die
Franzosen einen Theil des blendenden Reizes verloren, sogar Erfolge und Siege
haben verwöhnt, und einzelne Fälle, in denen er entweder unrichtig combinirte, wie
in Mexico, oder größer urtheilte als sein Volk, wie in Italien und Deutschland, er¬
regen eine unverhältnißmäßige Mißstimmung. Wieder ist es ein Glück für Deutsch¬
land, daß der Kaiser durch die allgemeine Ausstellung seinen Franzosen ein
Friedensjahr proclamirt hat, und nicht geringeres Glück, daß die militärischen
Erfolge Preußens eine Umgestaltung des französischen Heeres nothwendig er¬
scheinen ließen. Aber wir wissen wohl, daß wir solchem Frieden nicht fest ver.
trauen dürfen. Sorgfältig lauscht der Kaiser auf jeden Athemzug Frankreichs
und auf jedes Geräusch, das der Telegraph in sein Gehcimzimmer leitet. Seine
Herrschaft beruht darauf, daß er dies stille Gemurmel richtig deutet und durch
eine plötzlich hervortretende Idee dasselbe übcrherrscht. Er ist im vorigen Jahre
gegen Preußen in der That bis ein die Grenze dessen gegangen, was ihm in
seiner Stellung möglich war. Gelingt ihm nicht, in diesem Jahr durch die
friedliche Beschäftigung seiner Franzosen und durch die Befriedigung des natio¬
nalen Selbstgefühls, welches der Völkerverkehr am Ausstellungsgcbäude den Pa¬
risern gewährt, den Franzosen eine neue gutwillige Anerkennung seiner Herr¬
schaft abzunöthigen, so wird er, wahrscheinlich ungern und in schwerer Sorge,
in den deutschen Verwickelungen eine Handhabe suchen, welche ihm gestattet,
das Gemüth der Franzosen festzuhalten. Ein solcher Schritt wäre für ihn ge¬
fährlicher als irgendein anderer, den er seit seiner Thronbesteigung gewagt, er
würde vorsichtig seine guten Chancen berechnen, sich vorher seiner Ueberlegenheit
versichern, und dabei immer noch so wenig als möglich wagen. Er würde auch
mit der Offenheit, welche grade bei solchen Gewaltschritten seine verschlossene
Natur auszeichnet, wahrscheinlich den Deutschen gradezu sagen, daß eine unwi-
derstehliche Nothwendigkeit ihn zwinge. Deshalb ist für Preußen jede Vorsicht
geboten, und wir erkennen aus allen Schritten der preußischen Regierung, daß
sie sich ihrer unsichern Stellung zu der nächsten Zukunft Frankreichs vollständig
bewußt ist. Die Vorsicht in Betreff der Mainliiue, der Eifer, mir welchem an
der definitiven Constituirung des norddeutschen Bundes gearbeitet wird, sprechen
dafür. Auch für das deutsche Volk, soweit dies berufe» ist, im Reichstage dieses
Frühjahrs bei der Befestigung des Bundesstaats mitzuwirken, erwächst daraus
die dringende Aufgabe, mit Selbstverläugnung und Hingabe zu helfen, daß der
neue Staat errichtet und auf Grund seiner Cvnstctuirung die Verträge mit den
Zollvcreinsstaaten im Süden abgeschlossen werden. Uns ist jetzt nach mensch¬
lichem Ermessen ein halbes Jahr des Friedens für unsre Neugestaltungen ge¬
sichert, wir haben dafür zu sorgen, daß buse Zeit nicht ohne großes Resultat
vergehe.
Ein Evangelist in Brasilien. Aus dem Nachlaß des vormaligen Pfarrers
der deutsch-evangelischen Gnncindc in Rio de Janeiro Hermann Billroth, von Albert
Billroth, Vormittagsprediger an Se. Marien Magdalenen in Naumburg a./S.
Mit dem Porträt H. Billroths und einer Karte. Bremen, Müller.
Dieses Lebensbild Billroths, durch pietätvolle Bruderhand in eingehend¬
ster Ausführlichkeit entworfen, wird namentlich für Theologen von Fach von
Interesse sein, aber auch in weiteren Kreisen nicht nur erbauend und belehrend,
sondern durch die mannigfaltigen mit eingeschalteten Reisebilder selbst unter¬
haltend wirken.
Der Kern des Buches, die Schilderung der protestantischen Zustände Bra¬
siliens, liebe sich allerdings auf einen weit geringeren Raum zusammendrängen,
aber es ist wiederum von Werth, das Detail in ganzer Breite vor sich zu haben,
wo es gilt, für die Lösung einer so wichtigen ' kirchlichen Frage von speciell
deutschem Interesse Erfolg versprechende Anregungen zu geben. Tic evangelische
Kirche in Brasilien ist ja wesentlich ein von Deutschen gegründetes Werk
für Deutsche. 1826 ward unter dem Protectorat des Königs von Preußen die
erste evangelische Gemeinde >n Rio de Janeiro constituirt; seitdem haben sich
das basaler und barmcr Missionshaus für Brasilien geöffnet und, unterstützt
von dem Gustav-Adolph-Berein sowie durch andere nicht unergiebige Samm¬
lungen, das Land mit Geistlichen versorgt. Der berliner Oberkirchenrath hat
die obere Leitung der gesammte.» kirchlichen Verhältnisse übernommen und den
brasilianischen Protestanten wie in anderen wichtigen Angelegenheiten, so nament¬
lich in der Ehcfrage, wo ihnen die härtesten und unbilligsten Schwierigkeiten
in den Weg gelegt wurden, manchen werthvollen Fortschritt erkämpft. Aber es
ist sehr zu beklagen, daß es ihm bis jetzt noch nicht gelungen, eine rechte ein¬
heitliche Zusammenhciltuug und Organisirung der bestehenden oder neu ein¬
gerichteten Gemeinden zu erzielen; das Schlimmste ist, daß die Gemeinde in
5!iio ihrem überwiegenden Bestandtheil nach sich von ihm losgesagt und unter
einem selbstgewählten Geistlichen frcigemeindlich constituirt hat. Das mag frei¬
lich zum Theil mit daher kommen, daß man diese Gemeinde, die schon seit
1833 darauf drang, „ihr keine mystischen Kopfhänger, sondern Leute zu senden,
die rein biblische Moral predigten", meist mit Geistlichen aus streng orthodoxen
Kreisen versorgt hat, und es ist aus dem Buche nicht überall mit Klarheit zu
ersehen, wie weit diese dazu beigetragen haben, den Conflict zu schärfen;*) im
Wesentlichen ist doch anzuerkennen, daß es Männer von reinem, edlen Willen
waren, die. während sie oft nur durch angestrengteste Thätigkeit den kümmer¬
lichen Lebensunterhalt für ihre Familien erringen konnten (der Gehalt des
einen, 600 Milreis — circa 450 Thaler — reichte eben nur zur Beschaffung
der Wohnung), mit rastlosem Eifer die Kirche ihres Bekenntnisses zu bauen
suchten; die sich auch nicht durch ihre Principien über reelle Nothstände in der
Gemeinde verblendeten (wie sie z. B. die Ermöglichung der Ehescheidung als
ein dringendes Bedürfniß derselben forderten) und die im beständigen Kampfe
mit den vielen unlautern und schmählich indifferenten Gemeindegliedern oft in
großen Schaden gekommen sind, wie z, B. der treffliche F. Ap6-Lallemand (der
Bruder des berühmten Reisenden), der, um seine Stelle nur endlich aufgeben zu
können, die ihm durch Chikanen völlig unhaltbar gemacht worden war, dafür
auf den Anspruch einer Anstellung in Preußen verzichten mußte; während
wieder andere durch klimatische Krankheiten geschwächt, von jenen endlosen Miß-
Helligkeiten vollends aufgerieben, den Keim des sicheren Todes in die Heimath
hinübernahmen. wie der rührige junge Streiter, dessen Biographie hier vorliegt.
Sehr zu wünschen ist, daß es dem berliner Oberkirchenroth gelingen möge,
mit Aufbietung aller Mittel und sorgsamer Wahl der geeigneten Persönlichkeiten
jenes Reich, soweit es evangelische Elemente darbietet, zu einer einheitlich be¬
herrschten und wohl organisirten kirchlichen Provinz zu gewinnen. Dies wäre
nicht nur ein unnennbarer Segen für so viele Redliche unter unseren deutschen
Glaubcnsbrüdcrn jenseits des Oceans, sondern in noch höherem Grade eilte
moralische und zugleich politische Eroberung unseres jugendlich erblühenden
Großstaats, die für die Zukunft von großer Wichtigkeit werden kann. —
In dritter Auflage liegt u»ö diese brauchbare Arbeit vor. Der glückliche Griff
des Verfassers, der in der vielbesprochenen Frage, welchen Raum man der franzö¬
sische» Literaturgeschichte auf unseren höheren Lehranstalten verstatten dürft, die Aus¬
kunft findet, eine ursprünglich französisch geschriebene und mit den wichtigsten fran¬
zösischen Wendungen erläuterte Bearbeitung dieses Gegenstandes für fortlaufende Ex¬
temporalien zu geben, hat sich bewährt. Wir wünschen für eine folgende Auflage
nur eine recht eingehende Revision und womöglich Vermehrung der neuesten Litera¬
tur (an deren Stelle manche Längen und unwesentlichere Partieen aus den älteren
Perioden wegfallen könnten), damit unsere Jugend, die von selbst immer nach dem
Neuen greift und zudem ein Recht hat, vor allem die Erlernung der neuesten
Sprachgestaltung zu beauspruchen, völlig darüber orientirt sei, wo das Gute zu fin¬
den ist. Bei der Bestimmung des Buches für Schulen kann man es freilich nur
billigen, daß es von den neuesten Romanschriftstellern wenig anführt, von Dumas
kein einzelnes Werk namhaft macht; aber man muß dafür fordern, daß es auf den
wissenschaftlichen Gebieten eine um so größere Vollständigkeit darbiete und die ein¬
zelnen Werke, die zunächst für diese Kreise werthvoll und anziehend sind, näher be¬
zeichne und empfehle. So muß es uns befremden, daß die geistreichen und gedie¬
genen, zum Theil gradezu epochemachenden Werte der schweizerisch-französischen Li¬
teratur, die Schriften eines Merle d'Aubignü, Buugencr, Vince, Töpffcr, noch keine
Stelle in dein Buche gefunden haben. In den ältere» Zeiträume» ist, selbst wenn man
sich aufs strengste an den Begriff „Nativnalliteratur" hält, doch das religiöse und
theologische Element derselben etwas zu wenig berücksichtigt, wenigstens dürften die
Namen wie Franz v. Sales, Tillcmvnt, Maimbourg. Fr. v. Guyon und Se. Mar-
tin uicht gänzlich fehlen.
Während der Engländer seine Tour in Dcnischland längst in dicken Hand¬
büchern für das praktisch britische Bedürfniß verarbeitet hat, stellt ihm hier Dr. Andrae
nun Wanderung mit deutschen Augen durch eine britische Provinz entgegen, welche
die Naturschönheiten des Landes mit offner Seele genießt, Gemüth und Bildungs¬
grad der Bevölkerung zu erforschen sucht, historische Erumerungcn mit wissenschaft-
lich kritischem Sinne prüft und Kunsterzeugnisse mit sicherem gründlich geschulten
Geschmack in ihrem wahre» Werthe zu würdigen weiß. Er hat uus in dieser Weise
ein sehr ansprechendes Bild von der Heimath Maria Stuarts und Walter Scotts
gegeben, das wir unsern Lesern angelegentlich empfehlen. — Wenn Herr Andrae
sagt, daß in Deutschland keine berühmten Schotten thätig gewesen sind, so hätte er
doch anmerken können, daß unser großer Kant von schottischen Vorälter» stammte.
Daß man auch unsere prüde Damenwelt mit dem Geiste des liebenswürdigsten
aller altrömischen nnrnvo-is snM« ohne gröbliche Anstandsverletzuug bekannt zu
machen vermag, beweist dieses zierlich ausgestattete Büchlein. Hier ist in der That
Entull im Frack, zahm und maßvoll wie ein ncucreirtcr Geheimrath, in glatten un¬
gefährlichen Reimen seine lateinischen Entsetzlichkeiten übertünchend; nur wenige hier
und da hervorguckende studentische Reminiscenzen müßten ihm noch gestutzt werden,
um ihn in dieser Gestalt ganz salonfähig zu machen. Zu einer Nachbildung von
dauerndem Werthe fehlt dem Versuch freilich die Schärfe und Unbefangenheit des
Ausdrucks; doch nicht jedem ist gegeben, so wie unser geistreicher Aristophnncsüber-
setzcr zu beweisen, daß auch die leichtblütigste» antiken Charaktere deutsch nach¬
zubilden find.
Stephan Milow besitzt ein nicht zu verachtendes Dichtcrtalcut; einige seiner
Sachen — ein Gedicht an Friedrich Hebbel, einige sinnige Naturschilderungen,
mehre wohlgerundete Sonette und Elegien — sind sogar vortrefflich zu nennen ;
bei vielen derselben geht es uns jedoch leivcr wie bei den meisten modernen Musik¬
stückein zuerst fühlen wir uns durch einige anmuthig harmonische Klänge angezogen,
dann aber erlahmt und versandet die Durchführung; wir haben keine fehlerhaften
Auswüchse zu tadeln, aber die vorhandenen Motive vermögen weder durch Tiefe des
Gehalts, noch durch Originalität des Ausdrucks wahrhaft zu fesseln. Der neue Ro¬
man desselben Autors
ist nicht uninteressant angelegt, doch vermögen wir uns für die Heldin, die von
ihrem ersten Geliebten verführt wird, sich dann einem edlen Manne, der ihren Fehl¬
tritt kennt, verlobt, diesem aber die Treue bricht, um einen Dritten z» heirathen,
und sich, als plötzlich ihr erster Geliebter zurückkehrt, schließlich vergiftet, durchaus
nicht zu erwärmen. Dazu kommt, daß der Verfasser hier wie in den Gedichten
immer das ganze Gefühl der jedesmaligen Stimmung in Worten zu erschöpfen ver¬
sucht und demzufolge im Dialag oft sehr banal und wässerig wird.
Als eine musterhaft geschriebene kleine Erzählung empfehlen wir:
Hier, wo uns nach dem Vorgang der italienischen Novelle» Paul Heyses eine
fremdländische Natur (Crcolin), eingefaßt in den Nahmen deutschen Lebens und
deutscher Liebe dargestellt wird, ist fast jeder Zug frisch und originell ohne unnatür¬
Die Parlamentsreform, welche Lord Rüssel zum ersten Mal 18S2 wieder¬
aufnahm, ist heute zur entscheidenden Frage der ganzen englischen Politik ge¬
worden, sie hat das letzte Ministerium gestürzt, von ihr wird das Schicksal des
gegenwärtigen abhängen. Wie sehr auch die Parteien auseinandergehen, darin
sind alle einig, daß die Lösung nicht länger verschoben werden darf; und mit
derselben Gewißheit darf man sagen, daß nur eine ernsthaft gemeinte Maßregel
Aussicht auf Erfolg hat. Die bevorstehende Session dürfte daher wohl bedeut¬
samer sein als irgendeine seit 1846, wo Peel mit der Aufhebung der Korn-
gesetze dem Freihandel Bahn brach. Um im Gewirre der streitenden Parteien
für die Frage das rechte Verständniß zu gewinnen, wird es nöthig sein etwas
weiter zurückzugreifen.
Bis 1832 erlitt das Haus der Gemeinen wenig Aenderungen, soweit die¬
selben nicht aus dem wechselnden Zustand der Gesellschaft hervorgingen. Unter
den Tudors waren seine Functionen nicht wichtig genug, um einen Sitz im
Hause als besonders wünschenswerth für den politischen Ehrgeiz erscheinen zu
lassen, das Parlament beschränkte sich auf die „wamtLiiairev ot Ja>v unä ro-
ÜILLL vt' Al'iöVÄNCW". Nach dem Tode Elisabeths begann der große Kampf
mit der Krone, welcher durch die Revolution von 1688 beendet ward, und unter
den beiden ersten schwachen Königen der hannoverschen Dynastie ward das Haus
der Gemeinen rasch zum bestimmenden Factor des Staates. Es war natürlich,
daß sich bald das Augenmerk auf die sehr ungleiche Vertheilung des Wahlrechts
lenkte und schon Lord Chatam erklärte eine Verbesserung in dieser Hinsicht für
nothwendig. Sein Sohn nahm die Frage praktisch in die Hand und würde
schon damals eine Reform durchgesetzt haben, wenn nicht die französische Re¬
volution dazwischen gekommen wäre, deren Ausschreitungen eine so starke kon¬
servative Reaction in England hervorriefen. Diese Reaction steigerte sich, je
länger der Kampf gegen Napoleon dauerte und das schroffe Toryregiment,
welches Pitt folgte, behauptete sich noch zehn Jahre nach Abschluß des Friedens
gegen die allmälig immer stärker werdende Bewegung im Volke für eine ge¬
rechtere Vertretung im Parlament. An die Spitze dieser Bewegung hatten sich
die Whigs gestellt, ursprünglich waren sie ebenso starre Anhänger des alten
Systems als die Tones, weil bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts
grade die Zusammensetzung des Unterhauses ihren Führern, den sogenannten
^ren.t Revolution lÄmilies die Staatsleitung sicherte. Seitdem dieselbe aber
unter dem Einfluß der auswärtigen Politik auf die Tories übergegangen war,
lag für sie die einzige Chance wieder zur Macht zu gelangen, in einer Reform
des Unterhauses. Wären die Tories weise gewesen, so hätten sie sich der Noth¬
wendigkeit einer Reform nicht perschlosscn, es war ein Widersinn, daß Städte
wie Manchester, Leeds und Birmingham, welche schon Vorübergehend unter
Cromwell Wahlrecht gehabt hatten, jetzt, wo sie zu mächtigen Gemeinwesen
erwachsen waren, ohne Vertretung dastanden, während unbedeutende Burgflccken
zwei Abgeordnete sandten. Aber unter dem Einfluß des Herzogs von Wellington
blieben die Tories blind in ihrem Kampfe für das Bestehende, der Herzog sah
die Frage nur als Minister und Soldat an, er fand, es ließe sich vortrefflich
mit dem gegenwärtigen Hause regieren, dasselbe gab der Regierung durch die
von ihr abhängigen Burgflecken eine feste Majorität und die Möglichkeit, alle
bedeutenden jungen Kräfte ins Parlament zu bringen, denn sowohl das jedes¬
malige Ministerium als die Opposition hatten immer Sitze zu unbedingter Ver¬
fügung, folglich, meinte der Herzog, sei ein Wechsel unnöthig.
Dies war ein verhängnißvoller Irrthum, hätten die Tories die Reform in
die Hand genommen, so wären sie stark genug gewesen, einen ihnen günstigen
Compromiß durchzusetzen. Indem sie die falsche Stellung nahmen, ein im Ganzen
unhaltbares System zu vertheidigen, setzten sie sich einer vollen Niederlage aus,
die Reformbill ward ein Sieg der Whigpartei.
Bis 1832 lag die Beschickung des Hauses überwiegend in den Händen
1) der Grafschaften, wo die Wähler Landedelleute oder kleine 40 LlMinZ-
treoliolckers waren, die von erstem abhängig;
2) der Burgflecken, welche unter dem Einfluß des aristokratischen Patrons
standen;
3) der Burgflccken, die in der Hand des jedesmaligen Ministeriums waren;
4) der großen Städte, in denen wesentlich die municipalen Behörden über
die Wahl entschieden.
Der Zweck der Reformbill war, die Wahlen diesem ganz überwiegenden
Einfluß der Aristokratie zu entziehen und in die Hände der gebildeten Mittel¬
klassen zu legen, demgemäß wurde
1) allen Burgflecken unter 2,000 Einwohner das Wahlrecht genommen
und allen unter 4,000 nur ein Vertreter gelassen; die Abstufungen des Wahl¬
rechtes je nach der Größe der Städte wurden abgeschafft und dafür ein mittlerer
Durchschnitt eingeführt, wofür ein jährlicher Miethzins von 10 Pfund Sterling
als Qualification galt.
2) In den Grafschaften erhielten »eben den Vierzig-Shillings-Freisassen
auch die Zeitpächter, welche 50 Pfund Sterling zahlten, das Wahlrecht, diese
Clausel fehlen die Tories durch und sicherten dadurch den landwirtschaftlichen
Interessen eine immerhin noch sehr bedeutende Vertretung.
Lord John Rüssel, der an der Sylbe des Nesvrml'ampfcs stand, hatte die
Bill feierlich als eine „das,1 MLg.Lure", als den Abschluß der Frage proclamirt
und die nächsten zwanzig Jahre sahen allerdings kein ernsthaftes praktisches
Streben für eine fernere Reform des Wahlsystems, denn weder die Agitation
O'Connels noch die der Chartisten gewannen festen Boden im englischen Volke,
die lehtcrn fanden in den arbeitenden Classen für ihre abstracten Principien nur
Anhang, so lange die Korngcsche die Lebensmittel künstlich vertheuciten. Als
sie dann, nach der Februarrevolution, unternahmen, ihre Forderungen „allge¬
meines Stimmrecht, gleiche Wahlbezirke, geheimes Stimmrecht und jährliche
Parlamente" — durch eine Massendemonstration durchzusehen, ließen sich 300,000
Bürger als sxoeiul eonLkMtZS einschreiben, um das Parlament gegen Ein¬
schüchterung zu schützen und vor dieser imposanten Kundgebung aller höhern
Classen löste sich der ganze Chariismus in nichts auf.
Erst 1832 hören wir wieder von einer neuen Reform sprechen und zwar
nicht infolge einer Bewegung im Volke dafür, sondern zunächst offenbar aus
Parteimotiven. Die Whigs waren im Amt. weil die Tories das Ministerium
abgelehnt, aber sie waren schwach und Lord John Rüssel, der die Bill von
1832 für endgiltig erklärt hatte, wünschte seine Regierung durch eine populäre
Maßregel zu stärken. Er schlug vor, das Wahlrecht der Pächter von SO auf
20 Pfund Sterling, die städtische Qualification des Micthzinses von 10 auf
6 Pfund Sterling herabzusehen, außerdem sollten die kleinsten Wählerschaften
zu gemeinsamen Wahlbezirken gruppirt werden. Der Fall des Ministeriums
ließ es zu keiner parlamentarischen Entscheidung über diese Vorschläge kommen,
indeß hielt sich auch das folgende Cabinet Lord Derbys nur ein Jahr und
1854 wurde die Frage der Reform wieder aufgenommen. Inzwischen hatten
sich die Ansichten Lord Rüssels erheblich geändert, in dem neuen „Ministerium
aller Talente" war er nicht mehr wie früher unbestrittener Führer, sondern
hatte auf seine radicalen Collegen, namentlich Sir W. Milesworth und Milner
Gibson Rücksicht zu nehmen; seine Vorschläge von 1852 waren mit Gleichgiltig-
keit aufgenommen, er glaubte daher weiter gehen zu müssen. 19 kleinere Flecken
sollten das Wahlrecht ganz. 33 theilweise Verlieren, der Grafschaftssah sollte von
60 auf 10 Pfund Sterling, der städtische von 10 auf 6 Pfund Sterling herab-
gesetzt werden, außerdem ward beabsichtigt, auch denjenigen Gebildeten, welche
nicht ein eigenes Haus bewohnen, die Chance 'des Wahlrechts zu geben; so
sollte z. B. jeder dasselbe haben 1) der ein gewisses jährliches Gehalt bezog,
2) der 10 Pfund Sterling in Zinsen oder Dividenden von öffentlichen Fonds
erhob, 3) der 2 Pfund Sterling jährliche Steuern zahlte, 4) der 30 Pfund
Sterling in der Sparkasse hatte.
Aber auch diese Bill blieb ohne praktischen Erfolg, ihr Urheber, der sie
kurz vor Ausbruch des orientalischen Krieges eingebracht, zog sie in Anbetracht
der auswärtigen Ereignisse bald darauf wieder zurück, ohne daß weder das
Parlament, noch das Publikum darüber Unzufriedenheit gezeigt hätten, die Frage
war damals eben noch ganz unpopulär und nur vorgebracht, weil Lord John
sich nach seinem ersten erfolglosen Versuch zu einem zweiten acquit as oon-
seicmcs verbunden fühlte. 18S9 versuchten sich die Tories mit einer Reformbill
Disraeli's, wurden aber geschlagen, sie lösten das Parlament auf und wurden
bald darauf nach Ausbruch des italienischen Krieges durch ein Mißtrauensvotum
gestürzt, von da an ruhte die Frage, weil Lord Palmerston, der als Premier
die Politik unbedingt leitete, jeder Reform feindlich war. Erst nach seinem
Tode unternahmen es die nunmehrigen Chefs des Ministeriums und der
liberalen Partei, Lord Russel und Mr. Gladstone, eine wirklich eingreifende Reform
durchzuführen.
Sie konnten in der That sich der Nothwendigkeit einer solchen Maßregel
nicht entziehen, das Verlangen nach Reform war während des letzten Jahr¬
zehnts allgemeiner geworden und uur das Prestige und die eigenthümliche
Stellung Lord Palmcrstvns zu den Parteien hatten demselben die Stange ge¬
halten. Die allgemeine Stimme der Nation hatte ihn 18S5 an die' Spitze der
Geschäfte gestellt und mit kurzer Unterbrechung blieb er bi's zu seinem Tode
Premier, weil niemand wie er die nothwendigen Eigenschaften für die oberste
Leitung vereinte, aber die Partei, welche ihm folgte und die Majorität bildete,
bestand aus heterogenen Elementen, ein bedeutender Theil derselben war durch¬
aus conservativ und hielt nur zu ihm, weil er die Reform zurückdrängte, wäh¬
rend andererseits die Radikalen mürrisch die Verwirklichung ihrer Wünsche ver¬
tagten, weil der Sturz Palmerstons die Tories ans Nuder gebracht hätte. Nach
seinem Tode mußte eine Scheidung der Parteien eintreten, die beiden bedeu¬
tendsten gemäßigten Liberalen, welche seinen Platz hätten einnehmen können,
Lord Herbert und Sir Cornwall Lewis, waren im besten Mannesalter gestorben,
neben dem greisen Lord Rüssel war nur Gladstone zur Führung der liberalen
Partei befähigt und dieser hatte sich schon unter Palmerston, dessen Dictator-
schast seinem Ehrgeiz lästig ward, den Radicalen genähert, wahrscheinlich auch
denselben bereits weitgehende Versprechungen gemacht, welche nunmehr eingelöst
werden mußten, jedenfalls entstand die gladstonesche Bill von 1866 wesentlich
unter Brights Mitwirkung. Aber Gladstone beging dabei einen Fehler, welcher
ihm verhängnißvoll ward, er ließ sich nicht die Zeit, ein vollständiges Project
auszuarbeiten, sondern brachte es stückweise vor. Dies gab den offenen und
geheimen Gegnern der Reform einen günstigen Angriffspunkt, da sie mit Recht
sagen konnten, daß eine derartige Maßregel nur als ein Ganzes durchgeführt
werden könne, weil ein Theil desselben den andern bedinge. Als daher der
Schatzkanzler eine Bill einbrachte, welche die gesammte Wählerschaft um etwa
eine halbe Million erweiterte, aber die 49 Sitze, welche durch Aufhebung des
Wahlrechts von Flecken verfügbar wurden, nicht vertheilte, war die Unzufrieden¬
heit allgemein und konnte nur durch das Versprechen der Regierung, alsbald
auch eine Bill für die Bertheilung der Sitze vorzulegen, einigermaßen be¬
schwichtigt werden. Nichtsdestoweniger erzielte das Ministerium bei der zweiten
Lesung der ersten Bill mit aller Anstrengung nur eine Mehrheit von fünf
Stimmen, schon damals wollte ein Theil seiner Mitglieder resigniren, indeß
Gladstone gab das Spiel noch nicht verloren und legte die versprochene zweite
Bill vor, wonach die 49 verfügbar werdenden Sitze - von denen 26 den eng¬
lischen, 7 den schottischen Grafschaften, der Nest den größeren Städten zufallen
sollte — gewonnen wurden, indem jeder Flecken, welcher weniger als 8 000
Einwohner hat und doch zwei Mitglieder wählt, eins verlor und mit anderen
von gleicher Größe zusammengelegt wurde.
Diese Idee war keine glückliche, ein Flecken von 9,000 Einwohnern hätte
danach seine zwei Vertreter behalten, zwei von 7,000 dagegen sollten zusammen¬
gelegt werden und doch nur ein Mitglied wählen, außerdem war die vor¬
geschlagene Gruppirung durchaus fehlerhaft, weil die betreffenden Flecken geo¬
graphisch getrennt und soviel durchaus verschieden waren. Lord Stanley und
Disraeli konnten daher diesen Vorschlag mit Recht angreifen, die Stellung des
Ministeriums ward immer schwächer und seine Gegner brachten es schließlich
mit Hilfe der Mittelpartei, der sogenannten Adullamitcn, in Minorität. Lord
Rüssel trat zurück und Lord Derby bildete das gegenwärtige Cabinet. Die
Session war inzwischen so weit vorgerückt, daß nicht mehr die Rede von einer
Wiederaufnahme der Frage sein konnte, welche damit auf das nächste Jahr
vertagt wurde. Dies ist in kurzen Zügen die bisherige Geschichte der Reform,
sehen wir im nächsten Artikel, wie die Parteien zu ihr stehen und welches
ihre Aussichten sind.
Als mit der Februarverfassung in Oestreich den einzelnen Völkern des so
bunt zusammengesetzten Staates eine freiere Entwickelung in Aussicht gestellt
wurde, da waren es in den Ländern diesseits der Leitha ganz besonders die
Czechen, welche die Zeit für günstig hielten, um ihre nationalen Interessen in
den Lordergrund zu stellen und vorzugsweise das Land Böhmen für ihr eigenstes,
für czechischcs Territorium zu erklären. „Wir sind die Herren im Lande!" riefen
die czcchischcn Journale und die große Menge stimmte im Chorus ein; „die
Deutschen sind eingewanderte Fremdlinge ohne alles Recht" verkündeten die
nationalen Organe und mit dem alten Refrain „Heiliger Wenzeslaus, treib die
Deutschen aus!" accompagnirte sie der Mob.
Um so ernster wurde den Deutschen die Aufgabe, ihre Stellung in Böhmen
mit allem Aufwands ihrer materiellen Kräfte zu behaupten, aber auch mit den
Waffen der Wissenschaft ihr heilig erworbenes Hausrecht in Böhmen zu ver¬
theidigen. Sie mußten die Ueberlegenheit deutscher Cultur wahren, sie wollten
aber auch beweisen, daß der Deutsche in Böhmen kein Fremdling ohne Heimaths-
recht ist. Diesen Beweis zu liefern, das deutsche Heimathsbewußtsein in Böhmen
zu kräftigen, dazu wurde im Jahre 1862 der „Verein für Geschichte der Deutschen
in Böhmen" gegründet.
Besonders einige junge Historiker waren es, in deren Kreise der erste Plan
auftauchte, einen „Verein für Erforschung, Erhaltung und Verbreitung der Ge¬
schichte der Deutschen in Böhmen" ins Leben zu rufen und denselben nicht
blos auf Fachgenossen zu beschränken, sondern die allgemeine Theilnahme der
deutschen Bevölkerung Böhmens für ihn zu wecken. I» überraschend lebhafter
Weise kam das deutsche Publikum dem Plane entgegen; als die erste General¬
versammlung zur Wahl des Päsidcntcn und des Ausschusses ausgeschrieben
Wurde, fand man unter den Mitglieder» alle jene Männer vereint, welche irgend
auf dem Gebiete deutschen Wissens in Prag Hervorragendes leisteten, sowie die
bedeutendsten Vertreter deutscher Industrie in Böhmen.
Die Festrede, welche der Professor Konstantin Höfler bei dieser Eröffnungs¬
feier hielt, präcisirtc die Zwecke des Vereins und verfehlte nicht im czcchischcn
Lager das höchste Aufsehen zu erregen. „Wenn im gegenwärtigen Augenblicke,"
sagte Höflcr, „die einzelnen Völker wie auf einen Schlag an ihre Vergangenheit
oppelliren und dieselbe als Rüstzeug betrachten, um ihrer Zukunft eine beliebige
Gestaltung zu geben, so kann es auch dem Deutschen nicht verwehrt werden,
wenn er gleichfalls den historischen Grund seines Bestandes aufmerksamer erörtert
und sei es auch nur, um in dem Augenblicke, in dem sich ein Krieg Aller wider
Alle vorzubereiten scheint, durch die Stimme der Wissenschaft der späteren Möglich¬
keit eines Verständnisses über gemeinsame Interessen den Weg zu bahnen." Und
auf die Bedeutung der Deutschen für Böhmen übergehend hieß es in der Rede:
„Wir stehen auf einem Boden, den Jahrhunderte lang deutsche Völker bewohnten,
gegen den Einbruch welthistorischer Eroberer vertheidigten und damit vor Folgen
bewahrten, die für Freiheit und Nationalität kommender Geschlechter unberechenbar
werden konnten. Erst nachdem mindestens ein halbes Jahrtausend seit diesen
Kämpfen verflossen war, drangen slavische Stämme in die von den Vojern
verlassenen Gegenden ein, ohne daß über den Zeitpunkt dieser Einwanderung
einheimische Quellen uns den mindesten Aufschluß gäben. In dem Augenblicke
aber, als die Geschichte Böhmens zu dämmern beginnt, erscheint das Land in
Abhängigkeit von dem Karolinger»eiche, dann von dem mährischen, endlich von
dem deutschen Reiche, abwechselnd selbst von Polen, bis die staatsrechtliche
Verbindung Böhmens mit dem deutschen Reiche bleibt und das Land
diesem Verhältnisse allmälig seine Machtstellung unter den Przemyslidcn. sein
Königthum und jene glanzcrfüllte Periode verdankt, die es bereits vor fünf¬
hundert Jahren als Sitz des deutschen Kaiserthums erlangte".....
Es ist leicht begreiflich, daß eine solche Sprache und solche Tendenzen den
Czechen, welche nur von der Herstellung der selbständigen „böhmischen Krone"
träumen und allen verständigen Gegenreden mit dem hussitischen „IIH LIovan6!"
beantworten, nicht sonderlich behagten und der Verein für Geschichte der Deutschen
war von seiner Gründung an das Object der gehässigsten Augriffe, der ge¬
meinsten Ausfälle und der verletzendsten Spöttereien von czcchischer Seite. Die
Regierung zeigte sich dem Vereine bei seiner Gründung hold, denn damals,
unter Schmerlings Regime, hatte man noch nicht den „slavischen Standpunkt
Oestreichs erkannt", und hatte die Parole vom deutschen Berufe Oestreichs noch
nicht aus dem Wortschatze gestrichen. Man sah es gern, daß die Deutschen
in Böhmen an Macht zunahmen, natürlich insofern, als sie der Negierung
eine bereitwillige Stütze gaben. Darum traten auch zahlreiche höhere Beamte
in den Verein und in Regierungstreiscn förderte man die Ausbreitung. Auch
der deutsche Klerus schloß sich bereitwillig dem Vereine an, nicht ohne die Ten¬
denz, ihn vor einer abschüssigen Richtung zu bewahren und den katholischen
Charakter in der Geschichtsforschung hervorzukehren.
Am regsten war aber die Betheiligung des deutschen Bürgerstandes im
ganzen Lande; denn dieser sah ein, daß hier ein Mittelpunkt zur Sammlung
alles dessen gegeben sei, was Förderung deutschen Wesens in Böhmen betrifft;
und war es doch auch ausgesprochene Tendenz, durch Herausgabe von Städte-
chrvniken alles, was auf Bürgerthum und Gewerbcfleiß sich bezieht, vorzugs¬
weise zum Gegenstand der publicistischen Thätigkeit zu machen.
Nach Jahresfrist zählte der Verein etwa 2,000 Mitglieder und verfügte
über so ansehnliche Geldmittel, daß er nebst der Vereinszeitschrift noch Special-
cnbeitcn aus dem Bereich der Geschichte der Deutschen in Böhmen auf seine
Kosten herausgeben konnte. Mi. regem Eifer und wissenschaftlicher Strebsam¬
keit betheiligten sich besonders die jüngeren Kräfte an den Arbeiten und die
„Mittheilungen", welche derselbe in periodischer Reihenfolge herausgiebt. ent¬
halten höchst schätzenswerthe literarische Beiträge: Historische Monographien ein¬
zelner Orte Deutschböhmens, charakteristische im Munde des deutsch-böhmischen
Landvolkes lebende Sagen von ästhetischem und historischem Interesse, Biogra¬
phien hervorragender Deutscher aus Böhmen, Episoden aus der deutschen und
böhmischen Geschichte, Mittheilungen über die Dialekte und die sprachliche Ent¬
wickelung, über Volksgebräuche und Feste, statistische Nachweise über die deutsche
Bevölkerung in den verschiedenen Bezirken u. s, w.
Einzelne dieser Aufsätze haben wesentlich praktische Bedeutung für die
gegenwärtige politische Tagesbewegung und es dürste nicht uninteressant sein,
einiges besonders Prägnante daraus hervorzuheben.
Da ist vor allem eine Arbeit von Hecken ann: „Das deutsch e Sprachen¬
ge biet in Böhmen", welche in schlagender Weise durch Ziffern statistisch dar¬
thut, daß Kerndeutsche Theil Böymens keineswegs ein so geringer Bruchtheil
ist. als es die Radvmontaden der czechischen Partei gern glauben machen wollen.
Das Gebiet der deutschen Sprache in Böhmen, im Allgemeinen den angrenzen¬
den drei deutschen Volksstämmen, im Norden und Osten dem sächsischen, im
Westen dem fränkischen und im super und Südwesten dem östreichisch-bayerischen
Stamme angehörig, umfaßt einen Flächenraum von 344,32 östreichischen Quadrat-
meilen mit circa 1,812,000 Bewohnern oder 38,70 Procent bei einer Gesammt-
bevölkerung von 4.706,000 Seelen nach der letzten Zählung. welche im Jahre
1857 vorgenommen wurde. In Hinsicht der Lage entfällt der größte Theil
oder circa 80 Procent des deutschen Sprachgebietes auf den Norden und Nord¬
westen, wo der ganze Egcrcr, der größte Theil des Saazer und Leitmeriper,
sowie der Bunzlauer und Pilsner Kreis zur Hälfte, deutsch sind. Von geringerer
Ausdehnung erscheint das deutsche Sprachgebiet im übrigen Lande, wo dasselbe
in mehren verschieden großen von einander getrennten Partien vorkommt.
Von hohem Interesse ist ferner eine Abhandlung von Dr. Jos. Winter
über die „ Ferdinand eisch e La ut es ort n un g ". In jüngster Zeit beriefen
sich nämlich die Czechen stets auf die Fcrdinandesische Landesordnung. wenn
sie ihr „historisches Recht" forderten, wenn sie Generallandtage für Böhmen,
Mähren und Schlesien verlangten und auf Vereinigung der Länder „böhmischer
Krone" drangen, kurz wenn sie das ungarische Staatsrecht ins Czechische über¬
setzten und eine „böhmische Frage", ähnlich der ungarischen Frage auf die
Tagesordnung der europäischen Völkerdiscussivn einzuschmuggeln bemüht waren.
Nun geht die obige Abhandlung gründlich auf das Wesen der Ferdinandtischen
Landesordnung ein und vernichtet mit unbarmherziger Hand alle an sie ge¬
knüpfte Illusionen. Das „historische Recht", worauf die Czechen ewig pochen,
ist darnach weiter nichts als Anspruch auf eine Ständeversammlung, die fast
ausschließlich aus Adeligen und Kirchenfürsten besteht und die sich zwei Jahr¬
hunderte hindurch als einen Hort reactionärer Anschauung erwiesen hat; nach
jener Landesordnung ist das jus leßis tsrenäae, das Recht Gesetze zu geben
und die Landesordnung abzuändern, ausdrücklich dem Könige vorbehalten, nach
der Ferdinandeischen Landesordnung war der Bauer unterthänig, der Grund¬
herr übte aber das Recht der erblichen Gerichtsbarkeit, das Jagdrecht, daS Holz,
schlagsrecht, das Propinationsrecht aus. Wie man an ein solches „historisches Recht"
von czechischer Seite wieder anknüpfen, was man aus demselben entwickeln will, ist
völlig unbegreiflich und die einzige Möglichkeit, aus dem mittelalterlichen Wirrsal.
wie es vor dem Jahre 1848 in Böhmen herrschte, herauszukommen, war die,
daß der Kaiser von Oestreich als König von Böhmen sein historisches Recht,
die Landesordnung selbständig abzuändern, zum letzten Male anwandte, um die
ständische Verfassung zu beseitigen und die Februarverfaflung an ihre Stelle zu
setzen. Alle die pomphaften Proteste der Czechen gegen diese Verfassung find
darum auch nichtig. Bestehen sie in ungebührlicher Copiruug der Ungarn auf
ihrem Scheine, fit würden bald einsehen — oder wenn nicht einsehen, doch
fühlen —, welche» Danaergeschenk sie sich herbeigewünscht. Sehr verdienstlich
war, daß bei Beantwortung der kurzweiligen Frage: .Haben die Deutschen eine
Geschichte in Böhmen?" — die recht deutlich die kindische Verachtung der Czechen
gegen ihre Nebensassen charakterisirt — mit einem Hinweis darauf geantwortet
wurde, was das deutsche Element den übermüthigen Stiefgeschwistern geschicht¬
lich bedeutet. Der Verfasser jener unter obigem Titel im Vereinsorgan erschie¬
nenen Abhandlung läßt sichs nicht verdrießen, dem von czechischer Seite den
Deutschböhmen gemachten Vorwurfe geschichtlicher Sterilität mit dem erneuten
Nachweise zu begegnen, daß die Deutschen in Böhmen den Ausschwung de«
Städtewesens gefördert, zum Sturze des Feudalsystem» wesentlich beigetragen
und den Boden für eine freiheitliche Neugestaltung geebnet haben, daß sie den
beträchtlichsten Theil der materiellen und geistigen Güter, die Böhmen besitzt,
hervorbringen und endlich durch ihre Großindustrie daS Material zu einem
künftigen Umbau der socialen Welt mit herbeischaffen. An solche Verdienste
des Bruders und Genossen erst erinnert werden zu müssen, sollte schamroth
machen.
Wir erwähnen nur noch von größeren Arbeiten des Vereins, welche auch
in weiteren Kreisen historisch.politisches Interesse bieten: „Das deutsche Städte¬
wesen und sein politischer und socialer Einfluß auf Land und Volk in Böhmen
und seinen Nebenländcrn", „Bemerkungen über die allmälige Gestaltung der Be-
vvlkerungsverhältnissc Böhmens in national«' Beziehung", „Karl des Vierten
Ordnung der Nachfolge im Reiche", „Böhmen'vor Einwanderung der Czechen
bis zur Unterwerfung durch Karl den Großen", „Das böhmische Königthum".
I» jüngster Zeit hat ein gewisses Aufsehen eine Reihe höchst interessanter
Abhandlungen von Dr. Schlesinger erregt: „Die Dcutschböhmen und
die przemyslidische Regierung", welche auch besonders die eigenthüm¬
liche und viel zu wenig gewürdigte Erscheinung in der böhmischen Geschichte
betont, de>h grade durch die einzige dem czcchischcn Volke entsprossene Dynastie
das Deutschthum in Böhmen mit außerordentlichen Freiheiten privilegirt und
als wahres Schoßkind der Regierung mit der liebreichsten Sorgfalt gehegt und
gepflegt wurde.
Diese Abhandlungen gaben nun Veranlassung zu den schmählichsten Ver¬
dächtigungen der Tendenzen des deutschen Gcschichtsvcreines, welcher den Czechen
stets ein Stein des Anstoßes ist. Um zu zeigen, mit welchen Waffen die Feinde
deutschen Wesens in Böhmen kämpfen, glauben nur den Inhalt der Schmäh¬
artikel reproduciren zu dürfen, welche anläßlich jener Abhandlungen gegen den
Verein geschleudert wurden.
Das in deutscher Sprache erscheinende Organ der czcchischcn Partei sagt
nämlich unter anderem: „Es existirt hier bekanntlich ein Verein, der sich der
Verein der Geschichte der Deutschen in Böhmen nennt, wobei er also schon
durch seinen Namen ostensiv andeutet, daß er nichts von Dentschböhmcn, son¬
dern eben nur von solchen Eingewanderten wissen will, welche Böhmen für
eine gute Prise, für das Land reicher Ausbeute halten. Wir zweifeln nicht,
daß freilich sehr viele, die diesem Vereine beigetreten sind, ihm aus ehrlichen,
guten Absichten beitraten, ohne an das Ominöse der Wahl seines Titels zu
denken. Wir zweifeln nicht, daß diese ehrenwerthen Elemente erröthen werden,
wenn sie sich darüber klar werden, was man ihnen von gewisser Seite bereits
zu bieten, zu imputircn wagt." Im weiteren Verlause jener Schmähartikel
wird der Abhandlung des Dr. Schlesinger ein „wahrhaft hochverräterischer In¬
halt" vorgeworfen und den Dcutschböhmen die Mahnung zugerufen, das Geld
aus ihrer Tasche nicht dazu herzugeben, nur „in den Mittheilungen des Vereins
für Geschichte der Deutschen in Böhmen eine noch dazu sehr ungeschickte Preu¬
ßische Propaganda zu bezahlen."
Fragt man aber, wie solches Wuthgeschrei über Hochverrath durch jene
Abhandlung begründet werde, so muß man über die Bcrdrehungskünste der
czechischen Organe staunen. Der deutsche GeschichtSvcrcin hätte jeizt. so schreit
das Czechenblatt. gar nichts in die Zeitschrift aufnehmen sollen, was des ersten
Einfalles der Brandenburger in Böhmen gedenkt und „ihn sogar in ein civili-
satorischcs Licht zu stellen sucht". Am meisten entsetzt nud in seinem czcchischcn
Patriotcnstolze gekränkt stellt sich das nationale Org.-in, über folgenden Passus
jener Abhandlung: „Es erfolgte die erste Occupation Böhmens durch die
Brandenburger, die von den einheimischen Geschichtsschreibern nicht minder grell
geschildert wird als die späteren während der schlesischen Kriege und die uns
wohl im Andenken stehende des Jahres 18KV." Eine solche Behauptung findet
das czechische Blatt ganz unerhört und mit tückischer Emphase ruft, es' aus:
„Ja wohl, hier wäre also schon mit großer Virtuosität der historische Connex
von der Zeit, wo man die Böhmen in die Höhlen der Gebirge trieb, bis da¬
hin, wo die modernen Brandenburger den sogenannten Czechen Roth ans
Tcautenau wie el» Thier gefangen durch ihre Städte zum Gaudium und zur
schmutzigen Erlustiguug des Straßenpöbclö fühlten, hergestellt. Wie dumm oder
wie arglistig!" —
In Wahrheit steckt hinter allen diesen Wuthausbrüchen nur der Verdruß
über das Gedeihen des deutschen Geschichtsvereins, gegen dessen Tendenzen
jüngst von czechischcr Seite ein Verein für Geschichte Böhmens gegründet ist
dem aber das Interesse des Publikums fehlt, welches dem deutschen Vereine
zu Theil wurde. Diesen« sind seit seiner Begründung nahe an 2.500 Mitglieder
beigetreten und in allen größeren Landstädten Böhmens besitzt er Vcrtreter-
schaflen, welche für die Interessen des Vereins wirken. Die Vereinsthätigkeit
concentrirt sich vorzüglich in seinen vier Se.ctivncn, ^'n denen die erste für
allgemeine Landesgeschichte und OrtSgcschiehte gegründet ist, die zweite für
Sprache, Literatur und Kunst, die du.lie für Rechtsgeschichte, die vierte für
Geographie, Statistik, Handel und Gewerbe. Außer den Vereinsmitthcilungcn,
welche von dem bekannten Sammler der Volkssagen Böhmens Herrn ol'. Virgil
Grohmann redigirt werden, hat der Verein bisher folgende Lpecial.arbeiten her-
auSgegeberu „Die Geschichte der königlichen Leibgcdingstadt Trautenau", „Das
Homiliar des Bischofs von Prag", „Die Laute der t.pler Mundart". „An¬
deutung zur Stoffsammlung in den deutschen Mundarten Böhmens", „Die
Krönung Kaiser Karls des Vierten »ach -solravues Äietus ?orta cle ^.vonmaeo",
„Die Kaiserburg zu Eger und die an dieses Bauwerk sieh anschlußcnden Denk¬
male", „Aberglauben und Gebräuche aus Böhmen und Mähren", „Chronik des
Heinrich Truchseß von Diesscnhoven".
Gegenwärtig bereitet d,er Verein die Herausgabe einer Populären Geschichte
von Böhmen vor, deren Bearbeitung von deutschem Standpunkte aus in der
Die hohe Aufgabe des JahreS 1867 soll sein, die neuen Staatsverhältnisse,
welche aus den Kämpfen des vorigen Jahres hervorgegangen sind, durch die
wichtigsten Acte der Gesetzgebung zu befestigen. Der neue Bund hat in diesem
Jahr nicht nur die staatsrechtlichen Grundlagen seiner Existenz durch Verträge
und durch eine Verfassung zu sichern, auch für fast jedes Gebiet des Verkehrs-
leben» stehen großartige Umbildungen bevor, an denen der gesetzgeberische Beruf
unsrer Zeit sich zu erweisen hat. Die Grenzboten halten eS in diesen Monaten,
wo ein großer Theil unsrer Gesetzgebung in Fluß gekommen ist. für eine Pflicht,
der sie sich nicht entziehen dürfen, den Lesern Bericht zu geben über den ge¬
schichtlichen Verlauf und gegenwärtigen Stand unserer Gesetzgebung auf den
wichtigsten Gebieten unsers Verkehrslebens, sie beginnen diese Uebersicht mit
einer Darstellung der Reformbestrebungen in dem Civilproceß.
Die Klage über Langsamkeit, Kostspieligkeit und Schwerfälligkeit des Ver¬
fahrens im Civilproceß ist in Deutschland keine neue. Wir finden sie in ganz
Deutschland namentlich seit Errichtung des Reichskammergerichts, welches be¬
kanntlich von Anfang an den gemeinrechtlichen Civilproceß, der sich im Mittelalter
zuerst bei den geistlichen Gerichten in Italien ausgebildet hatte, seinem Ver¬
fahren zu Grunde legte.
Schon beim Reichstag zu Worms im Jahre 1621 war alles einig im
Tadel des Verfahrens des Reichskammergerichts. In dem Bericht des Abgesandten
einer Reichsstadt über diese Verhandlungen heißt es wörtlich:
„Man sitzt täglich über der Reformation des Kammergerichts, aber das ist
wie ein wildes Thier; jedermann kennt seine Stärke; niemand weiß, wie er
e» angreifen soll; der eine räth dahin, der andre dorthin."
Dieselbe Klage wiederholt sich auf den spätern Reichstagen. Bald nach
Beendigung de» dreißigjährigen Krieg»» ward duich den sogenannten jüngsten
Reichtabschitd eine Reform de» Civilproceffes versucht, eS ward dadurch in der
That auch manchen Mängeln des Verfahren» abgeholfen, indessen ging diese
Reform doch nicht weit genug, um eine wesentliche Besserung herbeizuführen.
In welchem traurigen Zustande sich da» Reichskammergericht und sei«
Proceß in der zweiten Hälfte de« vorigen Jahrhunderts befanden, ist aus der
Darstellung Goethes bei Beschreibung seines Aufenthalte» zu Wetzlar genügend
bekannt.
Drei Ursachen sind es hauptsächlich, welche die Langsamkeit des gemein-
rechtlichen Civitprocesses veranlaßten; es sind dies die ausschließliche Schrift-
lichkeit des Verfahrens, ferner der Mangel an energischer Proceßleitung durch
den Richter und endlich die Appellabilität 'aller Beweisurtheile. Die Schrift,
lichkeit befördert vorzugsweise die Gründlichkeit der Entscheidungen, sowie die
Mündlichkeit die Schnelligkeit befördert; zu einem gedeihlichen Verfahren gehört
daher Verbindung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit; der Mangel der Proce߬
leitung durch den Richter hatte beim gemeinrechtlichen Verfahren namentlich die
Folge, daß die Parteien und Anwälte vielfältig Gelegenheit zur Verschleppung
der Sache gewannen; nichts trug aber hierzu mehr bei. als die den Parteien
gegebene Befugniß, gegen jedes Zwischenurtheil, jeden Beweisbescheid zu appelliren
und dadurch das Verfahren erster Instanz zu verzögern.
Der vrandenburgifch-preußische Staat hatte sich vom Einfluß der Reichs¬
gerichte schon früh frei gemacht. Schon im Jahre 1ö86 hatte der Kaiser Rudolph
für die Mark Brandenburg ein Privilegium as non axpellanclo ertheilt, wo¬
durch die Kompetenz der Reichsgerichte für die Mark fast ganz aufgehoben war.
Als Grund dieses Privilegiums giebt der Kaiser selbst an. das Justizwesen in
der Mark sei so eingerichtet, daß für jeden Proceß schon drei Instanzen beständen,
übrigens sei seit vielen Jahren keine Berufung aus der Mark an die Reichs¬
gerichte vorgekommen. Das Privilegium von axxvllanäo ward später mehr
und mehr erweitert und zuletzt durch Verordnung des Kaisers Franz des Ersten
vom 31. Mai 1746 für den ganzen Umfang des preußischen Staats und in
Bezug auf alle Processe ertheilt.
Das Proceßverfahren der brandenburgisch-preußischen Gerichte wich nun
aber bis zur zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vielfach von dem der
Reichsgerichte und vom gemeinrechtlichen Verfahren ab. indem sich in ihm sehr
vieles aus dem alten deutschen Processe erhalten hatte.
Noch nach dem von Cvcceji herrührenden Loäex ^Merieianus, welcher
am 4. April 1748 publicirt wurde, war das Verfahren bei den meisten Pro¬
cessen ein mündliches. Nur durch besonderes Erkenntniß konnten Sachen, bei
denen dies wegen ihrer Schwierigkeit als rathsam erschien, xi-oeessum vrai-
»arium, d. h. zum schriftlichen Verfahren verwiesen werden. Uebrigens bestand
für da« Aerfahren bei Obergerichten der Anwaltszwang; die Appellativ« war
nur gegen Endurtheile zulässig.
Im Allgemeinen war mau mit den Resultaten dieses Verfahrens im
vorigen Jahrhundert wohl zufrieden. Es ward von preußischen Juristen zu
Anfang der siebenziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit Stolz hervorgehoben,
daß die Vorzüge des preußischen Civilprocesses auch außerhalb unseres Staats
Anerkennung und Nachahmung fänden.
Was man indessen damals am preußischen Gerichtsverfahren tadeln konnte,
war das Institut der Patrimonialgerichte. die oft mit untüchtigen oder un°
geeigneten Nichten, besehe waren und Seitens der Obergerichte nur sehr mangel¬
haft beaufsichtigt wurden, doch dies Institut war eben ein Fehler der Gerichte-
Verfassung, nicht des Gerichtsverfahrens.
In, Jahre 1781 ward nu» aber durch die carmcrschc Jnstizresvrm das
ganze bestehende Proceßverfahren umgeändert.
Carmer hatte nämlich schon such eine Idee gefaßt. welche nicht nur den
Grundsätzen des damals in Preußen giltigen Processes, sondern auch denen des
altdeutschen und römischen Processes, sowie überhaupt den Principien, die bis
dahin bei allen gebildeten Bölkern gegolten hatten, auss entschiedenste widersprach.
Tuche Idee ging nämlich dahin, es müsse im Civilpreceß nicht das Ber-
handlungöpnncip herrschen, Kraft dessen der Bauch des Processes in den Händen
der Parteien liegt und es deren Sache ist, selbst ihre Rechte wahrzunehmen,
sondern es müsse im C>vilp>occß wie im Cnminalprvceß das Uutcrsuchungs-
verfahren gelten, Kraft dessen der Richter von Amtswegen die Wahrheit zu
ermitteln hat. Zugleich war er der Ansicht, daß man die Advocatur ganz ab¬
schaffen und die Parteien nöthigen müsse, selbst vor Gericht zu erscheinen, um
ihre Rechte wahrzunehmen, denn die Advocaten, welche nur das einseitige Inter¬
esse ihrer Auftraggeber im Auge hätten, suchten »ach seiner Meinung nur die
Wahrheit zu verdunkeln und die Sachen zu verschleppen. Als Carmer im Jahre
1774 zuerst seine Ansichten dem Könige Friedrich dem Zweiten vortrug, zog
dieser den damaligen Großkanzler Fürst zu Rathe und dieser sowohl als die
meisten andern zu Rathe gezogenen Juristen crtlälten sich entschieden gegen die
carmcrschcn Ideen; der König verwarf sie auch damals; wenige Jahre darauf
siel jedoch Fürst infolge des bekannten mulier^arnoldschen Ploccsses in Ungnade.
Carmer ward infolge dessen Großkanzler und der König ging nun unbedingt
auf dessen Ideen ein. Die auf Grund dieser Ideen von Carmer entwoifene
Proceßordnung ward am 26. Apiil 1781 publ.cire. Obgleich dieselbe gegen den
Rath der vorher gulachuich über sie gehörten Juristen eingeführt wurde, läßt
sich doch nicht verkennen, daß sie in ihren Hauptcigcnlhümlichkeitcn grade der
Zeitrichtung, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Deutsch¬
land und namentlich in Preußen herrschte, entsprach.
Von dem, was wir jetzt Selbstregierung nennen, war damals wenig die
Rede; man hielt es vielmehr allgemein für Aufgabe des Staats, die Bürger
in fast allen Verhältnissen des Lebens auf Schritt und Tritt zu bevormunden.
Cs war natürlich, daß diese allgemeine Tendenz des Staats, die sich namentlich
auch in den Schutzzöllen, überhaupt in der ganzen Beaufsichtigung des Handels
und der Industrie aussprach, auch aus die Ordnung des Civilprocesses Einfluß
gewann.
Mit dieser Tendenz hing auch der Haß gegen die Advocaten zusammen,
über die Lcyser schon im Jahre 1730 klagte.
In einem absolut regierten Staate wird der eigentliche Veamtenstand immer
für ehrenvoller gelten, als der Stand der Advocaten, die gewissermaßen zwischen
Beamten und Privatleuten in der Mein stehn. Je mehr aber die Beamten
glauben, alles zu wissen und zu können, desto mehr werden ihnen die Advocaten
als unnütz und entbehrlich erscheinen, desto mehr werden sie geneigt sein, den
Beruf der Advocaten zu verachten und herabzusehen.
Sicher ist, daß in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts fast in
ganz Deutschland Abneigung gegen die Advocaten herrschte und daß damals
der Beruf der Advocatur dem eigentlichen Staatsdienste in der Regel nnr von
Leuten vorgezogen wurde, die wenig Ehrgefühl und Ehrgeiz hatten.
Diese allgemeinen Zciiverhältnisse darf man bei Beurtheilung der carmcr-
schen Proceßordnung nicht außer Acht lassen. Schon im Jahre 1783 sah sich
übrigens Carmcr genöthigt, die im Jahre 1781 eingeführte Institution wesent¬
lich abzuändern.
Um nämlich den Parteien doch nicht ganz die Möglichkeit der Zuziehung
von Nechtsbciständen zu versagen, hatte er ein neues Institut, nämlich das
der Assistcnzräthe eingeführt. Diese sollten den Parteien Rath geben, ihnen
assistiren, aber sie sollten nicht frei von den Parteien gewählt, sondern vom
Richter zugeordnet werden, anch nicht von den Parteien bezahlt werden, sondern
ein festes Gehalt beziehn. Dies Institut erwies sich nun als so völlig unprak¬
tisch, daß man es schon im Jahre 1783 wieder abschaffte und die Advocaten
unter dem Namen Justizcommissaricn mit allerdings sehr beschränkten Rechten
wieder einführte. Mit dieser Modifikation bestand nun die carmersche Proceß-
ordnnng lange Jahre; die im Jahre 1794 publicirte Allgemeine Gerichtsordnung
war nur eine wenig veränderte Bearbeitung derselben.
Als Preußen im Jahre 1815 die Rheinlande erworben hatte, in welchen
man bis auf Weiteres das französische Gerichtsverfahren beibehielt, fand man
eine Revision wie der ganzen preußischen Gesetzgebung, so auch des Civilproccsses
nöthig. Unter Leitung des Justizministers Grafen Dankelmann ward Rein¬
hardt, damals Anwalt beim rheinischen Revisionshof zu Berlin, mit Revision
des Civilprocesscs beauftragt. Reinhardt arbeitete nun aber eine Proceßordnung
aus, welche sich in den meisten wesentlichen Punkten an die Grundsätze des in
der Rheinprovinz giltigen französischen Civilprocesscs anschloß. Der letztere ist
bekanntlich in dem 1806 publicirten cveta; d« pi-oevilurv civil« notificirt. Dieses
Gesetzbuch ist aber nur eine wenig veränderte Bearbeitung einer bereits im
Jahre 1667 erlassenen Orclcmnkmev Ludwigs des Vierzehnten, welche in den
Meisten Punkten auch nicht neuerfundene N>ab>e>Satze enthielt, sondern nur das
bereits seit langer Zeit bei den französischen Parlamenten übliche Verfahren
zusammenfaßte. Der französische Eivilprvceß verdankt also nicht wie die car-
»u'ische Pioceßlndnung seinen Ursprung der individuelle» Ansicht eines einzelnen
begabten und energischen Mannes, sondern er hat sich allmälig im Laufe der
Jahrhunderte ausgebildet.
Er beruht, wie die meisten Proceßordnungen gebildeter Nationen alter und
neuer Zeit, z. B. schon der attische und der zur Zeit Jusiinians geltende römische
Civilproceß auf einer Verbindung von schriftlichen und mündlichem Verfahren.
Die Parteien müssen beim ordentlichen Processe, also abgesehn von den vor den
Friedensrichter verwiesenen Streitigkeiten über geringe Objecte, durch Anwälte
vertreten sein, welche durch die von ihnen gewechselten Schriften die mündliche
Verhandlung vor dem erkennenden Gerichte vorbereiten. Es finden nur zwei
Instanzen statt. Nur als außerordentliches Rechtsmittel findet gegen ein Er¬
kenntniß zweiter Instanz die Nichtigkeitsbeschwerde statt, bei der aber nur geprüft
wird, ob bei dem Erkenntniß zweiter Instanz gegen einen Rechtsgrundsatz oder
gegen eine wesentliche Vorschrift des Verfahrens verstoßen ist und welche auch
nur den Erfolg haben kann, daß das Erkenntniß zweiter Instanz aufgehoben
und die Verhandlung der Sache an ein anderes Gericht zweiter Instanz ver¬
wiesen wird.
Reinhardts bereits im Jahre 1827 ausgearbeiteter Entwurf wqrd nun aber
in vielen wichtigen Punkten vom Grafen Dankelmann nicht gebilligt, er mußte
vollständig umgearbeitet werden, wurde jedoch auch in dieser veränderten Gestalt
nicht eingefühlt, weil inzwischen der Graf Dankelmann gestorben war und der
an seiner Stelle mit der Gesetzrevision beauftragte Minister v. Kamptz ein prin¬
cipieller Gegner aller Neuerungen war, die aus Frankreich entlehnt zu sein schienen.
In der Praxis hatten sich indessen die größten Uebelstände infolge des Ver¬
fahrens der Allgemeinen Gerichtsordnung herausgestellt, namentlich klagte man
über eine unerträgliche Verschleppung grade der allereinfachsten Processe. Durch
eine Brochüre des Nechtsanwalts Marchand zu Berlin ward der König Friedrich
Wilhelm der Dritte persönlich aus diesen Uebelstand aufmerksam gemacht; es
gab dies trotz des Widerstrebens des Ministers v. Kamptz Veranlassung zum
Erlaß der Verordnung vom 1. Juni 1833. welche größtentheils wörtlich an«
dem reinhardtschen revidirten Entwürfe entlehnt ist und welche für einfache
Sachen, die sogenannten summarischen Processe, ein abgekürztes Verfahren mit
mündlicher Schlußverhandlung vorschrieb. In der Praxis bewährte sich die«
Verfahren so gut. daß man eS mit einigen Modificationen durch die Verord¬
nung vom 21. Juli 1846 auf alle Processe ohne Ausnahme ausdehnte. Diese
teilweise Annahme des Princips der Mündlichkeit ist gegenwärtig von fast
allen Praktikern gebilligt. Zwar verlangen viele weitere Aenderungen, aber eS
ist uns nicht bekannt, daß irgendein Jurist Rückkehr zur unveränderten Allgemei¬
nen Gerichtsordnung wünschte. Durch die Verordnung vom 2. Januar 1849
wurden die Patrimonialgerichtsbarkeit und der eximirte Gerichtsstand aufgehoben
und die jetzt bestehende Gerichtsverfassung eingeführt.
Es war im Jahre 1848 auch die Absicht gewesen, ein neues Gerichts¬
verfahren für den ganzen preußischen Staat einzuführen. Im Auftrage des
Justizministers Bornemann hatte Koch, anerkannt der ausgezeichnetste Schrift¬
steller über preußisches Recht, sich dieser Aufgabe unterzogen und bereits 'zu
Anfang 1849 den Entwurf einer Proceßordnung und Gerichtsverfassung ver¬
öffentlicht. Auch Koch hatte wie Reinhardt im Wesentlichen überall die Be¬
stimmungen des rheinisch-französischen Civilprvccsses adoptirt; auch sein Entwurf
ward jedoch nicht eingeführt und blieb, so werthvoll er war, in der juristischen
Literatur wenig beachtet. —
Als der deutsche Juristentag im Jahre 1859 in Berlin zusammentrat, stellte
Waldeck den Antrag, die Versammlung möge sich für Einführung einer gemein¬
samen deutschen Civilprvceßordnung aussprechen. Dieser Antrag fand allgemeine
Zustimmung. Waldeck hatte zugleich fünf Sätze als zu beachtende Normen des
Civilprocesses vorgelegt, indem er in der Hauptsache sich an den reinhardtschen
Entwurf vom Jahre 1827 anschloß und dessen Motive in seinem schriftlichen
Antrage zum Theil wörtlich allegirte.
Ueber die fünf von Waldeck aufgestellten Grundlagen des Civilprocesses
entspann sich eine sehr interessante Debatte, die zum Theil noch auf dem zweiten
Juristentag zu Dresden fortgesetzt ward und zuletzt mit Billigung des ganzen
waldeckschen Antrages schloß.
Es stellte sich bei dieser Debatte heraus, daß die Juristen der verschiedenen
deutschen Länder einander kaum verstanden, so z. B. faßten die hannoverschen
Juristen den Begriff eines Beweisrcsoluts ganz anders auf als die preußischen;
es zeigte sich aber auch ferner, daß von allen deutschen Juristen nur die
Hannoveraner und Rheinländer mit dem bei ihnen gellenden Processe zufrieden
waren.
Folge dieser Debatten war es hauptsächlich, daß die hannoversche Proce߬
ordnung vom 8. November 1850 in ganz Deutschland bekannt wurde. Sie ist
in der Hauptsache der genfer Proceßordnung nachgebildet, welche letztere eine
Bearbeitung des französischen Processes ist. Als Hauptvcrsasser der hannover¬
schen Proceßvrdnung gilt Leonhardt, weiland hannoverscher Justizminister.
Die Verhandlungen des deutschen Juristentages gaben nun Veranlassung,
daß durch Cabinetsordre vom 25. Februar 1861 in unserem Staate unter dem
Vorsitz des ehemaligen Justizministers Bornemann eine Commission gebildet
wurde, um, wie es in der Cabinetsordre heißt, „eine Civilproceßordnung aus¬
zuarbeiten, die sich >zur Einführung in allen Landestheile der Monarchie und
womöglich auch zur Herbeiführung einer gemeinsamen deutschen Gesetzgebung
eigne."
Kaum hatte diese Commission ihr Werk begonnen, so traten auf Ver¬
anlassung des deutschen Bundestags Abgesandte von Oestreich und den meisten
übrigen Staaten Deutschlands in Hannover zusammen behufs Berathung über
einen gemeinsamen deutschen Civilproceß. Preußen lehnte offenbar aus rein
politischen Gründen ab, diese Conferenz zu beschicken.
Sowohl von der bornemannschen Commission, zu welcher namentlich Pape
und Kühne gehörten, als von den Theilnehmern der Conferenz zu Hannover
sind Entwürfe einer Civilproceßordnung ausgearbeitet, welche seit zwei Jahren
der öffentlichen Beurtheilung vorliegen.
Beide Entwürfe beruhen im Ganzen durchaus auf denselben Grundsätzen.
Sie legen beide dem Proceßverfahren die Verhandlungsmaxime zu Grunde,
geben aber dem Richter das Recht der Proccßleitung, während die Parteien
den Betrieb des Processes haben; beide unterscheiden für die erste Instanz das
Verfahren vor dem Einzelrichtcr, welches nur bei geringfügigen Streitobjecten
stattfindet, und das vor Collegialgerichten; bei legerem Verfahren haben sieden
Anwaltszwang und überlassen den Parteien den Betrieb des Processes sowie
der Execution. In allen diesen Beziehungen sind beide Entwürfe durchaus im
Einklang mit dem rheinisch-französischen Processe; sie weichen von diesem letztern
jedoch — und wie wir glauben, mit vollem Rechte — in einem wesentlichen
Punkte ab; während nämlich das rheinisch-französische Verfahren gegen bloße
Bewcisurtheile Appellation zuläßt, erklären unsere beiden Entwürfe die Beweis-
resolute für nicht appellabel. In dieser Beziehung haben unsere Entwürfe die
Autorität unseres bisherigen preußischen Processes sowie des alten römischen
Rechts für sich, welches letztere bereits, um die Unzahl von Berufungen, die
nur zur Verzögerung dienen, abzuschneiden, das einfache Princip hatte, daß nur
gegen Endurtheile (äolinitiviKZ LLllt<Zirtig.k!) Appellation stattfinde; auch Waldeck
hatte in seinen vom Juristentage genehmigten Anträgen, welche offenbar vom
größten Einflüsse auf die Abfassung beider Entwürfe gewesen sind, sich gegen
die Appellabilität bloßer Zwischen- oder Bewcisurtheile ausgesprochen. —
Die Differenzen in Einzelheiten zwischen beiden Entwürfen können wir
hier nicht erörtern, sie sind sämmtlich unwesentlicher Natur; was die Form be¬
trifft, so verdient unstreitig der in Hannover ausgearbeitete Entwurf den Vor¬
zug vor dem preußische» EntWurfe, denn ersterer ist mit weit mehr Präcision
abgefaßt als der letztere; er zählt nur 684 Paragraphen, während der preu¬
ßische 1,389 zählt.
Nach Veröffentlichung des preußischen Entwurfs der Proccßordnung wurden
die Gerichte zum Bericht darüber aufgefordert.
Diese Berichte sind großentheils ungünstig für den Entwurf ausgefallen,
weil viele, namentlich unter den älteren Juristen die Mangelhaftigkeit unseres
jetzigen Verfahrens noch nicht genügend erkannt haben.
Unser jetzt geltender preußischer Civilproceß ist nicht ein einheitliches auf
nem Grundgedanken beruhendes Ganze, wie solches die carmcrsche Proceß^
ordnung bei allen ihren sonstigen Fehlern war, sondern er ist eine schlecht zu¬
sammengefügte Verbindung der verschiedenartigsten, zum Theil einander wider¬
sprechenden Principien. Nichts ist z. B. seltsamer als die mündliche Verhand¬
lung in erster Instanz, wie sie jetzt bei uns stattfindet. Nach geschehenem
Schriftwechsel erscheinen die Parteien in Person oder durch ihre Anwälte vor
dem erkennenden Gerichte. Nun aber tragen nicht etwa die Parteien selbst ihre
Behauptungen und Anträge dem Gerichte vor, sondern einer der Richter liest
oder trägt ihnen vor, was bisher an factischen Behauptungen und Anträgen
der Parteien in den Acten enthalten ist. Hierauf dürfen die Parteien ihre
Nechtsausführungcn vortragen und das Gericht faßt dann seinen Beschluß. Mit
dem Proccßverfahren steht nun auch die Gerichtsverfassung in nächster Ver¬
bindung. Eine Folge unseres jetzigen Proceßvcrfahrens und allerdings auch
unserer Vormundschaftsordnung, welche in echt bureaukratischer Weise die ganze
Leitung der Vormundschaft in die Hände des Gerichts legt, ist daher auch die,
daß kein Staat verhältnißmäßig so viel Richter und so wenig Anwälte zählt
als unsere sogenannten alten Provinzen.
Vergleichen wir in dieser Beziehung einmal die Rheinprovinz mit den übrigen
Provinzen. Nach der officiellen Zusammenstellung im Ministerialblatt von 18S8
S. 300 betrug damals die Zahl der Richter und Directoren bei sämmtlichen Ge¬
richten erster Instanz in den sieben alten Provinzen 2,603. während die Zahl
der Rechtsanwälte und Notare in diesen Provinzen 1,100 betrug. In der Rhein-
Provinz dagegen waren bei den Landgerichten 108, bei den Friedensgcrichten
123 richterliche Beamte angestellt, und bei diesen Gerichten fungirten 138 Nechts-
anwcilte und 227 Notare. Es ist also in der Rheinprovinz die Zahl der An¬
wälte und Notare erheblich größer als die der Richter, während sie in den
alten Provinzen noch nicht die Hälfte der Zahl der Richter erreicht.
Mit der außerordentlich großen Zahl unserer Richter hängt es wieder zu¬
sammen, daß ihre Besoldung eine äußerst kärgliche ist, während die Anwälte
der alten Provinzen, da sie nicht auf ein festes Gehalt, sondern auf-Gebühren
angewiesen sind, meistens ein genügendes Auskommen haben. Die natürliche
Folge davon ist, daß in unseren alten Provinzen die Anwaltsstellen weit ge¬
suchter sind als die Nichterstcllen. Während in fast allen anderen Staaten die
Abvocatur als Vorbereitung zum Nichteramte gilt, betrachten bei uns sehr viele
der tüchtigsten Richter ihr Amt nur als eine Durchgangsstellung, welche sie eine
Zeit lang einnehmen müssen, um Advocaten werden zu können.
Zur Zeit bestehen bei uns noch die von Carmcr herrührenden Bestimmungen
Zu Recht, wodurch jedem Juristen, der sich dem Staatsdienste widmet, die
Examina besteht und sich nichts Ehrenrühriges zu Schulden kommen läßt,
Anstellung als Richter versprochen wird. Diese Anstellung kann daher
der Justizminister gesetzlich eurem unbescholtenen Assessor uicht versagen;
dagegen hängt es ganz von seinem Ermessen ab, wen er zum Rechtsanwalt
ernennen will.
Unsere preußische Gerichtsverfassung steht nun im klarsten Widerspruch
nicht nur mit den Instituten aller anderen gebildeten Nationen, sondern auch
mit einem Grundsatze, der seit langer Zeit in der Wissenschaft als Axiom gilt
und in neuerer Zeit in unserem Staate in den meisten anderen Gebieten des
öffentlichen Lebens mehr und mehr praktische Anerkennung gefunden hat.
Wir meinen den zuerst von dem berühmten Nationalökonomen Adam Smith
aufgestellten Satz, daß der Staat durch seine Beamten nur das thun lassen
müsse, was durch Privatleute nicht geschehen könne, daß er möglichst viel der
Privatthätigkeit seiner Bürger überlassen soll.
Oeffentliche Arbeiten von der höchsten Bedeutung, namentlich Chausseen,
Kanäle, die noch vor einem halben Jahrhundert nur unter directer Leitung des
Staats unternommen wurden, werden jetzt meistens von Gemeinden, Kreisen
oder einem Verein von Privatleuten gebaut. Die Eisenbahnen sind zum größern
Theile durch die vom Staate nur beaufsichtigte Privatindustrie ins Leben ge¬
rufen. Der Bergbau war im vorigen Jahrhundert nicht nur der Oberaufsicht,
sondern auch der directen Leitung der Staatsbehörden unterworfen; man hat ihn
gegenwärtig, soweit es sich nicht um fiscalische Bergwerke handelt, ganz der
Leitung der Bergwerksbesitzer überlassen.
Warum soll nun das, was auf so vielen anderen Gebieten des Lebens
gilt, nicht auch auf den Civilproceß Anwendung finden? Es handelt sich im
Civilprocesse doch nur um Privatrechte der Parteien; ob die Partei klagen will,
steht auch jetzt in ihrem Belieben; man überlasse nun, wie fast in allen anderen
Ländern üblich ist, den Proceßbetneb den Parteien und den von ihnen an>
genommenen Anwälten und behalte dem Richter nur die Proceßleitung vor;
man gebe ferner, wie in Frankreich und am Rhein, die Verwaltung der Vor«
mundschaften, welche jetzt bei uns nach Carmcrs Anordnung eigentlich der
Richter hat. in die Hände der Vormünder und der Familien der Pflegebefohlenen,
und wir werden in den sogenannten alten Provinzen dasselbe numerische Ver-
hältniß der Richter und Anwälte haben können, wie in der Rheinprovinz. Ist
dies der Fall, so werden wieder, wie früher auch bei uns der Fall war, die
Richter aus der Zahl der Anwälte gewählt werden können; der Richterstand
wird nicht mehr eine Vorbereitung zur Advocatur sein; die Juristen, welche die
vorschriftsmäßigen Prüfungen machen, werden dadurch nur die Berechtigung
zur Advocatur erlangen und mit der Wahl der Richter aus der Zahl der Aovo-
caten wird man es dann ähnlich machen können, wie jetzt mit der Wahl
der Verwaltungsbeamten.
Sowie die Bürgermeister und Stadträthe in den Städten von den Stadt¬
verordneten, die Landräthe von den Kreisständen gewählt und demnächst von
der Regierung, resp, dem Könige bestätigt werden, so würde es unseres Trach¬
tens angemessen sein, auch wenigstens bei Besetzung der Nichterstellen erster
Instanz irgendeine Mitwirkung der Gcrichtseingesesscnen. in den Städten der
Stadtverordneten, auf dem Lande der Kreisstände eintreten zu lassen. Die
jetzige rein büreaukratische Form der Besetzung der Nichterstellen besteht eigent¬
lich erst kurze Zeit, denn bis 1808 hatten in unserem Staate in den meisten
Städten die Magistrate das Recht der Wahl der Richter, welche meistens zum
Magistrat gehörten; auf dem Lande war bei den Patrimonialgerichten. die bis
1849 bestanden, die Wahl der Richter in den Händen der Gerichtsherren; so
wenig man nun daran denken kann, diese alte Art der Besetzung der Gerichte zu
erneuern, so sehr entspricht es dem Geiste unserer Zeit, den Gerichtseingessenen
wenigstens ebenso viele Mitwirkung in Bezug auf die Ernennung der Richter
erster Instanz einzuräumen, als sie jetzt in Bezug auf die Wahl der Verwal¬
tungsbeamten (Landräthe, Bürgermeister, Stadträthe) haben. —
Eine durchgreifende Aendening der Gerichtsverfassung ist indessen ohne
Aenderung des Gerichtsverfahrens nicht möglich. Da nun die Mängel unserer
Gerichtsverfassung von Jahr zu Jahr immer fühlbarer werden, muß auch das
ein Motiv für Reform unseres Gerichtsverfahrens sein.
Wenn somit die dringendste» Gründe für diese Reform sprechen, wenn es
ferner nicht zweifelhaft sein kann, daß die von Reinhardt. Koch, Waldeck und
Bornemann adoptirten und seit Jahrzehnten in Hannover und den Rheinlanden
mit bestem Erfolge angewandten Principien des französischen Processes unserem
neuen Verfahren zu Grunde zu legen sind, so darf über dem Streben nach
Besserung des preußischen Processes die Herbeiführung einer gemeinsamen Pro¬
ceßordnung für Deutschland nicht außer Acht gelassen werden. Die juristische
Commission des neuen Bundesraths soll dem Vernehmen nach die Autorität
sein, in deren Hand diese große Besserung unserer Rechtsverhältnisse gelegt wird.
Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, daß der in Hannover von
den Bevollmächtigten Oestreichs und der meisten kleineren Staaten abgefaßte
Entwurf einer deutschen t'ürgerlichen Proceßordnung in materieller Beziehung
in allen wesentlichen Punkten mit unserem preußischen EntWurfe übereinstimmt,
daß er dem letztem aber in formeller Beziehung wegen seiner größeren Präcision
und Kürze weit vorzuziehn ist.
Aber ganz abgesehen von den Vorzügen oder Mängeln dieser beiden Ent¬
würfe ist eine gemeinsame bürgerliche Proceßordnung für ganz Deutschland in
hohem Grade wünschenswerth. Es muß endlich der jetzige Zustand aufhören,
wo der rheinische Jurist das Proceßverfahren Frankreichs besser kennt als das
des übrigen preußischen Staats, wo die Juristen der alten Provinzen Preußens
nichts von dem Verfahren in Sachsen. Bayern, Würtemverg wissen.
Die Gemeinsamkeit der deutschen Rechtswissenschaft, die glücklicherweise nie
ganz aufgehört Hot, wird eine neue Bedeutung gewinnen durch ein gemein¬
sames deutsches Gesetzbuch, zu dessen Herbeiführung eine deutsche Proceßordnung
den ersten Schritt bildet. Im Processe zeigt sich oft der Charakter des ganzen
Staats. Der gemeinrechtliche Proceß, beruhend auf Satzungen des kanonischen
und römischen Rechts, Neichsgesetzen und einer oft nur aus Mißverständnissen
hervorgegangenen Praxis, hat dieselbe Schwerfälligkeit und Unbehilflichkeit. die
seit Jahrhunderten im Staatswesen des heiligen römischen Reichs deutscher
Nation herrschte. Die carmersche Prvccßordnung zeigt den kräftigen Willen,
rasch und rücksichtslos das Recht zu verwirklichen, zugleich aber auch denselben
absolutistischen und bureaukratischen Geist, der den preußischen Staat damals
charakterisirte.
Aufgabe unserer Zeit ist es nun, festzuhalten an dem energischen Streben
der Verwirklichung des Rechts, aber dabei der Selbstthätigkeit des Privat¬
manns größeren Spielraum zu gestatten, als dies im achtzehnten Jahrhundert
der Fall war.
Die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des Civilprocesses haben in
Deutschland vorzugsweise zwei Feinde zu bekämpfen, welche auch auf anderen
Gebieten unseres öffentlichen Lebens dem vernünftigen und besonnenen Fort¬
schritte entgegentreten, nämlich das Princip der zu weit getriebenen staatlichen
Bevormundung oder des Bureaukrat>sans und das Princip des Particularis-
mus. Zu den großen Resultaten des Jahics 1866 gehört, daß sie auch nach
Dr. Schwabe: Die Förderung der Kunstindustrie in England und der Stand dieser
Frage in Deutschland für Staat und Industrie, Gemeinde, Schul- und Vereins-
wesen. Berlin, Guttentag. 18»«,
Seit jener Druck, der während der Neactionsperiode auf Preußen und
speciell auf seiner Hauptstadt jede selbständige Regung des Volkslebens lähmend
und erstickend lastete, von der Bevölkerung gewichen ist>, nimmt das Vereins¬
wesen in derselben von Jahr zu Jahr immer kräftigeren Aufschwung. Man
gewöhnt sich mehr und mehr vom Staat nicht die Initiative zu verlangen, wo
es Verbesserung fühlbarer oder klar erkannter Mängel unserer bürgerlichen Zu¬
stände, oder Einführung neuer segensreicher Einrichtungen gilt, sondern bemüht
sich zunächst, das allgemeine Interesse derer, die es unmittelbar angeht, für den
Zweck zu erregen, es durch fortgesetzte Agitation, durch Aufklärung, Verbreitung
der richtigen Ansicht von der Sache zu erwärmen, um so einmal aus der frei¬
willigen Selbstbesteuerung wenigstens theilweise die ersten Mittel zum Anfang
der praktischen Verwirklichung des richtigen Gedankens zu gewinnen, und andrer¬
seits das immer nicht gering zu schätzende Gewicht der allgemeinen Ueberzeugung
zum bestimmenden Factor bei den Entscheidungen der Regierung zu erheben.
Unter den Zwecken, für welche man in Berlin agitirt, Vereine bildet, Vor¬
lesungen hält, sammelt und redet, ist selbstverständlich manches unklare, ja
lächerliche Object, das all des Aufwands von Aufregung und Rhetorik keines'
wegs werth ist. der von manch einem Männlein und Fräulein zu seinen Gunsten
gemacht wird. Aber ebenso wenig fehlt es an höchst vortrefflichen wohlgewählten
Zielen. Zu solchen Agitationen, deren schneller und vollständiger Erfolg der
ganzen vaterländischen Cultur zum hohen Segen gereichen würde, gehört be¬
sonders die, welche im Herbst des letzten Jahres in Berlin angeregt, auf die
Errichtung eines wirklichen nationalen Kur sti ut ustrie-Musen in s und damit
zu verbindende Kunstgewerblchranstalten ausgeht.
Die seltsame und überraschende Thatsache ist leider nicht zu läugnen, daß
grade der „Staat der Intelligenz" nicht nur unter den europäischen Genossen,
wie Frankreich und England, sondern auch unter den übrigen deutschen Haupt- und
Mittelsiaatcn in Bezug auf diese immer dringender nothwendig werdenden Ein¬
richtungen am allerweitesten zurückgeblieben, sich am allergleichgiltigsten gegen
das offenbare Bedürfniß Verhalten hat. Trotz der hohen Stufe der allgemeinen
Volksbildung, trotz der Gunst und Pflege, welche die specifische Kunst und die
Wissenschaft Seitens der preußischen Regierung erfahren hat, ist die Bildung
des Geschmacks, des praktisch-ästhetischen Sinns, die Fähigkeit, dasselbe gar
selbständig zu erzeugen, in der Masse der norddeutschen, also vorwiegend preu¬
ßischen Bevölkerung, der arbeitenden wie der sogenannten gebildeten, durch¬
schnittlich auf einer so wenig erfreulichen Stufe der Entwickelung, daß wir uns
über den Mangel nicht täuschen können, welcher vorwiegend in den zur Be¬
förderung dieser Seite der Cultur dienenden Instituten zu suchen ist. Zum
Vergleiche brauchen wir zunächst, wie gesagt, das Ausland gar nicht heranzu¬
ziehe». Schon Süddeutschland ist uns hierin weit voraus. Bayern hat in
Nürnberg jene „Kunstgewerbeschulc", welche, mit einem „Kunst- und Gewerbc-
museum" verbunden, unter des trefflichen Kreling Leitung bereits für die künst¬
lerische Veredlung der dort geübten Gewerbe, für Erziehung des ästhetisch.»
Sinns ihrer Genossen sehr erfreulichen Einfluß bewährt. In Baden verfolgt
die 1865 zu Karlsruhe begründete Landesgewerbchalle »ach sehr vernünftigem
Plane die gleichen Zwecke. In Würtemberg sind ähnliche und noch vielseitiger
ausgedehnte Institute durch die Centtalstelle für Gewerbe und Handel ins Lebe"
gerufen. Und in Oestreich strebt das 1864 zu Wien eröffnete „Kaiserlich könig¬
liche Museum für Kunst und Industrie" mit großer Energie und reichen Mitteln
für die Gewerbe des Landes alles das zu leisten, was man bei Begründung
der vorher genannten beabsichtigt hat. Die gewerbtreibenden Classen fangen
auch bei uns in Preußen an lebhaft den Nachtheil zu empfinden, der daraus ent¬
steht, daß derartig organisirte Bildungsschulen mangeln. Die Einsicht ist nicht
mehr blos auf wenige „Kenner" beschränkt, daß wir, d. h. wir Modernen aller
Länder, trotz der gepriesenen großartigen Blüthe unserer Industrie im Vergleich
zu den Völkern des Alterthums, des Mittelalters und der Renaissance, ja selbst
im Vergleich zu den von uns aus der Höhe unserer Civilisation herab sonst
so verächtlich angesehenen Völkern des Orients dennoch nur Barbaren sind in
allem, was Schönheit und Stil unserer industriellen Erzeugnisse, was Gefühl
für Harmonie der Farbe und Form, was Erfindungskraft in allem Lebensschmuck
und Zierrath betrifft.
Weder die preußischen Gewerbeschulen, noch das Gewerbeinstitut zu Berlin,
noch die Akademie der Künste können etwas von dem leisten, was hier grade
noth thut. Sie beschränken ihre Lehrthätigkeit auf einen viel zu kleinen Bruch¬
theil der arbeitenden Bevölkerung und ihre innere Organisation schließt eine
Einwirkung in jenem Sinn und jener Richtung aus. Dagegen besitzt Preußen
bereits einige Sammlungen von höchst bedeutendem und hierfür wichtigstem
Inhalt, aus welchen in eines einsichtigen und kräftigen Mannes Hand sehr
wohl ein großartiges Kunst- und Gewerbemuscum gebildet werden könnte, eine
durch Anschauung unmittelbar lehrende und wirkende Mustersammlung also, an
welche dann die zum eigenen Schaffen und Gestalten heranbildende Lehranstalt
anzuschließen wäre. Wir nennen außerhalb Berlin die an Reichhaltigkeit und
weiser systematischer Anordnung kaum übertroffene „ Minutvlische Vorbilder¬
sammlung zur Beförderung der Gewerbe und Künste zu Liegnitz", diese be-
wundernswerthe Schöpfung der von Begeisterung und feiner Erkenntniß getrage¬
nen Energie und Hingebung eines Privatmanns. Es sind ferner in Berlin
die Wagnersche Galerie als Grundstamm einer Nationalgalcrie der modernen
und vaterländischen Meister, und die Schätze an edlen Mustern der Kunst¬
industrie jeder Art und aller Zeiten und Völker, welche das alte und neue
Museum bewahrt, ohne sie bei der gegenwärtigen Art der Aufstellung und Ver¬
wendung eigentlich für die zunächst betheiligten Kreise und Classen nutzbar
werden zu lassen.
Wenn also einerseits die Schäden klar zu Tage liegen, so gilt das von
den Mitteln zu einer gründlichen Heilung nicht minder. Man braucht in Preußen
nicht von vorn anzufangen und aus dem Nichts zu schaffen. In dieser richtigen
Erkenntniß haben sich im vorigen Herbst in Berlin Männer aus verschiedenen
Kreisen der städtischen Gesellschaft dazu verbunden. die schöne und wirblige
Angelegenheit nachdrücklich anzuregen, das Bewußtsein der Nothwendigkeit ihrer
befriedigenden Erledigung immer allgemeiner und eindringlicher zu machen und
für das gerechte Verlangen da Gehör zu finden, wo die Möglichkeit der Er¬
füllung gegeben ist. Die Frau Kronprinzessin, welche diesen Bestrebungen eine
Begünstigung werden läßt, in der mau außerordentliche Bürgschaft des Erfolges
zu sehen berechtigt scheint, hatte bereits im Jahre 186S mit Interesse den
Gedanken einer Kunstindustricschulc für Berlin erfaßt. Sie ertheilte Herrn
Dr. Schwabe den ehrenvollen Austrag, die Bedürfnißfrage einer solchen in einer
Denkschrift ausführlich zu erörtern. Als Folge dieses Auftrages ist das oben
genannte Buch entstanden. Es beruht auf gründlicher Kenntniß des Gegen¬
standes und behandelt ihn, ohne sich in abstractes Theoretisiren zu verirren,
wahrhaft erschöpfend. Die Darstellung der englischen Bestrebungen auf diesem
Felde bildet den Hauptinhalt des Werkchens. Mit gutem Grund. Denn was
im Eingange, anlehnend an die betreffenden Mittheilungen des Verfassers, von
der bisherigen auf dasselbe Ziel gerichteten Thätigkeit in Deutschland gesagt
wurde, erscheint noch als kleiner und unbedeutender Versuch im Verhältniß zu
der Großartigkeit des in England Unternommenen und bereits Erreichten. Hier
scheint wirklich der ideale Begriff der Sache realisirt und die hier ins Lebe»
getretenen Institutionen zur Förderung der Kunstindustrie werden als bestes
Vorbild anzusehen sein, wo es sich darum handelt, den bei uns hervorgetretenen
Uebelständen gründlich abzuhelfen.
Die englische Bewegung, welche zu so bewundernswerthen Resultaten ge¬
führt hat, nahm ihren Ausgangspunkt bekanntlich von der ersten großen Welt¬
ausstellung zu London im Jahre 1831. Das nationale Selbstgefühl konnte die
Engländer nicht darüber täuschen, daß sie auf fast allen Gebieten der Kunst¬
industrie von deu ausländischen Concurrenten in jenem Wettkampf besiegt waren,
daß der Schönheitssinn und die Geschmacksbildung, wie sie sich in den Arbeiten
der Kunstgewerbe auszuprägen haben, bei ihnen nicht den Vergleich aushalten
konnte mit dem, was die Leistungen anderer Nationen boten. Indem man sich
dieses beschämende Resultat offen eingestand, erkannte man auch die Ursache
desselben und ergriff schnell und energisch die Mittel zur Beseitigung des Deficits.
Außer einer Ccntralschule für Musterzeichner, welche 1837 gegründet worden
war, und zwanzig ähnlichen Anstalten im vereinigten Königreich, existirte bis
zum Jahre 1851 überhaupt leine Art von Zcichcnschule für die industriellen
Classen und, ohne die eigentlichen Elemente des Zeichnens und des künstlerischen
Verständnisses ihren Schülern zu lehren, hatten natürlich diese Institute nur
Wenig oder gar keinen Erfolg haben können. Ein in umfassender und syste¬
matischer Weise gehandhabter wissenschaftlicher und künstlerischer Unterricht der
Gewerbtreibenden wurde daher alsbald ins Auge gefaßt. Dies führte dahin,
daß man sofort aus den Überschüssen der Ausstellung ein Kunstmuseum grün-
bete, für das eine Menge guter Muster und Kunstgegenstände durch Ankauf aus
der Industrieausstellung erworben wurden, um damit den Grund für das spätere
Kenfingtonmuseum zu lege». Da^u kündete die Thronrede vo» 1853 bereits
dem Parlament eine Vorlage an. den wissenschaftlichen und künstlerischen Unter¬
richt der industriellen Classen betreffend. Aus dem mil Verwendung der hierfür
bewilligten Gelder betrauten „Oexui'wmcmt, ot practical ^Vrt" entwickelte sich
»um durch eine umfassende Reorganisation das „Deiiiu.rtvmout, ok Lcioirecz iruä
^re", das die Leitung und Durchführung des wissenschaftlich- und tünstlcrisch-
technischen Unterrichts in sich vereinigen sollte. Durch Cabinetsordre vom
25. Februar 1856 ist dasselbe von dem „Lcxrrä ot trg.ä«z" getrennt und mit
dem Erjiehungsausschuß verbunden worden, welchem ursprünglich nur die Sorge
für das gewöhnliche Elementarschulwesen zugefallen war.
Von den deutschen Verwaltungsbehörden ist der Charakter dieses „Gcwerb-
schulamts" grundverschieden. Es will nicht d>ctatvnsch die ihm untergeordneten
Provinzialschulen auf bestimmten Punkten des Staats etablrrcn, sondern seine
Thätigkeit will anregend, die Städte des Landes zu eigener selbständiger Action
leitend und, ist diese einmal erwacht, dieselbe fördernd und unterstützend wirken.
Zu diesem Zweck gründete es vor allem ein hauptstädtisches Ccntralinstitut,
dessen Hauptbestimmung darin bestehen sollte, „Muster, Modelle und sonstige
künstlerisch-wissenschaftliche Erscheinungen anzuschaffen, auszustellen und unter
den Provinzialinstituten zu vertheilen. Dasselbe sollte dem Publikum im All¬
gemeinen zugänglich sein, doch sollten in erster llieihe Personen berücksichtigt
werden, die irgendwo im Lande ein Glied der großen Kette der Erziehung
bilden, so Lehrer, Schüler, Seminaristen. Eine Schule, zugleich genügend den
Ansprüchen auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Kunst sollte mit diesem
hauptstädtischen Institut verbunden werden und von ihr aus und durch sie das
Beste und Neueste der Theorie und Praxis an die Provinzialschulen gelangen."
Diese Grundsätze sind seitdem in der umfassendsten und zweckentsprechendsten
Weise durch die Operationen des Gewcrbschulamts durchgeführt worden. Die¬
selben schlagen zwar verschiedne Richtungen ein, nach der wissenschaftlichen und
nach der künstlerischen Ausbildung. Nach beiden Seiten hin tritt die staatliche
Beihilfe hinzu. Dort durch Prämien für die Lehrer, Unterstützungen beim An¬
kauf der Unterrichtsmittel, Ehreiipreisen bei den Prüfungen und die Prüfungen
für Lehrer selbst. Für die künstlerische Förderung aber entfaltet das Gewerb.-
schulamt weit großartigere Mittel. Der Verfasser ordnet dieselben in gedrängter
Uebersicht in vierzehn Kategorien. 1) Die nationale Kunstschule in Südken-
sington mil dem Seminar zur Heranbildung von Lehrern. 2) Die Museen
und Sammlungen in Südkensington. 3) Errichtung von Kunstschulen. 4) Ge¬
währung von Hilfe zu Bauten für Kunstschulen. 6) Gewährung von Geld¬
mitteln an Vereine zum Unterricht in der Kunst. 6) Gewährung von Geld-
Stipendien ein Seminaristen und Schüler. 7) Jährliche Localinspectionen und
Prüfungen mit Vertheilung von Preise» ein Schüler. 8) Nationale Prcisbe-
werbungen. 9) Geschenke von Knnstgegcnständen und Büchern an Schulen für
Medaillen, die ihre» Schülern zuerkannt sind, 10) Geldprämien an die Kunst-
lehrer für die von ihnen erzielten Resultate. 11) Circulation von Kunstgegen¬
ständen und Büchern des Centralmnseums und der Bibliothek in den Provinzen.
12) Geldbewilligungen zum Ankauf von Modellen, Zeichnenvorlagen. Abgüssen ze.
1^) Internationaler Austausch von Kopien seltener Kunstgegenstcinoe. 14) Veran¬
staltung von Ausstellungen geliehener Kunstgegenstände für wichtige Zweige der
Kuustindustne,
In diesen Arten der Thätigkeit des Gewerbschulamts ist eigentlich alles
erschöpft, was geschehn kann zur „Erweckung des Schönheitssinns und der Ge-
schmacksbildung des großen Publikums einerseits und zur Heranbildung tüch¬
tiger industrieller Künstler andrerseits/' Welcher Erfolg diese Arbeiten gelohnt
hat, zeigte bereits die zweite londoner Weltausstellung von 1862. auf welcher
die englischen Kunstgewerbe den ehemals so hoch überlegnen französischen fast
den Preis des Siegs streitig machten. Ich kann dem Verfasser hier nicht in
das reiche Detail der Aufzählungen folgen, mit welchen er die einzelnen
Paragraphen jenes großartige» „Systems der Beihilfe" erläutert. Die genauesten
Angaben, Verzeichnisse, statistischen Tabellen haben ihm dabei zu Gebote ge¬
standen. Erst dnrch die eingehende Kenntnißnahme seiner Mittheilungen be¬
kommt man eine Anschauung Von dem, was hier nach allen Seiten gethan ist
und von den höchst erfreulichen und imposanten Früchten solcher Thätigkeit.
Es sind keine sinnreicheren Maßnahmen und Einrichtungen zu erdenken, als die
hier getroffenen, welche sich so glänzend bewährten. Das geht durch bis zur
Wahl der einzelnen' technisch-künstlerischen Unterrichtsfächer, der Art der Prü¬
fungen, der Prämien, und culminirt Wohl in dem „Wandermuseum", welches
alle Provinzialschulen zu Miibesil,ern der Vortheile oeS Centralinstituts macht,
besonders aber in dem großen „Südkensington-Museum", das seines Gleichen
niet't auf Erden hat. Sein ungeheurer Inhaltreichthum, die Originalität und
Praktische Weisheit in seiner Gliederung und Anordnung lassen es nur gerecht¬
fertigt erscheinen, daß der Verfasser außer der gedrängten Uebersicht seiner
Sammlungen im ersten Theil, ihm später im zweiten Abschnitte seines Buchs
eine ausführliche Schilderung und Charakteristik all der einzelnen Parthien
widmet, aus denen es zusammenfegt ist. Es gliedert sich in eine wissenschafl-
l'che und eine künstlerische Hauptabtheilung. Jener ordnen sich unter: 1) Die
Sammlung von Schul- und Untcrrichtsgegenständen; 2) das Museum der Con-
stnictimis- und Baumaterialien; !y die Sammlung thierischer Rohstoffe und
Producte; 4) das Museum der Nahrungsmittel; 5> die Sammlung von Mo¬
dellen nud Darstellungen patentirter Erfindungen; l>) die Sammlung von
Schiffsmodellen. Die Kunstabtheilung enthält: 1) Das Museum für orna¬
mentale Kunst; 2) die Sculpturen britischer Künstler; 3) das Architckturmuscum;
4) die Bildergalerien britischer Künstler; S) die Bibliothek. Erwachsen ist dies
umfassende Ganze seit 1832 ans dem damals im Marlboroughhaus befindlichen,
theils aus bereits vorhandenem Besitz, theils gelegentlich der großen Ausstellung
gemachten neuern Antciuscu gebildeten „Museum für ornamentale Kunst", durch
großartige Erwerbungen seitens der Regierung, die mit Energie und Consequenz
von den tüchtigsten, kundigsten Männern betrieben wurden. Im Verein mit nicht
minder großartigen Schenkungen oft ganzer kostbarer Sammlungen seitens
patriotischer gcmcinsinuiger Privaten reichte es bald genug über seine» ursprüng¬
lichen Bestimmungsplan gewaltig hinaus, vertauschte 18S7 sein bisheriges Haus
mit den sehr passend eingerichteten Legalitäten in Südkensiugton und erweiterte
den Kreis seiner Wirkungen aus die Bildung der Bevölkerung dadurch, daß es
seit jener Zeit auch bei Abend den Zutritt gewährte. Zu seinen unabsehbarer
Schätzen jeder Art sind neuerdings noch als höchster Schmuck die sieben ehemals
in Hamptoncvurt bewahrten rafaclischeu Cartons zu den Tapeten im Vatican
gekommen und sehr wahrscheinlich steht die Aufnahme der ganzen herrlichen
„Nationalgalcric" in dieses Museum in nicht zu ferner Aussicht.
Eine ganz eigenthümliche Einrichtung ist die ebenda veranstaltete perio¬
dische Ausstellung kostbarer Privatsanunlungen bestimmter Kunst- oder Kunstge-
werbe-Fächer, welche von den Besitzern oft für mehre Monate hcrgelieh.er
werden, und die den Reiz wie die bildende und lehrende Kraft dieses Museums
aufs höchste zu steigern geeignet ist.
Für den Erfolg der nun auch bei uns begonnenen Agitation zur Herbei¬
führung ähnlicher Einrichtungen ist Dr. Schwabcs Arbeit von großer Wichtig¬
keit. Man findet in ihr alles Material des Erfahrungsbereiches in reicher Fülle
und wohl geordnet beisammen, und kau» aus ihm die genaue Erkenntniß des
zu erstrebenden Zieles schöpfen, durch die derartige» Bestrebungen erst jene prak¬
tische Wirkungsfähigkeit erwächst, welche die allgemeine vorschwebende schöne
Idee ihnen schwerlich zu verleihen vermag.
Brutus und CvllntinnS. Trauerspiel von Albert Lindner. Berlin, Nenner.
(Erste Aufführung in Berlin den 17. Januar.)
Auf die Gefahr hin, daß Sie die Acten über Lindners dramatische Arbeit,
die der Kritik so viel Stoff gesehen hat, schon für geschlossen halten, sende ich
Ihnen die nachsäenden Bemerkungen. Vielleicht gewähren Sie denselben, auch
wenn ich nicht vollkommene Uebereinstimmung erwarten dürfte, den kleinen Raum,
den sie beanspruchen.
Vom Dichter sagen wir wie vom Helden, er ringe nach der Palme des
Sieges, und wenn bei diesem wie bei jenem der schönste Erfolg Sieg über das
eigne Selbst, über seine gemeinere Natur ist, so gilt der Kampf nach außen für
jeden von beiden nicht weniger dem Feinde, den er vernichten, als dem Neben¬
buhler, mit dem er wetteifern soll. Förderungsmittel für Erzeugung des Vor¬
trefflichen ist und war hier wie anderwärts die Concurrenz, von ihrer erhabene»
und umfassenden Gestalt des griechischen Alterthums an, da der Dichter ange¬
sichts der nationalen Heiligthümer unter der Aegis Athenes nicht nur mit so
viele« andern, sondern durch verschiedenartige eigne Werke auch mit sich selbst
kämpfen durste — bis zu jenen, Wetteifer herab, den uns die beiden ehernen
Gestalten vor dem Theater zu Weimar vergegenwärtigen. Darum wollen wir
uns nur freuen, daß auch der stolze Adler, auf dessen kühnem Fittig jetzt
Deutschlands Zukunft ruht, als königliche Gabe für neuen Sängerkrieg die
Palme darbietet, und wenn diese Palme nicht nur im bildlichen, sondern anch
im eigentlichen Sinne von Gold ist, so dürfen wir das in einem Lande, dessen
beste Autoren als Beamte und Professoren ihren Lebensunterhalt mühsam er¬
arbeiten mußten, ja dessen nationalsten Sänger einst nur hochherzige Geschenke
Fremder den bitieien Nahrungssorgen entriß, eher für poetische Gerechtigkeit
Preisen, als mit kümmerlicher Pedanterie bemäkeln.
Man hat freilich behauptet und mit Zahlen nachzuweisen gesucht. d..ß die
gekrönten Dramen aller bisherigen deutschen Prciscvucurrenzeu noch keinen
sichtlichen Einfluß auf die Bühne unsrer Tage ausgeübt haben. Aber begnügen
Wir uns zunächst damit, daß bei all den verschiedenen Preisbewerbuugen doch
»och keine Arbeit geklont worden ist, die nicht ein Zeugniß edlen Ringens ge¬
wesen, nicht einen Borrath echten Gehalts in sich geschlossen hätte: es ist immer
etwas, ans erprobten Händen eine Reihe gehaltvoller Arbeiten der Nation
empfohlen zu sehen; der Geschmack der feineren Geister wird sich im Stille»
daran schärfen und entwickeln, auch wenn ihnen der Beifall des lauten Marktes
fehlt.
Preisrichter zu sein ist in der That kein dankbares Geschäft. Wenn es den
athenischen Brabenten, die nach den Aufführungen unter der unmittelbaren
Controle der ganzen Nation urtheilten, so erging, daß nicht nur die Dichter
sich über unerwünschte Entscheidung öffentlich beklagten, sondern daß nach mehr
als zwcitansendJahren auch wir, ohne ihre Gründe zu kennen, über sie (z.B.sofern
sie den Vögeln des Aristophancv nur den zweiten Preis zuerkannten) noch die
Köpfe schütteln, so kann man sich leicht vorstellen, wie wenig unser Publikum
geneigt sein wird, den vaterländischen Preisrichtern etwas zu schenken, einerseits
da man von ihrem Rufe alles erwartet und doch weder das volle Material,
das ihnen vorgelegen, noch die differirenden Richtungen im Schooße ihres Kol¬
legiums kennt, andrerseits, weil es heutzutage überhaupt kaum einen ideal auf¬
strebenden Jüngling giebt, der nicht selbst eine Tragödie verfaßt hätte und so¬
nach sich selbst als Mitrichter fühlte. Unseres Erachten? sollte der bessere Theil
des Publikums sich vereinigen, solchen Männern ihre Arbeit nicbt noch saurer
zu machen, als sie bereits ist, sondern das von ihnen Empfohlene, wenn auch
nicht als das absolut beste, so doch als gediegenes und ernster Beachtung wür¬
diges Erzeugnis; hinnehmen.
Avr vielen Seiten hat man es der Commission zum Borwurf gemacht,
wie sie nur-überhaupt wieder ein Drama mit antikem und nickt vielmehr eines
mit nationalem und womöglich modernem Stoffe habe erkiesen können. Die
Principienfrage, die sich hieran knüpft, ist zu oft erörtert worden, als daß ich
sie ausführlich besprechen dürfte; aber einige Bemerkungen unterdrücke ich nicht.
Es läßt sich behaupten, daß zur Förderung nationalen Sinnes die römische
Geschichte bei uns Deutschen vielfach wirksamer gewesen ist als die heimische
selbst. In den Zeiten, wo unser Vaterland nur in der traurigsten Zersplitterung
nud Zerrissenheit, unter den, Joch unzähliger kleinen Selbstherrscher existirte,
in Zuständen der drückendsten geistigen Bevormundung und Knechtung, durste
der deutsche Knabe, dem man noch dazu die vaterländische Geschichte oft nnr in
hohnwürdiger Verdrehung und particularistischer Verengung darbot, an dem
Bilde des gewaltigen Römerreichs die Idee eines großen, starken und freien
Vaterlands hege» und nähren, während ihm das seine in ron.xi aus deu Augen
gerückt war; und wenn man ihn bei allem heimischen Druck nicht verhindern
konnte, sich für den Sturz der Tyrannen in Athen und Nom oder für die
großartigen Verfassnngskämpfe jener Staaten zu begeistern, so erwarb er in
jenen Bildern Ideale, die ihn selbst unter dem trübsten Elend der Heimath zu
Gute kamen. Und heute noch achten wir es als Postulat künstlerischer und
wissenschaftlicher Erziehung, ideell oder wirklich heimisch geworden zu sein im
alten Rom, dessen Senat einst einer Versammlung von Königen glich und was
für alle Zeiten die erhabensten Typen individueller Charakterstärke und nationaler
Vollkraft hervorgebracht hat. Die dramatische Kunst aller modernen Völker.
die es zu einer bedeutenden Literatur gebracht haben, weist neben Schauspielen
heimischen Stoffes immer zugleich auch Römcrdramen auf. Was ist denn über¬
haupt ein nationales Motiv? Doch nur ein Ereigniß oder ein Zustand, der mit
unserem gegenwärtigen politischen oder Cultucbewußtsein in erkennbar noth¬
wendigen Zusammenhange steht, der in seiner damalige» Bedeutung sür die
ganze Nation noch jetzt die ganze Nation ergreift; die Stürme, welche die Zeilen,
denen er angehört, bewegte», müssen den Wogenschlag derselben noch bis an
unsere Küsten treiben. Und nnn braucht man nur die große Masse der bisher
gemachten national-dramatischen Versuche zu überblicke», um in»c zu werte»,
wie schwer es ist, i» unserer Geschichte solche Momente allgemeiuverständlich zu
vermitteln. Wer mag behaupte», daß wir in der Traum- und Zaubcrsphäre
der wagnnsche» Musike-ramcn, deren Stoffe wir uns erst auf Umwegen künst¬
lich entdeckt haben, die hehre Kraft des Helalles, die unsre Nation aus ihrem
eignen Vorne schöpfen soll, gefunden hätte»? Wer will läugne», daß aus der
Fülle uuserer Salier- u»d Hvhenstaufcndrame» die Ausbeute äußerst gering/ ge¬
wesen ist? Und was die näher liegenden Jahrhunderte betrifft, so ist die
Schwierigkeit klar, die Zeit nach der Reformation, seit welcher sich Deutschland
in zwei Hälften gespalten hat, von denen wechselseitig die eine nahezu alles
als Schaden zu beklagen pflegt, was die andere als Fortichritt feiert, nicht ein¬
seitig in einem Parteilibell, sondern in einer givßen Idee, die jedes redliche
deutsche Gemüth wohlthätig nachzufühlen Vermochte, veisöhnend zu erfasse».
So besitzen wir belin von unsern drei classischen Drcunatikcr» eben auch »ur
drei im eigentliche» Si»»e nationale Diame»: Minna von Barnhelm, Götz von
Berlichitigen und Wallenstein. Schillclö großem Werke ist es freilich gelungen,
bei euren Stoffe mitten aus der gräßlichsten Zeit heraus das deutsche Volk
vom baltischen Meere bis zur Adria i» einem Hochgefühl auf echt nationaler
Grundlage zu eiliige», und damit die Bah» zu bezeichnen, auf der weiter gestrebt
weiden sollte, und vielleicht dürfe» wir von der politischen Erneuerung unsers
Volkes, die wir jetzt erlebe», Schöpfungen in solchem Sinne wieder hoffen.
Aber denken wir im Hinblick auf die vielen tauben Blüthen nicht zu gering
Von den Schwierigkeiten, die es bietet, und vergessen wir nicht, daß der Mo¬
ment großen polttischen Aufschwunges uns die Prophetien auch der antiken
Valellcmdsidec um so ve>ständlicher macht. Der antike Stoff von Lindners
Drama darf füglich nicht höhere Bedenken erregen als der Umstand, baß Schiller
ernst nationale» Gedanke», die von ihrer Zeit verstoßen zum Gedichte
Wehten mußten, zumeist an Schicksalen ausländischer Persönlichkeiten und Böller
Zur Wirkung kommen läßt.
Und zwar um so weniger, als grade oft in den antiken Stoffen, wie speciell
bei unserem Preisdrama, ein Motiv vorliegt, das zwar unser gegenwärtiges
Vewußtsein kaum mehr zu ertragen vermag, das aber grade darum ich
möchte sagen, zur Züchtigung, in der Gerechtigkeit — desto geeigneter ist. Man
hat den Richterspruch des Brutus barbarisch genannt und gefordert, dem Urtheil
Schillers, der diesen Stoff als unpassend für eine Tragödie erklärt, unbedingt
zu folgen. Schreiber dieser Zeilen glaubt an echter Begeisterung für unsern
großen Dichter Keinem nachzustehen, aber er kann trotzdem nicht umhin, dagegen
zu protestiren. daß man das ästhetische Urtheil desselben in jedem Falle als
einen neuen Landvogtshut aufstecke; der edle Meister würde das selbst am wenig¬
sten gebilligt haben. Referent vermag in sein Urtheil über den vorliegenden
Fall, so vielfältig man es ihm nachspricht, nicht einzustimmen. Das Opfer des
Abraham ist doch ein Gegenstand, der von keinem modernen Maler verschmäht
wird und der in seiner religiösen Bedeutung — soweit sie uns hier angeht —,
daß wir auf den Befehl der Gottheit auch das Liebste willig hingeben sollen,
ewig Wahrheit bleiben wird. Ist Abraham bereit, seinen schuldlosen Sohn zu
opfern, warum soll Brutus anstehen, den schuldigen zu verurtheilen? Es ist
das Bestreben unserer Zeit, alle blos menschlich angemaßte Autorität zu durch¬
brechen; das ist Recht, aber um so dringender ergeht die Mahnung, die Auto¬
rität göttlichen Gesetzes heiliger zu halten. Der Consul aber, der sich mit
seinem Amtseid verpflichtet, die Republik nicht zu Schaden kommen zu lassen,
fühlt sich göttlichem Gesetze Unterthan und als Richter über Leben und Tod
jedes anderen Nömersohns darf er nicht weichlich zurücktreten, wenn sein eigenes
Kind um Hochverrat!) vor dem Tribunal steht. Und wenn auch die Humanität
unserer Zeit den Richter jedes damit vergleichbaren Pflichtkampfes zu überheben
pflegt, so ist es doch falsch zu behaupten, man dürfe dem modernen Zuschauer
nicht zumuthen, nach der Richtschnur des Römers handeln zu sehn. Ob das
ästhetisch gut gethan ist, ob nicht vielmehr'bei einer gewissen Grenze unser sitt¬
liches Fassungsvermögen den Dienst versagt, ist eine andere Frage. Aber die
Möglichkeit solches Conflictes constatirt auch das Christenthum. „Wer Sohn
und Tochter mehr liebt als mich, ist mein nicht werth."
Auch in der consequenten Strenge des Senats, der unter den Mitgliedern
der Mirs laiMinia, den Collatinus mit verbannt, liegt, wie sehr sich auch
unser Gefühl dagegen sträubt, ein tiefer Sinn. Der Forderung, bei einer völ¬
ligen Staatsvcränderuug die letzte Wurzel, die mit dem bisherigen Uebelstand
auch nur noch scheinbar zusammenhing, herauszureißen, liegt großartiger.politi¬
scher Jnstinct zu Grunde. Wir wollen nicht sagen, daß dieser Gegenstand im
vorliegenden Stücke mit völlig genügender Schärfe wäre begründet und her¬
vorgehoben worden. Aber es scheint uns nicht müssig, wenn einem so vielfach
verzärtelten und verwöhnten Publikum, wie das unsere ist, einmal die Noth¬
wendigkeit eiserner Konsequenz und Energie im politischen Handeln einerseits,
und das Bild aufopferndster Pflichterfüllung andererseits hartkantig vor die
Seele geführt werden. Ist es doch des Dichters edelste Aufgabe, der begeisterte
Lehrer seiner Zeit zu sein.
Anzuerkennen ist ferner, daß Lindners Stück voll Handlung und Leben
ist, und Laß nirgend der schwungvoll gehobene Geist, der es durchweht, zum
Matten oder Prosaischen herabsuu't. Dagegen hat man den schweren Vorwurf
erhoben, daß ihm die Einheit fehle, indem es aus zwei nur mechanisch mit ein¬
ander verbundenen Theilen, einer „Lucretia" und einem „Brutus und seine
Söhne" bestände. Dieser Einwurf trifft nicht unbedingt. Die Sache selbst
aber steht so: die Persönlichkeit, welche die Handlung zusammenhält, ist ganz
allein Brutus, so blendend auch die Folie des Collatinns ihm bisweilen zur
Seite tritt. Das Stück würde besser: „Das Opfer des Brutus" heißen; dar¬
auf hin ist es angelegt, wenn auch nicht in der Ausführung markirt genug
gerathen; dieses Motiv ist die ideale Höhe des Stückes, wenngleich der Tod der
Lucretia der in die Sinne fallende Höhepunkt ist. Da das Drama durch den
Druck und durch Ausführungen dem Publikum bekannt ist, kann ich von einer
Analyse absehen.
' So lose als man ihm hat vorwerfen wollen, ist es nicht gefügt. Der
Dichter hat vielmehr danach getrachtet, fo viel als möglich sichtbarlich zu moti-
Viren. Wie das Verhalten des Collatinns im vierten Acte nicht zu verstehen
wäre, wenn wir nicht das Unrecht, das ihm durch die Tarquinier geschehen, in
den vorhergehenden Acten selbst geschaut, so ist die Haltung der Söhne des Brutus
vom ersten Act an fortlaufend aufs eingehendste begründet; sie si»d in zartester
Jugend von Tenquinius an sich genommen und in dem Wahne einer fürstlichen
Abstammung erzogen worden; Tarquins Güte und Tullias Schlauheit, die ihre
Pläne auf sie baut, hält sie in gleichem Maße an das Königspaar gefesselt.
Der Dichter läßt uns ferner die Freude der römischen Bevölkerung an der neu¬
errungenen Freiheit, und die Wichtigkeit, diese Freiheit um jeden Preis erhalten
zu sehen, wirksam cmpfuidcn, indem er die Greuel des ganzen tarquinischen
Hauses vor uns ausschüttet, namentlich dadurch, daß er die That des Sextus
wesentlich als Werk der Königin Tnllia hinzustellen weiß, die, einst vom Volke
der Lucretia nachgesejzt und von Collatinus tödtlich gereizt, ihren Sohn, der
von Begierde brennt, die keusche Römerin zu erwerben, selbst ans den Gedanken
bringt, ihr Gewaln anzuthun. Der Zug ist keine Unmöglichkeit für eine Tnllia,
aber allerdings so stark dämonisch gefärbt, daß er nur durch die poetische Aus¬
führung noch auf der Grenze des ästhetisch Möglichen haltbar erscheint. Es ist
ferner Lindners Bestreben, den Zuschauer mit dem Schicksal seiner Personen mög¬
lichst zu versöhnen, ja man muß sagen, daß er seinen Gerechtigkeitssinn stellen¬
weise ins Minutiöse treibt. Wir wollen hier auf die — nach unserer Meinung
ergreifendste Stelle des ganzen Stücks aufmerksam machen, um derentwillen
allein es werth wäre, nicht der Vergessenheit anheimzufallen. Ich meine die
Scene, in welcher der alte Lucreiius seine Tochter um einen flagranten Frevel
der Tarquinier beten büßt, damit das Volt dadurch zur Abschüttelung der
Knechtschaft getrieben werde. Was die Tochter erbittet, fällt auf ihr eigenes
Haupt, eine Ironie des Schicksals, welche lebhaft an die furchtbar doppel¬
sinnigen Worte erinnert, die König Oedipus in seiner Verblendung spricht.
Einzelschönhciten in Bildern der Diction wie in fein psychologischen Strichen
der Charakterzeichnung ließen sich in Menge hervorheben-, ich gehe weder auf
diese noch auf ihre Kehrseite, die einzelnen Mißgriffe nochmals ein. die nament¬
lich von unsern berliner Tagesblättern nach der ersten Aufführung scharf genug
notirt worden sind. Aber einen Haupttadel mag ich auch an dieser Stelle nicht
zurückhalten: er betrifft die Anlehnung an fremde Muster. Wie sehr der Dichter
den Fußtapfen Shakespeares nachgeht, ist jedermann leicht erkennbar; aus der
Wendung des prosaischen Ausdrucks, dem Schnitt der Verse, den Nachformungen
der Metaphern spricht überall die Erinnerung an das Vorbild. Man hat in
den Figuren des wahnsinnigen Brutus den armen Thoas im König Lear, in
Tullia eine Abschwächung der Lady Macbeth, in Taiquinius den König im
Hamlet mit mehr oder minder Berechtigung winde>finde» wollen; sicher ist, daß
die Trauer des Collatinus um den wahnsinnigen Brutus der Klage Ophelicns
um Hamlet, und die Rede des Brutus an Collatinus im vierten Acte den
Bitten der Volumnia im Coriolanus nachgebildet worden. Die Anlage des
Stücks ist wesentlich dieselbe wie die des „Julius Cäsar". Man vergleiche:
Erster Act bei Shakespeare: Volksheere. Zwei Tribunen heißen die trag
dastehenden Bürger nach Hause gehen. Cassius beklagt, daß Brutus, der beste
Führer zur Freiheit, schlafe. Cäsar und seine Gemahlin treten auf; ersterer
schöpft Verdacht gegen Cassius.
Bei Lindner: Volksheere. Lucretius und Collatinus heißen die trag
dastehenden Bürger nach Hause gehen. Collalin klagt, daß Brutus, der beste
Führer zur Freiheit todt (wahnsinnig) sei. Tarquinius und Tullia treten auf,
letztere schöpft Beidacht gegen Brutus.
Dritter Act bei Shakespeare: Cäsar wird erstochen. Große Scene
an seiner Leiche. Volksaufruhr.
Bei Lindner: Lucretia ersticht sich. Große Scene an ihrer Leiche. Volks¬
bewegung.
Vierter Act. Shakespeare: Streit zwischen Brutus und Cassius.
Lindner: Streit zwischen Brutus und Collatinus.
Fünfter Act. Shakespeare: Schlacht bei Philippi. '
Lindner: Schlacht im Walde Arsici.
Aber dies ist nicht das Schlimmste, sondern die kleinen zum Theil wört¬
lichen Entlehnungen, die sich Lindner aus Ponsards (im übrigen sehr verschie¬
dener) I^ueröoe für die Schlußscene des ersten Acts und für den ganzen zweiten
erlaubt hat. — So gilt der Applaus, den man bei der Aufführung des Stückes
am Schlüsse des ersten Acts dem Auftreten der Sibylle von Kuma zollt, wie
richtig bemeikt worden ist, Ponsard und nicht Lindner. Der zweite Act bei die¬
sem beginnt wie der erste bei jenem in der Spinnstube der Lucretia, die ihre
Mägde dort wie hier antreibt, den Gebieter mit einem wärmenden Gewand im
rauhen Feld zu versorgen. Auch bei Ponsard spielt Lucretiens Traum die
nämliche Rolle:
ins trouvai moi, sur I'irutvl öteuäue,
. . . iMkiräant in, lraelrö suspenclus."
Des Sextus Haltung, Lucrctias Antwort auf ihres Gatten Anrede:
No suis plus eg. towns se n'eir veux plus 16 norri" —
stimmt hier und dort überein. — In einer ander» Scene endlich bei Erzählung
der Reise nach Delphi sagt Lentners Tarquinius zu Brutus:
„Dein Opfer (des hölzernen Steckens) genügte freilich nicht dem Gott,
darum schlug er ein Bein dir unter, daß du fielst."
Darauf Brutus (allein): „Ich sage dir, zufrieden war der Gott, Der Stab von Holz war ausgefüllt mit Golde."
(ab)
Genan nach dem Vorgang Pvnsards: — it oft <zu'^pollon
Nu, MS öde content as 1'<M'«z an baton,
II t'u, kalt elroir lo^Iirnt ig. pomo sous 1'otkrg.rräö.
Lrutv^ (sortant le äoruisr)
^011. I^g clivu tut eoutiznt, tu ne sais Ms eireore(Actschluß.) (^no clirris le baton vit etg.it un baton et'or.
Man sa^t Rubens, der es oft erprobt, das kecke Wort nach, in der Kunst
sei Diebstahl immer Sünde, aber Todtschlag erlaubt. Ob wir dieses exceptio¬
nelle Hcroenrecht für unsern Dichter in Anspruch nehmen dürfen? Derartige
Sachen wenigstens tonnen wir doch keinen Franzosen lesen lassen, ohne scham¬
roth zu werden.
Setzen wir jedoch diesen bedenklichen Dingen ein ehrendes Zeugniß ent¬
gegen. Nicht blos edle Reinheit in der Behandlung rühmen wir, die erfreulich
und respectabcl ist; noch ausdrücklicher gilt unsere Anerkennung dem Sinn für
ernsthafte männliche Ideale, der in dem Drama Lindners Ausdruck sucht. Denn
wenn heutzutage ein nicht unbedeutend begabter lyrischer Dichter so wenig
Selbstbeherrschung hat, daß er als höchstes Glück erwünscht, „der Geliebten
Weiße Brust mit glühende» Lippe» zu Pressen" — u»d wenn ein anderer, ob¬
gleich Gatte, »»verhüllt seine Ehebruche besingt, dann ist es, wie relativ auch
urnar. ein Verdienst, aus herben Heldengesichter» die Mahnung sittlicher Größe
Die Wellen unserer Wahlbcwegung heben sich ein wenig höher, gedruckte
Wahlreden flattern in die Häuser der Wähler, Wahlcomites entwickeln sehr er¬
freuliche Thätigkeit und trotzbärtige Lassallianer stören die Wahlversammlungen
durch Geschrei und wüstes Gebahren. — Aber der Deutsche ist im Jahr 1867
gleichgiltiger geworden gegen Spectakel und anzügliche Inserate in den Tage¬
blättern, und in unserem Volke lebt ein Sinn für Anstand und für Billigkeit,
welche auch dem Gegner gerecht werden möchte. Das schließt die Frage nicht
aus. ob es zeitgemäß war, die sociale Bewegung in die politische hereinzutragen.
Unter den Aufgaben, welche den Mitgliedern des Reichstages gestellt wer¬
den, muß auch der Antrag auf Einführung einer gleichmäßigen Wahlordnung
sein. Die jetzt von den einzelnen Staaten im Verordnuugswege publicirten
sind so verschieden als möglich, zum Theil sehr künstlich ausgedacht. In Preußen
z. B. vertheilen die Parteien gedruckte Stimmzettel und die Urnen, in welche
die Zettel geworfen werden, sind zahlreich und bequem auch für die Landbe¬
wohner, in Sachsen muß der Wähler seinen Stimmzettel vom Wahlcommissar
abholen und dabei seine Berechtigung prüfen lassen, und er muß den Zettel
beschrieben zur Wahlurne tragen, natürlich wieder unter Prüfung seiner Be¬
rechtigung. Der Wähler hat also gerade die doppelte Mühe und Versäumnis?.
Es ist noch vergeblich, über die Resultate der Wahl Behauptungen aufzu¬
stellen, unter den Kandidaten sehen wir manchen neuen Namen, Gelehrte, höhere
Beamte, welche durch anderweitige Thätigkeit der Nation bekannt sind; freilich wird
der Reichstag, der nicht ganz 300 Mitglieder zählt, auch manches bewährte politische
Talent entbehren müssen. Aber wahrscheinlich ist doch, daß der Verfassungsent¬
wurf bei mehr als zwei Drittheilen der Gewählten guten Willen und warme
patriotische Unterstützung finden wird; auch unter den Separatisten wird vor¬
aussichtlich ein Theil nicht den Muth haben, eine geschlossene principielle Oppo¬
sition zu bilden. Bon dem Zahlenverhältniß zwischen preußischen Conservativen
und den Liberalen im Reichstage mag zum Theil abhängen, wie weit Rechte
und Befugnisse des Reichstages ausgedehnt werden oder nicht.
Eine andere Frage, noch wenig erhoben, und doch die verhängnihvollste von
allen, wäre die: Ist es denn überhaupt im Interesse nationaler Entwickelung,
den Reichstag so hoch zu stellen, daß er den preußischen Landtag überwächst?
Ist es für Preußen und Deutschland ein Glück, wenn er an Stelle des preu¬
ßischen Landtages Mittelpunkt der gesetzgeberischen Intelligenz und der politischen
Thatkraft unserer Nation wird? Der wäre ein weiser Mann, der schon jetzt de-
friedigcnde Antwort auf diese Frage geben könnte. Und doch ist die Antwort
nur zu geringem Theil abhängig von den Einzelbestimmungen der Bundesver¬
fassung, welche jetzt Graf Bismarck mit Gas.indien der Bundesstaaten beräth.
Denn die Verfassung kann geändert werden, und selbst ein zu enge geschnittenes
Maß ihrer neckte würde die Bedeutung der neuen Reichsversammlung nicht
vernichten, im Fall diese nämlich wirklich den bestehenden Lebensinteressen der
Nation am besten entspricht. Es ist diese Frage auch gar nicht von einem Par¬
teistandpunkt zu beantworten; denn grade die preußischen Conservativen können
es in Kurzem ebensowohl für nothwendig halten, sich hinter die neckte der
preußischen Verfassung des Herrenhauses zu verschanzen, als von anderem
Standpunkt die entschiedensten Mitglieder der preußischen Fortschrittspartei.
Im letzten Grunde ist die Vorfrage, von deren Beantwortung alles ab¬
hängt, etwa folgende: Sind wirDcutsche nach den Ereignissen und Friedensschlüssen
von 1866'so weit fortgeschritten, daß wir die zur Zeit bewahrten oder wieder
eingesetzten souverainen Landesregierungen jetzt durck den Zwang der Thatsachen
und die friedliche Arbeit nationaler Interessen zu überwinden und eine einheit¬
liche Organisation des gesammten Staatsbaus herzustellen vermögen; und ferner:
hat Preußen die innere Kraft, auf jedem Gebiete des Staatslebens diese Ober¬
leitung auf sich zu nehmen?
Das neue Bundcsprojcct des Grafen Bismarck. dessen Grundzüge im Juni
1866 veröffentlicht wurden, das jetzt in dem Bundesentwurf Modificationen
und weitere Ausbildung erhalten hat, schafft für das Verkchrsleben aller Deut¬
schen bis zum Main thatsächlich eine politische Einheit, ebenso eine völlige Ein¬
heit für die Flotte und, in der Hauptsache, obgleick nicht ebenso consequent,
Einheit für das Heerwesen. Es stellt ferner die großen Verkehrsanstalten unter
einheitliche Oberaufsicht, es gründet für Zölle und für die großen Verbrauchs¬
steuern eine Centralkasse und verheißt der Station Einheit im Civilproceß und
der bürgerlichen Rechtspflege. Daneben bleiben andere Majcstäts- und Hoheits-
rechte der Landesherren bestehen, ihnen bleibt die diplomatische Vertretung im
Ausland, die Gnadensacben und Ehrenverleibungen, die innere Verwaltung.
Landcscultur und Uiiterrichtswescii, die directen Steucv» und einige indirecte.
Auch über das Verhältniß der Hecrtheile zu dein preußischen Heere sollen, wie
Unzweifelhaft geworden ist, besondere Verträge der souveränen Negicningen,
welche den einzelnen Landesherren größere oder geringere Machtbefugnisse über
ihr Heer lassen, neben dem Grundgesetz' des Bundes die rechtliche Basis der
neuen Heeresorganisativn werden. Während auf diese Art in einzelnen wich-
t'ete» Dinge» thatsächlich ein einheitlicher Staat hergestellt wird, ist in anderen
den bestehenden Verhältnissen reichliche Rechnung getragen und die Freiheit der
"nzelnen Theile bewahrt, wo die Beschränkung nicht durch die Bedürfnisse der
Gegenwart geboten schien. Diesem neuen Bau kaun man leicht Mangel an
Konsequenz und innere Widersprüche nachweisen; was dem Systematiker daran
mißfallen wird, mag grade dem praktischen Mann behagen. Voraussetzung
für die Realisirung desselben ist immer ein Preußen, welches seine Uebermacht
sicher und schonend gebraucht, und ein Staatsmann darin, der seinem Geschick
vertraut, daß er in jeder Stunde, wo eine Aenderung nöthig wird, um die
nächstliegenden Auskunfsmittcl nicht verlegen sein werde. Denn es ist klar, daß die
Competenz des Bundespräsidiums sowohl als speciell des Reichstages für irgend¬
eine naheliegende große Frage nicht ausreichen werden. Es mag z. B. in der
nächsten Zukunft unvermeidlich werde», daß der Bund gegenüber dem Papst,
der katholischen Kirche und den geistlichen Genossenschaften einheitliche Stellung
nehme. Das wäre zur Zeit nach der neue» Verfassung nicht möglich. Es liegt
also im Wesen dieses Bundes, daß er sich bei neu entstellenden Bedürfnissen
enger ziehe und daß der Centralregierung und dem Reichstag allmälig auch
andere gemeinsame Interessen der Nation, welche jetzt nicht zu ihrer Competenz
gehören, untergestellt werden. Der Zug der großen Interessen wird ganz sicher
in vieler Richtung »ach dem Einheitsstaat gehen.
Andrerseits hat man seit dem August V. I. wieder preußischer Seits Manches
gethan und zugelassen, was dem Familieuintcresse einzelner crlanckter Häuser
und dem Separatismus der Landschaften günstig ist. Man wollte schonen und
versöhne», vor Europa den Beweis führen, daß man nicht unersättlich sei, und
man trug persönlichen Einflüssen mehrfach Rechnung. In den amuctirtcn
La»der» aber, wie bei den Bundesgenossen erhob sich in der Bevölkerung der Ruf:
Schonung der heimischen Einrichtungen, zum Theil, weil man die preußischen
Abgaben fürchtete, nicht weniger, weil man sich mit Recht bewußt war, daß man
i» Kirche, Schule und Volksbildung, in einzelnen Laudeoculturen, z. B. in
Forsten, ja sogar in der gesetzliche» Freiheit der Bürger und im Rechtsver-
fahren den Preußen voraus war. Fast in jeder Wablredc verspricht der Kan¬
didat für Schonung werther landschaftlicher Einrichtungen Sorge zu tragen und
die Borussificirung davon fern zu halten. Auch diese Strömung im Volke, welche
fast überall jenseit der alten Grenzen Preußens zu Tage kam, empfiehlt als
Rücksicht, nur das im Augenblick Nothwendige zu ce»trat>Siren. sieht mau
freilich näher zu. so ist diese locale Besorgnis; der Bevölkerung, Heimisches zu
verliere», nicht überall bedenklich u»d nicht überall unverständig. Daß mau
größere Lasten von sich fernhalten möchte, ist sehr menschlich, und seit es Wähler
und Gewählte giebt, war das nicht anders; in Geldsachen ist das zwingende
Bedürfniß des Staates immer zuerst als Härte empfunden worden. Auch das
Festhalte» am heimischen Recht, der Hannoveraner an ihrem Eivilprvceß. der
Hesse» an dem verfassungsmäßigen Recht ihrer Richter, über die Gesetzlichkeit
jeder landesherrlichen Verordnung zu entscheiden, können wir nicht tadeln, denn
dort war nach der erwähnten Richtung bereits Ansatz zu einer höheren Ent-
Wickelung vorhanden, als Preußen ihnen gegenwärtig zu bieten vermag, und
Einzelnes, was sie verlieren, ist besser, als was sie erhalten. Im Ganzen ist
der Particularismus der Bevölkerung nur in einigen Landschaften der Nieder-
sachsen dem neuen Staat principiell feindlich, dagegen nicht in Sachsen und
Thüringen, nicht in Oldenburg und Braunschweig. Und dieser Particularismus
schwindet vor Belehrung und Erfahrung. Aber der stille Widerstand der Re¬
gierenden, der Fürsten oder ihres Adels, wird nicht schwinden. Nach dieser
Rücksicht wird stete Vorsicht nöthig sein, und der Reichstag wird hier mehrfach
Gelegenheit haben, dem Bundespräsidium die gehobenen Arme zu Stufen. Zu¬
meist dadurch, daß er dahin drängt, den deutschen Fürsten im neuen Staat eine
Stellung zu geben, welche ihnen einen höheren' und patriotischeren Ehrgei
möglich macht, als den, alte Rechte gegen eine stärkere Strömung zu ver¬
theidigen.
Auf die neue Bildung also, welche jetzt erstrebt wird, paßt im Givnbc weder
der Name Bundesstaat, wie er bisher in Deutschland galt, selbst nicht, wie er
seit 1848 in der Schweiz verstanden wird, noch der Name Einheitstaat. Was
unsere Abgeordneten durch ihre Kranzrcden weihen sollen, ist ein Ding für sich,
halb Einheit, halb souveraine Bieltheilrgkeit.
Uns bedünkt dies kein Unglück. Und es ist wohl schon jetzt erlaubt zu
vermuthen, daß ein großer innerer Fortschritt zu engerer Bereinigung in einer
Zeit erfolgen wird, wo in Preußen selbst die innere Verwaltung, Gcmeinde-
und Kreisverfassung, Schule und Lehre von dem Druck befreit sein werden, den
bis jetzt das System auf diese großen Gebiete gelegt hat. Bis dahin erachten
wir als besonderen Borzug des neuen Staats, daß er eine Uniformitcit nach
diesen Richtungen völlig abhält. Die Abgeordneten, welche jetzt gewählt werden,
sollen an einem großen Werke helfen. Aber während sie eifrig und pflicht¬
voll bauen, solle» sie auch denken, daß den Spätere» etwas zu thun übrig
bleiben muß.
Deutsche Dichter des sechzehnten Jahrhunderts. Mit Einleitungen
und Worterklärungen. Hcransgegcven von Karl Gocdeke und Julius Titt-
mcnin. Erster Band: Liederbuch aus dem sechzehnten Jahrhundert. Leipzig,
Brockhaus.
Einzelne Ausgaben deutscher Autoren der früheren Jahrhunderte sind in den letz¬
ten Jahren mit solchem Geschmack ausgestattet erschienen, daß manche unserer mo¬
dernen Klassiker und solche, die es werden wollen, vergeblich in ähnlicher Ausstattung
„aufgelegt" zu werden wünschen. Auch das „Liederbuch aus dem sechzehnten Jahr¬
hundert", als erster Band einer größeren Sammlung „deutsche Dichter des sechzehn¬
ten Jahrhunderts" vor kurzem ausgegeben, schließt sich in seiner Ausstattung früher
Erschienenen würdig an; in seinem Plane aber der seit zwei Jahre» erscheinenden
Sammlung „Deutscher Klassiker des Mittelalter«". Es war Absicht, eine möglichst billige,
a,ut ausgestattete Ausgabe von Dichtungen jener Zeit zu geben und mit Vermeidung
allzugroßer Weitschweifigkeit in Einleitung und Worterklürung Dilettanten zum Ge¬
nuß jener alten Dichtwerkc einzuladen.
Die vorliegende Sammlung enthält eine reiche Auswahl von Volks- und Gc-
scllschaftsliedcrn, Historischen Kirchen- und Mcistcrlicdcrn aus dem Rcformationszcit-
alter. Das Quellenvcrzeichuiß führt eine lange Reihe von Liederbüchern, Gesang¬
büchern und fliegenden Blättern auf, aus denen die Herausgeber ihr Material schöpfen ;
ihrem Programm „das Wesentliche und Charakteristische für die Dichtung jener Zeit,
andrerseits das Ansprechendste für die Gegenwart" aufzunehmen, haben sie mit Sach¬
kenntnis! und Geschmack genügt.
Der Leser wird mit dem größten Behagen in dem Lunde blättern und sich freuen
über die wohlthuende Frische und volle Poesie jener alten Volkslieder. Das Capitel
„Liebe" ist reich an den verschiedenartigsten Situationen und Stimmungen dieser
noch immer nicht seltenen Leidenschaft. Wie schön ist das Lied Ur. 5, das so
beginnt:
„Kein größer freud auf erden ist,
denn der bei seiner allerliebsten ist,
bei seiner allerliebsten Frauen."
Das Wächtcrlicd, das den Abschied zweier Liebenden beim Tagesgrauen schildert,
ist ebenfalls in charakteristischen Proben aufgenommen, die an ältere Lieder sich an¬
lehnen, z. B. an jene Stelle in „Romeo und Julie" erinnern: „Es ist die Nachtigall und
nicht die Lerche", nur daß statt dem neidischen Streif im Osten im deutschen Liede
der fromme „Wächter" sich erhebt, der, den Tag verkündend, von der Zinne ruft:
„Leid jemands hic verborgen,
Der mach sich auf und zicch darvon,
Daß er nicht tun in Sorgen."
Von großer Fülle und Mannigfaltigkeit sind die Lieder, die nu die Wandelbar-
keit der Jahreszeiten :c. anknüpfen, Hauptrolle spielen aber die GescllschaftSlieder,
die mit der größeren Ausbildung der Musik sehr in Aufnahme kamen. Manch alte
Weise tönt jetzt noch in munteren Kreisen, so z. B. Ur. 121:
„Den liebsten huic», den ich hau,
der leid beim Wirt im kalter."
sprudelnd von Humor und Jugendlust ist das theilweise bei Fischart vor¬
kommende (Ur. 134):
„Wotans ihr Brüder allzumal,
ciuos sitiZ voxat xlui'lag,."
Oder das Lied (Ur. 142) mit dem hübschen Refrain:
„Denn wer nit singt, der soll auch nit mit trinken."
Mit der Reformation ist das geistliche Lied deutscher Sprache erst zur vollen Geltung
gekommen; es war die organische Folge jener Kirchenverbesserung, die auch auf andern
nichttirchlichcn Gebieten so gewaltig cingnff. Vor allen hat Luther auf diesem Ge¬
biete Bah» gebrochen, er, der sagte, „er sei nicht der Meinung, daß durch das Evau-
gclion sollten alle Künste zu Boden geschlagen werden", sonder» der wollte „alle
Künste, sonderlich die Müsiner gern sehen im Dienste deß, der sie geben und geschaffen
hat." Auch das historische Lied, das in den politischen und religiösen Stürmen der
Reformation üppig gedeihen konnte, ist in einundzwanzig Beispielen vertreten, welche
die' Mannigfaltigkeit der Interessen jener großen Zeit andeuten sollen. Geistliche und
historische Lieder jener Zeit sind in besondern großen Sammlungen zugänglich gemacht.
Das hübsche Buch aber mag bestens empfohlen sein.
Die letzten Monate haben allen Theilen der früheren Republik Polen
Ereignisse von einschneidender Wichtigkeit gebracht. Die ehemals polnischen
Provinzen Preußens sind dem norddeutschen Bunde einverleibt worden, die
polnischen Unterthanen Rußlands haben beinahe gleichzeitig einen ihrer Sache
günstigen Systemwechsel und verschiedene ihre politische Sonderstellung ein¬
schränkende administrative Vergewaltigungen erfahren, die östreichischen Polen
dagegen einen Führer ihres Volkes an die Spitze der Verwaltung Galiziens
zu erheben vermocht und den alten Kampf mit den seit Jahrhunderten polnischem
Einflüsse unterworfenen Nuthenen unter vortheilhafteren Bedingungen auf¬
genommen, als sie seit Jahren obgewaltet haben.
Je günstiger sich die Sache der Polen diesseits des südlichen Laufs der
Weichsel und des Bug gestaltet, je lauter die czechischen und polnischen Blätter
von den Hoffnungen reden, die sich an die Ernennung Goluchvwskis knüpfen
und einen Rcttungshafen für die aller Orten heimathlos gewordenen Enkel
Lechs versprechen, desto lauter manifestirt sich der Unwille der russischen De¬
mokratie über das Uebergewicht des aristokratischen Elements in einem altrus-
sischen Lande, desto leidenschaftlicher fordern die einflußreichen Journalisten an
der Newa und Moskwa energisches Einschreiten zu Gunsten der auf dem öst¬
lichen Ufer des San ansässigen, von dem Erbfeinde des russischen Namens schwer
bedrohten Brüder. Will man den lcmbcrgcr Correspondenten der russischen
Tageblätter Glauben schenken, so ist jeden Augenblick ein Pronunciamento der
mthenische» Bauern für den „befreienden weißen Zaren" zu erwarten — haben
die Gazeta narodowa, der Czas u, s. w. Recht, so hat sich Galizien endlich die
Möglichkeit einer gesunden Entwickelung auf historisch gegebener Grundlage
erschlossen. Hüben wird über die Umtriebe russischer Agenten geklagt, die die
Bauern angeblich zum Morde ihrer Herren und zum Umsturz der bestehenden
Verhältnisse aufreizen, drüben will der Jammer über die Knechtung des Bauern¬
standes, die Bedrückung der ruthenischen Sprache, Kirche und Literatur nicht
enden. Während die Polen Galiziens sich rühmen, dem socialistischen Terrorismus
der fanatischen russischen Bureaukratie eine heilsame Schranke an den Marken
Oestreichs entgegenzusetzen, reden die Publicisten des Golvs, der Moskwa und
der Moskaner Zeitung von der bedauernswerthen Abschwächung der bisher
durchgreifenden russischen Politik in Polen, indem sie zugleich auf die Unver-
besserlichkeit des polnischen Adels hinweisen, der, kaum zu Luft gekommen, in
Galizien sein altes Jntriguenspiel wiederaufnehme und seine neue Aera mit
schamlosen Vergewaltigungen an dem Recht und der Habe des unglücklichen
galizischen Bauern inaugurire.
Die wichtigen Gesichtspunkte für eine unparteiische Beurtheilung des er¬
bitterten Haders in Galizien, wie für die Verhältnisse des russischen Theils der
ehemals polnischen Länder lassen sich nur aus einer Betrachtung der historischen
und ethnographischen Vorgeschichte jener Ländcrgcbictc gewinnen. Weil der
Osten Europas es nicht zu festen, selbständiger Cultur fähigen politischen Gestal¬
tungen gebracht hat, seine nationalen Institutionen noch immer einen halb
barbarischen Charakter tragen, die Formen des russisch-slawischen Staatslebens
großen Theils aus dem Westen importirt sind und ein halb bekanntes Gepräge
tragen — glaubt man in der westlichen Hälfte unseres Welttheils vielfach, jen¬
seits der Weichsel und Karpathen habe es keine eigentliche Geschichte gegeben.
Und doch sind die Kämpfe, um welche es sich auf der endlosen sarma-
tischen Ebene gegenwärtig handelt, nur directe Fortsetzungen Jahrhunderte
alter Rivalitäten, die ihren specifischen Charakter im Lauf der Zeit wenig
verändert haben. Historische und ethnographische Gegensätze, welche die Macht
der Civilisation im Occident längst gebrochen und zu einer höheren Einheit
aufgelöst hat, treiben im Osten noch ungebändigt ihr wildes Spiel, unterstützt
Von kirchlichen Spaltungen, die in der germanisch-romanischen Welt ihren dä¬
monischen Einfluß seit einem Jahrhundert eingebüßt haben. Seine ursprüng¬
liche Bedeutung hatte das sogenannte Nationalitätsprincip in Deutschland.
Frankreich, England u. s. w. verloren, bevor auch nur der Name für dasselbe
erfunden war. Je weiter wir nach Westen gehen, desto vollständiger decken sich
die politischen und nationalen Grenzen; die Naccnunterschiede in den einzelnen
Staatsverbänden haben (wenn wir Irland aufnehmen) in den westlichen Cultur¬
ländern ihre Rolle längst ausgespielt, die Macht der Civilisation hat die sla¬
wischen Gruppen innerhalb des deutschen, die galizischen Stämme innerhalb des
englischen Staatsgebiets längst consumirt, die verschiedenen Bestandtheile des
französischen oder des spanischen Volks zu einer ununterscheidbaren Masse zu¬
sammengegossen und die Parteien, nach welchen man sich in diesen Ländern
classificirt und zusammenfindet, gruppiren sich um Gegensätze feinerer, geistigerer
Natur, als in der orientalischen Welt, in welcher die Stammesfchden vergangener
Geschlechter noch immer nicht ausgekämpft sind. Die innere Geschichte selbst
der letzten hundert Jahre russischen Lebens ist wesentlich bedingt von der Ge¬
schichte des uralten Streits, den Russen und Polen um den Besitz Lithauens
und der Ukraine führen und dessen jüngste Phase (1863—67) die Physiognomie
des russischen Volks beinahe unkenntlich verändert hat. Weil der Kampf zwischen
Ruthenen und Polen nur ein Wiederspiel der blutigen Ereignisse ans lithauischer
Erbe ist, hat er heute die gesammte russische Nation zum ungebetenen Zeugen
seiner Wechselfälle. Dieselbe Frage, — über welche in Lemberg und Przemysl
gestritten wird, sucht unter verändertem Namen ihre Lösung in allen Ländern
der russischen Westgrenze — in den Ostseeprovinzen, wie in Finnland und jenen
Woyewodschaften. welche heute die nord- und südwestlichen „Gouvernements"
heißen. In allen diesen Ländern und Provinzen wird darüber gestritten, ob
ihr nationaler Charakter durch die Träger ihrer Cultur oder
durch die Abstammung der Majorität d e r B co ö l ter un g bestimmt
werden soll. Hier heißen die Cuiturträg r Schweden und Deutsche, dort
sind sie Polen masovischen, klein- oder grohpvtnischen Ursprungs: — allenthalben
handelt es sich um die Resultate eiues auf halbem Wege steckengebliebcnen
geschichtlichen Processes, um Rechte, die zu lange gegolten haben, um sich streichen
zu lassen und die von den fqctischcn Verhältnissen doch nur zur Hälfte gedeckt
werden. Von dem Princip, das entschieden werden soll, wissen die wenigsten
etwas, hinter den rohen Namen von Racen- und Confessionshändeln birgt sich
aber eines der schwierigsten Probleme, welches die moderne Staatskunst zu
lösen hat.
Exemplisiciren wir diese Sätze im Einzelnen und zunächst an Galizien. Die
Bezeichnung „Galizien" umfaßt eine Reihe von Territorien, die ursprünglich
nichts weiter mit einander gemein haben, als daß sie bis zum Jahre 1773 zu
der königlichen Republik Polen gehörten, dieser von Oestreich entrissen und im
Jahre 1817 zu einem Ganzen zusammengebacken wurden, das man, nachdem
noch der östreichische Theil der Moldau (die sogenannte Bukowina) hinzugezogen
worden war, der alten Stadt Halicz zu Ehren das „Königreich Galizien"
nannte. Zu polnischer Zeit hatten diese Landschaften niemals ein Ganzes,
weder einen Kraj (Land), noch eine Woyewodschaft (Provinz) gebildet, die Ehre
aus Länder- und Völkersplittern, die nichts unter einander gemein haben, einen
Verwaltungsbezirk mit gemeinsamen Institutionen, einem gemeinsamen Landtag
u. s. w. formirt zu haben, gebührt der östreichischen Regierung und dem wiener
Congreß. Wenn wir die Bukowina ausscheiden, so besteht Galizien aus Theilen
fünf verschiedener polnischer Länder: dem Herzogthum Auschwitz (Oswicczim)-
Zator. einem Theil Kleinpolens. Nothrnßlands, abgenssenen Stücken von Woly-
nien und Podolien. Fetzen von fünf Woyewodschaften (Krakau, Sandomir,
Ludim, Biclozc und Podolien) kamen sammt drei ungeteilten Provinzen (Roth¬
rußland, Halicz und Auschwitz-Zator) bei der Theilung von 1773 auf den An¬
theil Oestreichs. Die westliche Hälfte dieses Gebiets ist aitpolnisches Land und
wird ausschließlich von Polen bewohnt, östlich vom San (einem Nebenfluh der
Weichsel) sind die Bewohner des flachen Landes russischer Abstammung*), nur
die Edelleute, römisch-katholischen Geistlichen und Stadtbewohner Polen und
römische Katholiken. Diese Daten genügen zu der Ueberzeugung, daß es sich
nur in einem Theil Galizens. dem Lande zwischen San und Pruth, um den
Kampf russischer und polnischer Ansprüche handelt, daß der polnische Charakter
der westlichen Landestheile außer Frage steht und von niemand bestritten
weiden kann; südlich vom Pruth, in der sogenannten Bukowina, herrscht end¬
lich ein dritter Volksstamm, der mit den im Herzen des Königsreichs wogenden
Streitigkeiten nichts zu thun hat, weil er keinem der rivalisirenden Stämme
angehört.
Bei diesem Resultat dürfen wir indessen noch nicht stehen bleiben. Für den
Theil Galiziens, um welchen es sich in unserer Betrachtung in erster Reihe
handelt, die alten Woyewodschaften Rothrußland und Halicz und die abgerisse¬
nen Stücke Wolynicns und Podoliens, giebt es eine noch ältere als die pol¬
nische Geographie und Geschichte. Es gilt die Auffindung eines, zweifachen
Palimpsests: unter der östreichischen Eintheilung.des Landes ist die polnische,
unter dieser die altrussische aufzusuchen. Die polnische Geschichte der russischen
Provinzen Galiziens beginnt erst i» der zweite» Hälfte des vierzehnten Jahr¬
hunderts, ihr war eine mehr als dreihundertjährige Epoche russischer Herrschaft
und Cultur vorhergegangen. Da der Streit zwischen Polen und Nüssen keines¬
wegs blos mit Argumenten der physischen Gewalt, sondern auch mit historischen
Ackerstücken und Recriminationen von unvordenklichen Alter ausgefochten wird,
müssen die Leser dieser Blätter sichs gefallen lassen, mit einer der ältesten
Perioden der russischen Geschichte Bekanntschaft zu mache».
Die Sitze jener Vvlkerfcunilie, deren nördliche Ausläufer von Rurik dem
Waräger zum Fürstenthum Nowgorod vereinigt wurden, reichten schon vor einem
Jahrtausend bis an die Karpathen herab; die Bewohner des mittleren Galizien,
welche man heute Nuthenen**) nennt, sind ebenso echte Kleinrussen, wie die
Umwohner Kiews, Tsehernigows und Poltawas. Schon Olav. der Nachfolger
Nuriks. unterwarf dieses Land seinem Scepter und nachdem es inzwischen eine
Zeit lang von polnischen Stämmen in Besitz genommen worden war, wurde
es von Wladimir dem Großen 981 wiedererobert und dem Fürstentum Kiew
einverleibt. Als das russische Großsürstcnthum nach Wladimirs Tode unter
dessen Söhne vertheilt wurde, erhob der mit Rothrußland belehnte Fürst
den Ort Przemyszl (russisch! Percmyschl) zu seiner Hauptstadt. In stetem
Kampf mit Polen und Ungarn behaupteten diese Fürsten durch drei Jahr¬
hunderte den russischen Charakter ihres Landes, indem sie den Großfürsten von
Kiew, der damaligen russischen Hauptstadt, als ihren Oberherrn anerkannten.
Bon 1190—98 herrschte das Haus Wolodars; wiederholt wurde das Fürsten-
thum altrussischen Brauche gemäß unter die Söhne der Herrscher vertheilt und
schon im zwölften Jahrhundert lassen sich vier s. g. Theilfürstenthümer Perc¬
myschl, Halicz, Wladimir und Lnczk (die beiden erstgenannten Städte liegen im
heutigen Galizien, die beiden letzteren in dem russischen Gouvernement Woly-
uien; aus dem Namen Wladimir (polnisch Wolodomirz) ist die Bezeichnung
Ludomerien entstanden) unterscheiden. Aus dem einen oder dem andern dieser
kleinen Staaten wurde der russische Herrscher immer wieder von einem polnischen
zeitweilig verdrängt; der russische Einfluß behielt aber doch die Oberhand, Als
die Mongolen Nußland im 13. Jahrhundert eroberten, löste sich der alte Zu¬
sammenhang zwischen Kiew und den rothrussischen Fürstentümern allmälig.
Daniel von Halicz, dem es gelungen war, den von Msislaw (dem Großvater
Daniels) zum Fürsten eingesetzien Schwager seines Vaters, den Prinzen An¬
dreas von Ungarn zu vertreiben und alle vier Kleinstaaten seinem Scepter zu
unterwerfen, nahm den Titel König von Nußland an und ließ sich von dem
Papst mit einer Krone beschenken. Wählend das östliche Nußland von den
Mongolen verwüstet und zu einer abhängigen Provinz gemacht wurde, wußte
Daniel, ob er dem Mongolenthum gleich Tribut zahlen mußte, eine gewaltige
Würde und Unabhängigkeit zu behaupten. Die entferntere Lage seines Landes,
die Bündnisse, welche er mit dem Papst und verschiedenen westeuropäischen
Herrschern eingegangen war. setzten ihn in den Stand, die Einmischung des Chans
in innere Angelegenheiten abzuweisen und die selbständige Cultur Wcstrußlands
zu wahren. Einen Augenblick schien es, als ob der Schwerpunkt russischen
Lebens in diesen glücklich gerettete» Winkel verlegt werden sollte, nur im Reiche
Daniels konnte der Russe frei und sicher auftreten, hier blühten Städte auf,
hier gab es eine Art russisch-byzantinischer Cultur, während die Gefilde zwischen
Dnjcster und Wolga sich mehr und mehr in eine mit den Trümmern alter
Herrlichkeit und Civilisation bedeckte Einöde verwandelten, Aus dieser Periode
datiren zahlreiche, dem russischen Nationalbewußtsein theure, in der That un-
vergeßliche Erinnerungen — sie war aber zu kurz, um eine bleibende Bedeutung
erringen zu können. — Nach Daniels Tode wurde das wesirussische Reich
wiederum zerstückelt, schon im ersten Vierte! des 14. Jahrhunderts sehen wir
den nordöstlichen Theil in die Hände Gedimins des Lithauers fallen. Im
Jahr 1336 stirbt Georg, der letzte Sprosse aus dem ruhmreichen Hause Daniels
von Halicz, Boleslav, der Herzog von Masovien wird zu seinem Nachfolger
gewählt, schon 1340 hat König Kasimir von Polen sich des ganzen Landes be¬
mächtigt und es seinem Reiche einverleibt. Zur Zeit der Einherrigkeit Polens
und Ungarns kam West- oder Nothrußland (russisch (ÜMrvoirn^g. ILussZ noch
zeitweise an Ungarn, wurde nach der Vereinigung Polens und Lithauens aber
wiederum der Republik einverleibt und bis zum Jahr 1772 als intcgrirendcr
Theil des polnischen Staats angesehen.
Bei der Ursprünglichkeit des Culturzustandes, in welchem galizische Russen
und Polen sich im 14. Jahrh, befanden, hätte sich eine Fusion dieser beiden slawi¬
schen Stämme leicht und mühelos vollziehen können. Während des Jahrhunderts,
das seit der mongolischen Invasion im östlichen Rußland vergangen war,
hatten lebhafte Beziehungen des vom Mutterlande isolirten westrussischen Staats
zu Polen und andern Ländern des Westens stattgefunden und eine gegenseitige
Annäherung zur Folge gehabt; dazu kam, daß die rothrussischen Bojaren ihren
Fürsten gegenüber eine Stellung eingenommen hatte», die der der polnischen
Aristokratie nicht unähnlich gewesen war. Ein entscheidender Umstand stand
aber von vornherein der internationalen Verschmelzung feindlich entgegen: die
Polen waren römische Katholiken, die Russen Anhänger der griech.-kath. Kirche,
die in die westrussischen Städte bereits eine gewisse Culturblüthe getragen hatte.
Der byzantinische Einfluß scheint in dem südwestlichen Nußland besonders
stark und nachhaltig gewesen zu sein, in den höheren Ständen war zuweilen
die Kenntniß der griechischen Sprache zu finden, die Geistlichkeit eifrig mit der
Uebersetzung und Verarbeitung theologischer Schriften, ritualer Handbücher und
kirchlicher Chroniken beschäftigt. Während des ersten halben Jahrhunderts der
polnischen Herrschaft verhielten sich die neuen Herrscher des Landes wie ihre
Beamten im Ganzen tolerant. Seit aber Jadwiga, König Ludwigs Tochter,
dem lithauischen Großfürsten Jagcllo die Hand gereicht und dadurch die Ver¬
einigung Lithauens und Polens bewirkt hatte, erwachte der Rvthrußland gegen¬
über zurückgehaltene propagandistische Eifer des katholischen Klerus mit dop¬
pelter Starke. Die Katholisirung der halb heidnischen, halb der orientalischen
Kirche unterworfenen lithauischen Lande eröffnete der katholischen Mission ein
unermeßliches Feld der Thätigkeit. Von Kiew und Byzanz. den Quellen ihres
kirchlichen Lebens, durch Mongolen und andrängende Osmanen abgeschnitten,
schien die griechische Kirche Lithauens, Weih- und Rothrußlands dem Untergänge
geweiht zu sein und die römische Curie, die bereits im dreizehnten Jahrhundert
ein Auge ans die westrnssischen Fürsten geworfen hatte, ließ es an Winken
nicht fehlen, die von der fanatischen Geistlichkeit Polens nur allzu gut verstanden
wurden. Dem religiösen Eifer gesellten sich, namentlich was Lithauen anlangt,
politische Interessen zu: das Polen an Macht und Ausdehnung weit überlegene
lithauische Grvßfürsteuthnm mußte lechischcm Einfluß unterworfen werden, wenn
nicht das Gegentheil, eine Lithuanisirung Polens eintreten sollte. Ueberdies
mußte die Lahmlegung Rußlands durch die Mongolen benutzt werden, um die
vielfachen durch kirchliche und vcrwandschaftliche Bande geknüpften Beziehungen
zwischen Wilna und Moskau oder Kiew für immer zu zerreißen, denn mehr wie
einmal hatten russische Großfürsten die Hand nach den Niederungen an der
Wilja und dem Niemen ausgestreckt. War doch ein großer Theil des jagel-
lonischen Großfürstenthnms, Weiß- und Schwarzrußland von slawischen Stämmen
bewohnt, die meist die Fürsten von Kiew und Nowgorod als ihre Oberherren
anerkannt hatten. Schaarenweise zogen polnische Edelleute und Priester nach
Wilna und in die übrigen lithauischen Städte, um sich als Herren festzusetzen,
katholische Kirchen und Klöster zu bauen, Befestigungen anzulegen und vor allem
die Großen des Landes zu polonisiren. Jagello selbst war, Dank dem Einfluß
seiner schönen Gemahlin, Katholik und damit Pole geworden, seinem Beispiel
folgte die Mehrzahl derer, welche das Volk als seine Führer anerkannte; wieder¬
holt hielten die polnischen Könige zu Wilna Hof und immer waren sie von
einem glänzenden Gefolge von Magnaten und Bischöfen umgeben. Dem Glanz
und der Macht des polnischen Einflusses und der Cultur, deren Trägerin die
römische Kirche war, konnten sich die rohen, halb barbarischen lithauischen Großen
nicht entziehen und wenige Jahrhunderte reichten dazu hin, dem Adel des Landes
und dessen Gefolgschaft den polnisch-katholischen Stempel für immer aufzuprägen.
Man muß in einem von verschiedenen Stämmen bewohnten Lande gelebt haben,
um den energischen Einfluß, welchen ein auf höherer Cnlturstufc befindliches Volk
gegenüber seiner tiefer stehenden Umgebung ausübt, kennen und verstehen zu
lernen! Wo alle Bewohner einer Race angehören und dieselbe Sprache reden,
kann man sich keine Vorstellung davon machen, wie unwiderstehlich die An¬
ziehungskraft eines gebildeteren Idioms, einer schöpferischen Literatur, reiferer
und mannigfaltigerer Bildungsformen wirkt. — wie mächtig der Reiz ist, der
den außerhalb Stehenden dazu treibt, sich dem Kreise der maßgebenden Cultur
und ihrer Vertreter zu nähern, sich ihm anzuschließen. Die Herrschaft eines
Volks, das einem andern die Cultur bringt, ist keineswegs durch die politische
Uebermacht bedingt; auch das Jahrhundert der russischen Herrschaft in Lithauen
hat ein dem Umstände nichts zu ändern vermocht, daß der katholische Pole in
diesem Lande als geborener Herr, als Vertreter eines höheren Culturelements
angesehen und — willig oder widerwillig — respectirt wird, — Der Ade! und
die Städte Lithauens waren schon hundert Jahre nach der Heirath Iagellos
und Jadwigas, wenige Ausnahmen abgerechnet, polonistrt, die griechische Kirche
war aus ihrer Machtstellung verdrängt, unaufhörlich befehdet, an jedem inneren
Aufschwung verhindert; da man die griechischen Kirchenschulen und Seminare
niederhielt und ihre Ausbreitung möglichst erschwerte, war der Klerus ungebildet
und den überlegenen Waffen seiner katholischen Rivalen gegenüber wehrlos, nur
das Landvolk hielt, besonders in Weißrußland, an der Religion seiner Väter
fest, die mehr und mehr zu einer Bauernreligion wurde und schon der Armuth
und Unwissenheit ihrer geistlichen und weltlichen Vertreter wegen verachtet war.
Das Schicksal Lithauens und Weißrußlands war zugleich das Wolynicns
und des rothrussischen Landes, welches wir zum Ausgangspunkt unserer Be¬
trachtung wählten. Die Bischöfe von Halicz, Lemberg, Luck n. s. w. sahen den
griechischen Metropoliten von Wilna als ihren geistlichen Oberhirten an — das
Loos, das diesem und den übrigen Theilen der Metrovolitandiöccse bereitet war,
wurde von der griechisch-orthodoxen Kirche, welche am Fuße der Karpathen ge¬
herrscht hatte, vollständig getheilt. Nur durch den San von Kleinpolen getrennt,
wurde Rothrußland binnen kurzem zu einer polnischen Woyewodschaft, seine
Bojaren ahmten das in Wilna gegebene Beispiel nach, bekannten sich zur
katholischen Kirche, nahmen die polnische Sprache und mit dieser polnische An-
schauungen, Sitten und Bräuche an. Polnische Geistliche und Beamte über¬
schwemmten da? Land, dessen russischer Charakter dem mächtigen Strom der
westlichen Cultur kein dauerndes Bollwerk entgegenzusehen wußte. Der roth-
russische Ade! verschmolz un! dem polnischen so vollständig, daß die Begriffe
Edelmann und Pole bald ebenso identisch waren, w>e die Bezeichnungen Bauer
und Russe; wiederholt haben Edelleute russisch-galizischen Ursprungs (Wisnowiecki
und Sobiesli) den Thron der Piaster bestiege» und sich als eifrige Vorkämpfer
der Kirche und der Nationalttät bewiesen, welche ihren Vorfahren für die Erb¬
feinde des russische» Namens gegolten hatten, — Während katholische Würden¬
träger des Landes, obwohl sie die Religion der Minorität repräsentirten, zu¬
gleich hohe Staatsämter bekleideten und als Senatoren fungirten, mußten die
griechisch-orthodoxen Geistlichen sich damit begnügen, die geduldeten Dorfpriestcr
der armen, gedrückten und verachteten Bauern zu sein, deren Loos sich gleich
dem der polnischen und lithauischen Bewohner des flachen Landes von Jahr zu
Jahr verschlimmerte. Der westliche Theil des Landes, die sogenannte Woyewod¬
schaft Rothrußland (mit den Hauptstädten Lemberg und Przemyszl) war durch
sechs Senatoren und achtzehn Slarvsten, Halicz durch zwei Senatoren und elf
Starosten Ms den Reichstagen vertreten; auf den Provinzialversammlungen
führten der Erzbischof von Lemberg und der Wvyewode den Vorsitz. Hier
kamen noch Neben in russischer Sprache vor, zuweilen auch Versuche, die grie¬
chische Kirche zu schützen und ihr Parität zu sichern, die aber, Dank dem be¬
stimmenden Einfluß jener Machthaber, immer ohnmächtig verhallten. Grade auf
rothrussischcm Boden feierte die katholische Kirche einen ihrer classischen Triumphe,
in jener Union des Jahres 1596, welche die wcstrussischen Bekenner der grie¬
chisch-orthodoxen Kirche unter Wahrung gewisser äußerlicher Eigenthümlichkeiten
in den Nahmen des Katholicismus einfügte und zur Anerkennung der geistlichen
Obergewalt des Papstes zwang. Seitdem war es um den letzten Rest der
Selbständigkeit des byzantinischen Kirchenthums im westlichen Rußland geschehen.
Der Erzbischof und die Bischöfe von Przemysl, Luck, Brezc u. s. w. herrschten
in weltlichen und kirchlichen Dingen gleich unumschränkt und es war kein Wun¬
der, daß die im 16. Jahrhundert wie in allen Theilen Polens, so namentlich
in Nothrußland gemachten reformatorischen Anläufe*) niedergehalten und erstickt
wurden; den gleichen Ausgang halte» bereits im fünfzehnten Jahrhundert ver¬
schiedene russische Bauernaufstände gehabt.
Als die Oestreicher 1772 in das Land kamen, trug dasselbe einen so aus¬
gesprochenen polnisch-aristokratischen Charakter, daß es den alten Theilen der
Republik in jeder Beziehung gleich geachtet wurde. Bei der Indifferenz gegen
das nationale Moment, welche das Zeitalter der Aufklärung charakterisirt^), läßt
sich kaum annehmen, daß die nationale Verschiedenheit zwischen Herren und
Bauern, welche sich in der östlichen Hälfte des neugewonnenen Landes vorfand,
von der östreichischen Regierung besonders bemerkt und in Rechnung gezogen
wurde. Arider» Falls wäre die Verbindung der rothrussischen Länder (der
Woyewodschastcn Nothrußland und Halicz und der südwestlichen Theile von
Ludomericn und Podolien) mit Kleinpolen, welche bei Begründung des König¬
reichs Galizien geschah, unbegreiflich gewesen; waren doch selbst zu polnischer
Zeit jene Länder wenigstens als eigene Provinzen (mit gesonderten Provinzial-
conventen) angesehen worden. Ernster war die Aufmerksamkeit, welche die
östreichische Regierung namentlich unter Joseph dem Zweiten den bäuerlichen
Zuständen Galiziens zuwandte, um dieselbe» durch das bekannte Nobotpatent
gänzlich umzugestalten und wahrhaft zu reformiren: diese Verbesserungen kamen
dem westlichen, rein polnischen Theil des Landes übrigens in demselben Maße
zu Gute, wie dem russischen. — Verständlicher als die nationalen waren den
östreichischen Aufklärern die confessionellen Unterschiede. Schon Maria Theresia
hatte die Gleichberechtigung des griechischen und katholischen Cultus decretirt,
Joseph gründete zu Lemberg ein griechisches Priesterseminar und begünstigte den
Gebrauch der russischen Sprache beim gelehrten wie beim Volksuntenicht. Aber
nach weniger als drei Jahrzehnten östreichischer Herrschaft wandte sich das Blatt;
so lange es noch Ueberbleibsel des polnischen Staats gab, die sich einer gewissen
Selbständigkeit erfreuten, hatte man es in Wien nicht ungern gesehen, daß die
nationale Verschiedenheit zwischen der herrschenden und der dienenden Classe in
Ostgalizien genährt wurde, — nach der dritten Theilung Polens (1798) schien
die Gefahr polnischer Unabhängigkcitsgelüste wenigstens vor der Hand beseitigt.
Dagegen ließ die zunehmende Macht des gefährlichen Nachbarn, der die östliche
Hälfte Polens und Lithauens verschlungen hatte, die Erstarkung eines russischen
Nationalgefühls innerhalb des östreichischen Staatsgebiets, zumal an der Ost-
grenze desselben bedenklich erscheinen.
Die dem „ Königreich Galizien " im Jahre 1817 verliehene „ Landesver¬
fassung" hielt die Verschmelzung der polnischen und der russischen Landestheile
aufrecht und entsprach schon dadurch dem polnischen Interesse; auf dem Land¬
tage war neben der Geistlichkeit und der Stadt Lemberg eigentlich nur der
Adel vertreten; die Mitglieder des Landtags aus s chusscs mußten der pol¬
nischen, deutschen und der lateinischen Sprache mächtig sein, von der russischen
war ebenso wenig die Rede, wie von bäuerlichen Deputaten. Das gleichzeitig
mit der Verfassung erlassene Gesetz über das Unterrichtswesen schloß die rus¬
sische Sprache von den höheren Lehranstalten, in welche sie sich einzubürgern
begonnen hatte, fast ganz aus — nur für das griechisch-geistliche Seminar in
Lemberg blieb sie obligatorisch. Alle Bemühungen des lembcrger griechischen
Metropoliten 'Lewizty, der mindestens die Concessionen Josephs des Zweiten
gewahrt wissen wollte, scheiterten an der Abneigung der galizischen Landes¬
regierung, welche in ihrem an das Ministerium gerichteten Gutachten von 1816
direct aussprach, die Rücksicht auf Nußland und dessen ehrgeizige Pläne verbiete
die Förderung russisch-nationaler Bestrebungen, möchten dieselben auch nur
literarischer Natur sein, im Interesse des östreichischen Staats und seiner Inte¬
grität ein für alle Mal.
Von 1795 ab entzog die Negierung den russischen Nativnalbestrebungen
ihre Unterstützung. Auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, vermochten die gali¬
zischen Nüssen dem wiedererwachten polnischen Einfluß keinen Damm entgegen¬
zusetzen; nach wie vor zö.^ das polnische Element alle strebsamen und intelli¬
genten Kräfte an sich, war der russische Bauer auf die wenigen kirchlichen
Bücher angewiesen, welche sein Priester ihm in die Hand gab, war der grie¬
chische Geistliche von den katholischen Bischöfen des Landes und dem römischen
Konsistorium abhängig, das zugleich die Oberschulbehörde war und den Volks¬
unterricht in Polnisch-katholischem Geiste leitete. Zwar traten einzelne russische
Schriftsteller wie Staszkicwicz. Kuziemski u. a. auf, um die Kenntniß der groß-
russischen Literatur zu verbreiten, Volkslieder und Chroniken zu sammeln und
im russischen Sinn auf die Volksschulen einzuwirken, ihre Bestrebungen waren
aller zu vereinzelt, um nachhaltig auf die todten Massen zu wirken, deren niederer
Bildungsgrad jede allgemeinere Betheiligung an idealen Interessen ausschloß.
Der Einfluß der herrschenden Classe und die geistige Überlegenheit derselben
waren trotz des Verlustes der politischen Unabhängigkeit, auf welche sie begründet
gewesen waren, zu tief gewurzelt und zu bedeutend, um innerhalb der Grenzen
des alten polnischen Staatsgebiets irgendein nichtpolnisches Element aufkommen
zu lassen.
Die polnische Aristokratie war aber unklug und halsstarrig genug, all die
Lehren, welche die Geschichte des 18. Jahrhunderts ihr ertheilt hatte, unbenutzt zu
lassen. Die Vollendung der Polonisation Nothrußlands hatte einen erträglichen
Zustand der ländlichen Bevölkerung, eine dieselbe befriedigende Lösung der durch
das josephinische Nobotpatent in Bewegung gebrachten, aber unvollendet ge¬
bliebenen Agrarfrage zur nothwendigen Voraussetzung, — statt diese zu fördern
war der polnische Adel auch während der ersten vierzigJahre des 19. Jahrhunderts
unablässig bemüht, die dem Bauernstande gemachten Concessionen abzuschwächen,
Womöglich rückgängig zu machen. Durch den steten Kampf um Aufrechthaltung
und Erhöhung des Robot verscherzte die Aristokratie die Achtung der Regierung
und die Sympathien des Landvolks, des russische» sowohl wie des polnischen.
In der westlichen Hälfte Galiziens, dem früheren Kleinpvlen, waren die bäuer¬
lichen Verhältnisse ebenso traurig, wie in der östlichen; der Schutz, den die öst¬
reichischen Beamten den bedrückten Bauern gewährten, stärkte den Einfluß der
Negierung auf Unkosten des Adels, der schließlich auf einem Völlig unterwühlten
Boden stand und seine Bauern zu gefährlicheren Beobachtern und Wächtern des
Negierungsintcresses gemacht hatte, als es die östreichischen Beamten des trägen,
geistlosen mcttcrnichschcn Regimes waren. Während die französisch-polnische
Invasion von 1809 auch auf dem flachen Lande Bundesgenossen gefunden und
alte Erinnerungen wachgerufen hatte, wurde der polnische Aufstand von 1830
von den galizischen Bauern mit entschiedener Abneigung begrüßt und jede
Aeußerung der>Sympathie in aristokratischen Kreisen drohend überwacht. Sech¬
zehn Jahre später, gelegentlich des thörichten Aufstandes von 1846, der zahlreiche
Freunde unter dem Adel Galiziens zählte, und der dem Freistaat Krakau seine
Unabhängigkeit kostete, brach die lang verhaltene Wuth der mißhandelten und
verachteten russischen Bauern mit ungeahnter Energie los: jene Mordscenen
von Tarnow. zu denen die rathlose östreichische Bureaukratie Galiziens wenig¬
stens indirect und ohne Ahnung von der Tragweite ihres Verfahrens die Ver¬
anlassung gegeben hatte und die zu den scheußlichsten Ereignissen des Zeitalters
gehören, bekundeten ebenso den Haß des Bauernstandes gegen seine Unterdrücker,
wie dessen Hingebung an die Sache einer Regierung, die — wenn auch im
übrigen Europa übel accreditirt — in seinen Augen unvergleichlich besser und
liberaler war als jedes andere Regiment, das jemals in Halicz oder Süd-
tudomcrien gewaltet hatte.
Daß die Schale der russischen Sache seit 1846 wieder steigen mußte, ver¬
stand sich für die östreichische Negierung von selbst. Franz Stadion, der den
rathlosen Erzherzog Ferdinand 1847 im Amte eines k, k. Statthalters ersetzte,
wurde eifrigster Anwalt der russischen Regungen: mit staatsmännischem Scharf¬
blick übersah er den Gewinn, welcher sich für das östreichische Interesse aus
den polenfeindlichcn Tendenzen des Landvolks ziehen ließ, wenn dasselbe nur
vor jeder Berührung mit den Stammverwandten jenseit der russischen Grenze
bewahrt bleiben konnte. So „erfand" er den Volksstamm der „Ruthcnen". der
in Wahrheit niemals existirt hatte. In Deutschland wurde der Name zuerst
während des Jahres 1848 genannt, wo sie zu den treuesten Verfechtern der
Sache des Hauses Lothringen-Habsburg innerhalb wie außerhalb des Par¬
laments gehörten. Die Sprache, welche einer ihrer Vertreter, der Bauer Ka-
puszak bei Gelegenheit des berühmten Kudlichschen Antrags auf sofortige Ab¬
schaffung aller ländlichen Frohnen und Lasten führte, wird manchem der Zeitungs-
leser jenes denkwürdigen Jahres noch erinnerlich sein. Den Geistlichen (Popen)
und Bauern, welche das galizische „Volk" nach Wien und Krcmsier entsendet
hatte, war von ihren Wählern nur ein Mandat mitgegeben worden: Abschaffung
des Robot und möglichste Unabhängigkeit von den Herren. Nachdem diese Ziele
erreicht waren, traten die galizischen Deputirten, welche in der Nvbotfrage mit
der äußersten Linken gestimmt hatten, direct und bedingungslos in das Lager
der Reaction über, um mit ihrem Kaiser, dem Manne, dessen Rechte die ver¬
haßten „Herren" verkürzen wollten, durch Dick und Dünn zu gehen. Der tolle
prager Slawcncongreß (Mai 1849) führte neben anderen Farcen auch die
einer feierlichen Aussöhnung der Polen und der galizischen Russen auf, die
einander gegenseitig politische und kirchliche Parität garantirten und sodann
einen Bruderbund schlossen. Nichts desto weniger war der Antagonismus
zwischen diesen beiden Stämmen, von denen der eine für den zuverlässigsten, der
andere für den unzuverlässigsten Anhänger Oestreichs galt, während der ge¬
stimmten Revolutionszeit ein besonders entschiedener: die Einnahme Wiens
durch den Fürsten Windischgrätz (Nov. 1848) wurde von dem einen Volk ge¬
feiert, von dem andern beklagt; während der galizische Adel die Sache des
ungarischen Aufstandes insgeheim nach Kräften unicrstünte, boten die Vor¬
steher der an den Karpathen liegenden russischen Dorfgemeinden ihre Jugend
zum kaiserlichen Landsturm auf.
Unter solchen Umständen war es erklärlich, daß die Unterstützung „ ruthc-
nischer" Bestrebungen in Galizien während der gesammten Bach-schwarzenberg-
schen Neactionspcriode für ein Axiom der östreichischen Staatskunst galt.
Wenn die Regierung auch wenig Positives zu Gunsten des russischen Volks
lind Schrifttums that, so trat sie wenigstens nicbt hindernd auf und das war
seit dem Jahre 1848 auch in Galizie» genug. Was die russischen Volksführer
in diesem Jahre gelernt hatten, vergessen sie nicht wilder und die ihnen damals
gemachten Concessionen genügten, um dauernd eine freiere und selbständigere
Bewegung der Geister zu ermöglichen: unter Stations Auspicien war zu Lem-
berg eine Radownska (kirchliche Volksversammlung) abgehalten worden, ver¬
schiedene Gelehrtcnvcrsammlungen hatten unter Theilnahme fremder Celebritäten
getagt, eine Literaturgesellschaft zur Verbreitung von Büchern in der National¬
sprache (die Halizko-rü?skaja Matiza) war gegründet, kurz ein ziemlich vollstän¬
diger Apparat für die Organisation volksthümlicher, literarisch-politischer Pro¬
paganda ins Leben gerufen. Dazu kam, das, die Negierung die Einführung
des russischen Idioms in den Gymnasien und die Begründung eines russischen
Lchrstuhls bei der lembcrger Universität zugestanden hatte und daß die Regie¬
rungsverordnungen in einer eigenen russischen Regierungszeitung veröffentlicht
wurden. Es begann eine Zeit regere» literarischen Strebens. Vou der 48er
Märzsvnnc ausgebrütet gab eine Anzahl junger Talente ihrem nationalen Eifer
in Versen und in Prosa Ausdruck und zahlreiche Journale winden gegründet,
welche zwar alle bald wieder untergingen, aber durch neue ersetzt wurden, die
allmälig auch bei dem sonst indifferenten Landvolk Einfluß zu üben begannen.
Consequentcs Festhalten an einem einmal aufgestellten Princip ist bekannt¬
lich niemals die Sache der östreichischen Negierung gewesen. Nachdem die
Russen fast ein Jahrzehnt lang auf Unkosten der Polen begünstigt worden waren,
trat zufolge des orientalischen Kneges und der zunehmenden Entfremdung zwischen
den Cabineten von Wien und Petersburg ein Umschlag ein, welcher der in
Fluß gekommenen Bewegung der russischen Geister ein Halt zuzurufen versuchte.
Graf Agenor Golnchowski, einer der Führer des hohen polnischen Adels, ein
Mann, der für freisinnig und für einen Gönner der Russen galt, trat an die
Spitze der Verwaltung. Erfüllt vou dem Gedanken, daß die Rettung der pol¬
nischen Nationalität nur von Oestreich ausgehen könne, wies er der Regierung
die Gefährlichkeit der ruthenischen Propaganda nach, die ihren lokalen Charakter
aufgegeben und einen russisch-mvslowitischcn angenommen habe, um der von
Rußland begünstigten Sache des Panslawismus in die Hände zu arbeiten.
Seinem Einfluß gelang es. den russischen Sprachunterricht bei den Gymnasien
aus der Reihe der obligatorischen Unterrichtsgegenstände zu streichen und zu einem
facultativen zu machen; die Thätigkeit der Matiza und der vorgeschritteneren
Organe der Presse wurde genauer überwacht, strenger gezügelt, die polnische
Nationalität allenthalben begünstigt und in der Bureaukratie bevorzugt.
Goluchowkis Hauptsorge wandte sich gegen die Verbreitung der moskauer
und Petersburger Presse in Gallizien und gegen den zunehmenden Gebrauch der
neurussischen, in Nußland gebräuchlichen Typen. Das gegenwärtige russische
Alphabet datirt bekanntlich erst aus der Zeit Peters des Großen und wird nur
in der weltlichen Literatur angewandt; so lange es in Nußland nur eine kirch¬
liche Literatur gab. kannte man in Galizien wie jenseit der russischen Grenze
nur die schwerfälligen slawouisch - kyrillischen Lettern, welche noch heute die offi-
ciellen schriftlichen der griechischen Kirche sind. Um die „ruthenische Stammes¬
eigenthümlichkeit" zu wahren, schlug Goluchowski das Verbot „moskowitischer
Schriftzeichen" und die Einführung eines neuen, der lateinischen Schreibart
verwandteren Alphabets vor. das er von einer aus Polen, Czechen und ins
polnische Interesse gezogenen Ruthenen zusammengesetzten wiener Commission
herstellen ließ. Diese unverständige Maßregel scheiterte an der lebhaften Oppo¬
sition, welche das gesammte russisch-galizische Volk vom Metropoliten Gregory
Jakimowitsch bis zu den Schülern des lcmberger Gymnasiums herab bekundete
und als wenig später das Ministerium Schmerling an die Spitze der Geschäfte
trat und zu Gunsten des Centralisinus für die Ruthenen und gegen die Polen
Partei nahm, mußte Goluchowski zurücktreten. Die ihm vielfach Schuld ge¬
gebene Bedrückung des Bauernstandes und der griechischen Kirche ist zum größten
Theil eine Erfindung seiner Gegner, selbst die erbitterten lemberger Correspon-
denzen, welche die Petersburger Blätter der fünfziger Jahre veröffentlichten,
geben nach dieser Seite hin nirgend positive Daten. I» kirchlichen Dingen
betonte Goluchowski die organische Verbindung, in welche die griechische Kirche
Galiziens zufolge der Union zur katholischen getreten war, in politischen suchte
er den polnischen Charakter, den die Grundlagen des öffentlichen Lebens von
Alters her trugen, möglichst geltend zu machen, die russischen Galizier von der
Verbindung mit der Presse und den Tendenzen des russischen Reichs und Von
der Abschleifung der Eigenthümlichkeiten ihres Dialektes fern zu halten. Daß
auf diesem Gebiete Beeinträchtigungen der Presse und Literatur, tendenziöse
Bevorzugungen polnischer Einflüsse vorkamen, läßt sich selbstverständlich nicht
läugnen.
Die galizische Geschichte der letzten Jahre läßt sich in wenigen Zeilen zu¬
sammenfassen: Schmerling begünstigte nach dem Vorbilde der Stadion und
Schwarzenberg das russische Volksthum und erreichte damit, daß die ruthenischen
Deputirten des wiener Reichstags zu den ergebensten Anhängern des Einheits¬
staats gehörten, während die Polen sich ausnahmslos auf die Seite der Föde¬
ralisten stellten. Die neue belcredische Aera hat den Grasen Goluchowski reha-
bilitirt, den Nationalitätcntampf in Galizien neu geschürt und für den in solchen
Fällen üblich gewordenen lemberger Schmerzensschrei gesorgt, dessen Echo seit
Monaten in der gesammten russischen Presse wiederhallt.
Zur Gewinnung der richtigen Gesichtspunkte für die Stellung Rußlands
zu dem Nationalitätenkampf in Galizien bedarf es einer Rekapitulation der
russisch-Polnischen Ereignisse mindestens der letzten zwei Jahre; überdies sind
wir unsern Lesern noch Rechenschaft schuldist über die gegenwärtigen ethno¬
graphischen Verhältnisse Galiziens und die Geographie der polnischen Sprache
in diesem Lande. Darüber soll in dem nächsten Artikel berichtet und sodann
die Summe unserer Resultate gezogen werden.
Die Ereignisse in Kreta, die Bewegungen in Thessalien und Epirus lenken
von neuem die Aufmerksamkeit aus den Orient. Es scheint, als sollte nach den
gewaltigen Borgängen, welche sich auf deutscher Erde vor unsern Augen voll¬
zogen haben, zunächst wieder einmal der classische Winkel tief in der Türkei
die „Tenne des Ares" abgeben. Unsere natürlichen Sympathien sind fast un¬
geteilt bei den Griechen als den „Unterdrückten, den Glaubensgenossen, den
jugendlichen Vertretern einer hoffnungsreichen Zukunft" gegenüber den alters¬
schwachen Repräsentanten in Auflösung begriffener Zustände. Aber diese natür¬
lichen und berechtigten Sympathien dürfen den Blick nicht trüben; daran zu
erinnern ist um so nöthiger, als die Vorstellungen des großen Publikums über
die Türken trotz Eisenbahn und Dampfschifffahrt, die auch sie uns so viel näher
gebracht haben, im Allgemeinen doch immer noch unglaublich naiv sind. Langer
Aufenthalt in Konstantinopel ist gar nicht einmal erforderlich, um die Erfah¬
rung zu machen, die sich in der Aeußerung jenes preußischen Lieutenants und
Cadettenlehrers aussprach, den wir in Smyrna an, Bord trafen: „Das Erste,
was ich in Berlin nach meiner Rückkehr zu thun habe," meinte er, „ist, daß
ich vor meinen Schülern alle die verkehrten landläufigen Vorstellungen aus¬
drücklich zurücknehme oder berichtige, welche ich ihnen noch am Tage vor meiner
Abreise in der letzten Geographicstunde über die Türkei aufgetischt habe." Wer
unbefangenen und aufmerksamen Sinnes in Konstantinopel zu beobachten ver¬
steht, dem geht es ebenso; wer aber in längerem Aufenthalt Stadt und Volk
näher kennen zu lernen Gelegenheit hatte, der fühlt es gradezu als eine Ver¬
pflichtung, den unwahren und phantastischen Vorstellungen, welche bei uns aller
Orten über Konstantinopel und die Türkei noch immer im Schwange sind, ent¬
gegenzutreten.
Die Schuld jener Erscheinung liegt nicht im Publikum, sondern in der
Literatur über den Orient. Man kann die Schriftsteller über Konstantinopel
und die Türkei in drei Classen theilen; die eine», in dem Wunsche, dem
Publikum daheim recht Interessantes zu bieten, geheimnissen hinein, was nicht
vorhanden ist; Chorführer dieser Schaar ist Jos, v. Hammer in seinem zwei¬
bändigen Werk über Konstantinopel und den Bosporus. Ihm ist die Mehrzahl
gedankenlos gefolgt, besonders diejenigen, die so flüchtig reisen, daß sie nicht
Zeit haben, ihre mitgebrachten Borstellungen abzuschütteln und zu corrigiren,
und so ihre Reiseerinnerungen immer wieder aus der trüben Quelle dieser Lite¬
ratur zu ergänzen genöthigt sind. Sie bilden dann die zweite Classe und dahinein
gehören die Feuillctvntouiisten, wie die Hab»-H.es», Neisewih u. a. in., ja
auch Hackländer und Wachcnhuscn, welche neben mancherlei Richtigen dennoch
des Schiefer und Falschen viel mehr bieten. Die Dritten trete» mit dichterischem
Sinn Hera», nicht aber so, daß sie sich damit begnüge», das Schöne in Natur
und Meiischenlebe», was ja allerdings mit geweihten Augen angeschaut sein
will, von dem Staube der Gewöhnlichkeit befreit in objectiver Weise wahr¬
heitsgemäß als reines Bild der Wirklichkeit zu reproduciren, sondern sie legen
ihre eigene subjectiv gefärbte und präoccupirtc Stimmung hinein, und verfallen
auf diese Weise, ohne es zu wollen, allen den Sünden, welche andere zum
Theil bewußt ausüben; dahin gehört der treffliche, aber überschwängliche Schu¬
bert, dahin die »reiste» der französischen Dichter, wie Lamantine und Chateau¬
briand.
Uns ist außer den höchst bedeutenden, nur grade über die Stadt Kvnstan-
tittvpel selbst zu karg gehaltenen Briefen unsres berühmte» Generals v. Moltke
„Ueber Zustände und Begebenheiten in der Türkei"*) kein deutsches Buch be¬
kannt, welches nicht ein Zerrbild gäbe. Treu, nur in ungenießbarer Form
schildert die Türken und ihre Hauptstadt der Engländer White in seinem Buch
„Drei Jahre in Konstanttnopel"; das Beste aber. waS über den Gegenstand
geschrieben ist. sind die vortrefflichen „I^ttrvL sur 1a '1'uiguis^ vo» Ubicini,
nur daß sie sich allein mit der Schilderung der inneren Zustände der Türkei
beschäftigen, nicht zugleich auch ein Bild deS wunderbaten äußeren Treibens der
Weltstadt am Boepvrus mit ihrem wundervollen landschaftlichen Zauber geben.
Die nachfolgenden Mittheilungen, denen in den Jahren 1855—1857 an
Ort und Stelle gemachte Bcobachtunge» und Erfahrungen zu Grunde liegen,
werden ebenfalls nur das innere Treiben der Stadt und des Staates behandeln.
Da aber an dieser Stelle Vollständigkeit oder Erschöpfung deS Stoffes nicht
erwartet werden kann, welche ein Werk von mehren Bänden in Anspruch nehmen
würde, so begnügen wir uns damit, in allgemeinen Zügen zu zeichnen, oder
kleine Einzelbilder an die Stelle eines ausgeführten Ganzen zu sehen. Mit der
Stadt Konstantinopel haben wir es vorzugsweise zu thun, und auch hier lassen
wir alle nickt türkischen Bestandtheile der Bevölkerung (Griechen, Armenier.
Juden, so stark ihr Contingent auch ist) bei Seite; um eine Charakteristik
der Türken handelt es sich. Dabei sollen die Handbücher der Statistik und
politischen Geographie unangetastet bleiben; was dort zu finden ist, mag dort
nachgelesen werden; wir hoffen dagegen, dem oben angedeuteten Gesichtspunkt,
apologetiscbe aber doch wahrheitsgetreue Beiträge zum Verständniß der türkischen
Zustande zu geben, am ersten treu zu bleiben, wenn wir erst aus die Schilde¬
rung der türkische» Nation nach ihrem Naturell und nach ihrem Bildungszustand
eine Betrachtung der vermeintlichen und der wirklichen Schäden des europäischen
Osmanenthums folgen lassen wie sie uns erscheinen.
Es giebt eine Charakteristik der Türken von einem neugriechischen Schrift¬
steller, den man also einer Parteilichkeit für die Osmanen gewiß nicht wird be¬
schuldigen können, in welcher er die verschiedenen Elemente der Bevölkerung der
europäischen Türkei und Konstantinopels vergleicht. Da heißt es lakonisch genug:
der Türke ist gerade und edclsinnig, der Grieche ehrgeizig und verschlagen, der
Armenier habgierig und ausdauernd, der Jude gewinnsüchtig und feig.*)
Das ist ganz außerordentlich treffend gesagt, und die Grundzüge des
osmanischen Charakters können nicht schärfer und richtiger hervorgehoben wer.
den als in jenen beiden Worten d. h. gerade, wahr, lauter, und «^'-
pwxos, d. h. edlen, muthvollen, kühnen, auch Wohl trotzigen und selbst wilden
Sinnes. Natürlicher Adel der Gesinnung, prononcirtes Selbstgefühl ohne Arro¬
ganz, Würde und Festigkeit sind die Eigenschaften nicht nur Einzelner, sondern
der ganzen Menge bis herab zum geringsten Schuhflicker und Bootführer. Da¬
her die prächtigen Gestalten, die ausdrucksvollen Physiognomien, welche so oft
imponiren und in wenig Ländern so häusig gefunden werden als grade in der
Türkei, und welche allein schon sprechende Beweise des tüchtigen Kerns und
Fonds sind, der in diesem Volke steckt. Jener natürliche Adel und die gehobene
Freiheit des Benehmens, weiche den Völkern des Südens so eigen ist und in
Gestalt, Gang. Gesten, Rede derselben sich abdrückt, ist auch hier heimisch. Ist
es dort bei den Italienern, Spaniern. Griechen mehr eine gewisse Freiheit und
Leichtigkeit deö Benehmens und Verkehrs, eine natürliche Grazie, — so ist es
hier bei den Türken vor allem schweigsame Würde und ernste Grandezza, in
welche sich das volle Bewußtsein hineinlegt, Herren des Landes, Bekenner des
Propheten zu sein. Es giebt nichts Würdigeres als so ein bärtiges Greisen-
antlitz unter dem stattlichen Turban, mit den regelmäßig schönen Zügen, mit
den klaren, klugen Angen, mit dem hinabfließenden Silberhaar des wohlgepflegten
Bartes. Man findet solcher Köpfe auf allen Gassen, in jedem Cas6; wer aber
einmal den Scheit ni Islam, das Haupt der muhamedanischen Geistlichkeit oder
den Scheit der Derwische gesehen hat, vergißt diese ehrwürdigen Gestalten voll
natürlich feierlichen Ernstes sein Lebe» hindurch nicht wieder.
Schön und ausdrucksvoll ist schon des Türken Gruß; mit welchem Anstand
neigt er sich zur Erde, tief, daß er nut der geöffneten Hand den Staub fast
berührt; und wenn er dann sich aufrichtend die Hand an Brust und Lippen
und Stirn führt, thut er es mit solchem Ernst, daß man sieht, er bleibt sich
stets der Bedeutung der Geberde bewußt, welche sagt: ich nehme diesen Staub
von der Erde zum Zeichen der Ehrfurcht, führe ihn an die Brust zum Zeichen
meiner Treue, küsse ihn zum Zeichen meiner Liebe, und lege ihn auf mein Haupt
zum Zeichen, daß ich über dein Wohl wache; das alles aber zum Zeichen, daß
ich mit Herz und Gedanken und Rede dir angehöre.
Mit der Geradheit und Noblesse des Charakters hängt des Türken Bieder¬
keit und Ehrlichkeit zusammen, die sprichwörtlich geworden ist gegenüber grie¬
chischer und armenischer Falschheit. „Ein türkischer Händler, so geht die Rede,
schiebt das Geld zurück, wenn du ihm zu wenig bietest; denn er betrügt nicht
und will auch nicht betrogen sein; ein Grieche nimmt es und lamentire, giebt
sich aber schließlich doch zufrieden; denn weil er betrügt, findet er es natürlich, daß
er wieder betrogen wird. Durch ganz Stambul kannst du >n finsterer Nacht mit
einem Geldsack auf dem Rücken ungefährdet gehen; in Per« und Galata (den
fränkischen Quartieren) wird dir bei Hellem Tage der Beutel aus der Tasche
gezogen." Und so ist es in der That; Betrug und Uebervvrtheilung im Handel
und Wandel gehört zu den großen Seltenheiten. Einem Türken kann der
Fremde die unbekannten Münzsorten getrost hinreichen, daß er sich das ihm
Zukommende heraussuche; einem Griechen gegenüber wäre solches Bertrauen
sehr übel angebracht.
Mit jenen Charakterzügen hängt eng zusammen der Sinn für das Decorum,
für äußern Anstand und Sitte, der in dem ganzen Volke lebt. Nie wird man
Scenen der Roheit und Gemeinheit wahrnehmen, wie wir sie in unserem civi-
lisirten Europa täglich mit ansehen. Selbst bei Gelegenheiten, wo Ausgelassen¬
heit und zügelloses Wesen selbstverständlich erscheinen, wie z. B. bei Volksfesten,
ist die Haltung der Menge stets anständig. Der Wein ist ihnen vom Koran
untersagt, und die Masse des Volkes respectirt das Verbot; aber sie greisen
auch nicht nach Surrogaten; wir wüßten nicht, je einem trunkenen Türken be¬
gegnet zu sein; der Opiumrausch gehört jetzt wenigstens in das Reich der
vielen der Türkei angedichteten Märchen. In einigen Kaffeehäusern an der
herrlichen Moschee Sulimcms des Prächtigen soll noch zuweilen vor nicht langer
Zeit Opium gereicht worden sein; wir haben sie wiederholt besucht, um diese
orientalische Merkwürdigkeit kennen zu lernen, es ist uns wenigstens nie ge¬
lungen, einen Opiumesser anzutreffen; doch sollen sie noch als historische Merk¬
würdigkeit in einzelnen bleichen Exemplaren in Konstantinopel herumlaufen.
Der Türke aus dem Volke ist einfach in Lebensweise, Tracht und Bedürf¬
nissen ; das Jagen und Drängen unserer Massen nach lauter Freude und äußer¬
lichen Vergnügen ist, wie allen Nationen eines primitiven Bildungszustandes,
auch dieser fremd. Der Besuch der Kaffeehäuser, wo für zwei Paru,, d. h. für
einen Pfennig, eine der winzigen Schalen mit Kaffee gereicht wird und für
einen zweiten Pfennig die Wasserpfeife (das Mi-Zilelr), wo zu allen Tages¬
zeiten Vornehm und Gering zu kürzerer oder längerer Rast einkehren. — oder
der Besuch jener einfachen Volksfeste auf dem ^Imvillä,» oder in den sogenannten
süßen Wassern von Europa und Asien, deren obligate Reize immer wieder auf
Kaffee, Pfeife und höchstens etwas Musik hinauskommen —, das sind die ein«
zigen Genüsse, welche sie suchen.
Den Hauptgenuß findet der Türke in der Natur, ein merkwürdiges und
gewiß unvercichtliches Zeichen für den gesunden Sinn des Volkes. Jeder Aus¬
sichtspunkt, jeder liebliche Thalwinkel ist auch von einem der einfachen Kaffee¬
häuser besehe; überall stößt man auf Gruppen von Männern und Frauen,
welche sich auch ohne solche einladende Ruhestätte beliebig wo am Kai nieder¬
gelassen haben und in sinnender Betrachtung die Wunder der großartig lieblichen
Natur in sich aufnehmen.
Das ist der vielgeschmähte Käff der angeblich faulen Türken, in Wahrheit
das poesicvolle, beschauliche Versenken in die Naturbetrachtung, die sich ja auch
in der Dichtung der Orientalen so lebendig und überschwenglich ausspricht. Sie
empfinden es als Mangel an den Franken, daß sie in Werkeltagstreiben und
Erwerbssucht der Herrlichkeit der Natur gegenüber sich so stumpf verhalten und
man hat schnell ihre Herzen erobert und ihre Zurückhaltung gebrochen, wenn
man gleiche Empfänglichkeit merken läßt.
Faul sind die Türken überhaupt nicht, sondern vielmehr sehr fleißig und
in ihrer Arbeit gewissenhaft, sorgsam, geschickt, so daß der türkische Handwerker
von den Franken vorzugsweise gesucht wird. Aber es fehlt ihnen der Unter¬
nehmungsgeist, der rechte Sinn für die große Arbeit des Handels und des Ver¬
kehrs. Die zum Fehler werdende Genügsamkeit und Beschaulichkeit ihres Wesens
ist Schuld, daß die verschlagenen Griechen, die gewinnsüchtigen Armenier,
vollends die Speculation der Franken Handel und Industrie an sich reißen
und die passiven Eingebornen überholen. Der Ehrgeiz der Concurrenz aber,
der dazu anspornt, sich in der Arbeit des Lebens von andern nicht überholen
zu lassen, fehlt ihnen deshalb, weil sie sich als Orientalen und unter diesen
/Wiederum als genießende Herrscher fühlen.
Und dies Gefühl ist keine pure Anmaßung, sondern Erbtheil des Blutes.
Ein arabischer Denkspruch sagt: „Reichthum ist in Indien, Geistesmacht in
Europa, Herrschermacht bei den Osmanen." Und es steckt allerdings etwas
Von jenem angebornen Herrschertalent, vermöge dessen es den Osmanen gelang,
das Byzantinerthum über den Haufen zu werfen, vermöge dessen sie einst sich
zu gefürchteten Herren des Mittelmeers zu machen wußten, das auch in den
Zeiten des tiefsten Verfalles Kraft genug gab, sich als regierendes Element in
ganz Borderasien zu behaupten, — es steckt etwas von diesem Herrschertalent
noch heute in der Nation. Daß die Herrschaft dennoch aus den Fugen
geht, ist Schuld der Regierung und mehr ein Zeichen steigender Kraft und
Selbständigkeit der unterworfenen Nationen, Griechen, Serben, Bulgaren u. a.,
als ausdrückliches Symptom von der Krankheit des türkische» Volkes. In den
orientalischen Theilen des weiten Reiches ist unter den Stämmen keiner, der
zum herrschen fähiger und geschickter wäre.
Denn die Masse des Volks ist »ach allem Gesagten durchaus nicht krank,
sondern voll Kraft und Gesundheit. Wen» es allen Angriffen der europäischen
Mächte unter den schwierigsten Umständen bisher immer noch Stand zu halten
wußte, wenn seine Heere trotz aller mangelhaften Ausbildung unter den mi߬
lichsten Verhältnissen, zuweilen Monate lang ohne Sold, dennoch sich stets mit
unbestrittener Bravour geschlagen haben, wen» die Nation sogar ans dem ihr
fremden Felde der Diplomatie im pariser Kongreß anerkanntermaßen den Sieg
davon tragen konnte, — so ist ein solches Volk »och weit entfernt vom Ab¬
scheiden, und es besitzt in der That nicht blos Zähigkeit des Beharrens, sondern
auch Eutwicklungskraft. Auch die Züge, deren wir bisher noch nicht gedachten,
der angeborenen Herzensgüte, welche in der unbeschränktesten Wohlthätigkeit
ihren Ausdruck findet, der Gastlichkeit, der tiefwurzelnden Achtung vor dem
Gesetz, des lebendigen religiösen Interesses, sprechen mit nichte» von sittlicher
Fäulniß u»d Korruption.
Ein Hauplkriterium der geistigen Reife und Entwickelungsfälngkeit ist stets
die Sprache eines Volkes. Nu» höre man, was ein so competenter Sprach-
kcnner wie Max Müller >n seinen Vorlesungen über die Wissenschaft der
Sprache (deutsch bearbeitet von Böttiger) über das Türkische urtheilt. Nachdem
er den Grund der cillmäligeu Ausbreitung und Herrschaft des türkisches Volkes
zum Theil von den Vorzügen ihrer Sprache hergeleitet hat, sah>t er fort: „Die
sinnreiche Art und Weise, in welcher die zahlreichen grammatischen Formen zu
Stande gebracht sind, die Regelmäßigkeit, welche das System der Conjugation
und Declination durchdringt, die Durchsichtigkeit und Verständlichkeit des ganzen
Sprachbaues muß jedem auffallen, der für die wunderbare Kraft des menschlichen
Geistes, wie sie sich in der Sprache entfaltet, einen offnen Sum hat. In der
Grammatik der türkischen Sprache haben wir eine Sprache von ganz durch-
sichtigem Bau vor uns und eine Grammatik, in deren Werkstätte wir hinein¬
blicken könne», wie in einen Bienenstock von Glas, indem die Zellen vor un¬
serem Auge entstehen. Ein ausgezeichneter Orientalist bemerkt einmal,- man
könnte das Türkische für das Resultat der Beratschlagungen einer Gesellschaft
ausgezeichneter Gelehrten Halle». Aber auch eine solche Gesellschaft würde das
nicht haben erdenken können, was der Menschengeist in den Steppen der Tar-
tarei sich selbst überlassen und nur geleitet von seinem ihm eingebornen Gesetz
oder durch eine Macht des Instinkts, die ebenso wunderbar als irgendeine
andere in dem Naturreich wirkte, hervorzubringen vermochte." In dieser Voll¬
kommenheit hat sich die Sprache aber im Wesentlichen bis in die Gegenwart
hinein erhalten.
Man werfe nicht ein, diese Charakteristik des Volkes sei zu ideal gehalten,
und verschweige seine Schattenseiten. Die Gebrechen der türkischen Zustände
siud anderswo zu suchen als in der Beschaffenheit des Volks-Ganzen. Man
erinnert an die sittenlosen Zustände der Türkei, und es giebt des sittlichen Ver¬
derbens, wie überall, auch dort genug. Aber es wollte uns immer bedünken,
als sei dasselbe trotz einzelner dein ganzen alten wie neue» Orient eigenthüm¬
licher Laster immer noch weil gningcr, als bei uns. Ma» erinnert an den
Fanatismus, die Unduldsamkeit den Europäern gegenüber, an die Grausamkeit
und den hochfahrende» Sinn der Türken. Unsere Wahrnehmung hat uns stets
gezeigt, daß der Türke Achtung und Freundlichkeit dem entgegenbringt, der sie
ihm erweist, daß er wohl beobachtend sich zurückhält, Geringschätzung und Ver¬
achtung nur dem weist, der sie ihm zu verdienen scheint. Wie es mit dem Fa¬
natismus steht, soll bei einem Blicke auf ihr religiöses Lebe» erörtert wer¬
den. Unanwcndbar aber ist unsre Charakteristik auf die trübere» Schichten der
vornehmere» Gesellschaft, der Beamten- und Regieruiigskreisc, sie ruht auf
Beobachtungen in Koustantiiwpel u»d seiner näheren Umgebung und wir geben zu,
daß das Bild in. Einzelne» eine etwas andere, obwohl im Wesentlichen über¬
einstimmende Ausführung erfahren würde, wollte man auch die Bevölkerung in
den entlegenen Strichen des Reiches, etwa im Innern von Kleinasien oder in
Syrien, mit in die Betrachtung hineinziehen. Da würden die Präoicate, die
wir a» die Spitze stellten, nur in den Bedeutungen des trotzigen, ja selbst
wilden Sinnes Geltung habe»; aber von Entartung oder Verwilderung würde
auch dies sehr verschiede» sei».
Durchweg fehlt den Türken die Höhere wissenschaftliche Bildung des Occidents.
wie allen Völkern des asiatischen und auch des europäischen Orients, wie also
auch ihren Nachbarn den Serben, Wallachen, Bulgaren und allen übrige» Do-
uauvölkern, die wir doch milder zu beurtheilt» pflegen; solche Bildung hat kaum
begonnen die höchsten Spitzen des türkischen Volkes zu berühren. Aber die
große Masse des Volkes, mit welcher wir es doch immer zunächst zu thun habe»,
ist gebildeter als diejenige von vielen unserer mitten in dem Kreise der euro¬
päischen Bildung stehenden Nationen, als die Masse der Griechen, Spanier,
Italiener, zum Theil vielleicht selbst als die der Engländer. Es ist in England
bekanntlich ein nicht unbedeutendes Procent der erwachsenen Bevölkerung, welches
nicht lesen »ut schreiben kann, in der Türkei werden solche Fälle nur vereinzelt
vorkommen. Neben jeder Moschee befindet sich im ganzen türkischen Reich immer
eine sa'nie, d. h, auch in dem ärmlichsten Dorf ist für den Unterricht der Ju¬
gend gesorgt; der jedesmalige Innen") ist auch zugleich immer der Schullehrer;
aller Unterricht ist frei; Lesen, Schreiben, Rechnen und Bekanntschaft mit dem
Koran, das sind die einsamen, aber auch für jeden unerläßlichen Bestandtheile
der Volksbildung. Was sich darüber erhebt, ist ein verhältnißmäßig geringer
Bruchtheil der Bevölkerung; zunächst die in den höheren Schulen, den soge¬
nannten Medressebs gebildeten Theologen und Juristen. Konstantinopel hat gegen¬
wärtig vierzehn solcher Lehranstalten, in den Provinzen haben wenigstens alle
Hauptstädte deren eine oder mehre. Unternchtsgcgcnstände sind hier der Koran
und die Geschichte des Islam, türkische Orthographie und Stilistik, arabische,
türkische und Universal-Geschichte, Geographie, Arithmetik und Geometrie.
Auch hier ist der Unterricht frei, Lehrer sind die höheren Geistlichen, die Ule-mas,
das Local die Moschee selbst. Da liegen die jungen Leute lang ausgestreckt
auf dem Boden in weiten Kreisen um den Sofia gelagert, oft zwölf solcher
Kreise neben einander in derselben Moschee; jeder Schüler hat sein Exemplar
vor sich, sein persisches Schreibzeug zur Hand; die Lehrer hocken mit unterge¬
schlagenen Beinen hinter einem kleinen Lesepult auf ihren Lchrpolstern; man
kann ungestört zuhören, die Professoren fühlen sich höchstens durch die Anwesen¬
heit fremder Gäste geschmeichelt und verdoppeln ihren Lehreifer. Die jungen
Leute wohnen meist i» Convicten, welche mit den reichen Moscheen verbunden
zu sein Pflegen; einige näher bestimmte Curse genügen, dann treten sie in den
Kirchen- oder Justizdicnst ein; denn da der Koran Quelle und Norm alles
Rechtes ist, bedarf es keiner besonderen juristischen Vorbildung, es genügt die
theologische; nnr die Praxis scheidet die Diener der Kirche »ut des Gesetzes,
welche zusammen doch immer nur die eine Classe der Ulemas bilden.
Bor der Reformperiodc, welche von Selim dem Vierten zwar eingeleitet,
indessen recht eigentlich erst von Mahmud dem Zweiten, dem Vater des jetzigen
Sultans, ins Werk gesetzt wurde, kannte man keine anderen Institute; für alle
sonstigen Berufszweige bildete allein das Leben und die Erfahrung. Mahmud
der Zweite erkannte, daß die Regenerirung des Reiches von der Anbahnung
europäischer Bildung ausgehen müsse. Man errichtete zunächst Militärschulen
verschiedener Art, an denen seither denn in der Regel preußische Offiziere, später
auch Emigranten der ungarischen Revolution die Jnstrnctorcn abgaben, serner
eine Marineschule und schon damals auch eine medicinische, die den Bedürfnissen
der Armee diente, aber auch sonst mit wissenschaftlicher Heilkunde zum ersten
Mal bekannt machte. Es war ein cultui historischer Sieg, daß das Seciren von
Leichen, welches der Koran nicht gestattet, eingeführt wurde.
Im Verlauf der Reformen, besonders seit der Reorganisation des Unter-
richtswesens im Jahr 1847, folgte die Einrichtung einer Reihe von anderen
Lehranstalten, so einer Nvrnialschulc. (einer Art Mustcrgyinnasium zur Ausbil¬
dung von Lehrern für die Prvvinzialstäbte), zweier Institute zur Vorbereitung
für den Civildienst, eines Kollegiums für den Unterricht in den höhere» Zweigen
der Diplomatie und Stcllenverwaltung, einer Stiftung der Sultanin Mutter
Abdul Medschids, endlich einer Thicrarznci- und auch einer Ackerbauschule. Ja
die für die Reformen im Unterrichtswesen ernannte Commission beschloß sogar die
Errichtung einer Universität. In der Nähe der Sophienkirche. auf dem Platze
des Augustcums des alten Byzanz, und an der Stelle einer berühmten Janit-
scharcnkaserne des türkischen Stcunbul erhob sich ein stattliches Gebäude, welches
jeder andern Residenz Ehre machen würde. Die Grundsteinlegung war einer
der hervorragendsten Acte der jungen Reform; es blieb bei dem Aufbau; Waffen¬
lärm verscheuchte die Musen, noch ehe sie von der ihnen bereiteten Stätte Be¬
sitz nehmen konnten, in die kaum vollendeten Räume legten die Franzosen ein
Lazarett); jetzt ist die ehemalige - künftige Universität Sitz eines Ministeriums.
Man begriff, daß es unmöglich sei, eine Spitze zu bauen ohne Untergrund.
Eine Universität fände jetzt im Volk noch keine Lehrer, und fremdländische Kräfte,
die man zu meiden Grund hat, fänden im Volk noch keine brauchbaren Schüler.
Es wird noch geraumer Frist bedürfen, ehe das Volk auch nur zu rein rcccp-
lrvem Antheil an höherer wissenschaftlicher Arbeit rc>f ist; diese Erziehung aber
zu übernehmen, genügen jene genannten Spccialschulen zunächst vollkommen.
Im Uebrigen reicht es aus, eine größere Anzahl junger Leute alljährlich ins
Ausland zu senden, nach Franücich, England. Preußen, wo sie mehr haben,
als eine hohe Schule in Konstantinopel gewähren könnte. Vertraut mit den
Forderungen der europäischen Civilisation und mit Reformidecn erfüllt kehren
sie zurück, treten in den höheren Staatsdienst ihres Vaterlandes ein und werden
zu Pionieren der Cultur. Sämmtliche bedeutendere Staatsmänner, mit deren
Namen die jüngste Geschichte der Pforte verflochten ist, haben ihre letzte Aus¬
bildung im Auslande empfangen.
Aber es fehlt ihnen auch nicht an Interesse für Bildung, und wüßte die
Regierung nur in geeigneter Weise es zu nähren, so würde die Nation sehr
schnell den Proceß summarischer Aneignung allgemeiner europäischer Bildung
durchmachen.
Einen bedeutsamen Theil der Arbeit übernehmen die Zeitungen, Es ist
sehr bezeichnend, daß Sultan Mahmud der Zweite selbst es war, der die Grün¬
dung einer Politischen Zeitschrift, des französisch geschriebenen Uoiritour ottom-rü,
betrieb, und den ersten Redacteur, einen Engländer, aus Smyrna berief, aber
auch sehr bezeichnend für den energischen Widerstand, auf welchen die Reformen
damals noch überall stießen, daß drei Redacteure dieser Zeitung hinter einander
eines plötzlichen d. h. unnatürlichen Todes starben. Im Jahre 1864 existirte»
allein in der Hauptstadt 5 türkische, 9 armenische, 1 arabische, 3 französische
Zeitungen, welche in türkischem Dienst arbeiten, von den griechischen (5), bul¬
garischen (4), italienischen (2). englischen (1) und deutschen (1) Blättern, welche
daneben laufen, nicht zu reden.*) Buchdruckereien und Buchläden giebt es in
Menge, öffentliche Bibliotheken sind fast mit jeder großen Moschee verbunden
und sind reich mit arabischen und türkischen Werken ausgestattet, auch dem Pu¬
blikum in liberaler Weise zur Benutzung geöffnet. Besonderes Augenmerk richtet
man auf Uebersetzungen oder besser Bearbeitungen deutscher und französischer
Untcrrichtsbüchcr. In dem Harem der Schwester des Sultans z. B. lagen auf den
Tischen als Lectüre der Frauen und Kinder neben Auszügen aus dem Koran,
den die Frauen nicht ganz in die Hände bekommen, Abrisse der Geographie
und Geschichte nach französischen Handbüchern, die Erzählungen aus tausend
und einer Nacht, türkische Dichtungen und — eine Bearbeitung von Gellerts
Fabeln.
In dem Arbeitszimmer Mustapha Paschas, der als Oberbefehlshaber der
asiatischen Armee und als Commandant von Kars im orientalischen Kriege eine
hervorragende Rolle spielte, war eine sehr stattliche kriegswisscnschaftliche Biblio-
ibek aufgestellt! neben türkischen Titeln las man ebenso viele französische; auch
gute historische Werke fehlten nicht, neben Thiers und Guizot auch eine Geschichte
Friedrichs des Großen. Fuad Pascha, allerdings der intelligenteste und am
feinsten gebildete unter den gegenwärtigen türkischen Staatsmännern, besitzt
eine auserlesene Bibliothek moderner, auch deutscher Classiker. Das erste Exemplar
des Goethe, welches die im Jahr 1857 etablirte deutsche Buchhandlung der
Gebrüder Köhler in Per« verkaufte, acquirirte ein Türke. Dieser ersten Buch¬
handlung folgte sehr schnell eine zweite; beide machen die glänzendsten Geschäfte
und habe» gradezu eine culturhistorische Bedeutung durch den Absatz, den sie
auch unter dem türkischen Publikum finden, und der doch fast ausschließlich in
den Erzeugnissen des civilisirten Abendlandes besteht.
Die Türkei hat bekanntlich selbst eine ansehnliche Literatur, aber nur Titel
und Namen ohne jeden Werth, eine phrasenreiche, aber inhaltsleere und darum
prosaische Lyrik, und eine dem Gehalt nach unendlich dürre, in Bildern aber
überschwengliche, darum lyrisch zu nennende Annalistik, von der folgende Stelle,
aus dem unter den Türken hochangesehenen Neichschronisten Ist instar omnium
einen Begriff geben mag. Nachdem derselbe ein paar am Bosporus sich gegen¬
überliegende vom Sultan Muhamed dem Eroberer erbaute Moscheen auf drei
Folioseiten in überschwenglichster Weise gepriesen hat, fährt er fort:
„Der Papagei der beschreibenden Feder muß bei dem Lobpreise dieser
Moschee statt in den großen Spiegel ausführlicher Beschreibung in den ver¬
kleinernden Handspiegel kurzer Worte hineinsehen, und sagt daher zum Lobpreise
derselben schließlich nur ganz kurz, daß diese hvchcrbauten Moscheen als zwei
große Käfichte kanonischer Wahrheit einander gegenüber an dem Dom des Him¬
mels aufgehängt sind, und daß vor den wohllautenden Sängern und schön¬
singende» Gcbctsansrufern derselben die Nachtigallen auf den Fluren ganz be¬
schämt und stumm zu Boden fallen. Deshalb faßt sich der Papagei der Feder
so kurz."
Einen besseren Begriff von dem literarischen Vermögen des Volkes geben
die Grabschriften, die trotz mancher wunderbaren Bilder und Blumen, welche
man stets mit in den Kauf nehmen muß, oft außerordentlich sinnig und treffend
abgefaßt sind und zum Theil von großer Tiefe des Gemüthes zeugen. So lautet
die Grabschrift des berühmten Seehelden Kildisch Ali Pascha, der nach der Nieder¬
lage bei Lepanto die Ehre der osmanischen Waffen wiederherstellte und an einem
der herrlichsten Punkte des Bosporus hart am Meere bestattet liegt, folgender¬
maßen: „Er hing seinen Säbel im Himmel auf und stieg nach abgespannter
Sehne des Lebens vom Alter gekrümmt, Wie sein hier aufgehängter Bogen, in
den einmännigcn Nachen des Sarges, um unter der Erde, die er bei seinem
Leben fast niemals betreten hatte, nach dem Tode für immer zu ruhn." —
Mit der sich vollziehenden inneren Regeneration der Türkei entsteht zugleich
schon eine neue Literatur. Und es ist charakteristisch und erfreulich, daß sie sich
vorwiegend der Erforschung eigener Zustände, der Geschichte des Landes zu¬
wendet. Gewdet Effendi ist der erste Türke, der eine kritische Geschichte seines
Vaterlandes gewagt hat. Sein Werk, eine Geschichte des OsmancnthumS vom
Frieden von Kaüuvdschi (1747) an. steht im Stil und historischer Kunst auf
dem Niveau moderner Wissenschaft. Es beruht auf sorgfältiger Durchforschung
der Archive, ist sehr freisinnig geschrieben und seine Wirkung auf die Ideen und
Anschauungen des Volkes zu Gunsten einer energischen und consequenten Reform
kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Auf den bedeutsamsten Beleg end¬
lich für den gegenwärtigen Gährungsprvceß in der geistigen Entwicklung der
türkischen Nation, die religiöse Krise, an deren Anfang sie steht, gehen wir
später ein.
Im Allgemeinen also ist der Bildungszustand des türkischen Volkes keines¬
wegs so niedrig, als man gewöhnlich einzunehmen geneigt ist. Er ist in den
untern Schichten und im Ganzen ein sehr einfacher, aber in dieser Einfach¬
heit wenigstens ein allgemeiner. — Wenn man es trotzdem erlebt, daß der
gewöhnliche Türke Prussia und Russia ziemlich häusig verwechselt, den König
von Prussia als Satrapen der Czaren betrachtet, ihm Oestreich und Deutsch¬
land gleichbedeutend sind, oder Deutschland ihm nur aus —4 statt 34 Vater¬
ländern besteht, so sind das Irrthümer, deren Beseitigung theilweise im Abend¬
lande selbst von zu kurzem Datum ist. um dem fernen Volke, dessen intimere
Verhältnisse uns so wenig kümmern, hoch angerechnet werden zu dürfen.
Unter den vermeintlichen Schäden und Gebrechen der heutigen Türkei nimmt
die Vielweiberei und die verkehrten Vorstellungen, die sich an das Harem¬
wesen knüpfen, die erste Stelle ein. Der Koran stellt die Monogamie als das
Natürliche hin und erlaubt im Grunde nur dem Sultan, eine Ausnahme zu
machen; ihm sind vier Weiber gestattet, ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß
auch diese Freiheit erst nachträglicher Zusatz war, ebenso wie die späteren Ein¬
schaltungen des Koran, nach welchen sich der Prophet infolge angeblicher Offen¬
barungen auch diese Vierzahl wiederum zu überschreiten gestattete. In Wirk¬
lichkeit war nun allerdings die Polygamie unter den Türken der früheren Zeit
eine ziemlich häufige Erscheinung geworden, aber doch nur in den Kreisen der
Vornehmen und Mächtigen; in den unteren Schichten wird sie stets nur sehr
Vereinzelt vorgekommen sein. Jetzt ist die Monogamie, in Konstantinopel wenig¬
stens, mit alleiniger Ausnahme des Sultans, durchaus von der Sitte gefabelt:
keiner der Großwürdenträger hat mehr als eine Frau, und „Harem" bedeutet
nichts Anderes als die von der Männcrwohnung getrennte Wohnung der Frau
vom Hause, mit dem Zubehör von Dienerinnen und Sclavinnen, welche nach
orientalischer Sitte zum Haushalt der Frauen in ebenso großer Zahl gehören,
wie Diener und Sclaven zum Haushalt des Herrn.
Auf die gesellschaftliche Stellung der Türkinnen sowie auf die Symptome
der Regeneration im Volke kommen wir ausführlicher zurück.
Weihnachten erzeug eine Spnngflnth buchhändlerischer Thätigkeit. Zu der¬
selben Zeit, wo die Christbäume zur Stadt wandern und die Hausfrau sorglich
erwägt, ob sie wegen der schleckten Zeit weniger Weihnachtsgebäck machen soll
als sonst, pulsirt das Leben auf den Comptoiren und in den Packräumen des
Verlegers mit doppelter Schnelle, namentlich wenn er die Welt mit Kinder¬
büchern. Bildcrwerken oder Belletristik versieht. Dann überlegt er woll. ob
die gebundenen Porräthe seiner Miniaturpoeten nicht vorzeitig sich vergreifen
und er treibt seinen Buchbinder zu größerer Eile. Mit Vergnügen mustert er
die vielen kleinen Zettel, auf denen der Sortimenter seine Bestellungen gemacht,
zählt er die Telegramme, die einen seiner Klassiker mit directer Post verlangten.
Auch bei dem leipziger Commissionär ist die Thätigkeit hoch angespannt.
In den Packräumen hört die Arbeit kaum auf. Was der auswärtige Geschäfts¬
freund an Wcihnachtsncuigkeiten noch vor Thorschluß einsandte, wandert von
hier entweder in die Fächer der Sortimentshändler, die der Commissionär in
Leipzig vertritt, oder ans großen Karren weiter zu andern Commissionären.
Unaufhörlich sind die Laufburschen unterwegs, eilige Bestellungen einzuholen.
Hier gehen die Telegramme nie aus und der Märkhelfer seufzt unter der Last
der Packete, die er zur Post bringt. Das sind Dinge, deren Vorgang sich dem
Auge des gewöhnlichen Sterblichen entzieht. Aber dieser bemerkt mit Wohl¬
gefallen das Treiben des Sortimenters. Wenn der Ellenwaarenhändler im
Erker auslegt
„Was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt",
dann räumt auch der Sortimenter sein Schaufenster aus und das Aschenbrödel
vertauscht das einfache Gewand der Wissenschaft mit dem stolzen Kleide eng¬
lischer Leinwand in grellen Farben, mit der dauerhaften Pracht feinsten Leders.
Und das Gold ist dabei vorn und hinten, sowie auf Schnitt und Rücken un¬
entbehrlich.
Man mag dieses Vergnügen vielen unserer Poeten gönnen. Ist ja doch
Weihnachten die Zeit, wo sie sich im Schaufenster des Sortimenters dürfen
bewundern lassen, um vielleicht auch einmal verkauft zu werden. Wie bald ist
das Glück vorüber, dann wandern so viele den dunklen Pfad, auf dem nur
selten Rückkehr ist, hinauf auf die düstern Ballenlager, um dort derer zu harren,
die sie im Schaufenster abzulösen so glücklich waren.
In jener Zeit des Lichterglanzes und Tannenduftes steht die Wissenschaft,
grau in grau gemalt, in irgendeiner überflüssigen Ecke. Erst nach dem Feste
kommt die Zeit zurück, wo sie sich wieder hinauswagt in der Form von Ansichts-
packeten, die der Sortimenter seinen Kunden ins Haus sendet.
Wie es bisher gegangen, so war es auch im verflossenen Jahre der Fall.
Ja. fast in noch höherem Grade. Das angenehme Gefühl ruhiger Zeiten
machte Vielen das Christfest doppelt behaglich. Wohl gab es Manche, die zu
Weihnachten nur Thränen haben konnten. Aber sie kauften vielleicht dafür
ernste Bücher zum Trost in traurigen Tagen. Und so hat der Sortimenter an
vielen Orten gute Geschäfte gemacht und der Verleger darf dafür hoffen, zu
Ostern zu ernten, was er zu Weihnachten gesäet.
Von buchhändlerischer Seite mag man sich der wieder friedlicher gewordenen
Zeit schon deshalb freuen, weil der Brochurcnverleger in seiner Thätigkeit be¬
deutend nachgelassen hat. Von beiden Seiten haben sich die Ansichten mehr
geklärt und der Schreier sind nicht mehr allzuviel?, die den Anschluß an Preußen
als das größte aller Uebel ansehen. Man fängt an zu finden, daß der Staats¬
mann nicht blos klug, sondern sogar erfolgreicher handelt, wenn er auch in der
Politik mit Weile eilt. So hofft man in der erträglichen Gegenwart auf eine
bessere Zukunft, und während draußen ein Streben nach größerer Konsolidation
sich geltend macht, hat auch das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel von
Neujahr ab allen in Oestreich in ungarischer, slavischer und illyrischer Sprache
erscheinenden Bücher» seine officiellen Spalten verschlossen.
Wir können sonach kürzer über die Zeitbrochuren hinweggehen, als es uns
das letzte Mal möglich war. Die Ncupreußcn haben sich in ihr Schicksal gefügt
und nur von Wien ans ging ein — wohl königlich hannoverscher — Schmerzens-
schrei in die Welt „Deutschland und die Hohenzollern. Mahnruf an die deutsche
Nation". Mit Preußen und dem norddeutschen Bund beschäftigen sich einige
Hefte theils von antipreußischem, theils von preußischem Standpunkte aus.
So „Das norddeutsche Reich. Eine politische Studie"; „Preußen und die deutsche
Einheit"; „Das ganze Deutschland soll es sein. Ein Sendschreiben an das
deutsche Volk"; „Was hat Preußen gethan und was hat es zu thun. Zur Er-
wägung bei den Wahlen über den norddeutsche» Bundesstaat von Dr. A. Zimmer-
mann"; „Politische Theorie und Praxis. Ein Vortrag."; „Der norddeutsche
Bund und Mecklenburg". Auch Ludwig Bamberger hat von Paris aus ein
Schriftchen „Alte Parteien und neue Zustände" herübergesandt, während der
phantastische Rufer im Streit Jakob Benedey „Der Südbund" schrieb. Von
München gingen „Vier offene Briefe an den Grafen Bismarck" aus, während
aus dem übrigen Süddeutschland drei Brochüren vorliegen „Eine Stimme aus
Süddeutschland diesseits der Mainlinie. Als Mahnruf an Preußen von einem
Süddeutschen"; „Der Anschluß Süddeutschlands an den norddeutschen Bund.
Betrachtungen eines Süddeutschen im Herbst". Um das Kleeblatt voll zu
machen, betrachtete ein Dritter „Den norddeutschen Bund und Süddeutschland
vom christlich-germanischen Standpunkt eines Süddeutschen"; „Aus der Feder
eines nichtdeutschen" floß das Schriftchen „Preußen und Frankreich. Betrach¬
tungen, angeregt durch das Rundschreiben des Ministers Lavalette". Schließlich
nenne ick noch die staatswirthschaftliche Brochure „Lübeck und der Zollverein".
Das Mittelglied zwischen Zeitbrocburc und Geschichtswerk, das von diesem
den Inhalt. Von jener begreiflicherweise nur zu leicht die dem Parteistandpunkt
allzugrell andaftende Färbung entnimmt, bilden die Schriften zeitgeschichtlichen
Inhalts, für deren Entstehen das denkwürdige Jahr 1866 besonders günstig
war. Sie Verhalten sich zur Zeitbrochure wie der Schmetterling zur Eintags¬
fliege. Noch freuen sie sich ihres Lebens, wenn jene schon längst vergessen ist.
Und je länger der Tag ihres Erscheinens sich von dem Tage entfernt, der zu
ihrer Geburt den Anlaß gab, desto sicherer darf man sie wirklichen Geschichts¬
büchern zuzählen. Aber auch so behalten sie ihren unbestreitbaren Werth als
Quellenschriften, die dem Geschichtsschreiber in späteren Zeiten zum mindesten
über die Auffassungen der Gegenwart schätzbares Material in Masse liefern.
Noch erscheinen in Fortsetzungen und neuen Auflagen jene zahlreichen — theil¬
weise illustrirten — Kriegsberichte, die stets noch stark gekauft werden. Bon
allen bis jetzt ausgegebenen wird der bei I. I. Weber in Leipzig erscheinende der
umfangreichste und geschmackvollst ausgestattete sein. Unter den Schriften, die
kleinere Episoden aus der Geschichte der jüngsten Zeit behandeln, sind einzelne
hervorzuheben. H. Beitzke schrieb „Das preußische Heer vor und nach der Re¬
organisation, seine Starke und Zusammensetzung im Kriege 1866". Zwei
anonym erschienene Schriftchen beschäftigen sich mit dem östreichischen Heei l
„Oestreich und sein Heer" und „Oestreichs System als die einzig wahrhafte
Ursache seiner Niederlagen vom militärischen Standpunkt aus betrachtet und
dargestellt von einem östreichischen Soldaten". Dann erschien „Der Krieg im
Jahr 1866. Kritische Bemerkungen über die Feldzüge in Böhmen, Italien und
am Main". Und während G. Steinmann „Streifzüge preußischer Verwaltung
in Böhmen" schrieb, brachte Wilhelm Baur, der bekannte Verfasser der „ Gc-
schichts- und Lebensbilder" seine „ Nciseennnerungen aus der Mainarmee", die
er als Geistlicher begleitete, wurden „Tagebuchblätter aus dem Jahre 1866.
Erlebtes und Durchdachtes von einem deutschen Staatsmann" in zweiter Auf¬
lage gedruckt, nachdem ein Theil der ersten Auflage von der preußischen Re¬
gierung in Frankfurt confiscire worden war. Das „Bataillon Lippe" fand
seinen Historiker in L. Hvlzermann. der den Antheil desselben an den Feldzügen
der Mainarmee im Sommer 1866 schilderte. Auch die ehemalige hannoversche
Regierung schwieg nicht. Bon ihr ging aus „Ossicieller Bericht über die Kriegs-
ereignisse zwischen Hannover und Preußen im Juni 1866 und Relation der
Schlacht von Langensalza am 27. Juni 1866. 1. Theil".
Ein besonders interessantes Schrifichcn mag hier am Ende dieser Abthei¬
lung eine Stelle finden. Es ist des Bürgermeisters Noth von Trautenau
„80 Tage in preußischer Gefangenschaft und die Schlacht bei Trautenau am
27. Juni 1866". Die Brochure ist maßvoll geschrieen und trägt das Gepräge
der Objectivität. Es wäre im Interesse der Geschichtsschreibung, wenn von
preußischer Seite ebenfalls eine Beleuchtung jener Episode erschiene. Mindestens
hat der Verfasser Recht, wenn er am Schluß über die Feuilletonisten und Dutzend-
romanfabrikante» Klage führt, unter deren gewandter Feder sich die Tropfen
Bluts in Ströme verwandeln und die Kerls in Steifleinen nnr so aus der
Erde wachsen. Und das verehrliche Publikum liest mit angenehmem Schauder
die greulichen Geschichten und freut sich, daß es noch Schriftsteller giebt, die so
„farbenprächtig" zu schreiben wissen. Ein von Verlegern gern gebrauchtes Wort.
Im Grunde gehörte noch hierher ein Schriftchen, das ein W. Zimmer¬
mann über den „Tag von Ober-Laudenbach " hat erscheine» lassen. Er selbst
war einer der Leiter jener in der Geschichte der Jahre 1848 und 1849 denk¬
würdigen Volksversammlung, zu deren Apologet er sich aufwirft.
Von Sugenheims „Geschichte des deutschen Volks" ist mittlerweile der
zweite Band erschienen, der von Kaiser Konrad dem Ersten bis zum Untergang
der Staufer reicht; L. Clarus veröffentlichte ein Werk „Die heilige Mathilde,
ihr Gemahl Heinrich der Erste und ihre Söhne Otto der Erste. Heinrich und
Bruno" und W.Hahn schrieb „Kurprinz Friedrich Wilhelm. Geschichte der Kind-
heit des nachmaligen Königs von Preußen Friedrich Wühelm des Ersten". Auch
von Otto Focks „Rügensch-Pommersche Geschichten aus 7 Jahrhunderten" er¬
schien der vierte Theil, den Abschnitt „Innerer Zwist und blutige Fehden" ent-
haltend. Und während F. Eggmann „Der hochberühmten Welsen Ursprung,
Abstammung, Thaten und Ruhestätten" beschrieb, veröffentlichte F. Förster aus
dem handschriftlichen Nachlasse des preußischen Generals der Infanterie E. v. Pfund
„Der Rückzug der Franzosen aus Nußland".
Ueber drei Contingente, die im verflossenen Sommer gegen Preußen im
Felde standen, find ebenfalls historische Forschungen angestellt worden. Es ist
die .Geschichte der königlich hannoverschen Armee" von Sichart, deren erster
Band vorliegt. Sie ist „dem König Georg dem Fünften, dem ritterlichen Welfen-
sürsten" gewidmet. R. Stcrrklvf schrieb die „Geschichte des königlich würtem-
bergischen vierten Reiterregiments Königin Olga 1805—1866" und daneben
belehrt ein Schriftchen über die „Anfange des stehenden Heeres in der Land¬
grafschaft Hessen-Kassel und dessen Formation bis zum Ende des dreißigjährigen
Krieges". Als 5. und 6. Band der in München erscheinenden „Geschichte der
Wissenschaften" kam die „Geschichte der protestantischen Theologie, besonders
von Deutschland" von I. A. Dörner und die „Geschichte der katholischen Theo-
logie seit dem kreuter Concil" von K. Werner. Dann mag hier des Werkes
gedockt sein „Historische Landschaften" von I. Braun, das die Aufgabe bat. die
erlesensten Theile der alte» Historie landschaftlich illusirirt in Scene zu setzen.
Auch K, Biedermann brachte »ach langer Pause eine Abschlagszahlung seines
„Deutschland im achtzehnten Jahrhundert", welche Literaturgeschichtlichcs enthält.
Bö» Monographien und Biographie» erwähne ich I. G. Gallois „ Ge¬
schichte der Stadt Hamburg". „Lebensbild von Albert Knapp. Eigene Auf-
Zeichnungen, fortgeführt und beendigt vo» seinem Sohne I. Knapp"; „Friedrich
Heinrich Jacobis Leben. Dichten und Denken" von E. Zirngiebl, ein Beitrag
zur Geschichte der deutschen Literatur und Philosophie, zwei kleine Schriften
„Erinnerung an F. C. v. Savigny als Rechtslehrer, Staatsmann und Christ"
von M. A. v. Bethmann-Hollweg u»d „ Eine Erinnerung an Barthold Georg
Niebuhr" von O. Mejer.
Die Kunstgeschichte hat einige interessante Neuigkeiten auszuweisen. Es
sind das zunächst die Anfänge zweier Werke des bekannten F. Bock „Karls des
Großen Pfalzkapelle und ihre Kunstschätze" und „Das monumentale Rheinland",
welches aulographischc Abbildungen der hervorragendsten Baudenkmale des Mittel¬
alters am Rhein und seinen Nebenflüssen bringen soll, Ernst aus'», Werth bringt
und criäuiert zwei Kunstdeiumälcr dy^aulinischer lind deutscher Arbeit des zehnten
Jahrhunderts, das Siegeskreuz der byzantinischen Kaiser Konstantinus des Sie¬
benten, Porphyrogenitus und Romanus des Zweiten und den Hirieustav des
Apostels Petrus, die im Dome zu Limburg a/L. aufbewahrt werden. H. Mithoff
hat die mittelalterlichen Künstler und Werkmeister Niedersachsens und West¬
falens lexikalisch dargestellt, während G. Th. Fechner „Die historischen Quellen
und Berhantlungen über die holbeinschc Madonna " monographisch zusammen¬
stellte und discutirte. T. Cohn eröffnet mit seiner „Mvscsgruppe von Rauch"
die bisher unbekannte Rubrik einer „jüdisch-wissenschaftlichen Kunststudie". Noch
erwähne ich, daß die von, Redacteur der ehemaligen Wiener Recensionen, Dr.
Carl v. Lützow, herausgegebene. mit zahlreiche» artistischen Beilage» ausgestattete
„Zeitschrift für bildende Kunst" trotz deS schwere» Anfangs im Kriegsjahre nicht
blos tapfer Stand gehalten hat, sondern ihren zweiten Jahrgang mit neuem
Aufschwünge beginnt........Auch Hermann Grimm hat fortgefahren, in einer zwei¬
ten Jahresfolge der periodischen Hefte „Ueber Künstler und Kunstwerke" seine
auserlesenen Gaben zu spenden. So scheint doch, wie sehr auch geklagt wird,
daß Mars die Stunde regiert, der Schönheitscultnö ungestört, in dem auch er
auf seine Weise von jeher sich ausgezeichnet.
Mit der Literaturgeschichte sind wir diesmal rascher fertig. Der Goethc-
kenncr Michael Bcrnays in Bonn veröffentlichte ein Schnftchcn „Ueber Kritik
und Geschickte des Goethescher Textes". Das Buch ist buchhändlerisch und
Utcrarisch höchst interessant; buchhändlerisch, weil es beweist, daß Göschen sich
einmal unerlaubterweise selbst nachdruckte und literarisch, weil es eine Menge
von Fehlern aufdeckt, welche durch Zugrundelegung zweier himburgscher Nach¬
drucke in eine neue, von Goethe selbst besorgte Ausgabe und damit in die fol¬
genden Drucke hineingekommen sind.
Reinhold Köhler bespricht in einem Schriftchen „Herders Cid und seine
französische Quelle". Unsere Kritiker haben hiernach, obgleich sie es theilweise
besser wissen konnten, fälschlich angenommen, daß Herder direct nach den spani¬
schen Originalen schuf. Düntzer nahm sogar an, unser Dichter habe in Timcne
seiner Gattin Caroline el» Denkmal setzen wollen. Heute ist es zweifellos, daß
Herders Cid nichts Anderes ist als eine mehr oder weniger getreue metrische
Uebersetzung einer Prosabearbeitung der spanischen Cidromanzcn, welche ein
ungenannter Mitarbeiter der bibliotköciuiz universelle nich roms-us (1783) ver-
öffcnilichte. Für Freunde R. Wagners besonders ist F. Müllers „Lohengrin und
die Gral- und Schwansage. Ein Skizzenblld auf Grund der Wort- und Ton¬
dichtung R. Wagners" von Interesse. Endlich mag hier der 9. Band der
„Deutschen Bibliothek", welcher den zweiten Theil von Fischarts sämmtlichen
Dichtungen enthält, rühmend erwähnt sein.
Zwei Briefwechsel von he>vvrrage»der Bedeutung brachten die letzten
Wochen: „Briefe von Beethoven an Marie, Gräfin Erdödy, geb. Gräfin Niszt'y
und Magister Biauchle", herausgegeben von A. Schöne und „Maria Theresia
und Joseph der Zweite. Ihre Eorrcspondenz sammt Briefe» Josephs an seinen
Bruder Leopold", von welcher Sammlung der erste Band, die Jahre 1761 bis
1772 enthaltend, Vorliegt. —
Mit dem Berichterstatter athmet der Leser auf, wenn er eine ansehnliche
Reihe von Titeln hinter sich hat und er sich von einer Anzahl würdiger, in
stattlichem Umfang einherschrcitender wissenschaftlicher Schriften wende» kann zu
besser anmuthc»den Kindel» aus der Ehe des Dichters mit den verschiedenen
Musen, die mit Literaten ans besonders vertrautem Fuß stehen, Schade nur,
daß hier so wenig von Gutem zu berichten ist, und daß nicht einmal das immer
glänzt, was für den Augenblick geboren ward. Wie manchem unserer heutigen
„Elassiler" — auch ein beliebter buchhändlerischel Ausdruck — könnte man als
Grabschnfc den Vers empfehle»:
„Hier ruht ein Mann, der, eh er starb,
Achthundert Nies Papier verdarb."
Heute haben wir außer der Fülle von Belletristik in Prosa und Versen
wenigstens im Vorübergehen einer buchhändlerischen Erscheinung zu gedenke»,
die das neue Jahr hervorruft. Es sind das die Kalender von Auerbach, Horn,
Gubitz u. ni. Sie führen im Grunde nnr mit Unrecht ihren Namen, da sie ja
häufig, um die Stempelsteuer zu umgehen, ohne Calendarium ausgegeben wer¬
den: ein Beweis, welch überflüssiges Beiwerk dieses ist. Wie groß ist der
Unterschied zwischen ihnen und den alten Taschenkalendern unserer Großältern,
mit chodowieckischen Kupfern und Modebildern. die nachgrade wieder anfangen
modern zu werden. Auch die Musenalmanache enthielten ein Calendarium und
vielleicht auch Pergamentblätter für Notizen. Später vereinigte sich Poesie und
Prosa mehr, das Format wuchs, die Modcbilder verschwanden. Nun kam die
Zeit der Almanache und Taschenbücher, bei denen der weibliche Olymp Pathen«
stelle vertreten mühte. Unsere Romantiker arbeiteten viel für sie; aber auch
Clauren gab dem vorigen Geschlecht manchen Speisezettel und manches Ball¬
programm in Romanform in seinem „Vergißmeinnicht". Heute fristen nur noch
wenige Kalender alten Stils kümmerlich ihr Leben. Dafür ist unser Volks-
kalender obenauf, auch ein Zeichen unserer praktischen Zeit: billig, meist schon
beschnitten und eingerichtet, ihn ohne Gewissensbisse zu ruiniren. Er bringt
meist nur Prosa und der Hort derer, die ihrer Schmerzen und Wonnen in
Versen sich entledigen, ist der Verleger der Anthologien der „Künstler-" und
sonstigen „Albums" geworden.
Von Romanen mögen heute nur einige hier genannt sein. G. Horn gab
„Haus und Volk, Roman aus dem achtzehnten Jahrhundert" in 4 Bänden her¬
aus; F. Plug einen historischen Roman „Geglänzt und erloschen", 3 Bände;
I. Mestors schrieb „Wiebecke Kruse. eine holsteinische Bauerntochtcr. Ein Blatt
aus der Zeit Christians des Vierten"; Hackländer gab zwei Bände „neuer No¬
vellen" und O.Müller die Erzählung „Die Förstersbraut von Neunkirchen";
Th. Storm brachte eine kleine Novelle „Von jenseits des Meeres"; Elise Pvlko
die achte Folge ihrer „Neuen Novellen" und C.Reinhardt, der Maler, das
Lebensbild von der Unterelbe „Der fünfte May", während die Hahn-Hahn aus
ihrer klösterlichen Einsamkeit ein Zeitgemälde aus dem fünften Jahrhundert „Die
Kaiserin Eudoxia" der verruchten Welt schenkte.
Als einer Zusammenstellung meist schon gedruckter Aufsätze, Reden ze. e»
erwähnen wir auch die Neue Folge von Auerbachs „Deutschen Abenden". Eine
andre buchhändlerische Erscheinung reiht sich an diesen Theil der Belletristik
naturgemäß an. Es sind dies die Illustrationen zu unseren Dichtern, die als
selbständige Werke zur 'Ausgabe gelaugen. Das Christfest brachte uns Kindlers
Zeichnungen zu Auerbachs „Joseph im Schnee" und Hiddemanns Bilder zu
Fritz Reuters „Stromtid".
Wer mit Interesse einen Roman liest, wird, ehe ers selbst gemerkt, den
einzelnen Gestalten desselben das Aeußere der Leute angedichtet haben, die ihm
i» ähnlichen Lagen des Lebens oder mit ähnlichem Charakter ausgestattet er¬
schienen. Und vergliche man alle diese mannigfaltigen Repräsentanten eines
bestimmten Begriffs, so würde sich trotz der großen Verschiedenheiten ein Grund-
typus ergeben, welcher der Figur eigen ist. Ihn zu finden, ist des Malers
Aufge.be. Gelang ihm dies nicht, so zerstört er das Bild, das jeder mit sich
herumtrug und die reelle Copie eines geistigen Originals schadet, anstatt zu
nützen. Was Bankier im „Oberhof" so trefflich gelang, sollte es Hiddemann
gelungen sein? Ist das die Louise Habermann, die etwas von dem klaren Ver¬
stand und dem tiefen Gefühl der „Lisbeth" hat? Und wo bleibt der „Ent-
specter Bräsig", jenes Gemisch von Urkomischem und tiefem Ernst?
Ich komme zu den Dramen. Das Geschlecht der Dramatiker stirbt nicht
aus. Und werden ihre Werke noch weniger gelesen und aufgeführt als bisher,
gedruckt werden sie. Während die moderne Kritik verlangt, daß unsere Helden
auf dem Gebiete des fünffüßigen Jambus die Vorwürfe für ihre Arbeiten in
der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit holen sollen, bewegen diese sich auch
heute wieder mit Vorliebe zwischen den Kämpen der früheren Zeiten. F. Kemp-
ner schrieb „Rudolf der Zweite oder der Majestätsbricf"; A. Waldemar „Kaiser
Friedrich der Zweite von Hohenstaufen"; W. Molitor „Julian der Apostat" und
A. Müller „Geachtet oder Otto der Große und sein Haus". F. v. Saar ver¬
öffentlichte die zweite Abtheilung seines „Kaiser Heinrich der Vierte" unter dem
Sondertitcl „Heinrichs Tod" und I. V. Widmann sei» Trauerspiel „Arnold von
Bicscia". Ein Bändchen „Dramatischer Dichtungen" brachte O. Roquette.
Aber am meisten Aufsehen machte A. Lindners Preisstück „Brutus und Colla-
tinus".
Denen, die im stillen Kämmerlein sich selbst den Preis zuerkannten und
Prinzessin und Tasso in einer Person spielten, mag man das harmlose Ver¬
gnügen, ihm allen Werth abzusprechen, wohl gönnen.
Während der Verleger nur ungern sich zur Herausgabe neuer Dramen ver¬
steht, ist Shakespeare für den deutsct'en Buchhandel von stets gleicher Bedeutung.
Noch behauptete die Schlegel-Tieckschc Uebersetzung bisher auf ihren, Gebiete die
erste Stelle; jetzt wird ihr von zwei Seite» zugleich der Platz bestritten. Schon
liegen einige Dramen einer Ausgabe vor, die von Dingelstedt, Simrock, Seeger
u. A. ausgeht. Ihr gegenüber tritt nun eine zweite Ausgabe auf, die auch
bedeutende Namen auszuweisen hat! Delius, Bodenstedt, Heyse. Gildemeister
u. A. Die Uebersetzer liefern von beiden Seiten ihr Bestes und der Wett¬
streit kann nur gute Früchte bringen.
Wenn wir aus Epik und Lyrik das wegstreichen, was der preußisch-
östreichische Conflict auf dem Gewissen hat, so bleibt wenig übrig. Und das
ist sehr gut. Denn auf diesem Gebiete der Dichtkunst ist viel gesündigt worden
in Festgedichten und Dithyramben patriotischester Gesinnung.
So mag von Epen nur hier sieben das zweite Buch von H. Linggs
„Völkerwanderung", die romantische Humoreske „Nosalindc oder das Turnci
zu Se. Johann" von W. Hosacns und „Maria , vn Bethanien", Neutcstament-
lichcs Gedicht von L. v. Plvennies. die alljährlich zur Weihnachtszeit ein Bänd¬
chen erscheinen läßt und sich ganz der streng kirchlichen Richtung in die Arme
geworfen hat.
Von Lyrik nenne ich nur A. Miihls „Lyrische Versuche" und „Aus der
Jugendzeit". Gedichte von E. v. Destouches. —-
Wir werden dieses Jahr Frieden behalten. Dies hofft nicht nur Napoleon
wegen der pariser Ausstellung und der gewöhnliche Mensch, beiß er sich in
Friede» des Sommers erfreue, sondern auch der Buchhändler, daß er Reisekarlen
verkaufe und Reisebücher. Ja, er denkt schon weiter hinaus. Den» das Jahr
1867 wird in der späteren Geschichte auch deshalb von Wichtigkeit sein, weil
es zuerst das ewige Autorrecht praktisch über den Haufen wirft. Selten sind
wohl sie Literaturgeschichten und Convcrsationslexika so eifrig nach deutschen
Klassikern und solchen, die es sein könnten, durchsucht worden, um die zu finden,
die vor dem 9. November 1837 gestorben sind. Ihre Werke werden vogelfrei
und jedes Jahr wird neue dazu bringen. Es wäre interessant, zu wisse», wie
viel Papier daraufhin mehr verdruck! wird als sonst. Denn daß die Lebenden
nun vorerst zu Gunsten der Todten auss Gedrucktwerden verzichteten, wäre eine
unbillige Zumuthung.
Ob auch in demselben Maße sortgekauft wird? Wohl kaum! Dann kommt
vielleicht die Zeit, wo Lichtenbergs witzige Antwort auf die Frage, was man
brennen soll, wenn wir unsere Wälder alle abgeholzt, praktisch wird: „O, wenn
die Wälder ausgehauen sind, könne» wir sicherlich so lange Bücher brennen,
bis neuer Vorrath angewachsen ist."
In denselben Tagen, in welchen voraussichtlich die definitive Grundlegung
der norddeutschen Bu»desverfassu»g erfolgt, treten die süddeutschen Staaten
aus ihrer verdrießlichen Thatlosigleit, und zeichnet sich ihr Verhältniß unter sich,
wie ihr Verhältniß zum Nvrdbund in schärferen Zügen. Der provisorische Zu¬
stand des neuen Deutschlands nimmt nach allen Seiten bestimmtere Gestalt an,
ohne deshalb von seinem provisorischen Charakter zu verlieren.
Das Ministerium Hohenlohe ist im Süden als die Erlösung von einem
auf die Dauer unerträglichen Zustand der Nathlvsigkeir und stumpfen Geschehen-
lassens begrüßt worden. In Laden war der beste Wille vorhanden, aber der
erste Anlauf, in den norddeutschen Bund aufgenommen zu werden, oder auch
nur zu einem Separatvcrtrag mit Preußen war gescheitert, und weiter hatten
Badens Bemühungen nicht gereift. In Würtemberg rückte dos Ministerium
pac piceis nicht von der Stelle und wartete mit schwäbischer Gemüthlichkeit,
bis irgendein moralischer Zwang von irgendeiner Seite dem Staatsschiff
irgendeine Richtung geben werde. Von Hessen-Darmstadt erwartete ohnedies
wohl niemand Anregung, alles tam unter diesen Umständen auf Bayern, den
größten und gewichtigste» der süddeutschen Staaten an. Er hat nun die Jni-
tiave zu einer gemeinsamen Action der durch den nilolsburgcr Vertrag vom
Bundesstaat ausgeschlossenen Gebiete ergriffen.
Irren wir nicht, so bewegt sich diese Initiative genau in der Bahn, wie
sie augenblicklich der Politik des Grafen Bismarck entspricht.
Was der Fürst Hohenlohe zu seiner schwierige» Aufgabe mitbruigt, eine
Politik des Uebergangs mit ziemlich disparaten Bundesgenossen durchzuführen,
ist vor allem guter Wille, ein ehrlicher Name, el» offener und loyaler Charakter.
Diese Ehrlichkeit ist selbst von der ultramoiitane» Partei, die ihm voraussichtlich
den meisten Widerstand leisten wirb, willkommen geheißen und anerkannt worden.
Von Seite der preußischen Partei war er bekanntlich schon seit geraumer Zeit
der designirte Ministercandidat für Bayer». Die Rede, die er im August vor. I.
i» der Neichsrathskammer hielt, bürgt dafür, daß mit ihm ein sehr bestimmter
politischer Gedanke in den Palast am Promenadenplatz eingezogen ist. Ist auch
das Programm, das er damals entwickelte, als die deutschen Zustände noch
flüssiger schienen und er noch nicht als Minister redete, heute nicht unmittelbar
zu verwirklichen, so spricht es um so beredter aus, welchem letzten Ziele er
zusteuert.
Damals befürwortete der Fürst den Anschluß Bayerns an den norddeutschen
Bund. Heute muß ein Minister, der das Erreichbare mit gegebenen Mitteln
will, das Ziel sich bescheidener und zugleich bestimmter stecken. Die Trennung
nach der Mainlinie ist nun einmal vollendete Thatsache. Es ist müßig, darüber
zu streiten, ob mehr die Einsprache Frankreichs oder mehr die Scheu vor den
widerstrebenden Elementen des Südens Preußen dazu bewogen habe, bei dieser
Grenzlinie Halt zu machen. Gewiß ist, daß diejenigen am wenigsten ein Recht
haben darüber zu jammern und Preußen der „Zerreißung Deutschlands" an¬
zuklagen, die alles aufboten die Kluft zwischen Nord und Süd unheilbar zu
erweitern. Ein einziges Mittel war vorhanden, den Buchstaben von Nikolsburg
ebenso zu verwischen, wie den von Villafranca: wenn nämlich eine revolutionäre
Bewegung im Süden den Anschluß erzwungen hätte. Aber ein solches Be¬
ginnen lag nicht im deutschen Temperament, es lag am wenigsten in der Dis¬
position des Südens, der theils mit Trauer oder Verdruß, theils mit Schaden¬
freude, jedenfalls aber unthätig und gelassen der Ausführung des Vertrags
zusah. Die Einheit, die so nicht im unwiderstehlichen Sturm der Begeisterung
durchgesetzt werden konnte, ist cbendamit auf weitere Uebergangsstadien, auf
Etappen angewiesen, zu denen glücklicherweise der Wortlaut von Nikolsburg
selbst die Handhabe bietet, und diese Handhabe ergriffen zu haben, darin besteht
eben der Kern der neuesten Schritte des Ministeriums Hohenlohe.
Es ist überflüssig, den Gedankengang der bekannten Reden zu wiederholen,
in welchen der Fürst theils der Bildung eines Südbundes entgegentrat, theils
die Mittel auseinandersetzte, den für jetzt unmöglichen Anschluß an Preußen zu
ersetzen und zugleich vorzubereiten. Ein Programm, das nicht eine reine Lösung
in Aussicht stellt, sondern sich darauf beschränkt, die Mittelglieder zu einer Ermög¬
lichung jener Lösung zu präcisiren, bietet wie jeder Compromiß der Kritik seine
schwachen Seiten. An solcher Kritik hat es dem Programm Hohenlohe nicht
gefehlt; man hat ihm Unklarheit, Widerspruch nicht nur mit jener Augustrede,
sondern auch mit sich selbst vorgeworfen. Aber daß diese Bemängelung haupt¬
sächlich von Oestreich und der süddeutschen Demokratie kam und den verbissenen
Aerger dieser Partei verrieth, scheint doch ein genügender Beweis, daß es eine
unzweideutige Tendenz hat und in den wesentlichen Punkten klar genug ist.
Ernster sieht sich der Widerspruch an, der von Baden ausging und nicht
blos in Correspondenzen ausführlich begründet wurde, sondern auch eine Zeit lang
die badische Regierung in mißtrauischer Reserve gehalten zu haben scheint. Man
hatte grade dort alles vermieden, was entfernt wie Anbahnung einer Süd-
conföderation aussah, und nun schien die Initiative Bayerns eben auf einen
solchen Südbund hinauszulaufen. Man war in Baden doppelt vorsichtig, weil
man nicht blos den unbedingten Anschluß an Preußen erstrebte, sondern weil
man mit Recht sich scheute, u, die Arme größerer Nachbarn von nicht jederzeit
musterhafter Gesinnung hineingezogen zu werden, und nun soll eben die badische
Macht nicht an Preußen, sondern an die südlichen Genossen gebunden werden.
Kam eine gemeinschaftliche Wehrorganisation des Südens zu Stande, so war
damit, auch ohne gemeinsame politische Einrichtungen, doch eine Consolidirung
und Stärkung der Kräfte des Südens erreicht, die möglicherweise eines Tags
auch gegen die nationalen Zwecke und gegen Preuße» verwandt werben konnten.
Denn wenn auch die Gesinnung des jetzigen Ministeriums in München keinen
Zweifel erlaubte, so war doch die Möglichkeit einer Aenderung der dortigen
Politik nicht ausgeschlossen, der dann die erhöhte Militärmacht des Südens zur
Verfügung stand. Ein bloßes AlUanzvcrhältniß giebt allerdings dem Süden
eine gefährliche Fähigkeit selbständiger Action und schließt den Wechsel der
Allianzen nicht aus. Weit mehr schien es sich zu empfehlen, wenn die einzelnen
Staaten für sich den Anschluß an Preußen suchten; ja es wurde gradezu aus¬
gesprochen, je schwächer und hilfloser die einzelnen Staaten blieben, je rathloser
sie z. B. mit ihren Bundcsfestungen wären, um so sicherer würden sie gezwungen,
ihre Zuflucht zu Preußen zu nehmen.
Man kann diesen Befürchtungen eine gewisse Berechtigung nicht absprechen.
Die Gefahr der Secession wird immer bestcyen, so lange das Bundesvcrhaltniß
nicbt auch den Süden umsaßt, und man wird es der badischen Regierung
danken, wen» sie mit aller Borsicht in die eben bevorstehenden Verhandlungen
eintritt. Allein wenn Preußen unter allen Umständen und im Boraus sich
gegen jene Gefahr sichern wollte, so durfte es nicbt an der Mainlinie stehen
bleiben. Jetzt >se die Frage nur die, wie die von den Friedensbestimmungen
unzertrennliche Gefahr beseitigt werden kann, und wir meinen, der Weg, den
die bayerische Regierung eingeschlagen hat, war der einzige, der die Beziehungen
zwischen dem Norden und dem Süden wirtlich um einen entscheidenden Schritt
weiter bringen konnte.
Zu dem sofortigen Scparatanschluß an Preußen war nun einmal nur
Baden bereit. Man begreift es, warum Preußen ihn ablehne» mußte, abgesehen
von aller Rücksicht»ahme auf auswärtige Mächte. Süddeutschland ist, wie ein
Blick auf die Karte lehrt, überhaupt schwer zu vertheidigen. Aber am aller,
wenigsten könnte man Preußen zumuthen, irgendeine Garantie für den schmalen
Landstrich von Mainz bis Basel zu übernehmen, so lange nicht das süddeutsche
Hinterland in das gemeinsame Verthcidigungsnetz gezogen ist. Es muß also
Preußen in der That daran liegen, daß die süddeutschen Staaten gleichzeitig
und als ein Ganzes diejenige Form des Anschlusses suchen, welche unter den
jetzigen Umständen überhaupt möglich ist.
Dies ist das Eine. Dann aber hat Preußen, bevor es seinen Schutz auch
über Süddeutschland ausdehnt, noch eine wesentliche Vorbedingung zu stellen,
und wir täuschen uns schwerlich in der Annahme, daß Preußen sie wirklich ge¬
sollt hat und daß hierauf eben das Borgchen des Fürsten Hohenlohe beruht.
Diese Borbcdingung ist, daß die süddeutschen Staaten ihre Heercseinrich-
tungen nach preußischem Muster umgestalten, und zwar derart, daß ihr Contin¬
gent im gegebenen Fall sofort einen integnrenden Bestandtheil der deutschen
Heeresmacht bilden kann. Fürst Hohenlohe hat eben darüber sich ganz bestimmt
vor der bayerischen Kammer ausgesprochen. Er stellte diese Heeresreform als
ein Mittel dar. das Ällianzverhällniß mit Preußen zu erreichen, als eine uner¬
läßliche Bedingung, ohne welche Preußen das Angebot gar nicht annehmen
würde. Und so liegen die Dinge in der That. Preußen kann nicht die min¬
deste Verpflichtung eingehen, so lange die süddeutschen Heere in ihrer aus dem
Kriege sattsam bekannten Verfassung sind oder einzeln mit beliebigen Wehr¬
systemen experimentiren, wie dies eine Zeit lang in Würtemberg zu befürchten
stand. Es ist zugleich jedem eventuellen Einspruch des Auslands ungleich
mehr gewachsen, wenn die Umwandelung der süddeutschen Contingente in
einen Bestandtheil des nationalen Heeres bereits vollzogen ist. Nur mit dem
militärisch bereits assimilirten Süden kann sich Preuße» in Verhandlungen ein-
lassen, weicht allerdings unvermeidlich den Geist des Präger Friedens compro-
mittire». —
Eine doppelte Aufgabe steht somit vor der Stuttgarter Konferenz: die mög¬
lichste Annäherung der süddeutschen Wehrverfassungen an das preußische System
und die Anerkennung der preußischen Oberleitung, welche die Möglichkeit eines
Sondcrbundes und die Verwendung der süddeutschen Kräfte zu »ichtdeutschen
Zwecken ausschließt; eine Anerkennung, die, nachdem sie einmal von Bayern
officiell ausgesprochen ist, auch von Seite des ganzen Südens dem Ausland
gegenüber nichts Bedenkliches mehr hat. Wird diese doppelte Aufgabe erfüllt,
so besitzt Deutschland el» nationales Heer, und das nationale Heer wird
die nächste Form der deutschen Einheit sein. Ein ungeheurer Fort¬
schritt in der deutschen Entwickelung, wie das Ausland theils .beifällig theils
verstimmt schon jetzt anzuerkennen genöthigt ist, ein Fortschritt, der zugleich die
sicherste Grundlage für eine weitere Annäherung bietet. Es stehen dann die
Außenmaucrn des neuen Gebäudes fest; die Zwischenwände zu beseitigen, ist
dann doch nur eine durchaus innere Arbeit.
Darf man die Erfüllung dieser Doppelaufgabe von der stuttgcirter Con-
ferenz hoffen? Noch wird es schwer, an ein vollständiges Gelingen mit den
Herren Dalwigk und B^rnbühler zu glauben. Noch erscheint es wie ein kühner
Traum, daß die widerspenstigen Elemente Süddeutschlands zu einem brauchbaren,
organischen Glied des Leides deutscher Nation sich umschaffen lassen. Daß die
vorläufigen Sondirungcn Bayerns, wie es heißt, besonders in Stuttgart eifriges
Entgegenkommen gefunden haben, legt den Verdacht mal)e, daß die bayerischen
Eröffnungen, wie auch der Wortlaut der Note vom 9. Januar besagt, nur die
militärische Reorganisation der Südstcraten als solche zum Gegenstand hallen.
Andererseits ist nicht wohl anzunehmen, daß Bayern auf sein politisches Pro¬
gramm verzichte, mit welchem es eben sein militärisches Programm begründet
hat, und in der Theilnahme Badens darf man in jedem Fall eine Bürgschaft
erblicken, daß ein scharfes Aug. über allen svnderbündlerischc» Neigungen wachen
wird. Wenn mit den Kriegsministern der vier süddeutschen Staaten auch die
Minister des Auswärtigen in Stuttgart erscheinen, so ist schon hiermit aus¬
gesprochen, daß ohne ein politisches Programm die Nächstliegende Aufgabe gar
nicht durchgeführt werden tan». Der Südbund ist aber in jeder denkbaren
Form von Bayern entschiede» verworfen; er ist überdies schon darum unmög¬
lich, weil er eine Unterordnung der übrigen Staate» unter Bayern bedeutete,
wozu man i» Stuttgart so wenig Neigung verspürt als in Karlsruhe. Was
bleibt also übrig als die Anlehnung aller an Preußen, die Bayern für sich
allein schon als die entschiedene Richtung seiner Politik bezeichnet hat?
Kurze Frist nur ist für die Conferenz in Aussicht genommen; dies deutet
darauf hin, daß über gewisse Hauptpunkte ein EinVerständniß bereits erzielt ist.
Auch die Zollangelegenheiten sollen, wie es heißt, einen Gegenstand der Be¬
rathungen bilden; sie sind es, an welchen jedenfalls das Werk der Einigung später
weiter zu führen ist, und die endlich gebieterisch das letzte Ziel, eine parlamen¬
tarische Gcsanuntvertretung in Deutschland erzwingen werden.
Was auch das Resultat der Conferenz sein wird, Preußen wird dadurch in
den Stand gesetzt werden, genau zu bemessen, wie weit es gehen kann, um zu
der in Nikolsburg stipulirten „nationalen Verbindung" mit dem Süden die Hand
zu bieten. Es ist begreiflich, daß sür uns im Süden der Ausgang dieser Ver¬
handlungen im Augenblick das Jateresse an dein Ausbau des norddeutschen
Bundes fast in den Hintergrund drängt.
Die Frage ist die, ob das sichere Fricdensjahr der Ausstellung dazu be¬
nutzt wird, um die Wiedcckehr der Schmach von 1813 und 1866 — deutsche
Contingente im Kampf gegen Deutschland — für immer unmöglich zu mache».
Hirth's Parlamcntsalmanach. I.Ausgabe. Berlin. Verlag von Franz
Duncker.
Ein kleines Taschenbuch, das über die Wahlkreise, über die bisher bekannt ge¬
wordenen Candidaten die nöthigen statistischen und biographischen Nachweise giebt
und die Reichsverfassung von 1349, den preußischen Verfassungsentwurf vom Juni
1866, das preußische Ncichswahlgesetz vom is, October 1866 und endlich das preu¬
ßische Wahlreglcmcnt im Wortlaut mittheilt. Einzelne Angaben über den Status
der Candidntnren werden natürlich schon in den nächsten Tagen antiqnirt sein, da¬
bei der gesteigerten Agitation die Anwartschaften wechseln, aber die flüchtige Bekannt¬
schaft, welche mit Hilfe dieses Berathers jeder mit den Persönlichkeiten machen kann,
die das Vertrauen hervorhebt, ist immerhin von Werth; den Auserwählten selbst
wird das Vademecum oft genug praktische Dienste leisten, namentlich wenn Nachträge
und Berichtigungen mit der Schnelligkeit und Gewissenhaftigkeit gegeben werden, die
vom Verfasser zu erwarten ist. —"
Die von Karl Andrae herausgegebene (illustrirte) Zeitschrift „Der Globus,
welche mit dem 11. Bande an die Vcrlagshcmolnng von Friedrich Viemcg und
Sohn in Braunschweig übergegangen ist, hat sich bereits als Revue der Lündcr-
und Völkerkunde wohlverdienten Ruf gesichert. Sorgfalt und Eleganz in der typo¬
graphischen Ausstattung wie in den beigefügten Illustrationen sind in dem neuen
Jahrgang, dessen erste Lieferung uns vorliegt, unverändert beibehalten und befrie¬
digen wetteifernd mit dem Inhalte die Anforderungen des großen Publikums, dem
das Unternehmen dient. Von den im neuesten Hefte behandelten Gegenständen
heben wir namentlich die Beiträge zur Kunde Japans, Fr. Schmidts Expedition
in Sibirien und die Mittheilungen über Altperu hervor.
Verantwortlicher Redacteur: Gustav Freytag.
Verlag von F. L. Hcrbig. — Druck von Hüthel Legler in Leipzig.
Die Handelskammern von Hamburg und Bremen haben im Interesse des
deutschen Welthandels eine Einschränkung der allgemeinen Wehrpflicht empfohlen,
dahingehend, daß Kaufleute, weiche in transatlantischen Plätzen, d, h. außerhalb
Europas, feste Anstellungen gefunden oder eigene Geschäfte gegründet haben,
sowohl von den Uebungen der Reserve und der Landwehr als von der Ein¬
stellung bei Mobilmachungen befreit bleiben möchten. Die Stettiner Handels¬
kammer hat schon im Jahre 1861 eine ähnliche Forderung geltend gemacht,
damals natürlich für Preußen allein; die Aeltesten der danziger Kaufmannschaft
sind gegenwärtig dem Verlangen der Hansestädte beigetreten. Wir haben es
hier also -wohl ohne Zweifel mit einem Wunsche des gesammten deutschen Gro߬
handelsstandes zu thun.
Dieser Wunsch darf nicht verwechselt werden mit einer sehr unzeitigen
Agitation, welche vor einigen Jahren in rheinpreußischen Jndustrieplätzen zu
Tage trat, gerichtet auf Einführung der Stellvertretung im preußischen Heere.
Die Begründung war allerdings auch damals der besonderen Lage des Kauf¬
mannsstandes entnommen, welche für ihn die allgemeine Wehrpflicht, die
andere Stände vergleichsweise wenig drücke oder wohl gar überwiegend fordere,
zü einer außerordentlichen Last macht. Sie entreiße den jungen Geschäftsmann
der eben begonnenen Carriöre oder nöthige ihn, dieselbe später einzuschlagen,
nicht ohne ihn dadurch innerhalb derselben empfindlich zu beeinträchtigen. Weder
von dem Landwirth, noch von dem Handwerker, noch vollends von dem Fabrik¬
arbeiter oder Tagelöhner könne dasselbe gesagt werden; und was endlich die Stu-
direnden betreffe, so seien dieselben im Staude, ihre Studien neben der Ablcistnng
des Freiwilligenjahres fast ohne alle Verkürzung fortzusetzen. Die Gründe waren
an sich nicht unrichtig, allein sie reichten bei weitem nicht hin, die Nothwendig¬
keit oder auch nur die Zuläsffgkcit einer Exemtion von der allgemeinen Wehr¬
pflicht, diesem Grundpfeiler des Staats, geschweige denn ihrer Ersetzung durch
Conscription nebst Stellvertretung zu beweisen. Dies war so selbstverständlich,
daß kein Kaufmann oder Fabrikbesitzer von ausgeprägterem liberalen und patrio¬
tischen Bewußtsein sich an der Agitation betheiligen wollte. Sie blieb auf die
weniger politischen Kreise beschränkt, und rief den lebhaften Verdacht hervor, sie
sei wohl gar nur angestiftet zum Behuf einer reaktionäre» Diversion in dem
damaligen geschlossenen Widerstände des Landes gegen die verfassungswidrig
aufrechterhaltene und durchgeführte Armecreform.
Im durchschlagenden Unterschiede von solchen einseitig-selbstsüchtigen Re¬
gungen eines ohnehin bevorzugten Standes verlangen die Handelskammern der
Seestädte jetzt so wenig wie früher, daß ihre junge» Leute der Pflicht im vater¬
ländischen Heere zu dienen überhoben werden. Zwar ist ihnen in den Hanse¬
städten dergleichen bisher nicht zugemuthet worden: sie müßten dort ihren ganzen
Erziehungsgang anders einrichten, um von dem Eintritt in die Armee nicht zur
unrechten Zeit aus ihrer Vorbcrcitungslaufbahn gerissen und um der ihrer
socialen Stellung gemäßen Vortheile des Frciwilligendienstcs theilhaftig zu
werden; und unter allen Umständen hindert sie die Dienstpflicht, so früh wie
sie es bisher guten Theils gewohut waren, übers Meer in fremde Welttheile
zu gehen und dort an den weitausgedehnter Fäden des heimischen Handels¬
verkehrs fortzuspinnen. Aber wenn darin Opfer liegen, so erkennt man diese
in den Hansestädten als nothwendig an, und als möglicherweise aufgewogen
nicht allein durch die großen allgemeine» Segnungen einer machtvollen Einheit,
sondern selbst durch eigenthümliche gute Wirkungen, welche die Thatsache der
allgemeinen Wehrpflicht ohne weiteres haben wird. Sie wird nämlich mit
Wahrscheinlichkeit, ja mit Gewißheit dazu sichren, daß die angehenden Kaufleute
länger auf der Schule bleiben und daß die Lehrzeit abgekürzt wird. Das Eine
ist so wünschenswerth wie das Andere. Jenes wird ihnen einen reicheren Fond
von Wisse» und geschulte» Geisteskräften ins Leben mitgeben, dessen Mangel
sie jetzt wenn nicht alle empfinden, so doch zu oft zu ihrem Schaden ver¬
rathen, gleichviel ob sie sich jenseits des Meeres inmitten fremder Umgebungen
und in einer bald traurig einsamen, bald gewaltig verführerischen Lage be¬
haupten, oder ob sie sich im Vaterlande ökonomisch, social und politisch bewähren
sollen. Die Abkürzung der Lehrzeit aber ist zu diesem positiven Gewinn die negative
Ergänzung. Wie sie jetzt verbracht wird, treibt sie meistens alles höhere Streben
und allen Sinn für geistige Genüsse gründlich aus. Den vorwiegend mechani¬
schen Fertigkeiten, in denen sie den Jüngling ausbildet, entspricht der Platte
Materialismus der Erholungen, zu denen er sich meistens hingezogen fühlt, für
die allein er Spannkraft genug aus dem Einerlei des Comptoirs nut nach Hause
bringt. Hier, wenn irgendwo, würde die Hälfte dem Werthe nach mehr als das
Ganze sein. Die Kaufmannschaft der Hansestädte wird an Bildung und all¬
gemeinem geistigen Schwunge nur gewinne», wenn die allgemeine Wehrpflicht
sie durch das Examen, welches der einjährige Freiwillige ablegen muh, mittel-
bar nöthigt, ihre» Nachwuchs el» paar Jahr länger unter dem Einfluß huma¬
nistischer Bildung zu lasse».
Die sogenamite Präsenzzeit solle» die jungen hanseatischen Hcuidluugs-
beflissenen also unter denselben Bedingungen wie jeder Andere bestehen. Aber
nun kommen die regelmäßig wiederkehrenden Uebungen während der Reserve-
n»d Landwchrjahie, sowie die Mobilmachungen, Wenn diese ebenfalls Stück
durchgeführt werden solle», so fürchte» die bremer und die Hamburger Handels¬
kammern nicht ohne Grn»d, daß der deutsche Welthandel eiuen starke», vielleicht
Verhängnißvolle» Stoß erleide» werde. Seit Jahrzehnten ist es fortwährend
zunehmende Sitte geworden, daß junge Kaufleute, nachdem sie ihre Lehrzeit in
einer der Hansestädte durchgemacht, übers Meer nach Amerika oder Asien gehen,
um dort in bestehende deutsche Häuser als Commis einzutreten, wodurch sie
dann alt der Zeit gewöhnlich in>en Antheil am Geschäft erwerben, wenn sie
nicht vorziehen, sich selbständig zu etablire». Auf de» so entstandenen oder
erhaltenen Geschäftshäusern unserer Nationalität, die in der transatlantischen
Handelswelt fast durchweg den ersten Nang einnehmen, beruht zu einem
großen Theile der umfassende Absatz deutscher Jndustrieerzeugnissc und der An¬
theil der deutschen Nvrdseeplätze am Welthandel. Die Hamburger und bremer
Börse hat an diesen Geschäftsfreunden, die sie persönlich kennt, die von einem
der beiden Plätze ausgegangen sind und ihre U»ter»ehmu»gen nicht selten im
EinVerständniß mit ihren alten Principalen begonnen haben, zuverlässige Liefe¬
ranten und Abnehmer an Orten, wo es sonst schwer ist, sichere Anknüpfungen
zu finden; ausgedehnterer Credit, der auch eine Menge neuer Beziehungen er¬
möglicht, ist bei ihnen wohlangebracht, und sie führen ihrerseits der heimischen
Börse Geschäfte zu. die ohne einen solchen persönlichen Vertreter derselbe»
anderen Plätze» anheimfallen würde». Nicht minder von selbst ergiebt sich, daß
diese aus den Hansestädten hervorgegangenen Kaufleute sichs besonders angelegen
sein lassen, der deutschen Industrie neue Absatzmärkte zu eröffne». Kurz, sie sind
wahre Pio»lere deS vaterländische» Handels und Gewerbfleißes, und ohne sie
würde weder der eine noch der andere de» Umfang erreicht haben, welchen er
gegenwärtig zeigt. Damit ist aber die Bedeutung dieser Classe von meist tem¬
porären Auswanderern für Deutschlands volkswirtschaftliche Interessen noch
nicht einmal völlig erschöpft. Sie wandern nicht als Europamüde aus, sondern
lediglich zu dem Zwecke, um die Welt kenne» zu lernen, sich den Wind gehörig
um die Nase wehen zu lassen und ihr Glück zu machen. Ist ihnen das Letztere
"eich Wunsche gelungen, so kehren sie, oft noch in sehr rüstigem Alter, zur Hei-
Math zurück und bringen dieser das erworbene Capital in der Regel mit. Dies
ist. wie die Hamburger Handelskammer treffend bemerkt, eine äußerst willkommene
Ausgleichung für den Capitalverlust, de» uns lie umtlichm europamüden Aus-
Wanderer durch das, was sie mitnehme», sowohl .in fahrender Habe, als an
entwickelter Arbeitskraft jahraus jahrein verursachen.
Es erhellt ohne weiteren Nachweis, daß eine strenge und unbedingte Durch¬
führung der allgemeinen Wehrpflicht in ihren späteren Stadien hier gradezu
zerstörend Wirten würde. An eine Rückkehr zu den Reserve- und Landwehr-
übungen oder zu einer Mobilmachung ist selbst aus New-Dort oder Havana
nicht zu denken, geschweige denn aus Valparaiso, Melbourne oder Schanghai.
Der junge Geschäftsmann also, der vor dem bezeichneten Entschlüsse steht, hätte
dann zu wählen zwischen dem völligen Verzicht auf die Vortheile und Glücks¬
aussichten einer überseeischen Geschäftszeit, und der schmerzlichen Resignation,
nicht wieder heimkehren zu dürfen. Daß nach vollendetem Landwehrdicnst in
der Regel von einer solchen Verpflanzung übers Meer und wieder zurück nicht
mehr die Rebe sein kann und wird, ist von selber klar. Wahrscheinlich würden
demnach reichlich zwei Drittel der zeitweise» kaufmännischen Auswanderungen
gänzlich unterbleiben. Von dem letzten Drittel aber würden uus die Früchte
verloren gehen, welche die zurückkehrenden „Westindier" und „Ostasiaten" in
Gestalt ihrer Capitalien oder Renten mitbringen.
Man entschließe sich daher, die übers Meer gehenden jungen Geschäftsleute,
so lange sie dauernd drüben bleiben, von der späteren Einstcllungsfrist sowohl
für Kriegs- als Friedenszeiten loszusprechen. Die Einbuße des Heeres ist nicht
der Rede werth. Die ersparte volkswirtschaftliche Einbuße ist, wie angedeutet,
in mehr als einer Richtung bedeutend. Zu einer Ermuthigung des Aus-
wanderns kann die Maßregel höchstens vorübergehend, aber schwerlich auf die
Dauer ausschlagen; dem Vaterlande für lange Jahre den Rücken zu kehren ist
schon jetzt bei normalen Umständen keine leichte Sache — und bei der Neu¬
gestaltung unsres Staatswesens wird es uns Deutschen mit der Zeit hoffentlich
immer schwerer — so daß der Entschluß, mit allen seinen Altersgenossen unter
die Waffen zu treten, dagegen wie Spiel erscheinen wird, sobald die erste inhalts¬
leere Angst vor den eingebildeten Schrecken des Heerdienstes überwunden ist.
Natürlich jedoch müßte die Befreiung nicht blos für den Kaufmann gelten,
sondern auch für jeden Andern in gleicher Lage. Der Ingenieur, der Arzt,
der Theologe, der jenseits des Oceans eine lockende Beschäftigung gefunden hat,
müßte sie beibehalte» dürfen, so lange sie ihn reizt und befriedigt, ohne der
Herbstübungen halber sie ausschlagen zu müssen, oder wegen einer Mobilmachung,
die längst wieder zu Ende sein kann, bevor er nur im Stande ist zurückzukehren.
Diejenigen Deutschen im Auslande, deren Interesse durch die hier befür¬
wortete Maßregel gewahrt werden würde, verdienen als Gesammtheit entschiedene
Berücksichtigung. Sie haben fiel, in der Periode der nationalen Feste und
Sammlungen durch außerordentliche Freigebigkeit, seit dem Anbruch der nun
ein getretenen Epoche entscheidenden politischen Handelns durch klaren Blick und
freimüthige Kundgebungen erfreulich hervorgethan. In keiner Beziehung haben
wir uns ihrer zu schämen, oder Ursache, dieser besondern Art von Auswande¬
rung entgegenzuwirken. Jene rasche und vollständige Entfremdung, die man
den auswärts lebenden Deutschen früher durchgängig nachsagte, gilt heutzutage
wenigstens von dieser Kategorie derselben nicht mehr. Sie sind im Gegentheil
fast sämmtlich ebenso feurige, einsichtige und opferwillige Patrioten, als sie auch
in der Fremde noch nützliche Mitglieder der erwerbenden, verkehrtreibenden Ge¬
sellschaft bleiben. Indem wir daher auf ihre Verhältnisse seht bei der Erstreckung
der allgemeinen Wehrpflicht über ganz Nordbeutschlano eine gewisse wohlbe-
messene Rücksicht beanspruchen, setzen mir das nationale Interesse überhaupt keines¬
wegs außer Auge, sondern wir glauben es vielmehr so weitsichtig aufzufassen,
wie es der Bildung und Weltstellung der deutschen Nation geziemt.
Es wird in Deutschland, jetzt dem Lande des allgemeinsten Wahlrechts, von
Interesse sein, zu erfahren, wie die großen englischen Parteien zu dem Wahl¬
recht stehen, das auch bei ihnen zur brennenden politischen Frage geworden ist.
Wir beginnen mit den Radicalen. Die deutsche liberale Presse hat sich gewöhnt
John Bright als einen Volkshelden zu feiern, der den großen Kampf gegen das
Privilegium, welcher auf wirthschaftlichem Gebiet glücklich durchgeführt ist, nun¬
mehr auf das politische verpflanzt, um auch hier den leidenden untern Classen
zu ihrem Rechte zu verhelfen. Diese Auffassung scheint »us eine oberflächliche
und falsche. Bright trat ins öffentliche Leben als Genosse und unter den
Auspicien Cvbdens, als Mitglied des Bundes gegen die Korngeseue. und er
hat als solcher durch die Energie seiner Ueberzeugung und Beredsamkeit wackere
Dienste geleistet. Cobden war trotz seiner großen Verdienste durchaus einseitig
der Freihandel war für ihn das Maß aller Dinge; aber er war ein prak¬
tischer und weiser Mann und setzte, nachdem der Zweck der Ligue, die Abschaf-
fung der Korngesetze, erreicht war, ihre Auslösung durch, während Bright sie
erhalten und für politische Agitation brauchen wollte. Sein Ansehen war bei
seiner Partei so g>oß. daß Bright sich ihm unterordnete so lange er lebte. Nach
seinem Tode aber, dem der Tod Palmerstons bald folgte, trat Bright als poli¬
tischer Agitator hervor. Der Grundzug seines Strebens ist ein glühender Haß
gegen die englische Aristokratie und eine ebenso ungemessene Bewunderung der
amerikanischen Institutionen, die er deshalb auf britischen Boden verpflanzen
will. Schon dies Ziel muß gegen die politische Einsicht des Mannes stark ein¬
nehmen; die Radicalen, welche nut ihm England ainerikanisiren wollen, über¬
sehen das entscheidende Moment, welches die Dcmvüatie in den Vereinigten
Staate» allein ermöglicht und berechtigt — den Naum. I» einem Lande, das
noch Hunderttausende Morgen fruchtbare» Landes brach liege» hat, kann und
muß dem Individuum der unbeschränkteste Spielraum gegeben werden, mögen
die Regierenden noch so viele Fehler begehen, sie werben mehr als aufgewogen
durch die unerschöpflichen Hilfsquellen des Bodens an Korn, Holz und Mine¬
ralien; Amerika kennt noch keine sociale» Conflicte, weil jeder, der arbeiten will,
leicht eine selbständige und sogar freie Existenz findet. Erst wenn der ungeheure
Contuient einmal bevölkert fein wird, kann dort die Probe aufs Exempel der
Demokratie gemacht werde», da aber, wo wie in den großen Städten die
Handelsinteressen Massen auf einen Punkt zusammendrängen, sind die Ergeb¬
nisse demokratischer Regierung wahrlich »icht erbaulich, wie den» z. B. notorisch
die Verwaltung New-Uorks ein wahrer Sumpf von CorrupNvn ist. von dem
sich jeder anständige Man» fer» hält. Diesen Verhältnisse» gegciüiber nehme
man nun England, eins der dichtbevölkertsten Länder der Welt, wo jeder Zoll
Erde seinen Eigenthümer hat und die P>oductivn durch Kunst aufs äußerste
gesteigert ihn was würde tue Folge el»er Einführung demokratischer Institutionen,
namentlich des allgemeinen Stimnirechts sein? Zunächst nur eine Vermehrung
des aristokratischen Einflusses und zwar ans dem einfachen Munde, weil die
Constitution der Gesellschaft, welche jedesmal den Staat beherrscht, aristokratisch
ist. Der Grundbesitz ist einmal wesentlich in Händen großer Eigenthümer, welche
jetzt durch die von ihne» abhängigen Pächter maßgebend für die Grasschasts-
wahlen sind, in noch erhöhtem Grade aber würde dies der Fall sein, wenn
man allen ländlichen Arbeitern das Stimmrecht gäbe, denn diese sind noch zehn¬
mal mehr abhängig von ihrer Brodherrschaft und es gehört el» eigenthümlicher
Idealismus dazu zu glauben, daß sie gegen dieselbe stimmen würden auf die
Gefahr, ihren Erwerb zu verlieren. Nicht weniger gefügig würden sich die
Wähler der kleinern Flecken zeigen, welche ebenfalls überwiegend von den nach¬
barlichen große» Gruirdbesitzern abhängen, oder glaubt man, daß Gewcrbtreibende
sich um ihrer Principien willen dem Verlust der einträglichen Kundschaft von
Lord und Lady N. N. und aller die vo» ihnen abhängen aussetzen werden?
Es bleiben also für die Kandidaten der Demokratie wesentlich nur die großen
Städte und in diesen wird im Allgemeinen, je mehr man die Wählerschaft blos
numerisch erweitert, dK' Bestechung zunehmen, während man dem jetzigen Wähler,
der iO Pfund Sterling Miethzins zahlt, für seine Stimme vielleicht 2—3 Pfund
Sterling in einer »der der andern Form giebt, wird man, falls allgemeines
Stimmrecht herrscht, Wähler haufenweise für Sixpence oder ein Glas Bier
kaufen können. Die Bestechlichkeit ist in den untern Classen eben allgemein,
schon der kleine Handwerker interessirt sich, wo es sich nicht ausnahmsweise um
eine große nationale Frage handelt, absolut nicht für Politik, die Angelegen¬
heiten des Kirchspiels, seines und andrer Gewerbe finden bei ihm offnes Ohr,
meist auch religiöse Dinge, aber das Wahlrecht ist ihm an sich so gleichgültig,
wie irgendeine philosophische Speculation und macht man ihm ein Geschenk
damit, so verwerthet er es bestmöglichst, indem er es verkauft. Die Protokolle
der Commissionen in Besiechungsfällc» zeigen fortwährend die naivsten Geständ¬
nisse von Leuten. welche es gar nicht begreifen können, das! es unrecht sein
solle, ihre Stimme, die doch ihr Eigenthum sei. so gut wie ihr Pferd zu ver¬
kaufen.
Diese politische Gleichgültigkeit der unteren Classen und ihre Folgen' ist
nun auch Bright nicht entgangen und er hat das Interesse zu wecken gesucht
durch die socialen Ziele, welche die Reform des Unterhauses verwirklichen sollen,
er will vor allem den großen Grundbesitz, welcher der Aristokratie Einfluß giebt,
brechen, einer seiner Anhänger im Parlament sagte uus offen! ,,^Ve kchg.II novvr
Me ü. Aponi g'ovvi'irmvirt, uirlvss riä ok tlrvsk infernal 1n.rAg estates,"
England soll demokratisirt werden, indem diese großen- Güter in kleine zertheilt
werden. Indeß abgesehen davon, daß, wenn dieser Plan im ganzen Königreiche
verwirklicht wäre, doch nur ein verschwindend geringer Theil der jetzigen Nicht-
besitzer zu Besitzern gemacht werden könnte, so leuchtet es ein, daß die Bcrwirk-
lichnng allein durch eine gewaltsame socialistische Nevvlntio» möglich wird. In
England bestehen bekanntlich keine Majorate oder Fideicommisse. sondern nur
Substitutionen auf höchstens drei Generationen und blos bei Instetaterbfolge
gilt die gesetzliche Präsumtion für die Erstgeburt, man müßte also nicht nur
letztere, sondern auch die Freiheit lctzwilligcr Berfügnng abschaffen und gesetzlich
zwangsweise Theilung des Grundbesitzes einführen. Bright würde nun davor
wahrscheinlich nicht zurückschrecken, sondern nach seiner letzten Rede in Irland
noch ganz anders in das Bestehende eingreifen wollen. Dort hat er nämlich vor¬
geschlagen, die Regierung solle Besitzungen aufkaufen, zerstückeln und an kleine
Leute verkaufen, während grade die Sitte des MvvIKmÄ, der Zerstückelung der
Pachtungen, das Unglück Irlands ist. Er würde daher auch gewiß gern zu
ähnlichen svcivvillA mvasurvt; in England greifen, wenn es nicht gänzlich außer
dem Bereich der Möglichkeit läge, sie durchzusetzen; glücklicherweise ist gar keine
Chance für solche socialistische Experimente und die ungeheure Majorität aller
Engländer würde schon die Aufhebung der Testirsreiheit oder auch nur die Ein-
führung der Vorschriften des Code Napoleon als einen Eingriff in die persön¬
liche Freiheit ansehen.
Nicht weniger hat Bricht sich durch die Hineinziehung der gewerblichen
Genossenschaften (traclvs uiümi») in den Neformstreit geschadet. Bis 1824 war
jede Coalition der Arbeiter gesetzlich verboten, natürlich ward sie dadurch nicht
gehindert, sondern bestand im Geheimen und nahm eventuell die schlimmsten
Forme» gewaltsamen Aufstandes an. 1824 wurden diese combination laws auf¬
gehoben und damit die Freiheit der Coalition zugegeben, dies war durchaus
richtig, denn jeder Arbeitende hat das natürliche Recht, den Werth seiner Arbeit
selbst zu bestimmen; aber damit ist die Frage nicht gelöst. Ein Zusatz zum
Gesetze von 1824 verbot zwar jeden Zwang und Einschüchterung anderer
Arbeiter, welche sich mit geringerem Lohne begnügen wollen, aber thatsächlich
ward durch die triiäus unions bald eine unerhörte Tyrannei sowohl über ihre
Mitglieder als gegen Ansicnsteher.de eingeführt. Ihre Leitung fiel gänzlich in
die Hände der Chefs, welche, selbst ans der Gcscllschaftstassc unterhalten, den
Arbeitern vorschrieben, zu welchen Lohnsätzen sie allein arbeiten dürften; jeder,
der sich untersteht dieser Diktatur entgegenzuhandeln und lieber etwas weniger
als nichts verdienen will, wird mit Bann belegt und in aller Weise verfolgt,
nicht minder aber anch die außerhalb der Genossenschaft Stehenden. Im An¬
fang hat die Association unzweifelhaft das Verdienst gehabt, die niedrigen Löhne
zu erhöhen, durch welche die Fabrikanten oft ungeheure Gewinne machten, in¬
deß die Steigerung des Lohnes hat ihre natürlichen Grenzen und wenn dem
Unternehmer sein Capital nicht mehr leidlich rei'dire. so wird er nach den ein¬
fachsten ökonomischen Gesetzen lieber aufhören zu arbeiten, als sich Verlusten
auszusetzen. Dies sieht aber die Beschränktheit der trnäLS umons nicht ein,
hält vielmehr die Weigerung der Fabrikanten in solchem Falle stets für eigen¬
nützige Bosheit. So ward in diesen Tagen in einer Arbciterversammlnng heftig
getadelt, daß eine Dvckgesellschaft 2 Procent Dividende Vertheilt: das Geld hätte
zur Erhöhung der Löhne benutzt werden sollen! Als wenn die Capitalien ihr
Geld für nichts hingäben. Eine Schiffsbaugcscllschast erklärt ihren Arbeitern,
sie könne ihnen statt 7 Schilling nur V'/^ Schilling täglich geben und werde
selbst dann keinen Gewinn machen, sondern nur eben ohne Verlust sich Hin¬
halten. Unter dem Druck der Union aber verweigern die Arbeiter diese Reduction,
verdienen nun nichts und fallen der öffentlichen Mildthätigkeit zur Last; wenn
man die einzelnen Leute fragt, so sind sie oft willig genug, sich den geringeren
Satz gefallen zu lassen, aber sie haben beim Eintritt in die Union derselben
unbedingten Gehorsam versprechen müssen und wagen demzufolge nicht zu thun,
was sie möchten, ebenso wenig aber ist es für die Arbeitgeber möglich, fremde
Leute zu engagiren, weil dieselben, wie mehrfache Versuche gezeigt haben, von
den Einheimischen so verfolgt wurden, daß sie nach kurzer Zeit es selbst nicht
mehr aushalten konnten. Die Folge aber ist natürlich, daß sich die Unter¬
nehmungen nach anderen Orten, resp. Ländern hinwenden, wo die Löhne
niedriger sind. Die er-lräes uneins wollen deshalb eine internationale Ver¬
brüderung aller Arbeiter herbeiführen, welche auf eine allgemeine Gleichstellung
der Löhne in Europa hinarbeiten soll, indeß es braucht kaum erwähnt zu wer¬
den, daß dies eine einfache Utopie ist, welche allen wirthschaftlichen Gesetzen
widerspricht.
Es ist nun einer der ernstesten Vorwürfe gegen Vright, daß er, der Mann
der Mancbcsterschule, der Vorkämpfer der Freiheit, niemals ein Wort des Tadels
für dies Gebahren der er-g-ach uuions gefunden hat, welches der National¬
ökonomie wie der Freiheit gleich sehr widerspricht; im Gegentheil hat er stets diesen
Genossenschaften geschmeichelt, weil sie ihm ein willkommenes Mittel waren, die
politische Agitation in die unteren Volksclassen zu verpflanzen. Er hat sich nickt
gescheut, ihnen zu sagen, daß es lediglich die Folge des aristokratischen Regiments
sei, wenn die arbeitenden Classen nicht ebenso gut daran seien wie die Mittel¬
classen und hat ihnen vorgespiegelt, daß wenn nur erst die Pnmogcnitur ab¬
geschafft sei, jeder aus seiner eigenen Hufe sitzen könne; er hat endlich offen
gedroht, wenn Parlament und Regierung das Volk nicht hören wollten, so
werde dasselbe sich mit Gewalt sein Recht verschaffen. Indeß mögen die Un¬
wissenden sich durch solche Trugschlüsse und Drohungen verleiten lassen, die
gebildeten Mittelclassen, in denen die Entscheidung liegt, sind durch diese Dema¬
gogie empört und entschlossen, sich den brightischen Plänen entschieden zu wider¬
setzen. Bright selbst wird durch seine großen persönlichen Gaben, namentlich
seine Beredsamkeit, stets ein gefährlicher Gegner der Konservativen bleiben,
aber daß er seine Ideen durchsetze, ist glücklicherweise nicht zu befürchten.
Nicht mehr Chancen als Brights Theorien hat die idealistische Demokratie
von H. Stewart Mill, welche besonders im Westminster Review verfochten wird.
Mill und sein Freund Hare wollen vor allem den Minoritäten ihren berechtigten
Einfluß sichern und dies soll erreicht werden, indem die Zahl der Abstimmenden
getheilt wird durch die Zahl der Mitglieder der Volksvertretung: jeder Candidat,
der diese Durchschnittszahl von Stimmen hat, wäre gewählt, gleichviel aus wel¬
chen Wahlbezirken diese Summe zusammengebracht würde. Es scheint uns dies
eben ein ganz undurchführbares System; denn wenn z.B. für jeden Candidaten
nur die zur Wahl nothwendige Zahl von Stimmen berechnet werden soll, wäh¬
rend die überflüssigen für denjenigen gezählt werden, der sie nöthig hat. um
sein Stimmrecht voll zu mache», so ist damit doch der Willkür der Wahl-
cvmmissare Thor und Thür geöffnet. Ebenso unpraktisch ist der vorgeschlagene
geistige Census, wonach jeder Wahlberechtigte beweisen soll, die Elemente der
Bildung, wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu besitzen, die höher Gebildeten
aber eventuell mehr als eine Stimme erhalten sollen, dergleichen Chimären
haben in dem praktischen England nicht viel mehr Aussicht auf Erfolg als das
Stimmrecht der Frauen, welches Mill bekanntlich auch verlangt.
Den Radicalen gegenüber steht nun die geschlossene statte Phalanx der
Conservativen, welche offen oder im Stillen jede Reform verwerfen, indeß auch
diese Position ist nicht haltbar. Man mag zugeben, daß ein dringendes Bedürf¬
niß für parlamentarische Reform, wie es offenbar vor 1832 da war, jetzt nicht
besteht, aber die Agitation ist zu bedeutsam geworden, um sie länger zu ignoriren.
Eine krankhafte Aufregung in der öffentlichen Meinung und eine wachsende Ent¬
fremdung der gesellschaftlichen Classen sind schon genügende Gründe für einen
consiitutionellen Wechsel, Die englische Verfassung hat bisher wie die römische
Kirche gesucht, so viel wie möglich sich die Kräfte einzuverleiben, welche sich
sonst wider sie gewandt hätten, und wahrscheinlich liegt in einer größern Be¬
theiligung der arbeitenden Classen am Wahlrecht das Mittel, jene» ungesunden
Geist, der sich jetzt in, den er^ass unious und andern politischen Gesellschaften
breit macht, zu bannen. Das Unterhaus wird durch solchen Wechsel vielleicht
wenig bedeutende Mitglieder gewinnen, aber es wird an Macht und Einfluß
wachsen, wenn die arbeitenden Classen nicht mehr behaupten können, daß sie
dort unvertreten seien und die Herren Bcaieö und Patter würden, wenn sie
darüber nicht mehr zetern könnten, wahrscheinlich in die verdiente Unbedeutend¬
heit zurücktreten. Es ist in der That die durchgehende Ueberzeugung der ein¬
sichtigen Mittclclasse wie der gemäßigten Presse, daß eine verständige Reform
in diesem Sinne nothwendig sei und grade die gegenwärtige Regierung hätte
gute Chancen, eine solche durchzusetzen. Der Grund liegt in den Parteiverhält¬
nissen, die Liberalen wissen, daß sie, um die Unterstützung der Radicalen zu er¬
langen, bei einer neuen Bill weiter gehen müßten als im vorigen Jahr, sie
Würden dann aber ebenso sicher die Majorität der Tones und Adullamitcn gegen
sich haben, der sie 1866 unterlagen, wollte» sie aber ihre Verbindung mit den
Radicalen aufgeben und eine Bill vorlegen, welche die Mittelpartei acceptirte,
so hätten sie Tortes und Radicale gegen sich, sie würden es daher nicht ungern
dem gegenwärtigen Ministerium überlassen, eine Bill durchzubringen, welche ge¬
mäßigten Ansprüchen genügte, zumal es ihnen nicht schwer fallen würde, das
Cabinet in einer andern Frage zu stürzen, sobald es ihnen diesen Dienst gethan.
Indeß eine solche Bill ist auch für die Tones nicht leicht, weil sie in dieser
Frage unter sich uneins sind, Lord Derby, Lord Stanley und namentlich Dis-
raeli sehen sehr wohl ein, baß mit bloßer Negation nichts gethan ist und eine
positive Lösung versucht werden muß, andere Minister dagegen, wie General
Peel und Lord Crcnrborne haben sich früher entschieden gegen jede Reform aus¬
gesprochen und wollen sich jetzt nicht in Widerspruch mit ihrer Vergangenheit
setzen. Dieser Zwiespalt hemmt die Regierung in jedem positiven Vorgehen,
denn die ganze Stärke der Konservativen lag bisher in der Disciplin ihrer
geschlossenen Reihen, während die Gegner getheilt waren, eine ernsthafte Reform-
bill Disraelis aber würde ans ihre Partei wahrscheinlich dieselbe Wirkung äußern.
wie Sir Robert Pacif Secession von 1846. Indeß ist es unmöglich, einfach mit
leeren Händen vor das Parlament zu treten, die Regierung kann weder erklären,
daß eine Reform unmöglich sei, weil das Haus untadelhaft zusammengesetzt sei,
noch vorschützen, daß die Frage nicht reif sei und erst gründlicher studirt werden
müsse, noch eingestehen, daß sie unter sich nicht einig und deshalb bereit seien,
die F>age der unparteiischen Erwägung einer königlichen Commission zu unter¬
breiten, die Antwort würde in allen drei Fällen ein Amendement zur Adresse
sein, welches das Ministerium sofort stürzen müßte. Es wäre aber möglich,
daß das Cabinet offen die Nothwendigkeit der Reform anerkennte und seine
Bereitwilligkeit kundgäbe sie aufzunehmen, sich aber den Zeitpunkt dafür vor¬
behielte, weil augenblicklich dringlichere Fragen eine Lösung erforderten, so z. B.
die Reorganisation der Armee und Flotte, die Regelung der Verhältnisse zwischen
Arbeitern und Arbeitgebern, sowie in Irland zwischen Pächtern und Grundherrn,
die municipale Reform in London, die Ausgleichung der Armensteuer u. s. w.;
diese Dinge müßten erst ans dem Weg geschafft werden, ehe man an die Paria-
mentsreform gehen könne, wolle die Opposition sich dem widersetzen, so werde
die Regierung wenigstens an das Land appelliren, d. h. zur Auflösung schreiten.
Dieser letzte Drücker würde wohl seine Wirkung nicht verfehlen, da wenige Mit«
guater sich danach sehnen werden, sobald schon wieder die Kosten einer Neuwahl
zu bezahlen. Das Experiment könnte freilich, falls es wirklich gemacht wird,
für seine Urheber ziemlich bedenklich ausfallen, denn die Wahlen würden sicher
die Reihen der Tories erheblich lichten.
Ein andrer Weg steht der Regierung offen, indem sie vorschlagen könnte
to xroeevä b/ vt' iWvlution, wonach man von allgemeinen Axiomen
ausgehend der praktischen Frage allmälig näher tritt und so eine sichere Unter¬
lage für die Bill gewinnen würde. Man würde also z. B. davon ausgehen,
daß die gegenwärtige Vertretung nicht genügend ist, dann sagen, daß die arbei¬
tenden Classen in irgendeiner Weise directer bei den Wahlen betheiligt werden
sollte», dann diese Art näher bestimmen u. s. w. Es ist kein Zweifel, daß
wenn das Haus überhaupt diesen Weg einschlagen will, die Regierung um so
leichter ihre Resolutionen durchbringen würde, als Disraeli ein ausgezeichneter
Parlamentarischer Taktiker ist, der das Temperament der Versammlung genau
zu beobachten versteht und schon seinen Weg fühlen würde. Die Hoffnung der
Conservativen liegt in der Getheiliheit ihrer Gegner, sie rechnen darauf, daß
eventuell Gladstone sogar kein Ministerium bilde» könnte. Jedenfalls wird die
Frage, ob Lord Derby sich halten kann oder nicht, gleich zu Anfang der Session
entschieden werden, denn bei der großen Majorität steht es fest, daß ein bloßes
Hinausschiebe» der Reform unthunlich uno gefährlich wäre, die Agitation würde
sich steigern und mit ihr die Forderungen wachsen. Man darf es als die Ueber¬
zeugung der Mehrheit der gebildeten Classen ansehen, daß den Arbeitern eine
Äetheiligung am Wahlrecht zugestanden werben muß, aber nur eine begrenzte,
damit nicht von ihrer Wahl die Majorität im Parlament abhängig werde, nicht
die Masse, sondern nur die qualisicirte», strebenden Arbeiter sollen zugelassen
werde».
Im Wesentlichen wird die künftige Reformbill darauf hinauslaufen müssen,
daß einer Reihe von kleineren Flecken das Wahlrecht oder el» Mitglied entzogen
wird und die so disponibel werdenden Sitze unter die Grafschaften und größere
Städte vertheilt werden und daß zweitens die Qualifikationen der Reformbill
von 60 Pfund Sterling Pacht und 12 Pfund Sterling Miethe herabgesetzt
werden/) außerdem dürften eine Neihe von sogenannten t'g,ne^ ÜAlicluLos fest¬
gesetzt werde», wie sie schon Lord Rüssel früher vorgeschlagen, z. B. daß jeder,
der gewisse Prüfungen bestanden, eine Stimme haben solle, ebenso jeder, der
ein gewisses Einkommen aus öffentlichen Fonds beziehe oder eine bestimmte
Summe in der Sparkasse besitze u. f. w. Diese Hauptgrundzüge lasse» freilich
sehr viele Modalitäten zu, aber es wird sich darüber sowie über den Gang des
parlamentarischen Kampfes schwerlich Näheres voraussagen lassen, denn die
englischen Parteiverhältnisse sind so verschoben, daß unerwartete Zwischenfälle
eine große Rolle dabei spiele», wie die Geschichte der Vorigen Session hin¬
reichend gezeigt hat.
Wie fremdartig auch die socialen Eigenthümlichkeiten der Türken Europas
»och immer erscheinen mögen, das gewöhnliche Urtheil folgt hierin kaum minder
als i» den im vorige» Artikel beleuchteten Fragen vielfach sehr veralteten
Vorstellungen. Auch diesen Winkel der Welt — der beiläufig bemerkt einer
der schönsten ist — hat die moderne Cultur beleckt, und zwar hat sie, so viele
Zwittergebilde uns auch zur Zeit noch als unvermittelte Producte ihrer ersten
Berührung begegnen, zusehends förderlich gewirkt. Dies gilt ganz besonders
vom häuslichen Leben und von der socialen Stellung der Frauen. Daß die
Türkinnen von heute durchaus nicht das Kerkerleben führen, welches die land¬
läufigen Haremsfabeln schildern, davon kann man sich auf jedem Ausgang, vor
allem in den Bazars oder bei den großen Volksfesten überzeugen. Dort be¬
wegen sie sich fast ebenso ungehindert wie unsere Frauen.. Ihre Tracht, jene
dichte Verhüllung des Gesichts hat ebenso in dem Klima ihren Grund, wie in
angeblichen Schicklichkeitsrücksichten; das begreift man an Ort und Stelle sehr
bald. Die Griechinnen des Alterthums trugen sich in einzelnen Strichen ganz
ähnlich, in Megara noch heute so. Da unsre Damenhüte glücklicherweise bei
den Türkinnen noch nicht eingebürgert sind, mußten sie sich anderweitig gegen
den Sonnenbrand schirmen; seht freilich macht die abendländische Mode mehr
und mehr Glück, und man sieht oft vornehme Damen mit dünnen Florschlciern
und Knickern umherlaufen, eine Stillvsigkcit, die natürlich komisch wirkt.
Aber auch in dem Hause ist von einer Absperrung immer nur im be¬
schränkten Sinne zu sprechen. Große Zurückhaltung und Scheu den Männern
gegenüber charakterisirt auch die Frauen der Güechcn, Serben und aller übrigen
Völker der Balkanhalbinsel. Sie ziehen sich zurück, wenn ein Fremder oder ein
andrer als ein Verwandter das Haus betritt; einen Blick in das Familien-
zimmer zu thun, hält dort ebenso schwer wie bei den Türken. Nur in großen
vornehmen Häusern ist der Harem von der andern Wohnung völlig getrennt,
in der Regel so, daß er das Hauptgebäude ausfüllt, der kleinere Seitenflügel
aber die Männerwohnung bildet; in kleinen Haushaltungen beschränkt er sich
auf einen Raum, den wir Kinder- und Familienstube zu nennen pflegen; Ver¬
wandte haben dahinein Zutritt, Fremde nicht; umgekehrt erscheinen die Frauen
aber auch nicht, wenn der Herr Männerbcsuch empfängt. Wird die Familie
eines europäischen Gesandten zum Diner geladen, so machen die Damen vom
Hausherrn geleitet vorher ihren Besuch im Harem, aber keine der Frauen vom
Hause erscheint bei Tische. Ebenso wenig würde die Frau mit ihrem Gemahl
einer Einladung zu einer Gesellschaft von Herren und Damen folgen. Wohl
aber verkehren die Frauen unter einander völlig zwanglos. Die Frau des
Großvezicrs gab ihre auf „Madame Neschid Pascha" lautende Visitenkarte in
aller Form moderner Etikette ab, und die Gesandtinncn besuchen die Paschaiunen
und Prinzessinnen, mit welchen sie bekannt sind, ohne specielles Cemnoniell.
Strenger und klösterlicher ist die Zucht im Harem des Sultans. Aber
auch er selbst ist ja unnahbarer und umgiebt sich mit mehr Nimbus als unsere
Fürsten. Daß dies in noch stärkerem Grade von seinen Frauen gilt, ist ein
Stück altonenlalischcn Zopfes; eine strenge Zucht machen die Palastintrigucn,
Welche bei vier Sultaninncn und ihren Hofstaaten unvermeidlich sind, sehr
nöthig. Die Vorstellungen von orientalischer Herrlichkeit und Ueppigkeit aber
mit denen das Abendland diese Stätten ausmalt, sind sehr falsch.
Einen der schönsten und reichsten Harems soll die Schwester des Sultans
haben, die an den Kapndan-Pascha (Marineminister) verheirathet ist. Es ist
ein stattliches Palais und liegt hart an dem Meere. Die Hauptpforte, welche
sich indessen nur öffnet, wenn der Sultan seiner Schwester einen Besuch ab¬
stattet, sührt in eine große von vielen Hvlzpfeiicni getragene Halle mit sich
anschließenden Arcaden und vielen Nische». Sie stößt unmittelbar an den
Garten, der terrassenförmig de» Berg hinansteigt. Es ist der Versammlungsort
der Sklavinnen, das Ganze ohne jede Pracht, allein durch seine Größe stattlich.
Kleine Logen laufen ringsum, aus denen die Oberinnen de» Beschäftigungen
der niederen Sklavinnen zusehen; hinter der Halle aber öffne» sich zahlreiche
Räume, die größere», in denen die Dienerschaft nach ihren Rangstufen gemein¬
schaftlich speist, die übrige» als Wohnungen. Eine breite mit Teppichen belegte
Marmortreppe führt hinaus in das erste Stock; man befindet sich in einer der
unter» völlig gleichen, nur prächtig, wenn auch nicht geschmackvoll decorirten
Halle. Schöne Tapeten, unschöne Wand- und Deckenmalereien nebst Phantasie-
landschafle», schwere Vorhänge, große Divans ringsum und einige in der Mitte,
und Kronleuchter, das ist der ganze Apparat, das Schönste die zehn Fenster mit
der Aussicht nach dem Meer, welche die Bewohnerinnen freilich nur durch die
kleinen Oeffnungen der Gitter genießen können. An jeder Ecke des Saales be¬
fand sich, ganz wie unten, ein vergittertes, schmuckloses, nur mit Divans ver¬
sehenes Gemach, vo» denen die Prinzessin oder vornehme Gäste den Tänzen,
Spielen und Aufführungen ihrer Hofdame» oder de» große» Hofgesellschaften,
an denen auch Herren theilnehme», zuschauen. Bon dieser Halle aus gehen
dann nach allen Seiten hohe geräumige Wohnzimmer mit golddurchwirkten, aber
geschmacklose» Tapeten, im Uebrigen fast kahl und leer. Divans, Consolen mit
riesigen Stnhuhren, mehre in jedem Zinnner, und Spiegel aller Art bilden das
einzige Mobiliar, die allen türkischen Zunmcrn eigenthümlichen Wandschränke
machen das Uebrige zum größte» Theil überflüssig, I» el»em Zimmer befand
sich auch ein Flügel. — Ava Oberstock führt ein bedeckter Gang unmittelbar
auf die oberen Terrassen des Gartens, welche den Frauen des Hauses gehören,
wie die unteren Räume den Männern. Aber auch hier ist alles sehr simpel,
die Anlagen ohne Geschmack, die mit ihre» Krmsteleie», ausgelegten Wegen,
kleinen Wasserscherze» u»d dergleichen am meisten an die französischen Zier¬
gärten des vorigen Jahrhunderts erinnern.
Auch ohne Einblick in das Innere eines türkischen Hauses hat man reiche Ge¬
legenheit zu beobachten, wie der^Zug der Pietät, vor allem der Kinder gegen die
Aeltern, dem Bolle in oft rührender Weise eigenthümlich ist. Ein Symbol die¬
ser Eardinaltugend des Koran ist in der Sitte ausgeprägt, daß der Sultan, der
sich sonst nie dem Volke zu Fuße zeigen darf, am Tage seiner Thronbc^eigung
nack der feierlichen Ceremonie der Scbwertumgürtung, Siehätten ist, das Pferd
welches die Sultanin Mutter trägt, die sich da allein vor dem Volke unver-
schleiert sehen läßt, am Zügel zu führen, d. h. sich an diesem höchsten Ehrentage
vor aller Welt vor seiner Mutter zu demüthigen. Und daß, was in Konstanti¬
nopel niemand bezweifelt, auch Treue in den Harems zu finden ist, zeigt unter
anderm das Beispiel der zuvor erwähnten Schwester des Sultans, die, als ihr
Gemahl in Ungnade gefallen und verbannt worden war, sofort zu ihrem
Bruder eilte, und. da ihr die Audienz abgeschlagen wurde, ihm Juwelen und
Kronschmnck mit der Erklärung zurücksandte, sie werde dein Pascha in das Exil
folgen.
Es soll kein Attentat gegen die Galanterie sein, wenn wir hierbei auch der
Sklaven erwähnen. Die Stellung der Hörigen in der Türkei ist heute weit
milder als die der Leibeigenen in Rußland bis auf die neueste Zeit war und
gar nicht zu vergleichen mit der Sklaverei der civilisirten Europäer in Süd¬
amerika, Ein öffentlicher Sklavenmarkt in Konstantinopel existirt nicht mehr.
Der Platz, der diesen Namen heute noch führt, trägt ihn nur als historische
Reminiscenz. Wo Handel wirklich vorkommt, wird er heimlich in den Cafes
betrieben; die Waare wird nicht ausgestellt, sondern bis zum geschehenen Kauf
sorgfältig verborgen gehalten. Denn der Sklavenhandel ist seit dem Jahre 18V4
auf Andringen des englischen Gesandten Lord Stratford durch ein Gesetz förm¬
lich verboten, ein Schritt, dem die öffentliche Moral entschiede» vorgearbeitet
hatte. Was nun doch heimlich zu Markt gebracht wird, sind fast ausschließlich
Tscherkcssenkindcr aus dem Kaukasus, die sie bringen, die eigenen Väter, was
sie aber dazu treibt, meist Noth und Armuth. Wie die Schweiz und Savoyen
von jeher ihre Jugend der Armuth und Übervölkerung halber ins Ausland
geschickt haben, damit sie dort ihr Brod finden. — wie die Armenier aus ihrem
armen, rauhen Bergland zu Tausenden nach Konstantinopel kommen und dort
Dienste nehmen, so wählt der uncivilisirte Tschcrkessc dies unnatürlichere
Mittel, wie er meint, zum Heil und als beste Versorgung der Kinder. Und
wenn man siebt, welches Pietätsverhältniß zwischen den Sklaven und ihren
Herren in der Regel besteht, wie väterlich und mütterlich diese sich ihres
Eigenthums annehmen, für ihre Erziehung und Wohlfahrt, später für ihre
Verheirathung und Ausbildung, ganz wie für die eigenen Kinder, endlich
für die Freilassung Sorge tragen, so weiß man nicht, oh nicht wirklich die
Kinder bei diesen Adoptivältcrn besser aufgehoben sind als bei den natürlichen.
Fuad Pascha hatte eine Sklavin an seinen Sohn verheirathet, eine andere
"doptirt; eine dritte zehnjährige noch nicht. Als er gefragt wurde, ob er nicht
"und diese adoptiren werde, meinte er sehr bezeichnend für die ganze Auffassung
dieses Verhältnisses! „Nein, das Mädchen wird schön genug, einmal eine große
Heirath zu machen, sie ist dann besser daran als meine Adoptivtochter; gehalten
und geliebt werden sie in meinem Hause gleichmäßig. Aber meine Adoptiv¬
tochter heirathet dereinst nur einen armen Schlucker, der durch mich z» etwas
gelangen will. Die allein und unabhängig, ohne Verwandtschaft und Anhang
dastehende Sklavin aber ist eine Partie für einen Mann, der schon durch sich
selbst etwas bedeutet." — Die Sultani» Mutter war eine georgische Sklavin;
sie wurde als Tochter eines christlichen Priesters in ihrer Kindheit von Türken
gerankt — ein Fall, der damals noch nicht wie jetzt zur Seltenheit gehörte —,
wurde im Hause eines türkischen Großen mit dessen Kindern erzogen und wegen
ihrer Vorzüge dann zur Gemahlin Sultan Mahmuds erhoben.
Daß aber auch die Si'lavcuknabcn Carriere machen können, davon gab es
und giebt es noch in Konstantinopel Beispiele in Menge. Haut Pascha, Groß-
vczier im Anfang der vierziger Jahre und Schwiegersohn Sultan Mahmuds des
Erste», war ursprünglich Sklave; Niza Pascha, im Jahre 1836 Kriegsminister,
war dreißig Jahre früher noch als Sklave Gehülfe im ägyptischen Bazar. kam
dann zu den Sklaven Sultan Mahmuds und stieg zur höchsten Würde im Reich
empor. Der alte Chosrcw Pascha, der wiederholt Großvezicr gewesen war und
hundertjährig im Jahre 18K6 starb, als ältester Zeuge des alten Regime, war
selbst ursprünglich ein verwachsener aus Georgien stammender Sklave und zählte
unter seinen eigenen Freigelassenen wiederum dreiundvierzig Paschas und unter
diesen dreiundzwanzig Vezicrc und zwei Schwäger des Großherrn.
Bei weitem größer als die Zahl der weißen Sklaven ist die der schwarzen.
Aber sie werden nicht mehr importirt, sondern recrutiren sich aus sich selbst,
werden von ben Familien unter der Hand eingetauscht, abgetreten und abgekauft
und müsse», da sie in der Regel nach einer größeren Reihe von Dienstjahren
freigelassen werde», mit der Zeit immer mehr znsammcnschwindcn. Auch ihr
Verhältniß ist mehr das auf Lebenszeit gedungener Dienstleute als rechtloser
Knechte. Sie gehören zum Hausstande der Herren, zur Familie im antiken
Sinn; sie werden ans das Beste gehalten, verheirathen sich im Dienst; ihre
sorgenfreie Existenz bestimmt sie gewöhnlich, auch nach ihrer Freilassung in den
früheren Verhältnissen zu bleiben. Bettler sind unter den Türken keine häufige
Erscheinung, aber wenn sie sich finden, so ist das gewürfelte Tuch (das Abzeichen
der Freigelassenen) grade hier besonders oft vertreten.
Eine schlimme Folge der Sklaverei ist aber die selbstische Jsolirung des
Individuums in der türkischen Gesellschaft. Indem die vornehme Welt und
jeder, der durch Rang, Grundbesitz oder sonstiges Vermögen zu den Wohl¬
habenden gehört, sich in patriarchalischer Weise in seinem Hausstande sein klei¬
nes Reich schafft, in welchem er in glücklicher Selbstzufriedenheit herrscht, inner¬
halb dessen fast alles zum Leben Nöthige von der Händearbeit und Geschicklich-
keit der Genossenschaft bestritte» wird, löst sich die bürgerliche Gesellschaft z»
einer Zersplitterung zahlloser kleiner Paschaliks auf, fehlt es wie einst im Alter¬
thum an Luft und Raum für die Entfaltung eines wetteifernd vorwärts streben¬
den, durch Energie der Arbeit das Volk selbst emporhebenden Handwerker- und
Gewerbestandes.
Darauf führt nach unseren Beobachtungen die Diagnose des kranken
Mannes zunächst: der Kern des Volkes ist am wenigsten inficirt; die Re¬
gierung und der Islam theilen sich in die Schuld.
Die Türkei wird in dreifacher Weise regiert. Es regiert der Sultan je
nach seiner Persönlichkeit in ziemlich willkürlicher Weise; aber da er an Bildung
seinen im Auslande gebildeten Räthen nachsteht, wird er von diesen übersehen
und selbst regiert; es herrscht also eigentlich der Grvßvezier und die Mini¬
ster; in Wahrheit aber auch diese nicht, sondern die Diplomatie der Großmächte,
d. h. da jeder einzelne Vertreter wieder allein zu regieren strebt, bald Oestreich,
bald Rußland, meistens Frankreich oder England, zuweilen hinter den Coulisse»
ein wenig auch Preußen.
Die ersten Versuche, durch Beschränkung des Janitscharenterrvrismus die
Reformen einzuleiten, kosteten Saum dem Dritten den Thlon. Aber er benutzte
die letzten Lebenslage vor seinem gewaltsamen Ende im Gefängniß, den jungen
Mahmud in seine Reformideen einzuweihen und für das Werk derselben zu be¬
geistern. Nun führte ihn derselbe Aufstand, vor dem er sich zitternd und den
sichern Tod erwartend in ein Versteck geflüchtet hatte, dnrch einen wunderbaren
Wechsel aus dem Kerker auf den Thron. So in der Schule des Unglücks und
durch die Schecken des Todes gestählt, ergreift der brciundzmanzigjährige Jüng¬
ling in der verhängnißvollsten Zeit die Zügel der Regierung. Es war eine der
längsten (von 1808—1830) und creignißvollstcn der ganzen türkischen Geschichte,
und seine Persönlichkeit eine der bedeutendsten seines Jahrhunderts, eine
Herrschnfigur von dem Trotz und zum Theil der Wildheit jener Padischahs aus
den Tagen osmanischen Glanzes und vsmanischcr Größe, hineingestellt in die
Neuzeit, deren Segnungen er eingedenk seines Lehrers Selim mit fester Hand
seinem Volke heraufzuführen entschlossen n-ar. Nicht ein fast zwanzigjähriger
Krieg mit Rußland, nicht der Abfall Serbiens, nicht die Empörung widerspen¬
stiger Vasallen, wie An Paschas von In-mira und Mehemed Alis von Aegypten,
nicht die Losreißung Griechenlands kann ihn von der Hauptaufgabe seines
Lebens abbringen, sein Reich zu curopäistren und dadurch zu regeneriren. Er
that es in alttürkischer Weise, mit rücksichtsloser Härte, durch Strang, Gift oder
Kanonen. Seine Regierung.war freilich ein fortwährender Kampf auch mit
inneren Aufständen und Verschwörungen; aber er behauptete sich, denn er war.
gefürchtet. Nur durch scharfe Schnitte konnte dem Lande geholfen werden, und
nun der Damm gebrochen ist, ist alle weitere Arbeit erst möglich und leicht im
Vergleich zur früheren. Er rottete die Janitscharen aus, „diese feurigen Rosse",
wie der'^CHronist Ezaad Effendi sagt, „die in Freiheit auf den Weiden der
Unordnung herumjagten, die sich nicht wollten am Pfahl des Gehorsams fest¬
binden lassen, die sich als Könige des Landes betrachteten, das Feuer unter dem
Kessel der Widersetzlichkeit schürten und an dem Halsband des Gehorsams seit¬
dem." Er vernichtete die Feudalherrschaft, durch welche das Land sich in den
Händen einer Unzahl kleiner Lehnshäuptlinge befand, welche sich möglich selb¬
ständig zu halten trachteten, keine Steuer gaben und eine Centralisation der
Verwaltung unmöglich machten; erst Mahmud theilte das Reich in seine jetzigen
sechsundvierzig Statthalterschaften, schuf ein verhältnißmäßig geordnetes, cen-
tralisirtes Verwaltungswesen und Steuersystem, machte einen Anfang in Eröff¬
nung von Verkehrswegen, Anlegung von Straßen, mit Errichtung eines auf
europäischem Fuße stehenden Heeres und einer solchen Marine, mit Einführung
eines wissenschaftlichen Unterrichts und zeichnete so seinen Nachfolgern nach jeder
Seite hin die Wege vor, welche'sie weiter zu betreten hatten. Verzweifelnd an
seinem Werk, das ihm nur den Haß und die Flüche der alttüitischen Partei
einbrachte und seinem unruhigen Geist zu langsam vorwärtsschritt, überläßt er
sich schließlich dem Trunke und stirbt im einsamen Gemach freudlos und un-
betrauert, aber nicht ohne seinem Sohne noch auf dem Sterbebette die Reformen
dringend ans Herz gelegt zu haben.*)
Nur siebzehnjährig und völlig unerfahren verläßt Abdul Medschid die Ein¬
samkeit und den strengen Gewahrsam des Palastes, in welcher die Prinzen ge¬
halten werden, um den unterwühlten Thron seiner vorfahren zu besteigen. Es
war ein unsägliches Unglück für das Reich, daß dem straffen, fast überstrengen
Regiment jenes osmanischen Vertreters des äespotismö Lclair-ü das schwache
eines Kindes folgte, welches Minister und Diplomaten als Spielball behandelten.
Denn das ist er sein Lebelang geblieben; gutgewillt, eine liebenswürdige, sanfte
Persönlichkeit von fast frauenhafter Milde, aber schwach und schwankend, in¬
mitten rauher Zeiten, die harten Stoff verlangten. Wer ihn gesehen hat, die
schmächtige Gestalt in seinem einfachen Costüm, an welchem nur die diamantene
Agraffe an dem dunkelblauen Mantel und an dem Fez den Kaiser erkennen
ließ, mit dem bleichen, von dunklen Bart umschatteten Gesicht, den tiefen
schönen Augen, die stets voll Schwermut!) auf der Menge zu liegen schienen.
Vergißt den Anblick nie. Der Sultan entzieht sich den Augen des Volkes nicht,
wie so oft noch behauptet wird. Alle Freitage begiebt er sich mit zahlreichem
Gefolge in feierlichem Zuge in die Moschee, das Gebet als Haupt des Islam
selbst zu verrichten oder in seinem Namen verrichten zu lasse», und wer in der
Nähe seines Palastes wohnt, kann ihn auch sonst fast täglich vorbeireiten oder
fahren sehen. Ein längerer Zug von Dienern und Pferden, eine berittene
Escorte, etwas mehr Ceremoniell als schon vornehme Türken nach orientalischer
Sitte beanspruchen, das ist alles. Schweigend vereint ihn das Volk, aber nicht
devot; sehr vereinzelt sind die Fälle, daß einzelne ans der Menge sich vor ihm
niederwerfen, den Saum seines Gewandes zu küssen. Wiederum grüßt auch
>er Sultan nicht anders als schweigend, durch einen Blick. Abdul Mcdschid
verletzte die Etikette und ging darin weiter noch als sein Vater, weiter auch als
nöthig war. Es war ein Zeichen seiner Gutherzigkeit, daß er einst den Dra¬
goman der preußischen Gesandtschaft, der von einem Türken insultirt worden
war, bei der ersten Begegnung auf der großen Hauptbrücke zu Konstantinopel
ansprach, ihm sein Bedauern ausdrückte und Genugthuung zusagte; aber das
Volk murrte, daß er seiner Würde dadurch vergäbe. Er besuchte einen Ball
des englischen Gesandten, unterhielt sich mit den anwesenden Damen — bei
welcher Gelegenheit er, beiläufig gesagt, die preußische Gesandtin sehr an¬
gelegentlich nach der Hausordnung und den Studienplänen des halleschcn Päda¬
gogiums befragte —, ja er besuchte als Zuschauer einen Maskenball bei dem
französischen Gesandten, der ihm freilich wenig behagte, sondern als unsinniger
Mummenschcrz mehr indignirtc. Das war etwas Unerhörtes, galt als ein
Wegwerfen seiner Majestät, als ein Zugeständnis; an die Regierung der Diplo¬
maten. Und wenn man hört, daß der Sultan zu einem dieser Feste eine
Stunde zu früh kam, den Saal noch dunkel, den Wirth und die Wirthin
noch nicht bereit fand, so war das allerdings eine Ungeschicklichkeit, welche auch
bei uns mit der Würde eines Fürsten nicht recht verträglich wäre. Die Türken
machten ihm das begreiflich, indem sie beide Male in derselben Nacht ihm einen
Kiosk am Bosporus niederbrannten; dasselbe geschah, als er einer Musterung
der englischen Truppen bei Scuiari beiwohnte.
Abdul Medschid that das alles aus angeborner Herzensgüte. Wie er auf
die Nachricht, einer seiner Stallknechte sei im Bosporus ertrunken, das Verbot
ausgehen ließ, das er doch bald wieder zurücknehmen müße, niemand solle mehr
im Sunde baden, so folgte er nur dem natürlichen Zuge seines Herzens, der
ihn trieb, sich gegen die Vertreter der fremden Mächte, mit denen auf gutem
Fuß zu stehen sein ernstlicher Wunsch war, leutselig zu zeigen. Eine solche
Natur war mehr zum Behenschtwerdcn als zum Herrschen gemacht. Es war
um Glück, daß ihm Minister zur Seite standen, die in der Schule des alten
Mahmud groß gezogen, den festen Willen und die redliche Absicht hatten, auf
dem Wege der Reformen weiterzugehen, wie Chosrcw Pascha. Haut Pascha.
allem der ganz europäisch gebildete, westlicher Civilisation entschieden zu-
gethane Neschid Pascha, endlich der iniclligcntcste. fcingcbildetstc aller, auch ein
lauterer, von wahrem Patriotismus erfüllter Charakter, die zuverlässigste Stütze
des Reiches noch im gegenwärtigen Augenblick, Fuad Pascha. Aber sie waren
mit Ausnahme Fuads nicht selbst reine und uneigennützige Charaktere genug,
um einem Grundübel der Türkei abzuhelfen, welches in dem corrumpirtcn,
feilen, bestechlichen, intriguanten höheren Veamtenthnin liegt. Sie selbst waren,
wie zuvor erwähnt wurde, zum Theil ans dem Sklavenstande emporgestiegen
und zu sehr noch verwachsen mit den Traditionen des alten Regiments, die
auch unter Mahmud noch nicht völlig hatten abgestreift werden können, und nach
denen jeder höhere Posten vor allem als eine Quelle der Bereicherung, als
Gelegenheit zu Untcrschleifen und Erpressungen betrachtet wird. Daher denn
ein Jagen und Drängen um dieselben, aus den krummen Wegen der Intrigue,
oft auch der Schande, ein gegenseitiges Verdrängen und Stürzen, ein Buhlen
um Gunst und Ansehen bei dem Sultan und alle» Mächtigeren. Haut Pascha,
der ehemalige georgische Sklave, hinterließ 1ö0 Centner an Silberzeug und war
arm im Vergleich zu seinem Gegner Chosrew Pascha, dem er alles verdankte
und den er später doch stürzte. Neschio Pascha kaufte ans diesem Nachlasse
allein für 300,000 Purster, d. h. für circa 12,000 Thaler. Derselbe hatte während
seiner Ministcrpraxis das Thal von Tempe, nicht blos eine der schönsten, son¬
dern auch eine der fruchtbarsten Landschaften der europäischen Türkei, zu erwerben
gewußt. Unmittelbar nach Erlaß eines Hals von Seiten des Großherrn 1854,
in welchem unnachsichtliche Strenge gegen alle Erpressungen und Veruntreuungen
von Seiten der Minister und Beamten in Aussicht gestellt wurde, »ahmen
Raschid Pascha, der damalige Großvezicr, Mehemed Pascha und der Scheik ni
Islam vom Vicekönig von Aegypten Sayd Pascha bei Gelegenheit seines Re¬
gierungsantritts ein Geschenk, jeder von mehr als 80,000 Thaler und machte
Reschid Pascha noch obendrein ein unverzinstes, unvcrschriebencs Anlehen von
670,000 Thaler. Es war das Trinkgeld für die Großwürdenträger des Reiches,
damit sie sich dem neuen Regenten gefügig erweisen sollte». Die seidene Schnur
ist außer Gebrauch gekommen, Verbote bleiben auf dem Papier; das unglück¬
liche Land und Volk aber blutet.
Dazu kamen auch bei gutem Willen Mißgriffe in dem Ncformenwerk selbst.
Man beschenkte das Reich mit einer Art Constitution, im berühmten Hat von
Gülhane, vom 2. November 1839, die doch ein wesenloser Schatten blieb, weil
die Kraft und die Organe, ein gutgeschulter Beamtenstand noch fehlten, um sie
durchzuführen; Zusätze und Ergänzungen wurden nöthig und von Zeit zu Zeit
erlassen und blieben zunächst doch ebenso nutzlos, weil sie dem Volke Güter
gaben, welche erst erworben sein wollen, und deren Bedeutung und Gewinn
es zur Zeit noch nicht einmal versteht, weil sie Formen und Zustände mit
einem Schlage verändern, die naturgemäß sich erst in langsamem Proceß all-
mälig umbilden können. Nutzbarmachung und Erschließung der überreichen
Kräfte, welche als todtes Capital jetzt in dem unbestellten Boden des gcseg-
netsten Landes von Europa litten, durch Hebung des Ackerbaus und der ge¬
werbetreibenden Classe, durch Hineinziehen geschickter Colonisten, durch Anlegung
von Straßen und Beschaffung von Conimunicationsmittcln und Verkehrswegen
aller Art — das sind die einzigen Mittel dem Lande aufzuhelfen, seine zer¬
rütteten Finanzen zu ordnen, Wetteifer und rege Betriebsamkeit unter den auf
ihren einsamen Ortschaften isolirte» Gemeinden, aber auch unter den verschie¬
denen neben einander wohnenden Stämmen und Nationalitäten zu erzeugen und
so die Gegensätze und Differenzen in gemeinsamer Cultur am ehesten abzu¬
schleifen, welche sie zum gemeinsamen Schaden jetzt noch scheiden. Aber Von
dem allen ist seit den Tagen Mabmnds des Zweiten wenig geschehen und es
ist wiederum einzig und allein die Regierung, welche die Schuld trifft.
Wiederum seitdem hat ein neuer Regent den Thron bestiegen. Abdul Aziz,
dem Lande fast unbekannt und selbst unbekannt mit dem Lande, trat aus der
drückenden Haft, in welcher die Thronfolger in der Regel gehalten werden, an
seines Bruders Stelle; denn das Hausgesetz der osmanischen Dynastie bestimmt
das jedesmal älteste Glied der kaiserlichen Familie zum Regenten; so mühte
der Erstgeborne Abdul Mcdschids, »ach unserm Sinn der eigentliche Thron¬
folger, seinem Oheim weichen und vertrauert i» ehrenvoller Gefangenschaft sein
Leben, bis dessen Tod ihn wieder aus dem Dunkel aus de» Thron erhebt.
Selbst den Ministern und dem Gioßvczier war Abdul Aziz bis zu seiner Thron¬
besteigung eine fast unbekannte Persönlichkeit. Die alttürkische Partei erhoffte
in ihm die Stütze des untergehenden Osmauenthums; den andern galt er als
leidenschaftlich, roh und ohne alle Bildung, der sei» Hauptvergnügen als
Thronfolger darin gefunden habe, mit höchsteigner Hand Hammel zu schlachten.
We>s er bis seht gethan, ist wenig Vertrauen erweckend; es läßt ihn als einen
launenhaften, den Reformen wenigstens nicht geneigten, vor allem nicht hin¬
reichend befähigte» Menschen nkennen, der selbst nicht zu wissen scheint was er
will, und vielleicht ist die Vermuthung richtig, daß sei» Geist alterirt ist.
Der Cardinalpuntt, von welchem man die Verkommenheit der türkischen
Zustände herzuleiten hat, liegt immer doch in dem Volke selbst, aber nicht in
einer Fäulniß, sondern in dem Banne, in welchen es geschlagen ist durch den
Koran, der sie absondert von dem Kreise der übrigen civilisirten Völker, den
sie ^icht abschütteln können, alö mit dem Aufgeben ihres Glaubens, aus dem
loszukommen alle gesunde, »ach politischer Entwickelung drängende Kraft sie
treibt, und den doch auch festzuhalten eben die Tüchtigkeit ihres Wesens sie
wiederum zwingt. Diese Agonie reibt sie auf. erzeugt den Schein des Todes.
d>ni „ach außen hin ihr Reich überall darbietet, macht die Wiedergeburt so
schwer, die dennoch möglich ist.
Der Koran bildet den Türken »lebt nur die Urkunde ihrer religiösen Wahr¬
sten, die Richtschnur ihres sittlichen Handelns, nicht allein ihre Bibel, — sui
dern auch Quelle und Norm alles Rechts, aller Gesetze, das Fundament für
alle Maximen der Negierung. ihr voi'MS MriiZ und Staatsgrundgesetz. Theologie
und Jurisprudenz, Staat und Kirche fallen zusammen, aber nicht in dem Sinne
harmonischer Durchdringung und Ausgleichung, sondern wir haben in der Türkei
ein Beispiel unbegrenzter Herrschaft der Kirche über den Staat, völliger Knebe¬
lung des Staates durch die Kirche. Jedes neue Staatsgesetz bedarf des Fetwa,
d. h. des billigenden Gutachtens von Seiten des Scheit ni Islam, daß es sich
im Einklang befinde mit den Lehren des Koran. Und wollte das geistliche
Oberhaupt über diesen Punkt hinwegsehen, so würde der Stand der Richter als
zugleich der Geistlichen sich erheben zu einem Veto, das in dem einfachen Ge¬
müth des gläubigen Moslem lautes Echo fände.
Es war ein kläglicher Nothbehelf, zu welchem die Reformpartei griff bei
allen den Hals, welche das alte Türkenthum in die Bahnen des civilisirten
Europa hineinziehen sollten, daß sie die mangelhaften Zustände der Gegen¬
wart und die ihnen zu Grunde liegenden Mißbräuche auf Mißverständnisse des
Koran zurückführte und die bessere Auslegung desselben als Norm politischer
Neugestaltung hinstellte. Aber es war der einzig mögliche Weg. Die Armuth
und Unzulänglichkeit des Koran als eine Rechts- und Gesetzcsquelle war schon
bald nach seinem Entstehen gefühlt worden. Man berief sich indeß auf münd¬
liche Aussprüche Mvhcuneds, dann auf Beschlüsse des ersten Kalifen, endlich auf
die Verordnungen der ersten Jnuuns, nach deren Analogie ziemlich willkürlich
Verfahren werden konnte, wofern sich nur geschmeidige U!ümas, ein einverstan¬
dener Scheik ni Islam fand. Man brauchte jetzt nur rückwärts auf demselben
Wege die ganze Tradition über Bord zu werfen, die Herstellung des alten
Korantextes zu erwirken, aber man begreift, daß das heißt, die Axt an die
Wurzel des Muhamedanismus legen, wie es den Katholicismus vernichten
würde, nähme man ihm die Tradition. Und auch so ist das Experiment immer
von der Zufälligkeit williger Organe abhängig.
Eine Persönlichkeit wie Mahmud der Zweit/schuf sie sich, als er die Ja-
nitscharen vernichten wollte, welche den früheren Sultanen als eine Schaar von
tapferen Glaubenskämpfern galten, auf deuen der Segen Gottes und der Blick
der Rechtgläubigen ruhte, berief er alle Ulömas, ergriff die Fahne des Propheten
und fragte den Scheik ni Islam: „Welche Züchtigung verdienen Empörer, welche
gegen den Padischah sich erheben?" Und der Scheik schlug den Koran auf und
las: „Wenn Ungerechte ihre Brüder angreifen, so bekriege sie." Mahmud aber
ließ die 20,000 Manu mit Kartätschen niederschießen, ließ den Nest in den
Flammen der angezündeten Kasernen hinter dem Hippodrom — der Platz ist
seitdem wüste — hinsterben und reinigte den Garten des Reichs von schäd¬
lichem und unnützen Unkraut.
Dem Islam und dem Papstthum scheint zu gleicher Zeit die Verhängnis!-
volle Stunde gekommen zu sein. An beide ergeht die Forderung durchgreifen¬
der Säkularisation; die nächsten Jahrzehende müssen entscheiden, welche dieser
mittelalterlichen Mächte zuerst den Entschluß findet, ihr Ewiges zu retten indem
sie ihr Zeitliches aufgiebt. Uns scheint, der Sultan müßte als Nachfolger der
Propheten und Kalifen kraft der Unfehlbarkeit seiner traditionellen Würde die
protestantische That vollziehen, den Koran in seiner Reinheit wiederherzustellen,
indem er die politische Autorität desselben tilgte. Dieses Radikalmittel würde
der Nation ihren Glaubenskanon lassen, aber zugleich die naturgemäße Läute¬
rung desselben anbahnen, und was die Hauptsache ist! es nähme dem Volke den
religiösen Argwohn gegen die Reform. Gewagt wäre das Spiel freilich. Es
könnte unter Umständen Religionskriege blutigster Art innerhalb des Islam
selbst, Krieg der asiatischen Bevölkerung der Türkei gegen die europäische, Auf¬
lösung und Zerfallen des Reiches durch Secessionen im großen Maßstabe zur
Folge haben. Es gehörte eine Persönlichkeit dazu von imponirender Bedeutung,
von wahrhaft großem Geist, aber auch von starkem Arm, ein Reformator auf
den Thron und nöthigenfalls mit dem Schwert. Dazu sind die Aussichten
gering, ja gleich Null. Dennoch ist das keine leere Hypothese. Kann vom
Herrscher vorläufig nichts erwartet werden, so ist nicht unmögluh, daß die reli¬
giöse Krisis im Volke zu einer reformatorischen That drängte. — Wir haben
darauf schließlich noch mit einigen Worten hinzuweisen. Die Kreuzzugszeit
des Islam, wo die Kampflust aus dem Fanatismus Nahrung zog, ist
längst vorüber. Religiöser Eifer im Sinne der großen Erobernngszcit ist
heute nur noch bei einzelnen Stämmen entfernter Reiche der asiatischen Türkei
zu finden, und auch dort regt er sich nicht ohne besondere Veranlassung, die
Türken in Konstantinopel sind weit eher tolerant zu nennen, als fanatisch. Wer
nicht etwa die jetzt beliebten Vergnügungsfahrten nach Konstantinopel mitmacht,
welche von Lohndiener» der Hotels und türkischen Beamten zu den schamlosesten
Prellereien der unwissende» Reisenden benutzt zu werden scheinen — und wer
sich sonst anständig beträgt, kann in Konstantinopel jede Moschee mit Ausnahme
der einzigen von Ejub, in welcher sich die Fahne des Propheten und das Grab
seines Fahnenträgers befinden soll, zu jeder Tageszeit, selbst während des Got¬
tesdienstes unbelästigt und auch ohne Steuer besuchen. Ein wahres Curiosum
von Toleranz ist es doch, wenn Abdul Medschid sichs gefallen ließ, den Hosen¬
bandorden anzulegen, der, was dem Sultan natürlich erlassen wurde, eigentlich
den Schwur verlangt, gegen die Ungläubigen zu Felde ziehen zu wollen. Daß
er sich bei der Gelegenheit weigerte, sein Schwert, wie es das Ceremoniell vor¬
schreibt, auf einen Augenblick abzulegen, ist darauf zurückzuführen, daß dasselbe
für ihn die Bedeutung der Krone hat. wie die Schwertumgürtung die der Krö¬
nung, — und wenn er damals äußerte: „er sei Osmane, und erlange er die
^dre, die man ihm erweisen wolle, nur dadurch, daß er dies vergäße, dann
danke er dafür" — so wird das jedermann in Ordnung finden. Ein starkes
Stück von Duldsamkeit ist es auch, wenn die türkische Garde sich willig
finden läßt, bei dem Fronleichnamsfest der Katholiken vor der Monstranz zu
Präsentiren; ja sie erweist den gleichen Respect sogar beim jüdischen Trauergot-
tesdienst der enthüllten Bundeslade.
Bei einem Theile der Bevölkerung Kvnsiantinvpels ist der Islam nicht nur
zur Toleranz, sonder» sogar zur Gleichgiltigkeit und zum Indifferentismus
herabgesunken. Wenn es vorkommen kann, wie es uns begegnet ist, das! ein
soft«, also ein Lehrer des Koran, den Giaur in den heiligen Mauern der Mo¬
schee selbst mit Spott ans die Verbeugungen eines andächtig sein Gebet ver¬
richtenden Derwisch aufmeiksam macht, oder ihm den Minder (die Kanzel) als die
Stätte zeigt, wo der Ficitagsredncr seine Possen vorbringe, so ist das auch ein
Zeichen der Zeit.
Noch bemerkenswerther erscheint es, daß die Wallfahrt nach Mekka. welche
jeder Muhamedaner mindestens einmal in seinem Leben gemacht haben soll, aus
der Mode kommt und der Abzug der großen Melkat'aravane, welche alljährlich
im März von Sandan abgeht, um der heiligen Kaaba einen kostbaren Teppich
als Geschenk des Sultans mitzunehmen, und ihre Rückkehr im August — ehe¬
mals die festlichsten und feierlichsten Schauspiele der ganzen Stadt — jetzt fast
unbemerkt vorübergehen. Damit stimmt, daß die Erleichterung der Wallfahrt
durch die Dampfschiffahrt die Betheiligung nicht vermehrt, sondern vermindert
hat. Kurz, der Islam des Westens beginnt seinen Zusammenhang mit dem
des Ostens, seine Beziehung zum Centrum zu verlieren; darunter leidet natür¬
lich auch die Bedeutung Konstantinopels als Hauptstadt und Borvrt des Islam
und als Sitz seines höchsten Oberhauptes.
Hin und wieder zeigen sich auch neben dem Indifferentismus Anwand¬
lungen eines neuen Geistes und entschiedenes Bedürfniß nach höherer religiöser
Wahrheit. Den deutlichsten und mächtigsten Ausdruck findet diese Gährung im
Schooße des Islam selbst, im Orden der Derwische, einer der interessantesten
Erscheinungen der Türkei. Er ist kein Mönchsorden, wie mau häufig annimmt,
sondern eine freie Bereinigung von Männern aller Stände und Classen — der
Sultan Abdul Medschid geholte selbst dazu —, die sich zur Aufgabe machen,
reinen Wandel zu befördern und wohlzuthun, aber die nebenbei auch ihre
Geheimlehren Pflegen. Sie haben bekanntlich ihre besonderen religiösen Andachts¬
übungen, die in einem mystischen Tanze bestehen, welcher den Sphärenreigen der
Weltkörper iymbolisch den stellen soll, wahre Andacht und liefe Versenkung in
drastischer Form vcrsinnlichend. Aeußerlich stehen sie auf dem Boden des Islam,
sind sogar sehr kirchlich, aber in Wahrheit haben sie sich von ihm losgesagt,
und rhr Glaube >se mehr Philosophie, ihre Religion eine Art Pantheismus.
„Wie ein Sonnenstrahl," lautet eines ihrer Worte, das an einen Spruch des
Seneca erinnert, „der Erde und doch immer auch der Sonne angehört, so ist der
Mensch, wenn auch auf der Erde, immer doch eins mit seinem Ursprung, mit
Gott." — „Wie Meer und Meereswellen," sagt ein anderes, „eins sind und
doch verschieden — denn das Meer, wenn es sich erhebt, dringt die Wellen
hervor, und die Wellen, wenn sie sich lege», werden das Meer —, so sind die
Menschl» die Wellen Gottes, im Tode aber fluthe» sie wiederum in ihn zurück."
Die Dcnviscbe sind der Reform zu^cibum, was nicht möglich wäre, wenn sie zu
den Fanatikern oder auch n»r zu de» gläubigen Anhängern des Koran zählten.
Da sie aber in besonderer Verehrung in der Menge stehe», so sind grade sie
eines der wichtigsten Fermente für die Reformation.
Grade diese Erscheinung erklärt nun auch eine andere sehr merkwür¬
dige, welche jüngst besonders lebhaft die Anfmcrtsanrkcit Europas aus sich
gezogen hat: die Neigung der Türren zum Protestantismus. Schon seit einer
Reihe vo» Jahren tan» man dies beobachten; in neuester Zeit aber ist es
stellenweise so auffällig geworden, daß die bis dahin außerordentlich nachsichtige
Negierung plötzlich meinte, Eruhalt thun zu müssen. Die Folge waren die
Ereignisse, welche u»S vor einem Jahre alle Zeitungen meldeten. Christenthum
und Islam sind den Türken im Grunde durch keine so große Kluft geschieden,
wie uns. Christus ist auch ihnen ein großer Prophet, der größte nach Muha-
med. „Ich habe ihm," läßt der Koran Gott reden, „das Evangelium anver¬
traut, eine Verkündigung voll vo» Anweisung und Licht, die das Gesetz Mosis,
welches anch von mir ist, bekräftigt und den Gottesfürchtigen Lehre und Er¬
innerung ist. Aber Dir (Muhamed) habe ich das Buch der Weisheit gegeben,
Welches das Gesetz Mosis und das Evangelium bestätigt und erst erfüllt." Die
Erfüllung und Ergänzung aber besteht nach den, Koran in der Vernichtung der
Trinitätslehrc. in welcher der Islam einen Rückfall in das Heidenthum, in den
Polytheismus sieht. Die Polemik dagegen, daß Christus der Sohn Gottes,
daß Gott der Dritte von Dreien, daß die Christen damit Gott andere Götter
- zur Seite setzten u. s. w. zieht sich durch den ganze» Koran hindurch, und die
Losung: „Es ist nur ein Gott und Muhamed sei» Prophet", ist nicht nur ein
Bekenntniß zum Monotheismus, sondern zugleich ein polemisches Felvgcschrei
gegen daS Chnstcnthum. Daher einerseits die Verachtung, mit welcher die
Türken auf den Katholicismus u»d die griechische Kirche mit ihren Malereien,
ihrem Heiligen- und Bilderdienst herabblicken; andererseits die milde Beurthei¬
lung des Protestantismus, den sie als ein Einlenken zum wahren Glauben,
eine Annäherung an den Islam betrachten. Während es somit unmöglich ist,
daß ein gläubiger Türke je zur römischen oder griechischen Kirche übertreten
sollte, deren Lehren ihm gegen alle Vernunft zu streiten scheinen, fühlt er von
vornherein, schon der Einfachheit des Cultus wegen, mit dem Protestantismus
SNvisse Sympathien. Aber der Protestantismus erscheint weiter auch dem Un-
befriedigten und dem Wahrheilsbedürftigen als eine von demselben Zuge und
Bedürfniß hcrvorgetriebene Erscheinung, die protestantische Kirche als eine
Secte von Freigeistern und Philosophen. ?rote!kenn und Juden-nu ist vielen
gleichbedeutend mit Volturiiur (d. h. Atheisten), l^rumssun (d. h. tiÄne um.MA,
Freimaurer).*) In dieser Begriffsverwirrung hat die amerikanische und englische
Mission den Hebel eingesetzt und in zum Theil sehr verständiger und kluger
Weise das Werk der Evangclisation begonnen. Einmal nahe gebracht kamen
viele durch den Irrthum zur Wahrheit. Die Erfolge waren überraschend und
ebenso laute Zeugnisse für die Toleranz der Türken, wie für die tiefgehende
innere Krisis im Volke.
Schon im Jahre 1886 war unmittelbar vor dem Hauptportal der Aja
Sophia Angesichts der fortwährend aus und einströmenden Geistlichen das
neue Testament in türkischer Uebersetzung frei zum Verkauf ausgelegt. Und
damals wurden sie eifrig Von den Sofias selbst getauft und gelesen, die als
Hüter des Islam gegen das G>se gcfciet zu sein meinten und dann oft am
lebendigsten ergriffen wurden. Einer derselben kaufte einst fünfzehn Exemplare
gleichzeitig, bat den Colporteur, sofort fünfzehn neue zu holen und wartete
heimlich bis auch die zweite Lieferung angelangt war. Monatlich wurden durch¬
schnittlich dreihundert Exemplare des türkischen neuen Testaments abgesetzt; im
Ganzen kaufte der Mittelstand am regsten. Lord Stratfvrd hatte dem Sultan
Abdul Medschid aus persönlicher Zuneigung eine Bibel geschenkt, als er erfahren,
daß dieser sie nicht ganz besitze. Darauf überreichte ihm eine Deputation der
britischen Bibelgesellschaft ein Prachtexemplar; der Sultan scherzte, man wolle
ihn wohl zum Christenthum bekehren, nahm das Geschenk aber freundlich an,
ließ der Deputation den Palast zeigen und las, wie Lord Stratfvrd bestimmt
erfahren haben wollte, noch denselben Abend darin. Schon damals gab es
Cas6s mitten im eigentlichen Konstantinopel, in denen Zusammenkünfte stiller
Anhänger des Evangeliums sich allabendlich zum Bibellesen versammelten. Fol¬
gender Zufall gab neue Wege an die Hand. Eine Sendung ins Persische über¬
setzter Bücher, welche rein wissenschaftliche Widerlegung des Islam zum Inhalt
hatten, gelangte nach Konstantinopel zur Weiterbeförderung. Man hatte ver¬
gessen, das englische Titelblatt mit der 'Notiz „Streitschriften gegen den Muha-
medanismus" zu entfernen. Sie wurden daher von der Douane in Beschlag
genommen, verschwanden aber hier, ehe noch weitere Instruction aus England
ankam und fanden sich dann überall in der Stadt verstreut wieder. Sie waren
gestohlen worden und hatten so weit schnellere Verbreitung gefunden, als alle
absichtlichen Anstrengungen vielleicht zu Wege gebracht hätten. Man ließ nun
sofort noch einen Ballen kommen und noch einmal stehlen; ja es fand sich ein
Türke, der es übernahm, dieselbe Schrift ins Türkische zu übersetzen. Seitdem
wird viel solche Contrebande im doppelten Sinn mit Glück unter die Leute
gebracht.
Jetzt hat der Missionär Schnüffler, der sich erst 18S6 von der Inter-
mission zur Türkcnmission wandte, noch sehr zaghaft, ob Erfolg zu erwarten
sei, den größten Theil der Bibel übersetzt und ist mit zwei übergetretenen Ali>
mas, deren einer Frcitagsredncr an der Aja Sophia gewesen war, der eifrigste
und glücklichste Verfechter des Protestantismus. In den Cas6s, in den Khans
wurde bis zur letzte» Katastrophe im Winter 1864/6S öffentlich gepredigt; man
zählt die Anhänger, wenn auch nicht die Uebergetretenen, schon nach Tausenden.
Und auch über Konstantinopel hinaus greift die Bewegung um sich. In Klein¬
asien trat schon im Jahre 1856 offen ein Pascha zum Protestantismus über,
bei Toxat hat sich eine protestantische Gemeinde aus den Türken heraus bilden
können und ist in stetem Wachsen begriffen. Die jüngsten Ereignisse im Winter
1864/63, die Verhaftung und Wiedercntlassung einzelner Missionäre, die Schlie¬
ßung und Wicdcröffnung der Läden, in welchen Bibeln feil gehalten wurden,
das Berbot, nicht mehr in den Khans und an öffentlichen Orten zu predigen,
die Erlaubniß, es sonst aber nach Belieben zu thun — sind ebenso viele Zeichen
für den Succeß der Lehrbestrebungen in Konstantinopel wie für die Ohnmacht
der Regierung gegenüber dieser Agitation.
Wollte man die Lösung der orientalischen Frage, die Genesung des kranken
Mannes daher erwarten, — so wäre das thöricht und das Resultat nicht ein¬
mal wünschenswerth. Haben die Türken für die verschiedenen Bote'crmcissen
Vorderasiens die politische Mission, sie äußerlich wenigstens zu einem Ganzen
zusammenzuschweißen, wozu kein anderes Element der Bevölkerung des osmani-
schen Reiches irgend gefehlet'der ist, so haben sie in noch höherem Grade den
andere» Beruf, als Hauptvertreter des Islam durch Läuterung und Reinigung
desselben sie der abendländischen Cultur näher zu führen. Keiner anderen nnter
den Nationen der Balkanhalbinsel wird dies zugemuthet werden dürfen, als den
Türken und nicht blos, weil die eigene Kraftlosigkeit des Occidents sie auf der
begehrenswcrlheslen Stelle Europas hat festen Fuß fassen lassen.
So lasse man ihnen denn anch noch, einige Jahrzehnde Zeit zu stetig und
organisch fortschreitender Regeneration. Man gönne ihnen, noch mehr als
b'sser die umbildende Macht der europäischen Bildung an sich zu erfahren;
lasse die Segnungen, die aus Handel und Verkehr mit den übrigen Nationen
>l)»er erwachsen, immer mehr noch Lockspeise n»d Nöthig»^ werden zu einer
freieren Bewegung. Vom praktischen Boden ans kann eine Wiedergeburt
des türkische» Reiches wohl gelinge». Eisenbahnen und Dampfschiffahrt müssen
es hineinziehen in das Getriebe des Weltverkehrs, müssen zurückwirkend Acker¬
bau und Gewerbe hebe», die nicht so sehr ans Trägheit als aus Bedürfniß-
losigkeit darnicdcrliege», — müsst» mit den erwachende» geistige» Bedürfnissen
noch allgemeinere Bildungslnst und Bildungspflege erzeuge». Dann könne»
mit der größeren bürgerlichen und Politiker Emancipation eiidlich auch Mittet
und Wege sich finden, die Fessel» zu zerbrechen. in welche die Kirche den Staat
geschlagen hat. —
Vielleicht zeigen sich — wie es heute steine» will — zuvor die slawi¬
schen Stämme an der Nordgreiize reif dazu, selbstbewußt und selbstthätig a»
der Lösung der orientalischen Frage mitzuarbeiten, so daß die europäische Diplo¬
matie theils hierin, theils in den neu?» griechischen Wirren eine positivere
Haltung gegenüber ihrem bisherigen gemeinschaftlichen Patienten findet und ihn
statt — wie die Sage den Sarg des Propheten — als das Object ihrer gegen¬
seitigen Eifersucht in der Schwebe zu c>halten, als Compensativnsbcute behan¬
delt; wahrscheinlicher dünkt uns, daß die Umwohner der un deren Donau Zeug
genug dazu haben, ihre chronische Krisis ebenso zu überstehen, wie die Nach¬
barn der oberen, deren Staatskranth.it immer von neuem vergleichbare
Symptome zeigt. — Unsere Darstellung hatte »ur den Zweck, durch Streif¬
lichter auf die inneren Zustände der europäische» Türkei zur Modisicirung des
Die Friedenspräliminarien von Villafranca hatte» das große Wort gelassen
ausgesprochen: die Fürsten von Parma, von Modena, von Toscana werden
zurückgerufen werde».
Zurückgerufen von wem? Von Frankreich oder de» andern Mächten? Aber
dies widersprach dein Grundsatz, daß keine fremde Einmischung dem freien
Wunsch der Bevölkerungen entgegentreten solle. Von den Bevölkerungen selbst?
Aber diese dachten nicht im Traume daran. Die Fürsten warteten des Rufs,
der Ruf blieb aus und jene Bestimmung ward von selbst hinfällig.
Gleichwohl feste Frankreich seine Bemühungen fort, die Annexion Von
Mittelitalien an Piemont zu verhindern. Noch am 24. Februar lWV. als die
Nationalversammlungen längst den Anschluß polirt hatte», entwickelte es in
einer Art von Ultimatum seine Porschläge, die dahin ginge», daß Parma und
Modena zwar mit Piemont vereinigt werden, Toscana aber als selbständiger
Staat wieder hergestellt werden solle. Die picmontcsische Regierung theilte den
Toscanern diesen Wunsch Frankreichs mit. Aber an diesen selbst war es in
freier Abstimmung sich zu entscheiden, ob sie den Beschluß ihrer Nationalver¬
sammlung bestätigen oder für die Herstellung eines eigenen Staats sich aus-
sprechen wollten. Sie wählten das erstere, wer konnte das selbständige Tos¬
cana hindern, von seiner Selbständigkeit den Gebrauch zu machen, der ihm
convenirte?
So wußten eine kluge Diplomatie und ein starker Vvlkswille einen Ver¬
trag, der das Einheitswerk verhindern sollte, vielmehr in ihren Dienst zu zwingen.
Wer will da von Unredlichkeit und Zweideutigkeit reden, die vielmehr bei denen
zu suchen sind, welche mit unsittlichen Bedingungen den Aufschwung einer Nation
»iederznhaltc» gedachten. Eben jene williurlichc Schranke erweckte aufs leb¬
hafteste das Gefühl der nationalen Solidarität und viele mochten denken wie
der Toscaner Galeotti. der in seiner Schrift über die erste Legislaturperiode
des Königreichs bekennt: „Mein Glaube an die Einheit datirt von Billafranca,
weil sie mir jene erst möglich schien. Nach Billafranca gehörte kein großer Scharf¬
sinn dazu, zu sehen daß' außer der Einheit kein Heil für uns sei. Wenn die
Feinde Italiens so schnell und vergnügt die Fahne der Föderation annahmen,
zeigten sie uns deutlich, auf welchem Feld wir uns wider ihre Angriffe und
mehr noch wider ihre Ränke sicher zu stellen hatten." —
Nicht so einfach liegen die Dinge im kälteren Deutschland. Auch hier ist
ähnlicher Entwickelung eine bestimmte Schranke gezogen worden. Aber es fehlt
viel zu jenem euunüthigeu Volkswillcn, noch weniger ist von revolutionärer
Leidenschaft etwas zu spüre». Die Souveräne sind nicht erst zurückzurufen, sie
sitzen, soweit sie nicht im Fnetciisvcrtragc selbst beseitigt sind, alle noch mehr
oder wenige, bequem auf iliren Thronen, und der Einheilswunfch ihrer Be¬
völkerungen ist die geringste Gefahr, die sie in diesem Augenblick zu befürchten
haben. Dennoch ist die Aehnlickkeit der Lage unverkennbar. Auch das Billa¬
franca des vorigen Jahres hat Bestimmungen ausgestellt, deren Erfüllung eine
Unmöglichkeit ist. Auch Nikvlsburg hat für den natürliche» Gang der natio-
nalen Geschicke den ^eg »i.'de verschlossen, vielmehr erst ermöglicht.
Noch einmal ist die unglücknchc Idee des reinen Deutschlands ausgelebt in
5"' Erfindung eines süddeutschen Bundes, der ausgestaltet mit internationaler
Selbständigkeit die Staaten diesseits des Mains umfassen sollte. Aber wie,
wen» diese Staaten entweder in den Versuchen eines solchen Bündnisses schei-
terte» oder aus irgendwelchen Gründen diese Versuche nicht einmal anstellten?
W>e, wenn schließlich nur zwei, oder einer, oder gar keiner dieser Staaten sich
^nit, der zu solchem Bunde geneigt war? Wer konnte sie zum Bund der
Liebe zwingen, wenn nun einmal die Neigung fehlte und bei einzelnen die ent¬
schiedenste Abneigung vorhanden war? Dann blieben also diese Staaten vor¬
läufig in der Isolirung, in der völkerrechtliche» Selbständigkeit, die ihnen der
Friedensschluß zugesprochen hatte. Aber wie. wenn auch sie nun von dieser garan-
tirten Selbständigkeit den Gebrauch machten, welcher ihnen der zweckmäßigste
schien, wenn sie dieselbe eben dazu benutzten, um eine Anlehnung zu suchen,
die ihnen werthvoller schien als ein Bund der Schwache»? Auch dies war
nicht zu hindern; es hindern hieße eben die Freiheit ihrer Action beeinträchtigen.
Entschlossen sie sich, ihre Sicherheit in der Anlehnung an die norddeutsche Gro߬
macht zu suche», so war auch dies nur el» legitimer Ausfluß ihrer Autonomie.
Auf diesen Punkt mußte» in der That die süddeutschen Staaten geführt
werden, sobald sie über ihre Lage und ihre Zukunft nachzudenken begannen.
Der Freiheit ihrer Action waren durch die thatsächliche,, Verhältnisse bestimmte
Schranken gezogen. Wie lange sie sich auch sträuben mochten, einmal doch
blieb ihnen das doppelte Eingeständnis; nicht erspart: Unmöglichkeit des Süd-
bnnds und Nothwendigkeit der Anlehnung an Preußen. Es ist bezeichnend,
daß ein Schritt zur Action überhaupt erst dann versucht wurde, nachdem der
größte süddeutsche Staat durch den Mund seines Premicrmin'stars offen jene
Unmöglichkeit und diese Nothwendigkeit proclamirt hatte; bezeichnend, daß ge¬
meinsame Berathungen erst dann stattfanden, als es sich nicht mehr um Her¬
stellung eines eigenen SüdbundeS, sondern nur um gemeinschaftliche Schritte
zum Zweck der Einleitung eines Anschlußverhältnisses mit Preußen handelte.
In diesem Sinne wenigstens verstand Bayern seine Initiative, und nur in
diesem Sinne können die gemeinschaftlichen Verhandlungen überhaupt zu einem
Ergebniß führen.
Man hat häusig die eigenthümliche Doppelstellung Hessen-Darmstadts als
die gegebene Brücke zwischen Nord und Süd betrachtet; sie schien eigens dazu
gcschaffe», um Preußen eines Tags die Möglichkeit zu bieten, seine Hand über
de» Main herübcrzustrccke». Aber mit Recht hat Preuße» — u»d nicht blos
im einseitigen Interesse des Nordbuuds — alles vermieden, was als eine
illoyale Ausbeutung der Verträge gedeutet werden konnte. Mit Recht hat es
eine Militärcvnvenlion mit Hessen ebenso abgelehnt wie mit Baden. Es
mußte unerbittlich auf dem Boden des Vertrags stehend jedes ostensiblen Drucks
auf die Südstaaten sich enthalten. Nur wenn die Annäherung freiwillig vom
Süden gesucht und angeboten wurde, war ein loyaler Weg sür die Ueber-
brückung des Main gefunden, und nur wenn der Süden zuvor selbst sich in
die entsprechende Verfassung versetzt, wird Preußen in der Lage sein, dem An¬
erbieten eines 'Anschlusses, wenn auch zunächst nur in der Form einer Allianz,
zu entsprechen. Dies ist der Grund, warum der Süden sür sich selbst die Ini¬
tiative ergreife» und warum diese Initiative in der Umgestaltung der süddeut-
sehen Wehrkräfte nach dem preußischen System bestehen muß. Die Annäherung
ein das preußische System ist die Probe für den ehrlichen Willen der Süd¬
staaten.
Weit mehr als jene Zwittcrstellung Hessens hat eine andere deutsche Ano-
malie den Dienst jene. Brücke geleistet! der linksrheinische Besitz Bayerns, und
man darf es i» diesem Augenblick Wohl als einen günstigen Umstand betrachten,
das; dieses wichtige Grenzland mit den Festungen Landau und Germersheim
im Besitz des größten süddeutschen Staates ist und diesen damit Frankreich gc-
gcgenüber in die Interessengemeinschaft mit Preußen zwingt. Denn dies war
ja doch wohl das Durchschlagende für die Wendung der bayrischen Politik.
Wie immer Frankreich die Compcnsationsforderung an seiner Ostgrenze formu-
lirt hat oder künftig formuliren mag, Landau wird in jedem Fall in den von
Frankreich beanspruchten Gürtel fallen. Bayern ist damit, sobald die Integri¬
tät Deutschlands in Frage steht, unausweichlich seine Stelle angewiesen. ES
muß die Anlehnung an Preußen suchen, muß zu diesem Zweck „Opfer" bringen,
muß sich der militärischen Führung Preußens unterwerfen, muß ein Allianzver-
hältniß suchen, das „nicht im gegebenen Fall die Freiheit der Entscheidung
gleichmäßig vorbehält, sondern gleichmäßig beschränkt" — über all dieses hat
sich der Fürst Hohenlohe wiederholt und deutlich ausgesprochen und dieser eigent¬
liche Kern seiner Reden wiegt alles auf, was er als bayrischer Minister von
bayrischer Souveränetät hinzugefügt hat.
Die Stuttgarter Konferenz hatte die Zustimmung der anderen süddeutschen
Staaten zu dem politischen Programm Bayerns zur Voraussetzung. Mag sein,
daß der eine oder andere derselben nur mit Wideistreben zu dieser Anerkennung
sich velstanden hat, es sind natürlich Nüancen vorhanden, nicht überall wird
es offen eingestanden, und nicht überall wird es an.geheimen Vorbehalten feh¬
len; aber thatsächlich, kann man sagen, ist es zur Zeit das officielle Programm
des ganzen Südens. Es liegt auf der Hand, daß dies auch aus die Stimmung
des Volks von nachhaltigem Einfluß ist. Die künstlich aufgeregten Wogen des
Hasses gegen Preußen legen sich unverkennbar. Die Idee des Südbunds war
ohnedies nie populär, so laut noch vor Kurzem das Geschrei nach der Koalition
der Mittel- und Kleinstaaten war. Nach der Zerstörung so mancher Illusionen
beginnt der nationale Gedanke wieder eine Stätte in den ernüchterten Ge¬
müther» zu finden. Unter den einflußreicheren Classen tritt die verborgene Hin-
neigung zu Preußen immer sichtbarer hervor, und wo die Sympathien fehlen,
beginnt man sich doch resignirt in das zu schicken, was allen als ein Unver¬
meidliches vor Augen steht, denen nicht am wenigsten, die, als wäre seit einem
Jahre nichts geschehe», unbefangen noch die stumpf gewordenen Waffen ihrer
alten Phraseologie schwingen.
Unter den Schwaben ist es darüber freilich zu lebhaften Parteikämpfen ge-
kommen, die in den Nachbarstaaten wegen der Beschaffenheit der Ministerien
wie der Kammer» mehr oder weniger überflüssig waren. In Würtemberg aber,
wo die deutsche Partei als eine kleine Minorität gegen das Ende des Kriegs
heivorgetreten ist und gegen das Ministerium, gegen die Kammer, gegen die
Volkspartei, also gegen lauter organisirte Mächte des Particularismus den
Kampf aufzunehmen hatte, konnte nur langsam Terrain gewonnen werden. Es
galt neben der künstlich hervorgerufenen Erhitzung der Gemüther zugleich seit
lange im schwäbischen Volke festgewurzelte Vorurtheile und Gewohnheiten zu
erschüttern, es galt für das Verständniß der einfachsten Elemente einer natio¬
nalen Politik erst den Gegnern den Boden abzuringen. Was anderwärts längst
selbstverständlich ist, darum mußte hier nachträglich ein Kampf geführt werden,
und es wiederholte sich in höherem Grade, was schon bei dem Handelsvertrags¬
streit auffällig hervorgetreten war, der eben dann anfing die Gemüther in
Schwaben zu beschäftigen, als die Sache überall sonst entschieden war. Man
konnte sich nicht verhehlen, daß wir alten Träger der Neichssturmfahne, eine
Reminiscenz, die so gern aufgefrischt wurde, nunmehr glücklich bis ins Hinter¬
treffen gerutscht waren, es erfüllte sich das Wort: die Ersten werden die Letzten
sein, und wenn man an das Schauspiel, das die aufsteigende staatenbildende
Kraft des Nordens bot, die Kleinlichkeit und Jämmerlichkeit der Dinge im Sü¬
den hielt, wenn man sich das ökonomische Zurückbleiben im Süden vergegen¬
wärtigte, die Armuth an politischen Persönlichkeiten, den Rückgang der süddeut¬
schen Universitäten, die Abhängigkeit des geistige» Lebens vom Norden, so war
dies alles noch empfindlicher als die Abhängigkeit, an die man jeden Augen¬
blick auf dem Gebiete der Zollpolitik erinnert wurde.
Daß die Volkspartei Himmel und Erde in Bewegung setzte, als sie den
von ihr so sorgfältig bebauten Boden unter sich wanken spürte, versteht sich
von selbst. Ihre Polemik nahm womöglich noch massivere Formen an, auf
diesem Felde wenigstens sollte der Stammeseigenthümlichkeit die Palme gewahrt
bleiben. Von Verfolgung eines bestimmten politischen Gedankens war längst
nicht mehr die Rede. wenn man nicht etwa die unverdrossenen Variationen der
Phrase: durch Freiheit zur Einheit, hierher rechnen will. Mit dem Südbund
konnte man sich nicht länger compromittiren, und Anderes war man so klug
lieber anzudeuten als auszusprechen. Die Hceresfrage wurde zu eine», Scherz
erniedrigt, indem man dreimonatliche Präsenzzeit auf die Fahne schrieb.
Die intime Freundschaft mit dein Ministerium ging unvermeidlich in die Brüche,
man griff es um so heftiger an, je mehr es sich Preußen zu nähern schien;
aber man schmeichelte zugleich der .Krone, indem man ans den „Landesverrat!,)"
der preußischen Partei mit Fingern deutete und den Machthaber auf die betref¬
fenden Paragraphen des Strafgesetzbuchs aufmerksam machte. Man strengte
allen Witz an, um das Wörterbuch der demokratischen Kraftsprache mit kunst-
reichen neuen Wendungen zu vermehren und führte einen Stil in der Presse und
Volksrede ein. der sich durch ein seltsames Gemisch von Burleske und Coulissen-
Pathos charakterisirte. Hatte heute einer dieser Olympier mit Emphase aus¬
gerufen: „Das preußische Volk sitzt zur einen Hälfte »n Zuchthaus, zur andern
in der Kaserne", so gefiel sich morgen ein Anderer in der Maske generösen
Mitleids um das arme, vom Machtschwindel bethörte preussische Volk, das man
um der wenigen Gerechten willen noch nicht ganz verstoßen dürfe, denn so lange
es noch einen Frese und einen Jacoby besitze, sei »och nicht jegliches Band mit
ihm zerschnitten. Fleißig trieb man die Getreuen zu Volksversammlungen zu¬
sammen, insbesondere ans dem Lande unter den „schlichten Bauersleuten" suchte
man viel zu willen, und die affectirte Ernsthaftigkeit, mit der man über solche
Streifzüge in die Dorfschcnken als über große Staatsbegebenheiten spaltenlang
in den Zeitungen berichtete, sollte die Kleinheit der Eefolge decken. Las man
einen dieser Berichte, so mußte man gewaltigen Respect bekommen vor den
„klaren und lichten" Ausführungen, die „in bekannter kerniger Weise" hier zum
Besten gegeben wurden, vor den „ungekünstelten Reden der schlichten Männer",
vor dem „richtigen Verständniß, mit dem unsere Landsleute trotz ihres schlichten
Aussehens,für politische Fragen begabt sind", vor dem „guten Beispiel, welches
die Schwaben durch treues Festhalten am Recht den Brudcrstcimmen geben".
Las man aber wochenlang täglich ein halb Dutzend dieser Berichte, die sich
glichen wie ein El dem andern, so blieb schließlich neben dem Eindruck der
Langeweile doch nur der zurück, daß sich die Verfasser dieser Berichte gewaltig
amüsirten und mit den „freien schlichten, Männern" ihren gnädigen Scherz
trieben.
Das Bewußtsein, für eine verzweifelte und verlorene Sache zu kämpfen,
spricht im Grunde deutlich aus diesem Carnevalstreiben; es ist auch schon in
entschlüpften Geständnissen zu Tage getreten, daß man nicht mehr im Ernst
daran denkt, vom Nesenvach aus den Hebel zur Umwälzung Deutschlands und
zur Vernichtung Preußens anzusetzen. Die Politik der nächtlichen Axt hat selbst
in den dunkelsten Tagen des vorigen Jahres keinen Anklang gefunden. Die
„schlichten Männer" sind wohl zum Unterschreiben von Adressen zu brauchen-
zumal wenn, wie es in einer großen, Landgemeinde der Fall war, der Polizei-
diener das Papier der Vvltspaitci cvlportirt mit dem ermunternden Zuspruch:
„Dia mo all preußisch werda wvllat, sollat unterschreibt,". Aber sie wür¬
den doch sehr ernstlich den Dienst versagen, wenn die Massenerhcbung des Sü¬
dens zur Eroberung der Freiheit je wagen würde, aus dem gefahrlosen Stadium
der Phrase herauszutreten. Schon der verbissene Ingrimm der Gegner ist der
beste Beweis, wie viel Boden ihnen die deutsche Partei, oder in der Kunstsprache
des Föderalismus zu reden, die „s es in al zw el es e lud e n Erfolganbetcr", die
„Knechtsscclcn des Eorporal>hin»s" abgewonnen Habens Zu Neujahr brachte der
Beobachter eine bewegliche Jeremiade über beti Abfall, der eine Bevölkerungs-
classe nach der andern — mit Ausnahme natürlich des „Volks" — ergriffen
habe. In denselben Tagen wurde in der Stadtgemeinde Stuttgart eine Wahl-
schlacht geschlagen, in der zum ersten Mal die deutsche Partei mit ihren Gegnern,
der Volkspartei und den Konservativen. sich zu messen hatte. Die letzteren
trugen zwar mit ihrem Anhang von Beamten und Hofhandwerkern den Sieg
davon, aber die deutsche Partei hatte nahezu doppelt so viele Stimmen auf
ihre Kandidaten vereinigt, als die Volkspartei. Darüber wunderte sich freilich
niemand, der wußte, wie winzig in Stuttgart der Anhang der Faiseure süd¬
deutscher Volksmeinung ist, und welche Anziehungskraft daselbst die wöchentlichen
Abende der deutschen Partei ausüben. Aber es zeigte sich bald, daß dieses
Verhältnis, nicht in der Hauptstadt vereinzelt stand. Auch auf dem Land mehrten
sich die Zechen des Abfalls von den Volksvereinen. Man wagte es endlich,
vom Terrorismus der Partei sich zu emancipnen. Hier wurden nur mit Mühe
Spaltungen in den Vereinen vermieden, dort löste sich ein Verein auf. ein
andres Mal schwenkte gleich ein ganzer Volksverein z» der deutschen Partei
herüber. Begünstigt von dieser Stimmung hielt die deutsche Partei am 20. Januar
ihre xrste Volksversammlung in Ulm, die, trotzdem das; das Terrain nicht das
günstigste schien und die Theilnehmer zur großen Theil von dem nahen katho¬
lischen Oberschwaben kamen. vollständigen Erfolg hatte. Die deutsche Partei
konnte hier die Erfahrung machen, daß sie im Volk ungleich mehr Anhänger
zählte, als sie selbst gehofft hatte, und es war leicht zu bemerken, wie die
Oeffentlichkeit einer großen Versammlung den Muth verlieh, offen sich zu Ueber-
-cugungen zu bekennen, die längst an den Ereignissen gereift nur durch den
Druck des Parteifanatismns zurückgehalten waren. Sucher werden die Erfahrun¬
gen dieselben sein, wenn, wie beabsichtigt ist, solche Versammlungen demnächst
in anderen Landestheilen wi.derholl werden^ '
Man hat es zuweilen mißverstanden, daß die deutsche Partei neben ihrem
ersten und eigentlichen Zweck auch die Agitation für eine innere Landesangelegen-
heit, nämlich für die Wiederherstellung des Gesetzes Vom 1. Juli 1849 auf ihre
Fahne geschrieben hat. Es war damals durch dieses Gesetz an die Stelle der
verfassungsmäßigen Ständeversammlung eine conslituirende aus freien Wahlen
hervorgehende Versammlung zum Zweck der Revision der Verfassung einberufen;
als aber nach dreimaliger Auflösung keine Verständigung erzielt werden konnte,
hob die Regierung einseitig das Gesetz auf. stellte die alten Ständekammern
wieder her, und seitdem wurde viel von Verfassungsrevision gesprochen, aber
feine Hand dazu anührt, Nun war es natürlich, daß mit der Beseitigung des
Bundestags die Frage der Verfassungsrevision wiede» lebhaft in Fluß kam.
und da es voraussichtlich unmöglich war. mit den bestehenden Factoren der
Gesetzgebung zumal mit der Kammer der Standesherren, ein befriedigendes
Resultat zu erzielen, empfahl sich die Zurückforderung jenes einseitig aufgehobenen
Gesetzes, obwohl damit eine Rechtsfrage heraufbeschworen wurde, die natürlich
die conservative Seite anders beantwortete als die liberalen Parteien. Auch
die deutsche Partei hatte allen Grund, diesen Gegenstand ins Auge zu fassen,
wie sie ihn schon auf ihrer constituirenden Versammlung in Plochingen angeregt
hatte. Bildete doch unser mittelalterliches Ständewesen einen fast humoristischen
Gegensatz zu der Einführung des allgemeinen Stimmrechts in Norddeutschland.
Suchte sie sür den Anschluß unseres Landes an Preußen zu wirken, so war es
nur entsprechend, wenn sie zugleich die Nothwendigkeit einer weitgehenden
Vereinfachung der Verfassung und der gesammten Staaatsverwaltung betonte,
und wenn der Eintritt in den norddeutschen Bund für jetzt nicht möglich war,
Würtemberg also als souveräner Staat wer weiß wie lange fortexistirte, so war
nickt einzusehen, warum man säumen sollte, mit einer freisinnigen und ver¬
nünftigen Aenderung unserer Landeseinrichtungen Ernst zu machen.
Eine Zeit lang schien wirtlich die Regierung von dem lauten Ruf nach
Wiederherstellung des 1849er Gesetzes betroffen und in Verlegenheit gesetzt; sie
durfte indeß bald wieder ausathmen. Es war der Versuch gemacht worden, alle
freisinnigen Elemente des Landes zu einem gemeinschaftlichen Feldzug in dieser
inneren Landesangelegenhcit zu sammeln und so einen nachhaltigen Druck auf
die Entschließungen der Negierung auszuüben. Der Plan scheiterte jedoch, wie
kaum anders zu erwarten war. an dem Uebelwollen der Volkspartei, die zwar
in ihrer Weise nun dieselbe Agitation lebhaft in die Hand nahm, aber es dabei
wesentlich auf Förderung ihrer Parteizwecke absah; die Händel mit der preu¬
ßischen Partei waren ihr wichtiger als die Erreichung des gemeinsamen Ziels.
Dadurch wurde nun natürlich der Agitation die Spitze abgebrochen und sie
kann heute schon als mißlungen betrachtet werden. Die Regierung hatte keinen
Grund, das gemächliche Tempo ihrer geheimnißvollen Vorbereitungen für eine
Reform mit revolutionärem Geschwindschritt zu vertauschen. Es darf übrigens
nicht verschwiegen werden, daß die Sache von Anfang an nicht das Interesse
im Volke gefunden hatte. daS vorausgesetzt worden war. Jene Vorgänge in
den Jahren 1849—51 lagen zu weit zurück, um mit der Gewalt frisch empfun¬
dener Unbill zu wirken. Man hatte seitdem Größeres und Erschütternderes
erlebt, und so ungeheuerlich auch Wahlgesetz und Zusammensetzung der Kammern
sind, so war doch jetzt das Interesse durch weit andere Dinge in Anspruch ge¬
nommen als durch innere Reformen des Particularstaats: es fehlte der Glaube
an die Zukunft dieses Staats. Der Arbeiterstand war nicht für eine Agitation
zu erwärmen, die einmal doch einen gewissen Legitimitätsbeischmack hatte, an¬
statt die Forderung des allgemeinen Stuumrechts zum Ausgangspunkt zu nehmen.
Namentlich aber unter den Anhängern der deutschen Partei im Lande war kein
sehr lebhafter Eifer für eine Sache, welche, wie vielfach entgegengehalten wurde,
doch die Kräfte der Partei für einen ihr als solcher ferner liegenden Zweck ein¬
setze, und auf der Versammlung in Ulm war es allerdings unverkennbar, wie
nach den Reden Hölders. Römers, Volks über die deutsche Frage nicht mehr
dieselbe Aufmerksamkeit für den zweiten Gegenstand der Tagesordnung, die
würtenbergische Verfassungsfrage, zu finden war. Das war ein sehr lehrreicher
und willkommener Fingerzeig für die deutsche Partei. Es konnte ihr im Grunde
nur angenehm sein, daß ihr die Agitation für jenes Gesetz von der Volkspartei
abgenommen wurde. Diese war so aufs angemessenste beschäftigt, während die
wachsende Ueberzeugung, daß nur im Anschluß an Preußen die Zukunft Deutsch¬
lands liege, durch nichts aufgehalten wurde.
Wie sehr man sich bereits in dem Gedanken resignirt hat, daß unsere
Interessen nach Norden gravitiren und folglich auch dort entschieden werden, wo
bereits eine staatliche und volkswirthschaftliche Einheit von dreißig Millionen
Deutscher besteht, zeigte sich ausfällig an der Frage des Salzmonopols. Als
zuerst die Kunde von der bevorstehenden Reform verlautete, regte sich wohl
einiger Lärm in der preußenfeindlichen Presse, aber er verstummte bald völlig.
Von Moritz Mohl, hieß es. solle eine vernichtende Denkschrift erscheinen, aber
man darf annehmen, daß das gründliche Elaborat wiederum erst dann das Licht
der Welt erblicken wird, wenn die ganze Frage längst erledigt ist. Die Regie¬
rung hatte, wie dies üblich ist, die Handelskammern zum Bericht aufgefordert,
aber sie drang auf schleunigste Erledigung und gab zu verstehen, daß sie nicht
mit Einwendungen behelligt sein wolle, die voraussichtlich ohne Erfolg wären.
Mit völliger Gleichgiltigkeit ergab man sich in das unabwendbare Schicksal, ob¬
wohl es noch keineswegs feststeht, ob nicht die Staatskasse einen Ausfall und der
Salzpreis einige Erhöhung erleiden wird. Aber diese Gleichgiltigkeit wird mit
der Zeit nothwendig einer ganz anderen Stimmung Platz machen. -Wiederholen
sich solche Vorgänge, so wird man den Zustand, der die Folge der halbjährlichen
Kündigungsfrist des Zollvereins ist, immer unerträglicher finden. Er ist un¬
erträglich für die Regierungen, mehr noch für die Bevölkerungen. Immer nur
nachträglich Ja sagen zu müssen zu dem, was der norddeutsche Bundesstaat
über unsere Interessen beschließt, ist eine Lage, die nur einen Wunsch und Aus¬
weg übrigläßt: politische Vereinigung. Ist erst der Organismus des nord¬
deutschen Bundes in seinem regelmäßigen Gange, sehen wir die Factoren der
Bundesgesctzgebung an der Arbeit, die Unification auf dem Gebiete der Vcr-
kchrsinteressen zu vollenden, und ungehemmt durch ein lidorum veto wider¬
strebender Souveränetäten die Wege des wirthschaftlichen Fortschritts einschlagen,
sind wir Zeugen parlamentarischer Debatten, in welchen unsere Interessen mit
berathen und entschieden werden, so kann es ja nicht ausbleiben, daß die hart¬
näckigsten Antipathien dem Verlangen weichen, da , wo die gemeinsamen deutschen
Angelegenheiten verhandelt werden, gleichfalls Sitz und Stimme zu erhalten.
Der Particulcmsmus giebt die Parole aus: Rettung der süddeutschen
Freiheit, kein Anschluß ein Preußen, der nur Unterjochung wäre! Er sieht nicht
oder will vielmehr nicht sehen, beiß grade der jetzige Zustand für den Süden
vvllstciitdige Abhängigkeit und Unterordnung bedeutet und daß Eintritt in den
norddeutschen Bund nur ein anderes Wort ist für den Geivinn der Gleich¬
berechtigung.
Wird man sich diesen Consequenzen auf die Dauer entziehen können,
obenein, da die Heeresreformfrage^ die wir noch näher beleuchten, den süddellt-
Die Wahlen für den böhmischen Landtag, weint'e seit Wochen in allen
politisch und social hervorragenden Kreisen die Köpfe erhitzten, sind nun voll¬
zogen und gewähren ein Urtheil über die Neugestaltung der auf die nächsten
sechs Jahre gewählten constitutionellen Vertretungskörperschaft des Königsreichs.
Unser Landtag ist sowohl rücksichtlich der Zahl als auch der Qualität seiner
Deputirten bei weitem der bedeutendste im ganzen Kaiserstacit. Auf seinen 241
Sitzen sind die berühmtesten Namen des östreichischen Adels vertreten, und
aus dem böhmischen Landtagssaale entnahmen beide Häuser des letzten östreichi¬
schen Neichsrathes ihre Präsidenten: Fürst Karlos Auersperg und Professor
Hafner. Schon daraus erklärt sich das gesteigerte Interesse, welches den Ver¬
handlungen des böhmischen Landtages folgt. Bei dem hohen Wogengange der
politischen Stimmung Oestreichs war vollends jetzt die Aufmerksamkeit doppelt
gespannt auf die böhmische Wahlurne gerichtet.
Nach der bisher giltigen von Schmerling herrührenden Wahlordnung sind
drei Gruppen von Vertretern unterschieden: Die erste Gruppe umfaßt die Land¬
gemeinden, die zweite die Städte und Jndustrieorte, sowie die Handels- und
Gcwerbekammcrn, die dritte endlich die Großgrundbesitzer. An Leidenschaftlichkeit
kann sich der Kampf, der innerhalb dieser Kategorien geführt wurde, mit allen
gleichzeitigen Wahlkämpfen in Deutschland messen, aber seine Eigenthümlichkeit
liegt darin, daß acht der politische Standpunkt der Candidcitcn die Chancen
giebt — sondern lediglich die Nationalität. Feüdal, klerikal, liberal und
demokratisch, diese Begriffe sind ganz in den Hintergrund gedrängt: das Idiom
der Rede ist schon der Inbegriff des politischen Programms. Im Interesse der
liberalen" Sache ist wahrhaftig ein solcher Wahlkampf nicht und wer sich darüber
freut, das sind einzig und allein die trüben, reactionären Elemente, in deren
Mandl es gelegt >se. den Ausschlag zu geben. So lange sich die beiden natio¬
nalen Gruppen in Böhmen so schroff entgegenstehen, wie gegenwärtig, wird
eine reactionäre Regierung stets freies Spiel habe»; den» sie kann sich je nach
Laune und Vortheil des Einen gegen den Andern zu ihren Zwecken bedienen. —
In der Gruppe der Landgemeinden hatten die Czechen schon im vorigen
Landtage die überwiegende Majorität und dieses Verhältniß änderte' sich natür¬
lich jetzt um so weniger. Von den neugewählten Abgeordneten gehöre» etwa
50 der czechischen. 29 der deutschen Nationalität an. In manchen czechischen
Landgemeinden gingen die Wähler radicaler als früher vor und wählten Männer,
deren Namen aus der Bewegung des Jahres 1848 her bekannt sind oder die
in jüngster Zeit demokratische Gesinnung zur Schau trugen. Dahin zählt der
Fürst I)r. Rudolf Thurm-Taxis, eine der interessanteste» Persönlichkeiten der
czechischen Partei. An der Universität als Jurist studirend schloß er sich den
demokratischen Jungczechen a» und fraternisirte mit denselben auch später in
einer Weise, welche unter seinen Standesgenossen viel Kopfschütteln Verursachte.
In öffentlichen Versammlungen mit Feuer für czecbische Interessen einstehend,
widerfuhr ihm vor einiger Zeit das Malheur, durch den Inhalt einer solchen
politischen Rede mit dem Strafgerichte in Collision zu kommen. Man sprach
anch von einem Hochverrathsprocesse, in welchen der Fürst und mehre Jung¬
czechen verwickelt seien. Der Proceß kam nicht zur Verhandlung, allein Fürst
Thurn-Taxis zog sich „auf höhere Weisung" ins Privatleben zurück, um seine
ohnedies sehr zerrüttete» Finanzverhältnisse zu ordnen. Jetzt hält er den Moment
wieder für geeignet, in die Oeffentlichkeit zu treten uut> seine Wahl zum Land¬
tagsabgeordneten giebt hierzu Veranlassung, vorausgcsept, daß die Regierung
seine Wahl eben wegen jener Antecedentien nicht cassirt.
In der Gruppe der Städte. Judustricorte, Handels- und Gewerbckammern
war das deutsche Element bisher weit überwiegend und die czechischen Abgeord¬
neten sehr vereinzelt. Diesmal sollte sich dies Verhältniß Dank der czechischen
Agitation ändern. Mit Hilfe der Beamten und Geistlichen gelang es ihnen
nämlich, in mehren Städten die nationalen Candidaten durchzubringen und
die Handelskammer von Pilsen, welche deutscher Lässigkeit die Majorisiiung durch
die Ezechen verdankt, entsendete gleichfalls zwei antideutsche Vertreter, während
früher alle Handelskammern des Landes Deutsche wählten, da bekanntlich die
Großindustrie Böhmens in deutschen Hände» ist. So wurde auch in dieser
Gruppe nur mit genauer Noth die deutsche Majorität noch gerettet, indem da¬
selbst jetzt 47 Deutsche 40 Czechen gegenüberstehen.
Die Wahlen aus den Großgrundbesitzern boten diesmal das meiste Interesse.
Während nämlich früher diese Gruppe nur mit sehr vereinzelten Ausnahmen auf
deutscher Seite stand, hatte sich in der jüngsten Zeit der Anhang der mit den
Czechen alliirten Partei so vergrößert, daß sie den Nerfassungsfreundlichen im-
ponirend entgegentrat und auch wirklich den Sieg davontrug. Durchweg
wurden, wenn auch nur mit geringer Stimmenmehrheit, die feudalen Kandi¬
daten durchgebracht. Unter diesen befinden sich nebst den beiden Hauptrepräsen-
tanten der feudalen Aristokratie Oestreichs, den Grafen Clam-Martinitz und Leo
Thun, die Fürsten Lobkowitz. Schwarzenberg. Fürstenberg, Thurm-Taxi?, die
Grafen Thun. Wratislcnv. Wolkenstein, Harrach, Nostiz. Kinsky u, in. A. Im
Ganzen sitzen nnn nicht weniger als 64 Adelige im böhmischen Landtage, denen
sich 13 Vertreter des geistlichen Standes gesellen, eine ultraconservative und zu¬
gleich czechische Phalanx, welche zu durchbrechen es mehr als eines Winkelrieds
bedürfen wird.
Aber eine erfreuliche Erscheinung haben wir bei den letzten Mahlgängen
doch zu registriren. deren Bedeutung nur nicht unterschätzein die feste Organisi-
ning der deutschen Partei im ganzen Lande. Die vom Centralcvmitv in
Prag, a» dessen Spitze Prof. Herbst steht, vorgeschlagenen Candidaten wurden
in den deutschen Bezirken überall gewählt, selbst in Orten, wo aus localen Rück¬
sichten diese Vorschläge nicbt genehm waren, entschied doch die Parteidisciplin
dafür. Sogar in den kleinsten Landbczirken zeigten die Bauer» so viel Beweise
ihres deutschen Bewußtseins, daß man nicht verkennen konnte, die trüben Er¬
eignisse der letzten Zeit haben in dieser Richtung läuternd gewirkt. Von deut¬
schem Bürgerstvlze zeigt es auch, daß Graf Franz Thun, der frühere Abgeordnete
von Tetschen, daselbst nicht wieder gewählt wurde, obwohl sein Vater, der Be¬
sitzer von Tetschen, die verzweifeltesten Anstrengungen machte, das Mandat seiner
„Unterthanen" zu erhalten. Graf Franz Thun hatte in der letzten Landtags¬
session mir den Eichen gestimmt und das verzieh ihm sein deutscher Wahlbezirk
nicht. Ebenso glänzend fiel in einem andern deutschen Wahlbezirke der Negic-
rungscandidat Baron Hesert, eine Hauptstütze der Feudalen und Klerikale» der
Residenz, d»res. Ueberhaupt waren die deutschen Wähler diesmal betreffs der
Wahl von Beamten sehr zurückhaltend und gaben nur jenen Wenige» ihre
Stimme, welche ans dem letzten Landtage trotz des SistirungSministeriuins tren
zur deutschen Sache gestanden hatten.
Neben den Deutschen hielten sich aber auch die Jsraeliten der Hauptstadt
recht wacker. Der von ihnen fast auss.'bließlieb bewohnte Bezirk Prags hat
nämlich zwei Landtagsabgeordnete zu wählen, und da rst leicht begreiflich, daß
die Czechen alle Hebel ni-Bewegung setzten, um die Jsraeliten für die „natio¬
nale Sache" zu gewinnen. Da Versprechungen nichts halfen, nahmen ihre
Organe zu Drohungen ihre Zuflucht und stellten für den Fall, daß im Ghetto
deutsch ge'wählt würde, neue Variationen der religiösen Toleranz in Aussicht,
welches bekanntlich zu den „historischen Individualitäten" Prags gehört. End.
>>es wollte man sich czcchischcrseits zu einem Kompromiß verständigen. Die
Jsraeliten sollten einen czechischen und einen deutschen Abgeordneten wählen,
allein jene litten Einsicht und Muth genug. zum großen Theil für die deut¬
schen Abgeordneten zu stimme», welche auch uni ziemlich bedeutender Majorität
durchdränge».
Alles in Allem genommen ist die deutsche Partei nun im böhmischen Land¬
tage in eminenter Minorität, welche sich fast wie ein Dritttheil verhält, vor¬
ausgesetzt, daß das Bündniß des Adels mit der nationalen Partei fernerhin
von Dauer ist. Wie die Dinge jene stehen, besonders seit dem große» Um¬
schwung in Wien, bietet diese Koalition sehr wenig Hoffnung auf baldige Lö¬
sung. Vielmehr ist zu erwarten, daß in der nächsten Session Czechen und Feu¬
dale um so compacter zusammenstellen, um de» Dualismus in Oestreich nicht
ins L«den Irelen zu lassen. Die Czecden erklären de» Dualismus gradezu für
„das Todesurtheil der Nation", die Feudalen wieder müssen el» Ministerium,
das die altständischen Vorrechte zu vernichten droht, aufs äußerste »»kämpfen.
Man spricht sogar neuerdings davon, Graf Bclcredi ^w.erde selbst hierher kom¬
men und die Opposition gegen seinen Nachfolger im Staat5mi»isterium leiten.
Unsere Hocdtories sind übrigens der festen Ueberzeugung und sprechen dieselbe
gegen jedermann, der es hören will, aus, daß die neue Ministerconstellation
kein halbes Jahr überlebt und daß dann wieder Belcreoi ober — Clam-Mar-
tinitz ans Ruder kommen müsse. Daß an die Beschickung des engeren Reichs-
ralhes unter feinen Umstände» gedacht werden dürfe, darüber sind die Alliirten
bereits vollständig einig.
Den Deutschen dagegen fehlt es sehr an Klarheit darüber, wie sie sich
zu dem neuen Ministerium'stellen sollen. Durch die bitteren Erfahrungen der
letzten Jahre gewitzigt, scheue» sie sich, einem Gouvernement entgegenzukommen,
dessen Pläne noch'in mystisches Dunkel gehüllt sind, und von dem wir trotz
der Prophetie Ihrer „Leipziger Zeitung" doch noch Nichtwissen, ob sein neuer Chef
Baron Beust wirklich der alte „Zauberer" selbst, oder auch bei uns wieder
nur der Lehrling ist.
Mit begreiflicher Spannung sieht man sonach den Erklärungen der Re¬
gierung im nächste» Landiage entgegen. Ein interessantes Schauspiel, auch in
psychologischer Beziehung werden die Czechen bieten, welche in der letzten Land¬
tagssession vor einigen Wochen »och den Mund voll specifisch östreichischen Pa¬
triotismus nahmen und nun plötzlich wieder auf den panslavistischcn Standpunkt
zurückvoltigiren, der Regierung die heftigste Opposition bereiten und schließlich
mit — Preußen drohen. Denn dieses letztere Manöver ist schnell Mode ge¬
worden. Sobald die Czechen sehen, daß es rin ihre» separatistischen Bestrebungen
nicht sonderlich von Statten geht »ut die Regierung denselben den Rücken kehrt,
Verbreiter die nationalen Organe das Gerücht. Preußen rüste und nun wird
mit großer Emphase verkündet, daß nur die Czechen allein das Vaterland vor
preußischen Annexionsgelüsten zu retten vermögen. Die neueste dieser agitato¬
rische» Phantasie», welche gar der sächsischen Dynastie die Wenzelkrvne ansinnt,
wird Ihnen „draußen im Reich" zu lachen gegeben haben. Aber wer bier
innerbalt' der Zustände lebt, die solche Blasen treibe», dem ist ernsthaft genug
Die große Woche der Wahlen ist vorüber, der Verfassungsentwurf des neuen
Bundesstaates ist publicirt.
Die Wahlen erfolgten im Ganzen unter starker Betheiligung der Wähler.
Schon 50°/° ist bei solcher Ausdehnung des Wahlrechts ein hoher Bruchtheil,
die Ziffer stieg an vielen Orten auf 70°/°, ja hier und da bis über 90°/„.
Auch bei dem Experiment der allgemeinen Wahl hat sich die gute Art unseres
Volkes bewährt. Wo nicht die Verstimmung des letzten Jahres noch das Urtheil
verwirrte, war bis in die untern Schichten die Ueberzeugung verbreitet, daß es
jetzt gelte, Neugeordnetes gesetzlich zu befestigen, überall aber suchten die Wähler
Männer, deren Charakter und Auftreten ihnen persönliches Vertrauen einflößte.
Die Warmherzigfeit und Uneigennützigkeit der Wählenden war eine der er¬
freulichsten Erscheinungen des allgemeinen Wahlrechts, möge ein gnädiges
Geschick uns diese politische Redlichkeit für alle Zukunft erhalten. Es waren
diesmal in besonderer Weise Wahlen des gemüthlichen Vertrauens, denn vor dem
Wahlact war wenig bekannt, was dem Reichstag geboten werden würde, Hoff¬
nung und Besorgniß hefteten sich an ungewisse Gerüchte. Es war günstig für
die preußische Regierung, daß sie selbst und die Gesandtenconferenz auf eine
demokratische Mehrheit rechnete, denn nur die Angst vor einem Reichstag, der
den Fürsten alle Souveränetätsrechte abreißen würde, hat die particularistischcn
Forderungen zum Schweigen gebracht und die schnelle Vereinigung herbeigeführt.
Nun sind die Wahlen weit conservativer ausgefallen, als man nach dem
ersten Entscheid größerer Städte anzunehmen geneigt war. Die Masse des
Landvolks stimmte unter dem Einfluß der Schulzen und Landräthe, weil grade
in den kleinen Kreisen die Stimmung des vorigen Jahres noch lebendig war
und eine Agitation für locale J»teressen vorläufig noch keinen Raum gewonnen.
Nur unter der Arbeiterbevölkerung größerer Städte regten sich die Socialisten,
der Reichstag wird wahrscheinlich einige dieser Gesellen zu ertragen haben.
Die Gesellschaft, welche in solcher Weise zuscunmengeladen wurde, ist so
bunt zusammengesetzt als möglich: ein Prinz des königlichen Hauses von Preußen
und neben ihm ein Repräsentant des polnischen Prätendentenhauses Fürst Czar-
toriysky, dann der König der Börse, Freiherr v. Rothschild und (wahrscheinlich)
der gegen alles Capital protcstirende Advoccit Schraps, zahlreiche Herzöge, Grafen,
nicht wenige Landräthe, dazwischen einige Bürgermeister, Juristen, Professoren
neben alten Fractionshäuptern des preußischen und anderer Landtage. Es
fehlen dem Reichstag viele Name»,-welche der Deutsche bei politischer Aphele zu
nennen gewöhnt ist, — noch ist die Wahl Twestens und v. Forckcnbccks nicht ge-
sichert. — aber es wird eine glänzende Versammlung von Namen und Würden
sein, und nicht an einem Maugel großer Titel würde es liegen, wenn ihre
Thätigkeit hochgespannte Erwartungen nicht befriedigen sollte.
Noch ist kein sicheres Urtheil über das Verhältniß der Parteien möglich.
Der Particularisten sind weniger geworden, als man wohl annahm, sie werden,
wenn man alle Schattirungen derselben zusammenrechnet: Holsten, Saxonen,
Polen, Weisen, großdeutsche Demokraten, kaum mehr als 60 Stimmen umfassen
und schwerlich zu cinmüthigcm Handeln vereinigt werden. Die liberale Bundes-
staatspartei wird in ihren verschiedenen Schattirungen schwerlich 100 Stimmen
zählen; mehr als M Drittel der Versammlung, nicht vielmaliger als die Hälfte
gehört preußischen Konservativen an und denen, welche zu ihnen halten werden.
Es wird also eine große Majorität den besten Willen mitbringen, die Verfassung
des neuen Bundesstaates auf Grund der Regierungsvorlage zu vereinbare».
Selten ist ein politisches Actenstück Von Hunderttausenden so eifrig durch¬
forscht worden, als in diesen Tagen der Entwurf der Reichsverfassung. Vor¬
sichtig halten die großen Zeitungen ihr Urtheil zurück, sie sprechen hoffnungs¬
voll von der Thätigkeit des Reichstages, welche das etwa Mangelhafte wohl
noch bessern werde.
Es wird gut sein, wenn die Deutschen das Dargebotene unbefangen wür¬
digen und sich dabei des Weges erinnern, auf dem es gewonnen wurde. Der
Verfassungsentwurf ist eine großartige Concentration des deutschen Lebens bis
zum Main in allen Verkehrsverhältnissen und in allen Machtfragen. Ein all¬
gemeines Bürgerrecht, völlige Freiheit des Verkehrs im Innern und einheit¬
licher Schutz der realen Interessen im Auslande, ein Civilgesetzbuch, ein
Zollsystem und Gleichheit der großen indirecten Steuern, einheitliche Oberleitung
der Telegraphen, Posten, einheitliche Aussicht über Eisenbahnen. Wasserstraßen
und Häfen, eine Buudcsmarine und ein Bundesheer. Einheit der höchsten
politischen Geschäfte für dreißig Millionen Deutsche, dies alles, seit langen
Jahrzehnten ersehnt und erstrebt und immer wieder durch Sonderinteressen und
Eigensinn der Kleinen vereitelt, soll der deutschen Nation wie mit einem Schlage
zu Theil werden. Wer uns vor einem Jahre gesagt hätte, daß solch unerme߬
licher Fortschritt in kurzen zwölf Monaten ins Leben treten könne, dem hätte
wohl keiner von uns geglaubt.
, Ernster wird die Stimmung, wenn wir die Opfer betrachte», welche der
Entwurf der freiheitlichen Eutwickel»»g unserer Nation zumuthet, »ud die Seiten¬
pfade, auf denen er von der» bisherigen Verfassungsleben ableitet. Die Ver¬
fassung des neuen Bundesstaats giebt dem Reichstag nur beschränkten Antheil an
dem Recht der Gesetzgebung. Zwar für das Privatrecht und die Verkchrs-
intcresscu ist diese Gabe dem Reichstage nicht beschränkt, wohl aber im Haus¬
halt des Bundesstaats. In diesem Punkte trägt der Entwurf den Stempel
seines Ursprungs, als ein Compromiß zwischen einzelnen Persönlichkeiten. Er
gewährt für Telegraphen und Posten dem jlieicbstage das Mitbewilligungsrecht in
der Art, das; in jeder Legislaturperiode von je drei Jahren ein Etat vereinbart
werden soll. Der Marincetat soll ebenfalls, aber anders, mit dem Reichstage ver¬
einbart werden, wie? ist nicbt gesagt. Der Etat des gesammten Bundeshceres ist
der Competenz des Reichstages gänzlich und für immer entzogen,*) der Kosten¬
betrag ist nach der Kopfzahl des stehenden Heeres normirt. Als Einnahme¬
quellen find der Bundeskasse die Bcreinszölle und großen Verbrauchssteuern zu¬
gewiesen, der Mehrbedarf soll den einzelnen Bundesstaaten aufgelegt werden,
etwaige Ersparnisse bleiben in der Bundeskasse — wahrscheinlich ist die Absicht,
dadurch einen Bundesschatz zu schaffen—, dein Reichstag werden nur die Ver¬
rechnungen zur Einsicht vorgelegt.
Diese ungleichmäßige Beschränkung des Budgetrechls ist aber im Grunde
nur Consequenz der gesammten Bundesverfassung, welche dem Reichstage eine
nicht Verantwortliche Autorität, das Bundcspicisidium, in einem Beamten des¬
selben, dem Bundeskanzler, gegenüberstellt. Der neue Bund ist, wie der fiühere,
eine Bereinigung souveräner Staaten, welche durch Bertrag auf einen Theil
ihrer Rechte zu Gunsten des Ganzen und der Krone Preußen verzichtet haben,
die Staaten senden Delegirte in einen Bundesrath und haben nach der Ein¬
wohnerzahl ihres Territoriums bei Abstimmungen eine normirte Stimmenzahl.
Aus diesem Bundesrathe werden sieben ständige Conunissivncn gebildet für die
Einzelinteressen, welche in die Competenz des Bundes falle»! mit ti.eher Com¬
missionen besorgt der Bundeskanzler die Geschäfte, durch sie communicirt er mit
den einzelnen Regierungen. Während aber die Commissionen des Bundesraths
die ersten Ansähe zu einem Reichsministerium darstellen, ist andererseits das
Plenum des Bundesrathes als eine Art Staatenhaus auch ein Factor der
Gesetzgebung. Unter der ungleichen Behandlung, welche die einzelnen Artikel
des Berfassungscutwurfes erhalten habe», ist dieser Theil der Bundesverfassung
als ein geistvoller Versuch, cvmplicüte Interessen auszugleichen, besonders inter¬
essant. Grade das Unbestimmte und Unfertige darin ist vielleicht ein Borzug,
denn es liegt in den Commissionen des Bundesralhs allerdings der Keim zu
den wichtigsten Neubildungen, welche unter gewissen Eventualitäten den Schwer¬
punkt der Verwaltung ans einzelnen Ministerien Preußens in den Bundesrath
legen könnten.
Dem Reichstage aber, welcher jetzt zusammentult, wird eine weit andere
Aufgabe gestellt: er soll den Regierungen bestätigen, daß jährlich mehr als
secbzigMillionenThaler für dasBundcsheer von dem Bundespräsidium selbst, oder,
wie in Sachsen, mit Genehmigung desselben, ohne jede parlamentarische Ber-
antwortlichkeit ausgegeben werden, und der Reichstag soll nicht weniger dadurch
gegen das Grundgesetz jedes Verfassungslebens reagiren, daß er für Posten,
Telegraphen und Marine sich das Budgetrecht aneignet, während ihm keinerlei
verantwortliches Ministerium gegenübersteht. Es ist offenbar, daß bei diesem
Punkt ein Gegensah zwischen den Auffassungen des Ministeriums und denen
der nationalen Partei herausbrechen wird.
Denn wenn der Reichstag den gegenwärtigen Verfassungsentwurf in den
erwähnten Bestimmungen annimmt, so wird dadurch zugleich ein tiefer Riß ge¬
macht in die preußische Verfassung, wie in die jedes audern deutschen Staates.
Durch Einführung dieser Reichsverfassung wird der Competenz der Landtage
nicht nur die gesammte Verkehrsgesctzgebung, Civilrecht ze. entzogen, auch die
ihnen ohnedies ungern eingeräumte Berechtigung, die Beziehungen des Staates
zum Ausland in Erwägung zu ziehen; und was die Hauptsache ist, das Budget¬
recht wird ihnen grade für die großen Institutionen genommen, welche die Au¬
torität des Staates gegenüber dem Auslande aufrecht erhalten. — Ihnen werden
die wichtigsten Rechte genommen, dem Reichstag nur ein Theil derselben gegeben,
und zwar unter Umständen, welche den Werth und die Ausübung des Budget¬
rechts fast illusorisch machen.
Ein politischer Grundsatz also, älter als alle modernen Staaten, ist in dem
Verfassungseiitwurfe nicht beachtet. Er lautet: Es ist keine Controle der Staats-
einnahine und Ausgabe durch die Nation möglich, wenn nicht die höchsten
Beamten des Staates der Nation verantwortlich sind. In dem neuen Reichs¬
tage aber vertritt ein Bundeskanzler die Krone Preußen, er fungirt als ihr
Beamter, kein Ministerium steht neben oder über ihm. Ja es ist unter den ge¬
genwärtigen Umständen auch nicht möglich, ein solches Neichsministerium zu
schaffen. Es wäre Widersinn, wenn ein Theil der höchsten preußischen Beamten
dem Reichstage, ein anderer Theil derselben dem preußischen Landtage für
Politik und Thun verantwortlich sein sollte. Solche Zweitheilung der Verant¬
wortlichkeit müßte aber bei einer Weilern Ausbildung der Reichsverfassung
in freiheitlichen Sinne unfehlbar eintreten, und sie würde die Unerträglichkeit,
welche ein Reichstag und ein Landtag mit parallelen Competenzen haben, bei
erster Gelegenheit fühlbar machen. Es ist allerdings wahr, dem preußischen
Landtage sind die Minister zur Zeit nur av M-e verantwortlich, nicht av
kaeto, aber es ist nicht Schuld des preußischen Volkes, sondern der Negie¬
rung, daß sie der beschworenen Verfassung in diesem Pu kee nicht gerecht ge¬
worden ist.
Wir dürfen annehmen, daß der neue Reichstag den Entwurf in einem ge¬
wissen großen Stil behandeln und in allen Ncbenpunkten der Praxis überlassen
wird, das heißt den Erfahrungen bei der Ausführung und den Modificationen.
welche dadurch nöthig werden. Aber das Budgetrecht und die Stellung des
Reichstages zum preußischen Landtage wird jedem der durch das allgemeine Stimm-
recht Erwählten die große Frage werden müssen. Auch die Conservativen ver¬
mögen schwerlich ganz im Sinne des Ministeriums Partei zu nehmen, denn für
sie ist die im Hintergrund liegende Depression des Herrendauses nicht weniger
beängstigend, als für die nationale Partei die Verminderung in den Rechtsbc-
fugnissen des preußischen Landtags.
Wie die liberale Partei ihre Opposition gegen diesen Cardinalpunkt des
Verfassungsentwurfes richten wird, wissen wir zur Zeit gar nicht. Es giebt aber
auch für sie zwei verschiedene Methoden der Amendements, denn sie kann be¬
tonen, daß der Entwurf dem Reichstage zu wenig Befugnisse einräumt/ und
sie darf mit demselben Rechte behaupten, daß er ihm zu viele Rechte zuweist.
Bis jetzt geht der Zug der öffentlichen Meinung dahin, daß man die Kom¬
petenz des Reichstages zu vergrößern suche und darnach ringen möge, ihm
das Budgetrecht für die in seiner Kompetenz liegenden Interessen zu schaffen. Da
aber das Budgetrccht ohne verantwortliches Ministerium ein Unding ist, so
würde in diesem Fall die Opposition auch ein verantwortliches Neichsministerium
fordern müssen, und da ein preußisches verantwortliches Reichsministerium
neben einem verfassungsmäßig verantwortlichen Ministerium des preußischen
Staates wieder ein Unding ist, so würde die Opposition consequent dahin ar¬
beiten müssen, die gesammte Verwaltung und Gesetzgebung des preußischen
Staates in den Reichstag hineinzuziehen. Daß dies vorläufig unmöglich ist, be¬
greift jedermann, es wäre aber, auch wenn möglich, vielleicht weder Conserva¬
tiven noch Liberalen begehrungswerth.
Und diese ungeheuren Aenderungen müßte die nationale Partei in eirmn
Neichsiage betreiben, in welchem sie nicht die Majorität hat, und in welchem
bei jedem Worte, das sie an dem vorgelegten Entwurf ändern will. der
Bundeskanzler ihr entgegenhalten kann, daß die Vorlage nicht mehr den Cha¬
rakter eines einfachen Regierungscntwurfcö habe, sondern daß sie bereits Grund¬
lage zahlreicher Staatsverträge geworden sei, und daß ein vereinigtes Interesse
aller Regierungen und geschlossene Verträge durch jede Aenderung alterirt werden.
Aber die preußisch Gesinnten, welche fest stehen auf der Idee und Kraft
des preußische» Staates, dinser auch behaupte», daß der neue Entwurf dem
Reichstage zu große Competenz einräumt. Sie haben Ursache daran fest¬
zuhalten, daß nur der preußische Landtag, resp, die übrigen Landtage.des nord¬
deutsche» Bundes, welche» Verantwortliche Ministerien zur Seite stehen, das
Budgetrecht besitzen und ausüben dürfen. Der Reichstag ist in Wahrheit nichts
als eine Versammlung von Notabel», welche Gutachten und Ansichten einer
höchsten Instanz, dem Bundespräsidium, d. i. der Krone Preußen, insinuiren.
Wenn der Reichstag dennoch el» Miirecht an der Gesetzgebung in Verkehrs-
intcressen occuput, so geht er schon damit thatsächlich über die Befugnisse hinarrs,
welche staatsrechtlich einer Versammlung zustehen dürfen, der keine höchsten
Staatsbeamten vercnrtwortlicb sind. Wohl aber dürfte die Nation und dürfen
die Landtage der einzelnen Staaten für diese weiten Gebiete realer Verhältnisse,
wo die Interessen der Bundesregierung und der Regierten fast niemals in ge¬
fährliche Differenz kommen, das Recht der Gesetzgebung voiläufig einer außer¬
ordentlichen Versammlung von Notabeln überlassen.
Das Recht dagegen, den Staatssäckel zu öffnen und zu schließen, mühte
auch in dem neuen Bunde dem Landtage des großen Staates bleiben, dem
die höchsten Beamten des Bundes als Staatsminister oder deren Beamte
verantwortlich sind. Da aber nicht der preußische Landtag allein, sondern jeder
Landtag jedes Bundesstaats seine» Antheil an dem Budgelreeht hat und eine
Ausübung dieses Rechtes bei allen einzelnen Landtagen endlose Weitläufigkeit
und Verwirrung schaffen würde, so würde dein Reichstag die Aufgabe zufallen,
die eingeschobenen Artikel über die Bundessiuanzen und die dahin einschlagenden
Bestimmungen anderer Artikel derart zu formuliren, daß, bis die Einsetzung
eines verantwortlichen Rei es S in ini Sterl ums möglich und rath¬
sam wird, dem preußischen Landtage das Budgc'lrecht über Ein¬
nahmen und Ausgaben des norddeutschen Bundes überwiesen
und durch die Volksvertretungen der einzelnen Bundesstaaten
mandirt werde. — In dem Jnterimisticum, das dadurch fürcrst geschaffen
wird, würden den Volksvertretern, welche vier Fünftheile der Bevölkerung des
Bundesstaats repräsentiren, allerdings die Rechte anvertraut werden, welche jetzt
den einzelnen Bruchtheilen der Totalsumme zustehen. Es wäre ein großes Ver¬
trauen. Aber es würde dem preußischen Landtage nicht vorzugsweise deshalb
werden, weil er dem größten Staatskörper angehört, sondern deshalb, weil er
allein zu den Leitern des Bundes in einem Rechtverhältnis; sieht, in welchem
Pflichten, Rechte und Verantwortung gesetzlich festgestellt sind, wie nur zwischen
Angehörigen, zwischen Münstern und Volksvertretern eines und desselben
Staates möglich ist. — So bieten sich der nationalen Partei zwei Wege. Sie
kann volles Budgelreeht für den Reichstag, oder Überweisung des gesammten
Budgctrechts an den preußische» Landtag durchzusetzen suche». Was sie auch
wählen möge, sie wird harten Kampf gegen eine Majorität zu führen haben,
welche gegenwärtig ministerieller ist als die Regierung, und gegen eine Regie¬
rung, welche die Uhr in der Hand die Stunde bestimmt, bis zu welcher alle
Bedenken abgethan sein müssen.
Der erlauchte Reichstag vermag den Preußen und Deutschen das tägliche
Brod des preußischen Landtags nicht zu ersetzen. Aber der große politische Ge¬
danke, welcher in seiner Schöpfung, noch unfertig und vielleicht den Urhebern
selbst zur Ueberraschung sichtbar wird, ist der eines deutschen Herrenhauses.
Allerdings nicht nach der verlebten englischen Schablone.
Der berüchtigte wiener Narrenlhnrm kommt wieder zu Ehren. Denn wo
anders als dort könnte der tolle Wirrwarr der letzten Wochen ausgeheckt worden
sein. Man recapitulire uur die jüngsten Ereignisse-. Nach dem Septemberpa-
tente liegt der Schwerpunkt in den Landtagen, diesen soll nach den ursprüng¬
lichen Intentionen des StaatsmunsterS der Ausgleich mit den Ungarn vor¬
gelegt werden. Die Furcht vor endloser Verschleppung der ohnehin viel zu lange
verschobenen Angelegenheit führt zu dem Januarpatcnte. zur Schöpfung eines
außerordentlichen Reichsrathcs. Darüber ist man in den Regierungskrcisen
einig, daß der engere Rbichsratb zur Behandlung der ungarischen Frage incom-
petent sei, der weitere unmöglich, weil seine Existenz schon an und für sich ti
ungarische Verfassung »eg>re. Herr v. Beust läßt durch dienstwillige Federn die
Raa'richt verbreiten, ihm vor allen sei die Einberufung des außerordentlichen
Reichsrathes zu verdanken, sein staatsmännischer Blick hätte diesen glücklichen
Ausweg gefunden. Die Deutschen protestiren und agitiren, setzen alle Hebel
in Bewegung, um sich bei den Wahlen die Majorität zu sichern. Der Ausgang
der letzteren entscheidet aber gegen sie. In Unteröstreich verlieren sie die Stimmen
des Großgrundbesitzes, selbst Hafner und Tinti, die Führer der Centralisten-
Partei, unterliegen, in Böhmen ist das Verhältniß der Berfassungsfreunde zu
den alliirten Czechen und Feudalen viel ungünstiger als früher, sie gebieten nur
über 76 Stimmen gegen 104, nicht einmal die Handelskammern, sonst die
sicherste Stütze der Deutschen und Ccntralisten, sind der czechischen Agitation
unzugänglich geblieben; in Steiermark. der deutschen Kernprovinz, tauchen zur
allgemeinen Ueberraschung siegreiche slawische Deputirte auf, in Krain gewinnen
sie sogar die Majorität, auch in Galizic» verlieren die ccntralistisch gesinnten
Rutheuen zahlreiche Sitze, kurz die Regierungspolilik darf sich eines unerwarteten
Erfolges rühmen: der außerordentliche Reichsrath erscheint gesichert. In diesem'
Augenblick wird er über Vord geworfen, Beust, der Inspirator des Januar-
Patentes, protestirt gegen das letztere, Belcredi, dessen Politik durch den Aus¬
gang der Wahlen sich bewährt, wird entlassen, der durcbgefallenc Hafner als
Ministcrcandidat genannt, den Deutschen und Ecntralisten die Aussicht auf
Wiederherstellung ihrer Macht eröffnet.
Das verstehe, wer kaun. Spielt dabei nicht eine mit der Virtuosität
Scribes eingefädelte persönliche Intrigue mit, so muß man sagen, daß ent¬
weder im Monat Januar oder im Monat Februar das wiener Ministerium den
Verstand verloren hatte. Alles kann man von der jüngsten östreichischen Politik
behaupten, nur nicht Folgerichtigkeit. Verblüfft sind auch alle Parteien und
unklar, wohin die Komödie führen soll. Zugegeben, daß die Ueberzeugung von
der Nothwendigkeit des Ausgleichs mit Ungarn die neueste Schwenkung in der
Verfassungspolitik hervorrief, war denn nicht eben dieselbe Ueberzeugung die
Wurzel des Januarpatentcs? Doch lasse» wir diese unnützen Grübeleien, viel-
leicht bringen schon die nächsten Wochen wieder neue Ereignisse ebenso über¬
raschender Natur wie es die plötzliche Rückkehr zum Februarsystem wenigstens
für die westliche Reichshälfte ist. > -
Das letzte Ziel der Negierung ist nicht zweifelhaft. Sie will und sie muß
in den deutsch-slawischen Erbländern ih>c Macht so fest gründen, daß sie auf
dieselbe gestützt den ungarischen Ansprüchen muthiger entgegentreten kann, sie
wird hier die Verfassung so regeln, daß ihr wenigstens die Hälfte der Delegation,
die über die gemeinschaftlichen Angelegenheiten berathen soll, unbedingt ergeben
bleibt, sie wird die Deutsche» über den Verlust constitutioneller Freiheiten mit
dem Hinweise auf die Wiederherstellung des Primates in Deutschland trösten —
schon jetzt hoffen centralistische Blätter, daß Kaiser Napoleon das hohenlohesche
Programm als Kriegsfall betrachten wird —, sie wird um den Preis, in der
äußern Politik ungestört zu sein, den Ungar» große administrative Zugeständnisse
machen. Welche Etappenstraßen aber dieses Ziel noch durchlaufen wird, wie
viele Zwischcndecorationen noch werden verbraucht werden, kann zur Stunde
niemand, selbst Herr v. Beust und auch Deal nicht augeben. Auch das Andere
steht fest, daß vorläufig die Slawen, vor onager Tagen noch der Negierung
enge verbündet, die Oppositionspartei bilden werden. Wie oft haben sie schon
diese Rolle gespielt, wie oft sind sie durch einen plötzlichen Scenenwechsel um
den Siegespreis betrogen worden! Im Sommer und nach den Octobertagen
1848, dann wieder als das Octvberdlplvm 1860 publicirt wurde, glaubten sie
bereits das Ruder der Negierung in den Händen zu halten, um schon am
nächsten Tage sich wieder in den Winkel gestellt zu sehen. Das Schicksal trifft
sie nicht unverdient; sie haben alles gethan, um die Freunde der Bildung vor
ihrem Siege zittern zu machen. Doch darf man nicht vergessen, daß sie an
und für sich in der Oppositionsstellung gefährlicher sind, als wenn sie mit der
Regierung gehen und daß sie im gegenwärtigen Augenblicke durch ihre Ver¬
bindung mit der feudalen und klerikalen Partei eine größere Bedeutung im
Staatsleben besitzen, als in den frühern Zeiten. Sie werden freilich der Be¬
hauptung widersprechen, daß sie eine politische Wandlung erfahren haben, und
nach ihrer löblichen Gewohnheit den Schreiber dieser Zeilen mit Schimpfworten
überhäufen. Es ist ihr Stolz, daß sie angeblich einer Idee unverbrüchlich an-
hängen und seit neunzehn Jahren dem Föderalismus huldigen. Nichts desto
weniger ist das Gegentheil wahr und wenn auch sie durch die folgenden Zeilen
nicht bekehrt werden, so dürfen vielleicht andere Leute aus denselben Belehrung
schöpfen.
Wie kam der östreichische Föderalismus in die Welt?
Vor dem Jahre 1848 war die Idee einer östreichischen Föderativverfassung
absolut unbekannt. Erst während der Stürme jenes Jahres wurde sie ge¬
boren, ausgesprochen zuerst von den Radicalen ohne Unterschied der Nationali¬
tät, von Deutschen so gut wie von Slawen. Republikanische Staatsformen gal¬
ten damals nicht allein als wünschenswerte, sondern auch als erreichbare Ziele,
nach der Schweiz, nach Nordamerika spähte begehrlich der politische Sinn, von
dort glaubte man das Muster aller Verfassungen haben zu können. Die „Ver¬
einigten Staaten von Oestreich" war in radicalen Kreisen eine gangbare Bezeich¬
nung, bei welcher man sich das größte Maß von Freiheit verwirklicht dachte.
Außer den Radicalen fanden sich auch in den zweisprachigen Provinzen einzelne
gemäßigte Männer, welche der Föderativverfassung das Wort sprachen, weil sie
in der Zurückführung der Regierungsgewalt aus dem Centrum in die Peripherie
des staatlichen Kreises die Gewähr einer Neutralisirung der Nationalität, eine
Besänftigung des Stammhadcrs zu finden glaubten. Sie waren gutmüthige
Schwärmer, wer kann aber auf jene Tage zurückblicken, ohne von der Erinne¬
rung, mitgcschwärmt zu haben, getroffen zu werden. Humanisirte doch der ideale
Aufschwung der Gemüther 1848 sogar die verbitterten und wie alle zum Still¬
stande verurtheilten kleinen Volksstämme giftig neidischen, selbstsüchtigen
Czechen. Sie hatten auf dem Slawencongreß nichts gegen die allgemeine Völ¬
kerverbrüderung auszusehen. erglühten für einen großen slawischen Bund, neben
welchem noch eine engere östreichische Föderation bestehen könne, dessen Einzel¬
glieder ausschließlich einer Nationalität angehören dürfen.
Ein solcher Plan war abstract und unausführbar, jedenfalls enthielt er
nichts, was als Bedrückung des einen oder andern Volksstammes hätte gedeutet
werden können. Die Deutschöstreicher sprachen sich zwar in der Mehrheit nicht
für die Föderation aus, aber nicht, weil sie eine Beschränkung ihres Volks-
thums von derselbe!', fürchteten, als weil sie außerhalb Oestreichs, in Frank¬
furt suchten, — Unter d,en Slawen huldigten die Czechen dem Föderalismus am
eifrigsten, nicht weil sie auf diese Weise eine Suprematie über die Deutschen zu
erringen hofften, sondern weil sie auf keine andere Art ihre Eigenthümlichkeit
zu bewahren im Stande waren. Dazu kam noch, daß ihr Führer, der soge¬
nannte „Vater" Palazky, eine unpraktische, dem Geschäftsleben vollständig ent¬
fremdete Natur, ein Fleisch und Blut gewordenes Pergamentblatt, eine ent¬
schiedene Vorliebe für Programme und politische Pläne, aus der Vogelperspek¬
tive aufgenommen, hegte, welcher das noch nebelhafte Föderativsystem Vortreff-
lich entsprach. Er formulirte das letztere mit unermüdlichem Eifer, im Sommer
und Winter 1848 und wiederholte sein Programm ein Jahr später. Selbstver¬
ständlich stand er aus einer revolutionären Basis und wollte von historischen
Rechten, von einer Anerkennung des bestehenden Rcchtsbodcs nichts wissen.
Hätte er nicht den Revolutionär herausgekehrt, so würden ihn seine eigenen
Landsleute, wie die Stimmung war, verläugnet haben. Da Palazly gegen¬
wärtig sowohl seine streng konservative Gesinnung, wie seine Consequenz zu
betonen liebt, und seine Anhänger mit dem Titel: Abtrünnige. Volksverräther
überaus freigebig sind, so ist es wohl gut. seinen föderalistischen Standpunkt
vom Jahre 1848 mit seinen eigenen Worten zu charakterisieren.
Vor uns liegen die officiellen Protokolle des kremsierer Verfassungsaus-
schusses. eine hoffentlich lautere, unverdächtige Quelle. In der Sitzung vom
23. Januar 1849 bemerken wir unter den Rednern auch Palazky. der, nachdem
er gegen die Autonomie der Provinzen, wie sie in Oestreich thatsächlich be¬
stehen, geeifert, folgende Sätze aussprach: „Es geht eine Kraft durch die Welt,
man nennt sie den Weltgeist. In der historischen Entwicklung unserer Zeit
taucht ein Princip auf, welches im vorigen Jahre in die Geschichte Oestreichs
eintrat, es ist die Gleichberechtigung der Nationalitäten. Mit diesem Principe
ist die Emancipation der Slawen und Walachen in Oestreich ausgesprochen.
Wir müssen Oestreich so construiren. daß die Völker gern in Oestreich existi-
ren, das sei die uns leitende Idee. Die verschiedenen hier geltend gemachten
Ansprüche lassen sich dann befriedigen, wenn man der Geschichte und Ethno¬
graphie Rechnung trägt und einen Terminus der Convenienz findet, also natio¬
nal-historische Ländcrgruppcn dann als kleinere nationale Einheiten der Reichs¬
kreise annimmt. Ich schlage folgende Ländergruppen vor: 1) deutsch-östreichische,
2) böhmische, 3) polnische. 4) illyrische, 5) italienische, 6) südslawische.
7) magyarische, 8) Walachische Länder. Ich rechne zu der ersten Gruppe das Erz-
herzogthum Oestreich, Steiermark, Kärnthen, Salzburg. Deutschtirol, Deutsch-
böhmen. Deutschmähren und Schlesien, zur zweiten Czechisch-Böhmen,
Czechisch-Mähren und Schlesien, dann die Slowakei, zur dritten Galizien. Buko-
wina und ungarisch Ruthenier bis an die Karpathen, zum vierten Slawonien,
slawisch Steiermark, slawisch Kärnthen, Krain und Litorale. zur fünften Wälsch-
tirol. Lombardei und Venedig, zur sechsten Dalmatien, Kroatien, Slawonien,
und Waiwodowien, zur siebenten das magyarische Ungarn und Siebenbürgen, zur
achten die wallachischen Gebiete in Ungarn. Siebenbürgen und Bukowina. Ich
bin keineswegs gegen die Trennung Deutschböhmens und Czechiens.
wenn dies nur praktisch auszuführen wäre."
So sprach und votirte am 23. Januar 1849 Palazky und sein treuer
Jünger, der dilettantisch gebildete Rieger wiederholte am nächsten Tage dasselbe
Programm: „Ich finde die Einteilung Oestreichs nach den bisherigen Pro-
vinzen nicht mehr zeitgemäß." Er hob hervor, daß Czechen und Ruthenen eines
als Culturvölker selbständig existiren können. „Wir Czechen können heute eine
famose Universität anlegen und alle Wissenschaften in unserer Sprache behan¬
deln." Er sprach sich endlich für die Trennung Böhmens in ein deutsches und
slawisches Gebiet aus. „Könnte man eine Abtrennung deutschen Gebietes von
Böhmen glücklich zu Stande bringen, so würde ich es mit Freude aufnehmen,
denn der slawische Böhme will nur selbständig sein, nicht erobern und andere
Elemente unterdrücken; er hat es mehr als genug gefühlt, wie wehe es einem
Volke thue, unterdrückt zu sein."
Am 23. December 1849 legte Palazky noch einmal sein Votum über die
Föderativverfassung in einem Artikel der „Mroäui novirry" dar. Es weicht von
seinen früheren Auslassungen nur in einem Punkte ab, daß er die Slowenen
Steiermarks und Krains jetzt zur südslawischen Gruppe rechnet, nicht mehr acht,
sondern sieben Ländergruppen von Nationalministerien verwaltet, forderte. Zehn
Jahre ruhte sodann der Vcrfassungsstreit; mit der Einsicht, daß eine Revolution
in Oestreich nicht zu erwarten sei, verlor die föderalistische, wesentlich revolutio¬
näre Partei ihre Grundlage. Die Mehrzahl ihrer früheren Wortführer hielt
den östreichischen Föderalismus für eine der Geschichte bereits verfallene That¬
sache und ging, wenn sie noch praktische politische Interessen besaß, andere poli¬
tische Verbindungen ein. Das Erstaunen war begreiflicherweise groß, als in den
letzten Jahren wieder die Kunde durch die Blätter sich verbreitete, die Czechen
hätten abermals die alte Fahne des Föderalismus aufgepflanzt. Wie ist das
möglich, fragten sich die Kenner der früheren Partciverhältnisse, da doch gleich¬
zeitig Loyalität und konservative Gesinnung von den Czechen behauptet wird,
sie jeden Gedanken an eine revolutionäre Agitation scharf von sich wiesen?
Nur der Name wurde, weil er lockt und blendet, wieder hervorgeholt, die Sache
ist ganz neu und durchaus nicht mit Palazkys Föderationsplänen vom Jahre
1848 zu verwechseln.
Die Czechen haben in den fünfziger Jahren, die in jeder Hinsicht schlecht
auf sie wirkten. Doppeltes eingesehen. Ihre angebliche selbständige Cultur kann
sich nicht erhalten, wenn man der deutschen Bildung nicht den Eintritt in
Böhmen gewaltsam wehrt. Sobald man dem eingebornen Böhmen die Gelegen¬
heit giebt, .deutsche und czechische Literatur zu vergleichen, wird er alsbald der
letzteren den Rücken kehren. Wenn man Goethe und Schiller lesen gelernt
hat, kann man Mikowec und Sabine nicht länger bewundern. Weiter aber
fühlten sie, daß ihr unmittelbarer Anhang, Kleinbürger und Bauern, nicht aus¬
reiche, um als politische Partei wirksam aufzutreten, sie schielten nach'Ungarn
hinüber, wo die Aristokratie und die Kirche zu den Hauptstützen der nationalen
Partei gerechnet werden und fanden es zweckmäßig, ähnliche Bundesgenossen auch
für sich zu gewinnen. Sie boten sich dem feudalen Adel und dem ultramon-
kamen Klerus Böhmens als Werkzeuge an unter der Bedingung, von diesen
in der antideutschen Politik unterstützt zu werden. Sie sprachen ;etzt auf ein¬
mal von unverjährbaren Rechten der Krone Böhmens, stützten ihre Ansprüche
nicht auf die Gleichberechtigung und das nationale Rechtsprincip, sondern auf
historische Privilegien. Bon dem alte» Föderalismus hatten sie nur die Locke¬
rung der Centralgewalt angenommen, in allem Uebrigen haben sie sich von den
früher prvclamirten Grundsätzen losgesagt. Die Czechen von 1866 sind keine
föderalistische, sondern eine feudal-separatistische Partei. Das, einzelne der früheren
Föderalistenführer auch jetzt wieder an der Spitze buser neuen Partei stehen,
Einzig in seiner Art, wie das tirolische Protestanten- und Gemeindegesetz,
ist auch der Landtag, aus dem sie hervorgingen. Halb Fleisch, halb Fisch, halb
Interessen- halb ständische Bertretung, schwankt er schon in seiner Grundlage
zwischen jetzt und einst. Er besteht nach der Landesordnung vom 26. Februar
1861 aus den 3 Bischöfen von Salzburg. Trient und Brixen. dem Rector mag-
nificus der innsbrucker Universität, der manchmal auch ein Jesuit ist, und vier
von verschiedenen Aebten. Propsten, einem ErzPriester und dem Landescomthur
des deutschen Ordens gewählten kirchlichen Würdenträgern, ferner den Nachfol¬
gern der ehemaligen Adelsbank, wovon sich dir jetzigen zehn Abgeordneten des
adeligen großen Grundbesitzes nur dadurch unterscheiden, daß zur Wahlbefähigung
und Wählbarkeit des tirolischen Adels nicht mehr die Eintragung in die stän¬
dische Matrikel, sondern lediglich die Entrichtung einer jährlichen Grundsteuer
von SO si. erforderlich ist. aus 16 Abgeordneten der Städte, Märkte und
Handelskammern, und 34 der übrigen Gemeinden d. i. der Bauern. An den
Berathungen des ehemaligen offenen Landtages der alten Verfassung durften
auch Aebtissinnen, das Damenstift zu Innsbruck und der Prior der Karthäuser
zu Schnals. dann sämmtliche an die Pubertät gelangte Mitglieder einer in die
Adelsmatrikel eingetragenen Familie theilnehmen, wovon man auf jenem von
1790 nicht weniger als 550 zählte; einige derselben lebten von Lakaiendiensten.
Der große Ausschuß hatte 45, der engere, der sich seit 1728 jährlich versarn-
nette, mit Inbegriff der Bischöfe und Domcapitel von Dient und Brixen 29
„Vokalen". Die erst nach der förmlichen Einführung der Stände mit Tirol
vereinigten Städte und Gerichte mußten sich mit einer halben oder viertel Stimme
begnügen, d, h. sie durften ihr Stimmrecht nur in jedem zweiten oder vierten
Jahre ausüben. nacktem^unter Bayern diese alte ständische Verfassung durch
die königliche Verordnung vom 1. Mai 1808 aufgehoben worden, Tirol aber
im Jahre 1814 wieder an Oestreich gefallen war. verlieh ihm Kaiser Franz der
Erste mit voller Anerkennung der vielfältigen Verdienste und patriotischen Ge¬
sinnungen seiner biedern Bewohner aus besonderer Gnade am 24. März 1816
eine neue, zwar mit den früheren 4 Ständen aber ohne ihre alten Rechte. Sie
versammelten sich zu den bekannten Postulatenlandtagen von 1817—1848 all¬
jährlich im Frühjahre und gaben durch ihren Knechtsinn und Jesuitismus ein
leuchtendes Beispiel.
Aus der guten alten Zeit des 18. Jahrhunderrs stammt auch der mit
Fresken und Stuckarbeit im reinsten Rococo geschmückte Saal, in dem nun die
-vorerwähnten 68 Nachfolger der tiroler Stände tagen. Wie. in andern derlei
Versammlungen sitzt der Landeshauptmann an erhöhter Stelle, rechts von ihm
der Regierungsvertreter und weiter hin der jeweilige Berichterstatter über ein¬
zelne Angelegenheiten, links die Secretäre, wozu Beamte des Landesausschusses
verwendet werden. Diesen gegenüber steigen die Schreibbänke und Stühle der
Volksvertreter im Halbkreise stufenweis hintereinander hinauf, nur in der Mitte
durch einen engen Gang geschieden.' Neben der Linken bcfuiden sich längs der
Wand bescheidene Plätze für die Zcitungsredacieure und rechts oben eine
Fensternische für die Stenographen. Die den Zuhörern geöffnete Gallerie ver»
tieft sich wie eine protestantische Emporkirche über dem Haupteingang.
Die vorderste Bankreihe ist ausschließlich den Geistlichen vorbehalten, zu
beiden Seiten des Mittelganges nehmen die Fürstbischöfe von Brixen und Trient
auf violettrothem Lehnstühlen Platz, Der erstere ist ein hochgewachsener breit¬
schulteriger Mann von lebhafter Gesichtsfarbe, trägt sich etwas gebückt und er¬
freut sich eines klaren fließenden Vortrags, wenn dieser auch nicht immer von
politischer Bildung zeugt. Sein Genosse im Hirtenamte, jener von Trient,
ein Greis mit gebleichte» Haaren, von kleinem schwächlichen Körperbau und ge¬
fälligen Umgangsformen, machte seine Schule bei der Nunciatur in München
und gilt für einen erklärten Freund der Jesuiten, die er — wir erinnern an
P. Francoö Verhältniß zu-dem bei Gelegenheit der Concilfeier erlassenen trienter
Hirtenbrief — in seine Nähe zog und als Rathgeber und Stilisten benutzte. Im
letzten Landtage ließ er sich nie vernehmen, stimmte aber in allen Wälschtirol
berührenden Fragen mit seinen Landsleuten auf der Linken, während sein näch¬
ster Nachbar, der Prior von Gries. einst auch Abt von Muri, ein kleiner Mann,
sich stramm zur Rechten hielt und durch einen grobkörnigen Schweizerdialekt an
sein Vorleben erinnerte. Der ErzPriester Strosio von Roveredo. der dritte nach
links, bewährte sich in seinen vorigen Landtagssermonen wenigstens als guter
Kanzelredner, verharrte aber diesmal hartnäckig beim Schweigen. Die übrigen
Geistlichen zur Rechten ließen ebenfalls wenig von sich hören.
Hinter der „Prälatenbank" theilt sich auch der tiroler Landtag mit Verzicht
auf seine historischen Erinnerungen und Privilegien in Rechts und Links. Die
Rechte zählte in der letzten Session mit Inbegriff der Geistlichen 32 Mitglieder,
wovon der stumme Schweif mit unerschütterlicher Glaubenstreue zur schwarzen
Fahne schwur. Am öftesten sprach ihr Chorführer Joseph Greuter, Abgeord¬
neter der Landgemeinden Landeck, Ried und Nauders, auch Religionslehrer am
innsbrucker Gymnasium und Redacteur der obscurer „Tiroler Stimmen-, denen
von den Liberalen Innsbrucks eine unverdiente Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Er erhebt sich nie über den Standpunkt eines redseligen, polternden und schalen
Kapuziners, was ihm den Scheltnamen „Phrasensepp" zuzog. Finster und
grollend blickt er in die Welt hinein, und was er Witz nennt, erntet nur den
Beifall der Bierhalle. Durch gewählteren Umgang geschult, spricht einer der
beiden Vertreter des Zillerthals. Dr. Andreas v. Gredler, der ehemalige wiener
Advocat. nun Verwaltungsrath der privilegirten östreichischen Creditanstalt für
Handel und Gewerbe. Seine Jugenderinnerungen und noch mehr die jetzigen
Verbindungen, überdies die Stellung seines Sohnes als Iägcrhauptmann be¬
herrschen seine politische Haltung. An seiner Seite thront der gewichtige f. k.
Oberstaatsanwalt Dr. Haßlwanter. Eine stattliche Figur, dickleibig und stämmig,
mit einem vollen Gesichte, wie weiland der Vater der Landsknechte Georg von
Frundsberg. Durch das tiefgefühlte Bewußtsein der Inspiration von oben und
des Schutzes der in Tirol Allvermögenden gehoben, gerirt er sich als Obmann
der Rechten. Sein Wort gilt als das letzte und entscheidende, wenn auch der
fahle, lendenlahme und langgestreckte Freiherr Ignaz v. Giovanelli ihm oft
genug den Vorrang im Stocktirolerthum streitig macht. Dieser ist nach außen
und innen ein Jesuit vom Wirbel bis zur Zehe. Ultramontan, feudal, abso-
lutistisch, ein echter Sohn seines Vaters, der die «katholischen Zillerthaler ver¬
treiben und die Loyvliten berufen half, ist er päpstlicher als der Papst und kai¬
serlicher als der Kaiser. Obwohl unermüdet im Schimpf über das „halbgebildete
/ Schreibergesindel. das aus den Zeitungen politische Weisheit schöpft", holt er
die seine doch nur aus dem Leibjournal der czcchischcn Makler, dem „Vater¬
land" und reicht trotz allen Dünkels mit seiner Kenntniß nicht eine Hand hoch
über den Criminalcodex.
Leider stehen auch einige Herren auf der Linken solchen Anschauungen nicht
allzufern, namentlich die Wälschtiroler. Da begegnen wir gleich hinter den
Geistlichen dem k. k. Kleisgerichtspräsidenten von Trient Mathias Freiherrn
v. Cresseri, einem Manne, der früher in der Glaubensfrage mit den Ketzer-
richtern stimmte und sein kindliches Vertrauen auf den Hirten der trienter
Schäflein auch diesmal zu erkennen gab. Er fürchtet die abschüssigen Wege der
Liberalen und sucht voll diplomatischer Klugheit seine Freunde sowohl links als
rechts. sanft, ruhig, und meist kaum vernehmlich fließt seine Rede dahin,
gleich dem murmelnden Bach, der plaudert, was sich der Wald erzählt und was
da zirpt unten im Gebüsche und zwitschert oben auf den Wipfeln. Nicht weit von
ihm sitzt der k. k. Statthaltercirath Ritter v. Sartori, der sich die peinliche
Aufgabe stellte, die väterlichen Absichten der Regierung mit ebenso vieler
Wärme als die loyale Haltung der Wälschtiroler mit alleiniger Ausnahme einer
„kleinen, sehr kleinen Rcvolutionspartei" zu vertheidigen. Man sollte ihn nach
Trient senden, »in dort die Dinge in noch rosigerem Lichte zu sehen. Noch
gutmüthiger und jedenfalls ohne Hehl und Hintergedanken scheint uns der Ver¬
treter der innsbrucker Handelskammer, der k. k. Oberlandesgerichtsrath Dr. Lev-
nardi. Wenn er auch tiefe Verehrung vor dem Jesuiten ?. Roh an den Tag
legte, dürfte dies mehr seinem Bildungsgange und dem Mangel an tieferen
Studien, wozu ihm seine Acten nicht Zeit ließen, als seinem durchaus ehren-
werthen Charakter zur Last fallen.
Von den deutschen Liberalen ist zunächst Freiherr v. Ingram zu nennen.
Er saß vier Jahre hindurch im östreichischen Reichsrath und machte den meisten
Mitgliedern des Hauses gegenüber den wohlthätigen Eindruck, daß er eines
freiern Ausblicks über die Landcsgrenzcn fähig war. Nicht ohne treffende
Sarkasmen spricht Dr. Blaas, einer der beiden Abgeordneten der Landeshaupt,
stadt, doch wäre ihm zu wünschen, daß er auch seinem Bortrag mehr Nachdruck
verliehe. Dasselbe möchten wir dem Rector magnificus der innsbrucker Uni¬
versität, Dr. Geyer bemerken, der, ein wahrer Gegenfüßler seines Vorgängers,
des Jesuiten Wenig, selbst das Concordat zu tadeln sich erkühnte. Als Obmann
der liberalen Tafelrunde trat Dr. v. Grcbmer, Bürgermeister von Bruncck, auf,
ein Mann der selbstbewußten Ruhe und schlagenden Entgegnung, bei dem die
hirnverbrannten Heißsporne der Rechten Schule machen könnten. Zur Ergänzung
des Bildes erwähnen wir noch Dr. Pfretzschner, eine hohe, stämmige Gestalt
von echt bojoarischcr Abkunft, die eigentliche Seele der Opposition, wenn er auch
seine Meinung von den unvermeidlichen Ereignissen der nächsten Zeit nicht
öffentlich aussprach, und den erst in der jüngsten Session hinzugetretenen
Dr. Streiter. Bürgermeister von Bozen.
Der schon vor Eröffnung des letzten Landtags von den Ultramontanen
gehegte Plan bezweckte eine offene Erklärung zu Gunsten der Sistirungspolitik.
als Anfang der Rückkehr zum Absolutismus. Aehnliches lag den tiroler Reak¬
tionären schon beim Beginn der vorletzten Session im Sinne, am Ende der
ersten Landtagsperiode schien aber die Aufstellung ihres Ergebnisses um so mehr
geboten, als der Föderalismus auch im Geheimbunde des Ministeriums Beust-
Belcredi stand. Die Komödie in Wälschtirol für den Anschluß an Italien lieh
die willkommene Handhabe.
Um die dortige Sachlage zu begreifen, ist vor allem zu errvcihnen, daß sich
Oestreich selbst in vormcirzlichcr Zeit die Schlangen groß zog. Die schwarzrolb-
goldene Fahne galt als revolutionär, deutsches Wissen war der Censur verfallen,
Hie Verwälschu-ng willkommen, weil man in Rom und seinen Jesuiten die festeste
Stütze des Reiches sah. Die Schüler der Bildungsanstalten in Trient wurden
sorgsam gewarnt vor dem erschrecklichen Systeme Kants, im Norden Monte nur
die Irrlehre, dagegen war es ihnen gestattet sich am Tyrannenhassc Alfieris und
seiner Epigonen zu begeistere >. für sie gab es nur eine wälsche Literatur, denn
auch ihre Lehrer kannten keine andere und waren fast ausnahmslos Geistliche.
Die Folgen davon zeigten sich gleich bei der ersten Gelegenheit. Im frankfurter
Parlamente begehrten die Wcilschtiroler nur die Ausscheidung ihrer Heimath
aus Deutschland, und so oft es sich seither um die Theilnahme am tiroler Land¬
tag handelte, erhoben sie sich mit leidenschaftlicher Opposition, blos ein paar
Thäler hielten noch zu Deutschtirol. Gute Freunde und Landsleute in Wien
erwirkten anfangs der fünfziger Jahre die Errichtung eigener zweiter Instanzen
für administrative und sustiziellc Angelegenheiten in Trient, dies seinen aber
noch viel zu wenig: man wollte ein abgesondertes Kronland. Kurz nachher
setzten die Ukase vom 31. December 1851 dem allen ein Ziel, und als endlich
auch der handhabe Absolutismus der Februarverfassung weichen mühte, klagte
man noch über diese und berief sich auf das Beispiel Vorarlbergs, dem freilich
nur zur Ausscheidung allznfreier Elemente aus dem frommen Tirol ein eigener
Landtag vergönnt war. Schritt für Schritt wollte man sich loswinden vom
unerträglichen Joche der Deutschen, durch unausgesetzten Widerstand zeigen, daß
Wcilschtirol der großen Mutter Italie, angehöre und das Band mit Oestreich
zerrissen habe. Mitten im Frieden, tollkühn und hoffnungslos trat der Versuch
eines Putsches auf, dem man selbst jenseits des Mincio wenigstens anscheinend
die Hilfe versagte, und zur Zeit der Concilfeicr wurden Petarden eingeschmuggelt,
deren Schrecken nur die mit brennenden Lunten durch Trient geführten Kanonen
abwandten. Diesen Thatsachen und der Furcht vor ähnlichen, welche die in
der Bischofsstadt eingesetzte höhere Polizeibehörde bewies, hielten nun dynastische
Wobldiener die freiwillige Stellung zur Landesvertheidigung am Ende des
letzten Krieges und die kurz nachher aufgetauchten Loyalitätsadressen einzelner
Gemeinden entgegen. Wie viel an der ersteren das lockende Handgeld, an
letzterer aber der unermüdliche Eifer des Polizeichefs Antheil hatten, zeigte schon
ein früherer Aufsatz dieser Blätter.*) und wenn nun beide von den Ultra¬
montanen als Beweis angeführt werden, daß die Bevölkerung Wcilschtirols nur
von einer „kleinen" Partei terrorisirt wird, erscheint dies nur als ein Mittel
zu anderen Zwecken. Am 12. November vorigen Jahres erließ das National-
comitö in Trient einen Aufruf an die Bevölkerung des alten Fürstenthums,
worin es gestützt auf das Versprechen von erlauchten Lippen die baldige
Vereinigung mit dem Königreich Italie» verheißt und zur würdigen Haltung
nationalen Widerstands ermuntert. Ihm folgte am 18. December vorigen
Jahres ein zweiter, der die Behauptung, als bestände das Conn6 nur aus
Flüchtlingen im Auslande, Lügen straft, und den Trientern Muth zuruft.
Diese Brandzettet befinden sich in aller Händen, jedermann kennt ihre Urheber,
aber weder die Staatsanwaltschaft noch ein Gericht wagt sie anzutasten; Klug¬
heit und stilles Einverständnis) der ganzen Bevölkerung schützen sie vor Ver¬
folgung.
Wie leuchtend mußte sich nicht die reine Flamme ultramontaner Loyalität
abheben von dem nächtlichen Schatten des Abfalls, der auf Wälschtirol lastete?
Kaum war der Landtag am 19. November vorigen Jahres eröffnet, als schon
am folgenden Tage von mehren hauptsächlich der klerikal-feudalen Partei ange-
hörigen Abgeordneten eine Jnterpellation an die Negierung eingebracht wurde,
ob die Gerüchte von der Abtretung Wälschtirols an Italien begründet seien,
und wo nicht, ob sie entschlossen sei, der dortigen Agitation mit allem Nach¬
druck entgegenzutreten. Neuen Anlaß sich gegen „die herrschende Partei in
Südtirol" ausz'ulassen gab in der nächsten Sitzung vom 24. November ein An¬
trag des Landcsausschusses, wornach die schon.^.seit Jahren verschleppte Ver¬
handlung über die Abänderung der Landes- und Landtagswahlordnung zu
Gunsten der Wälschtiroler auch noch weiter vertagt werden sollte. Der inns-
bruckcr Religionsprofessor Grcuter. der sich bei dieser Frage in der vorletzten
Session auf die Seite der Wälschen gestellt, erklärte sich nun mit einem Male
gegen sie. und betonte ihre Hochverrätherische Gesinnung: „denn die letzte Wahl."
meinte er, „habe bewiesen, daß die Herren nicht für Innsbruck, ja nicht einmal
für Trient wählen wollten, sie wollten für Florenz und Rom wählen, was ihre
politische Gesinnung so gut charal'terisirt als ihre katholische." Die Regie¬
rung sollte sich nur dazu hergeben, die Signori wieder päpstlich zu machen,
etwa wie weiland Erzherzog Ferdinand, der zartfühlende Gemahl jener Phi¬
lippine Welser. der die protestantischen Unterinnthaler mit ausgesuchten Folter¬
qualen heimsuchte. Trotzdem daß selbst der Bischof von Trient und ErzPriester
Strosio gegen die verbissenen Ultras stimmten, ergab sich doch eine Majorität
Von 23 gegen 22 für ihren Antrag auf Uebergang zur Tagesordnung. Der
Groll gegen die der weltlichen Macht des Papstes Abtrünnigen steigerte sich
aber im Kctzerrichter Giovanelli zur wahren Wuth, als ihm Tags nachher der
Aufruf des trienter Nationalcomitös vom 12. November zukam. Ein boshafter
Schalk, der wußte, daß man ihm nur das rothe Tuch vors Auge halten durfte,
um seinen Naturtrieb zu entfesseln, halte es ihm eins^Noveredo zugesandt. Zit.
lernt Vor Fiebergluth forderte er in der Sitzung vom 26. November gleich nach
Verlesung des Einlaufe das Wort zur Einbringung eines Dringlichkeitsantrags,
und als ihm dieser vorerst schriftlich vom Landeshauptmann abgehcischt wurde,
Körte er gar nicht darauf, sondern versuchte sofort zu sprechen. Erst auf die
Unterbrechung durch den Vorsitzenden überreichte er seinen Antrag, welcher Nieder¬
setzung eines Comites verlangte, das opportune Mittel zum Schutz der Einheit
und Eigenthümlichkeit des Landes berathen solle. , Er meinte damit nichts
Geringeres als die Verhängung des Belagerungszustandes. Die Motive kamen
auf eine Herausforderung der Geistlichkeit hinaus, die durch den Aufruf besudelt
sei, und auf eine Mahnung an die Negierungsorgane, die „für die Kraft des
Kaiserhauses einzustehen haben". Offenbar waren diese dem Staatsklugen Frei-
herrn in der Reaction noch immer nicht weit genug gegangen, denn er ließ ihnen
von den Herren des Nationalcomit<Zs „Schwäche, Halbheit. Feigheit, Charakter¬
losigkeit. Gesinnungslosigkeit" vonversen, während sie sich vielmehr über die
„schreckliche Geißel der Fremdherrschaft" und „die schlechten Künste einer verkehr¬
ten jesuitischen Secte" beschwerten. Diesen Kunstgriff wiederholte er auch in der
nächsten Sitzung, denn seinen Angaben nach war die Negierung selbst bei den
Gutgesinnten in Südtirol Ziel des Spottes, weil „sie das nicht wisse, was
auf den Dächern erzählt und".
An der Debatte, die am 26, November über den giovanelllschen Antrag
statthatte, beiheiligten sich nur Wälschtiroler. Alles galt ihnen nur als toller
Spuk einer kleinen Partei, der Kern, ja die große Masse der Bevölkerung sei
blos nicht für die „strenge Union mit Innsbruck", gleichwohl aber entschieden
schwarzgelb gesinnt. Selbstverständlich kehrten sich die Hartköpfe auf der Rechten
weniger um die politische Rechenkunst als ihre Parole, die Aufstellung des con-
servativen Wohlfahrtsausschusses wurde von der Mehrheit angenommen und
ausgeführt.
Von liberaler Seite wurden nun verschiedene Anträge eingebracht, die im
Gegensatze zu den Verehrern des östreichischen Coiporalstocks die Hebung des
materiellen Wohlstands in Wälschtirol und die Verbindung seiner Interessen
mit denen der deutschen Lander bezweckten. Man drang auf die Herstellung
einer Eisenbahn von Vliland nach Buxen, die auch sogleich vom k. k. Handels¬
ministerium zugesichert wurde, und einer ferneren von Innsbruck über den Arl-
berg nach Bregenz, da beide den Transit der Güter aus dem Orient nach dem
Westen durch Tirol vermitteln sollten, auf die Einleitung von Zvllerleichterungen
für Ausfuhr von Getreide und anderen Objecten des täglichen Bedarfs aus
Italien und Einfuhr lebendes Viehes dahin, endlich Heiabminderung des Ein¬
suhrzolles für den Wein in die Staaten des deutschen Zollvereins, die auch
grade jetzt mit Preußen in Wien berathen werden sollten. Die Ultramontanen
gjngen auf alle diese Anträge ein. nur die auch zu Gunsten Wälschtirols vor¬
geschlagene Beschickung d.er pa.iher Ausstellung wollte ihnen nicht behagen, da
es doch gar zu abnorm schien, der besseren Ausbildung im Lande Bahn zu
brechen. Das Siebenercvmit6 konnte zu feinem Beschlusse kommen, weil
dessen Obmann, der f. k. Oberstaatsanwalt Dr. Haßlwanter, wegen des pro-
jectirten Belagerungszustandes in Wälscktirol vorerst in Wien ansrug. Die
Antwort lautete ablehnend, die Machthaber hielten auch schon den Vorschlag
von derlei Maßregeln für einen Eingriff in die Executive. Im Grunde ver¬
schlug es wenig, wenn auch das hochnothpeinliche Rüstzeug versagt war. Die
wcilschtirolische Frage galt ja nur als Vorwand, um wieder die Herzenswünsche
der Alttiroler auszugießen, jenes Glujhverlangen nach der Glaubenseinhcit und
die Sehnsucht nach der Zwingburg des Feudalismus. Die Mittel zur Wahrung
der Einheit und Eigenthümlichkeit des Landes blieben nach wie vor die Haupt¬
sache. Der tirolische Großinquisitor Giovanelli ließ sich daher von seinen.
Geistesverwandten im Ausschusse die Abfassung einer Adresse an den Kaiser
auftragen und gönnte dem Freiherrn v. Cresseri den harmlosen Wahn, jene ge-
fürchteten Gewaltmaßregeln durch die Drohung vereitelt zu haben, daß bei
ihrer Anregung der hochwürdigste Fürstbischof von Trient an der Spitze aller
Wälschtiroler aus dem Landtage scheiden würde.
Erst nach Zusage günstiger Aufnahme der allerunterthänigster Bitten des
treuen tiroler Landtags wurde das geistlose Machwerk der Adresse am 17. De¬
cember mit eingebracht und an die Abgeordneten vertheilt; zwei Tage nachher
stand die Verhandlung darüber schon auf der Tagesordnung. Außer einigen servilen
Phrasen enthielt es zunächst das demüthige Ansuchen, der Kaiser wolle peisön-
lich erklären: „daß die gefürstete Grafschaft Tirol in ihrem gegenwärtigen Be¬
stände in ihrer vollen Integrität für immer »»getheilt erhalten bleibe." Daran
reihte sich die fernere um Wahrung der „Eigenthümlichkeiten" des Landes, wozu
in erster Reihe „der fromme Glaube, die reine Sitte der Väter und die Wehr¬
kraft des Volkes" gehörten. Auf diesen beruhe „wesentlich der alttiroiische
Geist". In diesem Stile ging es weiter. Sämmtliche Mitglieder der Linken,
mit alleiniger Ausnahme des Freiherr« v. Cresseri, waren empört über diesen
jesuitischen Fallstrick, der sie der Glaubenseinheit und Sistirungspolitik über¬
liefern sollte. Siebzehn davon erklärten vor der Abstimmung den Saal zu ver¬
lassen und eher ihr Mandat niederzulegen als zur Beschlußfassung, die bei dem
numerischen Uebergewickt der Ultramontanen keinem Zweifel unterlag, mit¬
zuwirken. Nach dem Gesetze stand ihnen frei, sich der Abstimmung zu ent¬
ziehen, und da zum giltigen Beschlusse nach § 38 der Landesordnung die An¬
wesenheit von wenigstens 3ö Abgeordneten nothwendig und nur deren 52
zugegen waren, war durch den Abgang der 17 der thatsächliche Beweis her¬
gestellt, daß der Rest nicht, wie die Ultramontanen prahlten, die Mehrheit ver-
trat. Jetzt war es an den Liberalen, von ihrem Muthe und ihrer Gesinnungs¬
treue Zeugniß zu geben.
Bei der Verhandlung zeigte Giovanellis breiter und dunkler Vortrag schon
wesentliche Abkühlung, Der Executive ins Handwerk zu Pfuscher, sei nickt die
Meinung, die Adresse selbst besprach der verschämte Junker gar nicht, desto ge¬
schwätziger ließ er sich über die ihr angehängten acht Anträge vernehmen, und
lobte im Auftrage des Comites sogar die Bcgütigungsvorschläge seiner fried¬
fertigen Gegner. — Unmittelbar nachher sprach Cresscri, der nichts loyaler fand
als die Gesinnung seiner Landsleute, nichts erklärlicher als ihre Mißstimmung
über manche vorausgegangene Fehlgriffe, und nur „aus der rücksichtslosen
Amalgamirung heterogener Elemente" die Unzufriedenheit Wälschtirols ableitete.
Schließlich begrüßt er mit größter Freude die Anträge des Comites als „den
ersten Schritt zur wünschenswerthen Eintracht".
Von den Liberalen sprach gegen die Adresse zuerst Freiherr v. Ingram, der
sie als überflüssig erklärte, sofort aber auf die Zwecke der Sistirungspolitik ein¬
trat. Sie lasse die Landtage nur deshalb fortbestehen, weil sie dem centralen
Absolutismus unschädlich sind. Die allgemeinen Angelegenheiten seien die wich¬
tigsten, diese könne man aber unter keiner Bedingung den Landtagen überweisen,
daher vermöchten nur Anhänger des Absolutismus ein Patent anzupreisen, das
die Reichsverfassung zertrümmere. Ihm folgte Dr. Blaas, der die Thaisache
der wirklichen Desorganisation des Reiches durch das Septemberpatent noch
weiter ausführte. Es käme ihm vor, als hörte er an einem Sarge hämmern,
die Auflösung Oestreichs sei auf föderalistischen Wege unvermeidlich. Wer
wegen des Widerstandes der Ungarn an der Theorie der Rechtsfiction halte,
müsse dies auch für Wälschtirol gelten lassen, und demzufolge wäre auch der
Landtag nur eine Fiction. Conservativ sei nur das Festhalten an der gegebenen
Verfassung, das Gegentheil destructiv. In demselben Sinne sprach Karl v. Ric-
cabona, ein Wälschtiroler. Man suche vergeblich den Grundcharakter der Adresse
zu verbergen, der nichts Anderes sei als Berufung auf die Sistirungspolitik.
Nun erhob sich der innsbrucker Religionslehrer Greuter und behauptete,
das Manifest vom 20. September 186S meine es gar nicht so schlimm, als
man ihm nachsage. Es enthalte ja die Zusicherung einer verfassungsmäßigen
Rechtsgestaltung durch die Mitwirkung der Völker, dies sei nicht der Weg zum
Absolutismus. Zu letzteren neige sich vielmehr das Februarstatut „mit seinem
ungeheuren Loche des § 13, das so groß ist, daß der ganze Apparat einer ab¬
solutistischen Legislative mit grobem und auch mit kleinem Kaliber hindurch¬
ziehen kann". Das Februarpatent habe die Landtage „in die miserable Stel¬
lung von Krankenwärtern und Spitalaufschcrn gebracht, welche die Aufgabe
haben, daß sie bei den Leiden ihres Volkes eben diesem Volke das wiener
Tränklein löffelweise einzwängen". Seine boumots reizten die Lachmuskeln
der bäuerlichen Abgeordneten, wie sein Vorbild Abraham a Santa Clara die
des ebenso feingebildeten Hofadels.
Um so größeren Anstoß gab Rector Geyers Rede: „Wir haben einen un¬
freien Staat und eine freie Kirche," meinte er, „wenn wir einen freien Staat
hätten, würde ich auch für eine freie Kirche sein." Die Sistirung der Neichs-
vertretung bringe einen chaotischen Lärm von Völkerstimmen, worin sich jene
am lautesten vernehmen ließen, welche am besten thäten, ganz zu schweigen.
„Dagegen herrscht in den Regierungskanzleien Todtenstille. Man hört die
Wanduhr picken, welche andeutet, wie schnell die Zeit in unserem Jahrhundert
fortschreitet. Nur in einer Beziehung ist rastlose Thätigkeit. Tag und Nacht
nämlich arbeitet die Staatsnotcupresse. Manchmal allerdings wird auch in den
Regierungskanzlcien sehr viel hin und hergeschncbcn, zuletzt öffnet sich das Thor
des Regierungspalastes und heraus strömt ein Schauer von Ordenszeichen her¬
nieder auf das Volk. Es wäre gut, wenn der Notendruck uns befreite vom
Steuerdrucke, unter dem das ganze Volk seufzt, und die goldenen Kreuze uns
das Kreuz leichter machten, welches wir tragen."
Als Vorletzter in der Reihe der Liberalen suchte öl'. Streiter ihren Stand¬
punkt durch einen Vergleich mit dem Programme der Ultramontanen klar zu
machen. Diese wollten die Glaubenseinhcit, die alten Stände und Postulaten¬
landtage, jene die Gewissensfreiheit, Ausbildung der Verfassung und Einheit
des Reiches. „Was seit dem Sistiningsmanifcste zu Tage trat, ist Zerfahren¬
heit, Nationalitätenhader, Uneinigkeit. Noch ein solcher Krieg wie der letzte,
noch eine solche Schlacht wie die bei Königsgrätz und die Monarchie geht aus
ihren Fugen. Aufrichten kann sie nur eine Verfassung, die uns zu freien Bür¬
gern eines freien Staates macht. Politische und religiöse Freiheit leiht uns
die Kraft, welche aus dem Bewußtsein großer gemeinsamer Interessen entspringt."
In einer Reihe solcher Sentenzen, deren Zusammenstellung wohl der Sprecher
selbst nicht für eine Rede hielt, die aber das Echo dieses Saales verwundert
wiedergab, leitete er die Schluße.idcnz der Opposition ein. welche Dr. v. Grödner
übernommen hatte und mit vollendetem Freimuth zur Wirkung brachte.
Zuletzt ergriff der Bischof Binccnz Gaffer von Brixen noch das Wort, um
das Siebencrcomite gegen die Anschuldigung in Schutz zu nehmen, als habe
es die Debatte über die sogenannte Sistinmgspolitik herbeiführen wollen, „denn
was hat diese mit der wälschtirolMen Frage zu thun?" Das klang wie ein
reumüthigcs Geständnis? verfehlter Taktik. Dennoch folgte er der Opposition
auf das Schlachtfeld. Das Manifest vom 20. September sei ein Act politischer
Nothwendigkeit gewesen, nachdem der Staatsminister Schmerling mit der Er¬
klärung: „Wir könne» warten", ohne es zu wollen, angedeutet, daß seine po¬
litische Weisheit auf die Neige gehe. Das Febniarpalcnt sei keine einheimische,
sondern eine exotische Pflanze, ein zarter Setzung der Staatsstreichsweisheit.
Am Ende hätte es doch nur zu einer Zweitheilung der Verfassung geführt, zu
einer cisleithaniseben und einer transleithanischen. Es war eben der Weg, den
das Ministerium betreten hatte, jener Dualismus, von dem der hochwürdige
Herr meinte, es liege ihm ein Hintergedanke zu Grunde, den er nicht weiter
besprechen wolle, er habe den Zerfall Oestreichs zur Voraussetzung. Einen
schlimmeren Dienst konnte er dem Ministerium Belcrcdi wohl kaum erweisen.
Fast wie Satire klang es, als der Mann, der als Vertheidiger der September-
Politik aufgestanden war, sich mit den Worten wieder setzte: „Oestreich wird
nicht zerfallen; . . . erwacht erst in den Völkern Europas die Sehnsucht nach
dem Frieden wieder, der sich auf Religion und Recht gründet, dann wird und
kann es nur Oestreich sein, welches Europa den Oelzweig bringt. Der Weg
nach vorwärts konnte somit unmöglich betreten werden," fuhr er fort, „man
beschloß daher den Weg nach rückwärts einzuschlagen, das ist die große
That, die dem 20. September zu Grunde liegt." (Nun die Taube Belcredi ist
zwar der Arche Noah Europas ohne Wiederkehr entflogen, aber wenn der heu¬
tige Zustand des Reiches jenem Vordersatze' der bischöflichen Predigt entspricht,
so hat er oder haben wir uns geirrt.)
Nachdem der Antrag des Landeshauptmanns auf Uebergang zur Tages¬
ordnung am Widerstand der Ultramontanen gescheitert war. wurde die Exer¬
cierübung der Liberalen praktisch ausgeführt. Diesmal verließen 16 den Saal
— Dr. Pfretzschner hatte sich gleich anfangs zurückgehalten —; am Nachmittag
dasselbe Manöver. Dies veranlaßte den Landeshauptmann, auf den 20. früh
andere Gegenstände zur Verhandlung anzusetzen. Da aber dem Vernehmen nach
ein Antrag der Ultramontanen auf Fortsetzung der Adreßdebatte bevorstand,
überreichten die Liberalen noch vor Beginn der Sitzung eine Erklärung, daß
sie bei neuerlicher Anregung dieses Gegenstandes die Versammlung zum dritten
Male durch ihr Austreten beseblußunfäbig machen würden. Die wackern Hetzer
ließen sich dadurch nicht abschrecken, den» kaum war die Tagesordnung verlesen,
erhob sich Greuter und verlangte Namens seiner Genossen Fortsetzung der AdreH-
debatte selbst auf die Gefahr hin, „daß ihr verfassungsmäßiges Recht hier sistirt
werde". Der ganze ultraniontane Schweif stimmte ihm bei, worauf die Libe¬
ralen, diesmal neunzehn an der Zahl, ihren Protestation.sspaziergang wieder¬
holten. Da mit den 31. die als Rumpf zurückbliebc». keine Verhandlung mög¬
lich war, erklärte der Landeshauptmann die Sitzung und zugleich die Session
für geschlossen. Bestürzt durch die letzten Vorgänge verzichtete er auf den
Schlußvortrag und sprach nur den Wunsch aus, daß nach den fürchterlichen
Stürmen des letzten Jahres wieder Tage des Friedens und der Ruhe folgen
möchten. Auch dem gefühlvollen Fürstbischof von Brixen versagte die Stimme,
von tiefstem Kummer überwältigt sank er in den Stuhl zurück und saß daselbst
fast noch eine Stunde, nachdem sich alle übrigen lange schon entfernt hatten.
So endete die erste sechsjährige Wahlperiode des tiroler Landtags mit die¬
sem drastischen Beweise, daß der Fanatismus des ganzen Volkes der Alpen
für ultramontane Finsterniß und Knechtung nur jesuitische Täuschung- und Lüge
ist. Das Ministerium Beust-Belcredi ordnete seither mit dem Patente vom
2. Januar d. I. „zur Ausgleichung widerstreitender Rechtsansprüche in Betreff
der verfassungsmäßigen Institutionen des Reiches " eine außerordentliche Reichs-
rathsversammlung und behufs ihrer Beschickung Neuwahlen für die cislcithani-
schen Landtage an, die auf den 11. Februar berufen und vorerst auf die Wahlen
zu diesem außerordentlichen Reichsrathe beschränkt sind, es wandte sich an den
„opferwilligen" Sinn der Völker, von denen es erwartet, daß sie „durch
starres Festhalten an einem formellen Gesichtspunkte nicht die Lösung der
Aufgabe stören würden." Sie sollen also selbst die Hand an ihre verbrieften,
vom Kaiser selbst verliehenen Rechte legen. und nach dem Muster der Patente
vom 31. December 18S1 die Bahn brechen zu ihrer Aufhebung. In Tirol un¬
terliegt es keinem Zweifel, daß auch diesmal die Mehrzahl der Gewählten aus
Söldlingen der schwarzen Partei bestehen wird, ja man hat sogar dafür ge¬
sorgt, daß sich Hilfstruppen aus Wälschtirol einfinde». Was damit gewonnen,
ist schwer zu sagen; unter dem Volke kann man hören, daß es lieber bei Bayern
oder der Schweiz wäre, und es fehlt auch nicht an solchen, die in abenteuer¬
licher Analogie der bedrängten Salzburger des vorigen Jahrhunderts nach Preu¬
ßen blicken. Können Sie im norddeutschen Grohsiaate sich bessere Verbündete
wünschen, als die im Irrgarten des Absolutismus lustwandelnde Cavalierpoli-
tik. welche uns jetzt die Geschicke zubereitet? —
Während das Rheinthal von Basel bis Bingen ein weites sccartigcs Becken
bildet, wandelt es von Bingen an plötzlich seinen Charakter: zwischen steilen
Felsenwänden eingezwängt, die nur von enge» Schluchten durchbrochen werden,
bahnt sich der Fluß mühsam seinen Weg und es bleibt rede» ihm kaum für
eine schmale Landstraße Platz übrig. Unterhalb Binden folgt jenes berüchtigte
Felsenriff, das dinger Loch, bis in unser Jahrhundert eine unheimliche, Gefahr
drohende Durchfahrt. Neben den vielen malerischen Bauten alter und neuer
Zeit, die an den Rebenhügeln die Blicke des Reisenden bald auf die eine, bald
aus die andre Seite des Ufers lenke», steigt mitten im Flusse auf einem Quarz-
felsen wie eine Warte für den Schiffer an gefährlicher Stelle oberhalb der
Stromschnelle des hinger Loches ein wohlgefügter finsterer Thurm empor, dessen
gewaltige Quadern ^seit Jahrhunderten den grünliche» Fluten wie dem stoßende»
Eisgange trotzen. Durch seine Banart aus das spätere Mittelalter hindeutend
zierten ihn einst ein spitzes Dach und Eckihürmchen, wie den Giebichenstein bei
Halle, aber seine alten Zinnen sind verfallen. Von diesem düsteren Bau. genannt
der Mäusethurm. geht eine wunderbare Sage, die dem Fremden noch heute ebenso
erzählt wird, wie es unseres Wissens schon vor 500 Jahren geschehen ist.
Zu Mainz regierte einst ein Erzbischof Hatto. ein sehr harter und geiziger
Herr. Unter ihm brach eine schwere Theuerung aus, so daß die Menschen zu
Hunden und Katzen ihre Zuflucht nahmen und doch viele Hungers starben. Als
die Armen nun von weit und breit zu seinem bischöflichen Sitze zusammen¬
strömten und um Brod schrien, da verhieß Hatto sie zu speisen, ließ sie alle in
eine geräumige Scheune vor der Stadt eintreten und die Thüren zusperren.
Dann legte er Feuer an und verbrannte erbarmungslos die Scheune mit den
arruen Leuten, daß sie sammt und sonders elendiglich darin umkamen. Bei
ihrem Gewimmer rief der unmenschliche Bischof hohnlachend aus: Hört, hört,
wie. die Mäuse pfeifen! oder nach anderm Berichte: Es ist eben mit ihnen,
als mit den Mäusen, die das Korn fressen und nirgend zu Nutze sind. Doch
Gott der Herr ließ den Frevel nicht ungervchen. Nicht lange, so erhob sich
aus den Flamme» selbst eine gewaltige Schaar von Mäusen, die bei Tage und
bei Nacht den Bischof von alle» Seiten umringten und mit ihren Zähnen an¬
fielen, daß sie ihm keine Ruhe ließen und er sich ihrer nirgend erwehren konnte.
Endlich, da er sich keinen andern Schutz mehr wußte, ließ er bei Bingen mitten
im Rhein einen festen Thurm erbauen, um dort vor ihnen sicher zu sein, aber
durch die Fluten schwammen ihm die Bestien nach, an den Wänden stiegen sie
empor, durch alle Fenster des Thurmes dränge» sie auf ihn ein, bis er Gottes
Urtheil erkennend unter ihren Bisse» seinen Geist aufgab. — So lautet über¬
einstimmend die Erzählung: einige berichten noch, die Mäuse hätten zum Vor¬
zeichen des Verderbens den Namen Halloh vertilgt, wo sie ihn fanden, nament¬
lich an den Wänden, andre, er habe sich bei Betheuerungen die vermessene Re¬
densart angewöhnt: Wenn das nicht wahr ist, sollen mich die Mänse fressen,
die endlich zur Wahrheit wurde.
Daß dieser Sage nicht ein wie auch immer entstelltes geschichtliches Ereigniß
zu Grunde liegt, ist, wenn wir den unglaublichen Hergang selbst, die Zeitum-
stände und die Gewähr der Ueberlieferung ins Auge fassen, von vornherein klar
und dedens keiner weiteren Beweise. Die Geschichte kennt zwei mainzer Erz-
bischöfe des Namens Hatto. beide im zehnten Jahrhundert, von denen der erste
seiner Zeit Reichsregent, im Volke als arglistiger Ränkeschmied einen sehr üblen
Leumund hinterließ, so daß man nicht anders meinte, als der Teufel müsse seine
Seele geholt haben. Nicht ihn, sondern den zweiten Hatto unter Otto dem
Großen, scheint jedoch die Sage im Auge zu haben, von dessen nur zweijähriger
Regierung durchaus nichts Nachtheiliges bekannt ist. Da somit ein geschicht¬
licher Grund für unsere Sage sich nicht recht ergeben wollte, die gleichwohl
durch ihre Berühmtheit frühzeitig den Scharfsinn der Erklärer herausforderte,
mußte man auf andre Auswege sinnen. Um von abgeschmackten Deutungs¬
versuchen andrer Art zu schweigen, so lag es am nächsten, in dem Thurme selbst
den Schlüssel der Geschichte zu suchen. Irgend eirse ältere mißverstandene Be¬
nennung wie Mauththurm, d. i. Zvllthurm. Mauerthurm oder dergleichen, konnte
mit der Zeit in Mausthurm verdreht und daraus wiederum zur Erklärung
dieses Namens die ganze wunderliche Historie entstanden sei». Vielleicht fand
auch unter Hatto dem Zweiten in der That eine schwere Mißernte statt, etwa
durch die Feldmäuse veranlaßt, wie sie im Mittelalter nur allzu häusig waren,
das Weitere ergab sich dann leicht, zumal da die Sünden der hohen kirchlichen
Würdenträger, namentlich ihr Geiz und ihre Habsucht, stets eine sehr beliebte
Zielscheibe für den deutschen Volkswitz bildeten.
An sich würde gegen die Berechtigung einer solchen Deutung nicht viel
einzuwenden sein, denn wie viele Geschichten sind nicht blos aus räthselhaften
Bildern, Denkmälern oder Namen entsprungen und werden von Küstern, Alter-
thümlern und ähnlichen Leuten so lange weiter getragen, bis sie endlich schon
durch ihr Alter ehrwürdig und glaubhaft erscheinen. Sofort aber erhebt sich
ein Bedenken, wenn wir sehen, daß unser rheinischer Mäusethurm einen Doppel¬
gänger hat. J>i der Provinz Posen hart auf der russischen Grenze liegt der
Goplosee und an demselben das Städtchen Kruswice, jetzt einem Dorfe gleich,
ehedem Hauptort von Cujavicn und Bischofssitz. Dort werden noch heut auf
einem Hügel am westlichen Ufer des Sees die Ruinen eines achteckigen Thurmes
von sehr alterthümlicher Bauart gezeigt, der in der Gegend unter dem Namen
des Mäuscthurms bekannt ist und folgenden Ursprung hat. Ueber Polen herrschte
einst vor etwa tausend Jahre» König Popiel oder Pompilius, der noch un-
^ mündig auf den Thron gelangte, geleitet und unterstützt von den trefflichen
Brüdern seines verstorbenen Vaters. Früh aber entartete er und allen Lüsten
stöhnend vergalt er ihre Hingebung mit Haß und beschloß auf den Rath seines
bösen Weibes sie alle aus dem Wege zu räumen. Zu diesem Zwecke stellte er
sich sterbenskrank, berief die zwanzig Oheime zur Berathung über die Thronfolge
zu sich und indem er seinen angeblichen Todestag voraussagte, bal er sie wie
ein Sterbender, noch mit ihm das Todtcnmahl zu feiern, dos nach slawischer
Sitte sonst bei dem Begräbniß stattzufinden pflegte. Da brach der ganze Hof,
die Königin voran, in laute Wehklagen aus und so allgemein wurde der Jam¬
mer, daß selbst die Bildsäulen im KönigSsaalc von Thränen strömten. Nachdem
der sterbende König mit den Oheimen den prächtigen Leichenschmaus gefeiert und
alles von Wein und Wehmuth trunken geworden, brachte er ihnen endlich in gol¬
denem Becher den Abschiedstrunk dar. Während er nnr zum Scheine daran nippte,
leerten die Oheime wirklich das Gift, das die schlimme Königin hineingemischt
und starben, da man sie betrunken wähnte, in der folgenden Nacht. Der Tyrann
rechtfertigte seine Unthat nachträglich durch die verleumderische Anklage einer
Verschwörung und weigerte ihren Leichen ein ehrliches Begräbniß, ja beim fest¬
lichen Gelage höhnte er sie noch durch die Worte: Die todten Mäuse beiße»
nicht. Da brach aus den unbcerdigten Leichen, welche er in den Goplosee hatte
werfen lassen, plötzlich eine Menge von Mäusen hervor, die über Seen und
Sümpfe, über Ströme, ja durch angezündete Holzhaufen den Missethäter so
lange verfolgten, brs er mit seinem Weibe und seinen beiden Söhnen nur noch
in einem festen Thurme Zuflucht zu finden wußte, um endlich dort ihren Bissen
zu erliegen und aufgezehrt zu werden. — Diesem aufgeschmückten Berichte, der
einen Verwandtenmord als Grund von Popiels Untergange anführt, ging ein
älterer einfacherer voraus, der den König nur beschuldigt, die bei den Slawen
besonders heilige Pflicht der Gastfreundschaft verletzt zu haben. Zwei über¬
irdische Fremdlinge, die bei dem Feste der Haarbeschneidung seiner Söhne zu
ihm eintreten wollten, wies er hart von seiner Schwelle. Da gingen sie zum
Bauer Past, der sie freundlich aufnahm und bewirthete. Zum Danke prophe¬
zeiten sie ihm, daß sein Sohn Szemowith dereinst den Thron besteigen würde,
wie es nach Popiels Fall in der That geschah. Bemerkenswert!) ist, daß einer
der polnischen Geschichtschreiber ein ähnliches Abenteuer wie von Pvpiel, von
einem viel jüngeren fabelhaften Herzoge Miecslaw von Cujavien meldet. Auch
er soll bei einem Gelage von den Mäusen überfallen worden sein, doch wird
als Ursache berichtet, er habe die Wittwen und Waisen seines Landes aus¬
geplündert, ihre Kühe geschlachtet, ihre Habe eingezogen, um damit sich und
seinen Genossen ein glänzendes Mahl zu bereiten, bei welchem ihn dann eben
die Vergeltung ereilt. Wir dürfen aus diesen Abweichungen schließen, daß
zwischen den Sagen von -Hatto und Pvpiel ursprünglich noch größere Ueber¬
einstimmung obwaltete, wie auch die älteste Aufzeichnung der letzteren den König
ausdrücklich in einem hölzernen Thurme auf einer Insel ende» läßt.
Ist es nun bei zwei von einander unabhängigen Mäusethürmen schon nicht
mehr gut. möglich, die Entstehung der Geschichte nur aus jenen räthselhaften
Bauwerken zu erklären, so wird dies Ergebniß dadurch noch verstärkt, daß wir
weitere Gestalter, derselben Sage-kennen lernen, die sich nicht an einen noch
vorhandenen Thurm anlehnen. Bon dein Bischöfe Widcrold von Straßburg,
der im Jahre 1000 starb, wird berichtet"), er habe die Verehrung nicht dulden
wollen, welche den wunderthätigen Reliquien der heiligen Attala erwiesen wurde,
weil zu diesen der Zudrang "der Gläubigen und ihre Geschenke viel größer ge¬
wesen seien, als zu seinem Münster. Da habe er versucht die heiligen Gebeine
zu rauben und, als ihm dies nicht gelungen, ingrimmig die Kanvnissen aus
dem Se. Stcphansstifte Vertrieben, wo jene Reliquien sich befanden und ihre
Güter an sich gerissen. Zur Strafe dieses Frevels erging es ihm ganz ähnlich
wie Hatto'. vor den verfolgenden Mäusen und Ratten flüchtete er in ein Schiff
auf den Rhein und wurde hier von ihnen zernagt, indem er sterbend seine
Schuld beichtete. Noch im sechzehnten Jahrhundert erblickte man im Straßburger
Münster das Bild eines Bischofs zu Schiffe, um welches Mäuse schwammen
und in gleicher Umgebung das Bild der heiligen Gertrud. Eine ganz ähnliche
Erzählung wie von Widerold ward über seine» Nachfolger Alewich in Umlauf
gesetzt, der kaum zwei Jahre regierte. Den Mönchen von Ebersheim zürnend,
weil sie sich eigenmächtig einen Abt gewählt, zog er die Güter und den Schatz
dieses in seinem Sprengel gelegenen Klosters widerrechtlich ein. Dafür erschien
ihm zuerst der heilige Mauritius mit der thebaischen Legion, dem das Stift
geweiht war, im Schlafe und ließ ihm eine empfindliche körperliche Züchtigung
angedeihen, dann nach Jahresfrist überfielen ihn garstige Mäuse von fremd¬
artiger Gestalt und Farbe und singen an ihn zu benagen. Da er sie auf keine
Weise abwehren konnte, ließ er durch seine Diener das Lager, auf dem er ruhte,
an vier Seilen in die Höhe ziehen, so daß es frei in der Luft schwebte, doch
umsonst. Die Seile dienten den Bestien als Leiter, sie bereiteten ihm auch in
der Höhe ein schreckliches Ende.
In der letzteren Gestalt kehrt die Sage in der Gegend von Köln, also
abermals am Rheine wieder: ein Ritter, der sich Güter der Ciemenskirche un¬
rechtmäßig angeeignet, wurde im Jahre 1012 von den Mäusen verfolgt, so daß
er weder mit dem Knittel, noch mit dem Schwerte etwas wider sie vermochte.
In einer Kiste eingesargt ließ er sich daher mit einem Stricke an die Decke des
Zimmers hängen und ward dennoch am andern Morgen von ihren Bissen todt
gefunden. Noch verschiedenen anderen Personen wird von den Chronisten ein
ähnliches Ende nacherzählt, so zumal einem Hofmannc und Gegner Kaiser Hein¬
richs des Vierten, dessen Fahrzeug die Mäuse mit ihren Zähnen leck machte»,
so daß seine Leute ihn nothgedrungen am Lande ihren Bissen preisgeben mußte»,
ferner dem dänischen Jarl Asbjörn, dem Anstifter eines Aufstandes, in welchem
1086 König Knut der Heilige siel. Die schriftlichen. Zeugnisse für diese
Sagen reichen bis in den Anfang des eilften Jahrhunderts hinauf. Neben
der schriftlichen Ueberlieferung aber ist auch die mündliche und zwar nicht
blos am Rheine lebendig geblieben. So sollen die einst sehr angesehenen Frei¬
herren von Güttingen im Thurgau. die drei große Schlösser am Bodensee be¬
saßen, ihre hungernden Leibeigenen in derselben Weise verbrannt haben, wie
Hatto und mit dem nämlichen Ausgange, doch findet hierbei der Unterschied
statt, daß die von ihnen erbaute Burg zuletzt allmälig so tief in den See Ver¬
sinke, baß man nur bei Hellem Wetter die Trümmer auf dem Grnnde ernennen
kann. Die gleiche Strafe trifft ferner einen grausamen Ritter in Oberbayern,
der sich in dem sogenannten Maussee ein Schloß baute und überdies noch seine
Bettlade in eisernen Ketten darin aufhängen ließ. Auch im hirschberger Teiche
in Böhmen kennt die Sage ein Mäuseschloß und nicht minder in einem kleinen
See bei Hoizöster im Innviertel. Bei dem letzteren läßt der hartherzige Graf
die Armen im Thurme verhungern, statt sie zu verbrennen. Endlich haben wir
noch eine Ueberlieferung aus Wales, die einen kranken Jüngling von Kröten
statt von Mäusen verfolgt werden läßt, vor denen er auch auf einem hohen.
Baume keinen Schutz gewinnen kann und vielleicht gehört auch eine Geschichte
aus der Gegend von Teplitz hierher, wonach ein Förster, der die Leute beraubt
und sich mit seinem Raube auf einen Berg flüchtet, infolge der Verwünschung
eines Mütterchens durch einen Mückenschwarm seinen Tod findet. Das Mücken-
thürmchcn soll an dies Ereigniß erinnern.
Doch genug der Sage», die durch ihre Einförmigkeit nur ermüden können.
Ueberall finden wir bei aller Abweichung im Einzelnen den gleichen Ausgang:
die Mäuse als Rächerinnen eines schweren Unrechts, das ein Mächtiger be¬
gangen, sei es nun ein König oder Bischof, Graf oder Ritter. Erinnert aber
dieses seltsame Strafgericht Gottes, der grade die mächtigsten Frevler seinen
ohnmächtigsten Geschöpfen wehrlos überliefert, nicht an das Ende jenes aus
den Büchern der Makkabäer bekannten Syrerl'önigs Antiochus Epiphancs, der
als ein arger Verfolger der Gläubigen bei lebendigem Leibe von Würmern ge¬
fressen wurde? Die nämliche Todesart aber, die man sich als eine abscheuliche
Krankheit ausmalte, sagte das Volk »och manche» anderen Tyrannen älterer
und neuerer Zeit nach, wie z. B. dem Kaiser Arnvlf. Wenn überhaupt bei
einem plötzlichen, unter etwas dunkel» Umständen erfolgten Todesfälle die Men¬
schen zu bedenklichen Muthmaßungen nur zu geneigt sind, so liebte es überdies
die Geistlichkeit sehr, das Sterbebett eines Kirchenräubers oder sonst unbußfertigen
Missethäters mit allen Schrecken der Hölle als Vorschmack der künftigen Pein
zu umgeben. Warum sollten wir also nicht an Mönchsfabeln denken dürfen,
zumal da auch im alten Testamente bereits die Feldmäuse als eine Landplage
vorkommen, die Gott der Herr über die Philister verhängt, weil sie die jüdische
Bundeslade geraubt. Gegen diese Auffassung gilt indessen, was wir oben schon
gegen die Ableitung aus unverstandenen Denkmälern bemerkten: zulässig für
eine einzelne Sage solcher Art vermag sie nicht alle zugleich zu erklären. Ganz
abgesehen davon, daß viele Züge unerklärt blieben, ist es denkbar, daß eine
bloße Mönchsfabel durch mehr denn achthundert Jahre lebendig im Volke wur¬
zelte und nicht blos an sehr verschiedenen Orten der deutschen Zunge sich fort¬
pflanzte, sondern auch in Böhmen und Polen, in Dänemark und England, bei
aller Mannigfaltigkeit der Ausführung doch nur von einer Anschauung be¬
herrscht?
Die weite Verbreitung unserer Sage, auf welche ich soeben hinwies, bei
Germanen wie bei Slaven deutet für ihren Ursprung auf jene graue Vorzeit
zurück, da vor aller Geschichte Deutsche und Slaven, Griechen und Römer,
Perser und Inder und alle die übrigen indogermanischen Völker, die Kinder
einer Mutter, tief drinnen in Asien als friedliche Hirten bei einander saßen,
dieselbe Sprache redeten und zu denselben Göttern beteten. Doch wie, wird
man uns einwenden, wer darf an jene Urzeiten denken, da die Mäusethürme
alle in geschichtlich wohlbekannte Umgebungen, in christliche Zustände gehören
und — mit Ausnahme Popiels höchstens — an Personen mit bekanntem Namen
sich knüpfen? Grade der Umstand, daß so ganz verschiedene Personen Träger
der Sage sind, beweist, daß keine derselben der ursprüngliche Träger ist. Aus
zahllosen Beispielen erkennen wir, wie Geschichten der Götter auf göttliche
Helden übergingen, von denen einer durch den andern verdrängt wurde und wie
in christlicher Zeit je nach ihrem Charakter bald Heilige, bald Teufel, bald auch
einfache Hirten und Bauern die Stelle der Heidengötter einnehmen. So sind,
um nur eines von jenen Beispielen anzuführen, die in den Berg entrückten
kaiserlichen Helden. Karl der Große, Friedrich Barbarossa u. a.. an die Stelle
Wuotans selbst getreten, auf den die Naben als seine heiligen Vögel hinweisen.
Mit den Völkern, mit den Zeiten verjüngen sich die aus der Urheimath mit¬
gebrachten Göttersagen: losgerissen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhange
werden sie in immer neues Ecdreich gesetzt und treiben neue Sprossen, während
alte Zweige und Blätter verdorren und abfallen, aber der Stamm bleibt un¬
verändert und, weist für den Kundigen in die verdunkelte heidnische Kindheit des
Volkes zurück.
Wenden wir diese allgemeinen Bemerkungen auf unseren Mäusethurm an,
so liegt es am nächsten, nach der mythischen Bedeutung der Mäuse zu fragen,
die ja offenbar das wesentlichste, überall wiederkehrende Element des ganzen
Sagenkreises sind. Die Thiere spielten bei unseren Vorältern, wie in allen
Mythologien eine sehr hervorragende Rolle, von der nur die Malchen und ein¬
zelne Züge des Aberglaubens noch spärliches Zeugniß ablegen. Mit den Thieren
geht der natürliche Mensch fast wie mit seines Gleichen um, wie es noch heut¬
zutage die Kinder thun, er empfindet die ungeheure Kluft zwischen der mensch¬
lichen Vernunft und dem thierischen Jnstincte wenig, weil auf dieser Stufe sich
beide noch viel näher kommen. Bald stehen ihm die Thiere als furchtbare
Feinde gegenüber, a» Kraft und Schnelligkeit, seit'si an Klugheit dem Men¬
schen überlegen, bald sind sie ihm liebe, vertraute Gesellen mit allen Vorzügen
und Schwächen der Menschen, selbst mit menschlicher Rede begabt. Auf der
rechtsten Stufe können sogar Gottheiten thierische Gestalt annehmen oder bei
weiter fortschreitender Entwickelung sind wenigstens gewisse heilige Thiere die
ständigen Begleiter der Götter, nicht nur bei den alten Aegyptern, sondern
ebenso bei den Indogermanen. Hiernach darf es uns nun weniger befremden,
daß auch die Maus, gegenwärtig ein unnützes, verachtetes und verhaßtes Ge¬
schöpf, einst in viel höheren Ehren stand, ja daß sie ebenso wie die jetzt noch
minder beliebte Schlange und die Kröte bei Deutschen und Slaven gradezu —
als die sinnliche Gestalt der menschlichen Seele gefaßt wurde.
Die Trennung der Seele vom Körper, diesen rätselhaften Vorgang, konnte
sich die kindliche Phantasie nur sinnlich vorstellen: wenn ein Mensch starb,
öffnete man wohl das Fenster, damit die Seele, die als el» kleiner Vogel dem
Munde des Sterbenden entflog, freien Ausweg finde, um in die Luftregion
zurückzukehren, aus der sie einst herabgekommen. So erschien auf der Leiche
des heiligen Wigbert dreimal nach einander ein wunderschöner Vogel, der nie
wieder gesehen ward: die Seele des Heiligen, die durch ihren Glanz Von der
Reinheit seines Wandels zeugte. Gern stellte man sich die Seelen der verstor¬
benen Frommen als schneeweiße Tauben vor. Aehnlich ist die Anschauung, auf
die ich zuvor hindeutete. Wie Maus und Schlange in finsterer Höhle Hausen,
bei Hellem Tage ungesehen, so wohnt die Seele tief in der Höhle des Körpers
und wie jene Thiere bei Nacht hervorschlüpfen und sich auf die Wanderung be¬
geben, so verläßt zur Nachtzeit im Traume die Seele den schlafenden Körper
und schweift ungebunden in fernen Regionen umher. Man erzählte Geschichten,
wie man bisweilen ein solches Thielchen aus dem geöffneten Munde eines
Schläfers habe hervorkommen sehen, das man auf seinem Wege nicht stören
dürfe, denn werde es an der Rückkehr gehindert, so bleibe die Seele vom Leibe
getrennt und unvermeidlich trete der Tod ein. Selbst Heilungen von Krank¬
heiten sollten'in der Weise erfolgt sein, daß die Seele in Thiergestalt außerhalb
ihres Körpers ein Bad nahm und dann wieder heimkehrte. Auch die abgeschie¬
denen Seelen, die als Elben oder Wichte, als Geister durch die Lüfte zogen,
dachte man sich demnach als. Mäuse: je nachdem sie schwarz oder weiß, böse
oder gut waren, brachten sie den Lebenden, denen sie erschienen, entweder Un¬
heil und Verderben ober Glück und Segen.
Diese Vvianssctzungen zeigen uns unseren 'Mäusethurm nun in einem
völlig neuen Lichte und lassen einen tieferen Sinn darin ahnen. Nach der
Hattosage kommen die feindlichen Mänse aus den Flammen, in denen die armen
Leute verbrannt sind, nach der Pvpielsagc gehen sie unmittelbar aus den un-
bestatteten Leiden, der ermordeten Oheime hervor: nichts Anderes also sind sie
als deren Seelen, die an dem Mörder die Blutrache vollstrecken wollen und
zwar in seiner Sünden Fülle, da er eben beim Gelage schwelgt. Nur den
Schuldigen falle» sie unerbittlich an. alle anderen, die ihn umgeben, bleiben
verschon!; nach einer Erzählung treten sie sogar unsichtbar auf, um ihre geistige
Natur recht kenntlich zu machen. Sie erscheinen in dem Augenblicke, da der
der Unthat hinzugefügte Hohn gleichsam den Becher der Schuld überfließen läßt.
Der Beifolgte findet nirgend Schuh vor ihnen, weder auf der Erde, wo keine
Waffe ihrer Menge gewachsen ist, noch ans dem Wasser, denn sie schwimmen
seinem Schiffe unaufhaltsam nach, weder hinter den Flammen des angezündeten
Holzstoßes, welche sie durchbrechen, noch endlich in der Luft, denn diese ist an¬
gedeutet durch den Bau eines hohen Thurmes und noch deutlicher durch das
Aufhängen in einem schwebenden Kasten. In keinem der vier Elemente also
vermag der Uebelthäter sich zu bergen: überall stehen ihm als Rachegeister die
Seelen der Gemordeten unentrinnbar vor Augen, überall zerreißen ihn nagende
Gewissensbisse, bis er endlich elend an seiner Schuld zu Grunde geht. So
wären die Mäuse gleich den griechischen Erinnycn mit ihren Schlangen ein
Bild der Gewissensqualen, gegen die auch der mächtigste Verbrecher sich nicht
schützen kann und trefflich würde dazu stimmen, daß ihre Verfolgung ausdrück¬
lich als ein Strafgericht Gottes bezeichnet wird.
So ansprechend diese Deutung für unser sittliches Gefühl scheinen mag
und so gewiß es auch ist, daß die christlichen Erzähler der Sage eine moralische
Nutzanwendung.hineingelegt haben, so entstehen gegen dieselbe doch große Be¬
denken, Die erbauliche Wendung einer viel jüngeren Zeit beweist ja zunächst
gar nichts für den ursprünglichen Sinn der Sage. Die Auffassung derer, weiche
uns vom Mäusethurme Kunde hinterlassen haben oder uns noch heute Kunde
davon geben, ist für »us keinesfalls maßgebend, denn sie betrachten ihn nur als
eine wunderbare geschichtliche Thatsache, die sie entweder annehmen oder bezwei¬
feln, hinter der sie aber sicherlich keinen tieferen Gehalt als den unmittelbar
moralische» suchen, — Die obige Auslegung ferner erklärt zwar den Untergang
des Frevlers, allein sie läßt völlig unerörtert, weshalb grade gegen die Armen
so unmenschliche Härte geübt wurde, wie es durch Hatto geschah. Der Fcuer-
odcr Hungertod der arme» Leute ist al'er offenbar ein ebenso wesentliches Stück
der Sage, wie die Flucht vor den Mäusen. Dies Motiv kehrt am häufigsten
wieder, auch in Polen scheint es, wie schon angedeutet, ursprünglich zu Grunde
zu liegen, weil der Name Popiel einen bezeichnet, der da sengt und brennt, da¬
her den Bösen oder den Teufel selbst. Die Abweichungen sind dann vielleicht
so zu erklären, daß an manchen Orten nur der schreckliche Ausgang des Frev¬
lers in dem Gedächtniß der Menschen haftete — wie wir ja sehr oft solche
trümmerhafte Ueberlieferungen finden — und daß man diesem Ausgange irgend-
ein beliebiges und auch sonst beliebtes Motiv, wie z. B. den Kirchenraub unter¬
legte. Für diese Auffassung spricht besonders der Umstand, daß die Sage einige
Male ohne jedes Motiv, also doch sicher in unvollständiger Gestalt erzählt wird.
Von da ist zu eigenmächtiger Erzänzung nur el» Schritt.
Abgesehen von der unbefriedigender Einseitigkeit der ethischen Erklärung
erhebt sich gegen dieselbe noch ein Einwand viel allgemeinerer Art. Wo es sich
um Ueberreste des Glaubens unserer heidnischen Vorältern handelt, dürfen wir
ebenso wie in den Mythologien der anderen indogermanischen Völker immer
erst in letzter Reihe an sittliche Mächte, an rein geistige Gewalten denken, in
erster dagegen an blos natürliche Kräfte, an sinnliche Erscheinungen. Von der
Verehrung der in der sinnlichen Natur wirksamen Kräfte, deren Uebermacht das
hilflose Menschenkind empfindet, geht alle Religion aus! Sonne und Mond,
Wind und Wolken. Donner und Blitz und ihre Wechselwirkungen unter ein¬
ander wie auf die Erde, in den Jahreszeiten zumal, sind die Elemente, aus
denen die Mythologie ihre Gebilde schafft; in ihnen walten die Mächte, an
welche der Naturmensch glaubt. Sobald er zu der Wahrnehmung durchgedrungen
ist, daß von den Erscheinungen des Himmels, deren wechselndes Spiel zuerst
nur seine Phantasie gereizt hatte, der Segen der irdischen Fluren, mithin sein
eigenes Wohlergehen bestimmt wird, entsteht in' ihm das Gefühl der Abhängig¬
keit von höheren Mächten, welches die Wurzel aller Religiosität ist. An die
bange Furcht vor den Schrecken der Natur schließt sich der frohe Dank für ihre
Segnungen: diesem Ausdruck zu geben, jene zu beschwichtigen, ist Zweck des
Cultus aller Naturreligionen. Ihre Feste sind nur dramatische Wiederholungen
der himmlische» Vorgänge.
In einem Himmelsstriche wie der des mittleren Asiens, der Wiege der
europäischen Menschheit, unter welchem die Uebergänge der Jahreszeiten bei
weiten, schroffer und gewaltsamer sind als in unserm kühlen Norte», mußten
jene Erscheinungen auch viel eindrucksvoller sein und der zerstörende wie der
befruchtende Einfluß der himmlischen Kräfte alle Sinne des Menschen gleichsam
gefangen nehmen. Fern aber lag seinem kindlichen Verstände jeder Gedanke
an allgemeine Gesetze und ihre Wirkungen! der Himmel war ihm nur das
Spiegelbild der Erde. Alles Gethier, das sich auf Erden regt, Berge, Seen
und Flüsse, Bäume und Blumen, menschliche Gestalten und ihre Werkzeuge
wiederholten sich im Himmel in ewig wechselnden, bunt schillernden Bildern.
So erschien der hcranbrausende Sturm, der die Wipfel der stärksten Bäume
schüttelt, als Wuotans wilde Jagd, die er mit seinen gespenstischen Geselle»
und Hunden abhält, der Flug der Wolken bald als der Schimmel, welchen der
Gott reitet, bald als sein breitkrempiger Hut und sein lang hinwallender grauer
Mantel, die Sonne als sei» einziges Auge: der dem Gewitter vorangehende
Wirbelwind, der alles Bewegliche in die Höhe reißt wie ein ungeheurer Eber,
der mit seinem Hauer Laub und Erde aufwühlt, der Regenbogen als strahlender
Gürtel oder Halsschmuck der Göttin, die strömende Regenwolke als eine himm¬
lische Kuh, die aus ihren Eutern ihr wohlthätiges Naß auf die Erde ergießt,
der Donner als das Rollen eines Götterwagens, von dessen Rädern die Blitz«
funkelt fliegen u, s. f. Nicht starre, unbewegte Gestalten wie die unwandelbaren
Gestirne sind es, die das Auge des Menschen hier wahrnimmt, sondern Leben
und Bewegung wie auf Erden. Liebe und Haß, Jagd und Kampf, Spiel und
Tanz, Tod und Vernichtung, sie walten auch unter den Himmlischen. Unter
allen Dramen aber, die sich dort abspielen, ist keines, das lebhafter die mensch¬
liche Phantasie beschäftigte, das zu mannigfaltigeren Bildern anregte, als das
Gewitter. Es stellt den Höhepunkt der Göttergeschichten dar und der unwider¬
stehlich niederfahrende Wetterstrahl des Blitzes ist daher stets Attribut des höchsten
Gottes.
Unter den zahlreichen Gestalten, welche das Luftgesilde beleben, begegnet
uns auch unsere Maus wieder, die wir fast ganz aus den Augen verloren
hatten. Sie ist ein heiliges Thier des alten indischen Sturmgottes Rudra, des
griechischen Apollon, des deutschen Wuotan und zwar deshalb, weil die dunkle
Gewitterwolke, die am Himmel dahinirieb. selbst als eine riesige graue Maus
erschien. Wie der leuchtende weiße Zahn des Thiers bricht aus der Wolke der
Blitz hervor, daher konnte die Maus auch gradezu als mythischer Ausdruck des
Blitzes gefaßt werden. Wiederum trifft sie hier mit der Schlange zusammen,
die eines der bekanntesten und verständlichsten Bilder des Blitzes ist. Mäuse
d. i. Sturm- und Blitzgeister, begleiten sowohl Wuotan als seine Gemahlin
Holda und ziehen mit ihnen im wilden oder wüthenden Heere am nächtliche»
Himmel. — Wie aber, so könnte man einwenden, die Mäuse sollen nun¬
mehr Sturmgeister sein, während wir doch früher in ihnen menschliche Seelen
zu erkennen glaubten? Zwischen beiden Vorstellungen ist eine nähere Verwandt¬
schaft, als es auf den ersten Blick scheint, wie ja überhaupt von einer strengen
Scheidung der Körper- und Geisterwelt in jener Zeit noch keine Rede ist. Ziehen
doch im Gefolge der Himmlischen und grade auch in ihrer wilden Jagd sowohl
die Seelen der Abgeschiedenen, wie die der noch ungebornen Kinder einher und
die heilige Gertrud, die christliche Nachfolgerin der alten Göttinnen, ist deshalb
vielleicht'im Straßburger Münster von Mäusen umgeben, weil zu ihr die Kinder-
seelen nach dem Tode kommen. Der heilige Gewittervogel, der Klapperstorch,
der das Haus, auf welchem er nistet, gegen den Blitz schützt, hat zugleich die
Aufgabe, die Kindciscelen aus dem himmlischen Teiche oder Börne d. i. der
Wolke zur Erde herabzuholen. Ein naher Zusammenhang waltet demnach
zwischen diesen mythischen Bedeutungen der Maus, wenn sie auch nach zwei
Seiten hin sich selbständig weiter ausgebildet haben. Für uns, die wir an
scharfe verstandesmäßige Abgrenzung der Begriffe gewöhnt sind, ist es freilich
sehr schwer, uns in diese schwankenden und verschwimmenden Geburten einer
zügellosen Phantasie hineinzufinden, die nur zu oft an die durch Raum und
Zeit nicht beengten Bilder des Traumes erinnern.
Doch wir wollten ja. um endlich zu einer befriedigenden Erklärung unsrer
Sage zu gelangen, uns nicht blos an die Mäuse halten, sondern auch an den
unbarmherzigen Tyrannen, der die armen Menschen verbrennen und verderben
läßt, da wir ihn als ebenso wesentlichen Bestandtheil des Ganzen erkannten.
Der Name Popiels aber, des sengenden, er leitet uns hinüber zu einer Ge¬
stalt, die am klarsten in der indischen Mythologie hervortritt, zu dem bösen
Dämon ^ushna oder Kujava, dem großen Schädiger, dem Geist der Dürre
und Mißernte. Wenn die Sonne, die im Lenze mit ihren Strahlen den Winter
besiegt, das Grü» aus der Erde lock! und alle Geschöpfe zu fröhlichem Leben
erweckt, mit denselben Strahlen im Hochsommer das von ihr erschaffene Leben
wieder erstickt, die Frucht verbrennt und böse Seuchen hervorruft, so glaubte
man nicht mehr die Wirkungen des nämlichen vorher so milden, gütigen und
segensreichen Wesens wahrzunehmen, sondern eine finstere feindliche Gewalt
hatte sich des Leben spendenden Sonnenrades bemächtigt und im Kampfe durch
einen größern Gott, durch Indra, der auf den Dämon seinen Donnerkeil schleu¬
derte, mußte es ihm wieder entrissen werden. Die gleiche Anschauung, etwas
anders gefaßt, begegnet uns bei den Griechen wieder. Hier ist es Phaethon,
der Sohn des Helios, der in unbesonnenen Jugendmuthe sich die Lenkung deS
Sonnenwagens anmaßt — denn ein Wagen war bei weiterer Entwickelung an
die Stelle des einfacheren Rades getreten — aber die Zügel entgleiten seiner
ungeübten Hand, die Rosse gehen mit ihm durch, zu nahe der Erde reißen sie
das glühende Gestirn mit sich hinab. Da verbrennen die Wälder, vertrocknen
die Ströme, ganze Städte sinken in Asche. Libyen verwandelt sich in eine un¬
geheure Wüste und die Mohren werden versengt, so daß sie noch heute schwarz
erscheinen. Endlich, da vor der unerträglichen Gluth die Erde keine Rettung
mehr findet und der Himmel selbst Feuer zu fangen droht, schleudert der rächende
Blitzstrahl des Barer Zeus den thörichten Knaben von dem Sonnenwagen in
den Strom Eridanos hinab.
Fassen wir noch einmal zusammen, was aus den verwandten indischen und
griechischen Mythen auf die deutschen und slavischen geschlossen werden darf, so
finden wir uns in die heiße Sommerzeit versetzt, da von wolkenlosem Himmel
eine glühende Sonne ihre Strahlen unbarmherzig herabsendet. Einem schaden¬
frohen Dämon gleich verbrennt sie Getreide und Futter, die Hoffnung des
Armen, sie läßt die lechzender Menschen und Thiere verschmachten und die
Quellen alles Lebens, vertrocknen, indem sie de» Schatz des Regens zurückhält
und verschließt. Doch ihrem tyrannischen Wüthen ist endlich ein Ziel gesetzt.
Ein fernes Wetterleuchten an der schwülen Atmosphäre verkündet den nahende»
Umschwung, hinter finsteren Wolken vnoirgt die Sonne ihr Licht. Nun bricht
am Himmel ein Kampf los, denn nicht gutwillig will der Unhold sein Reich
aufgeben. Hoch in die Lüfte thürmt er sich eine Wolkenburg mitten im Wasser,
aber ihre Mauern schützen ihn nicht: die Mäuse d. i. die züngelnden Blitze
durchbrechen und zerreißen sie, bis endlich ihre Trümmer in den himmlischen
See versinken, aus dem der Regen auf die Erde herabströmt. Erleichtert und
erquickt athmet der Mensch und alle Creatur auf, denn von einem stärkeren
Gott, von Wuotan selbst, der in Sturm und Wetter einherzieht, ist der böse
Geist der Dürre und Trockniß vernichtet, unter den Zähnen der Mäuse ist er
erlegen. Leichte Wölkchen an dem wieder aufgehellten Himmel erinnern nur
noch an den Kampf, der kurz zuvor dort obVn getobt hatte, wie auf dem klaren
Grunde des Sees die Trümmer des versunkenen Mäuseschlvsses noch Zeugniß
ablegen von den Dingen, die hier geschehen.
So ohngefähr mochte die sinnige Naturanschauung unserer Ahnen in ihren
asiatischen Wohnsitzen sich den Eintritt der Regenzeit im Monat Mai gedeutet
haben, der nach unerträglicher Dürre unter majestätischen Wettern erfolgte, mit
einer Heftigkeit, von der unsere deutschen Gewitter nichts ahnen lassen. Die
Geschichte von dem grausamen Unhold und seiner wunderbaren Bestrafung
pflanzte sich von Mund zu Mund bis auf die spätesten Enkel fort, aber wie
alle andern Gestalten der Mythologie, so war auch diese vom Himmel auf die
Erde herabgestiegen; einmal erniedrigt, wurde sie an bestimmte Orte gebunden,
mit bestimmten, mehr oder minder geschichtlichen Persönlichkeiten zusammen¬
geschmolzen, bis endlich die ursprünglich großartigen Züge des Mythus in eine
unglaubliche Geschichte mit moralischem Ausgange entstellt waren.
Selten ist wohl eine Parlamentssitzung mit größerer Spannung erwartet,
als die des 11. Februar in London. Der Passus der Thronrede hatte den
Schleier des Geheimnisses, mit dem die Regierung ihre Absichten umgeben,
kaum gelüftet, es war keine Bill, sondern nur Maßregeln angekündigt, welche
das Wahlrecht frei erweitern, aber doch nicht das verfassungsmäßige Gleichgewicht
verrücken sollten. Auch im Laufe der vorigen Woche verweigerten die Minister
jede weitere Auskunft und erst am Sonntag ward soviel bekannt, daß Resolu¬
tionen vorgeschlagen werden sollten.
Das Haus war überfüllt, schon um 1 Uhr wartete die Menge in der
großen Halle, bald nach 4 Uhr, nachdem der Sprecher das Gebet gesprochen,
wurden die Thüren der Gallerien geöffnet, welche im Umsehen bis auf den letzten
Platz besetzt warm, der Prinz von Wales, die Herzoge von Edingburgh und
Cambridge saßen unten so gedrängt wie oben. Die Gesandten und Peers,
unter denen wir Lords Russell, Derby und Granville bemerkten, selbst die Mit¬
glieder des Hauses hatten kaum Platz. 4'/- Uhr erhob sich Disraeli unter den
Chcers seiner Partei, denen allgemeine Heiterkeit folgte, als der Secretair den
Resormpassus der Thronrede, welchen er zur Einleitung vorlesen sollte, nicht
finden konnte. Nach der Rede Lord Derbys in der Ädreßdebatte war das Haus
auf die Erklärung vorbereitet, daß die Zeit gekommen, wo Reform nicht länger
als Parteifrage behandelt werde» dürfe und mußte in seiner Mehrheit den
Grund zugeben, welchen der Schatzkanzler hierfür geltend machte, daß nämlich
seit 1852 jede Partei die Lösung dieser Frage versucht habe und daran geschei¬
tert sei. Disraeli versuchte seine Zuhörer davon zu überzeugen, daß nur die
Mängel der Reformacte von 1832 eine neue und verbessernde Maßregel noth¬
wendig machten und daß ihr Fehler nicht, wie Lord Russell neulich behauptet, in
dem Wahlrecht liege, welches sie den Pächtern gegeben, sondern in der Ent¬
ziehung des Wahlrechtes der arbeitenden Classen. Er scheint uns mit dieser
Behauptung so Unrecht zu haben wie der frühere Premier mit der seinigen.
Allerdings Halle» vor 1832 viele Arbeiter das Stimmrecht, aber dies waren
grade die Proletarier der verrotteten Burgflccken, die rein auf Befehl der Grund¬
herrn stimmten, sie hat die Entziehung des Wahlrechtes sehr verdienter Weise
getroffen und die jetzige Bewegung in den arbeitenden Classen um Vertretung
im Parlament zu erhalten, hat damit nicht das Geringste gemein.
Der Redner suchte dann geschichtlich zu beweisen, daß die Wiedereröffnung
der Frage, welche grade Lord Russell als durch die Acte von 1832 endgiltig
entschieden erklärt habe, wesentlich den Bestrebungen einzelner unabhängiger
Mitglieder des Hauses und nicht den sich folgenden Ministerien zuzuschreiben
sei und zog daraus den einigermaßen gesuchten Schluß, daß das Haus deshalb
mit der gegenwärtigen Regierung die Verantwortlichkeit für die Erledigung dieser
Frage theile. Aus diesem Grunde habe Lord Derbys Verwaltung sich entschieden,
auf dem Weg der Resolutionen vorzugehen, um sich zu vergewissern, ob eine
Uebereinstimmung in den allgemeinen Zielen zu erreichen sei und damit ein
fester Grund für die einzubringende Bill gewonnen werden könnte. — Für diese
Methode war viel zu sagen; aber Disraeli überzeugte die Versammlung wenig
Von ihren Vorzügen. Statt die Vorschläge der Negierung, die doch schon druck-
fertig dalagen, mitzutheilen und zu commentiren, gab er nur sehr unbestimmte
Andeutungen über ihren Inhalt und überging grade die Punkte, welche der
Discussion am meisten ausgesetzt sein werden. Aus seinen Worten lieh sich
nur das abnehmen, daß nach den Resolutionen das Wahlrecht nicht mehr auf
Miethe und Pacht, sondern auf Steuern gegründet werden soll, daß seine Aus¬
dehnung umfassend sein soll, aber doch keiner Classe das Uebergewicht im Pa»
lauert geben dürfe, daß die Reform im Geist der britischen Verfassung sein
müsse, deren glänzende Vorzüge der Redner durch Vergleiche mit ander» legis¬
lativen Versammlungen hervorzuheben suchte, so daß das Wahlrecht als natio¬
nales Privileg und nicht als demokratisches Recht gelte, daß kein Flecken seines
Wahlrechtes ganz beraubt werde» soll, ausgenommen im Falle bewiesener sy¬
stematischer Bestechung, daß die Sitze, welche durch theilweise Entziehung des
Wahlrechts gewonnen würden, zum Theil aber nicht ausschließlich unvertrc-
tenen Städten von Bedeutung' gegeben werden sollten und endlich daß eine
schärfere Sondirung der ländlichen Bevölkerung von derjenigen der Flecken durch¬
geführt werden müsse. Die erstere sei schon an sich ungenügend vertreten und
dürfe nicht mit letzterer zusammengeworfen werden.
Gegen alle diese Sätze wird in ihrer Allgemeinheit vielleicht nicht viel ein¬
zuwenden sein, wenden wir nun abe? den Blick auf die Resolutionen selbst,
wie sie uns jetzt gedruckt vorliegen, so zeigt sich, daß grade die wichtigsten
Punkte mit Stillschweigen übergangen wurden. Daß die Zahl der Wähler durch
Herabsetzung der Wahlqualification vermehrt werden soll, wird kaum noch vc-
stritten, aber alles hängt davon ab, wie weit diese Reduction gehen wird; darf
ihre Durchführung, wenn sie auf Stcuerumlagcn gegründet werden sollte, da¬
von abhängen, daß das System der Umlagen revidirt werde? So lange man
nicht weiß, was die Negierung in dieser Beziehung will, ist durch Aufstellung
des allgemeinen Princips so wenig gewonnen, als durch die Erklärung, daß
keiner Classe ein Uebergewicht gegeben werden dürfe; die Aufgabe des Staats¬
mannes ist eben, solche theoretische Wahrheiten praktisch zu realisiren und zu
versöhnen, und dazu geben die Resolutionen wenig Anhalt, während ihr fünf¬
ter Satz, wonach ein Wähler unter Umständen mehr als eine Stimme erhalten
könnte, sehr bedenklich klingt.
Mit Ausnahme der, entschiedenen Tvryvlättcr geht die allgemeine Stimme
dahin, baß Disraeli die Aufgabe der Regierung sehr falsch aufgefaßt und seiner
Partei schlechte Dienste geleistet; er zeigte sein rednerisches und epigrammatisches
Talent zwar wieder auf glänzende Weise, aber faßte nicht den eigentlichen Kern
der Frage scharf ins Auge, sondern umging ihn und vertiefte sich in Excurse,
welche, so anziehend sie an sich sein mochten/) doch nur sehr indirect zur Sache
gehörte», mit einem Wort, er zeigte fiel) mehr ^>is Redner, denn als Staats¬
mann und er, der mit einem feierlichen Appell an die Unparteilichkeit des
Hauses begann, hatte seine Argumente doch nur im Interesse seiner Partei
gruppirt.
Gladstones vorläufige Entgegnung war gemäßigt und tactvoll, er verschwieg
die Bedenken nicht, welche sich der vorgeschlagenen Methode entgegenstellten,
aber widersetzte sich ihr an sich nicht, er erhob keinen Einwand gegen die Be¬
gründung der Wahlqualification auf Steuerumlage», aber er verwahrte sich
nachdrücklich gegen jedes Verfahren, was zur Verschleppung der Frage dienen
könne, denn so lange sie nicht erledigt, könne das englische Volk nicht wieder
einig werden und behielt, sich freie Prüfung der Resolutionen Vor.
Ständen sich im Unterhause noch zwei große geschlossene Parteien gegen¬
über, so wäre es kaum zweifelhaft, daß ein Mißtrauensvotum das Ministerium
stürzen müßte, aber grade in dieser Frage sind die Parteien zerfahrener als in
irgendeiner andern; denn Gladstone hat sich zu weit mit den Radikalen cinge-
lasse» und würde es gegenüber der vereinigten Opposition der Konservativen
und Adullamiten wahrscheinlich noch unmöglicher finden, seinerseits eine Bill
durchzubringen, als im vorigen Jahre, es würde also keinen Zweck haben,
Lord Derby zu verdrängen. In der That arbeitet denn auch nur Lord Russell,
dessen krampfhafte Ungeduld, wieder ans Ruder zu komme», keine Bedenken
kennt, auf ein Mißtrauensvotum. Die bedeutendsten Führer der Opposition
neigen dazu, auf die Resolutionen einzugehen, aber dieselben im Comite des
Hauses gründlich umzugestalten, sodaß dem Ministerium nur die Wahl bliebe,
sich in dieser Beziehung auch die dcmüthigendsten Bedingungen gefallen zu lassen
oder abzutreten.
Wenn die Tories ihre Entsagung so weit treiben, sich ihre Politik von
den Gegnern dictiren zu lassen, so mögen sie immerhin die Befriedigung haben,
ihre Namen unter die Acte zu setzen. Sobald die Neformfrage aus dem Wege
geschafft ist, werden die Adullamiten wieder in die Reihen der Liberalen zurück¬
treten und dann wird es Gladstone leicht werden, seine Gegner bei der ersten
Gelegenheit zu stürzen und ohne die unbequeme Zugabe Lord Russells ein star¬
kes Ministerium zu bilden.
Mit dem Jahre 1854 traten bekanntlich Hannover. Oldenburg und Schaum¬
burg-Lippe, die Länder des frühern Steuervereins, dem Zollvereine bei. Da¬
durch sah sich Bremen rings von Zollschranken umgeben, die im Durchschnitt
beträchtlich höher waren als die bis dahin vorhandenen. Infolge dessen kam
die Frage, ob Bremen nicht besser thue, sich ebenfalls dem Zollverein anzu¬
schließen, im Schoße der dortige» Bevölkerung zu lebhafter und leidenschaftlicher
Erörterung. Die Börse erklärte sich mit vereinzelten Ausnahmen dagegen; große
und kleine Gewerbtreibcude waren größtentheils dafür. Der damalige Redacteur
des Bremer Handelsblatts, Dr. K. Andrae, gab seine Stellung preis, um für
die industriellen Interessen zu kämpfen, während in der Wescrzeitung die un¬
übertreffliche Feder des jetzigen Senator Gildemeister für die Aufrechterhaltung
der handelspolitischen SondersUllung Bremens eintrat. Da die Entschließung
des Hanscstaatcs damals noch einzig und allein von ihm selbst abhing, und in
der ruhigen, ja todten Zeit der ersten fünfziger Jahre die Meinung der Börse
Bremen unumschränkt beherrschte, so war der Ausgang leicht vorherzusehen.
Die Stadt trat dem Zollverein nicht' bei. Wohl aber nahm sie ein Hauptzoll-
cunt des Zollvereine und eine zollfreie Niederlage in ihre Mauern auf, welchen
Einrichtungen dann die Kaufmannschaft den Abschluß gab, indem sie auf ihre
Kosten ein Dcclarativnsburcau ins Leben rief, das dem H.andelsstande das weit-
läufige Geschäft der Verzollung abnahm, der Zollbehörde erhöhte Sicherheit für
den Eingang der Zölle gewährte.
Dieser Compromiß, der Bremen gewissermaßen vertragsmäßig und Völker-
rechtlich, wenn auch nicht gesetzlich zu einem Freihafen des Zollvereins machte,
hat im Wesentlichen alle Interessenten befriedigt. Das geht schon daraus her¬
vor, daß der Vertrag im December 1863 zwischen den beiden Contrahenten,
dem Zollverein und Bremen, fast unverändert auf weitere zwölf Jahre über
den I.Januar 1866 hinaus, d. h. also auf die neue vertragsmäßige Lcbens-
peuvdc des Zollvereins, erneuert worden ist. Noch beredter zeugt für die Zweck¬
mäßigkeit des Abkommens die überraschende Thatsache, daß — bis heute we¬
nigstens — die seil vorigem Sommer so gründlich veränderte Lage Deutschlands
nicht benutzt worden ist, um die früher mißglückte Agitation für Anschluß an
den Zollvncin mit besserer Aussicht auf Erfolg wieder aufzunehmen. Im Ge-
folge des großen politischen Umschwungs mußte doch das handelspolitische
Selbstbestimmungsrecht der Hansestädte wegfallen, und die bremer Zollvereins-
vartci durfte sich wohl der Hoffnung hingeben, aus dem so außerordentlich n-
weiterem Felde der Entscheidung nickt allein eine Menge neuer Bundesgenossen,
sondern gradezu das Übergewicht zu erlangen. Allein es scheint, daß es so
etwas wie eine eigentliche geschlossene Zvllvcreinspartei in Bremen gar nicht
mehr giebt. Nicht einmal die auch dort äußerst tiefgehende Aufregung der
Rcichstagswahlcn bat eine neue Bewegung für den Anschluß hervorgerufen.
Der eine Kandidat hat aus seiner dem Anschluß abgeneigten Ueberzeugung kein
Hehl zu machen gebraucht; der andere ist muthmaßlich für den Anschluß, wagte
ihn aber eben im Interesse seiner Wahl nicht ausdrücklich zu fordern. Wäre es
anders, hätte sich eine starke und eifrige Partei im Schoße der Stadt der ge¬
stiegenen Chancen für den Zollanschluß alsbald bemächtigt, so ließe sich Wohl
zweifeln, ob die preußische Regierung so bereitwillig zugestanden haben würde,
daß die Hansestädte sich über Eintritt in die Zollliuie oder Draußenvorbleiben
nach wie vor selbständig entscheiden sollen.
Während aber in Bremen die Sache gegenwärtig ruht, hat sie in Ham¬
burg, wo sie i» den fünfziger Jahren nur einen gewissen sanften Zeitungs¬
und Flugsebriflenkrieg veranlaßte, diesmal einen heftigeren und hartnäckigeren
Kampf entzündet, als selbst die Parlamentswahlen/) Natürlich genug! Hamburg
stand bisher in keinem intimeren Verhältniß zum Zollverein als etwa Däne¬
mark oder die Schweiz. Nun aber ereignet sich in Bezug auf Hamburg, was
in den fünfziger Jahren Bremen widerfuhr: seine unmittelbaren Umgebungen,
Schleswig-Holstein-Lauenburg und Mecklenburg, rüsten sich dem Zollverein bei-
zutreten. Und dazu kommt die gegenwärtige allgemeine Umwälzung in Deutsch¬
land, welche Hamburg gleich allen übrigen norddeutschen Staaten die handels¬
politische Autonomie kosten wird. Zwei gleich kräftige Gährungsstoffe sind hier
also auf einmal in die Gemüther geworfen. Rechtlich hört die hanseatische
Selbstbestimmung in Zollsachcn auf, und thatsächlich ist die bisherige völlige
Abschließung gegen den preußisch-deutschen Zvllverband, mit andern Worten
die handelspolitische Isolirung Hamburgs nicht länger haltbar. Das Zuge¬
ständnis; der preußischen Regierung in ihrem Verfassungsentwurf für den nord¬
deutsche» Bund, nach welchem die Hansestädte auch ferner selbständig über Fort-
dauer oder Aufgebung ihrer Frcihafenstellung entscheiden sollen, gewährt den
Anhängern des Bestehenden zwar eine gewisse Beruhigung. Aber wenn der
Reichstag demselben nicbt beitreten sollte, so fällt eben ihm. und nicht den han¬
seatischen Staaten und Bürgerschaften die Entscheidung anheim. Man hat daher
höchstens eine gewisse Aussicht, keine Gewißheit, daß die Frage in Hamburg
und Bremen selbst zum Auftrage kommen werde, statt in Berlin. Unter solchen
Umständen ist der Zungen- und Fcderkampf. der augenblicklich in Hamburg ge-
fühvt wird, für das übrige Deutschland ebenso wichtig wie für die Ncichst-
bethciligten. i
Ein Geplänkel in der Presse ging dem förmlichen Ausbruch des Krieges
vorauf. Von den drei großen Blättern der Stadt nahmen dabei die Hamburger
Nachrichten für den Eintritt, in die Zolllinie Partei, die Börsenhalle und der
Hamburger Korrespondent gegen Denselben. Gleichzeitig erlich; das Commerz-
colleg, jetzige Handelskammer, ein Rundschreiben an zahlreiche bedeutende Häuser
aller Handelszweige, um deren Gutachten über die Frage zu erlangen. Diese
Gutachten sielen überwiegend zu Gunsten der bisherigen Freihasenstellung aus.
Die Hamburger Nachrichten ihrerseits schienen das Feuer bald einzustellen.
Allein wie 18S3 in Bremen, so bildete sich nun auch in Hamburg, nur viel
öffentlicher auftretend, ein förmlicher Verein für die Aufnahme der Stadt Ham¬
burg sammt ihrem Hafen in die allgemeine deutsche Zolllinie.' Diesem Verein
gegenüber erklärte der weit überwiegende Theil der Börse durch Unterschrift, er
halte an der Nothwendigkeit der Freihafenstellung fest.*) Die Auswahl der Pcir-
lamentecandidaten der Börsenparlei und des mit ihr gehenden Theils der demo¬
kratischen entsprach diesem Giaubcnsvckcnntniß in der augenblicklich brennend¬
sten Tagesfrage, während die Gegenpartei ebenfalls Männer ihrer Richtung als
Candidaten aufstellte. Bevor diese Zeilen zum Drucke gelangen, wird die Mehr¬
heitsprobe zwischen beiden Parteien entschieden haben. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß die große Mehrzahl des Handelsstandes im Augenblicke noch un¬
bedingt gegen den Eintritt in die Zolllinie ist. Auf der anderen Seite freilich
verräth Professor Aegidis Aufstellung durch die Anschlußsrcunde, daß unter den
letzteren recht einsichtsvolle, unbefangene und wohlgesinnte Gelehrte sind; ja
sogar noch eigentlichere Sachkenner als der genannte vortreffliche Mann be¬
urtheilen die Gefahren des Eintritts viel minder ungünstig, als die Börse im
Allgemeinen thut. Aber noch hallen diese vor allen berufenen Stimmen ihr
Urtheil vorsichtig zurück.'
Ganz das alte negative Verhältniß scheint übrigens niemand mehr auf¬
rechterhalten zu wollen. Das Ideal der Freihafcnmänner ist ein Vertrag, wie
er in Bremen nun seit Jahren zur Zufriedenheit aller ober jedenfalls beinahe
aller Interessenten besteht. Ohne ein Hauptzvllamt, eine zollfreie Niederlage
und ein Declarationsburcau glauben auch diejenigen, welche den Zollverein wie
einen Feind anzusehen gewohnt sind, nicht länger auskommen zu können. Da¬
nach würde denn auch Hamburg ein Freihafen des Zollvereins werden, wie es
Bremen bereits ist; aber freilich nicht, wie Bremen bis jetzt, kraft eines nur
auf bestimmte Zeit geschlossenen völkerrechtlichen Vertrages, sondern, wie Bremen
ebenfalls in Zukunft, kraft einer gesetzlichen Feststellung des norddeutschen Bundes,
beziehentlich des deutschen Zollvereins, und folglich blos so lange, wie es den
gesetzgebenden Gewalten dieses Körpers nicht etwa anders beliebt.
Einer Verladung der Angelegenheit wird sich voraussichtlich auch der
Reichstag nicht entziehen können, mag er nun den Hansestädten zu Liebe auf
ein Slück seiner Kompetenz verzichten oder nicht. Wäre er in seiner Mehrheit
bereits entschlossen, Hamburg und Bremen Freihafen bleiben zu lassen, so hätte
die Mehrheit keinen praktischen Grund, überhaupt irgendeinen bestimmten Be¬
schluß in der Sache selbst zu fassen; er könnte es nur einfach lasse» wie es ist,
und abwarten. was die Zukunft bringt. Wäre die Mehrheit aber umgekehrt
der hanseatischen Sonderstellung entgegen, so würde sie doch wohl eine gründ¬
liche Untersuchung an Ort und Stelle, eine parlamentarische Enquete nach Art
der englischen dem Spruche vorausgehen lassen wollen; oder wenn selbst das
nicht, so müßten, bevor die Zolllinie die beiden Städte in sich aufnehmen könnte,
die Docks gebaut sein, ohne welche kein Mensch den Hansestädten den Ueber¬
gang zu gleichem Recht mit allen übrigen Seehandelsplätzen ansinnt.
E>ne Vertagung hat aber einen noch viel stärkeren Grund für sich: die be¬
gründete Hoffnung, daß binnen einer nicht zu langen Reihe von Jahren eine
alle Interessen versöhnende, alle Parteien befriedigende Lösung beinahe von selbst
sich herausstellen werde. Schon von dem ersten volkswirtschaftlichen Congresse
datirt >n Deutschland das Bestreben praktischer Fortschrittsmänncr, den Tarif
des Zollvereins den Positionen nach zu reduciren. Einige wenige Artikel, der
sechste oder achte Theil der überhaupt besteuerten, liefern die große Masse der
Zolleinnahmen. Ließe man außer Kaffee. Zucker, Tabak, Wein, Wollen-, Baum¬
wollenwaaren und ein paar andern Gegenständen massenhaften Verbrauchs, alle
übrigen Artikel frei von Zoll, so würde sich der Ertrag nur um ein paar Pro-
cent verringern, und auf der andern Seile würden voraussichtlich mehr oder
minder entsprechend die Erhebungslosten sinken. Der Handel aber erhält damit
eine Erleichterung, die nicht hoch genug anzuschlagen ist. Diese Art von Tanf-
reform muß fortan, da jetzt die Zollvereinsgesetzgebung eine stetige Beweglich¬
keit erlangt hat, anstatt nur aller zwölf Jahre einmal durch lebensgefährliche
Krisen fortzuschreiten, das Augenmerk nicht nur der Freihändler, sondern auch
der Finanzmänner Deutschlands sein. Der Handelsstand der preußischen See¬
häfen hat sie seinerseits bereits ins Auge gefaßt. Die Hansestädte aber würden
sich einer solchen Politik und Agitation nicht eifrig genug anschließen können,
denn der Erfolg derselben würde ihnen gestatten, auf ihre Sonderstellung zu
verzichten ohne gleichzeitige Gefahr für den vollen bisherigen Antheil am Welt¬
handel. Nicht allein, daß der daraus hervorgehende allgemeine Ausschwung des
Handels sie über die Unbequemlichkeiten durchgängiger Verzollung eher Hinweg-
Heben würde; auch die Verlegung ihres außerdeutschen Handels in die Docks
wird minder schwierig und bedenklich, wenn sie sich nur aus eine kleine Zahl
noch zollpflichtiger Artikel bezieht. Und da ihre Vertreter nun ja Sitz und
Stimme bei den Berathungen erlangen, welche über die deutsche Zollgesetzgebung
entscheiden, so wäre zu wünschen, daß sie statt bloßer passiver Abwehr von An¬
griffen auf die Freihafcnstellung ihrer Plätze, die auf die Dauer mißluigcn
möchte, vielmehr alle ihre Energie und Einsicht auf das Ziel einer duvcbgrei-
fenden Tarisrcduction richteten, weil dies auch die Hansestädte bestimmen könnte,
ihren altererbter und sicher bisher nicht mißbrauchten Vorrechten vor anderen
deutschen Scehandelöplätzen bereitwillig zu entsagen. —
Seitdem Vorstehendes geschrieben wurde, haben die Parlamentswahlen
stattgefunden. Sie sind in Hamburg zu einem Masseuprvtcst gegen den Ein¬
tritt in die Zollliine ausgeschlagen. Die Anschlußpartei hatte zwei untadlige
Namen aufgestellt, den Kaufmann Woermann und den Professor Aegidi. aber
keiner der beiden hat es auf viel mehr als ein halbes Tausend Stimmen ge¬
bracht. Wir möchten daher auch durchaus nicht annehmen, Preußenfreundlichkeit
oder entschieden nationale Gesinnung sei bei diesem Wahlact gleichbedeutend
gewesen mit Parteinahme für den Eintritt in den Zvllverband. In Bremen
findet der letztere reichlich ebensowenig Anklang als in Hamburg, und doch wäre
es lächerlich, der Stadt Bremen und ihrem Reichstagsvertreter Preußenfreund-
lichkeit oder entschieden nationale Gesinnung abzusprechen, sowohl im Allgemeinen
als im Gegensatz zu dem dort unterlegenen Gegencandidaten. Wir wollen da¬
her die Herren Sloman. de Chapeaurouge und N6e (trotz ihrer merkwürdiger¬
weise durchgehende ausländischen Namen) so wenig wie Consul H. H. Meier
aus Bremen von vornherein als Particularisten, als Gegner des vom Grafen
Bismarck unternommenen nationalen Einheitswerks betrachten, sondern hoffen,
daß sie mit dem bremer und mit dem lübccker Abgeordneren ihren Platz inner¬
halb der Bänke der patriotischen Liberalen suchen werde». Es ist den
Hamburgern dieser Tage von Berlin her mit Recht zu Gemüthe geführt worden,
daß ihr Gemeinwesen fortan auf den guten Willen der preußischen Regierung
noch etwas mehr angewiesen sei als die übrigen Kleinstaaten, daß es bevorzugt
und bevorrechtet, aber schwach, folglich zu einer besonders rücksichtsvollen und
umsichtigen Haltung verbunden sei. Mögen sie sich durch das Schicksal Frank¬
furts warnen lassen, damit eine nächste Katastrophe sie nicht mit ähnlichem
Blitzstrahl treffe! Gegenwärtig ist man in Berlin für die Hansestädte überhaupt
noch eines aufrichtigen und einsichtigen Wohlwollens augenscheinlich voll. Von
Hamburg hauptsächlich wird es abhängen, ob dieses Wohlwollen in Bezug auf
alle drei Städte, oder in Bezug auf Hamburg allein wenigstens kalter und rück¬
sichtsloser Gleichgiltigkeit Platz machen soll, — und Hamburg verkörpert sich
letzt zunächst in seinen drei Abgeordneten zum Parlament.
Denkwürdigkeiten des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel. Von
ihm selbst dictirt. Aus dein französischen, als Manuscript gedruckten Original über¬
setzt. Mit einer Einleitung von or. K, Bernhard!. Kassel, Frcyschmidt.
Unsere Zeit hat aus dem Nachlasse bedeutender Männer zu wiederholten Malen
so wichtige historische Ausbeute erhalten, daß man jede posthum erscheinende Novität
von Memoiren und Korrespondenzen im Voraus mit günstigen Erwartungen begrüßt.
Das vorliegende Büchlein kann davon zeugen, dessen erste Auflage, noch ehe die deutsche
Kritik davon eingehend Notiz genommen, bereits erschöpft worden ist. Doch recht¬
fertigt in diesem Falle das Werkchen die ihm widerfahrene Theilnahme vollkommen.
Prinz Karl von Hessen hat in seinem langen Leben (1744—1829) wie am dänischen,
so am preußischen Hose wichtige Ereignisse aus nächster Nähe beobachtet und vermag
namentlich über militärische Verhältnisse^ denen er nahe stand, als tüchtiger Offizier
schätzbare Urtheile und Aufschlüsse zu geben. Er gall bei seinen Lebzeiten besonders
infolge seiner alchymistischen Studien für eine etwas exaltirte, nicht immer sich selbst
ganz klare Natur: das vorliegende Vues zeigt davon jedoch keine Spuren, es ist
mit einer naive» Einfachheit geschrieben, welche unter dem eifrigen Bestreben, den
Autor immer im besten Lichte erscheinen zu lassen, nirgends ein absonderliches oder
auffallendes Extrem blicken läßt. Die Belege, durch die sich uns der Prinz als tüch¬
tige» Charakter darzustellen sucht, sind so leuchtend, daß wir nur das einzige Be¬
dauern empfinden, sie nicht von einer fremde» Hemd, sondern von ihn? selbst berichtet
zu lese». Die wichtigste» »euer Details, welche das Buch darbietet, betreffen die
militärischen Zustände von Dänemark und das Hofleben zur Zeit Christians des
Siebenten unter Bernstorff und Struensee, den Verkehr des Prinzen mit Gustav
dem Dritten von Schweden und seine langjährige Verwaltung des GcncralcvmmandoS
von Norwegen, vor allem aber seine persönliche» Beziehungen zu Friedrich dem
Großen, vorzüglich während der Zeit des bayerischen Erbfolgckricgs. Durch eine
geistreiche Replik auf eine Sottise des große» Königs hatte er sich die Achtung des¬
selben erworben und genoß fortan des Privilegiums, demselben unverhohlen die
Wahrheit zu sagen, nöthigenfalls auch in seinen Ansichten zu widersprechen. Hier
enthält die Schrift eine Fülle der interessantesten kleinen Züge, und wenn vor den
lebensfrischen Farben, in der uns die Gestalt des Königs ganz wie wir sie nur aus
den besten Originalqucllcu kennen, entgegentritt, das Bild des Prinzen verbleicht, so
gebührt dem letzteren doch namentlich für die ernste Haltung, welche er den Religion«-
Spöttereien Friedrichs gegenüber consequent an den Tag legte, ein ehrendes Andenken.
Hier ein Beispiel: Der Prinz antwortete einst auf die Frage des Königs, ob
er denn wirklich ernsthaft an die Grundthatsachen des Christenthums glaube: „Ma¬
jestät, ich bin nicht so sicher, daß ich die Ehre habe, Sie zu sehen, als ich gewiß
bin, daß Jesus Christus gelebt hat und als unser Heiland am Kreuze gestorben ist."
Woraus der König in Gedanken versank, ihm dann den Arm kräftig drückte und
sagte: „Nun wohl, mein lieber Prinz, Sie sind der erste Mann von Geist, der
daran glaubt, welchen ich gefunden habe." — Für unsere jungen Helden des letzten
Krieges wird die genaue Schilderung des böhmischen Feldzugs von 1778 und na¬
mentlich der Lager bei Nachod und Trautenau von doppeltem Interesse sein. Das
Buch enthält in der vortrefflichen Einleitung und der am Schlüsse beigefügten Zeit¬
tafel noch besonders werthvolle Beigaben, und wir schließen uns von Herzen dem
Wunsche des Herausgebers an, daß die Angehörigen des Prinzen auch die Fort¬
setzung der Denkwürdigkeiten (die hier nur bis zum Jahre 1784 geführt sind) ge¬
statten möchten, da sich darin auch über so manche Ereignisse der neueren Zeit wich¬
tige Aufschlüsse finden.
Mit der Kammersihnng vom 11. Febriler ist ein Conflict der constitu-
tionellen Gen'alten in Italien ausgebrochen. Nicht unerwartet, und dies macht
ihn nur um so ernster. Den» nicht ein ä'nßerlichcs oder zufälliges Ereignis;
hat die Krisis herbeigeführt, sondern sie ist nur der Ausbruch einer langschlei-
chendeu tiefer sitzenden Krankheit.
Die Neuerung bringt einen Gehe^entwnrf ein. der die Beziehungen zwischen
Kirche und Staat definitiv regeln soll und zugleiä, der Finanznoth des König¬
reichs abzuhelfen bestimmt ist. Dieser Gesehentwurf stoßt — wir untersuchen
nicht aus welchen Gründen — auf entschiedenen Widerspruch in der Kammer,
so zwar, daß die Commission nicbt einmal seine Jnbetrachtnahme empfiehlt, nicht
einmal ein Gegcnvroject aufstellt. Die öffentliche Meinung, offenbar wenig im
Staude sich ein sachliches Urtheil über den complicirten Plan zu bilden, aber
aus verschiedenen anderen Gründen zu Mißvergnügen geneigt, stimmt lebhaft
in den Widerspruch ein und will, zunächst im Venetianischen, ihrer abfälligen
Meinung in öffentlichen Kund-gebunge» Na^-druck verleihe». Die Regierung
verbietet diese Volkversammlungen aus Gründe» der öffentlichen Sicherheit.
Von der Kammer über diesen Eingriff in das VcrsammlungSrecht interpellirt,
stellt das Ministerin,» die Vertrauensfrage. Die Mehrheit der Kammer ent¬
scheidet gegen das Ministerium. Dieses tritt zurück, der König aber nimmt das
Entlassungsgesuch nicht an. Ricasoli bleibt und löst die Kärrner auf: die Re¬
gierung appellirt von: Ausspruch der Kammer an den Ausspruch des Landes.
So weit ist alles nach den gewöhnlichem Regeln des constitutionellen Ge¬
brauchs. Ja das Mnmlcünm thut gleichsam ein Uebriges. Um der allgemeinen
Opposition Rechnung zu tragen, unterzieht es sich trotz der Appellation an die
Wahlurne einer Neubildung, wobei diejenigen Minister, die in erster Linie die
Verantwortung für das mißliebige Gesch tragen, ausgeschieden werden. Dies
alles ist so eminent constitutionell, daß man es als neuen Beweis ansehen
könnte, wie tiefe Wurzeln das constitutionelle System in dem jungen National¬
staat geschlagen. In Wahrheit ist das constitutionelle Princip in Italien noch
nie auf eine so ernste Probe gestellt worden.
Den Fall selbst betreffend, so kann über den Nechtspunkt nicht wohl ein
Zweifel sein. Die Verfassung garantirt das Versammlungsrecht, aber unterstellt
es zugleich den Bestimmungen des Gesetzes, und da nun kein besonderes Gesetz
existirt, so ist der discretionären Gewalt der Negierung ein weiter Spielraum
gelassen, so zwar, daß sie für jeden einzelnen Fall der Volksvertretung verant¬
wortlich ist. Wäre auch ein Specialgesetz vorhanden, so könnte dieses doch
keineswegs auf alle Fälle das Recht der Negierung zu Präventivmaßregeln aus¬
schließen. Nicasoli bestritt nicht das Versammlungsrecht, aber er wahrte zugleich
der Regierung das Recht, einem voraussichtlichen Mißbrauch desselben nöthigen-
falls vorzubeugen.
Ricasoli sagte in seiner Vertheidigungsrede u. a.: „Art. 32 der Verfassung,
der den Bürgern das Recht zuerkennt, sich friedlich und ohne Waffen zu ver¬
sammeln, unterwirft dasselbe gleichzeitig den Bestimmungen des Gesetzes. Und
da nun kein besonderes Gesetz besteht, das die Art und Weise und die Grenzen
der Ausübung dieses Rechts, feststellt. so fallen diese Grenzen unter diejenigen
Dispositionen, welche im Allgemeinen die Materie der öffentlichen Sicherheit
betreffen. ... In der That, wenn einerseits die Verfassung den Bürgern das
Versammlungsrecht zugesteht, vorbehaltlich jedoch der Einhaltung des Gesetzes,
so schreiben viele andere Gesetze der Negierung und insbesondere dem Minister
des Innern vor, allem dem vorzubeugen, was die öffentliche Ordnung, die
Sicherheit des Staats sowohl im Innern als nach außen gefährden könnte.
Seitdem ich die Ehre hatte zum ersten Mal über diesen Gegenstand meine Mei¬
nung in der Kammer auszudrücken, hat sich bereits eine Art juristischer Brauch
gebildet, welcher die Grundlagen für die Behandlung der Versammlungen und
Vereine genau stxirt. Sowohl die Negierung als die Kammer und ebenso die
Gerichte haben festgehalten und ausgesprochen, daß. so lange nicht durch ein
besonderes Gesetz die Art und Weise der Ausübung dieses Rechts festgestellt sei,
es der Regierung zukomme, welche dem Parlament und dem Land gegenüber
sür die Erhaltung der Ordnung verantwortlich ist, zu entscheiden, ob in einem
gegebenen Augenblick diese durch die Einberufung von Volksversammlungen
ernstlich gefährdet sei. ... Ja ich wiederhole, dies steht der Regierung zu, die
in Sachen der öffentlichen Sicherheit der einzige Richter und allein verant¬
wortlich ist."
Dies alles ist einleuchtend. Von Versassungsverletzung konnte nicht die
Rede sein, so laut auch die Linke darüber schrie. Eher ließ sich über die Op¬
portunist der Maßregel streiten, welche den Bruch herbeiführte.
Nicasoli hob das Unpassende solcher Demonstrationen gegen das Kirchen¬
gesetz hervor, so lange Unterhandlungen mit dem römischen Hof im Gang seien,
die im Zusammenhang mit jenem Gesetze stehen. Er führte die Aufregung an,
die ohnedies schon im Venetianischen wegen anderer Ursachen, wegen der Steuern,
der Theurung u. a. vorhanden sei und da und dort in jüngster Zeit zu unruhigen
Auftritten geführt habe. Der Präfect von Padua, Zini, gab überdies bei der
Bekanntmachung des Verbots zu verstehen, daß die Venetianer, des Gebrauchs
der constitutionellen Freiheiten ungewohnt, leicht einem Mißbrauch desselben aus¬
gesetzt seien, daß sie die Opposition gegen einen von der Regierung eingebrachten
Gesetzentwurf leicht mit der Opposition gegen die Regierung selbst verwechseln
könnten und so das Ansehen der Regierung Noth litte.
Dagegen konnte nun gesagt werden, daß Nicasoli die Gefahr übertreibe
und überhaupt diese Volksversammlungen zu ernsthaft nehme. Von Venedig
selbst wurde geschrieben, daß die Geister daselbst zur Zeit weit angelegentlicher
mit dem Karneval beschäftigt seien als mit der Freiheit der Kirche. Wollte
Nicasoli der Aufregung des Landes nicht neue Nahrung zuführen, so schien
grade zu diesem Zweck das Mittel zweifelhaft' gewählt. Denn anstatt der
ungefährlichen Agitation einiger Volksversammlungen, hieß es, beschwöre er nun
eine Agitation des ganzen Landes herauf, einen Wahlkampf, der möglicherweise
eine noch viel feindseligere Kammer liefern werde.
Ueber die Opportunist also ließ sich streiten. Aber grade darüber schnitt
nun Nicasoli den Streit ab, indem er die Vertrauensfrage stellte und damit den
Gegenstand auf einen ganz andern Boden hob. Das Entscheidende lag nun
nicht mehr in den Gründen, die sich für und wider anführen ließen, sondern in
der Thatsache, daß nun einmal Nicasoli im Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit
glaubte, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit jene Meetings verbieten zu
müssen und diese Thatsache der Kammer zur Billigung oder Verwerfung vor¬
legte, zugleich mit der ganzen Perspective der Folgen, die der Ausspruch der
Kammer haben mußte. In dieser Lage hatte die Kammer, um ihren Spruch zu
fällen, die ganze politische Situation zu erwägen, ob diese eine Ministerver¬
änderung wünschensrvcrth machte, sie mußte sich vor allem den ganzen politi¬
schen Charakier Ricasolis vergegenwärtigen, in dem sie Erklärung und Verständ¬
niß für seinen jetzigen Schritt zu suchen hatte.
Nun war noch in Aller Gedächtniß die Haltung, welche Nicasoli im Februar
1862 dem Treiben des garibaldischen Vorsvrgccvmitö gegenüber eingenommen
hatte. Die Kammer verfehlte auch nickt ganz besonders diese Erinnerung her¬
vorzuziehen. Aber anstatt darin ein Zeugniß zu Gunsten des politischen Cha¬
rakters Nicasolis zu sehen, machte sie daraus umgekehrt eine Waffe gegen ihn-
indem sie ihn der Inconsequenz zieh.
Ganz derselbe Fall war es nun nicht; -es hatte sich damals nicht um das
Bersammlungsrecht, sondern um-das Associationsrecht gehandelt. Boggio hatte
an das Ministerin'» die Jnterpellation gerichtet, ob, da die Verfassung nur das
Vcrsammlungsrecht, nicht ausdrücklich das der Association anerkenne,. dieses in
jenem stillschweigend enthalten sei, ob die Regierung den Mißbrauch des Asso-
ciationsrechtcs nur nachträglich mittelst der Gerichte verfolgen, oder ihm auch
durch Präventivmaßregeln Vorbeugen könne, ob durch Präventivgcsetze das Asso-
ciationsrecht geregelt werden solle, ob endlich die Borsorgecornitüs bis dahin aus-
geschritten seien und Repression verdient hätten.
Nicasvli bekannte sich zur liberalsten Auslegung. Nach seiner Meinung,
sagte er, und nach der allgemein üblichen Praxis sei allerdings das Associations-
recht im Versammlungsrecht enthalten, die Regierung habe nur das Recht der
Repressiv», nicht der Präventive, und die Comilös ballen bis jetzt keine Repression
Verdient. Doch fügte er ausdrücklich hinzu, daß er nicht gezaudert hätte, nö¬
tigenfalls de in P a r lam c n t P r S v e n t i v g e s c ez e v o r zus es l a g en, die von den U in stän¬
den gebieterisch angezeigt wären. Ueberdies ist in der ganzen Rede die beson¬
dere Überwachung betont, welche der Regierung über die Ausübung des Asso-
ciationsrcchtes zukomme. Dieser Begriff der Ueberwachung ist aber nun eben
der Punkt, wo die beiden Reden vom 25. Februar 1862 und von, 11. Februar
1867 sich berühren und zusammenstimmen. In der letzteren zeigte er, daß das
Recht der Ueberwachung sich nötigenfalls auch dahin ausdehnen könne, öffent¬
liche Versammlungen zu verbieten. Ein-c Inconsequenz ließ sich so wenig nach¬
weisen als eine Vcrfassnngsverletzung; giicasoli war derselbe, der er immer
gewesen. Wenn er seht unterlag, so heilte das eben nur datin seinen Grund,
daß sein Verhältniß zu dieser Kanuner schon lange ein gespanntes, unmögliches
geworden war. Schon die Tatsache, daß die Kammcrmrhrheit, die in einer
politischen Frage ersten Ranges aufgefordert war, über das Ministerium zu ent¬
scheiden, diese Gelegenheit' ablehnte und dagegen einen vechältnißnräßig unbe¬
deutenden Zwischenfall dazu benutzte, beweist schlagend, daß dieses Ministerium
und diese Kammer nicht länger zusammengehe» konnten; es war im Grund
gleichgiltig, bei welcher einzelnen Veranlassung die unvermeidliche Krisis ausbrach.
Sie war unvermeidlich, daif man wohl sage», seitdem diese Kammer über¬
haupt bestand, und sie wäre ohne Zweifel längst ausgebrochen, wen» nicht
der Krieg des vorigen Sommers die parlamentarischen Arbeitn», für längere
Zeit suspendirt hätte. Seitdem das Wablresultat von, On.ober 1865 be¬
kannt war, konnte man sich ernster Besorgr.löse für die parlamentarische Zukunft
des jungen Staats nicht erwehren. Man erinnert sich noch, welche allgemeine
Ueberraschung dieses Resultat hervorrief. Die Regierung hatte sich jeder Ein¬
wirkung enthalten, sie hatte ihren Gegnern freies Feld gelassen, und so waren
dir Wahlen überall unter dem Ruf! hinaus mit der Consorteria-d. h. hinaus
mit den Resten der alten cavourschcn Mehrheit erfolgt. Eine Reihe von Ca-
pacitätcn,. von geschulten Politikern fehlte, dagegen füllten sich die Bänke im
Saal der Fünfhundert mit dunkeln Ehrenmännern, mit Mittelmähigkeilcn. die
einige Schlagworte von ihren Wählern mitbekommen hatten und im Uebrigen
die Entschlossenheit mitbrachten, im Zwcifelsfall, wie es dem Biedermann zieme,
links zu stimmen. Von einer entschiedenen Mehrheit, die mit bestimmten Grund¬
sätzen eine Regierung aufrecht halten oder selbst eine Negierung aus ihrer Mitte
bilden konnte, war keine Rede, die alten Parteien waren in Fractionen zer¬
fallen, die unberechenbar von zufälligen Eindrücken, von lokalen und persön¬
lichen Stimmungen sich leiten ließen,, und man erlebte das bedenkliche Schau¬
spiel, daß die conservativen Elemente des piemontesischen Staats, anstatt einen
Damm zu bilden gegen die überstürzende und principlose Hast der Demokratie,
vielmehr aus particularistischem Trotz die Reihe» derselben verstärkten. Was
von der alten Mehrheit noch Übrig war, war einflußlos oder zeigte sichtbak
kein höheres Bestreben, als sich in die Sitze der gegenwärtigen Machthaber
einzudrängen. Dasselbe Bestreben zeigten die Führer der Linken, aber ohne
durch Aufstellung eines positiven Regicruiigsprogramms oder auch nur einzelner
Gegenentwürfc gegen die Vorlagen der Regierung ihre Befähigung zu erweisen«
Durch ihr Manifest an die Nation, worin sie eine Reihe wohlfeiler Anklagen
gegen die Regierung Nicasolis schleuderte, hat die Linke nur eine strenge Kritik
gegen sich selbst herausgefordert. Sie hat einen Finanzminister nach dem andern
gestürzt, ohne selbst das Mindeste für die Lösung der Finanzfragen beizutragen.
Sie verlangte Rom und bekämpfte den Septcmbervcrtrcig. der das Mittel war,
die Franzosen aus Rom zu entfenlcn. Sie rief unablässig nach Venetien, als
jede Aussicht verschlossen w>'r. und sie verlangte Entwaffnung, als wirklich der
einzige Ausweg, die preußische Allianz, endlich sich darbot. Sie war im Stande,
heute Nicasoli ihr Bündniß anzutragen und morgen ihn durch ein Mißtrauens¬
votum zu stürze». Mit welchem Einst sie überhaupt die parlamentarischen Ge¬
schäfte behandelt, davon nur ein Beispiel. Im vorigen Jahr nahm die Linke einen
großen Anlauf und verlangte im Ton sittlicher Entrüstung die Niedcrsctzuug einer
Cvminissioi! zur Untersuchung der GeldvcrsehlenderuNgcn, die seit dem Jahr
1860 von den Männern der verschiedenen Regierungen begangen worden seien.
Die Mehrheit willfahrt dem Wunsch, die Commission wird sogar überwiegend
^us Mitgliedern der Linken znsanuncngcsctzt, und — diese Commission ist
nicht ein einziges Mal zusammen getreten! So schleppten sich die Ver¬
handlungen uuter fortwährenden Unterbrechungen unerquicklich, langsam, mit
winzigen Resultaten hin. Das Verdienstvollste, was die Kammer that, War
die Vvtirung außerordentlicher Vollmachten. mit welchen die Regierung im
Frühjahr in die Kriegspolitik eintrat. Zuvor hatte sie nur noch das Gesetz
über den Verkauf des Kirchenguts in der Geschwindigkeit erledigt, aber in einer
Meise, gegen die sich später erhebliche Bedenken geltend machten. Und nun
nach dem Kriege, der Venetien mit dem Königreiche vereinigte, dessen Ausgang
freie Bahn schuf für die ungestörte Wiederaufnahme der inneren Arbeiten, fängt
die Kammer wieder an in ihrer kleinlichen negativen Weise. Die Regierung
legt, nunmehr auf das letzte Ziel, auf Rom bedacht, und gleichzeitig im In¬
teresse der Ordnung der Finanzen, einen großartigen Gesehentwurf vor, der
das Angebot an Rom für den verzieht auf die weltliche Herrschaft formulirt,
der den Streit zwischen Kirche und Staat beilegen und das Deficit schließen
soll. Das Gesetz bietet ohne Zweifel der Kritik seine schwachen Seiten dar, es
ist einerseits von bedenklicher Kühnheit und verräth wieder andererseits ebenso
bedenkliche Zaghaftigkeit; es ist zum mindesten verbesserungsbedürftig, auch
wenn die Grundlagen sich als wohlerwogen erweisen. Aber daß nun die Kam¬
mer mit einem solchen Gesetzentwurf binnen 24 Stunden fertig ist, daß sie mit
chevaleresker Leichtfertigkeit die Verwerfung beschließt, bevor sie noch recht die ein¬
gehenden Motive der Regierung gelesen hat, daß sie uicht etwa die ihr anstö¬
ßigen Punkte präcisirt, sondern das Gesetz in Bausch und Bogen abthut, daß
sie es nicht einmal der Mühe werth findet, in öffentlicher Debatte die Recht¬
fertigung der Minister abzuwarten, oder ihrerseits Gegenanträge zu formuliren,
dies ist denn doch eine so eigenthümliche Auffassung der parlamentarischen
Pflichten, daß sie ernstliche Besorgnisse für die Zukunft des parlamentarischen
Systems veranlaßt.
In der That scheint die gemäßigt liberale Presse nicht zu übertreiben, wenn
sie gradezu das constitutionelle System für gefährdet erklärt. Die Gefahr
kommt nicht von oben, niemand will Hand an die freisinnigen Institutionen
legen; sie kommt von unten, vom Parlament selbst, das auf dem Punkte steht,
das parlamentarische System zu discrcditiren. Man darf hierbei wohl auch
daran erinnern, daß die Abgeordneten fortwährend ihre persönlichen Verpflich¬
tungen auf die leichte Schulter genommen haben. In der Regel ist nur die
Hälfte aller Abgeordneten versammelt, und ein schlimmeres Beispiel ließe sich
dem Volke gar nicht geben. Selbst die Eröffnung einer so ungewöhnlichen
Session, die mit der Ankündigung der Annexion Vcnetiens und der Räumung
Roms begann, selbst die Vorlage des wichtigen Kirchengesetzes hat die Bänke
nicht zu füllen vermocht, und das entscheidende Votum, das Nicasoli zum Rück¬
tritt nöthigte, ist mit wenig mehr als der Hälfte der Abgeordneten gefällt
worden. Die Bestimmung, daß die Abgeordneten keine Diäten erhalten, hat
sich in Italien wenigstens nicht bewährt.
Aber noch mehr. Dem parlamentarischen Gezänk ist es zum großen Theil
zu verdanken, daß die Arbeiten der Consolidirung des Staats, der finanziellen
Ordnung, des administrativen Aufbaus noch so weit zurück sind. Man kann
sich des Gedankens nicht erwehren: die bedeutendste» Fortschritte sind dadurch
geschehen, daß die Regierung sich außerordentliche Vollmachten übertragen ließ.
oder daß sie einseitig ausführte, was sie nachträglich vom Parlament geneh¬
migen ließ. Ja man hat bemerkt: was das Parlament selbst sertig brachte,
kam gewöhnlich durch irgendeine äußere Nöthigung. sei es die Hundstagshitze
des Sommers oder ein bevorstehender Krieg, zu Stande. Es wird schlimm um
das Ansehen des constitutionellen Princips stehen, wenn weiter Kreise sich der
Verdacht bemächtigen sollte, daß der parlamentarische Apparat vielmehr ein
Hinderniß, anstatt ein Mittel für die Consolidirung des Staats sei.
Italien bedarf einer starken und stetigen Regierung, denn nur die Zuver¬
sicht in den regelmäßigen Gang der Staatseinrichtungen erzeugt Credit.
Activität, Unternehmungslust. Italien ist der unfruchtbaren Discussionen, der
Schwäche der Negierung. des beständigen Wechsels von Personen und Programmen
müde — kein Wort ist zu viel, das Ricasoli darüber in seinem vortrefflichen
Rundschreiben gesagt hat. Daraus folgt, daß die Kammer so zusammengesetzt
sein muß, um eine starke Regierung möglich zu machen, sie zu tragen, zu unter¬
stützen, nicht sie zu hemmen und zu schwächen; es muß eine feste compacte
Mehrheit vorhanden sein, welche die Regierung als ihr natürliches Centrum
betrachtet.
Freilich stellt die gegenwärtige Lage auch an die Regierung selbst unge¬
wöhnliche Anforderungen, und es wäre gar nie zu jener Zersplitterung des
Parteiwesens gekommen, wenn die gebietende Autorität eines Cavour noch vor¬
handen wäre. Nun sie aber fehlt, ist es um so mehr die Pflicht des Parlaments
oder der Partei, durch ihr Collcctivgewicht zu ergänzen, was dem Einzelnen ver¬
sagt ist, durch Disciplin den Genius zu ersetzen, und zum Glück bedürfen die
jetzigen Aufgaben Italiens weniger des Genius als ehrlichen guten Willens.
Daß aber bei der kleinen Auswahl verfügbarer Talente Ricasoli derjenige Mann
ist, der durch unbeugsame Geradheit und Unabhängigkeit des Charakters noch
am meisten Autorität genießt, darüber ist nur eine Stimme. Darin liegt die
Berechtigung der Krone, ihn gegen die Kammer zu halten, darin die Verpflich¬
tung für Ricasoli seinerseits, auf die berechtigten Motive der Opposition Rück¬
sicht zu nehmen. Er hat es gethan, indem er diejenigen Minister entfernte, die
unmittelbar für das Kirchengesetz verantwortlich waren, und eine Umänderung
des Entwurfs zusagte. Aber schwerlich wird er von den Grundlagen des Ge¬
setzes abweichen: er wird das Princip der Freiheit der Kirche aufrecht erhalten,
^le er auf irgendeinem Plane beharren muß, dem Staatsschatz mindestens
^00 Millionen aus dem Kirchengut zu sichern. Er ist das Eine ebenso den
Staatsfinanzen schuldig, wie das Andere der römischen Frage, die nun einmal
nur mittelst Durchführung des Princips der Freiheit ihrer Lösung entgegengeführt
Werden kann.
Ob die Wähler die Nothwendigkeiten des Staats begreifen werden, ob
sie Männer schicken, welche die Aera dilettantischen Experimentnens definitiv
zu begraben entschlossen sind. dies ist die Frage. Und mit besorgter Theilnahme
folgt man auch auswärts den politischen Lehrjahren eines Volks, das wie kaum
ein anderes Herr seiner eigenen Geschicke ist. Verkennen wir nicht: das consti-
tutionelle Princip selbst ist es, was hier eine ernste Probe besteht. Und wie
man mit freudiger Bewunderung den Aufschwung einer Nation begleitete, die
in Einem und in beständiger Wechselwirkung beide Güter sich zu erringen
schien, die Selbstregierung und die staatliche Einheit, so muh jeder Rückschlag
auch über die Grenzen der Halbinsel empfindliche Wirkungen üben.
Das freilich konnte sich nur ein oberflächlicher Blick verbergen, daß die
Selbstregierung des italienischen Volks erst noch ihre Krisen und ihre Proben
vor sich habe. Die Flitterwochen der italienischen Freiheit haben doch nur den¬
jenigen täuschen tonnen, der nicht bemerkte, daß sie nur die Dictatur des großen
Staatmanns bargen, dessen Autorität sich alle willig unterwarfen. Durch die
Kunst, mit der Cavonr die constitutionellen Mittel handhabte, ist freilich das
Werk der Einheit ungeheuer erleichtert worden, und eine Zeitlang, als der erste
Enthusiasmus noch nachdauerte und eine, starke geschulte Kammermehrheit die
Erbschaft Cavvurs führte, schien die Bahn für immer geebnet. AIs aber auch
diese Mehrheit in die Brüche ging und die Entscheidung gleichsam in die Ele¬
mente des Volks zurückfiel, als der Enthusiasmus bezahlt sein wollte durch
Opfer und Arbeit, da zeigte sich erst, wie wenig dieses Volk in seinen verschie¬
denen Bestandtheilen für eine Verfassung vorbereitet war, deren Schule Piemont
allein durchgemacht hatte. Immerhin mag, was an Bildung und Vorschule
fehlt, bei dem glücklich begabten Volt der politische Instinct ersetzen, und wir
hoffen es. Uns Deutschen aber mag grade in diesen Tagen die Erinnerung
willkommen sein, daß ein wohlausgeführtes formell fertiges Verfassungsgcrüste
noch nicht das Höchste ist, und daß ein neues nationales Leben vielleicht besser
beginnt mit bescheideneren Formen, die sich auf das Nothwendige beschränken
und allmälig den Bedürfnissen gemäß sich entwickeln. Der Anfang ist dann
freilich nicht so enthusiastisch und voll Jubels, aber es sind dafür Wohl auch die
bitteren Nachwehen und bedenklichen Krisen erspart, und die Entwicklung wird
um so stetiger und sicherer sein, je gleichmäßiger die einzelnen Theile, die jetzt
schon verbunden sind und noch werden verbunden werden, für die Gemeinsam'
Der Kampf, welchen Polen und Russen in Galizien, Lithauen, Weißru߬
land und anderen ehemaligen Provinzen der polnischen Republik ausfechten,
wird ebenso mit den Waffen der äußeren Gewalt, wie mit denen des Geistes
geführt. Charakteristisch genug für die Macht, welche die modernen Ideen auch
in Nußland gewonnen haben, ist es, daß grade die Russen zu wiederholen nicht
müde werden, es handele sich bei ihrer Auseinandersetzung mit den Enkeln
Lechs in erster Reihe um die Anerkennung und den Sieg eines großen Principes,
um die Durchführung der demokratischen Idee und deren historisches Herrscher¬
recht in allen slawischen Ländern. Der Berkennung dieses Rechts, dem Abfall
von den nationalen Traditionen und der Hinneigung zu westeuropäisch aristo¬
kratischen Formen sei es zuzuschreiben. daß die Polen ihre selbständige Existenz
verwirkt hätten, zum Aufgehen in die russische Völkerfamilie verurtheilt seien
u. s. w. Während die Murawjew, Berg und Annenkow die Herrschaft des
russischen Adlers mit allen Mitteln der Gewalt zu erzwingen bemüht waren,
ließen russisch-demokratische Gelehrte sich die Mühe nicht verdrießen, aus Acker¬
stücken und Chroniken von unvordenklichen Alter Beweisstücke dafür zu ge¬
winnen, daß Wilna, Schitomir, Lemberg u. f. w. echtrussische, nur auf dem Wege
der Gewalt polonisirte Städte seien; freilich stützten diese Gelehrten sich, wo die
archäologischen Argumente nicht ausreichten, auch auf Gensdarmcnsäbel und
Kosakeopiken und wenn sie das historische Museum zu Wilna zerstörten und
ihren Klagen über einseitige, tendenziös-polnische Anordnung und Aufstellung
der Schätze desselben u. a. dadurch Ausdruck gaben, daß sie alle polnischen Alter¬
thümer hinauswarfen und nur die spärlichen Reste russisch-lithauischer Herr¬
lichkeit stehen ließen, so mußte es zweifelhaft bleiben, ob diese Art der Beweis¬
führung vor dem Richterstuhle der Wissenschaft besser bestehe als vor dem der
Politik. Immerhin verdient es Beachtung, daß die brutale Gewalt auch in
diesen halbbarbarischen Gegenden des Deckmantels rechtlich und geschichtlich be¬
gründeter Ansprüche nicht mehr entrathen zu können glaubt, daß z. B. keine
der für den griechisch-orthodoxen Cultus eroberten katholischen Kirchen Lithauens
ihren bisherigen Inhabern entrissen wurde, ohne daß der Wilnaer Courier (das
Organ Murawjews und seiner Nachfolger) eine gelehrte Abhandlung darüber
veröffentlichte, daß der Grundstein dieses Gebäudes von einem Fürsten aus dem
Hause Mstislaws oder Wjuschcslaws gelegt und dasselbe „noch vor vierhundert
Jabren" zu grieckitcb-orthodl>xem Gottesdienste benutzt worden sei.
Daß es mit der Berufung auf das historische Recht der Russen seine großen
Schwierigkeiten habe, daß die Theorie von der Unvcrjährbarkeit durch Jahr¬
hunderte inexigibel verblichener Ansprüche wenig geeignet sei, in der gelehrten
Welt Eroberungen zu machen, mußten die Männer der wissenschaftlichen Be¬
gründung murawjewscher Politik sich freilich selbst sagen. Ihre Deductionen
reichten höchstens für das russische Publikum aus, um aber das westliche Europa
von dem guten Recht des gegen die Polen gepredigten Kreuzzugs zu überzeugen,
bedürfte es schärferer Waffen. Was sich auf dein Gebiet der historischen Unter¬
suchung nicht fertig bringen ließ, sollte unter Anrufung des Nationalitätsprincips
mit statistisch-ethnographischen Hilfsmitteln erreicht werden. Ohne große Mühe
ließ sich nachweisen, daß die Polen außerhalb Congreßpolens und der westlichen
Hälfte Galiziens allenthalben gegen die Russen in der Minderzahl seien und
damit glaubte man zugleich dargethan zu haben, die Russen und nicht die Polen
seien zur Herrschaft in diesen Ländern berufen. Auf eine Lösung des Räthsels,
daß allenthalben die polnische Minorität und nicht die russische Majorität dem
Lande seinen specifischen Culturstempel aufgedrückt hatte, ließ man sich ebenso
wenig ein, wie auf Untersuchungen darüber, ob die numerische Schwäche des
polnischen Elements angesichts der entschiedenen Überlegenheit desselben nicht
eher als Argument für, denn wider das Herrscherrecht desselben anzuführen sei/)
Sehen wir uns nach den Resultaten dieser ethnographischen Untersuchungen
zuvörderst in Galizien um. Nach ziemlich übereinstimmenden Angaben des
Annuaire der Revue ach cloux momlW und des Erkertschen ^durs etlrrwZrÄ-
Mque nes xroviuees Irabit^os pg,r 6es ?otoirais (Se. Petersburg, 1863)
leben in diesem Lande (immer die halb russische, halb rumänische Bukowina
ausgenommen) 1.980,000 Polen. 2.100,000 Russe». 114,000 Deutsche und
449,000 Jubeln Alles Land westlich vom San, einem Nebenfluß der Weichsel,
ist ausschließlich von Polen bewohnt; die kleinen russischen Streustücke, welche
Erkert auf dem westlichen User dieses Flusses als vorwiegend von Russen be¬
wohnt bezeichnet, kommen — auch abgesehen von der Parteilichkeit dieses rus¬
sischen Geographen — nicht in Betracht. Wie wir wissen (vgl. den Artikel in
Heft Ur. 7) gehörte dieser Theil des Königreichs zu Kleinpolen, einer Stamm¬
provinz der Ader Republik und waren ihr die.deutsch-schlesischen Herzogthümer
Auschwitz (Oswiezim) und Zator einverleibt. Von russisch-nationalen Ansprüchen
auf dieses Ländergebiet, in welchem nach Erkerts eigener Angabe die Polen
dominiren und nur an der äußersten Grenze fünfzehn Procent der Bevölkerung
russischer Herkunft sind — darf nicht die Rede sein; die vielbesprochene „gall-
zische Frage" hat es nur mit Ostgalizien zu thun, der Westen des Landes kann
nur por net-is in die Discussion siezten werden. DaS Verhältniß des aus¬
schließlich von Polen bewohnten galizischen Westens zum Osten jenes König¬
reichs entspricht dem Congrcßpolens zu den lithauischen und weißrussischen Pro¬
vinzen, nur daß Nußland den Zusammenhang zwischen diesen Provinzen zu
lösen versucht bat, während Oestreich Kleinpolen und Rothrußland in eine neue
politische Einheit verschmolz, die selbst zu polnischer Zeit niemals bestanden
hatte. Die ethnographischen Verhältnisse Ostgaliziens entsprechen denen der
wcißrusfischcn und lithauischen Provinzen Rußlands vollkommen.
I» der östlichen Hälfte des „ Königreichs " geholt die Mehrzahl der Be¬
wohner dem kieinrusfiscben oder, wie man in Oestreich sagt, dem ruthenischen
Stamme an. Abgesehen von den Städten, in welchen Polen, Deutsche und
Juden den Russen die Wage Kalten, nimmt das polnische Element von Westen
nach Osten in ziemlich regelmäßig niedersteigenden Verhältniß ab; nach den
Angaben der Erkertschen Karte bilden zwischen dem 40. und-42. Grad östlicher
Länge v. L. (die südlichsten und die nördlichsten Theile ausgenommen) die Polen
noch fast ein Viertel der Bevölkerung, während zwischen dem 42. und 44. Grad
nur noch zwischen 1 und 5 Procent der polnischen Nationalität angehören.
Südlich von Dnjestr gehören auch zwischen dem 40. und 42. Grade dem Polen-
Volke nur 15 Procent aller Bewohner an, nördlich von Lemberg 3—10 Procent.
Nach der Anschauung jener blinden Anhänge, des Nationalitätsprincipes, welche
gleich den radicalen Demokraten der 48er Schule keine Schwierigkeiten kennen,
die sich nicht mit Hilfe einer aus dem Parleikatechismus geholten Zauber¬
formel lösen ließen, steht nun die Sache sehr einfach: da im östlichen Galizien
mehr Russen als Polen leben, so haben die letzteren sich den ersteren zu sub-
ordiniren, sind alle polnische» Ansprüche auf eine Herrschaft jenseit des San
unberechtigt.
Genau so haben die Machthaber in den vorwiegend von Lithauern und
Weißrussen bewohnten Gegenden des westlichen Rußland gesprochen: nichts-
destoweniger ist der polnische Einfluß trotz aller Verbote des Gebrauchs der
Polnischen Sprache, trotz aller Kosaken und Linientruppen, die man zur mate¬
riellen und moralischen Unterstützung des Nationalitätsprincips und der demo¬
kratischen Idee aufgeboten hat, allenthalben in Wolynien, Podolien, Minsk.
Grodno, Kvwno und W>ira noch heute der maßgebende und haben die Polen
Galiziens zu den Zeiten Stations in Galizien ebenso das Heft in Händen ge¬
habt, wie während der Verwaltung Agenor Golnchowskis. In Ländern, welche
vini mehren, auf verschiedener Culturstufe stehenden Nationalitäten bewohnt
werden, in denen es mehr oder weniger von dem Willen des Einzelnen ab-
hängt, zu welcher Nationalität er sich rechnen will, stehen der statistischen Er-
Mittelung der ethnographischen Verhältnisse Schwierigkeiten entgegen, von denen
man sich bei uns in Deutschland kaum eine Vorstellung machen kann. Das Be¬
streben des in den niederen Classen vertretenen Volksstamms, sich den herrschenden
Classen zu assimiliren, ist so mächtig, daß kein Kriterium zur Feststellung des
Nacenunterschiedcs ausreicht. Wonach will ma» entscheiden, ob ein Galizier, der
nicht etwa Bauer, griechisch-unirter Geistlicher oder russischer Parteiführer ist,
der russischen oder der polnischen Nationalität angehört? Soll etwa die Sprache
maßgebend sein? Wer je in zweisprachigen Ländern gelebt bat, wird wissen,
daß eine Sprache, die für die der Gebildeten gilt, von allen Personen, welche
zu dieser Classe in Beziehung stehen, mit gradezu leidenschaftlichem Eiser gelernt
und gesprochen wird. In den erwähnten westrussischen Provinzen ist es That¬
sache, daß die Mehrzahl der bäuerlichen Knechte, welche auf polnischen Edel-
höfen leben, sich die Sprache ihrer Herren angeeignet hat und sich mit Vorliebe
in derselben ausdrückt, daß in den Städten die Kaufleute und Handwerker
russischer Extraction schon in der zweiten Generation mehr polnisch als russisch
reden, ja daß selbst die Offiziere der russischen Garnisonen Wilnas oder Kownos,
wenn sie längere Zeit am Orte bleiben, dem Einfluß der polnischen Gesellschaft
unterliegen und es vermeiden, im Privatleben eine Sprache zu reden, die in
allen ehemals polnischen Ländern zu der der Bauern und des niederen Volkes
geworden ist.
Dem magischen Reiz, den das Bewußtsein, der herrschenden Classe anzu¬
gehören, namentlich auf Halbgebildete ausübt, widersteht sichs allenthalben nur
schwer: in Galizien giebt es keine russische Regierung, die Beamte und Gar¬
nisonen ihrer Nationalität ins Land schicken und nach Bedürfniß wechseln kann.
Das russische Element wird von außen her weder materiell noch moralisch
unterstützt — wie soll es hier zugehen, daß zwischen Polen und Russen eine
unverrückbar feste Grenze gezogen werde? Grade wie in den westrussischen
Provinzen ist das Kriterium der Sprache auch hier nicht ausreichend, um die
Nationalität zu bestimmen, weil ein bedeutender, numerisch nicht bestimmbarer
Bruchtheil der Bevölkerung, dessen russische Abstammung nicht geläugnet werden
kann, sich den Polen zuzählt und für die Interessen derselben gewonnen ist. —
Ebenso steht es mit der Bestimmung des Nationalunterschiedes durch das religiöse
Bekenntniß; auch dieser Damm hält gegen den Andrang überlegener Cultur nicht
Stand. In Galizien wie in Lithauen giebt es zahlreiche Personen des Mittel¬
standes und des Adels, welche der griechischen Kirche angehören und sich doch
für Polen ansehen; daß es der russischen Partei gelungen ist, einzelne dem
griechischen Bekenntniß angebönge Adelsfamilien Galiziens für die Sache ihrer
Nationalität zu gewinnen, rechnet dieselbe zu ihren größten Triumphen — die
Mehrzahl jener Geschlechter hielt es mit den Polen und wird es mit den Polen
halten, so lange die Zugehörigkeit zu diesen die Theilnahme an der gebildeten
Gesellschaft bedingt. In den russischen Zeitungen sind die Klagen darüber, daß
die Familien der griechisch-russischen Geistlichen in den Gouvernements Wilna,
Kowno und Minsk die Polnische Sprache reden und mit Vorliebe polnische
Trachten anlegen, noch immer nicht verstummt; nach einer Anordnung Muraw-
jcws sollen in jenen Provinzen künftig nur solche griechische Priester angestellt
werden, welche nachweisen können, daß ihre Frauen aus Großrußland stammen
oder in der russischen Pension zu Wilna erzogen worden sind! Diese eine That¬
sache ist unseres Bedünkens ausreichend, um darzuthun, wie wenig der Racen-
unterschied in den polnisch-russischen Ländern nach dem religiösen Bekenntniß
festgestellt werden kann. So lange die Begriffe „Pole" und „Herr" identisch
sind, wird es weder in Nußland, noch in Galizien möglich sein, den Charakter
des Landes auf dem Wege statistischer Ermittelungen festzustellen. Das Ueber-
gewicht der Cultur und einer traditionellen Herrschaft läßt sich ebenso wenig
wägen oder zählen, wie die Entscheidung des Einzelnen darüber, ob er Russe
oder Pole sein will, zwangsweise zu bestimmen ist.
Von den zahlreichen, bisher im Großen und Ganzen res-ultatlos gebliebenen
Anstrengungen, welche die russische Regierung in Lithauen, Weihrußland und
der Ukraine aufgewandt hat. um den altrussischen Charakter dieser Provinzen
zu restituiren und den Einfluß der polnischen „Eindringlinge" zu brechen, sind
die meisten in Galizien durchaus nutzlos, weil sie ein großes russisches Hinter¬
land zur Voraussetzung haben. Daß die in Westrußland angewandten Gewalt¬
mittel nur aus Kosten alles unter Menschen giltigen Rechts ins Werk gerichtet
werden konnten und eine allgemeine Auflösung der sittlichen Begriffe zur Folge
gehabt haben, wird von urtheilsfähigem Russen ebenso wenig geläugnet, als daß
die Unterdrückung der polnischen Civilisation zunächst auf Unkosten der Cultur
überhaupt geschehen ist. Die „Demokratisiruug" der früher polnischen Provinzen
Rußlands, mit welcher man einen großen Theil der „entschiedenen" Demokratie
Deutschlands Sand in die Augen gestreut hat, ist in der That nichts weiter
als eine Barbarisirung gewesen: die gebildete» Classen winden gewaltsam ihres
Vermögens und ihres Einflusses beraubt und von Bauernhordcn, an deren
Spitze fanatische Beamte und Offiziere ans Großrußland standen, terrorisirt.
Aber je strenger die Maßregel» waren, welche man gegen die herrschende
Classe anwandte, desto unumstößlicher wies es sich aus, daß der traditionelle
Einfluß derselben durch die bloße Beseitigung der Machtgrundlage, auf welche
er gestützt gewesen war. »och nicht gebrochen werden konnte. Das Märtyrer-
thum, zu welchem das polnische Element sich allenthalben innerhalb der Grenzen
des russischen Reichs verurtheilt sah. erhöhte die moralische Kraft seines Ein¬
flusses auf die übrigen Classen. Die Jahrhunderte lang constante Thatsache,
daß der gemeine Mann, wenn er zu höherer Bildung und einer bevorzugten
Stellung aufsteigen wollte. Pole werde» mußte, hat sich den russischen Be¬
wohnern der ehemals polnischen Länder so tief eingeprägt, daß das aus dem
Polenthum ruhende Anathem der russischen Negierung in den Augen des Volks
zu einem Anathem gegen die höheren Classen als solche und gegen die
Bildung geworden ist. Die rohen, bäuerlichen Bewohner Lithauens und West,
rußlands sind seit 1863 zwangsweise von den polnisch-katholischen Bildungs¬
quellen, die ihnen früher zu Gebote standen, entfernt und — seit der Ge¬
brauch mit lateinischen Lettern gedruckter Bvlksschriften bei Strafe untersagt ist,
von jeder Möglichkeit abgeschnitten, eine höhere Bildungsstufe zu erreichen. Die
mit fynllischen Lettern gedruckten russischen Gebetbücher und Kalender, welche
die Regierung als Aequivalent geboten hat, kann das Volk nicht lesen und alle
Versuche zur Begründung national-russische» Volksschulen sind an dem Mangel
halbwegs brauchbarer Lehrer und entsprechender Hilfsmittel vollkommen ge¬
scheitert.
Daß die östreichische Regierung eine Barbarisirung Galiziens zu Gunsten
des russischen Elements und der russischen Nachbarschaft nicht begünstigt hat.
wird ihr schwerlich zum Vorwurf gemacht werden können. Die überwiegende
Mehrzahl der von der russischen Presse gegen die golucbowskische Verwaltung
erhobenen. Beschwerden bat aber grade die. Nichtbegünstigung der nativnalrussi-
schen Bildung zum Gegenstande. Bis jetzt aber geht das Bestreben, eine solche
herzustellen, nicht von der Masse der russischen Bewohner Galiziens, sondern
von einer kleinen Schriftsteslergruppe aus, die für ihre Ideen eine künstliche
Propaganda macht. Eine volksthümliche westrussisch-galizische Literatur giebt es
nicht. — um dem Einfluß der Pole» entgegenzuarbeiten, sind die russischen
Parteiführer in Galizien bemüht, die großrussische Schriftsprache unter ihren
Landsleuten einzubürgern und in Kiew, Moskau und Petersburg gedruckte
Bücher nach Galizien einzuführen, Während die ethnographischen Zustände
wie die Macht und Bildungsverhältnisse Ostgaliziens im Großen und Ganzen
denen der westlichen Gouvernements Rußlands ähnlich sind, giebt es nur in
Lemberg, Przemysl und anderen galizischen Städten eine russische Bildungs¬
partei, nicht aber in Wilna, Kvwnv oder Mohilew. Die Schule der russischen
Gelehrten und Journalisten Galiziens stammt aus dem Jahre 1848, sie ist das
natürliche Product der damals in Umlauf gekommenen liberalen und nationalen
Ideen und des von der östreichischen Regierung begünstigten Bestrebens, den
polnischen Einflüssen einen Damm vorzuziehen. Die Pole» waren unklug genug,
diese kleine rutheuische Vildungspartei, die Anfangs völlig unverstanden und
isolirt dastand, zu für.bee^n und demgemäß zu befehden. Aus dem Kampfe, den
die Polen gegen das fyrillische Alphabet, die leinbeiger Literainrgcsellschaft und
das russische Katheder an der lcmberger Universität zu eröffnen für nothwendig
Kleider, hat diese Partei ihre Nahrung bezogen, durch das unkluge und des¬
potische Verhalten der Polen ist sie relativ groß geworden.
Hätte in^n die Dinge ihren natürlichen Lauf nehmen lassen und das ruf-
fische Literatenthum ignorirt, es wäre an sich selbst gestorben und hätte die
Macht des polnischen Einflusses nimmer gefährdet. Nach wie vor hätten die
polnische» Gymnasien in den Städten ihre Anziehungskraft für die bildungs¬
bedürftige Jugend bewährt, die polnischen Gutsbesitzer ihre Herrensitze zu den
maßgebenden Bildungsoasen des flachen Landes gemacht und die „KussKo-
Mli^I^'g, Radien," (die russische Literaturgesellschaft) wäre das Spielwerk einer
kleinen Schar einflußloser Gelehrter geblieben. Der Leidenschaftlichkeit, mit
welcher die galizischen Polen die ursprünglich harmlosen Anstalten angriffen,
welche das Jahr 1848 ins Leben gerufen.hatte, ist es zuzuschreiben, daß die¬
selben jetzt zu einer politischen Bedeutung gelaugt sind und in Moskau und
Petersburg für nationale Heiligthümer gelten, deren Beschützung und Aufrecht¬
erhaltung für eine Ehrensache der gesammten russischen Nation ausgegeben
werden kann. Wunderbar genug, daß das russische Element in den dem rus¬
sischen Scepter unterworfenen, früher polnischen Ländern trotz aller Anstrengungen
der Negierung leblos geblieben ist und ausschließlich von den Beamten und
Soldaten repräsentirt wird, welche Murawjew und dessen Nachfolger nach Wilna
und in die übrigen westrussischen Städte gezogen haben. Von einer auto-
chthonen Bildungspartei, von lithauisch-russischen Gelehrten und Journalisten ist
hier nirgend eine Spur zu entdecken, denn der Einfluß der Negierung hat die
Polen dieser Länder daran verhindert, das unkluge Verfahren ihrer galizischen
Stammesbrüder nachzuahmen und eine nationale Opposition wachzurufen. Um
den Nachweis dafür zu führen, daß das westrussische Volk noch nicht ganz po-
lonisirt sei, müssen die Kawelin, Pogodin, Akasakow u. s. w. (die wissenschaft¬
lichen Vertreter der Russisicationspoliut) über die Grenzen des russischen Staats
hinausgreifen und zu den galizischen Stammesbrüdern ihre Zuflucht nehmen.
Dieser Umstand erklärt den lebhaften Antheil, welchen Regierung und Presse
Rußlands an den Vorgängen im Verwaltungsgebiete Goluchvwkis nehmen.
Gelingt es dem zur Zeit mit der östreichischen Regierung verbündeten Polenthum,
der nationalen Bewegung unter den russischen Gelehrten Galiziens Herr zu
werden und die Integrität des polnische» Charakters der Länder östlich vom
San zu behaupte», so geht den russischen Bestrebungen in Lithauen und Wei߬
rußland der einzige unabhängige, auf nationalem Boden geborene Bundes-
genosse verloren, den sie in Polnisch-Rußland überhaupt besitzen.
Daß man in Wien gegenwärtig die Polen auf Unkosten der Russen be¬
günstigt, hat seinen Hauptgrund in der Furcht vor der Befestigung des russischen
Nationaleinflusses in den an der östreichischen Grenze belegenen russischen und
polnischen Gouvernements. So lange die russische Nati.vnalpartei Galiziens
eine isolitte Erscheinung war und sich damit begnügte, ein specifisches Nuthenen-
thum zu begründen und dem polnischen Einfluß entgegenzusetzen, schien sie wenig
gefährlich. Die Bezeichnung „Ruthenen" wird von den Männern der lembergcr
Literaturgesellschaft aber gegenwärtig mit Entschiedenheit abgewiesen und eigent¬
lich nur noch von Polen und Oestreichern gebraucht. — Die ehemaligen Ru-
thenen wissen es sehr wohl, daß sie als selbständiger Stamm ohne alle Bedeu¬
tung sind, daß ihre Zukunft von der Wiederherstellung des verloren gegangenen
Zusammenhangs mit dem großrussischen Stamm bedingt >si. Es ist nicht ab¬
sichtslos geschehen, daß man in Rußland selbst schon seit einiger Zeit eifrig
bemüht ist, alle Erinnerungen an die Verschiedenheit innerhalb der vielgeglie¬
derten russischen Völkerfamilie zu verwischen und namentlich kein specifisches
Kleinrussenthum aufkommen zu lassen. Zu dem kleinrussischen Stamme, welcher
die Gouvernements Kiew, Pollawa. Charkow, Tschernygow u. s. w. bewohnt,
gehören auch die Russen Ostgaliziens: im Hinblick auf die mit diesen herzu¬
stellende Verbindung werden die Bestrebungen der „Ukrainophilen" (mit diesem
Namen bezeichnet man die ziemlich unbedeutende kleinrussische Literaturpartei)
ebenso ängstlich überwacht, wie die der Polen und an jeder selbständigen Lebens¬
äußerung verhindert. Unter solchen Umständen ist dem wiener Cabinet nur die
Wahl zwischen Polenthum und Moskowiterthuin in Galizien gelassen und seit
sichs entschieden hat, daß die Versuche zur Herstellung einer „ruthenischen"
Nationaiiiät (gegen welche die Polen vielleicht nichts einzuwenden hätten) un¬
möglich ist, hat man sich den Polen in die Arme geworfen. Bei der Ohnmacht
deö deutschen Elements im Kaiserstaat hat an eine Germanisirung der polnischen
Länder, wie sie von Preußen in Posen erfolgreich durchgeführt worden, ohnehin
niemals gedacht werden können.
In Rußland ist es neuerdings Mode geworden, die preußischen Germani-
sativnsbestrebungen in Posen mit den Russisicationöplänen der Petersburger
Regierung zu vergleichen und es Oestreich zum Vorwurf zu machen, daß es die
einzige der drei Theilungsmächte sei. welche das verrottete Polenthum begünstige
und erhalte. Es handelt sich, wenn man die Sache näher betrachtet, in Preußen
aber doch um wesentlich andere Ziele als in Rußland und daß Oestreich der
Polen nicht entrathen kann ist auch nicht zufällig. Die preußische Regierung
stützt sich in ihren polnischen Besitzungen auf den von ihr geschaffenen wesent¬
lich deuischen Bürgerstand. Rußland will sich in der lithauisch-wcißrussischen
bäuerlichen Bevölkerung seiner westlichen Gouvernements eine Stütze schaffen.
Oestreich endlich, das keinen Bürgerstand zu begründen fähig war, und weder
unter den Bauer», noch unter den Edelleuten Galiziens Siammverwandte vor¬
fand, hat es.vorgezogen, das aristokratische Element vor dem bäuerlichen zu
begünstigen. In Preußisch-Polen ist es der Bürgerstand. in den russisch-pol¬
nischen Ländern der Bauernstand, in Galizien der Adel, der von der Regierung
in die Herrschaft eingesetzt worden ist. Hält man an dieser Thatsache fest, so
hat man den Schlüssel für die Zukunft der polnischen Frage in Händen. Dem
Bürgerstande, als dem Träger der modernen Cultur, gehört die Zukunft und
darum ist die Absorption des polnischen Elements durch das deutsche in den
preußischen Theilen der alten Republik nur noch eine Frage der Zeit. In Ga-
lizien, wo es keinen selbständigen Bürgerstand mit eigener Cultur giebt, ist die
Herrschaft des polnisch-aristokratischen Einflusses, der mindestens im Besitz der
-Culturjchätze einer vergangenen Epoche ist, innerlich berechtigt und nothwendig.
Siege in Lithauen und der Ukraine den Absichten der russischen Regierung ge¬
mäß das Bauernthum über die polnische Aristokratie, die mit der Bildungs-
partei identisch ist, so >se es um die bisherige Civilisation jener Länder wenig¬
stens für einige Zeit, vielleicht für lange geschehen. Bis die in den westlichen
Provinzen Rußlands zur Herrschaft gelangten bäuerlichen Elemente auch nur
ein Bildungsbedürfnis; spüren, kann ein Menschenalter vergehen. Das auf
ihre Bundesgenossenschaft begründete Regiment muß seiner innern Natur nach
ein barbarisches sein, denn nur durch die Auweucnng terroristischer Mittel kann
die Weiterentwicklung der am N.cjmcn und Dnjestr bestehenden polnischen
Culturpflanzungen niedergehalten und erstickt werden. Damit die Polen auf¬
hören die Herren und Gebieter jener Gegenden zu sein, müssen sie nicht nur
aus diesen verdrängt, sondern überhaupt aus der Welt geschafft werden. Alle
Anstrengungen der russischen Regierung, Westrußland und Congreßpolen zu
russisiciren, oder richtiger gesagt zu „rustificirensind vergeblich, so lange Ga-
lizien dem Polenthum und seiner aristokratischen Herrschaft ein Asyl bietet.
Geht es nach den Wünschen der russischen Demokratie, so ist die Emancipation
des galizischen Russcnthums nur der Anfang eines Vernichtungskrieges gegen
die Polen östlich wie westlich vom San!
Mag die deutsche Demokratie sich immerhin durch die wohlklingenden Na¬
men, welche man der in Lithauen, Wolynien und Podolien begründeten
Bauernhcrrschast giebt, bestechen lassen und die aristokratischen Tendenzen der
östreichischen Regierung Galiziens verwünschen, wem es um das Wesen der
Dinge, nicht um ihre Bezeichnungen zu thun ist, der weiß, daß es sich in dem
Kampf zwischen dem „demokratischen" Nusscnthnm und dem „aristokratischen"
Polonismus wesentlich darum handelt, ob die Bildungspartci (mag dieselbe
auch noch so sehr zurückgeblieben sein) oder die rohe Masse das Heft in Händen
halten und den Ländern an der Westmark der sarniatischen Ebene ihren speci¬
fischen Stempel aufdrücken soll. Preußen hat das volle Recht, sich jeden Ver¬
gleich mit den polcnfeindlichen Elementen in Oestreich und Nußland zu verbitten;
im Namen der Cultur und des Bürgerstandes kämpft es gegen das Polenthum
an, das mit dem Deutschthum verglichen eine niedere und nur mit dem West-
russischen Bauernthum verglichen eme höhere Culturstufe repräsentirt.
Unabhängig von den Ereignissen in den Nachbarstaaten, ist Preußen auch
während der letzten Jahre seiner friedlichen, von dem Bewußtsein ihres inneren
Rechts getragenen Germanisationspolitlk in Posen und Preußisch-Lithauen treu
geblieben. Die Einverleibung Posens und Ostpreußens in den Norddeutschen
Bund ändert als solche an den Elementen der bestehenden Verhältnisse nichts.
Die Vorgänge in Galizien haben dagegen mit denen in Rußland in stetem Zu¬
sammenhange gestanden. Das Wiederaufleben des polnischen Einflusses in Wien
ist genau so alt. wie die russificatorische Aera der murawjcwschen Herrschaft
in Wilna. Kowno u. s. w. Die entscheidendsten Schläge, welche Rußland gegen
die polnischen Bewohner seiner Westprovinzen geführt bat, datiren freilich aus
der Zeit jenes Aufstandes, der Galizien einen mehrmonatlichen, auf die Bän¬
digung der revolutionären Bewegung abzielenden Belagerungszustand brachte.
Kaum aber daß diese bewilligt war, so folgte die wiener Politik einer den
russischen Tendenzen schnurstracks zuwiderlaufenden Richtung. Wäbrend Hun¬
derttausende in Wilna. Kowno und Warschau eingekerkerte Pole» nach Sibirien
und an die Ufer der Wolga wandern mußten, erließ Franz Joseph eine gro߬
müthige Amnestie, die das Geschehene mit dem Deckmantel der Vergessenheit
bedeckte. Murawjew hatte jenen Kauffmann zum Nachfolger, dessen blinder Fa¬
natismus selbst die eifrigsten Demokraten erschreckte, aus Wien sandte man den
Führer des polnischen Adels nach Lemberg. Von einer Beeinträchtigung der
Polen war auch zu den Zeiten Schmerlings und trotz des engen Zusammen¬
hangs, der zwischen den deutschen und den ruthenischen Ccntralisten bestand,
niemals die Rede gewesen; nichtsdestoweniger hielt man es in Wien für
nöthig, den besten Polen des Königreichs Galizien zum kaiserlichen Statthal¬
ter zu machen u,ut sich dadurch offen ans die Seite der in Nußland bedrohten
Nationalität zu stellen.
Sofort nach seinem Amtsantritt suchte Graf Gvluchowski das polnische
Element in der galizischen Bureaukratie zu kräftigen und aufzufrischen, den Ein¬
fluß der vorwiegend von Polen geleiteten Communal- und Municipalverwal-
tungen zu heben, ihre Beziehungen zur k. k. Statthaltern möglichst freundlich
zu gestalten. Der bis dahin obligatorische Unterricht in der russischen Sprache,
welcher bei den Gymnasien Ostgaliziens und der lemberger Universität einge
führt worden war, wurde in einen facultativen verwandelt, der gesammte Volks¬
unterricht wieder den katholischen Consistorien untergeordnet, der polnischen
Presse ein ungleich weiterer Spielraum gelassen als der russischen, endlich die
Bestimmung getroffen, daß die Streitigkeiten zwischen Gutsbesitzern und
Bauern von dem Richter, nicht mey-r von bauernfreundliche» Administrativbe¬
amten geschlichtet werden sollten.
Im offenbarsten Gegensatz zu dieser Begünstigung des polnischen Elements
in Galizien nahmen um dieselbe Zeit die Maßregeln der russischen Regierung
einen immer schrofferen Charakter an. Der bisher festgehaltene Unterschied
zwischen dem Königreich Polen und den dem Kaiserreich einverleibten polnischen
Provinzen wurde mehr und mehr verwischt, in Warschau die russische Sprache
beinahe ebenso eingebürgert, wie in Wilna und Kiew; russische Beamte waren
bald ebenso zahlreich im warschauer Staaterath wie in den Verwaltungen
der westrussischen Generalgouvernements zu finden. Nachdem ein kaiserlicher
Mas vom 10. (22.) December 1863 angeordnet hatte, daß kein Pole mehr be¬
rechtigt sein sollte, in den nord- und südwestlichen Gouvernements ein Gut zu
kaufen und daß die Güter sämmtlicher im letzten Aufstande compromittirter pol¬
nischer Gutsbesitzer an Russen verkauft werden sollten, nachdem endlich eine
Bank zur Unterstützung russischer Güterkäufer und Kolonisten in Lithauen be¬
gründet worden war, schien der Köcher der russisicatorischen Verordnungen für
Westrußland erschöpft zu sein; man hatte so viel gethan, daß der Regierung
„fast nichts zu thun mehr übrig blieb". Während man die Ausführung der
für die Generalgouvernements Wilna und Kiew erlassenen Vorschriften ab¬
wartete, um eine gänzliche Umgestaltung der Verhältnisse von den Erfolgen des
Gethane» abhängig zu machen, wandte man sich während des ganzen Jahres
1866 dem Königreich zu, um dessen Sonderstellung zu unterminiren, und ein/
neue Bresche in das Polcnlhum zu schießen. Im December 186S war die Sä¬
kularisation der katholischen Kirchengüter und die Aufhebung des größten Theils
der katholischen Klöster vollzogen worden; diesen Maßregeln folgte eine radi-
cale Umgestaltung des Schulwesens, ein Gesetz zur Wahrung des russischen Cha¬
rakters der griechisch-unirten Kirche des, Königreichs und die Begründung ver¬
schiedener griechisch-unirter Seminarien. Im Mai trat der Staatssccretär Ni¬
kolaus Miljutin, die Jncarnation der polenfeindlichen Demokratie, an die Spitze
der polnischen Kanzlei zu Se. Petersburg, wenig später bekundeten drei neue
Gesetze über die Verschmelzung des polnischen Poslwesens. mit dem russischen
die Unterordnung der Finanzverwaltung des Königreichs unter den russischen
Finanzminister, und die neue administrative Einteilung Polens, welche die
historischen Woyewodschaftcn vernichtete, bewies, daß der neue Machthaber seine
Zeit zu nutzen wisse. Im December vorigen Jahres trat freilich ein Rückschlag
ein, der zum Theil in den Verhältnissen begründet war, in der Hauptsache aber
durch ein zufälliges Ereigniß herbeigeführt wurde. Gleich der Mehrzahl feiner
Vorgänger war der kaiserliche Statthalter, Graf Berg, zufolge seiner genaueren
Kenntniß der factischen Verhältnisse, ein Gegner aller gewaltsamen Nussisica-
tioneversuche, der dem Treiben der von-Miljutin geführten russischen Demokratie
in der warschauer Verwaltung mit entschiedenem Mißfallen zugesehen hatte.
Zu cilley Zeiten hat el» entschiedener Antagonismus zwischen der polnischen
Staatskanzlei in Se. Petersburg und der warschauer Statt halterei bestanden;
Paskewtsch, Lambert. Suchasanvfs, Großfürst Konstantin, endlich Greif Berg,
sie alle wußten zu genau, daß man den Bogen nicht allzu scharf spannen dürfe,
wenn er nicht brechen sollte, um jemals unnöthiger Strenge das Wort zureden.
In täglicher Berührung mit den Verhältnissen eines Landes, das die Peters-
'
burger Bureaukratie nie anders als durch ein gefärbtes Glas gesehen hatte,
waren 'die für die Ruhe desselben verantwortlichen Statthalter stets von der
Ueberzeugung durchdrungen, daß man die Polen allenfalls zu gehorsamen Un-
terthanen des russischen Kaisers, aber niemals zu Russen machen könne, wenn
anders die ihnen anvertrauten Provinzen nicht in Wüsteneien verwandelt wer¬
den sollten.
Das tolle Treibe» des wilnaer Generalgouverneurs Ka»ff»rann. der Dank
dem Einfluß des neuen Polizeiministers Grafen Sebuwalow im September
v. I. gestürzt und durch einen humaneren Nachfolger erhebt worden war, hatte
dem Credit Miljutins und seiner Genossen bereits einen empfindlichen Stoß
beigebracht und den Einfluß Bergs und der gemäßigten Partei gekräftigt. Als
der polnische Staatssecretair Anfang December von einem Schlaganfall auf das
Krankenlager geworfen worden war, wußte diese namentlich dnrch die Minister
Schnwalow und Walujcw vertretene Partei sich der Situation zu bemächtigen,
Miljulin einen gemäßigten, den Anschauungen Bergs zugethaner Nachfolger zu
geben und den polnischen Staatsrath in Warschau Von den extremsten Ver¬
tretern der russischen Demokratie zu säubern. Nachdem der Gcneraldirector der
inneren Angelegenheiten und des Cultus, Fürst Tschertaßky, zum Rücktritt ge¬
zwungen und durch einen dem Statthalter befreundeten Kurläirder, den Geheimrath
Braunschweig ersetzt worden ist, sind die Anschauungen Bergs in den polnischen
Angelegenheiten maßgebend geworden. An entschiedenen Maßregeln hat es freilich
auch in dieser neuesten Phase der Geschicke Polens nicht gefehlt; jene drei oben
erwähnten Ukase über die Verschmelzung polnischer Vcrwaltnrigszweigc mit rus¬
sische» sind erst nach Miljutins Sturz in Ausführung gebracht worden und der
empfindliche Schlag, der die römisch-katholische Kirche Polens durch die Auf¬
lösung aller Beziehungen Rußlands zur römischen Curie und eine demgemäß
eingetretene Aenderung der kirchlichen Verwaltung getroffen hat, ist von noch
jüngerem Datum. Indeß, wenn nicht das System, so hat sich doch die Me¬
thode der russischen Verwaltung des Königreichs Pole» verändert und schon das
ist für die Bewohner jenes Landes von hohem Werth. Was die oben er¬
wähnten, für Lithauen und das Generalgouvernement Kiew erlassenen Ma߬
regel» anlangt, so sind dieselben nach dem eigenen Geständniß der russischen
Presse im Großen und Ganzen erfolglos geblieben. Trotz aller ihnen verheißenen
Begünstigungen zeigen die Gutsbesitzer und Landwirthe Großrußlands wenig Nei¬
gung nach Westen überzusiedeln und es in einem Lande zu versuchen, in^eichen
Recht und Ordnung zufolge des gegen die Polen geführten Veruicbtungskampfes
so vollständig außer Uebung gekommen sind, daß sich niemand seiner Freiheit
»ut seiner Habe sicher fühlt. Die Zügcllosigk.it der von der Administration
verhätschelten lithauischen Bauern ist den russischen und deutschen Gutsbesitzern
jener Provinzen ebenso gefährlich geworden wie den polnischen und schreckt jeden,
der sie aus eigener Anschauung kennen gelernt hat, von allen Niederlassungs¬
und Colonisationsgedanken zurück.
So hat die polnische Politik Rußlands fortwährend in feindlichsten Gegen¬
sat) zu der östreichischen Verwaltung Galiziens gestanden. Dieser Gegensatz hat
sich neuerdings noch dadurch geschärft, daß verschiedene in Cvngreßpolen beimisch
gewesene polnische Aristokraten nach Galizien übergesiedelt sind und sich der
gvluchowskischen Verwaltung angeschlossen haben, während andererseits russische
Parteiführer aus Galizien nach Polen und Lithauen berufen und mit der Ver-^
waltung dortiger Schulcinstaltcn von russificatorischer Tendenz betraut worden
sind. Besonderes Aufsehen erregte es, daß ein bekannter russischer Journalist
aus Lemberg an die Spitze des neu begründeten griechisch-unirten Seminars zu
Chelm trat u»d sich in seiner neuen Stellung als so leidenschaftlicher und rück¬
sichtsloser Polen - und Katbolikcnfcind gerirte, daß der grieclusch-unitte Bischof
gegen ihn einschreiten zu müssen glaubte, darüber sein Amt verlor, mit dem
größten Theil seines Capitals nach Rußland geschickt und daselbst' internirt
wurde. Von entsprechenden Vergewaltigungen Goluebowskis gegen die russische
Geistlichkeit seines Regierungsbezirks bat' bis jetzt nichts verlautet, alles, was
dem neuen Statthalter Galiziens zum Vorwurf gemacht wird, beschränkt sich
auf Begünstigung des Gebrauchs der polnischen Sprache und auf Bevorzugung
polnischer und pvlnischgesinntcr Beamten in der Bureaukratie, deren deutsche
Bestandtheile allerdings beträchtlich eingeschmolzen sind. - Andererseits entbehren
die von den Polen aufgesprengte» Gerüchte, nach denen russische Agenten das
Land durchziehen und die Bauern zur Erhebung gegen die Herren und die diesen
Verbündete Regierung aufstacheln, bis jetzt jedes genügenden Beweises. Die
von der lembcrgcr „Gazetta Narodowa" verbreiteten Erzählungen von der Ent-
deckung russischer Emissäre und großer moskauer Geldsendungen an den Re¬
dacteur des russischen Journals „Slowo" sind ausnahmslos widerlegt worden.
Der Vorgänge auf dem letzten galizischen Landtage, des Protestes der rus¬
sischen Landboten gegen die Begründung einer galizischen Kanzlei zu Wie» und
der sonstigen russischen Kundgebungen gegen den Föderalismus haben wir an
dieser Stelle nicht weiter zu gedenken für nöthig gehalten. da sie ans den Be¬
richten der Tagesblätter sattsam bekannt sind. Die neueste Wendung in der
wiener Politik, welche zu der Entlassung Belcredis, dem Ausgleich mit Ungarn
und der Befestigung des beustschen Einflusses in der Hofburg geführt hat, macht
es überdies zweifelhaft, ob Goluebowski im Amte bleibt. Möglich ist, daß die
Centralisten wieder die Oberhand gewinnen, sich ihrer Bundesgenossen östlich
Vom San erinnern und mit diesen gemeinschaftliche Sache gegen den czechisch-
Polnischen Quasi-Föderalismus machen. Uns kam es darauf an, ein Bild der
factischen Verhältnisse und der historischen Grundlage derselben zu entwerfen
Und den engen Zusammenhang zwischen den rnssificatorischeu Tendenzen östlich
wie westlich von der östreichisch-russischen Grenze nachzuweisen. — Drei Punkte
sind es, auf welche wir die Leser dieser Blätter besonders aufmerksam machen
wollten: die Verschiedenheit der ethnographischen Behältnisse in Ost- und
Westgalizien, die historische und nationale Verwandtschaft der sogenannten Ru-
thcnen mit den West, und Kie.inrussen und der Beruf des polnischen Elements
in den Polnisch-russischen Ländern.
Weit davon entfernt, das Polenthum zu überschätzen und für den Träger
einer wahrhaft sittlichen Cultur ausgeben zu wollen, haben wir uns darauf be¬
schränkt, das relative Recht desselben hervorzuheben und vor dem Irrthum zu
warnen, als hätten die Schlagworte Aristokratie und Demokratie in der östlichen
Hälfte Europas dieselbe Bedeutung wie in der.westlichen. In den germanisch-
romanischen Ländern ist das Bürgerthum der Träger der Cultur, kann von
einem civilisatorischen Beruf der Aristokratie nicht mehr die Rede sein; in den
slawischen Ländern, in denen die ständischen Unterschiede mit den nationalen
verquickt sind, handelt es sich nicht um Geltendmachung des Rechts einer neuen
zur civilisatorischen Mission berufenen Classe, sondern einfach darum, ob die
bisherige Bildungspartci der mit dem Absolutismus Verbündeten rohen Masse
unterliegen oder ob sie ihre historische Aufgabe erfüllen soll, bevor sie zu Grabe
getragen wird. Denn daß auch sie nur eine temporäre Berechtigung haben
kann, versteht sich von selbst. Weder das höhere Alter, noch die numerische
Ueberlegenheit des russischen Elements vor dem polnischen hat den Charakter
der Länder bestimmt, in welchen der Kampf zwischen den beiden slawischen
Stämmen gekämpft wird; weder mit Jahreszahlen, noch mit statistischen Er¬
mittelungen läßt sich das Recht der Russen widerlegen, wohl aber durch die
Thatsache, daß die von ihnen gepflanzte alte Cultur verdorrt und von
kräftigeren Bildungen überwuchert worden' ist, die sich nicht mehr ausrotten
lassen. Es bleiben todt die Todten und nur der Lebendige lebt: der Jahr¬
hunderte lang begraben gewesene Byzantinismus der westrussischen Länder läßt
sich nicht mehr zum Leben erwecken, weder die Berührung mit seiner gro߬
russischen Mutter, noch die Erinnerung an seine einstige Größe kann das Wunder
bewirken.
Mit der Gesundheit und Vitalität des Polenthums sieht es freilich auch
nicht glänzend aus; der durch den Katholicismus vermittelte engere Zusammen-
hang mit der westeuropäischen Cultur hat den Polonismus aber doch fähig ge¬
macht, grade in den Ländern, welche er als Eindringling in Besitz genommen
hat, die Herrschaft zu behaupten. So lange das Königreich Polen und daS
westliche Galizien mit ihrer compact polnischen Bevölkerung nicht einfach ger-
mauisirt oder rnssificirt find, werden alle Versuche, diese Herrschaft in den west-
russiscben Ländern zu brechen, vergeblich sein.
Es ist ein.deutschemMythus, daß der Kleinstaat nicht nur der „Hort der
Freiheit" ist, wie sich die großdeutschen Demokraten am Nesenvacb auszudrücken
belieben, sondern auch der Sitz der Cultur, die Pflegestätte der Kunst und
Wissenschaft. Weit entfernt die großen Verdienste zu bestreikn, welche sich
etliche deutsche Kleinfürsten um Kunst und Literatur erworben haben, glauben
wir dock, daß dies einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten, aber ganz gewiß
nicht dem Zwergstaate als solchem anzurechnen ist. Wenigstens möchten wir
durch nachstehende Mittheilungen Veranlassung geben, daß die Frage, ob denn
wirklich der deutsche Kleinstaat der Träger der deutschen Cultur sei, oder an der
Spitze der Civilisation marschire. einer nochmaligen Prüfung unterzogen werde.
Wir wollen bei unserer Darstellung ausschließlich officielle Quellen benutzen;
unsrem Respect vor denselben mag es zu gut gehalten werden, wenn wir dabei
auf Einzelnes, was bereits früher angedeutet worden, ausführlicher zurück¬
kommen. Vor uns liegt nämlich erstens das „Hof. und Staatshandbuch des
Großherzogthums Hessen für 1866 (Darmstadt, im Verlag der Jnvalidenan-
stalt") und zweitens „das Staats- und Adreßhandbuch des Herzogthums
Nassau für das Jahr 1866 (Wiesbaden. A. Steiner".) beide mit äußerster Ele¬
ganz ausgestattet und auf dem Titelblatt mit Wappenlöwen geziert, welche letz¬
tere sich dadurch von einander unterscheiden, daß der nassauische Löwe nur einen
Schwanz hat, während der Hessen-darmstädtische deren zwei führt.
Wir möchten bei dieser Gelegenheit alle diejenigen, welchen es obliegt,
historische Denkmale und Urkunden der Gegenwart zu sammeln, damit sie von
den Geschichtsforschern und -Schreibern der Zukunft benutzt werden, auf die
ungemeine Wichtigkeit dieser „Handbücher" aufmerksam machen. Sie sind Mo¬
numente, welche sich der Kleinstaat selber gesetzt hat und welche verdienen „irors
ZMerwius" zu sein. Denn sie liefern die officiellen und authentischen Beweise
für Personen, Dinge und Zustände, welche in hundert Jahren kein Mensch mehr
wird glauben wollen, wenn man sie ihm nicht Schwarz auf Weiß belegen kann^
Deshalb rathen wir dringend, diese dereinst gewiß sehr gesuchten Fundgruben
deutscher Antiquitäten und Curiositäten den öffentlichen Bibliotheken einzuver¬
leiben. Das nassauische „Staats- und Adreßhandbuch" für 1866 ist zudem das
letzte seines Geschlechts und verdient deshalb nicht geringere Aufmerksamkeit,
wie weiland der Letzte der Mohikaner. Es wäre Schade, wenn dergleichen in
die Krambuden und Käseläden wanderte.
Das Namensverzeichniß des nassauischen „Handbuchs" weist nicht weniger
als etwa 3.000 öffentliche Diener auf, so daß auf je 160 Seelen eine olnig-
teitliche Person kommt. Das neuster des dessen-darmstädliscken aber zählt gar
7,200 Personen, welche, vertheilt auf 850,000 Seelen, einer jeglichen großherzog-
lich-hessischen Seele das tröstliche Bewußtsein geben, daß sie zur Genüge regiert
wird und daß sie in keiner Minute ihres obrigkeitlichen Schutzengels entbehrt.
Dabei hat das Hessen-darmstädtische Handbuch vor. dem nassauischen noch den
ganz unschätzbaren Vorzug, daß-bei einer jeden Kategorie eine genaue, klare und
präcise Beschreibung der äußerlichen Hülle, d.h. der Uniform gegeben ist, nicht
nur für das Militär, sondern auch für das C>ol>. Benu Militär heißt es z. B.
ni dem Capitel „Commandements", das im Ganzen nur aus zwei einzelnen
Herren, einem General und einem Oberst besteht: „Uniform für die Offiziere
vom Obersten abwärts" (abwärts vom Obersten scheint es aber in dieser Branche
gar niemanden zu geben): „wie bei dem Gencralquartiermeisterstab — jedoch
Borstoß, Kragen. Aufschläge. Unterfutter bei den Epauletten und Kragenpatten
des Mantels: schwefelgelb. Helm ohne Haarschwanz". Wer das ohne tief ge¬
rührt zu werden lesen kann, von dem behaupten wir gradezu, daß er nicht
verdient ein Mensch zu sein, — wenigstens nicht ein Hessen-darmstädtischer Mensch.
Und nun erst die Civildiener. Fangen wir an mit dem Ministerium des
großherzoglichen Hauses und des Aeußern. Laut der Beschreibung, Seite 235,
sehen die Menschenkinder, welche in Hessen-Darmstadt diesem Fache angehören,
aus, wie folgt:
^..Höhere Beamte. 1) Duukclkvrnblauer Waffenrock mit gelben Chiffre-
tnöpfcn; 2) orangegelbe Kragen und Aufschläge; 3) Goldborten und silberne,
respective goldene Rosetten; 4) aschgrau meluter ,Mantel mit orangegelben
Kragcnpatten; 5) weiß und grau mclirte Pantalons (auf Deutsch: lange Hosen);
6) dreieckiger Hut mit goldner Schleife.
L. Niedere Diener: 1) Dnnleltornblauer Waffenrock mit weißen
Wappenknöpfen; 2) orangegelbe Kragen und Aufschläge; 3) weiße metallene
Rosetten; 4) aschgrau melitter Mantel mit orangegelben Kragenpatten; 5) asch¬
grau meinte Pantalons; 6) dreieckiger Hut mit silberner Schleife.
Jeder Unterthan kann sich sonach auf das genaueste unterrichten, wie seine
Vorgesetzten im Departement des Aeußern und des Hauses, oder wenigstens
wie die Röcke, Hosen, Mäntel und Hüte dieser Borgesetzten aussehen. Wir
finden unter ihnen außer dem Herrn v. Dalwigk und andern auch den General»
consul Meyer Karl v, Rothschild, den Frecheren Heinrich v. Gagern, vormals
Präsident der constituirenden Nationalversammlung und des Neichsministeriums.
jetzt Hessen«darmstädtische Excellenz und wirklicher Geheimrath,. Gesandter in
Wien und rcgrerungssrvmmes Mitglied der zweiten Kammer in Darmstadt. den
Konsul Samuel Isaac Lampert in Brüssel und verschiedene Kanzleidicner, welche
letztere sogar Orden haben.
Ist es nicht ein erhebendes Gefühl, es in officiellster Form zu erfahren,
daß nunmehr jener Mann mit der gutturalen Donnerstimme und den olym¬
pischen Augenbrauen, genannt „ superciliosus", der 1848 an der Spitze des
deutschen Reichs stand, einen aschgrau melkten Mantel mit orangegelbem Kragen-
sutter trägt und tragen muß, wenn er nicht seine Dienstpflicht gröblich ver¬
letzen will?
Dann kommt das Departement des Innern, in welchem statt der orange-
gelben Farbe die „lichtblaue" vorherrscht. Zu ihm gehören unter andern auch:
die Redaction der „Darmstädter Zeitung", die evangelische und die katholische
Kirche (wenigstens so weit, als solche im Hessen-Darmstädtischen liegen), die
Rabbiner, der Historiograph des großherzoglichen Hauses, der Bischof Wilhelm
Emanuel v. Ketteler zu Mainz, die „Bank für Handel und Industrie", die
„Bank für Süddeutschland", das Landesgestüte, sämmtliche Schulmeister, das
Hospital und die Irrenanstalt. Alles das ist, ausweislich des Staatshandbuches,
also „lichtblau".
Für das Justizministerium ist, laut Seite 379, „jedoch die Unterscheidungs¬
farbe schwarz", woher es auch wohl kommen mag, daß die Richter vielfach
einer klerikalen Parteirichtung beschuldigt werden, oder daß, wie der alte Wernher
v. Nierstein sagte, „die Urtheile des Mainzer Gerichtshofes im bischöflichen Pa¬
laste daselbst gemacht werden".
Das Ministerium der Finanzen ist — eine nicht unbedenkliche Farbensymbolik
— „carmoisinroth". Zu ihm gehören auch die Forstleute. Diese sind jedoch
statt mit einem „ dunkelkornblaucn " mit einem dunkelgrünen Waffenrock aus-
staffirt. So hat also alles seine entschiedene Farbe. Herr v. Dalwigk ist, je
nach dem. alternativ bicolor, nämlich — „orangegelb", wenn er als Chef des
auswärtigen Amts, dagegen — „lichtblau", wenn er als Minister des Innern
fungirt; der Prälat. Superintendent. Oberpfarrer, Oberconsistorialrath und Ober-
hofprediger Zimmermann und der Rabbiner Baruch Samuel Levi — welch ein
schönes Symbol confessionellcr Toleranz! — beide „lichtblau". Der Seetions-
chcf im Justizdepartement Geheimrath Dr. Damian Cr6ve und der General-
staatsprocurator Seitz —> beide schwarz. Der Finanzminister v. Schenck zu
Schweinsberg — roth. Desgleichen sein Ministerialkanzleidiener und Haus¬
beschließer Conrad Döring, welcher letztere nicht weniger als drei Orden besitzt,
^ ein Beweis, daß man auch in sehr untergeordneter Stellung sich sehr große
Verdienste erwerben kann und daß dieselben den Augen der wachsamen Vor¬
gesetzten nicht entgehen in einem so kleinen und wohlgeregelten Staate wie
Hessen-Darmstadt.
Zu den benannten Farben kommen dann nach dem Staatshandbuch weiter
"och hinzu: Laut Seite 167: Die Obersthof-, die Biceobersthof. und die Hof-
chargen mit dunkelkornblauem Kragen und langen blauen Hosen; die Hof-
offizianten mit ditto Kragen, aber kurzen >oeißen Hosen; die Verwaltungsbeamten
der Hofstäbe mit ponceaurvthem Kragen und grau melkten Hosen. Als zu diesem
Personal gehörig zählt das Staatshandbuch u. a. auch auf: eine Hofköchin,
drei Hofküchenwärterinnen, eine Hofsilberwärterin, eine Hofweißzeugverwalterin,
eine Hofwcißzeuggehilsin, drei Hofzimmerwärterinnen; und da dieselben von der
Vorschrift, besagte Hosen zu tragen, wie es scheint nicht ausgenommen sind, so
könnte man aus starke officielle Begünstigung der Emancipation schließen. In
Newyork nennt man das „Bloomerism".
Laut Seite 174 der Oberjägermeisterstab, Unterscheidungsfarbe — grün.
Laut Seite 178 die Mitglieder des Oberststallmcisterstabs pvnceaurother Kragen
mit weißen wildledernen Jnexpressibles. Laut Seite 180 das Personal der Ca-
binetsämter, Unterscheidungsfarbe lichtgrün; laut S. 182 die Verwaltungs¬
beamten des Hofhalts, Kragen ponceauroth. Hosen grau meurt. Zu diesen
Hofämtern gehört auch das Theater, an dessen Spitze der Dichter und Hofrath
Dr. Dräxler-Manfred steht, und zu welchem u. a. auch 10 Hofsängerinnen,
7 Hosschauspielerinnnen, 2 Hofsolotänzerinnen und 26 Hofballctfigurantin-
nen zählen, sowie endlich sogar eine Hoftheatersouffleuse. Daß Herr Drcixler
dem grau melirter Hosenzwang unterworfen ist, finden wir vollständig in Ord¬
nung; hinsichtlich des übrigen in Obigem aufgezählten weiblichen Hoftheater¬
personals hegen wir jedoch hinsichtlich dieses Punktes einige, dem beschränkten
Unterthanenverstande entspringende Bedenken. Hoffentlich wird hier auf dem
Wege gnadenweiser Dispcnsation die drakonische Strenge des Gesetzes ein wenig
gemildert. Unter den Theatermusikern finden wir eine bewundernswürdige byzan¬
tinische Rangordnung, welche ohne Zweifel sehr viel zur Hebung der Kunst bei¬
trägt. Die beiden untersten Staffeln oder Sprossen der musikalisch-bureaukrati¬
schen Hof-Jacobs-Leiter heißen: „Hofmusikaspiranten" und „Hofmusikeleven".
Noch genauer als für die Hof- und Civildienerschaft sind die Uniformen
für das Militär vorgeschrieben.
Da kommt zuerst die Generalität mit „brandenburgisch-carmoisinrothen Auf¬
schlägen" und weiß- und ponceaurothen Haarbüschen auf dem Helm; die Beamten
des Kriegsministeriums mit amaranthrothen Aufschlägen, ohne Haarbüsche; die
Generaladjutanten mit brandenburgischen ponceaurothen Aufschlägen. Es kom¬
men hier manchmal die nämlichen Personen in zwei Rubriken vor; z. B. der
Freiherr v. Trotha gehört zur Generalität und auch zur Adjutantur, ist also im
ersteren Falle carmvistnroth, im letzteren ponceauroth:
Die Militärbeamten haben sich zu kleiden wie die Kriegsministenalbeamten,
nur bestehen noch genau detaillirte Specialvorschriften für die Militärjustiz¬
beamten, für welche die Unterschcidungsfarbe dunkelgrün, für die Militärmedici-
nalbeamten, für welche sie krapproth, für die Verpflegungsbeamten, für welche
sie orangegelb und für den Militärmusikdirectvr, für welchen sie — rosenrot!)
sein soll. Die Gardeunteroffizierscompagnie hat wieder brandenburgisch ponceau-
rothe Aufschläge und auch Haarbüschc auf dem Helm, aber diese Haarbüsche
sind schwarz; der Generalquartiermeisterstab und die Pioniercompagnie haben
carmoisinrothe Aufschläge und auch Haarbüsche, aber diese Haarbüsche sind weiß
und ponceaurvth.
Das erste Reiterregiment hat ponceaurothe, das zweite hat weiße Kragen
am grünen Waffenrock. Die Artillerie ist blau mit schwarzem Kragen und
dunkelblauen Aufschlägen. Das erste Infanterieregiment hat ponceaurothe, das
zweite weiße, das dritte hellblaue, das vierte dunkelgelbe, das Gensdarmeriecorps
wieder hat ponceaurothe Kragen. Bei den Commandements ist er schwefelgelb.
Bei den Offizieren n. Ja suite hat auch wieder jede Gattung ihre besondere
Farbe.
Doch wozu diese officielle Costümirungsweisheit des großherzoglich-hessischen
Staatshandbuchs an Laien verschwenden, die von dem geheimnißvollen und be¬
ziehungsreicher Leben und Weben einer tief symbolischen Farben- und Formen¬
lehre, welche nur nach Jahrzehnte langen Studien einem von Haus aus schon dazu
angelegten pietätvollen Unterthanengemüth sich erschließen kann, schwerlich irgend
einen Begriff haben? Wir schließen daher in der Ueberzeugung oder doch in
der Hoffnung, daß wir wenigstens eine leise Ahnung von der „Mannigfaltigkeit
in der Einheit", welche sich auf diesem Gebiete der großherzoglichen Militär-
nnd Civilbeamtenbcklcidungskunst entfaltet, in dem Geiste unseren Lesern herauf¬
zubeschwören vermocht haben. Sollte es uns nicht gelungen sein, — nun, in
irmxms voluisse sat est!
Sprechen wir nun von einem noch weit interessanteren Thema, — nämlich
von den Orden. Das „Hof- und Staatshandbuch des Moßherzogthums
Hessen" enthält auf acht Seiten eine „Erklärung der bei sämmtlichen Hof-,
Militär- und Civilbeamten vorkommenden (symbolischen) Bezeichnung Von Orden
und Ehrenzeichen." Es sind deren 9 hessische und 116 auswärtige; und da ein
jeder Orden ungefähr 5 verschiedene Classen hat, so giebt es 6 x 125 — 625
verschiedene Sorten, mit welchen die „großherzoglichen Diener" begnadigt sind.
Die Inhaber der hessischen Orden sind — auf 160 enggedruckten
Seiten verzeichnet, und da ans jeder Seite etwa 25 Ordensträger stehen, so
ergiebt sich daraus die überaus tröstliche Gewißheit, daß. wenn sie alle „In¬
länder" wäre», in diesem Großherzogthum auf je vier erwachsene und selbstän¬
dige Mannspersonen ein inländischer Orden kommt. Rechnet man aber noch
die außerordentlich zahlreichen auswärtigen Orden, welche'ohne Zweifel nebenbei
auch die Bestimmung haben, die Bilanz zwischen dem Ordensimport und dem
Oldenscxport herzustellen, so würde auf jede großjährige Mannsperson ein Orden
oder Ehrenzeichen kommen, vorausgesetzt, daß dieselben gleichmäßig vertheilt
Wären. Daß aber der Distributionsmodus ein gerechter und ferne von jedem
Kastengeist, daß er — möchten wir sagen — „mit einem Tropfen echt
demokratischen Oels gesalbt ist", das ergiebt sich mit einer selbst für den Bös¬
willigsten unverkennbaren Evidenz daraus, daß selbst die Kutscher Andreas Feld-
pusch und Joseph Winter (Seite 191). sowie der Leibreitlneckt Peter Philipp
und der Hofreitknecht Georg Dittmann (Seite 179), decorirt sind. Wie hier
einem jeden, auch dem bescheidensten Verdienste „freie Nahn" für Auszeichnung
und Ehrenzeichen gewährt ist, so ist dagegen wieder mit weisester Berechnung
und staatsmännischer Abwägung auf der andern Seite, des Gleichgewichts halber
das conservative und aristokratische Element des Geburtsrechtes dadurch gewahrt,
daß sowohl bei dem Orden Philipps des Großmüthigen, als auch bei dem
Ludwigsorden, Se. königliche Hoheit der Großherzog Großmeister ist, und daß
sämmtliche Prinzen des großherzoglichen Hauses, von dem preußenfrcundlichen
Prinzen Ludwig, dem Gemahl der trefflichen Prinzeß Alice von England, bis
zu dem prcußenfeindlichen Prinzen Alezander, dem bedauernswerthen Comman¬
danten des achten Bundesarmeecvrps im Sommer 1866, das Großkreuz dieses
Ordens führen, und außer ihnen kein sonstiges Hessen-darmstädtisches Landeskind.
Demnach will es fast scheinen, daß für „Inländer" das Verdienst, als grvßherzog-
licher Prinz das Licht der Welt erblickt zu haben, nicht nur ein genügender,
sondern sogar auch der einzige Erwerbstitel für das Großkreuz dieses Ordens
ist. Dies erinnert mich an ein altes würtembergisches Schulbuch, welches in
der Form von Fragen des Lehrers und Antworten des Schülers abgefaßt ist
und in einem seiner zahlreichen Capitel von den h . . scheu Landen handelt.
Da heißt es denn: Frage: Was thun die Punzen von H.? Antwort: Sie
thun sich in siehe» Linien theilen.
Unter den Ludwigs-Großkrcuzen „aus auswärtigen Negentcnhäusern" finden
wir u. a.: 1) Se. königliche Hoheit den Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Hessen,
gegenwärtig abwechselnd in Frankfurt und in Hanau wohnhaft; 2) Se. könig¬
liche Hoheit den Herzog Karl von Braunschweig, wohnhaft in Paris; 3) Se.
Majestät den vormaligen König Ludwig den Ersten von Bayern ; 4) Se. Majestät
den vormaligen Kaiser Ferdinand von Oestreich in Prag; 8) Se. Majestät den
König Otto von Griechenland, dermalen in München; 6) Se. Hoheit den Her¬
zog Adolph von Nassau, dermalen in Numpenhcim; 7) Se. Majestät den König
Georg von Hannover, dermalen in Hieiung bei Wien; 8)" Se. königliche Hoheit
den Herzog Franz den Fünften von Modena. dermalen in Wien; 9) Se. Durch¬
laucht den Fürsten Karl von Monaco, dermalen in Paris.
Als Comthure erster Classe Präsentiren sich u, a. der berühmte Feldherr
der eeelesig. rutilans Dr. Wilhelm Emanuel Freiherr v. Ketteler, Bischof von
Mainz. OomW KomWus und päpstlicher Thronassistent, und der im Krieg
von 1866 nicht allzu sehr bewährte Feldherr General v. Perglas, auf
welchen die darmstädter Gymnasiasten eine» reiten grammatikalischen Me-
morirvers gemacht haben > der ihn nebst Clam-Gallas unter den neutris auf
ein „as" anführt.
Die 140 Seiten des Staatshandbuchs, weiche mit Ludwigs- und Philipps--
Orden angefüllt sind, übergehen wir und wenden uns mit einem gewagten
Sprung sofort zu der „Verdienstmedaille für Wissenschaft, Kunst. Industrie und
Landwirthschaft", deren Vertheiluug uns einen Maßstab liefern kann für die
Culturmission dieses Kleinstaats. Laut Seite 146 bis 148 und 487 erfreuen
sich 42 Personen des Glücks, daß ihre Verdienste dura> Verleihung dieser Me¬
daille auch für den nicht Unterrichteten äußerlich erkennbar sind. Von diesen 42
Hessen-darmstädtischen Akademikern kommt etwa die eine Hälfte auf Industrie
und Landwirthschaft, die andere auf Kunst und Wissenschaft. Betrachten wir
uns die letztere. Wir finden hier fast nur Musiker und Mimen. Unter jenen
sind zu nennen: Musikdirector Mangold in Darmstadt, Concertmeister Müller
das.. Kapellmeister Marpurg in Sondershausen. Gounot in Paris, Musikalien¬
händler Bock in Berlin. Musikdirector Hering das., Kapellmeister Gustav Schmidt
in Leipzig, der pensionirte k. k. Hofkapellmeister Neuling ze. Unter den Mimen:
Feodor Löwe, Emil Devrient. Bogumil Dawison, Joseph Tichatschet, Albert
Niemann, der alte Gemahl in Weimar, Theodor Wachtel. Manuel Carrion in
Madrid und Franz Sieger.
Von wissenschaftlichen Größen finden wir in dem Verzeichnisse Niemanden.
Es müßte denn ein Herr Simon, Pfarrer in Ncichelstadt, ein Herr Hoffmeister.
Actuarius in Melsungen, ein Herr Schmidt, f. k. Hoftischler in Wie», dahin
zu rechnen sein, obgleich wir — vielleicht zur Schande unserer Unwissenheit —
gestehen müssen, daß wir von deren.wissenschaftlichen Leistungen noch nichts ge¬
hört haben, auch sorgfältiger Nachforschung ungeachtet nichts in Erfahrung
bringen konnten. —
Vergleichen wir nun mit dem darmstädtische» das nassauische Staatshand¬
buch für 1866, so finden wir, daß das letztgenannte Herzogthum, obgleich nur
halb so groß, Proportionen nach Raum und Zeit, die ihm zugemessen waren,
in seiner Art noch thätiger und fleißiger war als erstgenannter Staat. Erst
der letzte Herzog von Nassau. Adolph der Erste und Letzte, hat wirkliche Orden
eingeführt. Die Stiftungsurkunde des „Nassauischen Hausordens vom goldenen
Löwen" (orcli-e an lion et'or cle la, waisoir no Mssiru), welcher nicht allein
Von Adolph als Haupt der nassau-walramschen, sondern auch von dem König
der Niederlande, Wilhelm dem Dritten, als Haupt der jünger», der nassau-
vttonischen Linie, unterzeichnet ist, datirt vom 16. März 18S8, und da der
Herzog Adolph am 1ö. Juli 1866 sein Land verlasse» und verloren hat, so
War ihm. was die Ordensverleihung anlangt, nur eine kurze Spanne Zeit
zugemessen, welche sich accurat auf 8 Jahre 3 Monate 4 Wochen und einen Tag
berechnet. Wenn nun auch die Opposition auf dem Landtage, der seit 1863
jedes Jahr mindestens einmal aufgelöst wurde, behauptete, die Regierung habe
förmlich alle und jede Thätigkeit eingestellt, so konnte doch selbst der böswilligste
Opponent sich nicht unterfangen, zu behaupten, daß dies auch bezüglich der
Ordensverleihungen der Fall sei. Nächst der Kammerauflösung und der An¬
strengung von Anklagen wegen Beleidigung der Majestät des Herzogs Adolph
und wegen Verletzung der Dienstehre des Regicrungsdirectors Werren, war die
Verleihung von Orden dasjenige Geschäft, welches am seltensten eine Unter¬
brechung erlitt und sogar noch nach der Entthronung in dem aus dem südlichen
Ufer der Donau, in Günzburg aufgeschlagenen Kriegslager bis in die Mitte
September 186V hinein mit sorgsamer Pflege fortgescht wurde. „I^ullg, Zivs
Line lines," konnte auf diesem Gebiete der kleine Herzog Nassaus mit dem gro¬
ßen Kaiser Roms sagen. In dieser kurzen Zeit also von wenig über acht Jah¬
ren hat der Herzog Adolph, als Herrscher eines Reichs, das an Einwohnerzahl
sehr weit hinter der guten Stadt Berlin zurücksteht, uicht weniger als fünf¬
hundert und achtzig Orden und 40 Medaillen für Kunst und Wissenschaft, also
im Ganzen 620 — sage s ends h u ut e rennt zw anzig Decorationen verliehen,
wie dies in beschaulicher und erbaulicher Breite auf Seite 6 bis 44 inklusive
des gedachten Staatshandbuches für 1866 auseinandergesetzt ist. Bei der son¬
stigen Vollständigkeit dieser behäbigen Darstellung, welche die dessen-darmstädtische
noch bei Weitem übertrifft, vermissen wir nur eine Kleinigkeit, nämlich die
jedesmalige Angabe der Ursache der Verleihung. Großmeister ist natürlich über¬
all der Herzog Adolph, Ordensk.anzlcr aber Prinz August von Sayn-Wittgen-
stein-Berlcburg, früher großherzoglich hessischer Cavalericgencral. sodann 1849
der letzte Rcichsministcr des Erzherzogs Johann, und endlich 1866 sowohl der
letzte Staatsminister des Herzogs Adolph, als auch der letzte Gesandte des
deutschen Bundes in dem Hotel zu den drei Mohren in Augsburg. Unter den
„Rittern aus souveränen Häusern" finden wir bei dem „Ordie an Uoir ä'or"
u, a. den Kurfürsten von Hessen und dessen damals noch pr'ä'sumtiven Nach¬
folger, ferner den Kronprinzen von Hannover, den Kronprinzen von Sachsen
und endlich den Prinzen Alexander von Hessen, den Bundesarmeecvrpscomman-
danten. Letzterer ist auch Großkreuz der zweiten (in Erinnerung an jene stolze
Zeit, wo ein armer Graf von Nassau, der auch Adolph hieß, einmal deutscher
König war, von einem Mainzer Erzvischof auf den Thron erhoben und, als
er demselben nicht mehr gehorchen wollte, auch wieder heruntergeworfen), „Mi¬
litär- und Civilverdienstorden Adolphs von Nassau" genannten Decoration.
Prinz Alexander galt bei dem Hofe in Biebrich nicht nur für tapfer, was er
auch ist. sondern für das erste Feldherrngenie der Gegenwart, was er wohl
nicht ist. Den Advlphsorden vierter Classe erhielt zuerst der Lcibkammerdiener
des Herzogs Adolph; er hieß Weiser, und die Welt wußte nichts von ihm,
als daß er die Blume aller Kammerdiener war. Daß er zuerst an'diese ihm
so nahe stehende Person dachte, macht dem Herzen des Herzogs Adolph alle
Ehre; aber immerhin macht- es einen nicht gleich objectiv zu classisicirendcn Ein¬
druck, an der Spitze der langen Liste den Kammerdiener und hinter ihm eine
endlose Reihe von Geheimen Regierungsräthen. Hofgerichtsräthen. Hofkammer-
räthen. Kirchenräthen, Obernu'dicinalräthen> Oberforsträthen, Geheimen Com-
merzienräthen. Gartendirectoren. Oberschulräthen. Seminardirectoren. Ober¬
steuerräthen und Edelleuten zu erblicken. Dieser wahrhaft excentrisch demokra¬
tische Einfall ist doppelt bemerkenswerth bei dem sonst (wenigstens höchstseiner
eigenen Meinung nach) so hocharistokratischen Herzog. Er verdient in der dem-
nächstigen „Iristor^ ok tlro äsoline: iurck k^II ot etre Mssovian lÄrixiiv" nicht
mit Stillschweigen übergangen zu werden. Wer weiß, was ein pragmatischer
Historiker daraus nicht alles zu deduciren wissen wird?
Sprechen wir nun von der nassauischen Medaille für Kunst und Wissen¬
schaft. An der Spitze der specifisch nassauischen Kunst und Wissenschaft mar-
schirt Herr Drächsler-Manfred,*) den wir auch bereits (mit einem pon-
ceaurothen Rockkragen und einem Paar grau melirter Pantalons bekleidet) an
der Spitze des darmstädter Hoftheaters angetroffen haben. Er hat einige sehr
rührende Gedichte tea.rlmng, xvLtiea) auf den Herzog Adolph gedichtet, welche
in der „Nassauischen Landeszeitung" die verdiente Ausnahme fanden.
Von Männern der Wissenschaft finden wir zwei wiener Aerzte, welche den
Herzog einmal behandelt haben, und den Vorsteher einer Privatirrenanstalt zu
Bendorf am Rhein. Die wichtigsten und am stärkste» bedachten Kategorien
aber sind: 1) Besitzer von Kaltwasserheilanstalten ^Stcinbacher in München,
Confeld in Wiesbaden u. s. w.); 2) Gärtner (Verschaffelt in Brüssel, Linden
daselbst. Geitner :c-); 3) Musiker und Mimen und Verwandtes, als da sind: MaMo
Salvi in Wien, Karl Formes, Kapellmeister Berlyn, Kapellmeister Hagen, Kapell¬
meister Jahr. Schauspieler Haase, Kantor Ludwig, Musiklehrer Ludwig, Theater-
secretär Dreher, Soloflötist Ciardi, k. k. Kapellmeister Zsäk u. f. w. Es scheint,
da der Großherzog Ludwig von Hessen bereits die Berühmtesten decorirt hatte,
so mußte der Herzog, der seine Wisscnschafts- und Kunstmedaille erst später
stiftete und deshalb wie der Achrenlcscr dem Schnitter folgte, zum Theil we¬
nigstens sich mit etwas weniger Berühmten begnügen. Einzelne dieser Groß'en
sind uns völlig unbekannt. Indessen liegt die Schuld gewiß nicht an diesen
decorirten und deshalb ohne Zweifel hochverdienten Männern, sondern einzig
und allein an unserer eigenen bedauerlichen Ignoranz.
In der Abhandlung „ Hessen-Dcmnstadt in den Jahren 1850—1866" in
„Unsere Zeit" neue Folge, Jahrgang III. Heft 2 wird Seite 99 erzählt. in
Hessen-Darmstadt werde die Medaille für Kunst und Wissenschaft vorzugsweise
an Schauspieler, Sänger und Musiker vergeben. Die nassauische Regierung hat
sich vor einer solchen Einseitigkeit zu bewahren gewußt. Sie hat gedacht: das
Eine thun und das Andere nicht lassen, hat Musiker und Mimen bedacht,
aber ohne die Wasser- und Gartenkünstler darob zu vergessen; und nur jemand,
der hinter der modernen Entwickelung, wie sie sich in gewissen, mit einer eigen¬
thümlichen Sorgfalt regierten Kleinstaaten herausgebildet, weit zurückgeblieben
ist, wird zu läugnen wagen, daß hier die Ka ito a sseran sea le und derKunst-
garten, erstere unter den Wissenschaften, letztere unter den Künsten, die
wichtigste Stelle einnehmen. Wenigstens können wir durch das nassauische
Staatshandbuch den Beweis dafür liefern. Und wo ist ein zweiter Staat, der
ein solches von sich behaupten könnte?
Die Wahl vom 12. Februar hat herausgestellt, daß die Zahl der Dänisch-
gesinnten in Nordschleswig nicht 200,000 ist, wie in Kopenhagen gewöhnlich
gesagt wird, sondern nur etwa 150,000. Ihre Minderheit im westschleswig-
schcn Wahlkreise (Tondern-Husum) war noch nicht so groß wie die deutsche
Minderheit im nordschleswigschen Wahlkreis (Apenradc-Hadersleben), und ihre
Mehrheit im mittelschlcswigschen Wahlkreise (Flensburg. Angeln, Sundewitt.
Insel Alsen) der deutschen Minderheit nur um wenige hundert Stimmen über¬
legen. Wenn man ihnen also anderthalb Wahlkreise zuschreibt, thut man ge¬
nug ; und .anderthalb Wahlkreise sind in runder Summe 150.000 Seelen. Diese
aber wohnen nur im nördlichsten Wahlkreis so dicht, daß die Zahl der einge¬
mischten Deutschen ein Fünfte! der gesammten Bevölkerung nicht übersteigt.
Um Flensburg herum nähert sich das Verhältniß der beiden Nationalitäten zu
einander immer mehr der numerischen Gleichheit. Die Dänen selbst fürchteten,
daß ihr dortiger Neichstagscandidat unterliegen werde, und es ist auch wohl
sehr die Frage, ob es nicht geschehen wäre, wenn die Deutschen sich nicht durch
ihre unselige Zersplitterung in „Schlcswigholsteiner" und „Preußen" moralisch
geschwächt hätten.
Bor der Wahlschlacht wußten die kopenhagener Blätter vielerlei Märchen¬
haftes zu erzählen über die Anstrengungen, welche deutscher Seite gemacht
wurden, um keinen dänischgesinnten Mann im norddeutschen Reichstage Sitz
und Stimme erlangen zu lassen. Indessen war dies doch wohl nur bercitge-
Kaltenes Pflaster für die Wunde, welche Wahlniederlagen dem nationalen Selbst¬
gefühl geschlagen haben würden. Nach dem glücklich errungenen Doppelsitz
können sie ja ohne Schaden solche Behauptungen fallen lassen, wie z. B. die
handgreiflich und unverschämt falsche, daß der deutsche Nationalverein „mit
charakteristischer Frechheit" dem Wahlausschuß in Hadersleben eine bedeutende
Geldsumme geschickt habe, um Wahlstimmen zu kaufen, und daß der Preis
solcher Stimmen 1 bis ü Thaler preußisch gewesen sei. worüber die herum¬
ziehenden Agenten förmlich Buch geführt hätten. Auch die liebenswürdige An¬
nahme, daß die deutschen Wahlvorstände das Ergebniß der Stimmenzählungen
zu Gunsten ihres Candidaten fälschen würden, wird nach dem Ausgang nun ja
wohl von ihren Urhebern selbst verläugnet werden. Doch müßte man diese Pap¬
penheimer schleckt kennen. wenn man sich deshalb der Hoffnung hingeben wollte,
sie würden in Zukunft vorsichtiger sein in der bösen Nachrede, die sie uns
Deutschen einzeln oder insgesammt zu machen gedenken.
Der Ausfall der Reichstagswahl wird ihnen für einige Wochen neuen Stoff
geben, um auf dänisch, schwedisch und französisch die Nothwendigkeit zu predigen,
daß der fünfte Artikel des prager Friedens bald ausgeführt werde. Die Voll¬
ziehung des Einverleibungsgesetzcs, ohne daß die Abstimmung in Nordschleswig
vorausgegangen oder auch nur ein ausdrücklicher Vorbehalt zu ihren Gunsten
gemacht worden wäre, hatte sehr niederschlagend gewirkt, in Kopenhagen viel¬
leicht noch mehr als inmitten der zerstreuten Bevölkerung des dänischen Theils
von Schleswig. Allerhand düstere Gerüchte schwirrten damals durch die Luft.
Bald entnahm man einer Ausführung in deutschen Zeitungen über die strate¬
gische Wichtigkeit der nordschlcswigschcn Eisenbahn, daß Preußen höchstens ein
kleines Stück im Nordwesten, 20 Geviertmeilen mit 40 000 Einwohnern, ab¬
zutreten gewillt sei. aber keineswegs auch die Städte Apenrade und Haders¬
leben sammt der Ostküste. Bestände tiefer Vorsatz in Berlin, so würde er
durch das Wahlergebniß allerdings neue Nahrung gewonnen haben, indem dieses
in den Städten Hadersleben und Apenrvde nur eine geringe dänischgesinnte
Mehrheit herausgestellt hat. Bald wollte man wissen, Graf Bismarck werde
an die Abtretung eines größeren oder geringeren Stückes von Schleswig zwei
Bedingungen knüpfen: bloße Personalunion dieses Gebietstheils mit Dänemark
und Eintritt des Königs von Dänemark für diesen Gebietscheil in den nord¬
deutschen Bund. Denselben Plan, wurde hinzugefügt, habe er durch Luxem¬
burg mit dem Königreich der Niederlande vor. Ein grausamer Scherz! Oder
sollte etwa Herr v. Scheel-Plessen tun preußischen Staatsmann diese Wieder-
auswärmung seiner alten Lieblingsidee inspirirt haben?
Dänen und Holländer mögen sich beruhigen. Sollte das Gespenst, wel¬
ches sie ängstigt, jemals Fleisch und Blut annehmen, so werden sie in der li¬
beralen Nationalpartei Deutschlands einen kräftigen und resoluter Bundesge¬
nossen finden. Wir haben von dem Elend der Mischstaaten genug erlebt und
genug noch fortwährend vor Augen, um gegen jede derartige Versuchung un¬
seres nationalen Ehrgeizes gefeit zu sein. Wohl rechnen wir darauf, daß sich
eines Tags die Bande natürlicher Freundschaft mit stammverwandten Nachbar¬
nationen wiederanknüpfen werden; aber sie durch Gewalt und List an uns
heran, in unsern eigenen Bund hereinzuziehen, der mit der Zeit zu einem ge¬
schlossenen Einheitsstaat ausreifen soll, das kann uns nicht im Traume ein¬
fallen. Eine solche naturwidrige Ausdehnung der Euiheitsibee trauen wir
auch dem gesunden Verstände des leitenden Staatsmannes nicht zu, und hätte
er sie sich einreden lassen, so würde der Widerstand der Patrioten ihn voraus¬
sichtlich bald wieder davon abbringen.
Während die Dänen so noch immer fürchten in ein neues Abhängigkeits¬
verhältniß zu Deutschland zu gerathen, entwickelt umgekehrt Schweden ihrer
skandinavischen Ungeduld und Sehnsucht nicht genug Anziehungskraft. Die
Stimmführenden nationalen Organe der dänischen Hauptstadt, Fädrelandet und
Dagbladet, sind über den Sinn der letzten Frieden athmenden und jeden
kriegerischen Ehrgeiz läugnenden schwedischen Thronrede verschiedener Meinung.
Dagbladet nimmt an, in derselben habe König Karl der Fünfzehnte dem Skan-
dinavismus förmlich abgesagt. Fädrelandet bezieht die etwas dunkeln Phrasen
der Rede vielleicht richtiger auf die Theilnahme an der Schlichtung der großen
europäischen Tagesfragen, der deutschen, der orientalischen u. s. f., aber auch
ihm kommt es doch sehr verdächtig vor, daß der König den Satz seines Gro߬
vaters von den „natürlichen Grenzen" Skandinaviens aufgewärmt hat. Inner¬
halb der „natürlichen Grenzen" würden kaum Seeland und Fühnen liegen,
gewiß nicht Jütland oder gar das Gebiet südlich der Königsau. Die dänischen
Skandinavisten sehen es denn auch gar nicht gern, daß Schweden so viel natio¬
nalen Verkehr mit Finnland pflegt. Sie besorgen ernstlich, daß der schwedische
Ehrgeiz, wenn er einmal wieder erwacht, eher nach der. Wiedererwerbung des
der schwedischen Cultur so zugänglichen Finnland als nach derjenigen des von
Kopenhagen aus civilisirten dänischen Schleswig trachten, sich lieber mit Preußen
und Frankreich gegen Nußland oder mit Frankreich allein gegen Preußen und
Nußland verbünden möchte, wobei dann natürlich eine Zurückschiebung der
preußischen Grenzen außer aller Frage stände. Diese schwere und begründete
Torge, welcher Orla Lehmann noch vor kurzem öffentlich Ausdruck gegeben hat,
Veranlaßt die dänischen Skandinavien neuerdings sich mit einer gewissen
Ostentation den schwedischen Bestrebungen nach einer zeitgemäßen Reform der
schwedisch-norwegischen Unionsacte zu widersetzen. Eine Schrift des Staats¬
anwalts Dunker in Christiania, welche die Unzulässigfeit stärkerer Polnischer Ver¬
schmelzung Norwegens mit Schweden, und namentlich einer gemeinschaftlichen
Volksvertretung nachzuweisen unternimmt, ist in Kopenhagen wie ein Evan¬
gelium aufgenommen, der Verfasser auf alle mögliche Art dafür gefeiert worden.
Die Schweden betreiben diese'innigere Verschmelzung der beiden Nachbar-
reiche, wie man weiß, hauptsächlich im Hinblick auf die Ermöglichung einer
verstärkten auswärtigen Action. Gegenwärtig hat der König nicht einmal un¬
bedingte Verfügung ü"'er die norwegischen Streitkräfte, deren Zahl, Uebung und
Bewaffnung überdies gänzlich von den Bewilligungen der Stortbings abhängt.
Wie kann Schweden sich unter solchen Umständen auf gefahrvolle politische
Wagnisse einlassen? Es scheint widersinnig, daß die dänischen Patrioten, welche
doch alles Heil von Schwedens diplomatisch-militärischer Initiative erwarten,
und daß norwegische Staatsmänner wie Dunker. der 1864 sowohl wie 1848
Dänemark gegen Deutschland unterstützt wissen wollte, sich diesem Reform-
bestrcben des Königs Karl und seines Ministerpräsidenten widersetzen. Aber die
Norweger schrecken vor dem materiellen und moralischen Uebergewicht Schwedens
zurück, das sich in einer engeren Vereinigung noch drückender als bisher schon
fühlbar machen könnte, und die Dänen geben sich dazu her, diesen Particula-
rismus skandinavistisch auszufärben, weil sie dadurch die Energie der schwedischen
^Staatsmänner in ihre Kanäle zu leiten hoffen. Gelänge eine durchgreifende
Verbesserung der schwedisch-norwegischen Unionsactc, so möchte Schweden, gegen
Dänemark gleichgiltiger, Nordschleswig seinem Schicksal überlassend, alle Sinne
auf Finnland lenken. Erkennt Schweden dagegen, daß Norwegens Opposition
unüberwindlich ist. so lange sich keine Aussicht zeigt, das straffere Verfassung?,
band um alle drei nordischen Reiche zu schlingen, so muß es sein Augenmerk
entschlossener als bisher auf die Hereinziehung Dänemarks in den Bund des
Nordens richten und mag dann° auch wohl mehr Appetit für die nordschleswig-
sche Frage bekommen, als es bis heute verrathen hat.
So der Calcul Orla Lehmanns. Plougs und der anderen dänischen Star-
^iancwisten. Er giebt dem Gedanken Recht, den wir in diesen Blättern schon
früher ausgesprochen haben: daß in einem Eingehen auf Schwedens politische
Hintergedanken das Mittel läge, die nordschlcswigschc Frage ohne die wider¬
wärtige Procedur einer Abstimmung und Zerreißung des Landes zu schlichten,
vorausgesetzt natürlich, daß man sich in Berlin nicht für ewige Zeiten an den
innerlich feindseligen und chicanöscn russischen Nachbar gefesselt glaubt.
Der deutsche Handel und die beabsichtigte deutsche Kriegs¬
flotte von N. D. Wichmann. Hamburg: Otto Meißner. 1867.
Eine Broschüre, die unter ihren wieder zahlreicher werdenden Zeitgenössinnen
die bedenkliche Ehre in Anspruch nimmt, uns den Particulansmus in der Gestalt
des Lobes harmloser Schwäche zur See kennen zu lehren. Denn der Verfasser
bemüht sich, seinen Protest gegen die Gründung einer deutschen Kriegsflotte
auf die Beobachtung zu gründen, daß der Deutsche grade Dank seiner Ohnmacht
und nationalen Nullität bisher verhältnißmäßig am ungeschorensten geblieben ist,
und daß es sonach ein Unglück für das Geschäft und für die persönliche Wohl¬
fahrt der deutschen Outre-mer sein würde, wenn wir eine deutsche Kriegsflotte
und dadurch Gelegenheit zu allerlei maritimen Ehrenhändeln bekämen. Unter
den Bemerkungen des Verfassers über die Schattenseiten des Kolonialbesitzes,
der offenbar allenthalben nach Emancipation drängt, ist sicherlich manches Rich¬
tige, aber es ist sehr beklagenswerth, wenn ein verständiger und fachmäßig
unterrichteter Mann in solchen Fragen gegen nationale Institutionen, die uns
erst völlig ebenbürtig machen, um deswillen protestirt. weil auch Mißbrauch und
Nachtheil daraus mitfolgen kann, und unverzeihlich, daß er die oft erlebten Schäden
einfach verschweigt, denen der deutsche Handel bei mangelhaftem Schutze unserer
Küsten — und das ist doch die nächste Aufgabe einer deutschen Kriegsmarine —
im eigenen Hause ausgesetzt ist. — Die Schrift urtheilt fast ausschließlich
nach transatlantischen Gesichtspunkten; aber das Gute, das eine deutsche Kriegs¬
flotte stiften und das Böse, dem sie wehren soll, liegt fürs erste sehr nah! —
Um so erfreulicheren Eindruck machen die Brochüren. deren Titel wir
folgen lassen: In C. v. Stemanns Schrift „Ueber die Einreibung der
Schleswig-Holsteinischen Rechtsordnung in die Preußische" (Kiel.
Schwerssche Buchhandlung, 1867) begrüßen wir eine ähnliche sachliche Anselm.
andersetzung. wie sie die früher von uns erörterte beningsche Arbeit für Hanno¬
ver bot. eine Parallele der preußischen und Schleswig-holsteinischen Rechtsinstitu¬
tionen, unternommen in der patriotischen Absicht billiger Verständigung. Zeigt
schon die Aufschrift, daß der Verfasser sein Problem auf Grund der gegebenen
Thatsachen stellt, so geben die Ausführungen jedem Verständigen die Beruhigung,
daß die Conjunctiv« der neuen Provinz mit dem preußischen Staate auch in
den Beziehungen, die hier erörtert werden, weder unmöglich noch beklagenswerth
ist. Die Untersuchungen des nicht blos mit den preußischen Institutionen, son¬
dern auch mit ihrer Praxis vertrauten Verfassers empfehlen in der-Hauptsache:
I) Umgestaltung der Gerichtsverfassung nach preußischem Muster mit Modifika¬
tionen bezüglich der Selbständigkeit der Einzelrichter innerhalb der Gerichts¬
organisation und der Kompetenz der Collegialgenehte erster Instanz über diese,
sowie bezüglich des Verhältnisses der Staats, zur Polizeianwaltschaft-, 2) Bei.
bebaltnng des Privatrechts unter Einführung des deutschen Handelsgesehbuchs',
3) Annahme des preußischen Strafgesetzbuchs und einiger Specialaesehe; 4) Straf¬
proceßordnung auf Grund des preußischen Entwurfs von 1865; 6) Beibehal¬
tung des in Holstein geltenden Civilproceßrechts. modificirt nach den Anforde¬
rungen strengerer Durchführung des öffentlichen und mündlichen Verfahrens und
der Verbindung der Schleswig.holsteinischen Gerichte mit dem preußischen Ober-
tribunal. Rücksichtlich der Sanction des neuen Organisationsplans, die bei der
zweifelhaften Rechtsbeständigfeit der Landesvertretung in Schleswig-Holstein die
meisten Bedenken verursacht, schlägt der Verfasser vor. die Gesetzentwürfe nach
Berathung mit den Regierungsorganen des Landes einer Versammlung von
Vertrauensmännern vorzulegen und auf Gutachten derselben die Gesetze mög¬
lichst bald provisorisch zu erlassen; die Suspension ihrer Wirksamkeit his zur An¬
nahme durch die Kammern würde dazu dienen, das Land mit den neuen In¬
stitutionen praktisch bekannt zu machen. —
Auf breiterer Basis der Interessen und in juristischen Fragen — bis auf
die Empfehlung der hannöverschen Eivisproceßordnung. — im Wesentlichen mit
Seemann übereinstimmend bespricht eine andere Schrift „Schleswig-Hol¬
steins Verbindung mit dem preußischen Staate (Kiel, Sebwers'sche
Buchhandlung) die gleiche Angelegenheit, wacker bemüht, durch warmherzig¬
mahnenden Ton und ungeschminkte Sachlichkeit zu ruhiger Discussion und auf¬
richtiger Versöhnung zu stimmen. Sie möchte besonders dem Kaltsinn der
holstentreuen Frondeurs empfohlen werden, welche noch ein gutes Stück Weg
bis zu der Erkenntniß hahen. daß das hefte Theil des Patriotismus Selbstver-
läugnung ist, wie die Geschichte des Staates, dem sie nunmehr anzugehören
berufen sind, auf Schritt und Tritt sie lehrt.—
Mit dem Ruf: „Was wollen wir? Armee-Reorganisation
oder Armee-Desorganisation? (München, 1867)" erörtert ein „deutscher
Patriot" die ..bayerischen Existenzfragen". Mit derber Geradheit und einem bei
unsren schmollenden süddeutschen Brüdern seltenen Muthe der Einsicht enthüllt
der Verfasser die traurige Beschaffenheit der bisherigen bayrischen Militärorga¬
nisation, welche die besten Mittel und vorzügliches Soldatenmaterial vergeudet
bat. weist die Phraseologie der modernen Volkswehrschwärmer nach Schweizer-
Muster energisch zurück u,ut erlquters an,fs schlagendste, wie nur das preußische
Wehrsystem im Stande sei, die erfahrenen Schäden zu heilen und dem Lande
wahre Sicherheit zurückzugeben. Was die heimische Art der Discussion über
die „Opfer zu unproductiven Zwecken" betrifft, so entgegnet der Verfasser lako¬
nisch genug mit der Alternative: „entweder Geld und kein Schutz d. h, eine
xbeliebige Expcrimentalwehrverfassung, — oder Geld und genügender Schutz
d. h. die Militärverfassung Preußens. Ohne Geld kein Kiel, und ohne Geld
fein Bayern mehr! Wehrhaft und ehrenhaft oder wehrlos und ehrlos!" Voll¬
kommen richtig würdigt er die Nöthigung. die provisorisch zur Mainlinie führte.
Preußen verstand sich dazu, weil es die friedliche Abwehr eines etwaigen Ver¬
luste? deutscher Erde war. Die Brücken über den Main'' zu schlagen erklärt
er für die Aufgabe der Süddeutschen, nicht aber zunächst Preußens. Dazu ist
die Militärreorganisation die zwingende und pflichtschuldige Voraussetzung.
Die ersten festlich bewegten Momente des Reichstags sind vorüber. Die
Abgeordneten haben im Sitzungssaal des umgestalteten Herrenhauses ihre Plätze
belegt, im weißen Saale den Worten der Thronrede gelauscht, die Gastlichkeit
des Königschlosses bei einem guten Diner erfahren. und den Einzelnen ist buld-
Volle Begrüßung durch die Majestäten geworden. In den Abgeordneten, die
durch das allgemeine Stimmrecht zusammengcladcn sind, bewegten sich bei der ersten
Vereinigung die Gruppen lebhaft durch einander, überall Begrüßung alter Be¬
kannten. Vorstellungen und Anknüpfung neuer Verbindungen. In der Mehrzahl
waren sie einander fremd, sogar unter den Preußen viele neue Mitglieder; den
meisten Antheil erregten außer einzelnen distinguirten" Persönlichkeiten der Preu¬
ßen: Prinz Friedrich Karl. Moltke, Steinmetz, Vogel v, Falkenstein, die Abgeord¬
neten der neuen Landestheile und die der kleineren Bundesstaaten, die sich denn
auch zum großen Theil für den Reichstag die Sitze bei einander wählten.
Die Festlichkeiten der Eröffnung begannen mit dem Gottesdienst in der
Seblvhkapelle. Die Geladenen, Reichstagsmitglicder, höhere Offiziere, die Minister
Gesandten und Commissarien der Nundesstaaten versammelten sich in dem merk¬
würdigen Rundbau, den die edle Architektur der hohen Kuppel besser schmückt
als die Wandbilder. Es war auch ihrem Gefieder nach eine bunte Versammlung.
Gallauniformen jeden Ranges, außer der militärischen des preußischen Heeres.
Landständische und Civilepauletten, Johanniter. Malteser, Hoffracke in fast
jeder Farbe und jeder Art von Goldstickerei, Ordensbänder aus fast allen Staaten
Europas, Baron Rothschild in rothun Frack mit dem schwarzen Bande von
Schweden, der preußische Ministerpräsident in Kunassieruniform. Der Frack war
in der Minderzahl. Die königliche Familie und ihr Hofstaat erschienen in langem
Zuge und hoch oben von der Gallerte klangen die Gesänge des Domchors so
rein, voll und schön von der Wölbung herab, daß man die Predigt gern gemißt
hätte, um den Tönen aus der Hohe zu lauschen.
Aus der Kapelle ging die Gesellschaft nach dem berühmten weißen Saale,
der in den letzten 19 Jahren so viele Staatsactionen verschiedenster Art ein¬
gefaßt hat. Zur Linken des Thrones stellten sich die Minister und die Com-
missäre der Bundesstaaten auf, je ein Preuße und ein anderer Bundescommissar,
neben Graf Bismarck der sächsische Herr von Friese». Im festlichen Zuge: Pagen.
Kammerherrn, Oberhoschargen, Aemter, Reichskleinodien voran, traten der König
und die Prinzen ein. Der König las die lange Thronrede, welche ihm der
Ministerpräsident darbot, deutlich, mit sehr bewegter Stimme. Einzelne Satze,
das hoffnungsvolle Verhältniß zu den Südstaaten, der friedliche Charakter des neuen
Bundes, wurden mit beifälligem Gemurmel begrüßt, im Ganzen war die Haltung der
Hörer eine feierlich gemessene, das Urtheil über die gleichzeitig durch Flugblätter
in der Stadt verbreitete Rede bei den Abgeordneten ein überwiegend günstiges.
Nach der Thronrede und dem Abschiedsgruß des Königs erklärte der Minister¬
präsident den Reichstag für eröffnet. In langen Reihen fuhren die Wagen aus
dem Schloßportal. Im Schauspielhause wurden am Abend die Journalisten
gegeben. —
Sogleich bei der ersten Sitzung des Reichstags am 25. wurden Uebelstände
des Raumes, welchen man eilig hergerichtet hatte, fühlbar. Zwar die Enge der
Sitzplätze ist nicht so unerträglich, als sie wohl geschildert wurde, aber die Akustik
des Herrenhauses läßt viel zu wünschen übrig. Es ist ein im Grundriß fast
quadratischer Raum von beträchtlicher Höbe, die Sitze steigen nach hinten ziemlich
steil; wird von den vorderen Bänken gesprochen, so ist selbst ein starkes Organ in
Gefahr, auf den Hinteren Sitzreihen nicht verstanden zu werden. Das erwies
sich als ein ernster Uebelstand; denn er kreuzte den allgemeinen Wunsch, daß
man diesmal der Rednertribüne und ihrer laugstilisirten Reden entrathen wolle.
Es wird doch eine Art Pult aufgestellt werden.
Die Constituirung einer parlamentarischen Versammlung bietet unvermeid¬
lich öde Stunden. Kräftig unterstützte den Alterspräsidenten von allen Seiten
der gute Wille, rasch zur Sache zu gelangen. Man beschloß, vorläufig die -
Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses zu adopt>ren, vereinigte
sich über einige kleine Modificationen und verkoofte die anwesenden Mitglieder
(220—25) in sieben Abtheilungen. Seit dem Dienstag sind die Abtheilungen
mit Prüfung^ber Wahlen beschäftigt, vielleicht wird schon am Donnerstag die
Eonstiluirung des Reichstags möglich.
^ Den Arbeiten des ersten Tages folgte das Diner im königlichen Schloß.
Der weiße Saal und die Vildergallerie strahlten >in Kerzenglanz. wieder gesellten
sich goldgestickte und schwarze Röcke und lagerten an den langen Tafeln. Nach
dem Duier wruden die Mitglieder des Reichstags nach Landschaften geordnet
dem König und der Königin prasenlut und von den Majestäten mit Erfolg die
hohe Kunst geübt, allseitig wohlthuend zu wirke».—
Ueber die Parteibildungen deö Reichstags ist zur Zeit wenig zu sagen.
Unter den Liberalen herrscht die Tendenz vor, sich in Fraclionsgenossenschaften
noch nicht abzuschließen, und späterer Zelt das etwa Unvermeidliche zu über¬
lassen; ähnlich scheint es bei den Cvnseivativen zu sein.
Die große Mehrzahl der Liberalen, auch der Preußen, ist entschlossen, die
Kompetenz des Reichstags hoch zu fassen, und die Herrenstellung nicht zu
schmälern, weiche ihm der Verfassungsentwurf gegenüber der preußischen Ver¬
fassung zuweist. Es wild also die Majorität den Kampf auf Erweiterung des
Vudgetrechts richten. Mit welchem Erfolg steht dahin. Doch ist eine hoffnungs¬
volle, ja frohe Stimmung vorherrschend. Man erwartet mit mehr oder weniger
genauer Würdigung der Schwierigkeiten ein gutes Ende, das heißt Verstän¬
digung mit der Regierung.
Freilich wird der Entwurf vielen sachlichen Emendationen nicht entgehen,
meist solchen, welche den Zweck haben, Undeutliches oder Uebergangenes näher
zu Präcisiren. Es ist solches Eineublren vri einer Versammlung, welche in ihren
sast 300 Mitgliedern so viele Sachverständige, Geschäftskundige und Vertreter
großer Interessen enthält, unvermeidlich, und grabe deshalb wird es schwer,
Kürze und Schnelligkeit der Verhandlung durchzusetzen. Denn jeder möchte gern
»utralhen und etwas dazuthun oder weghaben. Es wäre wünschenswerth, wenn
daS Vundespräsidium die gesammten nützlichen Ämendemenis wohlwollend ent¬
gegennähme und sich soweit irgend möglich damit befreundete. Da den Mit¬
gliedern des Reichstags nicht nur die preußischen Minister, welche zu Bundes-
cvmmisfanen ernannt sind, gegenübersitzen, sondern aus der linken Seite des
Präsidenten auch die Minister resp. Eommissarien der übrigen Bundes-
staaten, voran wieder Herr v. Friesen, so werden diese letzteren auch sofort >n
dle parlamentarischen Verhandlungen eingeführt, und es wird ihnen leicht, die
Zustimmung rhrer Regierung durch sachgemäße Motivirung zu erwerben.
Ob die Mehrzahl dieser Herren in gehobenem oder in besorgtem Gemüth
den ersten Verhandlungen beigewohnt hat, war nicht zu ersehen.
Mitten durch das ehemalige Herzogthum Nassau fließt ein Fluß, die Lahn,
reich an landschaftlicher Uferscböndeit, auch reich an Kräften, die sich der Mensch
nutzbar zu machen weiß. Bon seinem Eintritt in die Grenzen des unter¬
gegangenen Staates unweit Wetzlar fließt er im Ganzen westlich und in einem
meist engen Thal bis zu seiner Mündung in den Rhein bei Oberlahnstein. Schön
bewaldete Bergwände, oft steile Felsen des Schiefer« und Kalkgebirges blicken
in seine Gewässer, nur selten erweitert sich das Thal so, daß Fruchtfelder und
Wiesen zwischen den Höhen und Ufern Platz finden. Rasch eilen die Wellen
durch das enge Bett »der strömen über ausgebreitetes Gerölle in kleinen Strom-
schnellen. In der trocknen Jahreszeit fast überall seicht und klein, schwillt das
Flüßchen im Winter bei Abgang des Schnees oder bei lang anhaltendem Regen
gewaltig an und erprobt eine unbändig scheinende Kraft. Aber die Menschen
haben ihn doch zu ihrem Dienst gezwungen, Schiffe fahren auf dem Flusse, das
angestaute Wasser treibt Mühlen und gewaltige Werke. Die Schiffahrt war
lange äußerst beschränkt, reiche Erze lagen längs der Ufer und keine Straße
führte daran vorbei, man versuchte wohl oder übel die Schiffahrt. Kleine Sckiffs-
gefäße, Nachen, höchstens 4—500 Centner tragend, fuhren so lange das Wasser
es erlaubte Eisenstein, auch Mineralwasser zu Thal und wurden leer heraus¬
gezogen durch sogenannte Halfterpferde. Bei kleinem Wasser mußte oft die
Schiffsmannschaft im Flußbett stehend das Schiffchen schieben und heben; die
natürlichen Stromschnellen zu Wehren erhöht, um das Wasser zu einer Mühle
oder einem Hüttenwerke zu stauen, bedingten ein Umladen oder ein gefährliches
Herabgleiten über das Gestein an einer dazu ausgebrochenen Stelle in der
Krone des Wehrs. Monate lang war manchmal gar keine Schiffahrt möglich
und Hochöfen, die ihre Eisensteine von der oberen Lahn bezogen, mußten aus¬
blasen, weil ihre Vorräthe zur Neige gingen, ehe die Schleusen des Himmels
ihre Transportflotte wieder schwimmen machten.
Das Herzogthum Nassau war aber nach einem Ausspruche des Staats-
und Hausministers v. Marsch.it> ein ackerbautreibendes Land und konnte nicht
Anspruch machen auf Besserung der Verl'chrsanstalten. Man baute Landstraßen
über öde Berge, um die hungernde Bevölkerung zu beschäftigen oder um den
armen Dörfern Gelegenheit zu geben, aus der Leistung von Vvrspanndienstcn
etwas zu verdienen, was ihnen entgangen wäre, wenn man durch die Thäler
gebaut hätte; auf dem Rhein und Main hob man hohe Zölle und ließ die
Flüsse versanden.
. Doch auch hier kamen Zeiten, wo wenigstens vernünftige Entschlüsse gefaßt
wurden, wenngleich vernünftige Ausführungen immer erst nach einigen Proben
gelingen wollten. Im Jahre 1838 hat man angefangen bei Limburg ungefähr
in der Mitte der nassauischcn Lahnstrecke eine Schleuse zu bauen, um zwei hohe
Wehre zu umgehen, die oberhalb und unterhalb des Städtchens die Gewässer
zum Betriebe größerer Mühlen stauten. Das Schlcuseuwerk gelang auch in
soweit, daß kleine Schiffe die Fahrt bei günstigem Wasserstande aus den Eisen-
steinrevicrcn zwischen Weilburg und Rund'el nach Oberlahnstein und vies versa,
machen konnten, als aber die Vortheile der directen Fahrt el» Nachen be¬
nutzen wollte, der sonst nur auf der unteren Lahn und dem Rheine fuhr, da
blieb er in der Schleuse stecken — sie war zu eng. Man hatte die Inter¬
essenten nicht gefragt, wie das in dem Lande überhaupt nicht Mode war, wo
Kenntnisse, Wille und Verstand als Regierungsmvnopol galten.
Man half sich mit der schlechten Schleuse und hatte eine Zeit lang in
eigner Erkenntniß, wie schwer solche Werte des Verkehrs seien, und im Verdruß
über die Spöttereien Sachverständiger, die dem hochstehenden Negierungsbau-
meister wiederholt eine ganze Reihe elastischer Stoffe als Baumaterial für neue
Schleusen vorschlugen, beschlossen, die Lahn laufen zu lassen, wie es Gott gefalle
und den Schiff rü zu überlassen, wie sie durchkamen. Natürlich vergaß man
aber nicht die Hebung von Zöllen und Schleusengeldern. Mittlermeile hatten
aber die anderen Regierungen, deren Länder die Lahn durchströmt, nämlich das
Königreich Preußen und das Großherzogthum Hessen, die nassauischc Negierung
zu gemeinsamen Arbeiten behufs Regulirung der Lahn auf der ganzen Strecke
von Gießen bis Oberlahnstein gedrängt. Es kam nach längerer Verhandlung
am 16. October 1844 zu Koblenz zu einem Vertrage zwischen den Bevollmäch¬
tigten der drei Regierungen. Danach sollte die Lahn auf jener ganzen Strecke
für Schiffe von 100 Fuß Länge, 16 Fuß Breite und 2 Fuß Tiefgang regel¬
mäßig zu Thal und zu Berg fahrbar gemacht werden, ein ganzes System von
Schleusen wurde dadurch geboten und diese sollten mindestens eine lichte
Weite von 17 Fuß erhalten.
Der herzoglich nasfauische Bevollmächtigte hatte sich alle Mühe gegeben,
das crlaubie Minimalmaß zwischen den Thorflügeln der Schleusen herabzudrücken,
und es war ihm gelungen, freilich zur Breite oder vielmehr Knappheit^der um-
burger Schleuse ließen es die andern Bevollmächtigten nicht kommen. Nassaus
Gründe hierzu waren wieder echt kleinstaatlich und man muß es dem geringen
Interesse namentlich Preußens an der ganzen schiffbaren Lahn, die nicht zwei
Meilen lang seine damalige Enclave Weimar durchschnitt, zuschreiben, baß sie
durchdringen konnten. Die Hauptausfuhr des nassauischen Eisensteins, der zu
99 Procent die Lahnschiffc befrachtete, ging damals, wie zum Theil heute noch,
nach den Eisenwerken und Hochöfen an der Ruhr. Die Ruhr war damals schon
kanalisirt und von zahlreichen Transportkähnen befahren, die alle breiter waren'
als die bisher auf der Lahn üblichen. Diese Nuhrschiffe fuhren wohl auch ein¬
mal bis zur Mündung der Lahn und schlugen dann ihre Steinkohlen, die langsam
Eingang fanden, in dem rcichbewaldetcn Nassau in Lahnschiffc über. Und nun
wußte es Nassau durchzusehen, daß es seine Lahnschleuscn so enge bauen durfte,
daß ein Nuhrkahn dieselben nicht Passiren konnte, damit nicht etwa diese rührigen
Schiffer ihre Kohlen den Fluß hinaufbrächten und Eisenstein nacb ihrer Heimath
führten und so den nassauischeu Schiffern Concurrenz machten. Die kleinen
Lahnkähne waren zur Rhcinschiffahrt nicht wohl tauglich, es mochte auch keine
Gesellschaft den Casko versichern, und so mußte aller Transport an der Mün¬
dung der Lahn zum Umschlag in oder aus Rhcinschiffen gezwungen werden.
Der weitläufigste Theil des Vertrags handelt natürlich wieder von Steuern,
Zöllen und Schleusengeldern; sie sollten allerdings immer nur auf den fertig
gestellten Strecken erhoben werden, aber was ist ein Weg überhaupt werth,
dessen einzelne Theile durch unpassirbare Oeden von einander getrennt sind? —
und dieser Zustand dauerte noch ganze vierzehn Jahre.
Das Herzogthum Nassau mußte nicht hinlänglich das mit dem Vertrage
Bezweckte erreicht haben, oder waren Preußen und Hessen unzufrieden, so viel
gewährt zu haben, kurz der am 16. October 1844 geschlossene Vertrag kam erst
am 19. September 1843 zur Ratification und demnächst unteren 30. desselben
Monats zur öffentlichen Bekanntmachung. Ein Vertrag also, der die Handels¬
und Vcrkehrsintercssen dreier souveräner Staaten berührte, brauchte nach seinem
Abschluß uoch ein Jahr, um die landesherrliche Bestätigung zu erhalten und
in Ausführung zu kommen.
Im Jahre 1843 und 1846 wurde» wirklich Seitens der nassauischen Re¬
gierung die Arbeiten begonnen, um überall in der Lahn die nöthige Tiefe her¬
zustellen und da wo dies wegen des starken Gefälles nicht möglich war durch
Stauung dxs Wassers zu heben und die Differenz der Wasserspiegel ober- und
unterhalb des Wehres durch Schleusen zu überwinden. Man suchte dem Fluß
überall ein gleichmäßiges Profil zu geben und baute längs der Ufer den Lein¬
pfad. Auch die hindernden Anlagen Privater, Mühlwchre und dergleichen wur¬
den nach Entschädigung der Besitzer entfernt. Aber man übereilte sich nicht
und baute jedes Jahr ein Stück je uach den Mitteln der Staatskasse, unbedacht,
daß das Capital wirthschaftlich sich nicht vollständig verzinse, so lange nicht die
ganze Wasserstraße gleichzeitig zu benutzen war und so ging es zehn volle Jahre.
Jedes Jahr hat der angestellte Wasserbaumeister ein Stückchen gemacht und die
Negierung hatte keine anderen Gründe zu drängen als den, daß sie nach Ueber-
einkunft mit Preußen stets nur auf den fertigen Strecken Zoll erheben dürfe,
und so klagte sie noch in der 1853er Session des Landtages, der allerdings nach
einem oetroyirten Wahlgesetze mit allen möglichen Hemmungen gewählt worden
war, daß sie jetzt erst 1"/z,2 Kreuzer pro Centner Heden dürfe, während, wenn
die ganze Strecke ausgebaut wäre, ihr ein Zoll von 2,4573 Kreuzer pro Centner
erlaubt sei. und die getreuen Stände klagten deshalb mit, und es ist nur ein
Einziger gewesen, Abgeordneter Dr. Karl Braun, der auch einen andern Ge¬
sichtspunkt hatte: „noch mehr liege die Schiffbarmachung der Lahn in dem
Interesse der Landeseinwohner".
Erst im Jahre 1857 forderte die Regierung die Bewilligung eines Credits,
um die angefangenen Arbeiten rasch zu Ende führen zu können und moiivirte
diese Anforderung, wie aus dem Berichte der Finanzcommission des Landtags
hervorgeht, mit den Worten: „die Absicht ist, sobald als möglich in den vollen
Bezug der Lahnschiffahrtsabgaben zu gelangen".
Die Stände genehmigten die Regierungsvorlagen, nicht ohne allerlei Aus¬
stellungen, die aber nur Details der Ausführung betrafen und an das
bereits bestehende Project des Baues einer Lahneisenbahn anknüpften. Aus¬
stellungen gegen die Art und Weise der Bauten und Beschwerden über Ver¬
letzungen Einzelner und ganzer Gemeinden, oft nur über die angebliche Nicht-
berücksichtigung derselben waren in den Kammern der Kleinstaaten überall, aber
besonders in Nassau an der Tagesordnung. Waren doch in den kleinen Wahl¬
bezirken (Aemtern) von 12—20,000 Einwohnern häusig die Chancen der Kan¬
didaten davon abhängig, welches Wcgprvject der eine oder der andere zur
Sprache gebracht hatte oder noch zu bringen versprach. Bei der Regulirung
der Bahn kamen öfters Anlagen zur Sprache, die allerdings für die Interessenten
von großer Wichtigkeit waren, die aber von einer einsichtsvollen Bauverwaltung
und Regierung vor allem mußten berücksichtigt werden. Es hat aber fast
überall nach Erschöpfung aller Instanzen der Beschwerde an die Stände, be¬
durft, um die Ansprüche gegen die Negierung durchzusetzen. Beispielsweise
hatten viele Gemeinden, die an der Lahn liegen, nutzbares Gemeinde- oder
Privatland auf der anderen Seite des Flusses. Zu dessen Bau und Nutzung
waren vielfach ungefährliche Durchfahrten hergestellt und seit unvordenklicher
Zeit benutzt worden. Eine Austiefung des Bettes zerstörte diese Fürther, und
der Staat war wohl verpflichtet für eine andere Anstalt des Trajcctes zu sor¬
gen. In dieser Richtung plaidirte jedes Mitglied der Stände für seinen Wahl¬
bezirk oder seinen Wohnort.
Zu Ende des Jahres 1858 betra.l'tete die nassauische Regierung die Lahn-
rcgulirung als vollendet, sie hob von nun an den vollen Zoll auf der in ihrem
Gebiete liegenden Strecke. Man hatte auch bereits im Jahre 1835 die allzu
eng gerathene Schleuse bei Limburg in Uebereinstimmung mit der Convention
vom 16. October 1844 über SchiffbarmaHung der Lahn gebracht, man hatte
erst versucht, die Schleuse durch Abkippen (Abhauen) der Seitenwände weiter
zu machen, aber das harte Gestein (ein Marmor) ließ diese Arbeit kaum vorschreiten.
Man mußte sich zum völligen Umbau entschließen und forderte dafür von den
Ständen eine Summe von circa 50,000 si. Bei ihrer Bewilligung war
noch nicht einmal die Rede davon, woher solche absonderliche Erscheinungen
kämen, daß Bauten der Art fünfzehn Jahre nach der Ingebrauchnahme total
abgelegt werden müßten. Die Negierung hätte sich eine Landesvertretung
nach ihrem Sinn durch Octroyirung geschaffen, die liberale Partei hatte sich
der Wahlen enthalten. Das Publicum freilich erlaubte sich allerlei Aeußerungen
über den geschickten Rcgierungsbanmeister; man trug sich mit allerlei Spöttereien
und Witzen und es wurde vorgeschlagen, den Mann mit. einer hohen Rente zu
entschädigen, wenn er das Versprechen geben wollte, nicht mehr zu bauen.
Die ganze der Regicrungsbehauptnng nach vollendete Lahnregulirung war
trotzdem nicht gerathen, es fanden sich immer noch gefährliche Stellen im Flu߬
bett, der Leinpfad war an vielen Stellen noch nicht fertig gestellt, eine der
Lahnschleuseu so verkehrt angelegt, daß die Einfahrt in den Obergraben stets
für Menschen und Schiff gefährlich blieb, niemals war das erreicht worden,
was der Vertrag von 1844 als Minimum in Aussicht gestellt hatte, von dem
weiter in dem genannten Vertrag angedeuteten Ziele einer gleichmäßige» Wasser-
tiefe von 3 Fuß war nie mehr die Rede. . Und noch vor der Zeit, daß die
Lahn als schiffbar in dem Sinne betrachtet werden konnte, wie sie es heute in
Wirklichkeit noch ist, war ihre Bedeutung zum große» Theile geschwunden.
Bereits im Jahre 1851 hatte man große Eisenbahnprojecte in Negierungs-
kreisen entgegengenommen. Seit im Jahre 1838 die Taunusbahn von Frank¬
furt a. M. über Mainz nach Wiesbaden concessionirt und in den Jahren 1839
und 1840 zur Ausführung gekommen war, schien in dieser Richtung ein Still¬
stand eingetreten zu sein. Ein 1845 concessiouirtes Unternehmen einer Bahn
von Wiesbaden resp. Biebrich nach Rüdesheim ging an innerer UnHaltbarkeit
unter, eine kleine Zweigbahn der Taunusbahn, die Se,cake Höchst-Soden, ist
ohne Bedeutung gewesen und geblieben. Im Jahre 1851 aber tauchten Eisen-
bahnprojecte auf, die geeignet schienen, dem Herzogthum ein vollständiges System
von Schienenstraßen zu geben und in der Zeit der großen Actien- und Credit-
schwindcleicn, die dem 2. December folgte», fand sich wohl das Capital zu
solchen Unternehmungen. Da aber Dreivicrtheile des Herzogthums von preu-
ßischen Landen umschlossen waren, so hätte man selbstverständlich solche Pläne
in Gemeinschaft mit Preußen entwerfen müssen. Aber es war die Zeit der
eisten ZollvereinSkrisis und Nassau versuchte einmal mit seinen süddeutschen
Bundesgenossen gegen die Stimme des ganzen Landes in östreichischen Inter¬
esse dieses einzige stattliche Werk deutscher Einheit zu zerstören.
Dieses Verhalten des kleinen Herzogthums Nassau ist oftmals geschildert
worden, es ist eine Ursache seines Unterganges gewesen, weil es auf einer Ver-
kennung seiner wirklichen Interessen beruhte. Die nächste Wirkung war, daß
große Eisenbahnprojecte darum nicht zu Stande kamen und solide Gesellschaften
konnten hin' kein Terrain für ihre Unternehmungen finden. Fremde Schwindler,
Abenteurer mit ausländischen Titeln und Orden hatten dagegen von jeher viel
Glück und viel Theilnahme gefunden, und so geschah es auch hier, daß eine
englisch-französische Gesellschaft, an deren Spitze nicht grade die solidesten Na¬
men standen, die Concession zum Bau einer Eisenbahn von Wiesbaden nach
Niederlahnstcin erhielt, d. h. bis zur Landesgrenze nördlich am Rhein. Die
Bahn konnte nicht existiren ohne den weiteren Anschluß auf preußischem Ge¬
biete. Der aber blieb aus, weil das souveräne Herzogthum in wirthschaftlichen
Dingen mit dein souveränen Königreich Preußen Krieg führte und in Folge
davon verlor die ohnedem nicht sehr kreditwürdige Gesellschaft ihren Credit/sie
konnte das angefangene Werk nicht vollenden trotz verschiedener Versuche, ihr
die Hilfe des Staats durch Zinsgarantie »ut garantirte Obligationen zuzu¬
wenden. Die Concessionsurkundc war Vom 23. Juni 183!) datirt gewesen und
am 14. October 1838 wurde dieselbe zurückgenommen. Der Staat hatte be¬
reits in drü Jahren 1836 und 1837, da die Bahn längs des Rheins noch
von der erwähnten Aktiengesellschaft gefördert wurde, und während er wegen
gleichzeitiger Uebertragung auch des Baus der Lahnbahn a» diese überall ver¬
rufene aber in Hofkreisen immer noch geschützte Gesellschaft unterhandelte, von
dem Rheine lahnaufwärts eine kleine Strecke Eisenbahn selbst gebaut. Zu¬
nächst nach Eins, um diesen weltberühmten Kurort mit dem Rheine wenigstens
in Verbindung zu bringen, dann etwas weiter bis Nassau, dem Geburtsorte
des Freiherrn von Stein.
Die Gesellschaft, die demnächst die ganze Lahnbahn von der Grenze bis
zur Mündung in den Rhein übernehmen sollte, würde nach der Absicht der Re¬
gierung die auf diese Bauten verwendeten Kosten zu ersetzen gehabt haben.
Die Gesellschaft aber, der man noch im Jahre 1837 eine hohe ^insengarantie
bewilligt und zugleich mit der Concession der Lahnbahn ein nicht zu verachten¬
des Geschenk gemacht hatte, wurde bereits 1838 officiell für bankrott erklärt,
und sie war es in der That lange schon. Immer noch ohne Verständigung
mit Preußen über die Anschlusse lahnaufwärts und lahnabwärts war der Staat
gezwungen, die begonnenen und unvollendeten Arbeiten zu übernehmen und
auf Staatskosten zu bauen. Die Stände hatten dazu nach langer Verhandlung
ihre Einwilligung gegeben, es blieb eben nach allen Mißgriffen der Negierung
nichts Anderes übrig. Außerdem hatte man ja scho» ein Stückchen auf Staats¬
kosten probeweise versucht und die Techniker des Regierungscollegiums hatten
einen College« gefunden, der auch Eisenbahnen bauen konnte. Das war aber
leider der Meister der limburger Lahnschleuse, die zu eng war, um das Erfor¬
derliche zu leisten. So ist denn auch die Eisenbahnstreckc längs der Lahn von
Oberlahnstein bis Ems ebenso oder ähnlich geworden und die Pläne zum
Weiterbau versprechen ein vollständig übereinstimmendes Resultat. Techniker
haben später unverhohlen zugestanden, daß einzelne im Plane bereits fest¬
gestellte Strecken mit Locomotiven absolut nicht zu befahren gewesen sein
würden.
Man mußte nun bei den Ständen die Bewilligung der erforderlichen Geld¬
mittel beantragen, und da mochte man sich wohl gescheut habe», ohne feste Pläne
und ohne Kosteuübcrschlag hervorzutreten, man hatte auch bereits Stimmen
vernommen über das Werk des berühmten Wasser-, Straßen- und Eisenbahn-
baumcisters, kurz man war einmal gezwungen, aus dem nassauischcn Schlen¬
drian hervorzutreten. Das nöthigte zum Engagement eine« Technikers, der be¬
reits tüchtige Proben abgelegt; er war Landeskind von Geburt, aber nicht
geläutert und erprobt in den Staatsprüfungen der Negierungsweisen, sondern
in der praktischen Schule des ersten deutschen Eisenbahntechnikcrs, des Ober¬
ingenieurs Denis, zuletzt in München. Nun ging es einmal wirklich rasch mit
dem Bau, die Nheiubahn wurde vollendet, die von dem Regiernugsbaumeister
zum Glück für das Land nicht weiter als von Lahnstein nach Nassau angelegte
Lahnbahn wurde ausgebaut und im Wesentlichen alles bis zum Jahre 1862
zu Ende geführt. Durch Staatsvertrag vom 8. Februar 1860 hatten sich die
herzoglich nassauische und königl. preuß. Regierung endlich über Fortführung
der Bahn von Obcrlahnstcin nach Koblenz geeinigt und gleichzeitig die Con¬
cessionen zum Bau der Bahn von Köln nach Gießen und von der nassauischen
Landesgrenze bis nach Wehlar gegeben. Damit war dieser Eisenbahnkricg er¬
ledigt, Nassau aber erhielt seine Eisenbahne» dadurch später und statt des di-
recten Wegs nach Köln einen Anschluß an Koblenz und statt des Baues durch
eine Privatgesellschaft gegen eine etwaige geringe Zinsgarantic eine Staats¬
bahn, die nicht viel mehr rentirte als die Hälfte des zur Verzinsung der Eisen¬
bahnschuld nöthigen Bedarfs.
Nun concurrirte längs der ganzen Lahn die Eisenbahn mit der Schiffahrt.
Die Eisenbahnvcrwaltung feste ihre Tarife niedrig, die Schiffer folgten, die
Direction ging weiter, die Schiffer mußten nach, und während so auf der
einen Seite der Staat als Eigenthümer und Verwalter der Staatsbahn den
Schiffern die Frachtsätze herabdrückte, belästigte er sie auch noch durch Schifs-
scchrtsabgaben; die Lahnschissahrt war bald beschränkt auf den Transport von
Erzen und Mineralien, deren Lagerstätten nahe am Ufer, aber nicht bequem zur
Abfahrt nach einem Bahnhöfe gelegen waren, sie verkümmerte immer mehr und
mit halben Maßnahmen, als Herabsetzung der Lahnzölle, Aufhebung der Zölle
für Frachten zu Berg, war ihr nicht mehr zu helfen. Vom 1. Juli 186V wurde
die Zollerhebung ganz aufgegeben, im letzte» Act der verschwundenen Negierung,
er wird wohl nicht mehr im Stande sein den Wasserverkehr zu beleben, bis
vielleicht bei reicherer Entwickelung des Verkehrs die Massentransporte derart
zunehmen. daß wieder eine Theilung zwischen Eisenbahn und Wasserstraße noth¬
wendig wird.
Die Eisenbahnlinie zwischen Obcrlahnstein und Nassau und ein Theil der
Lahncorrectur sind Werke eines und desselben Baumeisters. Zwischen dem Rheine
und Nassau liegen Curven, daß eine Fahrt mit schweren Zügen unmöglich, jedes
Fahren nur mit großen Materialverschlciß möglich und bereits ein totaler Um¬
bau dieser Strecke nothwendig geworden ist. Bei Nassau liegt die sogenannte
hvllcricher Schleuse, deren Kanal fast unerreichbar oder wenigstens bei gutem
Wasserstand nur mit Gefahr für Leben und Eigenthum erreicht werden kann
und dazu noch vou Zeit zu Zeit durch Einsturz der Seitenmauern gänzlich un¬
fahrbar wird, so daß dann einige Tage oder Wochen oft bei günstigsten Wasser¬
stand die ganze Schiffahrt gehemmt ist.
Auch an anderen Stellen des Flusses sind ähnliche, kleinere Hemmnisse
immer noch vorhanden und der alte büreaukratische Schlendrian und die unan¬
tastbare Weisheit der Negicrungstechuiter hatten es so weit gebracht, daß ein
bäuerlicher Abgeordneter einst in öffentlicher Sitzung der Stände des Herzog-
thums'der Negierung den Nath gab, künftig bei ihren Wasserbauten nicht blos
Techniker, sondern auch „Sachverständige" beizuziehen. Er meinte damit etwa,
die Techniker möchten wohl die Schleuse bauen können, daß sie aber auch brauchbar
sei, dafür könnten sie nicht einstehen, das wisse ein Schiffer besser zu beurtheilen
und der Mann hatte hier nicht so Unrecht.
Die Correcturen haben allerdings eigentlich nie ganz aufgehört, was anzu¬
erkennen ist, aber der Kleinstaat, der so viele Arbeitskräfte hatte und sich um
Details bekümmern konnte, litt so häufig Schiffbruch an dem Wollen oder den
Fähigkeiten der Beamten, die nach allen anderen Rücksichten eher als nach ihrer
Qualification gewählt wurden.
Im Anfange der 1860er Jahre wurden Beschwerden lant über eine der
Schiffahrt auf der Lahn sehr hinderliche Untiefe bei Staffel, einem Dorfe etwas
unterhalb der Bischofstadt Limburg. Durch Ausbaggerung des Flußbettes war
leicht Abhilfe gewährt, und sie sollte auch vorgenommen werden. Die Gemeinde
aber erhob Einsprache dagegen und verlangte als ihr Necht, daß an dieser
Stelle keine Aenderung des Flußbettes vorgenommen werde, weil sie daselbst
eine Fuhrt habe, deren sie bedürfe, um zur Feldbestellung u. s. w. in die jenseits
der Lahn gelegenen Theile der Gemarkung mit Vieh und Wagen gelangen zu
können. Es war kein Zweifel, daß die Gemeinde Anspruch auf Berücksichtigung
hatte, und es wurde Seitens der Regierung die Localverwallungsbehörde, das
herzogliche Amt zu Limburg, mit den einschlagenden Verhandlungen beauftragt.
Der Amtmann, der damals dort statthaltcrte, war nicht mehr jung, hatte sich
in die Gewohnheit einer maschinenmäßiger Arbeit eingelebt und konnte nicht
mehr heraus. Sollte von ihm eine Entscheidung ausgehen oder eine Auskunft
eingeholt werden, so setzte er sich mit der Fachbehörde oder mit seinen Unter¬
gebenen der Gemeindebeamten in Schriftwechsel/ und aus den einlaufenden
Schreiben und Berichten constmirte er sich seine Ansicht und sein Wissen. So
leicht wurde es ihm aber hier nicht. Er hatte Auftrag, zu vermitteln zwischen
der Wasserbaubehörde, die das Interesse der Schiffbarmachung der Lahn vertrat,
und der Gemeindebehörde, die das Interesse ihrer bäuerlichen Genossen verfocht;
er konnte daher weder den Wasserbaumeister ersuchen, ihm seine Ansichten von
der Sache mitzutheilen, noch den Bürgermeister von Staffel zum Bericht auf¬
fordern. Darum blieb die Sache liegen und so oft sie von der einen Seite
angeregt wurde, siel die Verhandlung wegen des Widerspruchs des andern Jnter-
essenten. Nach verschiedenen Monitorien und endlich dringenden Befehlen mußte
der Amtmann aber doch vorschreiten. Ohne Bericht und ohne Acten überhaupt
ließ sich jedoch nichts machen, und darum schrieb er in Ermangelung andeter
sachkundiger Personen officiell an den Pfarrer des Orts, um von diesem die
nöthige Information zu beziehen. Der Pfarrer scheint seine Thätigkeit in nütz¬
licher Richtung verwerthet zu haben, denn die Lahnvertiefung kam zu Stande
und die Gemeinde erhielt statt der Furth eine auf Staatskosten zu unterhaltende
Fähre.
Nicht immer mag es so gut gegangen sciti, Vieles ist unterblieben, weil der
Mann nicht zu finden war, der entschieden nach reiflicher Prüfung auf einem
Plane beharrte; mit dem Vonsichschieben hatte man die kleinste Arbeit und Ver¬
antwortlichkeit.
Die Lahn ist nunmehr bis auf ein kleines Stückchen im Großherzogthum
Hessen, das aber mit der Provinz Oberhessen auch zum norddeutschen Bunde
gehört, ein preußischer Fluß. Man wird nicht vergessen, demselben die einmal
nach langen harten Geduldsproben erzielte Schissbarkeit zu erhalten, und die
dem freien Verkehr huldigenden Gesetze des preußischen Staates, vor allem das
alle Hemmnisse feudaler Institutionen und siscalischer Bedrückung ausschließende
Bergrecht, werden die Production der Mineralien im Lahnthale in ungeahntem
Maße heben, und es wird die Zeit kommen, wo Eisenbahn und Schiffahrt ein¬
ander ergänzend dieMichthümer auch nassauischer Erde auf den Weltmarkt fördern.
So unfähig dieser rheinische Kleinstaat war, wirkliche Politik zu treiben,
ebenso unhaltbar war die Meinung, er könne statt dessen in der Verwaltung
und in der Förderung materieller Interessen seine Berechtigung nachweisen und
seine Unterthanen entschädigen. Seine Ohnmacht wurde darin offenbar, als der
moderne Verkehr Anstalten erforderte, die innerhall) der künstlichen Schranken
bunter Vielherrschaft nicht errichtet werden konnten. Dampfmaschinen, Eisen¬
bahnen und Telegraphen haben, weil sie Blick und Willen für große Beziehungen
des Staatslebens erfordern, die meisten unserer Kleinstaaten in nicht geringerem
Grade zerstört, wie die geräuschvollen Vorgänge, die man sonst unter dem
Begriff großer geschichtlicher Actionen begreift. Nassau ist unter den nächst-
benachbarten Opfern des Jahres 1866 nur ultimus inwr Mros, aber seiner
compendiösen Uebersichtlichkeit wegen hat es noch den Vorzug, in der politischen
Pathologie Deutschlands das zu sein, was die Aerzte einen „schönen Fall"
nennen.
Die Polen haben sich in Posen und Westpreußen in der ausgesprochenen
Absicht zu Abgeordneten zum norddeutschen Parlament wählen lassen, um in
demselben den Protest gegen die Einverleibung dieser beiden Provinzen in den
norddeutschen Bund, welchen die polnische Fraction schon im preußischen Hanse
der Abgeordneten am 12. September vorigen Jahres niedergelegt, zu erneuern.
Diesem Vorsähe widmen wir im Nachfolgenden ein Angebinde aus dem Kram¬
laden polnischer Vergangenheit. -
Wir wollen auf den 66er Jahrgang dieses oft credenzten Brauseweins hier
nicht in der Absicht zurückkommen, um den Protestirenden zu zeigen, wie schwach
es mit ihren Nechtshcrleitungen aus wiener Verträgen bestellt ist, wie schlecht
sie in der Geschichte ihres früheren Vaterlandes bewandert sind, wenn sie be¬
haupten, daß Westpreußen „niemals zum deutschen Reiche" gehört habe, und
wie sie den Beweis schuldig geblieben sind, daß die „Polen" Westpreußens bei
dessen Zubehörigkeit zu Norddeutschland nicht ebenso gut „als Polen behandelt
werden" tonnen, wie ohne sie. Auch darauf sollen die Unbelehrbaren nicht
wieder aufmerksam gemacht werden, wie sie durch dieses Auftreten von neuem
documentiren, daß sie für politische Rechte nicht Sinn und Verständniß haben,
übern nur für ihre unschätzbare „Nationalität", womit zusammenhängt, daß aus
ihrer Mitte immer hin un-d wieder Schnsuchtsseufzcr nach einer Ausbreitung
der stammverwandten russischen Segensherrschaft über die unteren Weichsel- und
Warthegcbicte hervorbrechen. Wenn die polnischen Parlamentsmitglieder aber
vielleicht nach einem Prvtestmuster suchen, welches mehr Hand und Fuß hat
als das jüngste Kind ihres alten Witzes, so kann ihnen eine ganze Collectio»
davon nachgewiesen werden. Sie stehen im Anhange zu Gottfried Lengcnichs
„Geschichte der Preußischen Lande Königlich Polnischen Antheils unter der
Negierung Lig'ismuncli ^UAU8ti." Danzig, 1723.
Wissen die Herren noch, was im Jahre 1KK9 auf dem Reichstage von
Ludim geschehen ist? — Polen besitzen.zuweilen ein beneidenswerthes Gedächt¬
niß für ihre Geschichte; sie behalten aber blos das Ruhmvolle und schmeichel¬
hafte, und mit Beihilfe der dienstwilligen Phantasie bauen sie sich gern eine
leidlich glänzende Vergangenheit zusammen. Wir Deutsche haben aber ein
besseres Gedächtniß; dagegen ist unsere.Phantasie in der Geschichte träger. So
haben wir in Westpreußen auch noch nicht vergessen, was damals in Ludim
vorgefallen ist. Wir wollen also eine kleine Nepetition vornehmen. Gehen wir
von Bekannten aus.
Das wird den Herren wohl noch erinnerlich sein, wie Westpreußen an
Polen kam; daß die Abgesandten der preußischen Stände am S.März 1454
einen Vertrag mit dem Könige K.isunir dem Zweiten abschlossen, wonach sich
ihm das Land unter bestimmten Bedingungen unterwarf. Es waren haupt¬
sächlich folgende. Auf den König gingen alle Hoheitsrechte des Ordens, jedoch
mit Abstellung der Landesbeschwerden gegen ihn über. Die Verfassung blieb
dieselbe; nur traten an die Stelle der Ordensgebietiger Paladine, an die Stelle
der Comthure Starosten. Der Landesrath, eine Art von Landesregierung, war,
als das Kriegsglück nur das westliche Preußen bei Polen beließ, zusammengesetzt
aus einem Stellvertreter des Königs. Gubernator oder Statthalter, welcher nur
mit Genehmigung der Stände aus den Landeseingeborenen genommen werden
sollte, aus vier Paladinen, aus vier Starosten und Untcrkcimmerern und sieben
Vertretern der sogenannten Großen Städte^ so zwar, daß die acht adeligen Mit¬
glieder nur sieben Stimmen führen durften, also die Städte gleiche Rechte mit
jenen hatten. Die Bischöfe waren ursprünglich vom Landesrath ausgeschlossen.
Die Landstände wurden von den Vertretern sämmtlicher Städte und des ganzen
Adels gebildet. Alle Aemter durften nur an Eingeborne vergeben werden. Das
Recht, die Eigenschaft eines Eingeborenen (^us incligormtus) zu ertheilen, be¬
hielten sich die Stände vor. Das Land behielt seine eigene Münze, die Zölle
in Preußen sollten aufgehoben werden, der Handel der preußischen Kaufleute
»ach und durch Polen frei sein. Der Einfluß der Stände war sehr bedeutend.
« erstreckte sich sogar auf die Entscheidung über Krieg und Frieden. Als Sigis-
mund August für Livland wider Moskau Krieg führte, erklärten sich dieselben
zur Beisteuer nicht verpflichtet, weil der König ihn „ohne Einrath der Stande
unternommen". Unter diesen und anderen Bedingungen sollte Preußen „auf
ewige Zeiten mit der Krone von Polen" vereinigt werden. Daß es' aber nicht
zum Königreich Polen gehörte, erhellt auch daraus, daß Kasimir neben dem
Königstitel von dem^ Tage an auch, denjenigen eines „Herrn von Preußen"
annahm.
Es liegt auf der Hand, daß die Bedingungen und Umstände, unter welchen
Westpreußen 1454 an Polen kam, ganz andere waren als diejenigen, unter
denen es 1772 und Posen 1813 mit dem Königreich Preußen vereinigt wurde/
Bedingungen gab es in den beiden letzten Fällen eigentlich gar keine; denn die
Könige von Preußen waren damals unumschränkt, und ihre neuen Unterthanen,
deren Herrschaft sie ausschließlich ihrer eigenen Waffengewalt verdankten, konnten
daher noch weniger politische und nationale Sonderrechte beanspruchen, als ihre
alten Unterthanen keine besaßen. Der wiener Kongreß namentlich, welcher eine
Einigung über den Besitz der Länder, die gemeinsam erobert worden waren, zu
Stande brachte, hat Posen so gut wie die Rheinlands und die sächsischen Ge¬
biete dem Könige Friedrich Wilhelm dem Dritten als unumschränktem Souverän
überlassen. Am wenigsten waren die Polen als Besiegte im Stande, ihm Be¬
dingungen ihrer Unterwerfung zu stellen. Dieses war aber bei den Preußen
dem Könige von Polen gegenüber der Fall. Sie waren keineswegs von den
Polen mit den Waffen in der Hand unterworfen worden, sondern mußten sich
ihre Unabhängigkeit vom Orden unter geringer Beihilfe der Polen mit eigenem
Blut und Gut erkämpfen; sie verhandelten mit Kasimir auf gleichem Fuße als
freie Männer und kamen mit ihm in einem Vertrage überein, nach welchem sie,
einen abgesonderten deutschen Staat bildeten, welcher nur durch Personalunion
mit Polen verbunden war. v
Es liegt aber ebenso sehr auf der Hand, daß der Bertrag für die Polen
unvorteilhaft und unbequem war — ebenso unvortheilhaft und unbequem als
es für Preußen im Jahre 1867 sein würde, wenn es Posen und Westpreußen
außerhalb des norddeutschen Bundes belassen und nur durch Personalunion mit
dem Staatskörper vorbinden müßte. Wenn ein Volk vortheilhafte Verträge'
hält, so kann es sich daraus kein Verdienst machen. Das Verdienst, welches
Dank und Vergeltung in späten Tagen erheischt, sängt erst da an, wo der Nach«
theil beginnt. Wie herrlich würde es jetzt den Polen zu Statten kommen,
wenn sie bei ihren Forderungen, daß die polnische Sprache in Posen (sie ver¬
langen es freilich auch in Westpreußen) die herrschende bleibe, alle Aemter dort
mit Eingeborenen besetzt werden, die Provinz eine selbständiger Staat werden
soll, nachweisen, könnten, daß ihre Vorfahren in Lithauen, Weiß-, Noth- und
Kleinrußland, Westpreußen, Livland u. s. f. ebenso verfahren sind, obgleich sie
davon großen Nachtheil gehabt hätten. Allein wie verhielt es sich, ,um von
anderen Beziehungen zu schweigen, mit der Beobachtung des preußischen Ver¬
trages?
Schon Kasimir der Zweite hat ihn vielfach verletzt, wenn auch noch nicht
gebrochen. Besonders beschwerten sich die Preußen schon damals über Erhebung
Vertragswidriger Weichselzölle. Aber auch Versuche gegen die Selbständigkeit des
Landes wurden unter ihm gemacht und allmälig mit immer verstärkter Gewalt
wiederholt. Es waren vorzugsweise die polnischen Großen, welche das Ziel
planmäßig verfolgten. „Gute Worte, Drohungen, Gründe, dieses und noch
mehres," sagt Lengenich, „ward zur Erreichung des Zweckes angebracht: dem
die preußischen Stände die aufgerichteten Verträge, das alte Herkommen, die
beständige Gewohnheit, die geleisteten Eide und die ansgedungenen Vorrechte
entgegensetzten. Die Könige unterstützten zuweilen das Begehren der Reichs-
stände, zuweilen erklärten sie sich für die Preußen; indem sie diesen wegen Fest¬
haltung der Privilegien neue Versicherungen gaben, auch selbige bei Gelegenheit
mit einem Eide bestätigten. Sigismuudus der Erste machte sich anno 1310
denen polnischen Ständen anheischig. Fleiß anzuwenden, daß Preußen mit der
Krone auf eine genauere Art vereinigt würde, und beide Lande einerlei Bürden
tragen, auch sich einerlei Münze bedienen möchten: wiewol Hochgedachter König
außer dem Artikel von der Münze, das übrige in dem alten Stande gelassen,
die Erfüllung aber seines Versprechens dem Herrn Sohn aufgetragen und Ihn
dazu gleichsam verbindlich machen wollen." „Dieses war die Ursache, daß die
Polen unter der Regierung Sigismundi Augusti mehr als jemals auf die Be¬
werkstelligung der neuen Vereinigung drangen." „Man forderte die Stände
häusig auf die Reichstage; man setzte dem ermländischen Bisthum, mit dem zu¬
gleich das Landcspräsidium verknüpft ist, einen geborenen Polen vor, man suchte
die vornehmsten adeligen Familien durch die Execution eines gewissen Ltirwti
Königs Alexandri arm und die ansehnlichsten Städte durch ungewöhnliche Ovin-
wissiortös kleinmüthig zu machen." Als das alles nicht half, faßte man einen
anderen Plan. Weil die Preußen sich beständig auf ihre „Privilegien" beriefen,
worunter sie ihren Vertrag verstanden, so kam man polnischerseits auf den
schlauen Gedanken, sich hinter dieses Wort'zu verstecken und durch dessen Deu¬
tung den Schein des Rechts zur Beseitigung des Vertrages zu gewinnen. Man
that so, als wären diese sogenannten „Privilegien" nichts Anderes als solche,
welche der König einzelnen Privatpersonen oder Gemeinden ertheilte und über
deren Bedeutung im Falle von Streitigkeiten der König nach den Reichsgesetzen
die alleinige Entscheidung hatte. Um dem Könige Gelegenheit zu geben, von
diesem Rechte Gebrauch zu machen, singen die polnischen Senatoren und Stände
Streitigkeiten mit den Preußen über den Sinn der Privilegien an. Allein „die
Preußen merkten die schädlichen Absichten der Reichsstände, deswegen sie sorg¬
fältigst verhütet, sich mit ihnen wegen der Privilegien und deren Erklärung el»-
zulassen." So wurde das Planchen zunächst vereitelt; zuletzt aber gelang es
dennoch.
Aus dem Reichstage von Peterkau im Jahre 1562 hörten die preußischen
Abgesandten die Erklärungen, Aufforderungen und Drohungen der polnischen
Reichsstände und Kcoubeamtcn schweigend an, gaben aber keine Gegenerklärungen
ab, sondern bestanden darauf, daß sie »ut den Reichsständen gar nichts zu
schaffen hätten, sondern nur mit dem Könige. Nachdem sie das ihm selbst vor¬
gestellt, verließen sie sämmtlich den Reichstag. In gleicher Weise verfuhren sie
im folgenden Jahre zu Warschau.
Endlich im Jahre 1569 auf dem Reichstage zu Ludim wurde der Wider¬
stand der preußische» Abgesandten dadurch gebrochen, daß der Cardinal Hosius,
Bischof von Ermland und Vorsitzender des Landesrathes, welcher zugleich als
Pole und eifriger Ultramonian (durch ihn wurden znerst die unheilvollen Jesuiten
nach Polen geführt) für das deutsche und überwiegend protestantische Preußen
kein Herz hatte, von der Vollmacht der preußischen Stände abwich, indem er
die Ernennung von Cvmnusscnien aus der Mitte der polnischen Senatoren be¬
antragte, welche in Gemeinschaft mit den preußischen Laudesräthen die Bedeu¬
tung der Landcsprivilegicn prüfen sollten. Weiter wollten die Polen nichts
haben; die'Commissarien wurden ernannt, die Prüfung vorgenommen, dem
Könige Bericht erstattet und von ihm dann das schon längst abgekartete „Decret"
erlassen, durch welches den pccnßischcn Räthe», mit Ausschluß der großen Städte
und Unterlämmerer, bei einer namhaften Strafe aufgegeben wurde, in der Mitte
der Kronscnatoren Platz zu nehmen, und den Abgeordneten des Adels, in die
polnische Landbotcnstude einzutreten. Die Rechte der kleinen Städte wurden
ganz übergangen, da sür diesen Stand ebenso wenig hier, wie für die großen
Städte .im Senat ein Platz vorhanden war. Die Verschmelzung von West-
preußen mit dem Gescnnmtreichc war dadurch eine abgemachte Sache; der preu¬
ßische Landtag verlor seine bisherige Bedeutung und sank zu einem Provinzial-
landtage wie der von Großpolcn oder Kleinpolen herab; die wichtigen Angelegen¬
heiten wurden nur auf dem polnischen Reichstage verhandelt und für Preußen
mit entschieden. '
Allerdings wäre noch nichts verloren gewesen, hätten die preußischen Stände
die Einigkeit bewahrt; aber die Lcmdcsräthe folgten dem Beispiele ihres Vor¬
sitzenden, des Bischofs von Ermland, obwohl zwei Paladine zum Schein ihre
Amtsentiassung forderten, auf die übrigen Mitglieder wurde keine weitere Rück¬
sicht genommen, ob sie gleich Protest einlegten. Der niedere Adel schickte denn
auch bald seine Landboten regelmäßig zum Reichstage und verschmolz völlig
mit dem polnischen Adel.
Das war die Entscheidung über Westpreußen auf dem Reichstag zu Ludim
im Jahre 1569. Die heutigen Polen aus Posen und Westpreußen werden
wohl zugestehen müssen, daß ihre Ansprüche auf staatliche und nationale Son¬
derung nicht so gut begründet sind, als diejenigen der Deutschen des damaligen
polnischen Preußen. Sie werden es also billig finden, daß der norddeutsche
Reichstag im Jahre 1867 und der König Wilhelm von Preußen sich nach dem
Beispiel des lubliner Reichstages und des Königs Sigismund August von Polen
richten, indem es ihnen auch freigestellt bleibt, gleichfalls nach dem Muster der
Preußen von 1569 Protest abzufassen.
Wenn sie durchaus „Polen" bleiben wollen, so ist es ihnen außerdem nach
wie vor gestattet. Die Preußen wollten 1S69 auch Deutsche bleiben, es wurde
ihnen aber nicht gestattet. Wie schwach es mit den heutigen nationalen An¬
sprüchen der Polen auf Westpreußen bestellt ist, tritt außerdem noch hell zu
Tage. Es gehört viel ritterlicher Muth dazu, sich über diese geschichtliche Rechts--"
läge hinwegzusetzen.
Man würde übrigens den Polen Unrecht thun, wenn man annähme, daß
sie blos den Deutschen gegenüber so rechtsverachtcnd sich benommen hätten,
vielleicht weil sie von jeher von deren überlegener Cultur Gefahr für ihre
Nationalität gefürchtet hätten und ihr durch deren Unterdrückung — sie fand
auch anderweitig, besonders in den Städten durch das ganze Reich statt — vor¬
beugen wollten. Man höre nur, welche Beschwerden die stammverwandten Russen
aus der Geschichte gegen sie vorbringen; diese bedrohte» jenes Kleinod jedenfalls
nicht durch überlegene Cultur.
Von ihrem Verhältniß zu den Lithauern, einem kaum blutsverwandten, aber
im Charakter ähnlichen Volke, welches gleichfalls ihre Nationalität nicht bedrohte^,
sprechen wir »och etwas genauer. AIs ihr Großfürst Iagello 1386 zum Könige
Von Polen erwählt wurde, besaß ihr Reich wohl de» dreifachen Umfang des
polnischen, von welchem damals noch Masowien mit Warschau getrennt war.
Der Vortheil für die Polen war also höchst bedeutend, als eine Vereinigung
beider unter folgende» Bedingungen geschlossen wurde: 1) sollten beide nnr
durch Personalunion mit einander verbunden sein, 2) wurde ein Schutz- und
Trutzbündniß zwischen ihnen geschlossen, 3) sollten Landtag. Regierung. Heer
getrennt bleiben, kein Pole in Lithauen, kein Lithauer in Polen ein Amt er¬
halten. Allein die Polen begnügen sich mit diesem Vortheil nicht. We»n die
Lithauer und die von ihnen abhängigen Weiß- und Klenrrusscn mit ihnen ganz
Erschmolzen wurden. war der Vortheil für sie doch noch größer; folglich wurde
"lsbald mit allen Kräften darauf hingearbeitet. Die Lithauer widerstrebten zwar
ebenso standhaft und beriefen sich auf das Verlagsrecht. Aber was hatte das
Vertragsrecht für einen Werth? Sie sollten ja dafür viel mehr erhalten, sie
sollten — Polen werden. Bei den griechisch-katholischen Lithauern, und allen
Bussen machten sich die Polen daneben noch immerwährend durch die Verfolgung
und Bedrückung der orthodoxen Kirche verhaßt. Allein sie hatten einmal das.
Heft in Händen, so machten sie stetige Fortschritte in der Ausführung ihres
Plans, Nur dadurch hielten sich die Lithauer noch, daß sie womöglich einen
Sohn oder jüngeren Binder der Könige zu ihrem Großfürsten machten. Das
Schicksal wollte es aber so, daß diese Großfürsten immer nachdem den Königs¬
thron bestiegen und dann ihre persönlichen Beziehungen zu dem Rebenlaube zu
dessen Nachtheil verwendeten.
Als nach dem Tode Sigismunds des Ersten dessen Sohn Sigismund August,
bisheriger Großfürst, 1348 zur Königskrone gelangte, gab es gar keinen andern
Prinzen des Hauses Jagcllo; sonnt war den Lithauern auch die Möglichkeit
benommen, sich an der Wahl eines solchen zu ihrem Großherzog eine Stütze
ihrer Selbständigkeit zu schaffen und waren den Angriffen der Polen in erhöhtem
Maße ausgesetzt. Sie waren gezwungen, sich mit dem Gedanken an eine voll¬
ständige Vereinigung mit Polen mehr und mehr vertraut zu machen. „Sie
wiegten sich hierbei in der Illusion, es sei möglich, daß sich Lithauen als gleich¬
berechtigte Macht mit Polen verbände, die Polen gingen aber ganz einfach dar¬
auf aus, sich Lithauen vollständig unierthcinig zu machen." So äußert sich ein
Slawe in einer geschichtltchcn Skizze („slavisches Centralblatt" 1866 Ur. 17
u. folg.), welche der folgenden Darstellung zu Grunde gelegt wird, um zugleich
daran zu erinnern, daß das Verfahren der Polen gegen die Lithauer auch von
ihren Stammverwandten nicht eben hoch gepriesen wird.
„Es geziemte Sigismund August," sagt unser Gewährsmann, „der in
gleicher Weise das Wohl Polens und Lithauens zu vertreten hatte, eine ver¬
mittelnde Stellung zwischen beiden einzunehmen; allein die Stellung zu finden
war unmöglich, da man von einer Seite die vollste Selbständigkeit, von der
anderen die vollste Unterwerfung anstrebte. Sigismund mußte entweder auf
die eine oder die andere Seite treten, und er trat endlich auf diejenige über,
von welcher er für die Kräftigung des Reiches das Meiste erwartete, d. h. er
trat aus die Seite der Pole»." — Ich übergehe die einzelnen Maßregeln,
welche zur Vorbereitung der vollständigen Vereinigung getroffen wurden, beson¬
ders die Erhebung des lithauischen Kleinadels zur Gleichberechtigung mit den
dortigen Fürsten, wodurch in ihm eine polnische Partei geschaffen wurde. Endlich
im Winter 1568—69, als die Lithauer zugleich von den Schweden und dem
Zaren, von Moskau mit Krieg bedroht wurden, also des Beistandes der Polen
dringend bedürftig waren, war die Frucht reif. Es wurde der Reichstag zu
Ludim einberufen, der, wie wir gesehen, auch den Preußen verhängnißvoll wer¬
den sollte. „Die Lithauer sandten erst zu Anfange des Jahres" 1369 eine ge¬
ringe Anzahl Landboten. Die Spannung war von beiden Seiten groß. Die
Lithauer suchten ihr Recht auf vollständige Selbständigkeit in inneren Ange¬
legenheiten nachzuweisen und beriefen sich auf die Documente der lithauischen
Großfürsten; die Polen aber, welche eine vollständige Verschmelzung beider
Länder wünschten, beriefen sich auf die Verträge Wladislaw Jagellos und auf
die Privilegien eben derselben Großfürsten, welche als polnische Könige' den
Polen das Entgegengesetzte von dem zugesichert hatten, was von ihnen den
Lithauern versprochen war." - „Sie wandten sich sogar mit der Bitte an den
König, er solle die Lithauer kraft seiner Autorität zu ihrer (der polnischen Pri¬
vilegien) Annahme zwingen. Der König war ihnen auch zu Willen und be¬
stätigte alle Vorschläge bezüglich der Verschmelzung Lithauens mit Polen." Das
half aber noch nicht viel.
Endlich wurde in die Reihen ver Lithauer dadurch eine Lücke gerissen, daß
von Seiten der Beamten in den lithauisch-russischen Provinzen die Zustimmung
zur Union bewirkt wurde. Sie wurden dadurch gewonnen, daß der König
ihnen die Abgaben von ihren Dienstgütern zu erlassen versprach, wenn die Ver¬
einigung zu Stande käme. Die Beamten waren nicht die gesetzlichen Vertreter
des Landes; die Polen machten sie aber durch eine einfache Ncichstagscrklärung
dazu, nahmen ihnen ohne Weiteres den Eid der Treue ab und gaben ihnen
gegen das unzufriedene und erbitterte Volk Schutzmannschaften in^it nach Hause.
So wurden denn die Woiwodschaften Podlesien, Wolynien, Podolien, Bratzlaw
und Kiew mit Polen vereinigt.
Nach diesen Erfolgen berief man auch die übrigen Lithauer bei Verlust
Ihres Amtes nach Ludim. Allein der Nachdruck war nicht mehr nöthig, denn
da die Bedrohten sahen, daß die lithauisch-russischen Länder sich bereits mit
Polen vereinigt hatten, „kamen sie freiwillig." Sie hofften jedoch noch auf die
Annahme von vermittelnden Anträgen. Als diese von dem Reichstage ver¬
worfen wurden, wandten sie sich unmittelbar an den König in der Hoffnung,
vielleicht von ihm selbst bessere Bedingungen zu erhalten. Am 29. Juni 1569
erschienen alle lithauischen und russisch-lithauischen Landboten vor ihm, und
Georg Belewic hielt in ihrem Namen eine längere Rede, in der er die Bereit¬
willigkeit des Volkes zur Union zu erkennen gab, nur wolle es dabei nicht
hintangesetzt und seiner Ehre beraubt werden. „Denn es müßte uns und
unsere Enkel sonst Schmerz ergreifen, wenn sie der heutigen Verhandlung ge¬
dächten und unsere Nachkommen müßten uns Vorwürfe machen, daß wir unsere
eigne Erniedrigung nicht bemerkt hätten. Daher werfen wir uns Ew. könig¬
lichen Majestät mit der untertänigsten Bitte zu Füßen (dabei sielen alle unter
Vielen Thränen auf die Knie) und bitten Euch um-Gottes Willen, gedenket
an unsere Dienste, an unsere Treue, an das Blut, welches wir zum Ruhme
Ew. Majestät vergossen haben; treffet daher eine solche Einrichtung, du allen
Zur Ehre gereiche und unsern guten Namen und Eure königliche Ehre wahre,
und gedenket dessen, was Ihr uns zugeschworen habet." Nach diesen Worten
standen sie alle wieder auf und viele der polnischen Herren waren zu Thränen
gerührt. Dennoch wurde dadurch nichts Erhebliches erwirkt; die Vereinigung
wurde wesentlich nach dem Verlangen der Polen vollzogen; die Lithauer ver¬
loren das Recht der besonderen Wahl und Krönung des Fürsten, ihren beson¬
deren Landtag, ihr besonderes Gerichts- und Münzwesen; zugleich wurde das
Verbot der Aemterverleihung an Polen aufgehoben. Nur die Führung des
Titels eines Großfürsten von Lithauen neben dem königlichen wurde bewilligt.
Die Polen nennen das die „Verbrüderung" der beiden Nationen. Wir
norddeutsche wollen jetzt mit andrem Culturrecht und Angebot die posener
Polen in unsre Gemeinschaft aufnehmen. Ist ihnen Zwang geschehen, so'ist
es der Zwang der höheren Gesittung und des Berufs zu wirklichen Staats-
leben, dem niemand sich entziehen darf, ohne den höchsten Pflichten des Men¬
schen abzusagen. Sie werden dadurch gewürdigt, historische Sühne zu geben
für das, was sie einst ihren Nachbarn angethan. Nehmen sie für ihre Handlungs¬
weise von damals das Vorrecht geschichtlicher Misston in Anspruch, wohlan, so
ist für sie die zwölfte Stunde längst vorüber, um einzusehen, bah nunmehr sie in
den Genitivus getreten sind. Es wäre eine neue verhängnisvolle Schuld, wenn
sie die seltene Schickung verkennen wollten, die ihnen gestattet, beim Eintritt in
den norddeutschen Staat den Schein des guten Willens wenigstens zu retten,
den sie der preußischen Monarchie bisher halsstarrig und selbstmörderisch ver¬
sagt haben. Die Sache nicht, wohl aber die Miene ist ihnen freigestellt: die
böse wird nichts ändern, aber die gute kann sie ehren.
Daß das Haupt Norddeutschlands auch künftig den Titel eines Großherzogs
von Posen führen wird, mag ihrer Eitelkeit zum Trost gereichen.
Homcrsham Cox. M. A. Die Staatseinrichtungen Englands. Uebersetzt und be¬
arbeitet von H. A. Kühne. Berlin, I. Springer. 1867.
Der bekannte Ausspruch Cokes hinsichtlich der Regeln über das Verfahren
im englischen Parlamente: sie seien „ad oirmidus «ZMöi-öiiäa, a, multis iguo-
lÄta, g, xaueis eognitu" gilt von den gesammten Staatseinrichtungen Eng¬
lands; — nicbt blos die Verwaltung, sondern auch die Verfassung des britischen
Reichs ist in Deutschland unter den Schlagworten: „Selfgovernment und Par¬
lamentansmus" zwar „bewundert viel und viel gescholten", dennoch aber nur
selten genau gekannt. — Denn wenn auch bei jedem auf dem Continent auf¬
tauchenden neuen staatsrechtlichen Problem in den Einrichtungen des englischen
Constitutionalismus nach einem Maßstabe der Beurtheilung gesucht zu werden
pflegt, so ist doch schon der Umstand, daß häufig sich die extremen Parteien
beider Seiten auf das Borbild Englands berufen zu können glauben, ein mehr als
deutlicher Beweis dafür, daß die staatlichen Institutionen dieses Landes g, multig
jgnoi'g.ta, g, Mueis eogniw sind. — Der natürliche Grund dieser Erscheinung
liegt darin, daß die Grundzüge der englischen Verfassung nicht in ein Staats¬
grundgesetz zusammengedrängt sind, dessen wenige Paragraphen sich leicht über¬
sehen und bequem citiren lassen, sondern daß es nothwendig wird, aus einer
kaum übersehbaren Reihe von Statuten und Protokollen die für jede einzelne
Frage maßgebende Bestimmung zu ermitteln, und die Art ihrer Anwendung in
den entscheidenden Präcedenzfällen festzustellen. — Dazu kommt, daß meisten«
theils ein Verständniß dieser Bestimmungen nicht möglich ist ohne einen klaren
Einblick in den Organismus der Verwaltung, in die Stellung der richterlichen
und Executivbehördcn, und daß letztere wiederum nur'aus der historischen Ent¬
wickelung der einzelnen Institutionen begriffen werden kann. Denn das ist der
große Vorzug des englischen Staatsrechts, daß es organisch erwachsen ist aus
und mit dem Staate selbst; — und die Abneigung der Engländer nicht nur
gegen jedes Expcnmentircn mit bedenklichen Neuerungen, sondern sogar gegen
eine übersichtliche Codification der bestehenden Bestimmungen. — die übertriebene
Wichtigkeit, die den Präcedenzfällen beigelegt wird, — ja selbst das starre Fest¬
halten an gleichgiltigen, oft barocken Formalitäten, die durch den verschönernden
Rost der Jahrhunderte geheiligt erscheine», sind nur die Kehrseite der Medaille;
— sie wurzeln in der Ehrfurcht vor der historischen Ueberlieferung. — Mag es
z.B. aber auch ausfallend, selbst komisch erscheinen, daß noch jetzt ein alter-
thümliches Französisch die officielle Sprache für den Verkehr der Parlamcnts-
bäuser unter einander und mit dem Souverän ist, und vom Unterhaus ein Ge¬
setzvorschlag mit dem Vermerk: „8c>i't da,iI16 g.ux seiZueurs" an das Oberhaus
geschickt wird, um von dort für den Fall der Amendirnng mit der Formel:
>A Lese bitte; u-vvoizue leg g.in6ir6izmönt,s ü, nefas Knie u,im«xes I<zö ssigncurs
sont ÄKsvirtus!" zurückgesandt und schließlich durch rin: „le roz? Jo poule" zum
Gesetz erhoben z» werden, so liegt darin doch der Beweis, daß die Freiheiten
des englischen Volks älter sind, als die Sprache, welche es jetzt spricht, und daß
die Entwickelung der englischen Verfassung seit der mu,Mg. elrurtu eine, wenn
auch nicht ununterbrochene, doch unaufhaltsame gewesen ist.
Ein Werk, welches die jetzigen Staatseinrichtungen Englands übersichtlich
zusammenstellt und zugleich durch die Darstellung der historischen Entwickelung
derselben ihre Bedeutung und innere Nothwendigkeit erläutert, hilft in Wahrheit
einem beschämenden Mangel ab, und dieses Verdienst hat sich Homersham Cox
durch sein im Jahre 1863 erschienenes Lues: „Hie instiwtions ok tke DnAlisIr
MvormriLirt", welches neuerdings vom Appellationsgerichtsrath Kühne mit Ge¬
schick und Sachkenntniß übersetzt und bearbeitet worden ist, erworben. Denn
wenn auch in den durch die Übersetzung von Oppenheim in Deutschland ein¬
gebürgerten Werken von Thomas Erskine May über die englische Verfassungs-
geschichte und das Verfahren im englischen Parlamente«, und namentlich in dem
großen Werke von Gneist nicht nur die meisten Theile des englischen Ver-
fassungsrechts, sondern auch der Organismus der inneren Verwaltung eine aus¬
gezeichnete Bearbeitung gefunden haben, so hat° sich doch Cox die Grenzen seiner
Aufgabe weiter gesteckt als jeder dieser beiden Autoren; und in der Uebersicht-
lichkeit und Kürze seiner gedrängten Darstellung liefert er ein Compendium alles
Wissenswürdigen über die Institutionen des Landes, welches schon seit Jahr¬
hunderten sich den Luxus einer liberalen Regierung gestattet und die „Krönung
des Gebäudes" zur Wahrheit gemacht hat. — Um systematische Eintheilung und
Darstellung des überreichen Stoffes kümmert sich der praktische diu-ristvr-at-Iavs
allerdings nur wenig; — man braucht nur das Inhaltsverzeichnis) ^der „insti-
tutioirs ok tluz 1'?ng1loir govermnont" mit der Disposition eines ähnlichen'
deutschen Werks, z. B. des rönneschen Staatsrechts der preußischen Monarchie
zu vergleichen, um zu ersehen, wie weit sich die Systematik des deutschen Ge¬
lehrten von dem wenn auch nicht planlosen, doch ziemlich willkürlichen Neben¬
einander in der essayistischen Darstellung des englischen Empirikers unterscheidet.
Allerdings theilt Cox im Anschluß an die montcsqicusche Trichotomie sein Werk
in drei Bücher ein, über die gesetzgebende, die richterliche und die Administrativ-
Gewalt; aber mit diesen Überschriften ist das System auch abgethan: neben
der Verfassung des Ober- und Unterhauses werden auch Pctitions-, Versamm¬
lungsrecht und Preßfreiheit als Unterabtheilungen der gesetzgebenden Gewalt
aufgeführt, und ebenso bildet die Erörterung über den Titel zur Krone, — ja
selbst die Frage über die Vorzüge der verschiedenen Staatsformen ein besonderes
Capitel der Administrativgewalt. — Daß seine Eintheilung nicht durchaus
wissenschaftlich sei, giebt Cox selbst zu; wenn er für dieselbe aber die Vorzüge
der Durchsichtigkeit und Einfachheit beansprucht, so übersieht er, daß letztere
durch eine wissenschaftliche Systematik nicht ausgeschlossen sein würden. Allein
der Mangel der letzteren wird für den praktischen Gebrauch durch die Übersicht¬
lichkeit des Inhaltsverzeichnisses und durch ein gutes Sach- und Namcnsregister
fast vollständig ersetzt, und die Klarheit und Anschaulichkeit der scharfen und
präcisen Darstellung — namentlich die Erörterung des inneren Zusammenhangs
der einzelnen Institutionen mit dem gesammten Staatsorganismus — lassen das
Werk von Cox als sehr werthvoll erscheinen. Insbesondere ist die geschichtliche
Entwickelung der einzelnen Staatseinrichtungen, welche theils einen Auszug aus
den besten über dieselben erschienenen Monographien^ enthält, theils auf selb-
ständigen Untersuchungen des Autors beruht, — die klare Darstellung der in
einzelnen PräcedenMlcn zur Entscheidung gekommenen Pnncivienfragen sehr
fesselnd und ebenso geeignet, dem Fachmann Belehrung als dem Laien Unter¬
haltung zu gewähren. Cox weiß sogar seine rein objective Darstellung durch
pikante Gruppirung der Thatsachen zuweilen mit einem trockenen Humor zu
würzen, — wie er z. B. bei der historischen Entwickelung der Prärogative der
Krone im Text den Wortlaut der Petition ok grievlruevs anführt, in welcher
dem König'Jacob dem Ersten von dem Hause der Gemeinen vorgeworfen wird,
„er habe eine Menge ungesetzlicher Proklamationen erlassen, die das Bestreben
verriethen, eine neue Form willkürlicher Regierung einzuführen". — und in
einer Anmerkung dann die Ueberreiehungsredc von Sir Francis Bacon citirt,
der diese Petition Minitüs eolumduv nennt, das „Seufzen einer Taube, mit
der Geduld und Demuth, welche der Theil loyaler und liebevoller Unterthanen
sei." —
Dagegen fehlt dem Verfasser in einem für deutsche Leser sehr auffallenden
Grade die philosophische Durchbildung und Begründung seiner Ansichten und
wird der Anspruch hierauf von ihm sogar mit jener geflissentlicher Gering¬
schätzung, wie sie sich häufig bei englischen clvduters findet, unberücksichtigt ge¬
lassen. So unterscheidet Cox ausdrücklich zweierlei Arte» von Gründen: spe-
cuhativc, welche nur aus der menschlichen Natur Folgerungen zögen, deshalb
nur Wahrscheinlichkeitsgründe und viel unsicherer seien als die zweite Sorte,
die historischen Gründe, die Schlüsse, welche aus der Geschichte abgeleitet
würden, wobei denn freilich verkannt wird, daß, — wenn nur von letzteren die
Menschheit sich leiten lassen wollte, sich Gesetz und Recht wie eine ewige Krank¬
heit von Geschlecht zu Geschlecht forterben, und gar bald der Zustand eintreten
Würde, daß „Vernunft Unsinn, Wohlthat Plage wird!" Allein in der That
weiß auch der praktische mMvr-ot'-kÄet-in-in gar wohl die Kritik an dem historisch
Überlieferten zu üben; er ist keineswegs ein unbedingter Anhänger des Prin¬
cips, daß alles, was ist, auch vernünftig sei; im Gegentheil sucht er mit Sach¬
kenntniß und einer oft einschneidenden Schärfe die Anwendungen eines urnes-
>'gen Princips nachzuweisen, und er betont namentlich mit Recht die Noth¬
wendigkeit einer schärferen Trennung in der Competenz der verschiedenen
Functionen der Staatsgewalt, in welcher er die hauptsächlichste Garantie der
politischen Freiheit erblickt. —
Die Uebertragung dieser luZtitutivus ok tluz goverumLut in die
deutsche Sprache durch den Appcllationsgcrichtsrath Kühne ist so vollkommen,
daß man f>,se ein Originalwerk in der Hand zu haben glaubt, und durch er¬
läuternde Anmerkungen und Verweisungen aus das gueisischc Werk hat die
^den für deutsche Leser noch einen besonderen Werth erhalten. Es kann des-
)"ib dies Compendium als ein Bademccum allen Staatsmännern und solchen,
die es werden wollen, empfohlen werden; dasselbe ist vorzugsweise geeignet, die
in der Jetztzeit so nothwendige Erkenntniß der Mittel und Wege zu fordern,
dnrch welche, um ein Wort Dahlmanns zu gebrauchen. Negierungsmacht und
Eben wollte ich mir gestatten, Ihre Leser in den böhmischen Landtagssaal
einzuladen, um einer Berathung der Vertreter der Se. Wenzelskrone beizuwohnen,
— da fällt der Vorhang gewaltsam und die Herrlichkeit ist verschwunden. In¬
deß, kann ich auch meinen Katalog nicht mehr mit zeigenden Finger begleiten,
da unsere Landboten, wenn auch diesmal nicht geschmückt mit grünen Reisern
wieder heimgekehrt zu ihren Häusern, so stehen doch Dank der Plötzlichkeit des
Schlnßcffcctes die Gestalten noch so lebhaft vor dem Auge, daß ich trotz Habeas-
Corpusacte versuchen will, sie festzuhalten. Kommen sie zurück, so hilft diese
kleine Rückschau die Einzelnen erkennen, — kommen sie nicht wieder, nun so
ist es ein Erinnerungsblatt, was ich spende, und ich gestehe, daß ich, was die
Mehrzahl der Herren betrifft, mit diesem bescheidenen Verdienst sehr gern für¬
lieb nehme.
Harmlose militärische Gleichzeitigkeiten, wie man sie bei. uns im glücklichen
Oestreich liebt — Consignirung der Truppen, Bespannung der Geschütze u. a.—
reizten auch beim Unbefangenen den Argwohn, daß die Sitzung des 27. Februar
die letzte sein könnte. Die Stadtgerüchte thaten das Uebrige; mit unverkenn¬
barer Befangenheit wandelten die Deputaten zur Sitzung.
Auf der Kleinseite, in dem aristokratischen und bureaukratischen Viertel
Prags, dort wo sich die historischen Paläste des böhmischen Adels und die im¬
posanten Amtsgebäude der höchsten Landesbehörden erheben, befindet sich das
stattliche Landhaus. Der ehemalige Versammlungsort der böhmischen Stände
wurde in moderner Weise umgebaut, und so erhielt die historische Kontinuität
der ehemals ständischen und der gegenwärtigen Landtage auch durch den Be¬
rathungssaal ihren Ausdruck. Doch welch gewaltiger Unterschied zwischen Ehe¬
dem und Jetzt schon in der äußeren Stciffage! Vor dem Jahre 1848 fuhren
die Herren Stände mit den unvermeidlichen rothen Fracks in glänzenden Equ>-
Pagen mit großem Pompe vor. die Läufer, die reichgalonirten Diener, die von
Silber und Gold strotzenden Uniformen sollten dem gaffenden Volke, das die
Schaulust in Schaaren herbeigeführt hatte, den Unterschied zwischen ihm und
seinen Berathern vergegenwärtigen.
Heute giebt^es hier keine prächtigen.Auffahrten, keine bunten Uniformen
und Livreen, nichts, was dem großen Haufen in die Augen sticht. Die Ab¬
geordneten, sämmtlich im einfachen Bürgerrocke (mit Ausnahme der Geistlichen)
kommen zu Fuße an und die wenigen Equipagen der hohen Adeligen, welche
hier vorfahren, .sind höchst einfach — kein zahlreiches Publikum sammelt sich
vor dem Eingangsthore des Landhauses.
, Nur die zwei bürgerlichen Scharfschützen, welche hier Wache hallen, mah¬
nen an die alten Zeiten. Das Scharfschützencvrps läßt sich sein historisches
Necht, die Ehrenwache zum Landtage zu stellen, nicht nehmen, und als nach
vierzehnjähriger Pause im Jahre 1862 der böhmische Landtag wieder einberufen
wurde, allerdings in ganz veränderter Gestalt, da petilionirten unsere guten
Scharfschützen sogleich beim Kaiser, es möge ihnen die Uebung jenes Vorrechtes
nicht verweigert werden. Der Bitte wurde willfahrt und so spazieren denn
täglich die uiusormirten Bürger vor dem Landhause auf und ab, präsentiren
Pflichtschuldigst vor jedem ankommenden Abgeordneten und rufen, wenn der
Statthalter, der Oberstlandmarschall und der Cardinal-Erzbischof naht zum
Gewehr. Hier und da, wenn ein cnragirler nationaler Bürger den Wachposten
bezieht, beweist er seine Devotion vor den nationalen Größen dadurch, daß er
auch vor „Bater Palazty" und „Pan lliicger" zum Gewehr ruft, was eigentlich
reglementswidrig ist. In kriegsgerichtliche Untersuchung ist aber deshalb noch
kein bürgerlicher Wachposten gezogen worden.
Der Sitzungssaal des böhmischen Landtages ist einer der schönsten Säle.
Ul welchen parlamentarische Körperschaften tagen, wogegen der Sitzungssaal
des wiener Neichsrathes, so wie des ungarischen Landtages kleinlich aussieht.
Hinfach und geschmackvoll decorirt, im Fond das lebensgroße Bildniß des
Kaisers, bietet der Saal in der Anordnung der Sitze die gewöhnliche Einthei¬
lig der „Rechten", „Linken" und des Centrums, während in der Mitte auf
einer Cstrade der Sitz des Obersllandmaischalls und seines Stellvertreters, so
wie des Berichterstatters und nebenan sich der Tröes für die iltegierungsvertreter
befindet. Cine Rednertribüne giebt es im böhmischen Landtage nicht. Dem
Publikum ist eine geräumige Galerie zugewiesen, ihr gegenüber kleine Galerien
für die Journalisten. In der ersten Landtagssession hatten die Vertreter der
Presse ihren Platz im Saale selbst unmittelbar hinter den Abgeordneten, allein
entwickelte sich bald zwischen beiden ein äußerst lebhafter Wechselverkehr,
Welche zuweUen nicht ohne Einfluß auf die Abstimmungen blieb, sodaß man
^es Veranlaßt sah, den Zeitungsreserenten jene schwalbennestartigen Galerien rü
der Höhe des Saales einzuräumen, wo sie undeutlich hören, noch undeutlicher
sehen und durch die Hitze und Zugluft, welche in jenen Regionen herrscht, nicht
geringe Qualen ausstehen. Sonderbar, daß man in den meisten Parlamenten
so wenig Rücksicht auf die Vertreter der Presse nimmt. Da lobe ich mir die
geräumigen, bequemen Journalistenlogen im ungarischen Landtage!
Die „Rechte" des Hauses repräsentirt den aristokratischen Theil des Land¬
tages. Hier sitzen die Großgrundbesitzer, zumeist die Träger der berühmtesten
Namen der alten böhmischen Adelsgeschlechter, zwischen denen die einzelnen bür¬
gerlichen Großgrundbesitzer bescheiden verschwinden. In der ersten Bank ist der
Platz der vier virilstimmberechtigten hohen kirchlichen Würdenträger, des Erz-
bischofes von Prag, der Bischöfe von Königsgrätz, Budweis und Leitmeritz, so¬
wie des Rectors der prager Universität. Der Erzbischof von Prag. Fürst
Schwarzenberg, verdient in mehr als einer Richtung unsere Beachtung. Er ist
selbstverständlich der Führer der klerikalen Partei, aber auch einer der enragir-
tcsten Gegner der Fcbruarvcrfassung, die er, im Gegensatze zum wiener Erz-
bischöfe, von ihrem Geburtstag an bekämpfte. Als Schmerling noch im
Zenithe seiner „consiitutionellcn Allgewalt" stand und der Jahrestag der Ver¬
leihung d>r Februarverfassung festlich begangen werden sollte, erklärte der Erz-
bischof von Prag sich energisch gegen jede kirchliche Feier aus diesem Anlasse
und erlaubte trotz aller Vorstellungen die Abhaltung derselben in der prager
Domkirche nicht. Dem Einflüsse des Fürsterzbischofeö ist es zuzuschreiben, daß
die Mitglieder des höchsten Adels ins czechische Lager übergingen und man sagt,
daß auch Belcredi Grund habe, für seine Berufung zum Staatsminister dem
Cardinal dankbar zu sein. Die Hinneigung des höchsten Repräsentanten des
böhmischen Klerus zum Czcchenthum ist leicht,erklärlich, wenn man bedenkt,
daß der hussitische Geist noch lebt und die Geistlichkeit seiner Erhebung dadurch
zu begegnen sucht, daß sie das nationale Interesse mit jenem des Katholicismus
aufs engste zu verknüpfen strebt. Der prager Erzbischof ist eine imposante
.schlanke Gestalt. In den scharf geschnittenen Gesichtszügen spricht sich weniger
Geist als strenge Willensenergie aus; die Stimme ist klangvoll sympathisch und
mit Recht gilt der Cardinal als trefflicher Kanzelredner. In seinen Landtags-
rcden herrscht gleichfalls der Kanzelton mit einer gewissen Salbung vor und er
liebt es, auch hier den Erzbischof hervorzukehren und ohne Rücksicht auf die
akatholischen Abgeordneten, wie er sich selbst ausdrückt „in gewohnter Weise
als Hirt zu seiner Heerde zu sprechen." Jedenfalls ein ganz eigenthümlicher
parlamcntanschcr Stil.
Hinter dem Cardinäle sitzt sein Bruder, der regierende Fürst Johann Adolph
Schwarzenberg, dessen Grundbesitz im südlichen Böhmen bekanntlich größer als
ein deutsches Königreich ist. Der alte Herr mit dem behäbigen Gesichtsaus¬
drucke und den bequemen Manieren ist vor allem gut „kaiserlich östreichisch^
gesinnt. Als solcher stimmte er. solange das schmerlingsche Regime in der
Blüthe war und die kaiserliche Gunst genoß, mit der deutschen weil schmer-
lmgschen Partei in allen Fragen und blieb hierbei selbst der Ueberredung des
'Cardinal-Erzbischofes unzugänglich. Als aber Belcredi ans Ruder kam und die
Deutschen naturgemäß dem „Minister auf dem slawischen Standpunkte Oest¬
reichs" Opposition machten, da ging Fürst Schwarzenberg mit den Czechen.
weil diese eben die Regierungspartei wurden. Im Landtage spricht der Fürst
selten, er interesstrt sich mehr für die Landwirthschaft als für die hohe Politik
und überläßt es nun seinem Sohne, der gleichfalls im Landtage sitzt, eine po¬
litische Rolle zu spielen. Allein hinter den parlamentarischen Coulissen übt
Fürst Schwarzenberg als der reichste Cavalier Böhmens und als erster Reprä¬
sentant eines der glänzendsten Adelsgeschlechter der Monarchie einen sehr be¬
deutenden Einfluß auf seine Standesgenossen aus.
Unstreitig der bedeutendste Kopf unter den adeligen Abgeordneten auf der
„Rechten" des böhmischen Landtages ist Graf Clam-Martinitz/ Die schlanke
Gestalt, das feingeschnittene Gesicht Mit dem wohlgepflegten blonden Schnurr¬
und Backenbärte, den Binocle auf der Nase, hat ganz das aristokcatische Ge¬
präge. Die Haltung des Körpers, jede Bewegung verräth, der edle Graf ist
sich seines blauen Blutes vollständig bewußt. Graf Clam-Martinitz ist bekannt
als der. eifrigste Vertreter, der feudalen Partei, er ist aber auch ihr geistvollster
Verfechter. Großes politisches und historisches Wissen läßt sich ihm ebenso wenig
absprechen, als große Schlagfertigkeit im parlamentarischen Kampfe. Seine
Reden, die er auch zuweilen in czechischer Sprache (wiewohl wenig geläufig)
hält, sind logisch durchdacht und scharf, würden aber unbedingt noch mehr Ein¬
druck machen, wenn er die Selbstüberwindung hätte, sich kürzer zu fassen. Graf
Clam-Martinitz gehört zu jenen wenigen Politikern Oestreichs, denen ihr Ziel
vollkommen deutlich ist und die vor keinem Mittel zurückscheuen, dasselbe zu er¬
reichen. Wiewohl voll feudalen Stolzes, war er es doch vorzüglich, der das
Bündniß mit den czechischen Demokraten zu Stande brachte, um mit ihrer
Hilfe Schmerling zu stürzen, und der jetzt diese Allianz zu erhalten bemüht ist,
weil er durch sie denn doch endlich ans Nuder zu kommen gedenkt. Das höchste
Streben seines Ehrgeizes ist ein Ministerpvrtefcuille; sollte er aber zum Hof¬
kanzler von Böhmen ernannt werden, so wäre er wohl auch hiermit glücklich.
Mit dem Grafen Clam-Martinitz theilt sein Schwager Graf Leo Thun
die Führerschaft der Feudalen. Er ist als früherer Minister für Cultus und
Unterricht zu wohl bekannt, als daß man seine Persönlichkeit, die einen gewissen
düsteren Eindruck übt, näher zeichnen müßte. Graf Leo Thun redet gern
öffentlich und liebt es, in seinen Landtagsreden auf jene Zeit anzuspielen, da
»im Rathe der Krone" saß. Als ein Vorzug wäre hervorzuheben, daß Graf
"co Thun aus seiner streng klerikalen und feudalen Gesinnung kein Hehl
macht, sondern dieselbe fast mit Ostcntaiio» offen bekennt. Er hatte den Muth,
im böhmischen Landtagssaale sich selbst als einen der Schöpfer des Concordates
und als Gegner mancher Bolksrechtc zu bezeichnen.
Die »reisten der hohen Herren, welche auf der Rechte» scheu, bringen den
Landtagsvcrhandlungen wenig Interesse und auch wenig Verständniß entgegen.
Sie filzen eben da. weil sie gewählt sind und stimmen eben so oder so. weil
der Graf Clam und Thun sie dazu bestimmen. Einige jüngere Kräfte scheinen
gern das Noß der hohen Politik zu tummeln, bewegen sich aber vorläufig
exclusiv auf czechischem Gebiete, so Fürst Karl Schwarzenberg. der junge Fürst
Lobkowitz. Diese besondere Species nobler Passion ist grade in der Mode,
aber sie kann mit dieser auch wieder verschwinden.
Das Centrum nahmen die Abgeordneten czechischer Nationalität ein. Die
„Czamara" (das neuerfundene czechische Nationalkleid) ist hier vorherrschend
und eine stete Unruhe in dieser Gruppe verräth das bewegliche Temperament
der czechischen Abgeordneten, von denen manche noch sehr jung sind und erst
kürzlich die „normalmäßige Zahl" von Jahren erreicht haben. Der bedeutendste
Mann der Partei, „der erste Czcche des Königreichs", ist Palazky, der Historio-
graph Böhmens, dem sei» Alter und seine wissenschaftliche Bildung ein gewisses
Ansehen bei allen Parteien verschaffen und dem jetzt der ihm vom Kaiser ver¬
liehene Barontitel ein aristokratisches Relief giebt. Der alte Herr, den die Jahre
gebeugt haben und dem die blonde Perrücke einen, ich möchte fast sagen komi¬
schen Ausdruck giebt, findet sich offenbar nicht mehr zurecht in den Strömungen
der Gegenwart, er lebt unter den vergilbten Papieren forschend und träumend
von der Se. Wcnzelskrone und schreibt über ihre staatsrechtliche Bedeutung. Im
Volke genießt er eine große Belehrung. Man liebte es, den „Bater Palazty"
stets mit einem gewissen Glorienscheine zu umgeben und an besonderen Fest¬
tagen der Nation lud man zur Anbetung des Propheten ein. Die Jungczechen
sind durch ihr zuweilen schonungsloses Borgehen Schuld daran, daß dieser
Glorienschein in jüngster Zeit wesentlich abgeblaßt ist. Der Partei selbst gegen¬
über ist Palazky el» überwundener Standpunkt. Im Landtage spricht er sehr
selten und wenn er das Wort ergreift, so geschieht es (natürlich czechisch) nur,
um einige historische Bclehrnnge» über die böhmische Krone und ihre Rechte
zu geben.
Sein Schwiegersohn, Dr. Rieger, ist der eigentliche Fühccr der czechisch«»
Partei. Der schöne Mann vom Jahre 1848, der mit seiner bestechende» Rede
das Volk gewann und den die Frauen in Kremsier nicht genug bewunder» konnten,
ist seitdem sehr gealtert. Die intelligenten Züge, welche damals der schwarze
wohlgepflegte Bart so wirksam unirahmte, haben nun eine herbe Ausprägung
angenommen und nur wenn er in Ekstase geräth. erinnert noch das wilde Feuer,
das aus diesen Zügen spricht, an den gefeierten Bolksttibun von ehedem.
Seine Rcdnerkraft ist auch sehr erlahmt und was ihr vollständig abgeht, das
ist die Logik. Auf die große Menge berechnet, sucht seine Rede durch Knall-
effecte zu zünden, verfehlt aber auf die Abgeordneten selbst die Wirkung. Zu¬
meist czechisch sprechend, läßt er es sich doch zuweilen nicht nehmen, auch in
deutscher Sprache Proben seines oratorischen Talentes zu geben. Der politischen
Richtung nach hat Dr. Rieger seine frühere demokratische Gesinnung gänzlich
eingebüßt. Er ist Großgrundbesitzer geworden und hat seine feudalen Umwan-
delungen trotz jedes Aristokraten vom reinsten Wasser. Er schwärmt für die
Allianz mit dem Adel und ist gern bereit, dieser alle Rechte des Volkes zu
opfern, wenn nur die czechische Nationalität und auch sein Ehrgeiz befriedigt
wird. Gelangte Dr. Rieger zur Negierung, wir bekämen eine neue reactio-
näre Aera.
Sein Gegenpartner ist Sladkovsky, der Führer der Iungczecben. Der schmäch¬
tige, kränklich und düster aussehende Mann, dem das Geschick bereits manchen
herben Streich gespielt, ist ein leidenschaftlicher, aber ehrlicher Czecbe. In seinen
Landtagsreden verfocht er zuweilen seinen extrem demokratischen Standpunkt, der
ihn früher auch ins Gefängniß gebracht hat, mit so erschreckender Erregtheit,
daß die adeligen Herren die Farbe wechselten in der Sorge, die Zuhörer könnten
gleich mit Waffen zum Experiment übergehen. In der jüngsten Zeit aber haben
ihn die Parteigenossen zahmer gemacht und von der Nothwendigkeit der Allianz
mit dem Adel und dem Klerus, die er bisher aufs leidenschaftlichste bekämpfte,
zu Nutz und Frommen der czechischen Nation zu überzeugen gesucht. Nun
schweigt er über diesen Punkt und wird nur heftig gegen — die Deutschen.
Doch glaube ich, es ließe sich von deutsch-liberaler Seite eher mit Sladkovsky
und seinem Anhange ein Kompromiß anbahnen, als mit Rieger und Konsorten;
ein nützlicherer jedenfalls, denn ersterer hat im flachen Lande unter dem czechische»
Volke jetzt mehr Gewicht als dieser und zwischen beiden herrscht eine gewaltige
Rivalität.
Neben Sladkovsky repräsentiren die czechisch-demokratische Partei im Land¬
tage noch I)r. Greger, der Redacteur der Närodni listy, Wawra. ehemaliger'
Redacteur des „Hiäh", der bereits im Jahre 1848 kriegsrechtlich Verurtheilt
Wurde, Tonner, der in Anerkennung seines lebhaften Beifallrufens in Abgeord-
netcnl'reisen den Spitznamen „Stabstrompeter der Se. Wenzelskrone" führt.
Im Centrum sitzen noch manche czechische Notabilitäten, die aber in der
Nähe sehr verlieren. Dr. Brauner, früher neben Rieger und Palazky zur
Führertrias der Czechen gehörend, zieht sich wegen Kränklichkeit vom politischen
Schauplatze mehr zurück. Er ist ein ziemlich nüchterner Beurtheiler der Ver¬
hältnisse, und in der Debatte zeigt er den ruhigen Juristen. Dr. Trojan hat
s'es überlebt. Seine Reden sind durch ihre Weitschweifigkeit und bombastischer
Aufputz der Schrecken aller Zuhörer. Bemerkbar macht sich noch Zeithammer.
der journalistische Schlcppträger des feudal-nationalen Bundes. Er führt eine
kecke Feder, welche in dem in deutscher Sprache erscheinenden c^echischen Hetz¬
blatts die Deutschen in einer Weise bekämpft, die weder die Schranken des
Auslandes noch des Strafgesetzes kennt, Hierdurch ist er, der Sohn eines deut¬
schen Schulrathes, eine Hauptstütze der czechischen Agitation geworden, wiewohl
sonst von ganz untergeordneter Bedeutung, —
Die „Linke" des Landtages wird von den deutschen Abgeordneten ein¬
genommen, doch haben jetzt auch hier schon mehre czechiscbe, die in den Städte-
bezirken gewählt wurden. Platz genommen. Es sind vorzugsweise Großindu¬
strielle und Juris Doctoren, welche hier die Jn-teressen der Deutschen in Böhmen
vertreten. Capital und Intelligenz, das sieht man auch im Landtage, sind die
mächtigsten Potenzen der deutschen Partei. Der erste und nun auch einzige
Führer der „Linken" ist deo Professor des Strafrechtes an der Präger Univer¬
sität, Dr. Herbst, dessen Name mit den parlamentarischen Kämpfen der Deutschen
in Böhmen während der letzten Jahre innig verknüpft ist. Unter einem höchst
anspruchslosen Aeußeren verbirgt er gründlich politisches Wissen und scharfsin¬
nige Kenntniß der modernen Staats- und Rechtsverhältnisse. Ich habe viele
parlamentarische Redner gehört, aber keinen, der es besser verstanden hätte, in
rascher Replik die Schwächen des Gegners mit schonungsloser Schärfe darzu¬
legen und die Waffen der Logik mit solcher Gewandtheit anzuwenden, als Herbst.
Von den anderen Seiten des Hauses fürchtet man auch nichts so sehr als jene
Reden Prof. Hcrbsts, in denen er den kritischen Maßstab an die Forderungen
der nationalen und Feudalen anlegt und mit unbarmherziger Hand alle Dra¬
perien zerreißt, welche ihre eigentlichen Pläne verhüllen. Prof. Herbst verbindet
mit den seltenen Gaben des Redners noch einen unermüdlichen Fleiß, welcher
ihn zu einem der thätigsten Mitglieder der verschiedenen Commissionen macht.
Sein Verdienst ist es auch vorzüglich, daß jede Spaltung im deutschen Lager
verhindert wird.
Viel hat die deutsche Linke an Prof. Brinz und Hafner verloren und ein
eigentlicher Ersatz ist für diese noch nicht gefunden worden.
Eine interessante Erscheinung auf der Linken ist Dr. Scbmeyknl, der Obmann
des deutschen Casinos. Ein junger stattlicher Man» von bestechenden, Aeußeren,
hat er durch seine angenehmen Umgangsformen, durch ausdauernden Fleiß und
tacwolle Vertretung der deutschen Interessen in rascher Carriere sein Glück ge¬
macht. Vor Beginn der ersten Landtaqssession noch ein unbekannter Concipient
in einer Landstadt, ist er nun Advocat in Prag, Mitglied des Landesausschusses
in dem östreichischen Adelsstand und — einer der deutschen Parteiführer. Im
Landtage ist er durch seinen ruhigen fließenden Vortrag ein beliebter Redner,
dem auch das weibliche Galeriepublikum gern horcht, im Landcsausschusse ver¬
tritt er nebst Dr. Görner die Deutschen, gegenüber den sechs czechischcn Landes-
ausschufimitgliedern. Dr. Görner. in seinem Aeußeren mit dem sorgfältig ge¬
pflegten Schnurr- und Knebelbarte lebhaft an einen Cavalier am Hofe Lud¬
wig des Vierzehnten mahnend, ist ein recht gewandter Redner »ut eine tüchtige
Arbeitskraft.
Eine sehr schätzenswerthe Acquisition hat die Linke während der letzten
Sessionen an dem Historiker Prof. Höfler gemacht. Dieser hat es sich zur
Aufgabe gestellt, im Landtage die von czeebischer Seite jeden Augenblick pomp¬
haft vorgeführte» historisch-politischen Deductionen auf ihren wahren geschichtlichen
Werth zurückzuführen und besonders die Myihe von der ethischen Wenzels¬
krone aufzuklären. Das Centrum geräih vor Wuth außer sich, wenn Höfler
die Beziehungen Böhmens zu Deutschland erwähnt und Palazky, der die Ge¬
schichtsforschung von Böhmen als sein Monopol betrachtet, ist nicht wenig er¬
bost über den deutschen Historiker, der bei den Czechen dcshglh auch in nicht
geringem Grade verhaßt ist. Die Deutschen besitzen in ihm einen der hervor¬
ragendsten Vertreter ihrer Interessen, wiewohl bedauerlich ist, daß er zu stark
nach dem rothen Käppchen des Cardinal-Erzbischofs hinüberblinzelt.
Das' Bild des verständigen und wackern deutschen Kaufmannes, der für
die Interessen der Industrie einsteht, dabei aber seine Nationalist mit Muth
und Energie vertheidigt, bietet der bekannte Fabrikant Abgeordneter Wolfrnm,
eine behäbige Gestalt mit gntmütkigem Gesichte. Wolfruin ist als Redner des¬
halb sehr schätzenswerth, weil er den flunkernden Tiraden, in denen sich unsere
Czechen gefallen, stets die nüchternen Anschauungen des Kaufmanns entgegen¬
stellt, der nicht auf eine verschollene Vergangenheit zurückgreifen will, sondern
als Weltkind von heute urtheilt.
Auch zwei trafen setzen als Vertreter deutscher Städte auf der Linken:
Edmund Hartig und M. Zedtwitz. Graf Hartig ist einer der eifrigsten Ver¬
theidiger der Februarverfassnng. AIs Vertreter des Großgrundbesitzes legte er
nach dem Sturze Schmerlings und der Inauguration des Sistirungsministcriums
sein Mandat als Abgeordneter des böhmischen Landtages zugleich mit dem
Fürsten Karlos Auersperg nieder, ließ sich aber später von einem deutschen
Städtebezirke wieder wählen. Seine Reden sind nicht besonders hervorragend,
obgleich sie immer staatsmännisches Verständniß und klare Beurtheilung der
Verhältnisse beüinden.
Ein eifriger Wortführer auf deutscher Seite ist nun auch der frühere Finanz-
winisier Pierer, dessen Persönlichkeit wohl hinlänglich bekannt ist und der nnn
als Vertreter der Handelskammer von Eger Gelegenheit nimmt, die Februar-
^ifassnng und nebenbei auch seine eigene Finanzwirthschaft zu vertheidigen.
Welche natürlich den Czechen Handhabe genug zu, persönlichen Angriffen gegen
'du bietet.
Auch manche junge Kraft kündigt sich an und im Ganzen und Großen
können die Deutschen in Böhmen mit der „Linken" des Landtages vollkommen
zufrieden sein.
Den Sitz des Oberstlandmarschalls nimmt Graf Albert Nostiz ein, der als
Anhänger der feudal-nationalen Partei bekannt ist. Er war schon in der ersten
Landtagssession zu dem Amte ernannt, trat aber dann wegen Differenzen mit
Schmerling zurück, »in den Posten erst einzunehmen, da Belcredi das Staats¬
schiff in die „freie Bahn" einzulenken begann. Als Oberstlandmarschall Versteht ?
Graf Nostitz die Debatten trefflich zu leiten, wiewohl er seine Sympathie» für
die rechte Seite deS Hauses nicht verläugnen kann. Sein Stellvertreter ist der
prager Bürgermeister I),-. Pjclsty, ein Manu von grvsier Weltklugheit, dessen
Name durch die pseuhischc Occupation Prags auch in weiteren Kreisen bekannt
wurde, Wiewohl l^zeebe und durch die czechischc Coteric auf deu Bürgermcistcr-
stuhl erhoben, gehör! er doch nicht den Exaltados an, sondern versteht mit allen
Parteien zu leben.
Am Negierungstische sitzt der Statthalter Graf Rothkirch-Panther. von dem
man eben nicht mehr zu sagen weis,, als das, er mit den Tendenzen der Negie¬
rung, welche er jetzt vertreten must, nicht einverstanden ist und sehr zur Partei
Clam-Thun hinneigt. Die Art und Weise, wie er die Regie,ung vertritt, ist
nicht geeignet, diese Ansicht zu widerlegen. Wird dieselbe Stimme, welche die
letzte Session des böhmischen Landtags für geschlossen erklärte, die neue in-
Das; uns Deutschen der Schulmcisterzopf noch immer so lang als jemals
herunterhange, ist eine Naturerscheinung, die man bei jeder Gelegenheit wast'
nehmen kaun. Als geborene Pedanten möchten wir der freien Entwickelung
womöglich gar nichts, alles der Schule, dem amtlichen Zwang verdanken. Zeisig
sich irgendwo ein Gebrechen in unserem nationale» Lebe», so verlangen alle
Parteien sofort die Reformirung der betreffenden Schulen, darin stimmen sie
immer überein. Die Konservativen wollen mehr Gottesfurcht und Unterthanen-
treue, die Liberalen mehr Aufklärung und Freiheiissinn, die Militärs mehr
Disciplin und die Aerzte mehr Gesundheit allemal durch Einwukung auf die
^u.. erzielen. Eigentlich steckt h»uM« die ander^.was zu
°cer°Y.re>, dah.meer. die uns alle beseelt, ^.'gar vo. ^ "^un^on P
spuken für Züchtung von Genie«, von g.ogen Staatsmanne... und ^eldi>
sind wir nicht sicher, wie manche neue Unternehmung beweistd
Besonders aber .se dS unsere L.ebhabere.. dem Mangel a' ''''^ ^ u
'"res Errichtung von Kunstschulen Felsen zu wollen. D.e legten ^ e ha^
treu wieder en. Halde. Du.end in. Leben gerufen, d.e alle '"f >e jwe. ^esu
""en Professor zahlen und an den betreffenden Residenzen den l^-en ., c vo.
»unstl.ete gründe vertriebe» haben, und unmer sinnt man noch aus Er ch-
wng neuer.' w.e grade je^t in Köln uudB.co.an. ... welch legerer ^-ad in u
''e sich gar als Pflaster für den Kriegsschäden von den. Kor.g »u-^ten ha -
Kurioses Mitte, das! Man würde eS v.e.le.ehe einigermaßen ^in.sah sin en
wen» j„ „..c. Gegend sich ^'während e...e ansfal.end '^ruge ^ si
sanken fände und man dar..... mehr Aerzte zur N.ederlasfung en tat '. wu
überhaupt, we.l irgendwo en. totaler Mangel an Eons.und.on ^ co
Wiie.s sich bemerkbar machte, deshalb se">e Produ^n »ach d .e.n ^
"°es durch besondere Anstalten hinz.ehen wollte; - aber r
«Ussallende Ahne.gnug gegen d.e Produ-te des Pn.fe.s verräth, ""t "e ^ '
-"'statt für Naph' e.e zu überraschen. daS scheint ^u » "z ^hö ut
sah°n Hera. He.euer hat bei Gelegenheit des '^"ner P >e 's d - ^
l°'es Wo„ logischer Schlußfolgerung seine Entstehung vertan t. a selbe .
^"°".>ze.tung o schlagend richtig bekämpf, da. man 'e"^u^ ^ u
'"vollständigen darf, um zur Abwendung eines so d.rec. schädlichen ^g.urens
^»zutragen. . . ^ ^^.f
Wir le.den ganz und gar n.ehe daran, da. sich zu we^- er.. Da.et
unsern aladenus^en sah..in.e.ste.zopf u»d dem woh.fe.im U'U ^ - ^ ^
zu viel junge L.n.e den. Kunst.erstande widmen und in,t ^ve
"""e'mWge... durch ihre Masse aber al.eS üderschwemmenden u
?'de.wil.en als Liebe für die Kunst hervorrufen. D.ehe L.ehe kann nu d es
Genus, des wirklich Trefflicher erzeugt werde... e.ne Nation b.in
jemals viele gr.sie Künstler he.vor. so wenig als groge D.es-n. ' d.
^"UM Auszahlten bedürfen ...ehe tausende von College., d.e h n U t
L'ehe wegnehmen, und daS Ansehen deS ganzen Standes ^nee .
'"dern sie ^dürfen solcher Kräfte, d.c das Gold, welches sie zu Tage ge >^
" »"en ins,,^, ,..,,.ü..z.. und unter d.e Leute bürgen. D. Ma
von S. S.hev. d.e Venus von Med.c.s und Me.os ex.selten u un
^'^Übungen aller Art. M.edel Ange.os Petcrsluppe. hat ^uz Err Pa n
^"ppeln bevölkert, und jede dieser künstlerischen Ite-u hat der Welt v h
^'Abt als d.e Tha-.gte.t ganzer moderner Akademie.... von denen allen acht
"° "i.zige solche glänzende Eonccption ausgegangen >,t. —
^ Ist das notorische Heranziehen von unzähligen jungen Menschen von
einige»,, aber nicht ausreichendem Talent zu einem Berufe, welcher, da sie ihn
nur ungenügend ausfüllen, dieselben bald unzufrieden und unglücklich macht, an
sich schon nachtheilig genug, so ist es vielleicht sür das nationale Wirthschafts-
leben noch schlimmer, daß diese Summe von bildenden Talente, die in der
Kuustindustne, also in der Ausbreitung und Nutzbarmachung jener großen künst¬
lerischen Conceptionen für das ganze »ivderne Leben außerordentlich nützlich
hätte mitten könne», dieser durch das Einschlage» der akademischen Carriöre
verloren geht. Dein, wer einmal eine solche Anstalt besuchte, in welcher allen
ohne Ausnahme der akademische Dünkel sich als unvertreibbare Krankheit er¬
zeugt, in denen überdies meist das einseitigste und unzweckmäßigste Unterrichts¬
system herrscht, das »ran sich denke» kann, der ist für jedweden andern Beruf
in der Regel gründlich verdorben, grade so wie der, welcher einmal die Univer¬
sität absolvirte und im Exame» durchfiel es selten mehr in einem bürgerlichen
Leiensberuf zu etwas Ordentlichem bringt.
Ohnehin ist durch die täglich wachsende Ausdehnung der Photographie das
Uebel der Nicherfüllung des Standes noch ausnehmend gesteigert worden, da
das Porträtmalen, sonst die Hanptressource junger wie alter Maler, zugleich mit
dem Kupferstich und der Lithographie fast ganz aufgehört hat, die Zeitumstände
aber mir ihrer höchst unsicheren Gestaltung sehr hemmend auf alle übrige Kunst-
prvduclivn noch für Jahre zurückwirken müsse», da das Bildcrkaufe» und Häuser¬
banen zu denjenigen mcnschuchen Schwächen gehört, welche bei der leisesten
Störung oder Bedrohung des Friedens allemal zuerst unterdrückt werden und
zuletzt wieder in Gang komme».
Will daher der Staat oder die Commun der Kmist wirklich nützen, so
haben sie nicht die Production, die schon selber für ihre Ausbildung sorgen
wird, sonder» die Konsumtion der Kunst zu fördern, sie habe» dieselbe als einen
berechtigte» hochwichtige» Factor der Cultur anzuerkennen, und sie also zuvör¬
derst bei allen ihren Bauten in Anspruch zu nehme», um dieselben nicht nur
monumental zu gestalte», so»der» auch durch Sculptur und Malerei würdig zu
verzieren? Diese Forderung galt in dem theoretisch so viel weniger gebildeten
Mittelalter un kleinsten'Städtchen als selbstverständlich und wurde gar nie,
unter keine» Umständen außer Auge» gesetzt, dafür hatte man freilich weder
Akademien noch Professoren, die alljährlich das aufzehrten, was für die Kunst-
probuctio» selbst verwendet werden sollte. — Wie würde alle Welt schreien,
wen» man blos Thcaterschulen errichtete, aber nie spielen ließe, und doch thut
der Staat heutzutage der bildenden Kunst gegenüber genau dasselbe.
Ich habe es eben als einen besondern Nachtheil des dermaligen Systems
herausgehoben, daß durch dasselbe der Kunstindustrie eine so große Masse Kunst-
vermögens, welches dort reiche Zinsen gebracht hätte, entzogen werde. Wir
tragen jetzt die Industrie in die Kunst und erniedrigen sie dadurch, anstatt die
Kunst in die Industrie zu tragen und diese dadurch zu heben und zu adeln.
Grade die Akademien aber sind es, denen wir diese thörichte Verkehrung deT
Verhältnisses hauptsächlich verdanken, sie haben diese beiden Factoren vollstän¬
dig von einander losgelöst, und damit beiden den eigentlichen Lebensnerv ab¬
geschnitten.
Die Kunst ist die natürliä'e Lehrmeisterin der Industrie, des Handwerks,
sie ist der ideale Theil derselben; indem man sie von ihnen loslöste, einen eigenen
Stand der Künstler erfand, was hauptsächlich durch die Akademien geschah,
setzte man sie zu einem Handwerk wie all andern herunter, und erfüllte die
Künstler mit demselben einseitigen und engherzigen nur noch viel prätentiöseren
Zunftgeist.
Es ist daher eine totale Verkennung der Aufgabe unserer Zeit, wenn man
die Anstalten, welche diese Trennung herbeigeführt, vermehrt, und damit die
Kluft immer noch erweitert. Dieselbe besteht im Gegentheil darin, die gestörte
Verbindung wieder herzustellen. Indem wir die Kunst in die Industrie wieder
einführen, erobern wir ihr erst den gesunden Boden; wenn wir wie in der
classischen Zeit der Griechen und Römer oder der Renaissance es wieder dahin
gebracht haben, daß kein Geräth des gewöhnlichsten Gebrauchs existire. welches
nicht Stil, eine künstlerisch ausgebildete Form zeige, dann werden wir erst recht
lebhaft das Bedürfniß empfinden, auch unsere Ideale zu gestalten, d. h. Kunst¬
werke zu machen und zu besitzen. So lange der Charakter unserer Industrie,
wie.bisher die Stillosigkeit bleibt, die ja nichts Anderes ist als Mangel künst¬
lerischer Durchbildung, kann ein eigentliches Bedürfniß der Kunst noch nicht
aufkommen, denn gewöhnt, das Häßliche und Disharmonische beständig um und
an sich zu haben, fühlen die Meisten natürlich auch die Leere, die durch die
Abwesenheit wirklicher Kunstwerke entsteht ganz und gar nicht, Sie begnügen
sich mit schlechten Tapeten statt Wandmalereien, mit der Kostbarkeit des Stoffes
ihrer Geräthe statt der Schönheit ihrer Form. Daher stammt denn auch die
beständige für unsern Geschmack besonders charakteristische Forderung an die Kunst,
daß sie erzähle, predige, anstatt durch die Schönheit der Erscheinung zu ent¬
zücken, welche die meisten gar nicht zu fühlen im Stande sind.
Unstreitig weicht aber dieser, durch die Verarmung infolge der langen Kriege
zu Anfange des Jahrhunderts herbeigeführte Zustand der Barbarei jetzt rasch
unen andern. Haben wir unstreitig schon länger die Kostbarkeit des Materials
fast unserer sämmtlichen Lebensbedürfnisse gesteigert, essen, kleiden, mcubliren wir
uns unendlich besser als vor fünfzig Jahren, so fängt jetzt auch das Bedürfniß
der Verzierung aller dieser Dinge an, allmälig herrschend zu werden. — Mit
der Verzierung aber beginnt die Kunst, in dem Augenblick, in welchem wir die
Kostbarkeit des Rohmaterials durch die Schönheit der Form überall ersetzen
oder doch die eine der andern ebenbürtig machen, ist die Grundbedingung des
Stils e>füllt. Man müßte blind sein, wenn man diese Zunahme nicht erkennen
und die Möglichkeit der Belebung einer wahrhaft gesunden Kunst läugnen wollte,
die' nicht auf der Laune einzelner Fürsten oder der Feinschmeckerei sogenannter
Kunstliebhaber beruht.
Diesem steigenden Bedürfniß künstlerischer Gestaltung überall entgegenzukom¬
men, das wäre allerdings ein großes Verdienst— ein sel>r viel größeres als Biidcr-
fabriken zu organisiren. Während wir aber des Kunstuntcrrichts für Maler
mehr als zu viel haben, ist der für die Industriellen, die Handwerker, überall
noch sehr zurück, läßt unendlich viel zu wünschen übrig. Hier sind noch die
größten Fortschritte nicht nur möglich, sondern sehr nothwendig. Zunächst fehlt
es in hohem Grade- an tüchtigen Lehrern. Diese sind gegenwärtig meistens
Maler, die es nicht weit genug gebracht haben, um von ihren Bildern leben zu
können und daher sich nachträglich dem Unterricht zuwenden mußten, für welchen
aber ihre ganze Bildung in der Regel nicht angelegt war.
Was der Lehrer im Gegensatz zum Maler oder Bildhauer braucht, ist nicht
die einseitige Entwicklung einer einzelnen productiven Fähigkeit ans Kosten aller
andern, sonder» grade eine universelle Kunstbildung, wie sie auch einem mäßigen
Talente bei Fleiß und Intelligenz zu erreichen möglich ist.
Unsere dermaligen Akademien aber, denen die Bildung der Zcichncn-
lehrer in erster Linie obläge, sind dermalen mit ihren Meisterschulen nichts als
Bildcrfabriken, in welche» alles eher angestrebt wird, als den Schülern einen
Begriff vom Ganzen der Kunst, vom Zusammenhang ihrer einzelnen Theile bei¬
zubringen. Das Princip der Theilung der Arbeit, so fruchtbar in der Industrie
als nachtheilig in der Kunst, beherrsch! ganz ihren Unterricht, nur habe» daher
Landschafls-, Blumen-, Architektur-, Historien-, ja Katze!,- und Hundemaler in
Fülle, aber fast gar keine Künstler, die nur ihre eigene Kunst nach allen Rich¬
tungen übten, geschweige denn alle drei studirte» und übten, wie das zur clas¬
sischen Periode fast jeder that, und dadurch das Bewußtsein ihrer Untrcnnbarkcit,
das umfassende Stilgefühl, den erhöhten Fonnensi»» in sich ebenso lebendig
erhielt, als das Bcrständniß für den Zusammenhang mit der Industrie, der ja
vorzugsweise durch die Architektur vermittelt wird. Daß das Bild nur eine
andere Art von Wandverzierung, von Tapete ist, wie auch das Relief, daran
zu denken wird kaum je ein junger Künstler angeleitet.
Wie man heute auf der Universität gewöhnlich, anstatt die allgemeine Bil¬
dung zu fördern, nur ein Brotstudium so eilig und handwerksmäßig als mög¬
lich absolvirt, genau so geschieht es auf der Akademie, nur noch viel einseitiger,
da ein ziemlich vollständiger Untcrriehtözwang besteht, und das corrcctive nütz¬
liche Institut der Privatvvcentc» gar nicht existirt. — Hat also der Sprößling
einer solchen Anstalt seine Carrivre verfehlt; so rettet er sich, wie erwähnt, ge-
wohnlich in cineProvinzialstadt und sucht eine Zeichnenlchrcrstelle zu hat'omnem.
die er dann, da ihm alle nöthige Kenntini-, vor allem die der Architektur i» der
Regel abgeht, natürlich so mechaniscl', leblos und unlustig als möglich versieht,
"da es überhaupt wenig unglücklichere Menschen gelten möchte als die ver¬
unglückten Raphaele unserer Akademien, welche das Bewußtsein cüies verfehlten
Lebens ewig lähmend mit sich herumschleppen. — Denn die Stellung, welche
sie dann einnehmen, ist selten geeignet, sie zu trösten. Der Zeichnenunterricht,
der schon in den Bürgerschulen, geschweige denn in den eigentlichen Gewerbe¬
schulen ein Hauptfach ausmachen sollte, da er sicherlich den künftigen In¬
dustrielle» oder Handwerkern sehr viel nothwendiger ist als das Latein, wird
gewöhnlich so geachtet, wie etwa das Tanzen, und wird auch darnach honorirt;
meistens ist er nicht einmal obligat.
In dieser bei der täglich steigenden Bedeutung der Industrie so außer¬
ordentlich wichtigen Angelegenheit ist unter diesen Umständen keine Hoffnung zur
Besserung, so lange nicht dem akademischen Uiiterücht zunächst die Pflicht auf¬
erlegt wird, dem Staat die nöthigen Zcichnenlehrer zu n.sec», und zur Bil¬
dung von wirklichen Malern nur in zweiter Linie Gelegenheit zu bieten. Man
kann ganz ruhig sein, es wird deswegen kein einziger Tizian verloren gehen,
den» jedes echte Talent hat einen solchen Zauber, daß ihm überall Förderung
wird, und den rechten Weg findet es so sicher, daß ihm die Schulmeistern bald
eher schädlich als nützlich ist.
Natürlich hätte der Unterricht der künftigen Lehrer vor allem in der mög¬
lichst universellen Uebung des bildenden Talentes überhaupt, also eigentlich in
der Berzicrungslunst, in der Ornamentik im ausgedehntesten Sinne zu bestehe»,
was Architektur, Sculptur und Malerei gleichmäßig umfaßt, wobei dann jedem
ja immer noch freisteht, welche Richtung er besonders cultiviren will. Ebenso
hätte derselbe, wenn er Anspruch auf Anstellung haben will, ein wirkliches und
nicht blos el» Schein-Examen abzulegen; — wobei er nicht nur sein Können,
sondern auch die Fähigkeit der Mittheilung desselben darzuthun hätte, was >in
Grunde nur auf gediegene theoretische Bildung hinausläuft. — Aller Knnst-
untcrricht theilt sich in zwei Functionen, die eine hat die Phantasie, den Ge¬
schmack des Schülers mit dem Beste» zu erfüllen und zu läutern, seine Ideale
zu reinige», die andere bal in ihm die technische Fertigkeit auszubilden, diese
Ideale selber zu gestalte»./— Es gilt dies gleicherweise vom Handwerk, den»
wen» ich nicht weih, wie c>» Stiefel aussehen muß, so kann ich ihn auch nicht
machen, wenn ich es aber gern.u weiß, so wirb es mir sehr leicht werden, denn
in den meisten Fällen ist das Können nur el» genaueres Wissen. — Die
Idealität aber wird vorzugsweise durch da« Studium der Muster der großen
Meisterwerke'der Kunst ausgebildet, also in größeren Städte» zunächst direct
durch Musee» und Sammlungen, deren Anlage den außerordentlichen Vortheil
bietet, daß sie nicht nur auf die Künstler, sondern auch auf die Laien gleich¬
mäßig anregend und befruchtend einwirken, was eine Akademie oder Schule
nicht kann ; in den letzteren wird der Zweck erreicht durch Beschaffung ausreichender
Lehrmittel, die jetzt durch die außerordentliche Ausbildung der vervielfältigenden
Künste in früher ungewohnter Fülle und Trefflichkeit zu haben sind.
Es ist aber nicht nur jede Galerie, sondern auch jedes classische oder doch
künstlerisch ausgeführte Bauwerk eine Bildungsschule, und zwar, wie große
Dome z. B., eine noch viel fruchtbarere für den Künstler und Handwerker, wie
denn überhaupt die Eindrücke architektonischer Meisterwerke von allen ästhetischen
Wirkungen die stärksten und nachhaltigsten sind, da durch das Spiel der Luft
und des Lichtes auf die Gebäude eine ewige Abwechselung erzeugt, unsere
Phantasie fortwährend neu angeregt wird, was bei keinem andern Kunstwerk
in gleichem Grade, der Fall ist. Diese Seite des Kunstunterrichts, die Ver¬
feinerung und Bereicherung der Ideale, ist jedenfalls bei weitem die wichtigste,
eben weil hier nicht nur der Producent, sondern das ganze Volk in die^ Schule
geht und sich civilisirt. Der ideale Zweck der Kunstthätigkeit, ästhetische Er¬
ziehung und Vollendung, wird aber überwiegend durch die Architektur erreicht
indem sie die Schwesterkünste zu Hilfe nimmt.
Unstreitig gebührt auch der Illustration ein sehr bedeutender Platz, und
wenn man sich vergegenwärtigen will, welchen Fortschritt unsere allgemeine
Kunstbildung gemacht, so muß man die früheren Bilderbogen mit unseren heu¬
tigen illustrirten Zeitungen vergleichen. Der Weg aber, den wir. wie solche
Vergleiche zeigen, bereits zurückgelegt haben, wäre noch viel größer, wenn nicht
die akademische Bildung so ungünstig eingewirkt, die Schulen so viele Mittel
absorbirt hätten und noch täglich absorbirten. die weit fruchtbarer aus die Her¬
vorrufung von Kunstwerken verwendet worden wären.
Wenn also die Breslauer sich damit begnügen wollten, ein Kunst- und
Jndustriemuseum anzulegen, dessen Gebäude selber ein schönes, edles, durch
Sculptur und Malerei verziertes Denkmal wäre, so würden sie weit mehr zur
Belebung des Kunstsinns in ihrer Provinz beitragen, als wenn sie eine Akademie
begründen, d. h. einige Beamte mit dem Profcssorcntitel und sehr viele unglück¬
liche junge Leute machen, ohne irgend erheblichen Nutzen. Indem man sie ge¬
nießt, lernt man die Kunst verstehen und lieben.
Wollen sie aber durchaus eine Kunstschule habe», so mögen sie wenigstens
nur eine für die Industrie anlegen, da es dermalen viel nothwendiger ist, die
Handwerker zu Künstlern zu machen, als handwerksmäßige Maler, zu züchten.
Der Reichstag ist constituirt; die Präsidenten Simson. Herzog von Ujest
und Borussen und die nicht Schriftführer ^sind nach langer Wahl gefunden und
mit Einbrinaung des Bundesverfassungscntwurfes beginnt die Handlung im
Saale des Neichsrathshauscs am leipziger Platz. Diese vorbereitenden (Geschäfte
der parlamentarischen Versammlungen erfordern in der Regel eine volle Woche,
sie sind an sich eintönig und wenn man will langweilig, der Schwerpunkt des
Interessanten liegt in dieser Zeit fast ganz hinter den Coulissen.
Die Theilnahme der Berliner an den parlamentarischen Versammlungen ist
seit dem Jahre 1858 eine ungemein lebhafte, nachdem sie M Zeit der Land¬
rathskammern auf den Gefrierpunkt herabgesunken war. Das Wort „neue
Aera" wird viel belächelt, man siebt diese Zeit, welcher nolens volens eine
Sturm- und Drangperiode, dann eine glanzvolle Hauptaction in d^er besten Be¬
deutung des Wortes gefolgt ist. etwa mit den Augen an, welche das reifere
Alter für ideale Schwärmereien der Jünglinasjahre in Bereitschaft hält. Und
doch haben die ersten Jahre der Regierung König Wilhelms warme und leiden¬
schaftliche Theilnahme an politischen Borgängen erzeugt und wie mit einem
Zauberschlage jene LetKargie beseitigt, welche über dem Volke lagerte und den
Machthabern freies Spiel ließ.
Wo sind die Zeiten hin. da die Tribünen des Abgeordnetenhauses, welche,
nebenbei bemerkt, sechsmal mehr Zuhörer als die Logen des Neichstagssaalcs
fassen können, öde und leer standen und täglich dieselben Besucher: ein halbes
Dutzend Frauen und Schwäger von Abgeordneten, auszuweisen hatten? Seit
1858 war an wenigen Tagen auf den Tribünen ein Platz leer; der An¬
drang um Eintrittskarten steigerte sich so sehr, daß endlich die Parasiten aller
Schaulustigen, die „Billethändler" die Hand im Spiele hatten, durch allerlei
Schleichwege in Besitz der Karten gelangten und für schweres Geld an den
Mann brachten. Die Verlegung der Reichstagsverhandlungen in den Saal des
Herrenhauses war daher ein harter Schlag für die Schaulust der politischen
Berliner und die Beamten im Bureau haben eine wenig beneidenswerthe Auf¬
gabe, den Sturm nach Eintrittskarten abzuschlagen. Eiri mächtiges Placat mit
den Worten: „Meldungen um Eintrittskarten müssen schriftlich eingebracht wer¬
den" bot nur geringen Schutz gegen den übergroßen Andrang. Und so waren
denn die Tribünen bis je'tzt täglich überfüllt, ob es auch noch nichts zu hören,
sondern höchstens etwas 'zu seben gab; wer diesen Zweck erreichen wollte, der
wußte wohl eine Stunde vor Beginn der Sitzung am Platze sein.'
Noch ist fein Situationsplan der Plätze mit den Namen ihrer Inhaber.
l>M einst im Abgeordnetenhause erschienen, die Neugierigen müssen daher suchen
und rathen, wenn sie nicht das Glück haben, neben einer oder einem zu sitzen,
der Habitus des Hauses werden will. Die Eintretenden werfen einen Blick
^uf die Ministerbänke und sehen, ob Graf Bismarck vorhanden ist, dann über
me Bankreihen, auf denen viele Weiße Häupter und viel spärlicher Haarwuchs
sichtbar sind.
Es ist lebendig im Saale, von drei Seiten ber treten die Mitglieder ein,
'hre Conversation bringt ein dem Wellengemurmel ähnliches Getöse hervor:
vergebens sucht das Auge des Zuschauers aus den Mienen den Inhalt der
lebhaften Gespräche. — Die drei Lasten an der Südwand bevölkern sich; die
ünßtUtc links vom Eingang.' ist Wohl für distinguirte Gäste und die Mitglieder
des Herrenhauses; hier und da beugt si.b ^ ein' uispruehsvoller Zuhörer vorn
beniber und läßt die Blicke über das bewege Treiben da unten schweifen, wo
sonst feierliche Stille herrscht und selbst die'lrbl'afltsten Debatten im gemessene»
C o n v e r s a t i o n s t o n g > s > i h r t in e r d e > i.
In der daneben liegenden Mittellos, die für den Hof bestimmt ist, er¬
scheinen fast regelmäßig eine Anzahl königlicher Adjutanten, der alte Wrangel
und — von wenigeii erkannt, nachdenklich in seinen Sessel gelehnt, ein junger
stattlicher Mann im blonden Vollbart, den schlichten braunen Gehrock bis oben
zugeknöp't, das lebhafte blaue Auge auf alle Vorgänge im Saale richtend —
Prinz Wilhelm von Baden.
In der dritten Loge endlich erscheinen die Diplomaten, welche gleichfalls
ein lebendiges Interesse an dem Gang der Dinge im Reichstag bekunden
und mit seltener Ausdauer die Abwickelung der Formalitäten verfolgen.'
Von dem Tische des Präsidenten utvnd die Glocke, alles hat Platz ge¬
nommen, tiefe Stille folgt der bewegten Konversation, die Stenographen'zu
ebner Erde und die Journalisten im eisten Stock ergreifen die Feder', die Ver¬
handlung beginnt.
Wahlpnifnngen! Namen nichts als Namen. Zahlen nichts als Zahlen, die
Sache stimmt, der Alterspräsident erklärt, die Abtheilung erkenne die Wahl für
giltig an lind fragt, ob sich Wivcnpnich erhebe, dies' ist nicht der Fall und
die Wahl ist genebmigi. Ein Lichtstral.it bricht für den Zuhörer-durch den ein¬
tönigen grauen WolkVnhiinmel. ein Mitglied der Linken erzählt von seltsamen
Vorgängen bei der Wahl in Lippe-Detmold; „Kork! hört!" ruft es von links;
die Aufregung dauert nicht lange, die Acten gehe» an die Abtheilung zurück,
die Sache ist Verlage, und der Getäuschte tröstet sich mit der Aussicht auf die
Präsidentenwahl, das giebt die erwünschte Spannung!
Und diese Spannung blieb nicht aus, sie war größer als seit langer Zeit.
Bei der libeialen Majorität im preußischen Abgeordnetenhause, bei der conser-
vativen im Herrenhause machte die Präsidentenwahl keine Schwierigkeit. Aber
v. Forckeubeck war nicht gewählt; keinen der vielen Verluste an Plätzen be¬
klagte die liberale Partei in Preußen so tief als diesen und nichts wurde
eifriger besprochen als die Aussicht, die Nachwahl Forckenbecks durchzusetzen,
aber bis zur C.vnstituirung deo Hauses war das nicht möglich; man griff auf
einen der frühere» Präsidenten aus dem liberalen L .ge.r zurück, und darin liegt
ein charakteristisches Kennzeichen und eine gemisst Bürgschaft für die Richtung
und die Resultate des Reichstages.
Unter den Konservativen herrschte, als die ersten Wahlresultate etwa am
18. und 14. Februar bekannt geworden waren, eine tiefe Niedergeschlagenheit,
schon erhoben die feudalen Blätter der untersten Rangstufe wie das „Neue All¬
gemeine Volksblatt", welches die Berliner „die wilde Kreuzzeitung" nennen,
laute Wehrufe über das verderbte Volk und über das Sodom und Gomorrha,
in welches Berlin verwandelt sei, ja sie radoiirtcu, daß wenn der Reichstag
resultatlos verlaufen sollte, was nicht unwahrscheinlich wäre, dies durchaus un¬
erheblich sein, und der norddeutsche Blind anch ohne Reichstag zu Stande
kommen würde. Wenige Tage darauf halte sich das Blatt gewendet; Freude
war in Trojas Hallen, die Liberalen - total geschlagen, höchstens zwei Dutzend
würden neben der compacten conservativen Majorität erscheinen, und das offi-
ciöse preußische Blatt decretirte, der Verfassungsentwurf ist ein uoli no tungoro,
er muß en deve angenommen werden.
Wohl fehlen im Reichstag viele Liberale von hervorragendem Namen, auch
sind die Reihe» der Conservativen ansehnlich vermehrt, aber zum Erstaunen
der hoffnungsvollen Feudalen treten neue MSnurr, deren man nicht gewiß
war oder die man gar zu der conservativen Partei gerechnet halte, in die
Lücken ein: die Parteien halten sich die Wage! Wie wett, läßt sich noch nicht
entscheiden, für das Mehr oder Minder des Einflusses giebt auch die Prä¬
sidentenwahl noch keinen Maßstab, aber sie läßt erkennen, daß die liberale Par¬
tei in der Lage ist, entscheidenden Einfluß auf die ArbeUen des Reichstags aus¬
zuüben. Die Wahl ist dnrch Kompromisse ermöglicht, fürSimson: Linke. Na¬
tionale, Altiiberale, eine Anzahl Wilde, zuletzt einige Summen der freien
conservativen Vereinigung; für Herzog v. Ujest: Alilibcrale und Eonscrvative;
für Vennigsen alle liberalen Fractionen und einige Particularifte». Es ist doch
ein eigenes, und wenn nun« will, poetisches Schicksal, daß derselbe Präsident,
der im Jah, 184'.) seinen Namen uuter die deutsche Reich.'Verfassung setzte, im
Jahr 1867 wieder als Präsident einen constituirenden Reichstag iuaugurirt.
Und es war wohl nicht Hr. Simson allein, welcher das Vcteutnngsvolle dieses
Zusammentreffens tief empfand. —
Die Fractionen des Reichstags sind in der Hauptsache gebildet, noch än¬
dert sich täglich die Zahl ihrer Mitglieder durch Eintritt Nachgewählter und
durch das Wegbleiben Unsicherer. Auch die Ziffern, welche weiter unten ange¬
geben werden,-sind nur vorübergehend richtig; indeß gewähren sie doch einen
Anhalt. Sorglich war man in den Fraclionc» und außerhalb bemüht, die
Parteibildung des Reichstags zu fassen als hervorgegangen aus dem Bedinfniß
des Tages, nicht die alten Parteien des Landtags sollten wieder aufleben, die
Verbindung Gleichgesinnter mußte frei sein und nur hervorgehen aus der Stel¬
lung, welche der Einzelne zu der großen Vorlage der Regin'ung einnehme.
Das war leicht gesagt und wohl aufrichtig gemeint. In Wahrheit aber steht
die Sache ganz anders. Es sind doch die Parteien des preußischen Landtags
mit menig verändertem Antlitz, welche den Reichstag bilden, allerdings sind
neue Talente und einige neue Eoterien mehr darin, aber die preußische Fraction
und die alte» persönlichen Freundschaften der Preußen bilden die breite Grund¬
lage der Vereinigungen des Reichstags. Daß die persönliche 'Verbindung mit guten
Freunden, oder wohl gar die .Nachbarschaft des zufällig gewählten Platzes zu¬
weilen eine» maßgebenden Einfluß auf die Parteiflcllnug des Einzelnen aus-
üben, ist bei ehrlichen Deutsche» selbstverständlich.
Eine kurze Uebersicht der Fractionen beginne» wir mit den Liberalen.
1) Die Linke enthält die Führer und Traditionen der Fortschrittspartei und
Fraction Bockum-Dolffs aus- dem preußischen Landtag. Sie ist durch Ungunst
.der Wahlen in ihrer Zifferflärte sehr vermindert, und umschließt (am 4. März)
circa 30 Mitglieder, darunter die Preußen: Schutze, Waldeck, v. Noctuen-Dolsfs,
v. Carlowitz, Franz Duncker; die Sachsen: Evans. Rinde-l, Heubner, Newitzer,
Schaffrath, Wigard; auch Oetler hat sich dem Vernehmen nach angeschlossen.
Moritz Wiggers (Verum); ein Hamburger: Ree. — Die Fraction' vereinigt
außer denen, welche durch das Band vieljähriger gemeinsame, Thätigkeit Ver¬
bunden sind, auch die Neuen in sich, welche dem Verfassuugscnlwiirf die Volks-
thümliche Idee einer nationalen Einheit gcgenüberznstellc» geneigt sind, An¬
hänger der Neiebsverfassuna, Gegner der Mainlinie, eifrige Gegner der preu-
tuschen Verwaltungspolitik. Es ist möglich, daß diese Fraction, um ihr Princip
aufrecht zu halten, Niedersctzung einer Commission zur Ausarbeitung eines neuen
^^üssnngsentwurfs beantragen wird. Ihr innerer Zusammenhang und ihre
s" s/ '^'^cur, werden durch die Comprvmisse mit ihren großdeutsch ge-
färbten Mitgliedern erschwert, aber ihre Bedeutung liegt zum Theil grade darin,
van ste ein Heranziehen der Abgeneigten in die neue Zeit Vermittelt.
2) Die nationale Fraction zählte (am 4. März) 66 Mitglieder, sie hat sich
die Herren Bennigse», Blaun, Unruh als Vorstand gesetzt, umschließt Mit¬
glieder der nationalen Fraction des legten Landtags, wie Unruh, Tweste».
Laster, Michaelis, H^nnig, Leite, dazu p. Vaerst, Graf Henkel v. Donnersmark,
Gras Dohna, nächstdenr die Führer des Natioaalverei»s, zumal die Hanno¬
veraner: Bennigsen, M>quoi, Grundrecht; viele Thüringer, wie Fries; Nassauer,
wie Braun, Hergenhah», Freiherr v. Schwarzkoppen. Auch einige Altliberale
sind ihr zugetreten, z. B. Delius, Snnso», Röpell, und Gf. Schwerin besucht
wenigstens ehre Sißungen, v/Sybel wird in ihr erhofft. Es ist eine große
Partei, reich an Arbeustiäften und Namen, ihre Absicht ist, mit gutem Willen
und in unbefangener Wrudigung der Thatsachen die Vereinbarung des vor¬
gelegten Versassungseiitwurfs zu erstreben, in demselben das Budgctrecht zu
wahren.
3) Die altlidcrale. oder wie sie sich selbst nennt, Centrumspartei. Sie
umfaßt circa 16 Mitglieder, darunter die beiden Bincke, M. Duncker, Grüner,
Graf Dyhrn, v. Sänger. Ihre Traditionen sind liberal, ihre warmen Neigungen
ministeriell.
4) Die freie Vereinigung der Co n ser v a t i v en umfaßt circa 28 Mit¬
glieder, welche zum großen Theil dem schlesischen Adel angehören. Die Herzöge
v. Ratibor und Ujefl, die Fürsten Pleß und Lichnowsky/ die Grasen Bethusy,
Renard, Maltzahn, Frankenberg, außerdem^ die Grafen Hompesch und Nessel-
rode, mehre gescheidte Landrathe. Diejer Verband ruht aus der richtigen Er¬
kenntniß, daß die conservative Partei liberaler werden müsse, um in dein neuen
Leben regierungsfähig zu sein; er wird die Verfassung nicht er bloc annehmen,
sondern für Durchberathung stimmen. " '
5) Die große conservative Partei, zur Zeit circa 60 — 70 Mitglieder
meist des Herrenhauses und der Rechten des Abgeordnetenhauses, dazu die
Generäle v. Roon, Moltke, Stemmet), Falicnstein. hatte dem Vernehmen nach
die vu dive Annahme des Verfassungsentwurfs beabsichtigt, sie ist gegenwärtig
der sicherste Verbündete der Bundescomnnssarien.
6) Die Polen, circa 12 Mitglieder.
7) Die Dachsen, circa 14 Mitglieder. (Herr v, Gerber scheint eine selb¬
ständige Position einnehmen zu wollen.)
8) Die Sahle^wig-Hvlsteiner, 9 'Mitglieder (incl. 2 Dänen).'
9) Die Hannoveraner. 8 Mitglieder
Diese Gruppen halte» zur Zeit noch landsmannschaftlich zusammen und es
ist noch nicht zu entscheiden, wie lange diese Vereinigungen dauern werden, in
den Abstimmungen scheinen sie wieder cutander balanciren zu wollen, 'die
Polen und Schleswig-Holsteiner haben ihre Richtung nach der linken, die Sachse»
und Hannoveraner »ach der rechten Seite des Hauses. Die Klerikalen siben
zur Zeit in verschiedenen Fractionen.
Diese Zusammensetzung des Hausen bietet das interessante Verhäliniß, daß
die beiden große» Parteien: Liberale und Conservative einander in der Stimmen¬
zahl fast vollständig entsprechen, und den Uebelstand, daß die Entscheidungen durch
den Zutritt der kleinen Landsmannschaften herbeigeführt werden können, sie
droht mit kleinen Majoritäten und zweifelhaften Resultaten. Ein sicherer Er¬
folg ist nur durch Einvernehmen der nationalen Partei mit den Konservativen,
oder durch Zutritt der frei-conservativen Vereinigung zu den Wünschen der
Linken zu erwarten. Es wird vor anderem von der Haltung der Bundes¬
commission abhängen, nach welcher Richtung die Cvmpromisse der Fractionen
zu Stande gebracht werden. _____
'^or den Wähle» zum Reichstag, also vor dem 12. Februar 1807. war
das allgemeine und geheime Stimmrecht — oder wie man es in England kurz-
weg nennt: das Bailot — für uns alle eine Sphinx, die uns unlösbare Räthsel
aufgab. Jede Partei betrachtete dasselbe mit Gefühlen, gemischt ans Furcht
und aus Hoffnung, und, gestehen wir es offen, wir sind seitdem trotz der Er¬
weiterung unserer Erfahrungen und Wahrnehmungen in der Erkenntnis! der
Gesetze, nach welchen sich das Suffrage universel, angewandt auf die deutsche
Nation, und insbesondere auf d>c Bevölkerung des norddeutschen Bundes be¬
wegt hat und in Zukunft bewege» wird, immer noch nicht sehr weit vorgeschritten.
Es hat sich in Sachsen und Schleswig-Holstein den Parlicularisten günstig er¬
wiesen, in Hessen und Nassau den Umlauern, in Hannover hat es zwischen
beiden halbirt. In Altpreußen begünstigte es die Conservativen, in Ncupreußen
die Liberalen. In Posen die preußisch-deutsche, in Rheinland unt Westfalen
die unpreußisch - klerikale Partei. So durchläuft es die ganze Windrose des
Evmpasses und zeigt an jeder Stelle ein anderes Gesicht. Daraus wird man
erwidern: ganz »cuürlich, denn in jedem Lande, in jeder Provinz, >n jedem Be¬
zirke und in jedem Wahlkreis sind die Parteien anders beziffert und gruppirt,
und »ach Maßgabe dieser Voraussetzungen, welche sich an jedem Orte anders
^statten, muß auch das Wahlergebnis; verschieden ausfallen. Das mag wahr
sein, allein das einzig entscheidende Moment ist es doch nicht. Es wird dadurch
»>ehe erläutert, wie es kommt, daß derselbe preußische Wahlbezirk, der noch vor
Kurzem zwei der entschiedenste» Fortschrittsleute in das Abgeordnetenhaus der
preußischen Monarchie wählte, auf einmal in den Reichstag des norddeutschen
Bundes einen Conservative» vom reinste» Wasser schickt. Ist die Stimmung
so üäuzlich umgeschlagen? Wir zweifeln sehr daran. Die Landtagswahlen,
welche wahrscheinlich Ende 1867 stattfinden, werden uns darüber belehre». Oder
sind die unteren Classen, deren Stimmen bei dem Ballvt gleiches Gewicht haben
als die der oberen, specifisch conservativ? Auch das wird uns schwer zu glauben.
Ohne die übrigen Factoren. — wie die Fehler jener Tactik. welche ein Theil
der liberalen Partei, ohne von dem andern Theil laut und vernehmlich des-
avouirt zu werden, in dem Abgeordnetenhaus begangen hat und für die man
nun alles, was den Namen „Fortschritt" trägt oder trug, verantwortlich macht;
die Aureole, die das Haupt des Siegers umgiebt-, die Besorgniß das, was das
treue und tapfere Volk auf dem Schlachtfeld errungen, auf der parlamentarischen
Arena durch factiöse Vertreter und frondirende Parteien wieder verscherzt zu
sehen; die wirksame Propaganda, welche die jungen Soldaten namentlich in den
ländlichen Distncten machten, — ohne alle diese und andere Factoren negiren
oder außer Rechnung lassen zu wollen, möchte» wir doch darauf aufmerksam
machen, daß ein sehr wichtiges Moment für das Ergebniß der Wahlen, nach
einer ganz neuen Wahlart und grade nach dieser Wahlart. irr der Art und
in dem Umfange der Thätigkeit der Parteien zu suchen ist.
Abgesehen von Zeiten höchster politischer Erregung und Spannung, kann
man unseres Erachtens den Satz ausstellen: Es ist niemals irgendeine
Partei an und für sich in der absoluten Majorität. Man wird uns
sagen: „Du sprichst ein großes Wort gelassen aus;" — und doch möchten wir
dabei beharren. Jede ausgeprägte, specifische Partei befindet sich regelmäßig,
wenigstens hier in Deutschland, an sich in der Minorität; und wenn irgend-
jemand in der vorhandenen Masse der Bevölkerung eines gegebenen Bezirks die
Majorität, die absolute Majorität besitzt, so ist es nur die Indolenz und der
Indifferentismus, welche sich der Gesetzgebung des weisen Solon von Athen,
daß in der Zeit einer politischen Krisis kein Bürger neutral bleiben dürfe, son¬
dern verpflichtet sei, sich der einen oder der andern Partei anzuschließen, nie¬
mals unterworfen haben. — Die Ausgabe jeder' politischen Partei ist nun,
von diesem herrenlosen Gebiet des Indifferentismus so rasch und so viel
als möglich zu occupiren; und wer hierin die beste Strategie und Tactik ent¬
wickelt, der siegt in der Wahl. Daß sich Strategie und Tactik dem Wahlmodus
anpassen müssen, um von dem Erfolge gekrönt zu sein, ist klar. Das Knegs-
theater bedingt die Art der Kriegführung. Ein junger Mann, der mit bestem
Eifer und Erfolg seine Reitunterrichisstnnden abgehalten und in der Reitbahn
schon recht schön Schule geritten hat, wird doch vielleicht große Mühe haben,
sich an Bord des Pferdes zu halten, wenn er zum ersten Male auf einem
fremden Roß in die weite, weite Welt reitet. Die Künste der Reitbahn allein
reichen da nicht aus.
Das Drei-Classen-Wahlsystem beruhte auf Abgrenzung. Beschränkung und
einer gelinden Art der Bevormundung der Menge durch die Aristokratie der
Wahlmänner. Vielleicht ist der Ausdruck „Bevormundung" zu stark; aber wir
können im Augenblick keinen besseren finden. Gewiß aber ist. daß kleine, ab
gegrenzte, auf localer Präponderanz irgendeines socialen Elementes beruhende
Wahlkörper von einer Partei, die durch den Lauf der Dinge obenauf gekommen,
oder, sei es. durch Glück, sei es durch Geschick, sonstwie in den Vordergrund
geschoben worden ist, weit leichter zu beherrschen sind als große, schrankenlos
fluctuircnde Wählerschaften. Als Herr v. Hasscnpflug es in Kurhessen recht
klug zu machen vermeinte und die Wahlkörper auf Gemeindebcamte und einige
sonstige Notabilitäten beschränkte, grub er sich selber sein Grab. Denn diese
Beschränkung war es, welche der Verfassungspartei die Möglichkeit gewährte,
zwei Lustren lang einen Kampf von solcher Hartnäckigkeit in Angriff und Ver¬
theidigung gegen ihn zu führen.
Die liberalen Parteien in Preußen scheinen vergessen zu haben, welch ein
himmelweiter Unterschied zwischen dem beschränkten Drei-Classen-Wahlsystem und
dem unbeschränkten geheimen Stimmrecht ist. Letzteres kennt weder Wahlmänner,
noch öffentliche Abstimmung. Die Wahlmänner aber waren in Preußen seit
wiederholten Wahlen in jedem Wahlkreise so ziemlich dieselben geblieben; und
diese in Permanenz gesetzten Wahlmänner-Patricier hatten eine vortreffliche
politische Parteischule hinter sich. Sie spielten das Instrument der Dreiclassen-
wahl, aber auch nur dieses, mit Virtuosität. Sie wußten die öffentliche Ab¬
stimmung zu organisiren und zu überwachen. Sie wußten, wie man Wahlmann
wird. Und wenn sie Wahlmcinn waren, dann wußten sie, was sie zu thun
hatten. Sie erhielten ihre Parole durch die Tagespresse und durch Flugblätter.
Diese Wahlen ließen sich von einem Centralpunkt aus durch das geschriebene
oder gedruckte Wort regieren. Sie bedurften kaum der vox Iiumiura. Allein
es war ein verhängnißvoller Irrthum der liberalen Partei, wenn sie auch für
das directe allgemeine Ballot auf diese jahrelang im Dreiclassensystem be¬
währte Institution bauten, wenn sie glaubten, auch für das Suffrage universel
genüge ein Centralcomit(> in Berlin mit Flugblättern. Bei dem Ballot ver¬
loren die Wahlmänner ihr bisheriges Prestige. Das Instrument, welches sie
zu spielen hatten, war ein neues und sie verstanden nur das alte, mit den
wohlbekannten drei Saiten bespannte. Die Wahlvorbereitungen des allgemeinen
Stimmrechts, welche von der liberalen Partei auf das Forum, auf das weiteste
Gebiet der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit hätten geschleppt oder wenigstens
geschoben werden müssen, zogen sich in Ermangelung einer solchen großartigen
Agitation liberalen Stils zurück in den Schatten kühler Denkungsart und unter
die Fittige weltlicher und geistlicher Obrigkeit, in die Schul- und Rathhaus¬
stuben, in die Bureaus der Landräthe und Amtmänner. Nicht die vormaligen
Wahlmänner, deren bevorzugte Stellung hin und wieder auch den Neid der
finsteren Mächte ein wenig geweckt haben mochte, übten den Einfluß, sondern
die Pcistoren und Schullehrer, die Landräthe, die Bürgermeister, die Amtmänner,
die Gutsobrigkeiten, die Rentmeister, die Polizeivcrwalter, die Districtscommissäre,
die Kensdarmen n. s. w. Dieser von vornherein gegebene» und fertig dastehenden
Organisation der Konservativen gegenüber, welche in >eder Stadt, in jedem Dorfe,
auf jedem Gute ihre geborenen und gleichsam providentiellen Agenten hatte,
besaß die liberale Partei absolut nichts entsprechendes. Denn das Werkzeug der
Wahlmänner war außer Function geseift und eS paßte auch nicht zu der ge¬
stellten Aufgabe der massenhaften, raschen und sicheren Occupation des dem
Indifferentismus zugehörigen Theiles der Wählerschaft, namentlich auf dem
flache» Lande bei spärlicher Bevölkerung, wo die menschlichen Wohnsitze so weit
auseinanderliegen, und die Verkehrsmittel, welche sie verbinden sollen, noch
so viel zu wünschen übrig lassen. Auch die Flugblätter, die man von Berlin
ans emittirte und von welchen man sich, da sie in der That zum großen Theile
vortrefflich abgefaßt waren, die größte Wirkung versprach, konnten hier nicht
recht in Circulation kommen; und wo dies dennoch der Fall war, da wurde die
Wirksamkeit ihres Inhalts paralysirt dnrch das gesprochene Wort, das von
Mund zu Mund und von Herz zu Herze» ging und hin und wieder unterstützt
wurde durch einen bis an die äußerste Grenze der geschlichen Schranken, mit¬
unter aber — so behauptet man — auch über diese Grenze hinaus ausgedehnten
Gebrauch der öffentlichen Autorität. Wenn der Landrath des civsseuer Kreises,
der zugleich auch Wahlvorstand war, unter Berufung auf die Pflicht der „Treue
gegen den König" zur Wahl des Generals v. Steinmetz auffordert, dessen
Gegner für Feinde des Königs erklärt, weiche das Volk mit „Redensarten von
Freiheit, Volksrechten n. tgi. bethölen" und am Ende seines Circnlars wörtlich
sagt: „Diese Verfügung ist den Gemeinden vorzulesen, und haben die
Herren Gensd armen dies zu controliren und mir bei Nichtbefol-
gung Bericht zu e>statten", so liegt es doch sehr nahe, oder vielmehr es
ist beinahe unvermeidlich, daß der Bauer. welchem dieses irmuäatum sine ellm-
suln. vorgelesen wird und der sich auf schriftgelehrte Wendungen nicht versteht,
sich die Sache einfach so zurechtlegt: „Seine Hochwohlgeboren der Herr Land-
rath befiehlt im Auftrage Seiner Majestät des Königs, daß wir Seine Excellenz
den Herrn General v. Steinmetz wählen; der He>r Gensdarm wird genau auf¬
passen und jeden, der diesen Befehl nicht befolgt, beim Herrn Lanorathe zur
Anzeige und Strafe bringen." Als der G>af Bethnsi-Huc über diese Wahl
im Reichstage reseiirte und mit anerkennenswerther Unparteilichkeit das Ver¬
fahren des Landraths charakterisirte und dessen Wahlausschreiben vollständig mit¬
theilte, da glaubten die neupreußischcn und die nichtprcußischen Abgeordneten,
mitinbegriffen die Particularisten und die Conservativen. die oppositionellen
Mitglieder der preußischen Volksvertretung, welche auch im Reichstage sitze»,
würden Beanstandung der Wahl beantragen. Sie meinten, diesen den Vortritt
überlassen zu müssen. Allein kein Mensch ergriff das Wort, um die Wahl an¬
zufechten. Sie wurde mit einer tadelnden Bemerkung gegen die „Überschreitung"
des Landrathes genehniigt. Freilich handelte es sich um einen der Heroen des
Kriegs von l8t!K; und es liegt daher vielleicht keine allzu große Gefahr vor.
daß in der Huldigung, welche man diesem zollte, ein Verzicht auf die Freiheit
der Wahl und eine Billigung etwaigen Mißbrauchs der Amtsgewalt gefunden
werde.
Im nebligen bewegten sich die in Betreff der Wahlen erhobenen Reclama-
tionen theils auf nationalem, theils auf territorialen Gebiet. Zu den
Fällen der ersteren Art gehören die polnischen und die dänischen Wahlen. I»
Nordschleswig haben bekanntlich die Dänen zwei Kandidaten bei der Wahl durch¬
gesetzt, weil die Deutschen — hie national! — hie augustcnburgisch! — unter
einander uneinig waren. Gegen die Wahl des einen: Ahlmann von Athen,
waren Proteste eingelaufen; außerdem behauptete der frühere koburgische Staats¬
rath und augustenburgische Minister Francke, die Dänen hätten Stimmen ge¬
kauft, ohne jedoch einzelne Fälle angeben zu können. Die Proteste gründeten
sich darauf, daß ein ganzes Dorf oder ein ganzes Gut bei der Wahl Übergängen
worden sei. Man beanstandete deshalb die Wahl. Gegenüber der außerordent-
lichen Nachsicht, welche man sonst und namentlich bei den wegen Mißbrauchs
der Amtsgewalt erhobenen Beschwerden an den Tag gelegt hat, erscheint dieser
Beschluß ein wenig rigoros. Denn es ist kaum zu begreifen, wie ein ganzes
Dorf ausgeschlossen werden kannte, wenn es dieses nicht selbst so wollte. Es
kvnnie sich ja doch bei Zeiten an den preußischen Wahlcommissarius wenden,
Von dem es sicherlich Abhilfe zu erwarten hatte. Wollte es aber nicht wählen,
dann fehlt jeder Grund zur Beanstandung der Wahl. Denn keiner ist zu wählen
verpflichtet. Volrwti nur tit iujuria. Die Deutschen in Nordschleswig hätten
bei der Wahl ihre rzueiellcis allvmirrräös bei Seite setzen sollen, dann hätten
sie gesiegt und brauchten nicht »ach der verlorenen Schlacht wegen einer Posi¬
tion, die sie zu besetzen Vergessen hatten — Wegen eines außer Acht gelassenen
Dorfes — Beschwerde zu führen.
Außer der dänischen Nation beschäftigte sich der Reichstag bei Gelegenheit
der Wahlen auch mit der polnischen. Die Polen erhoben schwere Klagen wegen
Beeinflussung der Wahlen durch Mißbrauch der weltlichen Gewalt. Sofort
Wurde ihnen durch den preußischen Ministerpräsidenten die Beschuldigung des
Mißbrauchs der geistlichen Gewalt entgegengehalten. Leider sind beide Bö»
würfe gleich begründet, und in und außerhalb der Mauern scheint gesündigt
worden zu sein. Hat ja doch auch am Rhein und in Süddeutschland lange der
niedere katholische Klerus gepredigt, prcußrsch sei protestaniiscd. und wen» Preu¬
ßen oben bleibe, würden alle Katholiken gezwungen, den Glaube» ihrer Bäter
abzuschwören. Erst durch den Einmarsch gut katholischer Landwehrleute, „welche
>hre heilige Messe mit Andacht hörten und ihr Kreuz schlugen, „wie andere ehr¬
liche Christenmenschen auch", wurde dort die bethörte Menge gewahr, wie irrig
man sie belehrt hatte. Die polnischen Beschuldigungen und die deutschen Gegen¬
beschuldigungen hatten indeß keine praktische Folge. Es wurde keine Wahl be¬
anstandet. Auch wurde der Streit-, ob das Land Pose» eine „Provinz" sei,
wie die Preußen und die Deutschen, oder ein „Großherzogthum", wie die Polen
behaupten, dieses Mal »och nicht ausgetrage», wenn auch wieder angeregt. Das
waren die nationalen Streitigkeiten.
Nun folgen die territorialen. Sie betrafen das Fürstenthum Lippe-Det-
mold, das Fürstenthum Natzeburg und das Großherzogthum Mecklenburg-
Schwerin. Von Lippe - Detmold und Mecklenburg hatten die Neichstagsmit-
gliedl!r wohl alle schon gehört. Dagegen das Fürstenthum Raheburg war den
meisten eine geographische Novität. Sie hatten von der Existenz dieses „Reichs"
feine Ahnung gehabt; und doch existirt es und kämpft um sein Recht und seine
Existenz einen nicht unrühmlichen Kampf gegen die strclitzer Regierung; und
damit verhält es sich also:
Nicht allein in dem Deutschland vor 1866 und in dem Oestreich nach
1866, sondern auch in dem Großherzogthum Mecklenburg-Strelitz. obgleich das¬
selbe noch nicht einmal 100,000 Seelen zählt, also nicht so viel wie eine große
Provinzialstadt, herrscht der Dualismus, oder — richtig ausgedrückt — sogar
die Personalunion. Das Land besteht nämlich aus zweien Theilen, welche auch
räumlich durch das dazwischengeschobene Mecklenburg-Schwerin getrennt werden.
Oestlich von letzterem liegt die Herrschaft Stargard mit Strelitz, westlich oder
vielmehr nordwestlich davon das ehemalige Bisthum und jetzige Fürstenthum
Natzeburg. Die Herrschaft Stargard hat die bekannte feudalständische Verfassung
mit dem übrigen Mecklenburg gemein. Das Fürstenthum Ratzeburg, welches
nur 17,000 Einwohner zählt, hat keinen Theil daran. Früher wurde es von
einem Bischof regiert, als dessen Stände die Dvmcapitularen fungirten. Später
fiel es an die strelitzer Linie; und diese regiert es noch, ohne Stände. Denn
zu einer Ständeversammlung bedarf es nach mecklenburgischen Begriffen min-
destens einiger Dutzend Ritter, und da in dem Lande Natzeburg sich nur drei
ritteischaftliche Güter -vorfinden — sie heißen Horst. Dodow und Torriesdors;
möge die Nachwelt Notiz davon nehmen! — so versteht es sich — natürlich
immer nur nach officiell mecklenburgischer Weltanschauung — ganz von selbst,
daß dieses Ländchen keine Volksvertretung haben kann und darf, sondern absolut
regiert werden muß. Es zählt zwar anderthalb Städte, nämlich eine ganze,
welche Schönberg heißt, und eine halbe, Natzeburg. durch deren Mitte die Landes¬
grenze zieht, die das eine Stück an Mecklenburg und das andere an Lauenburg
theilt, und eine sehr tüchtige Bauernschaft, welche niemals leibeigen oder hörig
war. in Erinnerung dessen heute noch die jungen Bauern am Traualtar zur
Beurkundung ihrer von Alters her gewahrten persönlichen Freiheit ein Schwert
an ihrer Linken zu tragen Pflegen. Allein trotz dieser persönlichen Freiheit sind
die Bauern nicht Eigenthümer des Loders, welchen sie bauen, sondern nur
Erbpächter. Alles Land gehört gegenwärtig dem Großherzog. wie ehedem dem
Kirchenfürsten. Da das landesherrliche Regiment hinsichtlich der Herrschaft
Stargard durch ständische Gerechtsame beschränkt ist, in dem Fürstenthum Ratze-
burg aber nicht; da also Stargard im Stande ist, sich zu wehren. Natzeburg
aber nicht, so ist es natürlich, daß Stargard auf Ratzeburg abwälzt,,und Ratze-
burg dabei mitunter zu kurz kommt. Hierdurch nun ist das ratzebürgerliche
Rechts- und Selbständigkeitsgefühl geweckt und gereizt worden. Es steift sich
auf seine SondereMenz, seine Personalunion, sein Selbstbestimmungsrecht. Es
verlangte früher unter Berufung auf den Artikel 13 der weiland Bundesacte
für sich eine Volksvertretung und hofft nun, daß ihm endlich unter dem neuen
Bund zu Theil werde, was ihm der alte nicht gewähren konnte oder wollte.
In der That hat es auch allen Grund, sich zu wehren. Denn es ist bei der
Erbauung der mecklenburgischen Slaatsbahnen übel gefahren, zu welchen es
bezahlen mußte, ohne den geringsten Vortheil davon zu haben; und man wollte
es sogar durch eine Zollgrenze von dem natürlichen Centralpunkte seines Ver¬
kehrs, von der Hansastadt Lübeck, abschneiden. Gegen diese Ausdehnung des
1863 neu beschlossenen mecklenburgischen Grenzzolles auch auf das Fürstenthum
Ratzeburg haben sich indeß die wackeren Bewohner dieses unbekannten Reichs,
unter Führung des geschickten Advocaten Kindler in Schönberg, dem das öffent¬
liche Vertrauen gleichsam das Amt eines Vice-, oder gar Contregroßherzogs
übertragen hat. so kräftig gewehrt, daß Mecklenburg seinen Plan aufgeben
mußte und dem Lande die Handelsfreiheit erhalten blieb. So viel zur Onen-
tirung über diesen wunderlichen Mikrokosmus in unseren Nordmarle».
Als es nun an die Parlamentswahlen ging, publicirten die Großherzoge
von Mecklenburg ein Gesetz, worin es hieß: „Jeder Mecklenburger, welcher
fünfundzwanzig Jahre alt und unbescholten ist, hat das Recht zu wählen" u. s. w.
Die Ratzeburger witterten hierin sofort eine Schlinge schlimmster Art. Sie cal-
culirtcn: Wir sind Ratze- und nicht Mecklenburger; w?um das Wahlgesetz anch
für uns gelten sollte, so müßte darin stehen: „Jeder Ratze- und Mecklenburger".
Da es aber blos heißt „Mecklenburger" und nicht auch „Ratzeburger", so liegt
die dringende Gefahr vor, daß die Ratzeburger, wenn sie dennoch wählen, sich
dadurch als Mecklenburger bekennen und dadurch alle ihre Rechte. Freiheiten
und Privilegien, soweit sie deren etwa haben sollte» — omnur, si yuuv i-we,
Mrg,— verscherzen und ihrer Sonderexistenz, rhrer Personalunion, ihres Selbst-
destimmungSreehts und ihres Anspruchs auf constitutionelle Repräsentation der
ratzeburgcr Nation verlustig gehen. In Erwägung dessen erging der Beschluß:
Wir wählen nicht zum Parlament. Und jedermänniglich befolgte ihn. Ver¬
gebens reiste der Wahlvvrstand von Ort zu Ort. In dem Gasthaus, wo
die Wahl vorgenommen werden sollte, fand er keine Wähler, sondern nur den
Wirth. Er fragte diesen, ob er etwa gesonnen sei. jemanden in das Parlament
zu wählen, was der Hotelbesitzer kühl bis aus Herz hinan verneinte. Darauf
nahm der Wahivorstand ein Protokoll auf, in welche», er die einstimmige Ab¬
wesenheit sämmtlicher Wähler constatirte, die Antwort des Gastwirths registrirte
und nicht unterließ beizufügen, daß auch er, der endesuntcrfertigte Wahlvor¬
steher, sich nicht bemüßigt finde, zu wählen. An dem nächsten Ort wiederholte
sich dasselbe Schauspiel, und so ging die Wahlenthaltung durch die gesäumten
ratzeburgischen Lande. Auch an den Reichstag wandten sich die Ratzeburger
mit einem Protest. Sie versicherten, sie seien gut deutsch, könnten aber nur
als Ratze- und nicht als Mecklenburger wählen, und bäten im Uebrigen
ihnen zu ihrem Rechte zu verhelfen. Letzteres konnte der Reichstag im Augen¬
blick leider noch nicht; es wurden ihnen indeß einige Worte gemüthlicher Theil¬
nahme gewidmet. Die Wahl wurde'genehmigt in Anbetracht, daß die Ratze¬
burger, auch wenn sie gewählt hätten, wegen ihrer geringen Zahl keinen Aus-
schlag gegeben haben würden.
Das war die Procedur Ratze- versus Mecklenburg. Der zweite territoriale
Proceß war: Stadt Berlin contra, Mecklenburg-Schwerin. Die Verhandlungen
sind aus den Zeitungen bekannt. Das Land Mecklenburg verlor. Die Stadt
Berlin gewann. Die Gesetzgeber Mecklenburgs hatten aus Gründen, welche für
einen beschränkten Unterthanenverstand nicht auffindbar sind, es für dringend
nothwendig gehalten, in ihr Wahlgesetz zu schreiben, daß eine verbüßte Zucht¬
hausstrafe wegen politischer Verbrechen von der Wählbarkeit ausschließe, während
in dem preußischen Wahlgesetze das Gegentheil steht, ohne daß dadurch bis äato
die preußische Monarchie irgendeine Schädigung an Ansehen und Würde erlitten
hätte. Es war natürlich nur reiner Zufall, daß die von den Gesetzgebern
Mecklenburgs heuchle Ausschließung nur aus eine einzige Person zutraf und daß
dieser Mann der mecklenburgischen Negierung eine xvrsonn. iug'l'Ätissiimr, war,
nämlich Moritz Wiggers, bekannt durch seine politische Laufbahn und durch eine
Reihe guter volkswirtschaftlicher und sinauzwissenschaftlicher Bücher. Moritz
Wiggers, der Präsident des constitutionellen Landtags von 1848, hatte, nach¬
dem die coiistilutionelle Verfassung abgeschafft und die fcudalständische wieder
eingeführt war, zufällig oaS Unglück, in Gemeinschaft mit seinen Freunden
„wegen Theilnahme an einem entfernte» Versuche des Hochverraths" >n Unter¬
suchung gezogen, verhaftet, etwa vier Jahre in Untersuchungshaft gehalten und
schließlich zu drei Jahren Zuchthaus verurtheilt zu werden. Alle anderen wurden
begnadigt. Wiggers allein wurde ins Zuchthaus gcsteckc. Später wurde ihm
sogar noch, in Widerspruch mit dem juristischen Grundsätze, daß man nicht
eine und dieselbe Handlung doppelt mit Strafe belegen dürfe — ils bis in
iävw die Anwaltspraxis untersagt, weil Zuchthausstrafe cutehre, und zwar
„nach einem in Mecklenburg in der Bildung begriffenen Gewohnheitsrecht"
(was würde wohl die rechtsgelchrte Welt dazu sagen, wenn man jemanden ver-
urtheilen wollte „auf den Grund eines noch in Bearbeitung begriffenen Straf.
gesetzentwurfes?"). Endlich schloß ihn das Wahlgesetz von der Wählbarkeit aus;
und wer mochte danach noch zweifeln, daß das alles natürlich rein zufällig und
ohne alles geflissentliche Zuthun der mecklenburgischen Regierung so gekommen?
Da nun die preußische Haupt- und Residenzstadt Berlin Wiggers in den Reichs¬
tag gewählt hatte, so kam ein juristischer Professor — auf was verfallen nicht
Juristen und Professoren? — auf den Einfall, die berliner Wahl müsse nach
dem mecklenburger Gesetze beurtheilt und deshalb Wiggers aus dem Reichstage
„entfernigt werden", — wie sich in diesem Falle Fritz Reuters Entdeckter Bräsig
ausgedrückt haben würde. Allein der Reichstag, seine ersten juristischen Capa-
citäten an der Spitze, war anderer Meinung. Er erklärte die Wahl für giltig.
Auch der ritterliche Prinz Friedrich Karl, der Herzog von Ujest und der sonstige
hohe Adel Preußens stimmten dafür. Die preußischen Minister, welche Reichs-
tagsabgeordnete sind, fehlten. Wahrscheinlich wollten sie nicht gegen und
konnten doch nicht für Mecklenburg stimmen. — An und für sich freilich
involoirte die von dem Reichstage über die von dem Professor I)r. Glaser an¬
geregte Controverse getroffene Entscheidung noch keine Verurtheilung der meck¬
lenburgischen Regierung. Das Verdienst, sie wider Willen zu einer solchen
beinahe gemacht zu haben, gebührt dem Bundescommissarius für das Großherzog-
thum Mecklenburg-Schwerin, Herrn Dr. Wetzel, welcher mit rapider Geschwindig¬
keit die Laufbahn von einem marbnrger Privatdocenten bis zu einem grohher-
zoglichen geheimen Staatsrathe zurückgelegt hat und als das brauchbarste Mit¬
glied der mecklenburgischen Regierung gilt. Während die Versammlung discutirte,
ob das mecklenburger Gesetz auf die berliner Wahl anwendbar sei, was die
Herren v. Vincke (Hagen) und Wagener (Ncustcttin) bejaheten, jedoch nicht ohne
für die Person des Herrn Wiggers Gefühle der Achtung und Sympathie kund¬
zugeben, schien Wetzel den Stand der Frage so aufgefaßt zu haben, als
wenn die mecklenburgische Regierung angeklagt werde, aus Haß gegen einen
einzelnen Mann ein Gesetz gemacht zu haben, im Widerspruch mit einer be¬
kannten Regel, die schon in den zwölf Tafeln steht („irr Komines privos lege»
torri noluei-urrt"). Wenigstens vertheidigte er in einer an das „Hui s'excuse,
L'accuse" erinnernden mehr als halbstündigen Rede die mecklenburgische Negie¬
rung gegen eine solche Beschuldigung. Er soll zu dieser Rede einen speciellen
Auftrag seines hohen Gouvernements gehabt, schon vor sechs Wochen die Acten
eingezogen und seitdem daran gearbeitet haben. Letzteres versichern wohl unter-
richtete Männer, sonst würden wir es nicht glauben; denn an der Rede selbst
waren Spuren des Grundsatzes: „Aonum xrerrmtur in g,imum" auch für den
schärfsten Beobachter nicht sichtbar. Als dccoratives Element dagegen diente der
Rede ein persönlicher Ausfall gegen die „Gebrüder Wiggers". welchen der rechts-
gelehrte Staatsmann vorwarf, sie haun» Anno neunundvierzig bei Erlassung
eines Gesetzes mitgewirkt, worin etwas Aehnliches stehe, woraus denn der Herr
Staatsrath folgern zu Wollen schien, daß nun deshalb „die Gebrüder Widers"
überall, wo sie sich befänden, auch in Berlin, von allen defecten Vorschriften
betroffen werden mühten, die in älterer und neuerer Zeit in dem Codex der
Ovvtriten und Wenden publicirt worden seien und gleichsam eine solidarische
Haftbarkett und Guisprache für alle darin enthaltene Sünden wider den heiligen
Geist des Rechtes übernommen und dafür mit Gut und Blut auszukommen
halten. Das war denn doch selbst dem edlen Dulder Julius Wiggers (Pro¬
fessor der Theologie in Rostock, bekannt durch seine theologischen, kirchengeschicht-
lichen und staatswissenschaftlicher Werke, in Rostock selbst rü den Reichstag ge¬
wählt) zu statt. Er parirte in einer „persönlichen Bemerkung" diesen, was ihn
anlangt, rein vom Zaum gerissenen und obendrein thatsächlich unwahren An¬
griff mit ein paar wuchtigen Hieben; und so wurde denn die Abstimmung aus
einer bloßen Genehmigung der Wahl zu einer Niederlage des in Mecklenburg
herrschenden Systems.
Die dritte kleinstaatliche Wahlaffaire war die des hochgebietenden Staats¬
und Cabinetsministers des Fürstenthums Lippe-Detmold Herrn v. Oheimb, ge¬
wählt in dem Fürstenthum Lippe, oder um seine selbsteigenen Worte zu ge¬
brauchen: „in seinem Lande". Eine große Anzahl Wähler hatte gegen die
Wahl reclamirt und erhebliche Gründe angeführt; die niederen Beamten sollen
im Auftrag der höheren it,re amtliche Autorität mißbraucht haben, um Stimmen
zu erkaufen, zu erschleichen oder zu erzwingen zu Gunsten ihres Chefs, des
Herrn Oheimb; in einem Wahlbezirke wurde die Abstimmung, welche nach dem
Gesetze eine geheime sein soll, in eine offene verwandelt, in der Art, daß der
Wahlvvrstand die geschlossenen Zettel sofort nach Empfang auseinanderfaltete
und sortirte — die für Oheimb zur Rechten und die für Hausmann, den Gegen-
candidaten zur Linken, wobei natürlich die Schafe zur Rechten über die Bocke
zur Linken siegten, u. tgi. in. Mau fand jedoch in alledem keinen Grund zur
Beanstandung. „Wenn man auch," so hieß es, „Herrn v. Oheimb diese 826
Stimmen abziehe, behalte er doch noch genug zur absoluten Majorität." Ja,
aber wie dann, wenn man sie — und das muß man — nicht allein Herrn
Oheimb ab-, sondern auch seinem Gcgcncandidaten zuzählt, dann behält ersterer
keine absolute Majorität. „Selbst wenn," so hieß es weiter, „die Ueberschrei-
tungen der Beamten nachgewiesen werden könnten, so waren das alles doch
nur Versuche; denn es liege in dem Charakter der geheimen Abstimmung, baß
der Causalnexus nicht zu ermitteln, und daß nie ein exacter Beweis darüber
zu führen sei. ob und welchen Erfolg die angewandten Mittel des Betrugs,
der List, der Gewalt und der Bedrohung gehabt hätten." Wir erlauben uns
kein Urtheil darüber, ob die Entscheidung des Reichstags, welcher mit sshr
großer Majorität die Wahl des Herrn v. Oheimb genehmigte, richtig ist oder
nicht. Dagegen halten wir den von dem Referenten abgegebenen und leider
von niemandem bestrittenen Wahrspruch, daß bei geheimer Abstimmung Wahl¬
beeinflussung nicht möglich sei, weil man ihre Wirkung nicht beweisen könne,
für sehr gefährlich. Er ist geeignet, in Deutschland ein dem französischen Suf-
frage-universel-System analoges Verfahren herbeizuführen, was auf das äu¬
ßerste zu beklagen wäre. Denn es demoralisirt das Volk und schwächt die
Kraft der Centralgewalt, der die kleinen Regierungen, welche in ihren Ländchen,
wenn man ihnen die Wahlbecinflussung ganz frei giebt, gradezu können wählen
lasse», wen sie wollen, lauter eingefleischte Particularistcn schicken werden. Der
Sah. daß die geheime Abstimmung die Wahlbecinflussung ausschließe, beruht
auf der Voraussetzung, daß das Votum uncontrolirbar sei. Diese Voraussetzung
ist grundfalsch. Der Wahlvorstand, der die Zettel empfängt, kann sehr wohl
controliren, je nachdem der Zettel der einen oder der andern Partei länger oder
kürzer, das Papier mehr oder weniger weiß, oder je nachdem es weicher oder
glätter anzufühlen ist. Aber auch ohne dieses Mittel stellen sich die negativen
Resultate von selbst fest. Wenn z. B. in dem Dorfe N., wie dies in dem
oheimbschen Falle behauptet wird, der Weganfscher sämmtlichen dortigen
Chausscearbeitern gesagt hat: „Wenn Ihr Oheimb wählt, bekommt Ihr Tage¬
lohn für den Wahltag; — wenn nicht — nicht", und wenn in diesem Dorf
von allen abgegebenen Stimmen keine einzige aus Oheimb gefallen ist, so er¬
scheint es als festgestellt, daß keiner der Chausseearbeiter für Oheimb gestimmt
hat; er bekäme in diesem Falle keinen Tagelohn, und wenn er das weiß, so
ist es nicht schwer zu errathen, was ein armer Mann thun wird, der den Tag¬
lohn nicht entbehren kann und sich bei der hohen Obrigkeit nicht mißliebig
machen will. Grade weil die Bestechung und die Vergewaltigung, der Miß-
brauch der Amtsgewalt und deren Erfolge beim Ballot schwerer nachzuweisen
sind, grade deshalb muß man es um so strenger damit nehmen, wenn man
nicht riskiren will, daß die Stimme des Volks auf das freventlichste gefälscht
wird — jenes Volks, von welchem der conservative Abgeordnete Wagner-Neu-
stettin in der Neichstagssitzung vom 9. März 1866 nach Citirung der franzö¬
sischen Phrase: „Alle brennenden Parteiunterschiede erlöschen in dem großen
Meere des allgemeinen Stimmrechts", zu behaupten die Kühnheit hatte, es
interessire sich nicht mehr für Politik, sondern nur noch für religiöse und für
sociale Fragen — oder, wie er es sehr drastisch ausdrückte, „für Fragen des
Herzens und des Magens".
Wenn der Reichstag den bereits jetzt gegen ihn erhobenen Vorwurf, er
sei bei der Wahlprüfung nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit und Strenge
vorgegangen, nicht nur durch Berufung auf die in der Sachlage zu findenden
Gründe, welche aus möglichste Beschleunigung der Constituirung losdrängten,
abschwächen, sondern durch eine That refutiren will, so muß er bei der auch
aus anderen Gründen gebotenen Berathung des Wahlgesetzes dafür sorgen, daß
dasselbe Voischriften erhält, welche dem Mißbräuche der Amtsgewalt zur Beein¬
flussung und Fälschung der Wahlen energisch entgegenwirken, theils durch Straf¬
androhung für die Contravcnienten, theils durch Verhängung der Kassation
über jede Wahl, bei welcher zu Gunsten des Gewählten solche illegale Mittel
in einer qualitativen oder quantitativen Ausdehnung angewandt worden sind,
welche den Erfolg wahrscheinlich macht. Der Reichstag selbst, als große Jury,
mag danach über jeden concreten Fall befinden.
Die liberale Partei aber, soweit sie bei den Neichstcigswahlen vom Februar
und März 1867 unterlegen ist, möchten wir andrerseits bitten, diese Niederlage
nur nicht einzig und allein auf Rechnung der Wahlbecinflussungen zu setzen,
sondern erstens Umschau und Selbstschau zu halten, ob sie nicht etwa in ihrer
letzten parlamentarischen Periode strategische, tactische oder technische Fehler be¬
gangen habe, welche mitunter mehr schaden, als ein materielles Unrecht, zwei¬
tens aber, besser als dies bisher geschehen, das allgemeine gleiche und directe
Wahlrecht zu studiren, und durchaus nicht zu glauben, daß man die Massen
in ihren zahlreichen localen Centren und ihren zahllosen Unterabtheilungen
durch ein Wahlcomitö in Berlin und durch Flugschriften leiten könne, welche
beide Mittel zwar gut sind, aber ohne persönliches Einwirken. das sich auf
jedes Dorf, jeden Hos und jedes Gut zu erstrecken hat, in der Regel erfolglos
bleiben.
Der Sturz der Hohenstaufen bezeichnet in mehr als einer Richtung einen
wichtigen Abschnitt in der Geschichte des deutschen Reichs. Mit Kaiser Friedrich
dem Zweiten sank nicht allein der letzte gewaltige Repräsentant jener alten
großen Auffassung von dem Berufe des römischen Kaiserthums deutscher Nation
zur Führung der ganzen Christenheit,' nicht allein die Gedankenwelt hinab,
weicht die Trägerin der ersten und glanzvollsten Periode des deutschen Mittel-
altere war; — unter Friedrich dem Zweiten hat sich auch das Auseinander¬
gehen des Einheitsstaates Deutschland in einen zusammengesetzten Staatskörper
entschieden und schreitet von nun an unaufgehalten in dieser N>cltung fort.
Der Kaiser hatte, um während seiner Kampfe in Italien die deutschen Reichs«
fürsten willfährig, zu erhalten, diesen die entscheidendsten Opfer durch Zugeständniß
bleibender Unabhängigkeit von der Kaisergewalt in wichtigen Beziehungen bringen
müssen. Die großen Privilegien, die er ihnen in den Jahren 1220. 1223, 1224
und 1231 verlieh, bildeten die Basis der nunmehr stetig sich fortbildenden
Landeshoheit der deutschen Reichsfürsten; in dem letzterwähnten Privilegium
werden sie zum ersten Male Landesherren (clomini terrg-o suae) genannt. Die
auf den Sturz der Hohenstaufen folgende anarchische Zeit konnte selbstverständ-
lich diesem Bildungsgange der Reichsverfassung nur höchst förderlich sein. Am
Ausgang? dieses Interregnums stand denn nun auch einerseits die beschließende
Kraft der Versammlung aller Reichsfürsten, des Reichstags, und andrerseits die
feste Spitze dieser Rcichsaristokratie, die sich allmälig in der Gestalt des Sieben-
gestirns der Kurfürsten herausgebildet hatte, mit dem Rechte, das Reichsober-
Haupt allein zu wählen, unbezweifelt da.
Die erste Wahl, die sie trafen, fiel trefflich aus. Rudolph v. Habsburg
hat nicht blos für die Machtvergrößerung und Befestigung seines Hauses gesorgt,
er hat unablässig zugleich mit kräftiger Faust die Ordnung im Reiche hergestellt,
und selbst da. wo er für sein Haus sorgte, dies stets in den Formen des da¬
maligen Rechts im Reiche, unter Concurrenz der Kurfürsten gethan, die er höchst
geschickt für seine Interessen zu gewinnen verstand.
Die Wahl Adolphs v. Nassau war nicht ebenso glücklich. Das Ansehen
und die Macht der Kurfürsten aber gewann unter dieser Negierung einen neuen
Zuwachs dadurch, daß sie selbst sich zu dem Rechte der Wahl nun auch das
Recht der Absetzung des von ihnen gewählten römischen Königs aneigneten und
factisch in Vollzug zu selben wußten. Unter dem an des entsetzten Adolphs
Stelle von ihnen erwählten Sohne Rudolphs, dem finsteren und gewaltthätigen
Albrecht dem Ersten aber hätte ihr steigendes Ansehen im Reiche leicht wieder
einen bedeutenden Abbruch erleiden, in seiner Entwickelung wieder zurückgeworfen
werden können, wenn nicht die Mvrderhand des Johann Parricida dieses ge-
sährliche Reichsoberhaupt frühzeitig beseitigt hätte.
Der edle Heinrich v. Luxemburg ging, bei aller Energie und Strenge, mit
welcher er gegen die Friedensstörer im Reiche verfuhr, doch auf eine Herab-
dnickung der schon begründeten Bedeutung der Kurfürsten und der übrigen
Reichsfürsten um so weniger aus, als er keinerlei nennenswerthe Hauomacht
besaß und überdies selbst von seiner nur so kurzen Regierungszeit einen ansehn¬
lichen Theil auf jenem unglücklichen Zuge nach Italien verbrachte, der ihm das
Leben kostete. Unter Ludwig dem Bayer aber macht die Entwickelung des kur¬
fürstlichen Instituts wieder einen bedeutenden Fortschritt, und zwar getragen
von einer nationalen Bewegung. Die Weigerung des Papstes, die Wahl Lud-
wigs. trotzdem er bei Mühldorf gesiegt, als römische» Königs anzuerkennen, und
die anmaßliche Behauptung des Kirchenoberhanptcs, daß jede Wahl eine« römi¬
schen Königs seiner Bestätigung bedürfe, erweckt ein edles stolzes Nationalgefiihl
der deutschen Reichsfürsten und veranlaßt die Kurfürsten, in dem ersten Kur¬
verein von Reuse sich zu einem geschlossenen Reichskörper zusammenzufügen und
gegen jene päpstliche Anmaßung einen feste» Kern des Widerstands zu bilden,
der den unmittelbar darauf folgenden gleichgestimmten Beschlüssen des frank¬
furter Reichstags einen starken Stützpunkt verleiht.
Aber der in Reuse gelegte Grund war nur noch ein dürftiger, äußerst un¬
vollständiger. Er ließ in dein bisher hauptsächlich durch die Praxis gebildeten
Kurfürstenrechte — namentlich in Bezug auf das Wahlverfahre» — noch eine
Reihe von Lücken, die bei jeder Neuwahl eines römische» Königs zu den hef¬
tigsten erschütterndsten Kämpfen Anlaß geben konnte» und Anlaß gaben. Lud¬
wigs Nachfolger auf dem Throne des Reichs, Karl v. Mähren. diese nichts
weniger als heidenmäßige und kühne, vielmehr halb Gelehrten-, halb Diplo¬
matennatur, ließ es sich daher vor allem angelegen sein, im friedlichen Wege
der Gesetzgebung jene Lücken auszufüllen. In dem umfassenden Reichsgesetze,
das unter dem Namen der goldenen Bulle bekannt ist und heute noch eine
wichtige Quelle des deutschen Fürstenrechs bildet, gab er dem Reiche nicht nur
eine Kodifikation der damaligen Rechtsgewohnheiten in Bezug auf das Wahl-
verfahren der Kurfürsten, sondern entschied auch eine Reihe von Streitfragen
auf diesem Felde und fügte eine große Zahl solcher Bestimmungen hinzu, welche
dazu dienen sollten, die Bedeutung der Kurfürsten im Reiche feierlichst zu sanc-
tioniren. zu befestigen, ja wesentlich zu erweitern und zu erhöhen. Nachdem
die früheren Versuche, eine wirkliche Monarchie im deutschen Reiche nach dem
Muster der französischen aufzurichten, als fehlgeschlagen und die Formen einer
Art bundesmäßiger Vielherrschafi der Neichsfürsicn unter dem Präsidium eines
sogenannten römischen Wahlkönigs als befestigt betrachtet werden mußten, machte
Karl der Vierte sich zur Aufgabe, in der goldenen Bulle einen förmlichen Ber¬
trag hierüber zwischen Haupt und Gliedern des Reichs zu Stande zu bringen.
Die hervorragendsten sollen die Kurfürsten sein. Sie werden daher die
Säulen, die Kandelaber des Reichs genannt. Aber sie werden zugleich so innig
verwachsen mit dem Neichsooerhaupte, so Eines mit ihm als seine nächsten
Rathgeber und Stützen und Mitwirkende bei Ausführung der kaiserlichen Be¬
schlüsse gedacht, daß sie andrerseits als Glieder am Körper der kaiserlichen Majestät
bezeichnet werden. So hoffre Karl die Kaisermacht und das kaiserliche Ansehen
zu stärken.
Allein schon unter seinem nächsten Nachfolger und Sohne Wenzel ging
die Hoffnung, welche er von seiner Gesetzgebung in Bezug auf Frieden und
Ordnung im Reiche gehegt halte, nicht in Erfüllung. Unter Wentzel, der nach
mer anfänglich viel versprechenden, alur sehr kurzen Beeifcrung für die J»ter>
essen des Reichs, sehr bald in jenen Zustand thierischer Roheit und Unfreiheit
verfiel, in welchem er weder auf die Stimme der Kurfürsten hörte, noch selbst
>n das Reich lam. — griff alsbald die Anarchie, wie leicht begreiflich,
immer weiter um sich, und die Kurfürsten gaben, da alle Mahnungen und sell>se
Drohungen erfolglos und unerhört verhallten, ihrer pflichtmäßigen Thätigkeit
endlich die Richtung, daß sie zur Absetzung solch eines unwürdigen Reichsover-
Hauptes schritten. Das Reich war in einen traurigen Zustand verfalle». Die
Seele der kurfürstlichen Action gegen Wenzel, Rupprecht v. d. Pfalz, nunmehr
auf den Zchron des Reichs erhoben, that das Mögliche, um dem immer weiter
sich verbreitenden Kampfe unter den Gliedern des Reichs zu steuern. Aber
ohne irgend erheblichen Erfolg. Die Waffe, die Rupprecht einst, freilich mit
mehr Grund, gegen Wentzel geführt, wird nun von den Reichsfürsten gegen
ihn selbst gekehrt. Den im marburger Bunde vereinigten Reichvfürsten muß er
im Vertrage von Umbstadt (1406) ausdrücklich das Recht zugestehen, auch ohne
Erlaubn.«!) des Reichs Bündnisse unter einander zu schließen, „wie er es selbst
vormals gethan". Und als nach ihm Wenzels Bruder, Sigmund, das Scepter
ergriff, traten zu den schon vorhandenen Elementen der inneren Unordnung
und Zerrüttung bald noch die Erschütterungen hinzu, welche der seht eben er¬
wachende Trieb nach Reform der Kirche in dem Concile von Konstanz und in
den darauf folgenden surchtvaren Kämpfen der Hussiten hervorrief.
In diese lief erschütterte und wildbewegte, aber innerlich nach fester Ord¬
nung und Gestaltung unausgesetzt ringende Zeit fällt das Leben des Mannes,
dessen weit reichende Pläne hier beschäftigen sollen. Um diese ganz zu verstehen,
müssen wir zunächst einen Augenblick bei Betrachtung der Zustände des Reichs
Ul dieser Periode, den ersten Jahrzehnten des fünfzehnten Jahrhunderts ver¬
weilen.
Es darf nicht Wunder nehmen, daß die Zeit, in welcher die einzelnen Be¬
standtheile der verschiedenen Länder des Reichs eigentlich noch in einer losen
Verbindung und in einer mehr oder minder unklaren Stellung zu einander sich
^fanden, diese Zeit einer gährenden inneren Entwickelung und der Bildung
Zusammcuschließung der einzelnen Teintonen zu festeren Substraten der
eben in lebhaftem Wachsthum begriffenen Landeshoheit, zugleich eine Zeit un¬
aufhörlicher Kämpfe, des Angriffs von der einen und der Gegenwehr von der
anderen Seite wurde. Dieser — fast darf man sagen — „Krieg Aller gegen
'^le" mußte, wenn die Reichsgewalt nicht stark genug war, den Einzelnen
ÜU schützen, nothwendig das Bedürfniß der nächstgelegenen Gleichinteressitten zur
^genseitigcn Verbindung in sogenannten Einigungen oder Einungen erzeugen.
Die kaiserlichen Hof- und Landgerichte waren zu solchem Schutze berufen; aber
Heils waren sie oft in zu schlechten Hände», theils wurden sie durch die an
viele Territorialherren bereits freigebig gespendeten Privileg et« non vvoeanäo
in ihrer Thätigkeit sehr beschränkt, theils fehlte es an der Vollziehung ihrer
Urtheilssprüche. König Wenzel hatte bekanntlich noch in seiner ersten gute»
Zeit die Idee, nicht blos jene aufstrebenden Landeshoheiten, sondern auch
sämmtliche von letzteren noch nicht ganz verschlungene, mit der Reichsgewalt
noch in einig'er unmittelbarer Verbindung gebliebene mindcrwichtige Glieder
zu einer großen Gesammtheit zu einer alle Classen der deutschen Nation
umschließenden Neichseinung zu verbinden. Eine solche Gesammteinigung wäre
jedenfalls ein wirksameres und durchgreifenderes Organ zur Ausübung des
Rechtsschutzes gewesen, als jene Separateinigungen. Aber freilich hätte auch
der Landfriede, den sie aufrecht erhalten sollte, ein anderer werden müssen.
Dieser principiell schon längst anerkannte und stets von neuem in den ver¬
schiedenen Territorien verkündete sogenannte „gemeine Friede- war an sich ein
ungenügendes Verbot, das nur die vorher nicht gehörig angesagten Fehden,
und die Fehden gegen solche, welche sich zu Recht erboten hatten, keineswegs
alle Fehden ohne Unterschied verbot. Ueberdies war Wenzel nicht der Mann,
ein solches Verbot durchzuführen. Dazu war er — selbst in seiner ersten guten
Zeit — zu unstet und leidenschaftlich, zu abgezogen und in Anspruch genom¬
men von seinen Händeln in Böhmen, und bald machte seine Tünkwuth ihn
völlig unzurechnungsfähig. So kam eS, daß der im Flusse begriffene Ordnungs¬
trieb im Reiche sich zersplitterte. Die schwächeren und daher am meisten be¬
drohten Glieder des Reiches, die Städte und die Neichsntterschaft, die aus
solch einer Reform der Reichsverfassung den meisten Nutzen gezogen und dem
Kaiser dafür die beste Stütze geboten haben würden, sahen sich nunmehr durch
das Mißlingen des wenzelschen Planes wiederum und mehr als je darauf ver¬
wiesen, in Euugungen unter sich selbst den nöthigen Schutz und Schirm gegen
die Uebergriffe der Mächtigeren zu suchen. So die Reichsstädte in Schwabe"
(gegen den Grafen Eberhard von Würtemberg), im Elsaß, am Mttelrhein;
die Reichsritterschaft vom Rheine und den Niederlanden bis zu den Alpen u»v
dem thüringer Walde in verschiedenen Gesellschaften und Bünden. In diesen
Einigungen, welche förmlich organisirt waren und von Hauptleuten und Räthen
geleitet wurden, verpflichteten sich die einzelnen Glieder einestheils. sich gage»'
seitig nicht zu befehden, sondern etwaige Zwiste durch „gekorene Richter" (Aus-
träge) entscheiden zu lassen, andererseits sich gegenseitig selbst mit den Waffen
zu schützen gegen den Landfriedensbruch Dritter, und endlich in jährlichen Ve>'
Sammlungen die Bundesangelegenheiten gemeinschaftlich zu berathen. Aber diese
aus dem Mangel an Reichsschutz entstandene Privathilfe war nur ein ungenü¬
gender Noihbehelf. Denn ein guter Theil der Rcichsglieder blieb außerhalb
solcher Einigungen und diese Bünde und Gesellschaften bekämpften sich selbst
wiederum unter einander, so daß die Fehden^ infolge davon eher noch massen¬
hafter und verheerender wurden. Es war eine traurige Anarchie.
Das unablässige und hauptsächlichste Ringen und Streben der ganzen Zeit
war und blieb daber auf Herstellung eines wahrhaft und allgemein wirksamen
Landfriedens gerichtet, also eines Landfriedens, der alle Fehden ohne Unterschied
bei Strafe verbot, der sich über das ganze Reich erstreckte und gerichtlich-execu-
tivisch auch wirklich gehandhabt wurde. Das war die überall und stets von
neuem hervortretende nächste und dringlichste Aufgabe der Fortbildung der
Reichsverfassung. Das fühlten, erkannten, erstrebten alle — im Principe. Aber
sobald man dem Gegenstände praktisch näher trat, sobald man auf die Specia¬
litäten der Ausführung einging, traten die divergirenden Interessen des Kaisers
einerseits und der Reichsstänoe andererseits, und der Reichsstände wiederum
unter einander so hemmend entgegen, daß etwas Durchgreifendes und Wirksames
eben doch nicht zu Stande kam. Namentlich scheiterte man an der Organisation
der Handhabung des Landfriedens. Eine richterliche Instanz war unerläßlich;
aber den kaiserlichen Land- und Hofgerichten suchten sich die Reichsfürsten zu
entziehen, und die Ansträgalgerichte sah wiederum der Kaiser als seinem Ansehen
nachtlmlig an. So schwankte man fast ein Jahrhundert zwischen Vorschlägen
und Gegenvorschlägen fruchtlos hin und her.
Dazu kamen die schon tiefgehenden kirchlichen Kämpfe jener Zeit, der be¬
deutende Fluß, in welchen das Leben der Kirche damals bereits gekommen war.
Der Sturz der Hohenstaufen war gleichbedeutend mit dem Siege des Papst¬
thums. Aber während Bonifaz der Achte das geistliche Schwert stolz über dem
weltlichen schwang, begann schon der Boden unter den Füßen des Papstthums
selbst zu wanken. Durch die gesteigerten Mißbräuche der Kirche, durch die An¬
maßungen der Päpstlichen Gewalt, durch die Verderbtheit der obersten Kirchen-
fürsten und mehr oder minder des Klerus überhaupt, war allmälig in dem
Kreise der Kirche selbst die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit bessernden
-Eingreifens in die Zustände derselben lebendig geworden. Das dazu tretende
große Schisma konnte dieses Verlangen nur fördern. Es standen aus den
Reihen der Franziskaner, Dominikaner, Mystiker und Gottesfreunde jene be¬
geisterten Männer auf, welche die Umkehr der Kirche aus der Ueppigkeit zur
freiwilligen Armuth, aus der Aeußerlichkeit in die Innerlichkeit, aus der Sünde
zur inneren Reinigung predigten. Johannes Tauler riß in den Städten die
Menge mit sich fort. Marsilius von Padua schrieb unter dem Titel „äötellLor
P-reif" jenes merkwürdige Buch, in welchem bereits die heilige Schrift als
Grundlage des christlichen Glaubens angenommen, nicht Petrus, sondern Christus
selbst als Fels der Kirche erkannt und die Autorität derselben auf die vom
heiligen Geiste geleitete versammelte Geistlichkeit, die Kompetenz der Kirche auf
d>e rein kirchlichen Angelegenheiten zurückgeführt wurde. Das Verlangen, der
Ruf nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern ward immer lauter,
immer allgemeiner; und was lag nach solchen Lehren naher, als diese Reform
statt von dem Papste, von einem allgemeinen Concile zu erwarten? DaS
allgemeine Concil versammelte sich denn auch;— zuerst in Pisa, dann in Kon¬
stanz. Auf dem Concile zu Konstanz (1414) ward von den Reformfreunden
nicht das Höchste, doch immerhin Bedeutendes erreicht: vor allem eine, bis zur
Absetzung der Päpste gehende praktische Durchführung des Grundsatzes, daß ein
allgemeines Concil noch über den Päpsten stehe und daß es alle zehn Jahre
wieder zusammenkommen müsse, um dieses oberste Regiment zu führen. Aber
die vom Kaiser Sigismund beantragte Durchführung der inneren Kirchen-
reform wurde von den nichtdeutschen Nationen (denn nach Nationen
stimmte ja dies Concil) verworfen und mit dem Scheiterhaufen des Johann
Huß beantwortet, damit die in dem conservativen Programme jener Zeit zur
Devise gewordene „Erhaltung der Einheit der Kirche" nicht beeinträchtigt werde.
Und nun e-hob sich in den furchtbaren Empörungstämpfen und verwüstenden
Zügen der Hussiten in die benachbarten Reichslande jener gewaltige Sturm,
der vor allem auch eine sehr bestimmte politische Wirkung haben sollte: die
nämlich, daß er ganz besonders die inneren Schäden und namentlich die mili¬
tärische Schwäche des Reichs in noch höherem Grade bloßlegte. als schon die
inneren Fehden es gethan. Die Siege der unter der hervorragenden Führung
eines Ziska. eines Procop in einer Reihe von Schlachten und in einem jahre¬
langen Lagerleben fest zusammengefügten und kriegsgeübten, dazu von fanatischer
Begeisterung erfüllten Hussiten über die deutschen Reichsheere legten die Kriegs«
untüchtigkeit dieser letzteren, dieses bunt zusammengeworfenen, ungeübten, un-
discivlirurten und überdies noch der einheitlichen Führung entbehrenden losen
Conglomerats bald völlig klar. Die immer sich erneuernden Niederlagen und
schmählichen Fluchten dieses Reichsheeres bei dem bloßen Herannahen von Ziska
odcr Procop, die zuchtlose Haltung dieser Reichstruppen, die, je öfter sie von
neuem zusammengerafft und gegen dieHussiten geführt wurden, um so mehr bewiesen,
daß sie nur zum Niederbrennen wehrloser Dörfer und zum Ausreißen vor dem
Feinde befähigt waren, — diese beschämenden Thatsachen führten auf den
Reichstagen zu Nürnberg und Franksuit a. M. (1422 und 1427) zu ernstlichen
Vorschlägen und Erwägungen, wie diesem dringenden Uebelstande abzuhelfen.
Allerseits ward das Bedürfniß eines wahrhaft kriegslüchtigen. wohldisciplinirten,
einheitlich ausgebildeten und einheitlich geleiteten stehenden Reichshceres im
Principe anerkannt, aber wenn die Mittel hierzu durch eine allgemeine Reichs¬
steuer, eine Capitalsteuer unter dem Namen des „gemeinen Pfennigs" erbracht
werden sollten, erhoben sich so viel Widersprüche und Schwierigkeiten bald unter
den Fürsten einerseits und den Städten andererseits über den Maßstab der
beiderseitigen Beitragspflicht, bald von Seiten der Ritterschaft, die ihrer Leistungs-
Pflicht schon mit dem Schwerte zu genügen behauptete, theils von Seiten solcher,
die nur überhaupt nicht zu zahlen liebten, daß man um keinen Schritt weite»
vorwärts kam, sonder» es unverändert bei dem alten Zustande verblieb.
So war der Stand der Dinge, als sich im Jahre 1430 das allgemeine
Concil wieder in Basel versammelte.
Unter denen nun, die das Bedürfniß der Zeit am umfassendsten, tiefsten
und großartigsten auffaßten, stand obenan ein noch junger deutscher Geistlicher,
Nikolaus, der Sohn eines Sendschöffcn oder Bauern von Cues bei Koblenz,
später nach seinem Geburtsorte in der Regel Nikolaus von Cues, häufiger Niko¬
laus de Cusa oder Nikolaus Cusanus genannt.
Nachdem er seine erste Bildung in der Schule jener merkwürdigen Brüder¬
schaft des gemeinsamen Lebens zu Deventer erhalten hatte, welche eine Bor-
läuferin der reformatonschen Geistesrichtung genannt zu werden verdient, wid¬
mete er sich dem Studium der Rechte und bezog zu diesem Zwecke die Univer¬
sität zu Padua, wo er Doctor der Rechte ward. Hier trat er zu seinem nur
drei Jahre älteren Lehrer Guiliano de Cesarini in eine Berbindung, welche
ohne Zweifel von entscheidender Bedeutung für sein ganzes Leben wurde. Nach
Deutschland zurückgekehrt, trat er zunächst in den Beruf eines Sachwalters ein.
Aber in einem Processe, in welchem ihm als Advocat der Gegenpartei jener
nachmals als Gesandter der Kurfürsten an den Papst und als der gröbste Diplomat
seiner Zeit so berühmt gewordene Gregor von Heimburg gegenüberstand, unter¬
lag er. und dies gab wenigstens den letzten äußern Anstoß, daß er dem Sach-
waltcrberuf untreu ward und sich dem geistlichen Stand widmete. Der tiefere
Grund lag wohl in dem Samen, den sein von fortreißenden Feuereifer durch¬
glühte! Lehrer Cesarini. —- selbst ein hervorragender Geistlicher —, bereits in
Padua gestreut hat-te. Und als nun wenige Jahre später das Concil zu Basel
sich versammelte und derselbe Giuliano de Cesarini als Cardinallegat zur Lei¬
tung dieses Concils ausersehen ward, eilte Nikolaus von Cusa, der damals noch
junge Dechant zu Se. Florin in Koblenz, alsbald nach Basel an die Seite des geliebten
Lehrers und Freundes, der ihn vielleicht selbst dahin berufen hatte. Hier wurde
dem umfassenden Geiste des jungen Mannes die beste Gelegenheit, die ineinander¬
laufenden Fäden der kirchlichen und politischen Interessen zu verfolgen. Hier,
wenn irgendwo, mußte er sich überzeugen, daß, wenn das Streben seiner Zeit,
die als Bedürfniß erkannte Verbesserung der Kirche durch ein Zusammenwirken
der gesetzlichen Gewalten in Kirche und Staat ins Leben zu rufen, gelingen
sollte, es hierzu nicht minder auch einer gründlichen Verbesserung der Zustände
des Staates und zwar desjenigen Staates bedürfe, dessen Oberhaupt zugleich
der Schirmvoigt der Kirche war, des deutschen Reichs. Noch in Basel schrieb
Nikolaus sein berühmtes Werk et«z eoneoräg-ulla eattroliea, und widmete es dem
Kaiser Sigismund, ohne dessen kräftige Mithilfe die Resena der Kirche sich als
unmöglich darstellte. Das Werk sollte die Grundlagen aller kirchlichen und
weltlichen Gewalt und das Verhältniß beider zu einand er bestimmen, um die
sich schroff gegenüberstehenden Theorien der feindlichen Parteien durch inn Zurück¬
gehen auf historische Grundlagen zu verständigen. Nikolaus stand auf der Seite
des Concils; auch er ging von der Superioritcit des allgemeinen Concils über
dem Papste aus, und die Consequenz seines Systems, wie die Absicht, den
Kaiser Sigismund möglichst eng in das Interesse des Concils zu versiechte»
und zugleich zu möglichst wirksamer Hilfe so stark als möglich zu machen, führten
ihn dazu, seine Gedanken namentlich auch auf die Reform des deutschen Reichs
auszudehnen. —
Das Ziel dieser Darstellung legt mir von selbst die Nothwendigkeit auf,
von dem tiefsinnigen und umfassenden Werke des großen Denkers nur seine
Gedanken über die der Verfassung des deutschen Reichs zu gebende Reform, und
auch diese nur in ihren Hauptzügen zu berühren.
Cusanus erkennt die weltliche Gewalt des römischen Königs als ihrer
Natur nach unabhängig, von Gott allein und unmittelbar abstammend und
darum die Königswahl der Kurfürsten als nicht bedürftig der päpstlichen Be¬
stätigung an. Er betont die Selbständigkeit des Papstthums und des Kaiser-
thums als zweier durchgängig unterschiedener Gewalten. Aber er will keine
völlige Trennung derselben. Beiden ist dasselbe Ziel gesteckt: nämlich nach Gott
und dem Heile der Menschheit zu streben. Und so soll die Spitze seiner „Con-
cordantia" sich in einer steten Harmonie beider Gewalten zeige». Wahrend er
den Kaiser ermahnt, sich nicht gegen das heilige Priesterthum Gottes zu er-
heben, von welchem das Kaiserthum erleuchtet werde wie der Mond von der
Sonne, erinnert er den Papst an die Wohlthaten, die das Kaiserthum der
Kirche erwiesen habe, und räumt dem Kaiser das Recht ein, als Schirmvvigt
der Kirche ein allgemeines Concil, und zwar in großer Gefahr selbst gegen den
Willen des Papstes zu berufen. Nun geht er auf die Frage wegen Reform
der deutschen Reichsverfassung über. An das glänzende Ä>it der Blüthezeit des
Reichs, unter den Ottonen namentlich, reiht er das düstere seines Zerfalls.
Alle Sorge für das Reich sei dahin; jeder übertrete ungestraft die Gesetze; an
die Stelle der Verehrung sei Verachtung und Trotz getreten, alle dächten nur
auf Sondervortheile, niemand kümmere sich um die Folgen, um die Zukunft,
um das Ganze. Daran seien obenan die Kaiser schuld, die durch Milde bessern
zu können meinten. Alle Bestrafung habe ja aufgehört, selbst die der Rebellen.
Und so seien infolge von Mißbrauch ihrer Gewalt viele zu Mächtigen, das
Reich aber immer unmächtiger geworden. Eine weitere Schuld trage die Hab¬
sucht der Kurfürsten, jene Wahlcapitulationcn, durch welche sie den Kaiser
nöthigen, Rcichseinkünfte zu verschenken oder gar^zu verpfänden oder doch ihn
hindern, die den Verkehr der Unterthanen erschwerenden Zölle abzuschaffen oder
widerrechtlich in Besitz genommene und illegitim verschenkte Rcichsgüter zurück¬
zufordern. „Indem alle das Ihrige suchen" — ruft er aus — „das Reich
aber zu nichte wird, muß nothwendig allgemeine Zerrüttung entstehen. Denn
wenn nicht mehr die größere erhaltende und befriedende Macht des Reiches be¬
steht, wenn die Glieder die ganze Macht des Hauptes zerreißen und verschlingen,
so wird bei stets wachsender Begierde der Neid Kriege, Spaltungen und Par-
teiungen herbeiführen. An die Stelle der Ordnung wird Verwirrung treten,
da kein Erster mehr da ist, zu welchem man um Hilfe gehen könnte, und wah¬
rend die Edlen nnter sich streiten, werden sich erheben, die all ihr Recht in den
eigenen Waffen suchen ze." „Es giebt" —so fährt er fort — „in Deutschland
keinen öffentlichen Rechtszustand, keine Gerechtigkeit mehr. Durch sogenannte
Ehre wird die Ehre vom Rechte getrennt und die Edlen behaupten, sie könnten
auch die größten Güter erlaubtcrweise in Besitz nehmen, wo sie zugestehen, daß
der Besitzergrcifer kein Recht gehabt, noch habe. Sie meinen, durch einen elenden
Fehdebrief könne die Ehre gewahrt werden; nach Uebersendung eines solchen
sei es ihnen erlaubt, das aus jeder beliebigen erdichteten oder auch aus gar
keiner Ursache Geraubte, auch wenn es Güter der Kirche oder von Geistlichen
wären, zu behalten." Cnsanns sieht das Reich der Deutschen als von einer
tödtlichen Krankheit ergriffen und den Tod als unzweifelhaft bevorstehend an,
wenn nicht bald durch wirksame Gegenmittel Heilung geschafft werde. „Man
wird dann das Reich in Deutschland suchen" — ruft er aus — „und es nicht
finden. Fremde werden unser Land einnehmen und sich unter uns theilen, und
so werden wir Unterthanen eines anderen Volkes werden."
Cnsanus tritt nun mit den Reformvorschlägen selbst vor, in denen er die
geeigneten Heilmittel erblickt und durch welche sich wie ein rother Faden vor
allem der Grundgedanke des ganzen Werkes zieht: auf einer wahlhaft inner¬
lichen Harmonie, die ans einer Versöhnung der Gegensätze hervorgeht, auf einer
wahrhaft organischen Einheit — anstalt eines blos äußerlichen Zwangs- und
Ruhestands — das neue Leben in Staat und Kirche aufzubauen.
Dieses Ziel verfolgend stellt Cusanus an die Spitze seiner Betrachtungen
überhaupt, als der menschlichen Vernunft innewohnend, den allgemeinen Satz:
daß zur Leitung des Staats die Weiseren und Vorzügiicheren berufen seien;
daß, wie der Staat überhaupt auf Naturnothwendigkeit beruhe, so der Beruf
der Obrigkeit göttliche» Ursprungs sei, daß er aber, da alle Mensche» von Natur
ßlcich mächtig und frei seien, nur durch freiwillige Zustimmung und Unter¬
werfung von Seiten der Regierten zur concreten Lcnrnrklichung kommen könne
und daß daher zu einer wahren Concordanz im Staate nur auf dem Wege
einer gemeinsamen freien Verständigung zwischen Obrigkeit und Unterthanen zu
gelangen sei. Er betrachtet es demnach als ein nothwendiges Erforderniß, daß
die Gesetze von denen, welche durch sie verpflichtn werden sollen, wenigstens
von der Majorität der erwählten Vertreter derselben, vorher acceptirt sein müssen,
und hegt zu der Gesinnung dieser Volksvertretung ein solches Vertraue», daß
er sagt: wenn verschiedenartige, an ein ein Orte versammelte Menschen bei voll¬
kommener Redefreiheit wie ein Herz und eine Seele urtheilen, so ist das nicht
menschlich, sondern göttlich.
Im Einklange mit diesem Satze stehen denn nun auch die Heilmittel, die
er für das kranke Reich vorschlägt.
Die erste Stelle unter denselben nimmt selbstverständlich die Wiederherstel¬
lung der Rechtssicherheit im Reiche, die thatsächliche Durchführung eines ewigen
Landfriedens ein. Hierzu soll zunächst ein von allen Reichsfürsten unterzeich¬
netes und untersiegeltes Reichsgesetz dienen, welches alles Fehderecht aufhebt
und nur dem Kaiser und den kaiserlichen Gerichten die Lefugniß einräumt, ge¬
eigneten Falles die Ermächtigung zur Wiedervergeltung gegen einen hartnäckigen
Frevler zu ertheilen. Der Friedenbrecher soll ehrlos werden, seine Güter —
auch wenn er Fürst wäre — dem Fiscus verfallen; ist er. Geistlicher, so soll
er durch die Synode abgesetzt werden. Zur Handhabung dieser Strafgesetze soll
das Reich in zwölf oder mehre Gerichlssprengel eingetheilt und in jedem der¬
selben ein kaiserlicher Gerichtshof errichtet und mit drei Richtern. einem aus
dem Adel. einem aus der Geistlichkeit, einem aus dem Bürgerstande, besetzt
werden, damit die Interessen und Anschauungen aller Stände ihre gebührende
Vertretung und Versöhnung darin finden. Diese kaiserlichen Gerichte sollen
einerseits in zweiter Instanz, wenn von dem Spruche deS ordentlichen Richters
an sie appellirt wird, andrerseits aber auch in erster Instanz dann erkennen,
wenn der Kläger oder der Beklagte, weil fürstlichen Standes, keinen ordent¬
lichen Richter über sich hat, oder wenn der ordentliche Richter einem von beiden
Slrcittheilcn verdächtig ist. Sie entscheiden nach Stimmenmehrheit und ordnen
die Vollstreckung ihrer Urtheile selbst an. Die Bußen, die sie auflegen, fließen
in die Reichskasse. Und neben dieser Aufgabe einer straffen und energischen
Reichsjustiz sollen diese kaiserlichen Gerichte nach eine andere, eine hochwich¬
tige und weit hinauswirkende legislative Aufgabe erfüllen, die, wenn sie wirk¬
lich zur Ausführung gekommen wäre, die ganze deutsche Rcchtsenlwickelung
wahrscheinlich in eine völlig andere Bahn geleitet hätte: — sie sollen die in
ihre» Genchtssprengeln geltenden vaterländischen Rechtsgcwohnhciten aufschreibe»
und sammeln, um eine Revision derselben und des Proceßrechts. das nament¬
lich an einem Mißbräuche der Eidesleistung zu leide» schien, vorzubereiten. El»
großes Werk, in einer Zeit zumal, wo es noch möglich war. die Fortbildung
des vaterländischen Rechts vor der Ueberfluthung durch das eindringende rö¬
mische zu schützen!
Aber was wäre alle Fürsorge für die Fortbildung des Rechtslebens und
für den richterliche» Rechtsschutz gewesen, was hätte sie helfen und nützen können,
wenn feine Aussicht vorhanden war. daß die Richtersprüche auch wirklich exe-
cutire würden? An dieser Stelle schlägt Cusanus das in den HussitcMmpfen
immer mehr als Bedürfniß erkannte Mittel der Errichtung und Unterhaltung
eines stehenden Reichsheeres vor, dessen Kosten nicht aus der schwer beizutreiben-
den Reichsstcuer, dem „gemeinen Pfennig", sondern durch die kaiserlichen Zölle
und aus den Auflagen, welche man den Fürsten zum Besten des Gemeinwesens
zu erheben gestattet habe, bestritten werden sollten.- Jene kaiserlichen Zolle, bei
deren Erhebung das Reichsvbcrhaupt allerdings weit unabhängiger von dem
guten Willen der Einzelnen war als bei der Erhebung der bisher dazu aus-
ersehenen Capitalsteuer, sollten mit den etwa noch weiter nöthig werdenden
Beiträgen der Reichsstände alljährlich in eine gemeinsame, dem Kaiser zur Ver¬
fügung stehende Kasse in Frankfurt a. M. fließen. Mit diesem Ncichsheere
sollte der Kaiser den Rechtssprüchen seiner Gerichte die nöthige Vollstreckung
sichern, und wenn den Fürsten dadurch ein Theil ihrer Einkünfte entging, fand
Cusanus eine billige Ausgleichung hierfür darin. daß sie dagegen wiederum
manche Aufwande ersparen würden, die ihnen bisher der eigene Rechtsschul)
durch Unterhaltung eigener Truppen gekostet habe.
In der Organisirung der Reichsregicrung läßt Cusanus die zeitherigen
Hauptorgane wohlweislich unverändert fortbestehen. Den Kurfürsten weist er
nach wie vor die Wahl des römischen Königs zu. da seinem Systeme von dem
Werthe freier Zustimmung und Selbstbestimmung ein Wahlreich an und für
sich zusagen mußte. Auch war ja sein. Absehen nicht auf Zeichnung eines
utopischen Staats, sondern solcher Reformen gerichtet, die einige Aussicht auf
praktische Durchführung hatten. Ebenso ließ er den großen Reichstag, die große
Versammlung aller geistlichen und weltlichen Reichsfürsten zur Erledigung.wich¬
tiger Reichsangelegenheiten, in der bisherigen Weise, also je nach Bedürfniß von
Zeit zu Zeit in unbestimmten Zwischenräumen durch den Kaiser zusammen-
berufen.
Aber neben diesen beiden zeitherigen Organen der Reichsregicrung wollte
Cusanus ein neues, regelmäßiger thätiges, leichter zusammenzuberufcndcs und
mehr zur Arbeit geeignete o Organ in einer alljährlich unter dein Borsitze des
Kaisers oder des ersten Kurfürsten in Frankfurt a. M. lagerten anderen Ver¬
sammlung geschaffen wissen, welche er ebenfalls Reichstag nennt und die wir
zum Unterschiede vom alten und eigentlichen Reichstage, der Versammlung der
Fürsten, den zweiten Reichstag oder Reichstag des Volkes nennen wollen.
Dieser zweite Reichstag sollte außer dem Kaiser als Vorsitzenden und den
mit ihm je als eines gedachten sieben Kurfürsten in eigener Person aus den
36 (aus Adel. Geistlichkeit und Bürgerstand erwählten) Richtern der zwölf kaiser¬
lichen Gerichte und endlich aus je einem Abgeordneten jeder größeren Stadt
des Reichs sich zusammensetzen, also eine ganz ansehnliche Vertretung der freien
Elemente des damaligen Voll's gegenüber den im ersten Reichstage vertretenen
Regierungen der damaligen Territorien enthalten. Diese Vertretung des Volks
nach damaligen Begriffen also sollte — ohne Dazwischenkunft der Fürsten —
in unmittelbarsten Verkehr mit der Majestät des Reichs, mit Kaiser und Kur¬
fürsten gebracht weiden; und zu den Competenzc» derselben sollte namentlich
die Sichtung und Verarbeitung jenes von den kaiserlichen Gerichten einzusen¬
denden Materials für eine neue Rechtsgesetzgebung im Reiche, zugleich aber auch
die Feststellung eines Militärbudgets für Unterhaltung des obenerwähnten
stehenden Neichsheeres sowie die Bestimmung über die Mittel der zu bildenden
Reicbskriegskasse zu Frankfurt a. M. und die Abnahme der Rechnungen über
diese Fonds gehören, — also, um mit Ausdrücken unserer Zeit zu reden,
zwei ganz parlamentarische Aufgaben: eine gesetzgeberische und eine finanz-
controlirende.
Allein Cusanus blieb hierbei nicht stehen. Er wollte die Macht des Kaisers
auch noch durch eine andere wichtige Reform erweitert und gekräftigt wissen,
welche zugleich dazu dienen sollte, die geistlichen Reichsfürsten wieder mehr und
mehr ihrem eigentlichen Berufe, dem geistlichen, ungestörter zurückzugeben. Ueber-
zeugt einerseits von den Nachtheilen des weltlichen Regiments der Bischöfe (den
Papst nicht ausgenommen) für Kirche, Reich und Unterthanen, und andererseits
bestrebt, ihnen ihre fürstliche Würde, ihre äußere Stellung im Reiche und in
der Kirche zu erhalten, kam er auf den Gedanken, die Kirche zwar im Besitze
dieser Rechte und Einkünfte aus dem weltliche» Gebiete und den Bischöfen ihre
rcichsfürstlichc Würde zu belassen, die eigentliche Regierung und Verwaltung
ihres weltlichen Gebietes aber (das des Papstes nicht ausgenommen) auf den
Kaiser übergehen zu lassen, der sie durch Beamte, die er im Einvernehmen mit
den betreffenden geistlichen Würdenträgern zu ernennen haben würde, führen
ließe. Es leuchtet ein, welchen Zuwachs hierdurch die kaiserliche Macht gewonnen
haben würde.
Wenn wir diese Reformvorschläge des Nikolaus Cusanus überschauen, so
scheinen sie auf den ersten Blick ziemlich eng an das historisch Gegebene sich
anzuschließen. Cusanus will nicht den Einheitsstaat, geschweige denn den erb¬
lichen Einheitsstaat. Er läßt die Kurfürsten mit ihrem wichtigen Wahlrechte
und ihrer fundamentalen Stellung im Reiche ebenso wie die große Versamm¬
lung der Reichsfürsten, den alten Reichstag, diese beiden Unterbaue der kaiser¬
lichen Spitze im Wesentlichen unangetastet und giebt sich ausdrücklich für einen
Conservativen insofern aus, als er es sich zum Verdienste anrechnet, daß er in
seinen Vorschlägen zu neuen Zuthaten aus das historisch bereits Begründete,
Dagewesene und Bewährte zurückgehe.
Das that er allerdings. Cusanus wollte die alte Kaisermacht, wie sie >»
der glänzenden Zeit des Reichs gewesen, annähernd wiederherstellen und glaubte
hierbei ganz historisch zu verfahren. Aber er übersah, daß zwischen jener so¬
genannten Blüthezeit des Reichs und des Cusanus eigenen Tagen ebenfalls
eine Zeit, ebenfalls mit historisch Gewordenen lag, das sich nicht ohne Weiteres
beseitigen oder hinwegläugnc» und ignoriren ließ: die Zeit der Entwickelung
der Landeshoheit der deutschen Reichsstände. Er geht nun zwar nicht soweit,
diese ganz wieder aufheben zu wollen, er will sie nur wieder beschränkt wissen
zum Vortheile des Ganzen; aber dies immerhin in einem Grade, welchem die
damaligen Zeitverhältmsse entschieden ungünstig waren. Nur einem glücklichen
Eroberer mit Feuer und Schwert wäre es möglich gewesen, diese bereits groß
gewachsene und in der Richtung der Unabhängigkeit von der Kaisergewalt offen¬
bar noch fortwährend weiter strebende Landeshoheit wieder in das von Cusanus
vorgeschlagene Unlerordnungsverhältniß zurückzudrängen. Nachdem sie einmal
aus letzterem sich im Lause zweier Jahrhunderte fortgesetzt emporgehoben, mußten
die Schwierigkeiten einleuchten, dieser immer breiter angeschwollenen Strömung
der Zeit mit so tief eingreifenden Aenderungen, wie Cusanus sie vorgeschlagen,
ohne Feuer und Schwert erfolgreich entgegenzutreten. Ließ sich wohl erwarten,
daß die geistlichen Fürsten ohne Nöthigung ihre weltliche Regierung aufgeben
würden? Ließ sich wohl von sämmtlichen Reichsfürsten annehmen, daß sie dem
Kaiser die Mittel zur Unterhaltung eines stehenden Heeres, das auch gegen sie
selbst gerichtet sein konnte und sollte, ohne Kampf und Niederlage bewilligen,
ihm die alleinige Besetzung der zwölf obersten Gerichtshöfe des Reichs, die auch
über sie selbst Recht sprechen sollten, ohne Weiteres zugestehen und ruhig zulassen
würden, daß zwischen rhnen und dem Kaiser ein zweiter Reichstag aus ganz
anderen Elementen zusammengesetzt und mit wichtigen Kompetenzen betraut,
eingeschoben werde, bei dessen Erwählung ihnen keinerlei Mitwirkung gegönnt
war und aus welchen doch Geschäfte übergehen sollten, die bis dahin dem Reichs¬
tage der Fürsten zugefallen sein würden? Hatte nicht Kaiser Sigismund selbst
erst vor wenigen Jahren mit viel weniger weit gehenden Vorschlägen in der
Reichsversammlung sehr traurige Ersahrungen gemacht?
Und so geschah es denn auch. Die Vorschläge des Cusanus gelangten
weder zu seinen Lebzeiten, noch selbst im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte
zur Ausführung. Zwar war zu verschiedenen Zeiten ein neuer Anlauf zu dieser
und jener Reform der Reichsverfassung genommen, die zum Theil wenigstens
den Vorschlägen des Cusanus nicht unähnlich waren: es ward unter Maximilian
dem Ersten ein ewiger und unbedingter Landfriede verkündet, ein Reichskammer-
gericht und auch unter dem Namen des „Neichsregiments" ein — von dem
zweiten oder volksmäßigen Reichstage des Cusanus freilich wesentlich verschie¬
dener — ständiger Reichsrath neben dem Kaiser errichtet. Zu wirklichem Leben
indessen gediehen alle diese Schöpfungen nicht. Denn wenn in den Neligions-
spaltungen, welche die nun folgenden zwei Jahrhunderte erfüllen sollten, zeit-
wenig die Kaisermacht die Oberhand gewann, wie dies unter Karl dem Fünften
eine Zeit lang geschah, sanken jene reichsständigen Rechtsinstitute alsbald zur
Ohnmacht herab und das „Reichsregimcnt" ward bekanntlich wieder völlig auf¬
gehoben; sobald aber die Reichsstände siegten (und das war ja zum Heile des
deutschen Geistes das bleibende Resultat der Rcfvrmationskämpfe und des dreißig¬
jährigen Krieges) ward die Kaisermacht immer mehr zu einem bloßen Schatten
herabgedrückt; der westphälische Friede gab diesem Zustande die bleibende völker¬
rechtliche Weihe und erhielt das Reich in ihm, bis die großen europäischen Er¬
schütterungen der napoleonischen Zeit auch die leere Form noch zertrümmerten
und die einzelnen Bestandtheile des Reichs auch äußerlich als das hinstellten,
was sie längst schon geworden waren, als eine Reihe verbündeter selbständiger
Staaten ohne einheitliches Oberhaupt.
Wenn also nur der ein Staatsmann zu nennen ist, der seine Pläne den
zur Zeit gegebenen Möglichkeiten der Ausführung anpaßt, so ist Cusanus kein
Staatsmann gewesen. Denn seine Gedanken eilten seiner Zeit weit voraus.
Wenn aber der ein Prophet genannt zu werden verdient, dessen Vorschläge
nach Jahrhunderten doch noch zur Geltung und Ausführung kommen, so ist
Nikolaus Cusanus ein politischer Prophet im eminenten Sinne, denn seine
Gedanken hat das vierte der folgenden Jahrhunderte in wunderbarer Weise er¬
füllt und ist noch in ihrer Erfüllung begriffen.
Der Grundgedanke, der durch alle Betrachtungen und Vorschläge des Cu¬
sanus sich hindurchzieht, daß ein gesunder Staatskörper so organisirt sein müsse,
daß sei» Leben auf fortlaufender Uebereinstimmung zwischen Regierenden und
Regierten und zu diesem Zwecke die Gesetze auf der Zustimmung des Volks,
durch dessen erwählte Vertreter ausgesprochen, beruhen, daß den einzelnen Be¬
standtheilen ihre berechtigte Lebensäußerung und Entwickelung, allen eine fried¬
liche Ausgleichung der verschiedenen Interessen anstatt einer Bedrückung und
Erdrückung der Einen durch die Andern gesichert, das Ganze also von einer
wahrhaft innerlichen Concordanz anstatt einer mechanischen Einheit getragen
sei; — es ist dies derselbe leitende Gedanke, in dessen Verwirklichung bei aller
Mannigfaltigkeit im Einzelnen am Ende das ganze Streben unserer modernen
Staatskunst aufgeht.
Der Plan des Cusanus. die vaterländischen Rcchtsgewohnheiten zu sammeln,
in ein Gesetzbuch zusammenzufassen und dadurch vor der Ueberfluthung durch
das eindringende römische Recht zu schützen, zu damaliger Zeit nicht verstanden
noch beachtet, hat erst in diesem Jahrhundert — leider zu spät — die ver¬
diente Würdigung gefunden und die Früchte getrieben, die er jetzt noch treiben
konnte.
Der Gedanke des Cusanus ferner, die geistlichen Reichsfürsten ihrer welt¬
lichen Herrschaft zu entkleiden, ist in den staatlichen Umwälzungen an der Wende
des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts, freilich nicht in der von Cusanus
gewellten, auf den Vortheil der Reichsgewalt berechneten, dem Ganzen zu Gute
kommenden Weise, immerhin aber im Wege der Säcularisationen zur Aus¬
führung gelangt, und a» der einzigen Stelle, wo die weltliche Gewalt des
Kirchenfüistcn noch heute besteht, bildet ihre Aufhebung eine brennende Frage
unsrer Zeit.
Und wenn wir endlich die Borschläge des Cusanus zur Umgestaltung der
deutschen Reichsverfassung überblicken, seine Vorschläge zur Wiederherstellung
einer kräftigen und einheitlichen Reichscentralgewalt, zur Schöpfung eines aus
Volkselementen zusammengesetzten Reichstags mit wichtigen Functionen im Ge¬
biete der Gesetzgebung und Reichsfinanzen, zur Errichtung eines einheitlich aus¬
gebildeten stehenden Neichsheeres unter dem alleinigen Commando des Neichs-
oberhauptes und zur Unterhaltung desselben aus den kaiserlichen Zöllen und den
Beiträgen der Reichsstände in die gemeinsame Reichskasse, — so scheinen sie in
der That nach einem Schlummer von 400 Jahren gleichsam wieder erwacht und
auferstanden in dem, was in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland in
gleicher Richtung, wenn auch — entsprechend den veränderten Bedürfnissen —
mit veränderten Zielpunkten, mit immer neuem Drange erstrebt worden ist und
noch erstrebt wird.
Ich sagte vorhin, daß die Reformpläne des Cusanus zu seinen Lebzeiten
nur mit Feuer und Schwert durchzuführen gewesen wären. Nun, der entschei¬
dende Kampf mit Feuer und Schwert hat im verflossenen Jahre stattgefunden;
und heute stehen wir auf den Trümmern des alten Bundes, mitten in der
Arbeit des Neubaues. Möchte dieser auch in dem Geiste, wie Cusanus ihn ge¬
wollt, im Geiste eines wahrhaft innerlichen Ausgleichs der verschiedenen Inter¬
essen, in dem Geiste der Versöhnung sich vollenden! Und möchte endlich Niko¬
laus Cusanus auch darin als Prophet sich erweisen, daß er bei allen seinen
Planen als letztes Ziel immerdar das ganze, das ungetheilte und unzerrissene
Reich vor Augen hatte!
Cornelius ist todt. Hochbetagt, reich an Würden und Ehren aller Art ist
er hingegangen. genannt von allen, aber"'fast unbekannt dem nachwachsenden
Geschlecht, fast bei Lebzeiten vergessen in der Stadt,' in der er seine vollendet¬
sten Werke geschaffen und die ihn in den letzten Jahrzehnten den Ihrigen nennen
durfte. Keinem Meister der neueren Zeit, Thorwaldsen etwa ausgenommen,
kam sein Baterland mit so unbegrenztem Vertrauen entgegen und keiner mußte
so wie er erleben, daß die künstlerische Richtung der Lebenden sich weit von ihm
abwendend andere Pfade wandelte und kaum ein Zusammenhang mehr war
zwischen dem Volke, für das er geschaffen und ihm. der auf einsamer Höhe
einem verschollenen Riesengeschlechte anzugehören schien. Viel hat grade in
Berlin die Ungunst der äußeren Umstände dazu beigetragen; die herrlichsten
Werke des Meisters, die größten Denkmäler deutscher Kunst liegen zusammen¬
gerollt auf den Böden der Akademie oder stehen fast unzugänglich in enge
Räume eingepfercht. In der Nationalgalerie, mit deren Bau man jetzt beginnt,
werden sie zwar ihren Platz erhalten, aber kostbare Jahrzehnte sind verstrichen,
in denen sie dem aufwachsenden Künstlergeschlecht ein Leitstern hätten sein
können zu den erhabensten Aufgabe» der Kunst, in denen sie dem Volke, selbst
wenn es sie nur mangelhaft verstanden, doch das Bewußtsein wachgehalten
hätten, daß es von seinen Künstlern mehr zu fordern hat als die Befriedigung
einer vergnügungssüchtigen Sinnlichkeit. —
Was Cornelius geschaffen, wurde bereits zu seinen Lebzeiten als ein Ab¬
geschlossenes und wie in objectiver Ferne Verharrendes von den verschiedensten
Standpunkten aus besprochen, aber an dem fast noch offenen Grabe ist unsere
Aufgabe nicht, in einer Analyse seiner Werke tiefgehende Principienfragen aus-
zufechten; wir begnügen uns heute, einfach an die charakteristischen Züge seines
Lebensganges zu erinnern. — Peter Cornelius ist den 23. September 1783 als
Lohn des Akademieinspectors Aloysius Cornelius geboren. Bon der Akademie
wurde sein künstlerischer Beruf, der sich früh genug geltend machte, nicht aner¬
kannt, aber eine bessere Schule als an dieser herzlich verzopften Anstalt fand
er an den deutschen Bildern des 15. und 16. Jahrhunderts, welche damals bei
der Säcularisation der geistlichen Herrschaften von Wallraff und den Gebrüdern
Boisseree gesammelt wurden. Wie sich in dieser Zeit deutscher Erniedrigung
Denker und Dichter in die große Vergangenheit unseres Volkes vertieften, um
aus ihr neue Lebenselemente zu schöpfen, so griff auch Cornelius zu den zwar
herben, aber ernsten und keuschen Formen der altdeutschen Schule zurück.
Da er aber wohl fühlte, daß es dem bildende» Künstler schwerer sei als
dem Dichter, den Geist der verwöhnten Menge zu einer ihr fernstehenden Auf¬
fassungsweise hinüberzuleiten, so lehnte er seine ersten Arbeiten an bekannte
und verehrte Dichterwerke an. Vor allem die Zeichnungen zu Goethes Faust
waren die erste nationale That des Künstlers, durch welche er sich mit einem Schlage
von den Fesseln einer entnervten Convention frei machte. Er hat nicht nur die
seitdem feststehenden Züge für die Gestalten des gewaltigen Gedichtes geschaffen,
er hat auch in der strengen Art seiner Federzeichnungen den Weg betreten, den
er nie mehr verließ, nämlich allen äußerlich anreizenden Mitteln zu entsagen,
in mächtigen Zügen den Kern des Darzustellenden zu erfassen und alle Neben¬
dinge diesem unterzuordnen. Demselben originalen Geiste verdanken die Zeich¬
nungen zu der damals wieder bekannt gewordenen Nibelungensage ihre Ent¬
stehung, deren Titelblatt, 1817 vollendet, mit zum Gewaltigsten gehört, was
er geschaffen.
Im Jahre 1811 ging er nach Italien und vertiefte sich hier wie Overbeck
und seine Gefährten in die Werke der vorrafaelischen Malerei, aber nicht um
in ihnen die Grenzen für sein Schaffen, sondern vielmehr den Ausgangspunkt
zu finden, welchen die vollendete und in sich abgeschlossene Kunstweise der ita¬
lienischen Blüthezeit ihm nicht gewähren konnte. Das richtige Bewußtsein von
dem Wesen seiner Kunstrichtung führte ihn zur Frescomalerei, er war es, der
den preußischen Consul Bartholdi bestimmte, einen Saal seines Hauses von den
deutschen Künstlern mit Fresken ausmalen zu lassen, und der so eine Kunst¬
weise, die fast ganz erloschen war, wieder ins Leben rief. Aus der Geschichte
Josephs malte er die Traumdeutung und die Scene der Wiedererkennung. Bald
darauf entwarf er die Zeichnungen zu Dantes Paradies, die für einen Saal
der Villa Masfimi bestimmt waren, aber nicht zur Ausführung kamen, da er
1819 von der preußischen Regierung und dem Kronprinzen Ludwig von Bayern
zugleich gerufen, Rom verließ, um in Düsseldorf die Leitung der Kunstakademie
zu übernehmen und daneben die Säle der in München neu gegründeten Glyp¬
tothek auszumalen. Sofort schloß sich in Düsseldorf eine große Reihe begeisterter
junger Künstler an ihn an, aber noch größer wurde sein Wirken, als er 1820
gänzlich nach München übersiedelte. Hier schuf er die Fresken an den Wänden
und Decken im Göttcrsaal und Herocnsaal der Glyptothek, in der Ludwigskirche
und in den Loggien der Pinakothek. 1841 als Leiter der künstlerischen Unter-
nehmungen Friedrich Wilhelm des Vierten nach Berlin berufen, entwarf er eine
Reihe kleinerer Werke, wie den Glaubensschild, die Zeichnungen zu Tassos be¬
freiten Jerusalem, Glasmalereien für die Dome in Schwerin und Aachen. Mit
jugcndfrischer Kraft aber begann er nun die Zeichnungen zu dem großen Ge¬
mäldecyklus, welcher die neben dem Dom projectirte Friedhofshalle der preu¬
ßischen Könige schmücken sollte. An der Ausführung der Cartons zu diesem
(ÜÄwxo santo arbeitete er bis zu seinen letzten Lebenstage»; am 6. März 1867
ist der Vierundachtzigjährige Greis verschieden. Ehrfurcht erfaßt uns vor dem
Niesengeiste, der mehr als 60 Jahre lang in immer steigender Kraft alle
höchsten Gegenstände der Kunst sich zu eigen macht, das classische Alterthum
und das Mittelalter, den heitern griechischen Götterhimmel und die Tiefen der
christlichen Mystik mit gleicher gestaltender Klarheit durchdringt, jede Aufgabe
mit hingebender Begeisterung selbständig schöpferisch erfaßt und mit einziger
Hoheit und Ursprünglichkeit durchführt.
Aber noch eigenthümlicher wird die Bedeutung des Meisters, wenn es ihm
wirklich gelungen ist, was er in seinen großen Bildercyklen erstrebte. Es ge-
nügte ihm nicht, die poetisch, kirchlich oder historisch überlieferten Stoffe bildne¬
risch zu gestalten; ihm sollte die Kunst den Ausdruck einer bestimmten Gesinnung,
ja sogar einer bestimmten Gedankenentwicklung abgeben. Und der Ausdruck
seiner ihm heiligen Gedanken ist ihm von solcher Bedeutung, daß er die formale
Seite der Kunstübung dieser rei» idealen mit Entschiedenheit nachsetzt. Zur
Erreichung seines künstlerisch-priesterlichen Zweckes, den Beschauer in seine
erhabenen Gedankengänge hinauszuziehen, fordert er von diesem entgegenkom¬
mende Arbeit. Sie ist um so nothwendiger, als er von der überlieferten sym¬
bolischen Bedeutung gewisser Mythen und Gleichnisse abweicht und die ihm ge¬
eignet scheinenden selbständig und selbstdichtend verwendet.
Wer möchte es unternehmen, die Bilder des Lampo sa.meo ohne die von
dem Künstler ausgehende Erklärung zu deuten? Und kaum wird es auch möglich
sein, über die nicht seltenen Willkürlichkeiten der Zeichnung hinwegzusehen. Cor¬
nelius verschmähte hier mit vollem Recht jede Art von verlockenden Schein.
Nicht das behagliche Wohlgefallen darf man bei seinen Werken suchen, welches
etwa eine leere Viertelstunde ausfüllen und den flüchtigen Blick an eine ge¬
schmückte Wand fesseln soll. Wie der Priester in der Kirche will Cornelius
den ganzen Menschen, und zwar Menschen, denen es heiliger Ernst ist nicht
blos um tre Kunst, sondern zugleich um sich selbst.
Erklärt es sich daraus, wenn die Unfähigkeit des Verständnisses und der
Hingabe, die es bedingt, bei so vielen Beschauern sich verbirgt hinter dem Tadel
einzelner Abweichungen von der Natur, welchen wir in seinen Gestalten be¬
gegnen, so ist es eine peinliche Wahrnehmung, daß diese erhabensten Schöpfungen
des Meisters gemeinhin als nur Auserwählten zugänglich behandelt werden, daß
man sich oft begnügt, seine Bilder zu loben, aber nicht zu betrachten. Unser
Publikum droht an ihm die Unbill zu erneuern, die Lessing in seinem bekann¬
ten Wort über die Popularität Klopstocks bezeichnet; ja man hat mit dieser
Analogie Ernst machen und Cornelius in der bildenden Kunst die Stelle anwei¬
sen wollen, die der erhabene Sänger des Messias in der Literatur einnimmt.
Sollen wir aber vergleichen, so darf nur Dante genannt werden. Ebenbürtig
dem Weckruf des geheimnißvollen Jtalieners bedeut/t die Kunst des Heimge¬
gangenen Heroen in ihrer vermeintlich esoterischen Größe mit all ihren Harlem.
ja selbst mit dem, was man ihre Fehler nennt, die Prophetie auf eine Geistes-
entwicklung. welche gewaltig genug ist, Jahrhunderte zu erfüllen, und in deren
göttlichen Zug, sei es genießend, sei es verstehend, sei es mitarbeitend einzu¬
treten zu den höchsten Aufgaben gehört, die uns gestellt sind. In diesem Sinne
Herr Dr. Noth fordert in seiner Schrift „Achtzig Tage in preußischer Ge¬
fangenschaft und die Schlacht bei Trautenau, 2. Aufl. Prag. 1867" S. 45
Herrn Wachenhusen, nachdem er aus dessen Schilderung (ein „Tagebuch vom
östreichischen Kriegsschauplatz") einen Auozug gegeben hat, zur Angabe von
Namen derjenigen preußischen Ehrenmänner auf, welche damals aus den Fen¬
stern oder überhaupt aus den Häusern schießen sahen. Das ist
bis jetzt, so viel ich weiß, noch nicht öffentlich geschehen, und zum Theil wohl
natürlich; denn Wachenhusen wird keinen Zeugen finden können, der für seine
Schilderung <zu bloc Zeugniß ablegt. Diese kann nur aus übertriebenen Zei¬
tungsnachrichten zusammengestellt sein; sie entbehrt offenbar der authentischen
Berichte von Augenzeugen, aus jedem Worte, jeder Zeile spricht dagegen die
ausmalende Phantasie des Erzählers. Damit wird aber die Thatsache an sich
noch nicht umgestoßen; sondern es giebt wirklich viele wahrheitsliebende Män¬
ner, die bezeugen können und bezeugen müssen, daß die preußischen Truppen
aus den Fenstern der trautcnauer Häuser beschossen wurden und zwar nicht
etwa von östreichischen Militär; denn solches wurde nicht in der Stadt gefun¬
den. Ich könnte Herrn Dr. Roth das Haus malen — so lebhaft steht es mir
noch vor Augen —, aus welchem auf uns, die wir in der nächsten Straße
von Pcnschnitz her zwischen Aupa-Brücke und Kapelle postirt waren, der erste
Schuß siel: es war das Eckhaus vis-a-vis der ebengenannten Kapelle; dasselbe
wurde infolge dessen, da die Thüren verrannt waren, erbrochen und durch¬
sucht. Nachher habe ich in kurzen Zwischenräumen noch etwa fünf oder sechs
Schüsse fallen gesehen. Dies war keine Augentäuschung, wofür Herr Dr. Noth
die Sache erklären will; eine solche kann wohl einem Einzelnen Passiren/ nicht
aber Hunderten von Menschen, die gewohnt sind mit scharfem Auge um sich
zu blicken. Oder glaubt Herr Dr. Noth, daß gebildete, unbefangene Männer,
deren es auch in den niederen Chargen des preußischen Militärs eine große
Anzahl giebt, sich plötzlich durch die Erfindung eines Einzelnen in solcher Weise
werden bethören lassen, daß daraus ein „großes Lügengewebe" entsteht? Also
weil er, der an jenem Tage, wie er selbst schildert, so vielfach in Anspruch ge»
nommer und beschäftigt war, diese Thatsache nicht selbst beobachtet und nie¬
manden unter der trautenauer Bevölkerung gefunden hat, der sie eingesteht,
deshalb macht er uns alle, die wir sie doch gesehen haben und mit unserm
Ehrenworte bezeugen können, zu Erfindern einer Lüge, zu Mitschuldigen an
einem „gräulichen Lügengewebe?" Herr Dr. Noth hätte besser gethan, Worte,
die er der Oeffentlichkeit übergiebt. mehr aus die Wagschale zu legen. Ebenso
gut wie die gleichfalls früher verbreitete Nachricht von dem Gießen mit sieden¬
dem Oel und Wasser, woran jetzt hier kaum ein gebildeter Mensch mehr glaubt,
nachdem viele von den Gebildeten unter uns. die wir die Affaire mitgemacht
haben, sich bemüht hatten, solchen falschen Nachrichten entgegenzutreten —
ebenso gut wie sie in der einfachen Von ihm (S. Is) dargelegten Thatsache ihren
Grund hat!, beruht auch jene Mittheilung auf Facken, nur daß beide durch die
Fama ins Unglaubliche vergrößert sind. Aber vollständig läugnen läßt sich die
Sache nun und nimmer. Und was schließt nun Herr Dr. Noth aus seiner
Annahme? „Das Ziel der halsstörrigen und boshaften Anschuldigungen," sagt
er, „von Seile einzelner Soldaten war offenbar die Erreichung eines Freibriefes
zur Plünderung"; serner „man wollte die Unstlchhalligkeit und Unwahrheit der
vorgeschützten Gründe nicht kennen, um die Schuld an dem augenfälligen un¬
glücklichen Ausgange der Schlacht den Trautcnauern aufzubürden." Der erste
Passus kann natürlich nur auf die unteren Chargen des preußischen Militärs
sich beziehen, der andere dagegen geht auf die höheren Offiziere. Ich habe dar¬
auf Folgendes zu erwiedern:
g.ä 1. Herr or. Roth muß uns für Kroaten halten. Er scheint gar nicht
zu wissen, daß in den niederen Stufen des preußischen Heeres die Zahl der
Berufssoldaten eine äußerst geringe ist im Verhältniß zu den übrigen, die zu
Hause eine bürgerliche Stellung einnehmen; er scheint serner nicht zu wissen,
daß unter den letzteren ein nicht unbedeutender Theil den gebildeten Ständen
angehört z. B. Referendarien, Lehrer, Studenten, Kaufleute :c,, und daß diese
auf die ungebildete Classe einen bedeutenden moralischen Einfluß ausüben.
Selbst den rohesten Leuten, deren es natürlich überall einige giebt, wäre ein
solcher Gedanke damals kaum gekommen; denn wen» der Krieg die Menschen
«und Verwildert, so waren wir am 27. Juni noch nicht 24 Stunden jenseits der
Grenze; mithin konnte dieser Zustand nicht eingetreten sein. Falls aber wirk¬
lich einer oder der andere daraus hätte kommen können, so hätten die vielen,
denen Recht und Wahrheit am Herzen lag. einen solchen Gedanken nicht auf¬
kommen lassen, einer solchen Erfindung keinen Beifall geschenkt. Wenn in
Trautenau hin und wieder geplündert ist. hat die Stadt dieses Unglück lediglich
sich selbst zuzuschreiben und der Erbitterung, die durch das wirtlich wahnsinnige
Schießen das preußische Militär ergriffen hatte. Ich bin übrigens bei Plün¬
derungen nicht Augenzeuge gewesen. D.ih aber bei der ganzen Affaire nicht
mehr als fünf Trautenauer ums Leben gekommen sind, bezeugt bei der gerecht¬
fertigten Aufregung solcher Nothwehr eher die Humanität der preußischen Sol¬
daten, als etwas Anderes.
aä 2. Auf den zweiten Passus läßt sich objectiv nur das Factum anführen,
daß die Schüsse aus den Fenstern der Stadt Trautenau in den Vormittags¬
stunden etwa zwischen 11 und 1 Uhr sielen, während das Gefecht für Preußen
bis gegen 3 Uhr vortrefflich stand.
Daß übrigens diese Beschuldigungen noch nicht von Andern widerlegt sind,
liegt wohl daran, daß die Schrift Herrn Dr. Nvths hier confiscire und daher
den Wenigsten bekannt sein dürfte.
Am L. März ist der erste Wassergang der Parteien in der großen Frage
bei überfüllten Tribünen geschehen. Fünf Stunden etiva dauerte die Verhand¬
lung, ihr Gesammteindruck war für alle Unbefangene ein günstiger. Dank der
Ablehnung eines Antrags, der die Borberathung des Entwurfs einem Ausschuß
überweisen und damit die Plcnarverhandlung um mehre Wochen verschoben
haben wollte, kam der Berathung auf Seiten der Betheiligten wie der Un-
beteiligten eine ungeschwächte Spannung und Theilnahme entgegen; kein Red¬
ner, der etwa mit halbfertigen Ansichten in den Ausschuß eingetreten wäre,
fühlte sich durch frühere Erklärungen beengt und kein Hörer wurde ermüdet
durch Wiederholungen schon bekannter Programme, wie das sonst infolge des
halböffentlichen Charakters der Ausschußverhandlungen unvermeidlich war. Der
Ton der Debatte, das Gepräge der Reden war des Hauses und der Sache
würdig. Die Polemik war bestimmt und ehrlich, aber frei von Leidenschaft und
persönlicher Gereiztheit, die Haltung der Hörer bei regsten.Interesse gemessen
und zu stürmischen Affectäußcrungen wenig geneigt. In der Verhandlung offen¬
barte sich bei allen Theilen ein guter Wille zur Verständigung auf annehmbaren
Grundlagen und bei den meisten auch guter Glaube an das Gelingen des
nationalen Werkes.
Es war überraschend, wie principielle Gegner in dem Vertrauen zusammen¬
trafen, daß sowohl eine vollständige Ablehnung der Borlage in der Gestalt, in
der sie gemacht worden, keineswegs ein Scheitern der' Einheitssache bedeute, daß
vielmehr dem ersten mißlungenen Versuche unfehlbar ein zweiter folgen werde,
der ganz gewiß gelingen müsse. Sie beide bauten theils auf die Wucht der
Lage und 'den Drang der Nation, theils auf das Ministerium, an dessen
Neigung zu Compromissen die Einen, an dessen Energie die Anderen appel-
lirten.
Der Abgeordnete Tochter begann die Debatte mit einem ausführlichen
Vortrage, in welchem er das Glaubensbekenntniß der National-Liberalen in der
vorliegenden Frage entwickelte. Die Rede dauerte über eine Stunde, zeichnete
sich durch Klarheit und Schärfe aus, war aber ruhigste Deduction und hatte
keine zündende Wirkung. Seinen Ausgangspunkt gab der Redner etwa so an:
Wir müssen an das Wert des Vcrfassungsbaues mit der Resignation heran¬
treten, daß wir zunächst nichts Abschließendes leisten, sondern nur ein Gerüst
hinstellen können, dessen innere Vollendung der Folgezeit zu überlassen ist, aber
wir müssen daran festhalten, keine Bestimmungen zu treffen oder gut zu heißen,
die eben diesem Ausbau den Weg verlegen oder ihn in unheilvolle Bahnen
drängen müßten. Das Letztere würde geschehen, wenn der vorliegende Entwurf
unverändert angenommen werden sollte.
Hierauf wirft Referent einen Rückblick auf die Freiheitsbestrebungen der
Kammern in den deutschen Klein- und Mittclstaatcn, die darum stets so ziellos
verliefen, weil sie, so lange die Großmächte absolutistisch regiert wurden, gleich¬
zeitig um die Einheit zu ringen hatten und in dem steten Gegenspiel zwischen
Anspannung und Erschlaffung ihre Kraft verbrauchten. „Erst durch die preu¬
ßischen Reichsstände," sagt Dahlmann einmal, „kann dem constituiioncllen System
in Deutschland ein gesicherter Ausbau werden." Preußen ist ein constitutioneller
Staat geworden, die ungeheuren Erfolge des letzten Sommers haben ihn zur
Basis der deutschen Einheit gemacht und die Verfassung, die jetzt geschaffen
werden muß, darf nicht durch die innere Politik die Scheidewand befestigen,
welche augenblicklich Rücksichten der äußeren zwischen Süden und Norden auf¬
gerichtet haben.
Neben mancherlei kleineren Mängeln des Entwurfs hebt er als einen ent¬
scheidenden die Bestimmung des Normalbudgets heraus. Mit dem Rechte der
Geldbewilligung fleht und fällt die verfassungsmäßige Freiheit im Staat;
nimmt man es hinweg, „so kann man das Ständichaus zuschließen" (Dahlmann).
Von dieser ihrer wichtigsten Ueberlieferung dürfen sich die Liberalen nicht allzu
weit entfernen. (Hört!) Von den Erfahrungen des budgetlosen Regiments kann
dagegen kein stichhaltiger Einwand hergenommen werden. Solches wagt eine
Regierung, die sich sonst ihrer verfassungsmäßigen Schranken bewußt ist, nur
in ausnahmsweisen Fällen wie hier; in untergeordneten Dingen wird sie, trotz
etwaiger absolutistischer Neigungen, stets die nothwendige Verständigung mit
der Volksvertretung suchen. Versetze man sie aber in die Lage, daß sie ver¬
fassungsmäßig einer solchen nicht bedarf, so wird sie sich auch in unter¬
geordneten Dingen durch nichts gebunden erachten und auch hier wie dort ab¬
solutistisch sein.
Sollte die Regierung in der Frage des Normalbudgets einer Nachgiebigkeit
abgeneigt bleiben, so würde sie sich der Gefahr aussetzen, den ganzen Entwurf
wenn nicht vom Reichstag, so doch aller Wahrscheinlichkeit nach vom preußischen
Abgeordnetenhause abgelehnt zu sehen. Die militärische Einheit Norddeutsch¬
lands, auf die ihr am meisten ankomme und die durch die drohende Weltlage
geboten sei, werde sie dessen unbeschadet durch das bereits im Gang befindliche
System der Militärconventioncn befestigen und ausbauen können.
In Erwägung der dringenden sachlichen Motive, die für eine Verständigung
sprechen, sei er zu einem Kompromiß auf der Grundlage bereit, daß er gegen
ausdrückliche principielle Anerkennung des Budgctrechts als Übergangsbestim¬
mung auf eine bestimmte kürzere Zeit ein Pauschquantum für das Bundesheer¬
wesen bewillige, falls die Negierung eine eingehende Vorlage über die Organi¬
sation des norddeutschen Heeres und deren Kosten machen würde.
Auf diesem Boden werde derselben ein Zusammenwirken mit den Liberalen
von ganz Deutschland möglich werden und dieses nicht blos die Lösung der
großen nationalen Frage ebnen, sondern auch die Staatsmacht Preußens wesent¬
lich erhöhen. Referent schließt mit dem Wunsche, daß die königliche Regierung
durch Erklärung gleich hier und durch spätere Vorlagen in diesem Sinne die
schweren Wolken zerstreuen möchte, welche einem großen Theile des preußischen
Volkes die Freudigkeit der Zustimmung zu dem großen Werk der Neugestaltung
Deutschlands getrübt haben.
Die folgende Rede des Abgeordneten Waldeck war belehrend für die Art,
wie ein Theil der entschiedensten preußischen Demokratie den deutschen Beruf
Preußens anschaut. Seine Ausführungen erinnerten uns lebhaft an das Wort
Virchows: „Unser aller Absicht ist ja doch, die Hoheuzollem auf den Thron
der Hohenstaufen zu setzen." Er ist Gegner des Entwurfs, oder vielmehr
„Vertrages", wie er ihn ausdrücklich nannte, nicht etwa, um, wie unsere süd¬
deutschen Radicalen sagen würde», Deutschland vor Preußen, sondern um
Preußen vor Deutschland zu retten; nicht aus Liebhaberei für Kleinfürsten, mit
denen einen „ewigen" Bund zu-schließen die Herren Diplomaten doch Wohl
nicht im Ernste beabsichtigten, auch nicht aus Begeisterung für die „provinzielle
Selbständigkeit", für welche Herr v. Wächter wirken möchte, sondern weil er
nicht will, daß Preußen mit seinen vierundzwanzig Millionen durch fünf Mil¬
lionen Bundesgenossen, die nicht nach dem Wunsche ihres Herzens, sondern
durch ein Spiel des Zufalls unter so und so viel kleine Herrscher vertheilt
worden sind, majorisirt werde. In dem Bundesrath sieht er die künstlichen
Mehrheiten des alten Bundestags wieder ausleben zu Ungunsten der gebührenden
Geltung des preußischen Staates. Dies Project will nicht einen Bundesstaat,
sondern einen Großstaat neutralisirt durch den Bundesrath und in
dem B u n d es f eit h err n gewissermaßen den Beamten dieser Organisation.
Statt dessen will Referent den König von Preußen als consiitutioncllen Chef
der Centralgewalt anerkannt wissen. Konstitutionell vor allem solle der neue
Bund werde», sonst sei er alle Anstrengungen nicht werth, sei er das nicht, so
unterscheide er sich Von Oestreich nur durch die Gleichartigkeit seiner Bevölke¬
rung. Der Vertrag hebt das verantwortliche preußische Kriegsministerium und
den preußischen Landtag auf, und wie wenig auch jene Verantwortlichkeit und
dieses Recht thatsächlich bisher besagt haben mag, es ist doch ein großer Unter¬
schied, ob man ein Recht aufgiebt oder es wegen fehlender Organe augenblick¬
lich nicht ausüben kann.
Referent will statt des Bundesrath im Einklang mit dem Wunsch der
oldenburgischen Regierung ein Staatcnhaus und statt eines Zollparlaments ein
Parlament mit ungeschmälerten Budgetrecht. Im andern Fall mißbrauche man
den Namen Parlament und werde die Süddeutschen, die recht gute Verfassungen
mit gesichertem Budgetrecht haben, ganz gewiß nicht „locken". Darum erklärt
sich Referent gegen den Entwurf, wie er vorliegt und gegen jedes Jnterimisti-
kum. Werde Beides abgelehnt, so bleibe das Militärbündnis! mit den
norddeutschen Regierungen gleichwohl geschlossen, die äußere Sicherheit sei un-
geschädigt, aber kein wesentliches.Recht sei geopfert.
Die Rede des Abgeordneten Miqriöl (Osnabrück) machte einen tiefen
Eindruck; sie vereinigt die Wärme süddeutscher mit der schlagenden Kraft nord¬
deutscher Beredsamkeit und wurde von wiederholtem lautem Beifall der Ver¬
sammlung getragen. Gleich seine ersten Worte, er werde den Entwurf nicht
vom preußischen, sondern vom deutschen Standpunkt aus prüfen und beurthei¬
len, wurden mit lautem Bravo aufgenommen. Dann fuhr er fort: „Der
jüngste Entwicklungsgang zur deutschen Einheit hat nicht allen Idealen des Ge¬
müths entsprochen, die in Deutschland gang und gebe waren; es hat sich ge¬
zeigt, daß nicht mit den gewöhnlichen Mitteln der Ueberzeugung, sondern nur
durch machtvolle Anstrengung der Kräfte des preußischen Staates, durch Ge¬
walt und Krieg der Boden für ihre Verwirklichung geschaffen werde» konnte.
Viele Ideale sind verletzt, viele Hoffnungen zu Schanden geworden und von
dem Vcrfassungscntwurfe gilt ein Gleiches. Aber er entspricht der politischen
Basis, auf der er entstanden ist. Er tritt uns rauh und eckig entgegen, befrie¬
digt weder ein praktisches noch ein theoretisches Ideal, er ist nicht zu vergleichen
mit den Verfassungen von Amerika und der Schweiz, noch mit der Reichsver-
fassung von 1849, er stell! keinen Einheitsstaat, keinen Vundesstaat und keinen
Staatenbund hin: er ist originell wie die ganze Lage, die er formuliren soll.
Keine Copie. Große Völker copircn nicht, in großen Verhältnissen sind sie neu
und original.
Referent will den Entwurf beurtheilen nicht nach historischen Reminiscenzen
und theoretischen Idealen, sondern vom Standpunkt praktischer Brauchbarkeit,
und praktisch brauchbar und praktisch nothwendig findet er insbesondere grade
diejenigen Bürgschaften der Einheit, durch welche der Entwurf über die Reichs-
Verfassung und die wissenschaftlichen Begriffe des Bundesstaates hinausgeht.
Hierauf betrachtet er die Bunbesvorleige einmal nach der räumlichen Be¬
grenzung, die ihr zu Grunde liegt und sodann nach ihrem sachlichen Inhalt
und Charakter.
In ersterer Beziehung spricht er sich mit den schon oben angeführten
Worten über die Mainlinie aus und sagt sodann: „Locken werden wir die
Süddeutschen nicht durch einzelne Freihcitsbcstimmuugen; nur die starke Feste
eines großen Staatswesens, die im Staride ist, nicht blos die drinnen sind
sondern auch die Außenstehenden machtvoll zu schützen, wie sie dieselben denn
auch schon jetzt schützt, und die bereit ist, die weiten Pforten aufzuthun, sv-
balo es Zeit ist, nur eine solche starke Feste kann uns Süddeutschland erobern.
Und wie Italien über den Frieden von Villafranca, so werden auch wir über
den von Nikolsburg zur Tagesordnung übergehe»." — In letzterer Beziehung
warnt er vor der Anschanung. die sich in dem geringschätzigen Ausdruck „Zoll-
Parlament" kundgebe. Wenn wir ein gemeinsames Bürgerrecht, Einheit >n Ge-
werbe- und Vcrsichernngöwescn. Civilproceß, Handels- und Wechselrecht, Zoll-
und Steuerwesen, wenn wir einen einheitlichen großen Markt für Deutschlands
Producenten und Consumenten erhalten, so sollen wir nicht herabsetzend von
„Zvllparlamenl und weiter Nichts" reden. Unsere Kinder werden nicht begreisen,
wie wir uns einem solchen Fortschritt gegenüber so kühl Verhalten konnten.
Sehen wir nur einmal rückwärts in die Vergangenheit und wir finden, welch
kolossaler Fortschritt damit gemacht ist (Beifall). R. möchte auch das bürge»
liebe Recht, das Strafrecht und das Hypothekenrecht in die Einheit der Gesetz¬
gebung mit hineingezogen wissen.
Gegen die Bestimmungen des Entwurfs hat R. dreierlei Bedenken. Das
erste knüpft sich an den Artikel, in welchem es beißt: der Bundesrath beschließt
über Aenderungen der Verfassung mit Vz Mehrheit. Auf die Frage, ob der
Bundesrath für sich allein, ohne Mitwirkung des Reichstags dieses Recht
haben solle, antwortet der Ministerpräsident Gras Bismarck, welcher rechts von
der Nednervühne sitzt, durch eine verneinende Kopfbewegung.
Ein zweites Bedenken hat er gegen das Bundcssteuermescn, welches auf
die mittelalterliche Kopfsteuer zurückgreift. Eine Steuer, welche 100,000 Bremer
ebenso trifft als 100,000 Bewohner des thüringer Waldes, ist unmöglich. Wir
brauchen eine Reicdsstcuer und je mehr wir einsehen, daß wir uns vorläufig
noch mit der Anlage behelfen müssen, desto ernstlicher haben wir uns nach ver¬
fassungsmäßigen Bürgschaften umzusehen, die uns die demnächstige Einführung
einer Reichssteuer sichern. Das führt den Redner zu seinem dritten und größten
Bedenken, der Bedrohung des ständischen Geldbewilligungsrechts.
„Man kann einen neuen Staat durch siegreiche Schlachten auf die Bühne
werfen, aber ihn zu befestigen ohne die Zufriedenheit des besonnenen Kerns
der Nation, das ist heute wie ehedem unmöglich." (Beifall.) Wir sind ent¬
schlossen, der Einheit jedes Opfer an Freiheit zu bringen, das wahrhaft nöthig
und wahrhaft nützlich ist. aber wir läugnen, daß das Opfer des Budgetrechts
nothwendig oder nützlich wäre. Ein Parlament wird nationalen Zwecken gegen¬
über niemals kargen, der Particularismus. der die Phrase der Freiheit auf den
Lippen, und Sondcrinteressen im Herzen trägt (Beifall und Zischen), wird nie¬
mals wieder daS Uebergewicht erlangen, ein Parlament aber ohne Budget¬
recht würde die Saat der Conflicte, des Haders, der Zwietracht über Deutsch¬
land hinstrcuen.
Er stehe dem Entwürfe nicht als nörgelnder, unzufriedener Kritiker, sondern
mit patriotischem Stolze gegenüber, aber dem unnatürlichen Opfer eines so we¬
sentlichen Rechtes könne er das Wort nicht reden, und er habe das Vertrauen
zu der Regierung, der alle Parteien lassen müßten, daß sie mit großer Weis¬
heit und Energie den Boden für ein neues Deutschland geschaffen, daß sie eben
diesen Boden nicht wieder werde preisgeben wollen in dem Gefühl: „Was du
jetzt dem Volke entziehst, wirst du ihm auf die Dauer doch nicht vorenthalten."
Abgeordneter Michelis (Kempen) erklärt, vor dem „Praktischen" (wie
es die Parteien, jede in ihrem Sinne verständen) habe er als denkender Men¬
schenfreund wenig Respect. Für einen preußischen Abgeordnete» gebe es nur
einen praktischen Punkt, die Gewissensfrage: darfst du der preußischen Ver¬
fassung, die du beschworen hast, etwas vergeben?
Nur die offenbarste Sophistik könne läugnen, daß der Entwurf das Grund-
recht dieser Verfassung klar und widerspruchslos aufhebe. Er wolle seinen Eid
nicht brechen und wolle ebenso wenig, daß die Preußen der neuen Landestheile
eine verstümmelte, entnervte, entseelte Verfassung erhielten. „Was nützte es uns,
wenn wir die ganze Welt gewonnen und nähmen Schaden an unserer Ver¬
fassung?"
Noch vier Redner sprachen; die Abgeordneten Dr. Rhe (Hamburg) und
Robben gegen den Entwurf, in dem der Eine die deutschen Verfassungen
ermordet, der Andre die deutschen Völker mediatisirt fand, die Abgeord¬
neten v. Gerber und Wagener für denselben. Der Erstere erkannte die
Mängel desselben an, erklärte aber, daß er die Verantwortlichkeit einer princi¬
piellen Opposition gegen denselben nicht zu übernehmen wage, der Letztere trat
in principieller Schärfe für alle seine Theile ein, lehnte jeden Kompromiß und
jede Uebergangsbestimmung ab. Prosaisch sei der Entwurf, statt von Grund¬
rechten, rede er von Eisenbahnen und Telegraphen, statt von Menschenrechten,
von dem billigen Transport der Kohlen und Hülsenfrüchte. aber er sei in all
seiner Nüchternheit der concrete Niederschlag weltgeschichtlicher Ereignisse, deren
Consequenzen die conserVative Partei schon viele Opfer gebracht habe, und
denen anch die Liberalen früher oder später folgen müßten, es komme nur
darauf an, ob mit gutem oder bösem Willen. Seine Ausführung wiederholte
die allbekannten Ansichten der conservativen Partei von dem ^oll tai^ere
des Militäretats überhaupt und der Unmöglichkeit einer neuen Verständigung
mit 22 selbständige» Regierungen insbesondere; daneben sprach N. zwei bemerkens¬
werthe Aufforderungen aus, eine an die deutschen Kleinfürstcn, denen er wünschte,
daß sie, je länger desto mehr, das Geheimniß einsehen möchten, weshalb ein
Lord Palmerston und ein Lord Derby mehr bedeuten als einer von ihnen,
die noch immer nicht einsehen wollte», daß ihre wahre Stelle, ihr rechter Platz
in dem Oberhause eines großen Gemeinwesens sei, und die andere an die Li¬
beralen, die er erinnert, daß auch in Preußen „die brennenden Leidenschaften
früherer Tage in der Unermeßlichkeit des allgemeinen Stimmrechts zu erlöschen
angefangen haben, daß die große Masse anders denke als die Parteien, die bis¬
her hinter ihnen gestanden, daß sie nur in zwei Punkten politisch d. b. em¬
pfindlich sei: im Herzen d. h. in ihren religiösen Interessen und im Magen
d. h. in ihrer wirtschaftlichen Lage.
Durch die Fürsorge, welche der Entwurf den materiellen Interessen
zuwende, habe er die Masse in ihrer ganzen Breite und Tiefe bereits ge¬
wonnen. —
11. März. — Wer der heutigen Fortsetzung der Generaldebatte beigewohnt
hat. wird sich des Gefühls schwerlich entschlagen können, daß er Momente von
einer gewissen geschichtlichen Größe erlebt hat, und wer aus eigner Erfahrung
noch nicht wußte, wie sich groß angelegte Verhandlungen eines Parlaments
Von dem Stammeln der nationalen Idee in der „Landtagsstube" eines Klein¬
staats unterscheiden, der hat es bei dieser Gelegenheit unfehlbar gelernt.
Von den Reden der Abgeordneten Köster, Grvvte, v. Goldberg abgesehen,
machte die Debatte einen wahrhaft imposanten Eindruck, Nach Laster, der
in seiner scharfsinnigen geistvollen Weise mir ähnlichen Vorbehalten über den
Entwurf sprach wie Toaste», ergriff Braun ans Wiesbaden das Wort.
Seine wiederholt von rauschendem Beifall unterbrochene Rede bewies wie die
des Abgeordneten Miquöl vom vorigen Sonnabend, mit welch einer Fülle Von
Talent und gereifter Einsicht die preußische Landesvertretung durch die An¬
nexion vom vorigen Sommer bereichert worden ist. Die Männer, die ein
jahrelanger Kampf gegen Mißregiment und Verfassungsbruch gestählt hat, und
die in der segenlvsen Sisyphusarbcit, dem Winkeldespotismus Vernunft zu
predigen, nicht irre geworden sind in dem Glauben an die Zukunft unsrer Na¬
tion, die dürfen ein besonderes Gewicht beanspruchn, für ihre Stimme und
ihren Rath, und darum war es mehr als eine Phrase, wenn Braun seine
Rede mit den Worten schloß: „Stellen wir das Ganze über das Einzelne, seien
wir nicht mehr eine Nation von Dichtern und Träumern, die, wenn ihr einmal
das Glück die Stirn mit der wallenden Locke bietet, nicht zugreift, sondern
wartet bis es Vorüber ist und nur noch den kahlen Scheitel zeigt."
Braun findet den Entwurf weder correct, »och elegant, aber er fragt mit
Recht, was our'de uns der corrccteste und eleganteste nützen, wenn er wie die
Reichsverfassung von 1849 eben nur ein Stück Papier bliebe? Die Kritik,
der er die Vorlage unterzog, unterschied sich sehr erheblich von der seiner Vor¬
redner. Der Grund, weshalb dieselbe der Motive entbehrt, errieth er aus
einem Umstände, den nachher die Erklärungen des Grafen Bismarck bestätigten,
aus der Unmöglichkeit, aus 22 Regierungen einen übereinstimmenden Text da¬
für herzustellen. Wie es mit der Einmütigkeit der Contrahenten ausgesehen
habe, das verriethen hier die Protokolle mit ihren Klauseln und Vorbehalten,
„diese Eierschalen, die dem Küchlein des Entwurfs ankleben". Als die Aufgabe
des Parlaments bezeichnet er die Pflicht, darüber zu wachen, daß von den ver¬
fassungsmäßigen Rechten des deutschen Volks bei ihrem Transport aus den
Landtagen in den Reichstag nicht allzuviel verlöre» gehe, und als das geeig¬
netste Mittel, gleichzeitig den Kern dieser Rechte zu retten und dem Verfassungs¬
werk die Bundesgenossenschaft der Nation zu sichern, empfahl er statt der Matri-
cuiarumiage die Einführung einer allgemeinen unmittelbaren Neichssteuer,
welche sich nicht die „Nömermonate" der Landesfürsten aus der Zeit des Ver¬
falls, sondern den „gemeinen Pfennig" aus der Zeit der Blüthe des alten
Reichs zum Vorbild nehme und deren Erhebung jedes Jahr der Bundesgewalt
durch den Reichstag bewilligt werden müsse.
Unmittelbar nach dem Abgeordneten Groote, während dessen Rede die
Abgeordneten unter vielem Geräusch ab- und zugingen, erhob sich unter tiefster
Stille des ganze» Hauses Graf Bismcuck zur Vertheidigung der Vorlage. Den
Geist seiner alt lautem Brcivo begleiteten Rede zeichnen wir am besten, wenn
wir zwei kurze Stellen c>ne dem Eingang und aus den Schlußworten hierher
setzen: „Wird der Entwirf angenommen, so ist für las deutsche Volk die Bahn
zur Einheit freigemacht, und wir dürfen dem Genius unsrer Nation vertrauen,
daß sie ans Ziel gelangen wird" und schließlich: „Arbeiten wir rasch, setzen
wir Deutschland in den Sattel, reiten wird es schon selber können." Ob man
dem Entwurf den Namen einer „Verfassung" geben oder versagen wolle, sei
ihm gleichgilug; hervorgegangen sei er aus der Absicht, die Widerstandskräfte,
an denen bisher die Einheitsbestrebungen gescheitert seien, möglichst wenig her¬
auszufordern, aber gleichzeitig das Minimum dessen fest zu begrenzen, was die
Einzelexistenzen der Einheit zu opfcui hätten. Nachdem er den Einwürfen,
welche demselben vom unitcnischcn und demokratische» Standpunkt gemacht wor¬
den, entgegnet, daß die Berücksichtigung vielleicht sehr wünschenswerth, aber
unter den gegebenen Umständen »lebi erieichbar sei, zerstört er die Illusion des
Abgeordneten Michelis, welcher gemeint, dies Ministerium werde sich auch nach
Ablehnung dieser Vorlage, ohne Volksvertretung zu helfen wissen, durch die
bestimmte Erklärung, daß er, der sonst seinem Fürsten und seinem Lande seine
Dienste »>e versagt habe, in diesem Falle sie versagen und die Hebung des
Chaos, das dann solgen müsse, denen überlassen werde, die es verschuldet.
"
Die Einwendungen des „parlamentarischen Particularismus wogen nicht
schwerer, als wenn die mecklenburgische Ritterschaft um dieses oder jenes Be¬
denkens willen nicht mitspielen wolle; im Allgemeine» aber weise er den Ver¬
dacht zurück, als ob die Regierung sich von der constitutionellen Entwicklung
Deutschlands lossagen und das Parlament benutzen wolle, um im Kampf der
Parlamente unter einander den Parlamentarismus aufzureiben. Die Rechte
der Völker sollten so wenig als die der verbündeten Fürsten leiden und nichts
liege der Dynastie und der Regierung Preußens ferner als d>c großen Ge¬
fahren ihrer europäischen Stellung durch ein Umschlagen in wilde Reaction noch
zu vergrößern. Nur für ein begrenztes Uebergangsstadium solle die Exi¬
stenz des Bundeshecres nicht von der Willkür der Landtage abhängig sein, bis
der Bund innerlich in Fleisch und Blut verwachsen sei.
Mit Süddculschl^and werde sogleich nach Abschluß der norddeutschen Bun¬
desverfassung die Errichtung, eines gemeinschaftlichen Zollparlaments an¬
gestrebt werden; die Einheit Deutschlands aber für den Fall eines auswärtigen
Angriffs sei bereits diesseits und jenseits des Mains gesichert. —.'
Wir gehören zudenen, die aus dieser Rede die Bereitwilligkeit einer
lohnten Verständigung aus annehmbaren Grundlagen heraushörten und hier¬
nach deren Zustandekommen mit der wahrscheinlichen Mehrheit der zu dem
twestenschen Compromiß Geneigter in der Hauptsache für gesichert halten. Die
Specialverhandlung wird lehren, ob wir darin nach der einen oder andern Seite
das Nichtige getroffen haben oder nicht.
Durch den Auftritt zwischen den Abgeordneten v.Münch Hausen und
dem Ministerpräsidenten nahm die Debatte ganz überraschender Weise noch eine
sehr ernsthafte dramatische Wendung. Der bekannte Sprecher jener hannover-
schen Deputation, die sich seiner Zeit um die Erhaltung der Welfenkrone be¬
mühte. um sich „in hoffnungsloser Ergebung" von König Wilhelm zu verab¬
schieden, nahm mitten in einer Auseinandersetzung über den Verfassungsentwurf
Gelegenheit, wegen des angeblichen Bruchs der'Kapitulation von Langensalza
und des Verfahrens der preußischen Militärbehörden geaen die Anhänger des
Welfcnthums bitter Beschwerde zu führen.
Den Ruf „zur Sache!" welcher den Redner von der Rechten her unterbrach,
bändigte der Präsident, der sich' weigerte den Redner zu unterbrechen, einmal
weil seine Empfindungen Anspruch hätten geschont zu werden, und sodann weil
das Verfahren Preußens die öffentliche Discussion nicht zu scheuen brauche.
Es wäre nicht gut gewesen, hier einen Märtyrer des Welfenthums zu schaffen
und einer verlorenen Sache durch unnöthige Härte ein Relief zu geben, das sie
nicht verdient.
Hatte Münchhausen mit einer zuletzt vor innerer Erregung bebenden Stimme
gesprochen, so antwortete der Ministerpräsident in einem Tone, dem man an¬
merkte, wie er nur mühsam gezügelt war. Er erklärte die Behauptung, Preußen
habe die Kapitulation von Langensalza gebrochen für eine unwürdige Lerlaum-
dung; nur die Auslegung eines sophistischen Advocaten könne jener re>n mili¬
tärischen Convention die Deutung eines Staatsvertrags geben und den Schutz,
der dort dem Privateigenthum des Königs zugesagt sei, auf dessen gesammten
Besitz ausdehnen, während doch widerspruchslos lediglich das gemeint gewesen
sei, was derselbe im Lager mit sich führte. Der Vertragstreue Preußens stelle
die Königin Marie gewiß das beste Zeugniß aus, die fortfahre in preußischem
Lande unter dem Schutz einer Macht zu wohnen, mit welcher ihr Gemahl noch
immer keinen Frieden geschlossen und deren Hof zum Deckmantel von Intriguen
diene, die Preußen auf die Dauer nicht dulden könne. Seit Hannover ange¬
fangen habe, die alte naturgemäße Bundcsfreundschaft zu Preußen zu verlassen,
habe er wiederholt dem Grasen Platen gesagt: Fürchten Sie preußischen Ehr¬
geiz, so werden ^le als treuer Bundesgenosse ihn am sichersten entwaffnen:
alliiren Sie sich aber mit unseren Feinden, dann wäre der preußische Minister,
der die Gelegenheit, diesen Staat zu beseitigen, verabsäumte, ein Verräther an
Preußen und Norddeutschland. Gemäß dein Dünkel, mit welchem Gott so
Viele Fürsten, und der Unkunde, mit der er so viele Diplomaten geschlagen,
habe der Hof von Hannover, nachdem Preußen die äußerste Langmuth geübt,
sich mit Oestreich, alliirt im Vertrauen auf dessen 800.000 Mann und nach
erlittener Niederlage sich gewundert, daß Preußen die Sache so ernst genommen.
Nachdem er Preußens Existenz mit auf das tödtlichste bedroht, beklage er sich
über schlechte Behandlung, als ob es nicht so ernst gemeint gewesen sei. Nach
einigen Worten über die fortdauernden Agitationen der Welfenpartei schloß der
Redner: Fordern Sie uns auf diesem Wege nicht weiter heraus, Sie werden
einer Energie begegnen, die nicht mit sich spaßen läßt. —
12. März. Die heutige dritte Verhandlung über die norddeutsche Bundes¬
verfassung stand unter dem maßgebenden Einfluß der gestrigen Rede des Grafen
Bismavck. Die Erklärungen, daß die Regierung weit entfernt sei, das consti-
tutionelle Recht des Volkes auf einem Umwege eliminiren oder auch nur kränken
zu wollen, daß ein specialisirtes Budget auch über den Militäretat dem Reichs¬
tag vorgelegt und daß dieselbe nur während einer begrenzten Uebergangsfrist
gegen Aenderungen gesichert bleiben solle, welche das Bundesheer in seinem
Bestände in Frage stellen würden , konnten ihre Wirkung um so weniger ver¬
fehlen, als, wie sich schon am ersten Tage der Debatte zeigte, die Bereitwillig¬
keit zu einer Verständigung aus Grundlage unerläßlicher Zugeständnisse unter
den besonnenen Mitgliedern des Reichstags allgemein war. Der Boden der
ganzen Debatte war damit wesentlich verschoben und der Abgeordnete Bennig-
sen hatte darum eine sehr dankbare Aufgabe, als er in einer ausgezeichneten
Rede, die den Mittelpunkt der heutigen Sitzung bildete, die Hauptmomente
jener Eröffnungen zusammenfassend beleuchtete und die Thatsache im Einzelnen
constatirte. daß die bisherigen Gegner sich bei weitem näher gekommen seien,
als anfangs vorauszusehen gewesen. „Sechs Jahre." schloß er, „haben die
nordamerikanischen Freistaaten nach Abschluß ihres Unabhängigkeitskriegs ge¬
braucht, um ihre Verfassung festzustellen; einigen wir uns in den nächsten
Monaten über eine Verfassung für Norddeutschland, so müßten wir an unserem
Vaterland verzweifeln, wenn es uns nicht auch gelänge, in der Hälfte jener
Zeit eine Verfassung für das deutsche Reich zu Stande zu bringen/' Statt
einer Zergliederung der heutigen Reden, die sich auch dann nicht empfehlen
würde, wenn wir den Raum dazu hätten, geben wir eine kleine Blumenlese
des BemerkcnswertKesten daraus.
Der Abgeordnete Michaelis (für die Vorlage) nannte den im Entstehen
begriffenen oeuischen Staat den Staat der allgemeinen Wehrpflicht und diese
die Wehrbarmachung der deutschen Cultur und die beste Bürgschaft des mittel¬
europäischen Friedens.
Der Abgeordnete Schulze-Delitzsch (gegen die Vorlage) verlangte, daß
das Ministerium der That, welches dem Ministerium der moralischen Eroberungen
gefolgt sei, sich seinerseits in ein Ministerium der moralischen Eroberungen ver¬
wandele, nur um diesen Preis sei die seltene Bürgerkrone feil, die dem Mini¬
sterium Bismarck winke.
Der klerikale Abgeordnete v. Ma limkr odi fand, das Preußen des Jahres
1867 sei nichts als das alte Preußen mit etwas breiterer Schulter, breiterer
Taille und einem leichten deutschen Rock; das Wort Von der 600jährigen
Leidensgeschichte Deutschlands verstehe er nicht, denn am Anfang dieses Zeit¬
raums stehe Radolph Von Habsburg, der die Raubritter ausgerottet habe;
worauf Graf Bismarck erwiederte, er habe vom Sturz der Hohenstaufen und
der Zerrüttung des Reichs datirt, welche verschuldet worden sei durch den Ab¬
fall der Welsen und den Sieg der Ultramontanen. (Beifall.) Von vier säch¬
sischen Abgeordneten erklärten sich zwei (v. Zehner, Gebert) für und zwei (Wigard
und Heubner) gegen die Vorlage, v. Zehner protestirte energisch gegen die
Anschuldigung des Particularismus, Gebert gestand, erst seit der Rede des
Grafen Bismarck. die er ein politisches Ereigniß nennen möchte, fühle er sich
heimisch in dem Hause, Wigard bezeichnete den norddeutschen Bund als einen
absoluten Staat, umbrämt mit einem constitutionellen Mäntelchen, das seine
Blöße nicht decke und Heubner verlangte Fortschaffung der Mainlinie, 'damit
sich nicht eine Kluft bilde, die das Blut (!) unserer Söhne und Töchter nie¬
mals ausfüllen werde und damit nicht der Genius des Vaterlandes trauernd
sein Haupt verhülle und' wie so mancher Deutsche heimathlos aus einem deut¬
schen Ausland in das andere ziehe. Der Redner sprach mit einer Stentorstimme,
die sich bei den letzten Worten in einen wimmernden Klageton verlor, so daß
man an die „Reichsthräne" des frankfurter Parlaments erinnert wurde.
Der Schleswig-holsteinische Abgeordnete S eb l alte n bekannte sich als einen
strammen Anhänger des „edlen" Herzogs von Augustenburg, beklagte die bei¬
spiellose Erschütterung des monarchischen Princips durch die preußische Regie¬
rung von Gottes Gnaden und meinte, die Hansestädte erfreuten sich nicht ihres
blühenden Handels, wenn — es früher eine deutsche Marine gegeben hätte!
Der Bundescommissar, Geh.-R.v. Sa öl gu y wies den Angriff auf S. M.
den König mit Entschiedenheit zurück und versprach die Bemerkung über die
Marine bei der Specialdebatte zu erwidern, es sei dies eine Aufgabe, auf die
er sich freue.
Heute erfolgte nach einer vierstündigen Verhandlung der Schluß der Ge¬
neraldebatte über den Entwurf der norddeutschen Bundesverfassung. Gegen
denselben sprachen noch die Abgeordneten Schaffrath. Duncker (Berlin).
Grün brecht, für denselben die Abgeordneten Graf Betbusi-Huc. Freih.
v. Vincke (Hagen) und Prosch. Wir müssen uns wiederum auf Hervorhebung
bemerkenswerther Einzelheiten beschränken. Der Abgeordnete Duncker hatte den
Ministerpräsidenten angegriffen, einmal weil er die centralistischcn Consequenzen
der oldenburgischen Erklärung nicht gezogen, um ein Bundesgericht und erne
verantwortliche Bundesregierung zu gründen, sodann weil seine heutige Haltung
mit seiner ersurter Pol'teil ganz >n Widerspruch stehe. Darauf' erwiederte
der Bundescommissar Graf B^ismarck zunächst, seine oft berührte Erklärung
der oldenburgischen Negierung si» den Schlußprvlvkollen niedergelegt) sei in
einer der Conferenzen in seiner Abwesenheit gemacht und mit einer an Ein¬
stimmigkeit grenzenden Mehrheit verworfen worden, so daß nachher niemand
mehr darauf zurückgegriffen habe; hinsichtlich seiner politischen Haltung zu Er¬
furt aber bekannte er Folgendes:
„Ich kam nach Elfurt mir jenen politischen Anschauungen, die ich vom
Vaterhause mitbrachte, geschärft in jener Zeit durch den Kampf gegen die An¬
griffe der Bewegung von 1848 auf Zustände, die mir Werth waren.
Im Jahr darauf. 18S1. bin rH in die Geschäfte der praktischen Politik
eingetreten und habe seitdem Gelegenheit gehabt, sechzehn Jahre hindurch Er¬
fahrungen an Stellen zu i>>»>mein, wo ich ohne Uriel Brechung mit der großen
und namentlich der deutschen Politik beschäftigt wai. Ich habe mich überzeugt,
daß aus dem Zuschauerraum die Welt auf den Bretern, die sie bedeuten, an¬
ders aussieht, als wenn man hinter die Coulissen blickt, und ich habe an mir
selber wahrgenommen, daß man als Dilettant und ohne das Gefühl einer
schweren persönlichen Verantwortlichkeit die Politik anders treibt, als wenn man
sich der vollen Schwere jedes Schrittes, den man thut, bewußt ist. Ich habe er¬
kannt, daß viele der Größen, mit denen meine ersurter Politik gerechnet hatte,
gar nicht vorhanden waren, daß das Zusammenleben mir Oestreich, wie es mir
nach den Erinnerungen der heiligen Allianz vorschwebte, nicht möglich war,
weil das Oestreich, mit dem wir rechneten, in der Zeit des Ministers Schwar¬
zenberg überhaupt nicht existirte.
Im Uebrige» schätze ich mich glücklich, nicht zu den Leuten zu gehören, die
durch Jahre und Erfahrungen nichts lernen." (Lebhafter Beifall.) '
Hierauf hielt Abgeordneter v. Vincke (Hagen) eine glänzende, mit Heiter¬
keit und Beifall förmlich überschüttete Rede für die Vorlage und gegen die Par-
ticularisten (v. Münchhausen. Schleiden, V. Malimkrodt). welche» Letzteren man
ihre Stoßseufzer habe gönnen müssen, gemäß dem altdeutschen Rechrsgrundsatz,
daß der Berurtheilte am letzten Tage seines Lebens noch genießen und sagen
dürfe, was er wolle. Mit Freuden habe er dagegen wahrgenommen, wie die
sächsischen Abgeordneten sich in die neue Lage gefunden hätten. Unter stürmi¬
schem Bravo fragte er, wie es nur möglich gewesen sei, daß in einer Stadt,
die geziert sei mit den stolzen Erinnerungen des siebenjährigen und dös Frei¬
heitskrieges, in einer Versammlung, die die Helden der Siege in Böhmen und
am Main zu Mitgliedern zähle, jemand wagen konnte, von Rücksichten zu
reden, die Deutschland bei Lösung seiner heiligsten Angelegenheiten auf das
Ausland zu nehmen habe? In einer englischen oder französischen Versammlung
wäre eine solche Stimme durch allgemeine Entrüstung zum Verstummen genö¬
thigt worden. Der Abgeordnete v. Zehner finde, der Entwurf der norddeut¬
schen Bundesverfassung sei mit der Hand am Degen geschrieben worden; er
nehme das Wort in anderem Sinne auf, auch die Versammlung, die den Ent¬
wurf zu ihrem eigenen machen werde, werde es thun die Hand am Degen! —
Mit dem Gedanken, die Verständigung ist gesichert, verließen wir
Als am 11. December v. I. der Telegraph die Kunde in die Welt trug:
„Am Morgen sind die letzten Franzosen abgezogen; Rom ist ruhig," zitterte
der Gedanke durch die Gemüther, daß die Weltgeschichte um eines ihrer großen
Daten reicher geworden sei. Nicht Wenige mochten dabei denken, daß wenn
nicht heute, so doch morgen die Nachricht von großen überraschenden Ereignissen
jener ersten auf dem Fuße folgen müsse. Allein Rom blieb ruhig: die Bevöl¬
kerung entsprach den Anforderungen, die zunächst an ihren politischen Tact ge¬
stellt wurden. In ihrer Hand lag die Entscheidung, ob der Abzug der Fran¬
zosen das Signal zu einem ephemeren Pulses'oder der Ausgangspunkt für eine
definitive Auseinandersetzung zwischen dem italienischen Staate und dem Papst¬
thum werden sollte. Seit dem 11. December steht, kein französischer Soldat
auf dem Boden des Kirchenstaats und noch ist keinen Augenblick die Ordnung
gestört worden; die Aufreizungen Mazzinis sind wirkungslos geblieben, der
Papst residirt wie zuvor im Vatican. das alte Räderwerk der kirchlichen Ver¬
waltung thut noch immer seine Dienste, und seit drei Monaten trägt die rö¬
mische Bevölkerung mit musterhafter Geduld ein Regiment, das sie jeden Tag
zu stürzen im Stande wäre, ein Regiment, das ihr verhaßt ist, und das fast
eingestandenermaßen jede Möglichkeit einer Verbesserung ausschließt.
Denn dies gehört mit zum Merkwürdigsten in dieser merkwürdigen römi¬
schen Frage, daß das Papstthum keinen Versuch gemacht hat, sich in der Be¬
völkerung diejenige Stütze zu suchen, die ihm durch den Abzug der Schutzmacht
entrissen ist, nicht den mindesten Versuch, seiner Negierung auch nur einen popu¬
lären Anstrich zu geben. Seit dem Briefe an Edgar Ney im Jahre 1849 ist
Napoleon nicht müde geworden, den heiligen Stuhl zu Reformen in der Ver¬
waltung zu ernähren, welche allein die Möglichkeit eines Bestandes des Kirchen¬
staates sichern könnten. Noch nach dem Abschluß des Septembervertrags hat
es Frankreich nicht an Rathschlägen in diesem Sinn fehlen lassen. Aber das
Einzige, was die römische Regierung that, war die Bildung einer eigenen kleinen
Armee, offenbar mehr auf die Besorgung des Sicherheitsdienstes berechnet, als
auf den kriegerischen Schul) der staatlichen Selbständigkeit. Es war grade das
Nvthdüntigste, unerläßlich auch für eine kurze Uebergangszeit. Ist der Gedanke
wirklich auch im Vatican schon vorherrschend, daß der jetzige Zustand, der d.is
Papstthum auf seine eigenen Mittel beschränkt, nur von vorübergehender Dauer
sein !omne? Fast muß man es glauben. Denn wenn es jeden Versuch poli¬
tischer Reformen von sich wies, so ist nur eine doppelte Erklärung möglich.
Entweder es besorgt — in Erinnerung an die Ersahrungen von 1847 und
1848 — daß jede Reform, die doch vor allem in der Einführung des Laien-
regirnenis in die verschiedenen Zweige der Verwaltung bestehen müßte, nur der
erste Schritt zur völligen Säcularisirung, nur eine Waffe in der Hand der
Annexionspartei wäre, eine Anwendung des Satzes «int ut 8unt, ant von
»int, die doch schwerlich vom unerschütterlichen Glauben an die Zukunft be>
gleitet ist, sondern weit eher einer fatalistischen Ergebung in das Unvermeidliche
gleicht. Oder aber das Papstthum verzichtet auf den Versuch, den gegenwär¬
tigen Zustand zu conserviren, weil es von der Unmöglichkeit einer Fortdauer
des Kirchenstaats überzeugt, seine Rettung auf einem ganz andern Weg zu
suchen entschlossen ist. In beiden Fällen ist der Verzicht auf Reformen gleich
bezeichnend. Er enthält das Geständnis?, daß niemand eine Dauer des gegen¬
wärtigen Zustands hofft. Rom ist ruhig, weil der Papst und die Römer in
der That vollkommen einig sind darin, daß seit dem 11. December ein prekäres
Provisorium besteht, während dessen die Wege zu einer gründlichen Lösung des
römischen Problems zu suchen sind, daß aber diese Wege nur durchkreuzt wür¬
den durch gewagte Verfassungsexperimente von der einen, durch sinnlose Auf¬
standsversuche von der andern Seite. Mit andern Worte»: die Entscheidung
liegt nicht zwischen dem Papst und den Römern, sondern zwischen der Kirche
und dem italienischen Staat. Das römische Problem ist in diesem Augenblick
nicht eine Verfassungsfrage, auch nicht eine Territorialfrage, sondern ein kirchen¬
politischer Streit im höchsten Stil, dem der Umstand, daß er eben auf diesem
Boden, im Herzen Italiens angefochten wird, universale Bedeutung verleiht.
Nichts beweist mehr, welche thatsächliche Herrschaft die italitnis.be Regierung
jetzt schon in Rom und über die Römer ausübt, als eben die Ruhe der ewigen
Stadt. Denn darüber wird sich niemand täuschen, daß diese weder der Auto¬
rität des heiligen Baders noch den in Türken verkleideten Streitern des heiligen
Stuhls zu verdanken ist, sondern der berechnenden Selbstbeherrschung der Römer
und den Befehlen des Nationalcomite-s, das seinerseits nach den Weisungen der
italienischen Regierung handelt. Es ist immerhin der Fall denklwr, daß unter
Umständen der Regierung wenig mehr daran gelegen ist, eine Erhebung zunächst
in den Provinzen und dann auch in Rom selbst zurückzuhalten, es ist möglich,
daß sie eines Tags gelassen zusieht, wie der Stein ins Rollen kommt, und
nicht auf die Länge wäre sie wohl im Stande die Elemente der Ungeduld zu
zügeln. Aber in diesem Augenblick, so lange die Versuche zu einem friedlichen
Abkommen mit Rom nicht aufgegeben sind, müßte sie ihre ganze Autorität auf¬
bieten, um die Ruhe aufrecht zu erhalten. So lauge sie verhandelt, muß die
Macht, mit der sie verhandelt, in voller souveräner Freiheit sich bewegen, eben
durch die loyale Haltung Italiens sollte die Curie über die Aufrichtigkeit ihrer
Absichten beruhigt und einem Abkommen zugänglich gemacht werden, und die
Römer waren es ihrerseits der florentiner Regierung schuldig, sie nicht bloßzu¬
stellen, so lange ein Abgesandter derselben in ihren Mauern weilte.
Tonellos Ambassade hatte in erster Linie keinen andern Zweck, als der
Curie Vertrauen in die Absichten Italiens einzuflößen und damit den Boden
für die eigcniliche Transaction zu bereiten. Sie ist nur die Einleitung zu dem
Werk des Ausgleichs, eine persönliche Captatio des Papstes, während die Ver¬
handlung selbst, dieser persönlichen Sphäre entrückt, zwischen dem Staat und
dem Episcvpat geführt zu werden scheint und andrerseits ein Gegenstand der
italienischen Gesetzgebung ist. Es sind also drei Momente dieser kirchenpoli-
tischen Action zu unterscheiden: die Sendung Tonellos als die Ouvertüre, als
erster Annäherungsversuch Italiens, sodann die principielle Auseinandersetzung
zwischen Kirche und Staat, endlich die praktische Anwendung davon auf das
Kirctengut. Daß es in letzterer Beziehung für den jungen Nationalstaat sich
zugleich wesentlich um ein finanzielles Interesse handelte, gab der ganzen Ver¬
handlung zwar den Charakter praktischer Dringlichkeit, hat sie aber zugleich nicht
wenig erschweren und verwickeln müssen.
Sollte nun die Sendung Tonellos ihre nächste Absicht erreichen, nämlich
das loyale Entgegenkommen der italienischen Regierung zu beweisen und wie¬
der Fühlung zu erlangen mit dem erbitterten und mißtrauischen, durch Bann¬
flüche und E'rcyt'litem compromittirten Vatican, so mußte er vor allem Träger
andrer Jnstructionen sein, als diejenigen waren, mit welchen sein Vorgänger
Vegezzi gescheitert war.
Man erinnert sich noch, welches der Gegenstand der Sendung Vegczzis
war und warum sie mißglückte. Die kirchliche Anarchie, die seit den Annexionen
in einem Theil des Königreichs eingerissen war, indem eine größere Anzahl
von Bischofssitzen unbesetzt blieb, hatte den nächsten Anlaß zu einer Verhand¬
lung mit Rom geboten. War es dem Königreich daran gelegen, daß jener Zu¬
stand ein Ende nahm, so schien noch mehr dem heiligen Stuhl daran liegen
zu müssen. In der That war es der Papst selbst, der durch seinen Brief an
Victor Emanuel die Hand zu einer Verständigung bot. Auch war man auf
dem Punkt, über die Bischofsfrage sich zu verständigen. Die italienische Regie¬
rung war namentlich bereit (was sie nachher wirklich ausführte), die vertriebenen
Bischöfe in ihre Diöcesen zurückkehren zu lassen, während die Curie nicht ab¬
geneigt war, wenigstens factisch eine Verminderung der Anzahl der Diöcesen
zuzugestehen; dagegen erwiesen sich beide Theile unversöhnlich in der Frage der
königlichen Prärogativen. Der Papst verlangte für die neu zu installirenden
Bischöfe ebenso hartnäckig die Aufhebung des Planet, des Exequatur und des
Eids, als der italienische Bevollmächtigte daran festhielt. Der Papst verlangte
also nichts weniger als einen principiellen Wechsel des Systems im Verhältniß
von Kirche und Staat. Die italienische Regierung verweigerte dies, sei es daß
sie damals wirtlich nicht den Muth hatte für dieses Zugeständnis,, sei es daß
sie hoffte, mit dem Herannahen der im Septembervertrag festgesetzten Frist werde
der Papst seine Forderungen herabsetzen. Und darüber zerschlug sich die Unter¬
handlung. Oder wollte der Staat sein letztes Zugestcindniß nur aufsparen für
eine höhere Gegengabe?
Inzwischen rückte der Termin des 12. December näher und näher. Die
Curie blieb so unbeweglich als je, dagegen war die italienische Regierung durch
den Septembervertrag moralisch verpflichtet, eine Aussöhnung mit Rom zu
suchen: blieb diesmal ein Brief des Papstes an den König aus, so war es an
ihr, die Initiative zu ergreifen. Erst wenige Tage vor dem Termin wurden die
Jnstructionen für den neuen Unterhändler fertig. Wie diese lauteten, konnte,
wenn überhaupt nach dem Scheitern Vegezzis ein Schritt vorwärts geschehen
sollte, nicht zweifelhaft sein. Bald erfuhr man, daß Tonello Träger der weitest-
gehenden Zugeständnisse sei. der Verzicht auf das Planet, das Exequatur und
den bischöflichen Eid ist die große Morgengabe des Königreichs Italien an den
heiligen Stuhl, das Opfer, das Italien einer Verständigung zwischen Kirche
und Staat zu bringen entschlossen war. Man durfte mit Sicherheit voraus¬
sehen, daß die Aufnahme des Ueberbringers solcher Concessionen, die an die glän¬
zendsten Zeiten des mittelalterlichen Papstthums erinnern konnten, die entgegen¬
kommendste sein werde. Allein ebenso sicher ist. daß damit nur ein erster Stein des
Anstoßes hinweggeräumt war. Allerdings gelang nun. immerhin nach viciwöchent-
lichen Verhandlungen, auch die weitere Aufgabe, sich über eine Anzahl Namen
für die erledigten Bischofssitze zu verständigen, und im Consistorium vom 19. Fe¬
bruar konnte der Papst zweiundzwanzig verwaiste Diöcesen wieder mit Seelen¬
hirten ausstatten. Aber diese Personenfrage war ja selbst nur ein untergeord¬
netes Moment. Der Gesandte Italiens stand gleichsam erst im Vorzimmer des
Vatican, die Intimität der labyrinthischen Gemächer desselben war ihm verschlossen.
Die Frage, warum der italienische Gesandte sich so lange in diesem Vor¬
zimmer aufhält, ist oft in Italien aufgeworfen. Man konnte annehmen, daß
bei dem beschränkten Charakter seiner Mission und bei ihrem versöhnlichen In¬
halt das Geschäft bald abgewickelt sein werde. Hatte er vielleicht nebenbei
noch andere vertrauliche Eröffnungen zu machen? Einer verbreiteten Lesart
zufolge hatte er wirklich den römischen Hof noch über gewisse Abmachungen zu
sondiren, die eine Annäherung des päpstlichen Staates an das Königreich auf
dem Gebiete der materiellen und der Verkchrsintercssen, des Zoll-, Post- und
Telegraphenwescns anbahnen sollten. Ausweichend, mit hinhaltender Zähigkeit
habe der Vatican solche Eröffnungen aufgenommen, und lebhaft ist darum die
italienische Regierung schon aufgefordert worden, ihren Vertreter nicht länger
in dieser Weise mißbrauchen zu lassen. Allein, wie es sich auch mit diesen
angeblichen Sondirungen verhalten mag. die fortdauernde Anwesenheit Tonellos
in Rom erklärt sich auf ganz zureichende Weise. Nicht blos daraus, daß es der
italienischen Regierung überhaupt erwünscht sein muß, während des gegenwärtigen
Zwischenzustandes in der ewigen Stadt vertreten zu sein. Sondern grade weil
der Auftrag Toncllvs nur einen beschränkten Umfang hatte, erlaubt er nicht
für sich eine endgiltige Lösung, sondern hängt noch von ganz anderen Factoren
ab. Der Verzicht auf die königlichen Prärogativen ist nicht ein Geschenk, wie
Souveräne sich unter einander Zelter und Vasen schenken. Er ist bestimmt,
den Beweis zu liefern, daß der Staat zu einem ganz anderen System gegen¬
über der Kirche überzugehen entschlossen ist, und er ist, mehr noch, selbst ein
Theil dieses Systems, der Anfang seiner praktischen Verwirklichung. Darin
liegt von selbst sein hypothetischer Charakter. Das Geschenk, das Tonello zu
überbringen hatte, ist, näher besehen, vielmehr ein Pfand, das für die loyale
Disposition der florentiner Negierung im Vatican niedergelegt wurde. Ein
wirkliches Geschenk wird es erst, wenn der große Grundsatz, dessen Ausfluß
es ist, der Grundsatz der kirchlichen Freiheit, nicht blos nach dieser, sondern
nach allen Seiten seine legitime Sanction erhalten hat. Erst nach der vor¬
läufigen Verständigung mit dem Vatican. die aber für sich noch wenig bedeutet,
konnte das Ministerium mit einem umfassenden Gesetzentwurf über die Frei¬
heit der Kirche hervortreten, aber erst nach der Erledigung dieser gesetzgeberi¬
schen Aufgabe, deren einzelne Theile überdies noch Abmachungen mit dem
Episcopat voraussetzen, kann dann wieder dasjenige definitiv ratificirt werden,
was Tonello zu den Füßen des Papstes niedergelegt und vielleicht von ihm
erreicht hat. Und da nun alle diese Verhandlungen ineinandergreifen, erklärt
sich auch, daß der italienische Bevollmächtigte noch immer in Rom verweilt.
Wird er abberufen, so ist dies ein Beweis, daß entweder der Versuch einer
Verständigung mit der Kirche gelungen oder wieder aufgegeben ist.
An dieser Stelle aber drängt sich die Doppelfrage auf: was bewog die
Curie, so unerbittlich beim Königreich Italien auf dem Verzicht von Rechten zu
beharren, die sie in allen anderen Staaten willig sich gefallen läßt? Und was
konnte andererseits Italien bewegen, Rechte hinzugeben, die grade hier kostbarer
und unerläßlicher schienen als irgendwo sonst? Damit erst eröffnet sich der Blick
in die Motive der großen Reform.
Die Curie pflegt auf die erste Frage zu erwiedern: Sonderbar, gutwillig
haben wir niemals den Staaten die Rechte zugestanden, die wir jetzt Italien
verweigern; wir gestanden sie zu, wenn wir mußten, wir fordern sie zurück,
wenn wir können. Allein dies heißt nur verschweigen, welchen specifischen
Werth für das Papstthum die völlige Freiheit der Bewegung grade in Italien
und grade bei den neuen politischen Verhältnissen hat. Der heilige Stuhl
hatte eine ganz andere Stellung den früheren italienischen Staaten, eine andere
gegenüber dem Königreich Italien. Was das Papstthum seit vier Jahrhun¬
derten zu verhindern suchte, die Bildung eines italienischen Nationalstaats, ist
nun Wirklichkeit geworden, trotz ihm und außerhalb seiner Sphäre. Diese
Lage enthält aber eine unmittelbare Bedrohung für die bisherige Position des
Papstthums, sowohl als weltlichen Fürstenthums wie als geistlicher Universal¬
macht. Es liegt die doppelte Gefahr nahe, daß der Papst seiner weltlichen
Herrschaft verlustig gehe und daß im Nationalstaat ihm nur noch die Stelle
eines italienischen Bischofs bleibe. Von diesen beiden Gefahren stellte sich aber
die erstere als unabwendbar, unvermeidlich dar; um so mehr galt es, sich gegen
die andere sicherzustellen. War das weltliche Fürstenthum nicht aufrecht zu
halten, so sollte dafür die geistliche Universalität des Papstthums gerettet, ja
womöglich in einer Erhöhung seiner geistigen Macht der Ersatz und mehr als
Ersatz für jenen Verlust gefunden werden. Der Erniedrigung in die Reihen
des Episcopats entging aber das Papstthum nur dadurch, daß der Kreis seiner
Action gegen jede Vermischung, gegen jede Berührung mit der staatlichen Sphäre
sichergestellt wurde. Der römische Bischof durfte in keinem Stück dem Könige
von Italien untergeben sein: nur so blieb er mehr als römischer Bischof. In
der vollständigen Unabhängigkeit vom König von Italien wahrte er sich seine
universale Stellung, ja die Möglichkeit eines neuen Aufschwungs. Um den
Verlust der weltlichen Herrschaft tragen zu tonnen und womöglich den Verlust
in Gewinn zu verwandeln, forderte die Kirche Freiheit vom Staat.
Und genau dasselbe letzte Motiv war es, wenn dieselbe Forderung von
Seite des Staats auftrat, und zwar liefen hier verschiedene Gesichtspunkte zu¬
sammen, welche diese Forderung unterstützten. Vor allem das Interesse der
freien Bewegung des Staats, das Interesse des bürgerlichen Fortschritts, aber
zugleich auch das Interesse einer inneren Erneuerung der Kirche, welche dann
für die Civilisation und die Aufgaben des Staats nicht mehr ein Hinderniß
sein würde; und auch der Gedanke schreckte nicht, daß eine solche Umwandlung
dem Institut des Papstthums neue Lebenskraft zuführen und neuen Glanz
verleihen würde. Denn vorwiegend sah man im Papstthum selbst ein wesent¬
lich italienisches Institut, das der Nation erhalten werden und dessen Glanz
auf die Nation selbst zurückfallen müßte. Das Papstthum in seiner jetzigen
Gestalt, dies stand freilich allen fest, war das eigentliche Grundübel Italiens.
Aber um das Uebel zu beseitigen, ohne doch die Interessen des Katholicismus
zu verletzen, schien kein anderes Mittel möglich, als das Papstthum auf seine
eigentliche Sphäre, auf seinen ursprünglichen Beruf zurückzudrängen, ihm aber
dafür auch diese Sphäre ganz zu eigen zu überlassen. Von dieser Seite also
bot sich die Freiheit der Kirche als das Mittel dar, der Vermengung des Welt¬
lichen und Geistlichen im Papstthum ein Ende zu machen und das bürgerliche
Rom für die italienische Nationalität zu erobern, während das kirchliche Rom
in seiner Souveränetät unangetastet blieb. Dies war wenigstens die Meinung
der politisch einflußreichen Parteien, während der Gedanke einer Vernichtung
des Papstthums immer nur Dogma eines kleinen Kreises war.
Es wäre grade im jetzigen Augenblick nicht ohne Interesse, geschichtlich zu
verfolgen, wie in den nationalen Bestrebungen Italiens von Anfang an das
kirchliche Element eine wesentliche Rolle gespielt hat, wie das eine nicht ohne
das andere hervorgetreten ist, und so der Jnstinct, wenn nicht das klare Be¬
wußtsein vorhanden war, daß das letzte entscheidende Problem doch immer das
römische sein werde. Man müßte zeigen, wie das Unterscheidende in den
politischen Parteien und selbst in den literarischen Richtungen von jeher wesent¬
lich eben das Verhältniß zu Rom war. Man müßte zurückgehen bis zu jenen
katholischen Kreisen in der Lombardei, die aus Opposition gegen den Josephi-
nismus der östreichischen Kirchenpolitik (benso die Sache des Papstthums führten,
wie dem Gefühl der Nationalität Antrieb und Nahrung gaben. Man müßte
an den noch bis in unsere Tage nachwirkender Einfluß Rosminis erinnern,
der lebhaft das „monströse System" der Nationalkirchen bekämpfte und die
völlige Befreiung des Papstthums von den Fürstcnbande» verlangte, aber frei¬
lich Freiheit nur der katholischen Kirche zugestand; an die Wandlungen Gio-
bertis, der anfing mit der Zurückforderung der mittelalterlichen Weltstellung
des Papstes und aufhörte mit dem Verlangen der Säcularisation des Kirchen¬
staates; an die ganze Bedeutung, welche die ncnguclsische Schule für die italie¬
nische Wiedergeburt hatte, an die kurze aber entscheidende Probe, welche das
Neuguclfcnthum auf dem heiligen Stuhle bestand, an die resultatlosen Verhand¬
lungen, welche dann während und nach der Revolution, zum Theil eben durch
Rosminis und Giobcrtis Vermittelung zwischen Piemont und dem Papstthum
geführt wurden, um die Forderungen des modernen Staats mit den Ansprüchen
Roms auseinanderzusetzen.
An diesem Punkt aber setzte nun die neue piemontesischc Politik ein, um
durch ein völlig neues System den Fortschritt, der ihr Lebensbedingung war,
zu erzwingen. Als alle Verhandlungen mit Rom fruchtlos waren, entschloß
sich der seiner Mission bewußte, keck aufstrebende Staat, auf dem Wege der
Gesetzgebung die Hindernisse hinwegzuräumen, welche die Kirche seiner Ent¬
wickelung entgegenstellte. Es war die glänzendste Zeit der piemontesischen Po-
init und Cavour ihre Seele. Durchgeführt wurde damals trotz der päpstlichen
Proteste die Abschaffung der exemten bischöflichen Gerichtsbarkeit. Aber auch
alle anderen Punkte, die Civilehe, die Aufhebung der Conscriptionsfrciheit der
Geistlichen, die Verminderung der Diöcesen, die Aufhebung der Klöster, die
Einziehung des Kirchenguts kamen damals schon zur Sprache und sind seitdem
wiederholt verhandelt und zum Theil gesetzlich erledigt worden. An diesem Weg
der Gesetzgebung hielt Piemont und sein Nachfolger, das Königreich Italien
seitdem fest: er war das Mittel, die nationalen Kräfte zu entfesseln und dem
modernen Staat freie Bahn zu schaffen. War die Curie nicht zu einer gut¬
willigen Trennung beider Gebiete zu bewegen, so wollte wenigstens der Staat
für sich seine Befreiung von den kirchlichen Banden durchsetzen. Es war bei
dem Widerspruch der Curie der einzige Weg zu Resultaten zu gelangen: nur
dazu reichte er nicht aus, dem römischen Problem näher zu kommen. Rom
antwortete nur mit Anathemen und Excvmmunicationen, es blieb aufrecht trotz
allen Verlusten. Gelang es dem Staat, seine Emancipation durchzuführen, so
war er doch von der Beseitigung des Grundübels so weit entfernt als zuvor.
Indem die Gesetzgebung einzig nach den Interessen des Staats verfuhr, war
es ihr selbstverständlich um die Freiheit des Siaats. nicht ebenso um die Frei¬
heit der Kirche zu thun, und indem der kirchliche Widerstand in das politische
Gebiet übergriff, sah der Staat umgekehrt sich genöthigt, auch in die geistliche
Sphäre beschränkend einzugreifen. So verhärtete sich der Widerstand der Kirche,
je weiter der Staat vorwärts ging, aber es erzeugte sich zugleich in den Ma߬
regeln des Staats und selbst in den gesetzgeberischen Experimenten ein Schwanken
in den obersten Principien, wie grade die Umstände und die Zweckmäßigkeits¬
rücksichten es mit sich brachten. Dieses Schwanken hat im Grunde bis auf die
jetzige Zeit gedauert, und es konnte nicht anders sei», so oft es sich nur um
einzelne Reformen, nicht um eine principielle Lösung handelte.
So oft freilich die Formel für eine principielle Auseinandersetzung gesucht
wurde, kennte man sie nur in der gänzlichen Trennung beider Gebiete finden.
Praktisch wurde die Frage zum ersten Mal im Jahre 1861. Bis dahin waren
es im Grunde immer nur Theorien und ideale Principien, mit denen man die
letzten Probleme berührte. Jetzt aber sollte es sich erproben, wie weit sie zu¬
reichend waren für eine Verwirklichung der Ausgaben, welche der Gang der
nationalen Entwickelung gebieterisch gestellt hatte. Als zu den Annexionen in
Mittelitalien auch noch der Anschluß der südlichen Provinzen gekommen war,
als der Zug der Revolution auch noch die letzten Schranken schien hinwegreißen
ju wollen und die Radicalen ungestüm Rom als Hauptstadt verlangten, war
der Augenblick gekommen, da der Staatsmann Italiens ein politisches Pro¬
gramm für die römiscte Frage zu entwickeln hatte. Man weiß, wie Cavour
unter diesen Umständen, wenige Monate vor seinem Tode, das Programm: die
freie Kirche im freien Staate formulirte. Hier reichten, das war ihm von
vornherein klar, die Mittel der Revolution und der Gewalt nicht aus. Er
war überzeugt, daß die Lösung nur in einer Versöhnung der Interessen des
Katholicismus und derjenigen der Nationalität bestehen könne. — Wenn es
uns gelingt, sagte er, die katholische Well ^u überzeugen, daß die Vereinigung
Roms mit Italien geschehen kann ohne daß die Unabhängigkeit der Kirche
darunter leidet, dann haben wir das Problem gelöst. Der Papst muß die
Majestät seines Apostolats bewahren, und es wäre das größte Unglück, wenn
der Verlust der weltlichen Herrschaft den entgegengesetzten Erfolg hätte. Die
Unabhängigkeit des Papstes läßt sich durch die Trennung der beiden Gewalten
erlangen, wenn die Trennung ki.>r und bestimmt durchgeführt ist. Das Papst¬
thum ruht auf einer viel festeren Grundlage und ist weit mehr geachtet, wenn
es sich blos auf seine gcisil ehe Autorität stützt. Die eifrigen Katholiken sollten
diese Trennung wünschen, da sie dem Katholicismus ein mächtiges Element der
Macht verleihen würde. Die Kirche w rd im Schooß des italienischen Volkes,
das wesentlich katholisch ist, die sichersten Bürgschaften finden.
Cavour verbarg sich nicht, daß dies zunächst nur Hoffnungen seien; ernst¬
liche Persuche zur Verwirklichung wies er ab. da der gegenwärtige Augenblick
nickt geeignet sei. Aber er meinte, zu diesen Grundsätzen müsse der Staat
trotz dem Widerspruch des Papstes fort und fort sich bekennen und die Tren¬
nung der Gewalten vorläufig aus seinem eigenen Gebiet durchführen. Sähe
dann der Papst, daß die Absicht des Staats ni.l t sei, die Religion selbst zu
gefährden und daß diese wirklich nicht gefährdet sei, so werde er selbst eines
Tages seinen Sinn andem und sich aussöhnen mit der Nation, die sich an
die Kirche wendet, um >hr volle und ungetheilte Freiheit anzubieten gegen ihre
weltliche Herrschaft.
Cavour erkannte es also für eine Nothwendigkeit, zunächst auf dem Ge¬
biete der Gesetzgebung die Trennung durchzuführen, eine völlige Lösung aber
erwartete er erst von der freien Zustimmung des Papstes und der katholischen
Welt, und in diesem Stadium in die Frage eigentlich bis heute geblieben. Wie
wenig ander der Staat, so lange der Widerspruch der Culte dauerte, strikt sich
an den Grundsatz der Trennung halten konnte, bewies Cavour selbst, indem er
wenige Wochen nach jenen Reden in Kammer und Senat ein königliches Decret
veranlaßte, daß infolge des Aufhörens des neapolitanischen Concordats die Er¬
nennung und Enthebung der Bischöfe in beiden Sicilien nunmehr ein Krön-
recht sei. Dies war gewiß nicht im Sinne der Freiheit der Kirche. Indem der
Staat sich selbst emancipirte. gebrauchte er, so lange der Papst nicht entgegen¬
kam, seine Mittel dazu, die Kirche auf ihrem eigenen Gebiet zu beschränken.
Er war ohne Zweifel genöthigt dazu, aber es war doch im Widerspruch mit
dem Princip, von dem er allein die Lösung erwartete; er dachte damit einen
Druck auf die Entschließungen Roms auszuüben, aber der Erfolg war der ent¬
gegengesetzte und ahnliche Widersprüche ziehen sich durch die ganze Gesetzgebung
bis auf den heutigen Tag.
Es ist müßig sich zu fragen, ob Cavvur. wenn er länger am Leben blieb,
die römische Frage glücklich zum Abschluß gebracht hätte. Gewiß ist, daß sein
Nachfolger auch in diesem Stück genau in seine Fußiapfen getreten ist; wie
denn die freie Kirche im freien Staat von nun an das officielle Programm und
das hundertmal gebrauchte Schlagwort war, auch wenn die Handlungen oft
wenig mit dem Princip stimmen mochten. Gleich i» seiner ersten großen Rede
am 2, Juli 1861 sagte Ricasoli: Wir wollen nach Rom. aber nicht zerstören?,
sondern aufbauend, indem wir der Kirche den Weg der Reform erschließen, in¬
dem wir ihr die Freiheit und Unabhängigkeit ertheile», die sie zu einer Wieder¬
geburt in der Reinheit des religiösen Gefühls, in der Einfachheit der Sitten
und in der Strenge der Disciplin, wodurch sie in ihrer ersten Zeit so ruhm¬
reich und ehrwürdig, geworden, anregen und sie endlich unumwunden und auf¬
richtig einer Macht entsagen lehren, welche dem hohen Gedanken ihres Ursprungs
wiverstreitet. Und in einem Rundschreiben von demselben Monat sagte er: Wir
haben den Glauben, daß Europa, wenn es uns besser kennen lernt, sich über¬
zeugen wird, daß wir als wesentlich katholisches Volk besser als jedes andere
die wahren Interessen der Kirche verstehen, wenn wir von derselben verlangen,
sich ihrer von der Barbarei erhaltenen und von der Cultur abgesprochenen
Feudalrechte zu entkleiden, und wenn wir ihr dafür völlige Unabhängigkeit und
Freiheit in Ausübung ihres heiligen Amts und den Dank und Gehorsam einer
wiedergeborenen Nation anbieten.
Aber Ricasoli wagte nun auch den ersten kühnen Versuch, von diesen
Grundsätzen aus direct dem Papst den Vorschlag zu einer Lösung zu machen.
Er schrieb jenen beredten Brief an den Papst vom 10. September, dessen
Grundgedanke der Satz war: „Wir wollen, daß die Kirche'frei sei, denn ihre
Freiheit ist die Bürgschaft der unsrigen", und legte gleichzeitig den Entwurf
einer Vereinbarung vor, welche jegliche Einmischung der Regierung in die An¬
gelegenheiten der Kircke. in die Ernennung der Bischöfe, in ihren Verkehr mit
dem Papst und unter sich u. f. w. ausschloß und dagegen eine Staalsdvtation
für den P.,pst zusagte, zu welcher auch die anderen katholischen Mächte bei¬
tragen sollten. Dieser finanzielle Theil war offenbar die schwächste Seite deS
Entwurfs, denn er schloß eine wirkliche Unabhängigkeit des heiligen Stuhls aus.
Ueberhaupt war. wie die Motivirung von einer kindlich vertrauenden Wärme,
so der Entwurf selbst von einer naiven Unreife. Die französische Regierung
aber wagte es gar nicht, diese „radicalen" Vorschläge nach Rom zu übermitteln:
das officiöse römische Journal präoicirte sie später als Unverschämtheit, tacher-
liebe Stupidität und servile Wiederholung der Grundzüge der Revolution, und
bekanntlich war das Scheitern dieses Versuchs eines der Momente, welche das
erste Ministerium Nicasoli zu Fall brachten.
Auch das neue Ministerium bewegte sich indeß in seinen Aeußerungen über
die römische Frage ganz in demselben Jdeenkreis, und die französische Negie¬
rung machte im Interesse ihres Schützlings Rattazzi im Frühjahr 1862 wieder¬
holte Versuche in Rom, um dort wenigstens eine versöhnlichere Haltung gegen¬
über Italien herbeizuführen. Natürlich vergebens. Als aber der garibaldische
Aufstand die inneren Gefahren bloßlegte. welche für das Königreich aus der
Verzögerung der römischen Frage entsprangen, entschloß sich das Ministerium
zu einem verzweifelten Schritt: der General Durando, als Minister des Aus¬
wärtigen, erklärte nach Aspromonte in einem Rundschreiben, daß die italienische
Nation dringlicher als je ihre Hauptstadt Rom verlange, und im Oktober stellte
er gradezu in Paris das Postulat der Räumung Roms; sobald die franzö¬
sische Occupation aufgehört habe, sei die Regierung bereit, die Vorschläge zu
prüfe», die man ihr zum Zweck der Sicherung der Unabhängigkeit des heiligen
Stuhls machen werde. Das hieß mit der Thüre ins Haus fallen. Es war
sehr bequem. sich Vorschläge machen zu lassen anstatt selbst damit sich abzu¬
quälen, und es war eine starke Zumuthung an Napoleon, seine Truppen zurück¬
zuziehen, ohne irgendwelche Garantie, ohne daß über eine Basis der Verständi¬
gung auch nur verhandelt War. Die Folgen sind bekannt. Nicht blos das
Ministerium Rattazzi fiel, sondern in Paris selbst trat eine für Italien empfind¬
liche Wendung der Politik ein. die durch den Namen Drouyn de Lhuys be¬
zeichnet war. Pasolini, der neue Minister des Auswärtigen in Turin, erklärte
sofort nach Paris, daß es unter den vorliegenden Umständen zweckmäßig sei, die
römische Frage ganz ruhen zu lassen.
Damit hatten die Versuche einer directen Lösung der römischen Frage ein
Ende. Ofsiciell hielt, wie gesagt, die Negierung an dem cavourschcn Programm
der Freiheit der Kirche fest, aber es blieb ein theoretischer Grundsatz, mit dem
man es in der Praxis nicht allzu genau nahm, wie denn z. B. Rattazzi kurz
vor der garibaldischcn Erhebung dem Parlament einen detaillirten, sehr strengen
Gesetzentwurf gegen die Uebergriffe der Geistlichkeit vorgelegt hatte, der ent¬
schieden in die inneren Verhältnisse der Kirche eingriff. Auch später behauptete
der Staat seine Souveränetätsrechte durch Anordnungen über die Diöccsan-
einthcilung und durch Regelung und Verschärfung des Placcts. Daß er noch
in den Instruktionen an Vegezzi an den Kronrechten festhielt, ist schon erwähnt.
Und als Vegezzis Mission gescheitert war, beschränkte sich die Regierung, welche
die Schuld auf den üblen Willen der Curie warf, auf die Erklärung, daß, wenn
gewisse Einflüsse aufgehört haben würden, auf die Beschlüsse des heiligen Stuhls
in einem der Religion fremden Interesse einzuwirken, die italienische Regierung
noch größere Zugeständnisse machen werde, deren Endziel eine möglichst voll¬
ständige Unabhängigkeit von Staat und Kirche sei.
Aber auch mit der Gesetzgebung ging es inzwischen bei den sich drängenden
Aufgaben aller Art und bei dem schwierigen Charakter der kirchenpolitischen
Fragen nur langsam vorwärts. Nicht einmal die Abschaffung der Conscriptions-
freiheit der Kleriker kam zu Stande. Das Wichtigste war, daß im Jahre 1865
die Civilehe durchgesetzt wurde. Dagegen wurden über die Aufhebung der Klöster
und die Einziehung des Kirchenguts seit 1864 nach einander drei Vorlagen aus¬
gearbeitet, die sämmtlich gescheitert sind; die dritte war diejenige, die im Juni
voriges Jahres, als alle Gemüther von dem unmittelbar bevorstehenden Krieg
in Anspruch genommen waren, ohne eingehende Prüfung, zu der niemand Zeit
noch Lust hatte, in aller Eile angenommen wurde. Als dann nach dem Krieg
die Regierung wiederum an die Kloster- und Kirchengutsfrage trat, lag zugleich
die Nöthigung vor. dieselbe in einem weit größeren Zusammenhang wiederauf¬
zunehmen. Jetzt, da der Septembervertrag ausgeführt wurde, die Franzosen
Rom verließen und das römische Problem endlich zu einer inneritalienischen An¬
gelegenheit geworden war. schien auch der Augenblick gekommen, von neuem
eine principielle Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat zu versuchen, die
auf dem Grundsatz der Unabhängigkeit beider Gewalten beruhte und zugleich
— denn dies Moment des cavourschcn Programms ist nicht zu übersehen —
die freiwillige Zustimmung der Curie selbst zu erlangen hoffen konnte.
Unter diesen Umständen und nach solchen Prämissen entstand der compli-
cirte Entwurf, mit dem die Minister Ricasoli, Scialoja und Borgatti im Januar
d. I. vor die Kammer traten. Es war im Grund das erste Mal, daß der
Versuch angestellt wurde, was bisher blos Programm und Doctrin gewesen
war, in den einzelnen Bestimmungen auszuarbeiten und zu einem zusammen¬
hängenden so viele widerstreitende Interessen ausgleichenden System zu gestalten.
Kein Wunder, daß dieser erste Versuch mißlang. Jetzt erst beim Beginn der
praktischen Durchführung ward man inne. daß das Schiboleth, das diser ohne
viel Denken alle im Mund geführt hatten, sehr verschiedener Auslegung sähig
war. Der Papst verstand die Freiheit der Kirche anders als die Liberalen, und
diese selbst wieder gingen in sehr verschiedene Meinungen auseinander, je nach¬
dem sie rascher oder, weniger rasch eine reine Lösung herbeizuführen gedachten,
je nachdem sie mehr oder minder conseaucnt von dem Gedanken der Freiheit
der Kirche zu der Folgerung der völligen Religionslosigkeit des Staats, der ab¬
soluten Glaubens- und Denkfreiheit und deren unmittelbaren Verwirklichung
fortgingen. Viele wurden nun doch stutzig, als der Staat die mühsam er¬
rungenen Privilegien, die bisher sein Schutz gegen einen Staat im Staate
gewesen waren, noch dazu in einem fast ausnahmslos katholischen Lande und
bei einer unwissenden, von d,en Priestern beherrschten Bevölkerung einfach Preis
geben sollte. Ein Theil der Radicalen rettete sich in die Ideen der französischen
Revolution und wollte das Gegentheil der Freiheit der Kirche, nicht bedenkend,
daß dieser Weg zum Feit der Vernunft und dann in logischem Fortschritt zum
Concordat des ersten Consuls geführt hatte. Vor allem aber erhob sich, wenn
nun der Kirche die Unabhängigkeit gegeben werden sollte, die Frage, wer denn
eigentlich das legitime Subject dieser Kirche sei: die Hierarchie oder die Ge¬
sammtheit der Gläubigen, de>s Priesterthum oder das Laienthum, und diese
Frage trat um so mehr in ihrer prakiischcn Bedeutsamkeit hervor, als man jetzt
mit Recht in der Disposition über das Kirchenvermögen den eigentlichen Nerv
der Sache erkannte. Denn wenn man auch einverstanden war, daß der Staat
das Recht habe, das todte Vermögen der Kirche in bewegliches Eigenthum zu
verwandeln und selbst einen Theil davon für sich zu behalten, da er in so
manche Funktionen, die früher der Kirche oblagen, eingetreten war, so fing die
eigentliche Schwierigkeit erst an, wenn man sich besann, durch wessen Verwal¬
tung künftig die Ausgaben für den Cultus bestritten werden sollten. Durch
den Staat selbst mittelst Dotationen und Besoldungen? Aber dies widersprach
dem obersten Princip der Trennung. Durch die Bischöfe? Aber dies gab dem
Eviscopat eine gefährliche Macht in die Hand, und die Folge war so vielmehr
eine Verknöcherung, denn eine Erneuerung der Kirche. Durch die Gemeinden
oder durch Provinzial- und Diöccsancongregationen des Laienthums? Aber das
war doch wieder ein Eingriff in die innerste Organisation der Kirche und be¬
deutete nicht weniger als eine Erschütterung der wesentlichen Grundlagen des
Katholicismus.
Genug, es trat mit einem Male eine ganze Reihe von praktischen und
zum Theil dringlichen Fragen hervor, für welche die öffentliche Meinung nicht
im mindesten vorbereitet war, und welche selbst für die Politiker bisher hinter
den unbestimmten Worten einer Formel verborgen gewesen waren. Es ist so¬
mit erklärlich, so wenig man das Verfahren der aufgelösten Kammer billigen
kann, daß die nächste Folge nur ein Chaos widerstreitender Meinungen, ein
Krieg Aller gegen Alle war. Das Comvromiß des ricasolischcn Entwurfs ist
allerdings damit gerichtet, daß er von allen Seiten ohne Ausnahme, von der
Linken, von den Gemäßigten und — obwohl zögernd — auch von Seilen des
Papstes und Episcopats verworfen worden ist, und in dieser Form wird er
nicht wieder vorgelegt werden. Aber es ist sehr die Frage, ob die lebhafte,
leidenschaftliche Discussion, die sich entsponnen hat und die sich nun unglück¬
licherweise in den Wahltampf mischt, bis jetzt die Sache selbst erheblich gefördert
hat. Eine sehr ernste Aufgabe wartet so des nächsten Parlaments, in einem
Augenblick, in welchem ohnedies außergewöhnliche Proben von Weisheit und
Tact von ihm erwartet werden, um die Autorität und Stetigkeit des parlamen¬
tarischen Systems zu retten. Mit Wahrscheinlichkeit ist inzwischen nur dies
vorauszusehen, daß auch der nächste Schritt nur ein Act der Gesetzgebung
sein kann und das letzte Ziel, eine Verständigung mit dem Papstthum, aber¬
mals auf spätere Zeiten hinaus genickt werden muß. Damit tritt aber über¬
haupt die Möglichkeit einer Durchführung des cavourschen Programms zur
Erlangung Roms immer weiter in die Ferne, und man kann sich nur schwer
des Gedankens erwehren, daß eines Tages irgendwelche Katastrophe als will¬
In der Geschichte der skandinavischen Idee spielt Norwegen eine ähnliche
Rolle, wie sie innerhalb unsrer nationalen Einheitsbestrebungen dem Nord¬
westen und einem Theil von Binnendeutschland zugefallen ist: die Rolle des
Lermittlungsgliedes. Früher mit Dänemark, jetzt mit Schweden unter dem¬
selben Herrscherhause vereint, mit Schweden die großen öffentlichen Geschicke
theilend, mit Dänemark die Sprache und folgeweise das literarische Leben, ist
Norwegen zwischen beiden Ländern gewissermaßen der geborene Ausgleicher.
Es ist daher bedeutsam, daß es neuerdings aus seiner mehr gleichgiltigen und
abwartenden Haltung dem Scandinavismus gegenüber herauszutreten anfängt.
Die Wendung schreibt sich von dem letzten dents.b-dänischen Kriege her. Vor
demselben war es höchstens Studenten und Polinkern von Fach eingefallen,
für die Aufnahme Dänemarks als Dritten in einen festeren und handlungs¬
fähigeren Bund mit Schweden zu schwärmen. Von da an ergriff der Gedanke
weitere Kreise. Seine eifrigsten Bekenner konnten es unternehmen, in Chri-
stiania eine skandinavische Gesellschaft zu gründen.
Diese war indessen kaum ins Leben getreten, als sich auch schon eine
Spaltung zeigte. Die Mehrzahl der leitenden Köpfe huldigte der allerdings
naheliegenden und einleuchtenden Ansicht, daß zu den Stationen auf dem Wege,
welchen der Skandincivismus zurückzulegen haben werde, auch die Reform der
praktisch sehr unzulänglichen schwedis^-norwegischen Union gehöre. Eine Min¬
derheit dagegen, unter Führung des Regierungsanwalts Dunker, wollte von
feiner Verbesserung der Union ohne gleichzeitigen Eintritt Dänemarks etwas
wissen. Der Leser kann sich die Natur dieser Differenz am besten vergegen-
,l
waldigen, wenn er ein die langjährigen Erörterungen der Fr.ige zurückdenkt, ob
man wünschen und zulassen dürfe, daß Preußen mit dein nördlichen Deutsch¬
land in ein engeres bundesstaatliches Verhältniß trete, bevor der Südwesten'
dafür ebenfalls reif sei, oder ob man vielmehr darauf bestehen müsse, daß das
Ganze gleichzeitig neu construirt werde. Auf dem letzteren Standpunkt befindet
sich der skandinavischen Frage gegenüber der alte norwegische Storthingomann
Dunker, und findet warme Zustimmung bei den dänischen nationalen, Orla
Lehmann voran. Den ersteren Standpunkt nimmt die skandinavische Gesell¬
schaft zu Christiania ein, der Dunker und seine Anhänger infolge dessen den
Rücken gekehrt haben. Hauptsprecher dieser Richtung sind seitdem die Pro¬
fessoren Daa, Broch und Aschehoug. Ihr Programm für die Reform der
schwedisch-norwegischen Union empfing eine gewisse erste und gelegentliche Aus¬
prägung, als es sich im November vorigen Jahres um die Besetzung zweier
erledigter Plätze im Staatsrath handelte, wofür die Gesellschaft den Professor
Brock und den Höchstgerichtsasscssor Lövenskjold als Candidaien aufstellte. Bei
diesem Anlaß legte der Letztgenannte sein Glaubensbekenntniß ungefähr dahin
ab, daß die augenblickliche Unmöglichkeit der Union mit Dänemark weder die
Entwickelung der socialen Einheit des Nordens, noch namentlich auch ein nä¬
heres Zusammenschließe» der beiden bereits durch Personalunion vereinigten
Reiche aufhalten dürfe. Die Gemeinsamkeit der diplomatischen Angelegenheiten
bedürfe einer Fortbildung in dem Punkte, daß Norwegen ein größerer Einfluß
auf dieselben eingeräumt werde; das norwegische Heer müsse dem König vor¬
behaltloser zur Verfügung gestellt und mit dem schwedischen in soweit gleich¬
mäßig organisirt werden, daß das Zusammenwirken im KrieFe auf keinerlei
Schwierigkeiten stoße; endlich lasse sich vielleicht auch eine combinirte varia-
/ mentarische Körperschaft zur Controle gemeinsamer Angelegenheiten und Be¬
willigung des Unionsbudgets herstellen. Das Vielleicht in diesem letzten wich¬
tigen Stücke des Programms der norwegischen Slandinavisten ist beachtens-
werth. In der That hat die Unionsreform da ihren widerspenstigsten Haken.
Schwedens numerische Ueberlegenheit ist so groß, daß kaum eine Zusammen¬
setzung des gemeinsamen Parlaments denkbar erscheint, welche Norwegen be¬
ruhigte ohne Schweden allzu schreiend zu verkürzen. Hier würde Dänemarks
Zutritt allerdings das Mittel sein, ein schweres Hinderniß solchen Fortschritts
aus dem Wege zu räumen.
Neben den Anhängern der Univnsrefonn, welche die skandinavische Gesell¬
schaft, und den Danomanen, welche namentlich Dunker vertritt, giebt es in
Norwegen übrigens noch eine dritte Tendenz in Bezug auf auswärtige Politik,
von.^welcher die skandinavischen Federn als von „I. Sverdrups pangermani¬
schen Träumereien" sprechen. Mehr als daß hier eine ausgeprägte Hinneigung
zu Deutschland vorliegt, kann man zur Zeit daraus noch nicht schließen.
Inzwischen beschäftigt man sich östlich vom Kjölengebirge mit noch unmit¬
telbarer praktischen Entwürfen, wenn auch ohne Aufsehen erregendes Geräusch.
Eine solche Idee, die die tonangebenden Kreise eine Zeit lang aufregte, war ein
ziemlich künstlicher, aber doch nicht übel ersonnener Versuch, von Stockholm
aus Einfluß auf die Behandlung der nordschlcswigschen Frage zu gewinnen.
Preußen sollte das Schutz- und Trutzbündniß des vereinigten Nordens angeboten
werden, falls es seinerseits Nordschleswig an Dänemark zurückgäbe unter der
Bedingung, daß dieses in einen Bundesstaat mit Schweden-Norwegen unter
schwedischer Führung eintrete. Dadurch würde Preußen nicht viel weniger als
der Stifter der skandinavischen Einheit geworden sein, in noch emphatischcrem
Sinne als Frankreich 1859 der Urheber der italienischen Einheit. Aber freilich
hätte es damit noch unwiderruflicher als Frankreich 1859 mit Oestreich, nun
seinerseits mit Rußland gebrochen. Und ohne daß man dies für alle Zukunft
verhorresciren müßte, wäre es im Augenblicke, bevor der norddeutsche Bund
festgegründet und der Süden durch sichere Bande herangezogen ist, während
Frankreich ingrimmig-schwankend auf der Lauer liegt, tolldreist genug gewesen.
Das scheint man denn in Stockholm zuletzt auch begriffen zu haben. Die
Idee ist bei Seite geschoben worden; die Thronrede des Königs zur Eröffnung
des neuen, modern constitutionellen Reichstags athmete nichts als Friedensliebe,
Versenkung in die allgemeinen Aufgaben der Cultur, und die Ungeduldigen in
Kopenhagen sind wieder bis zum Bersten zornesvoll über die egoistische, mate¬
rialistische Richtung des schwedischen Volkes, das die Großthaten der Väter
ganz vergessen zu haben scheine und höchstens an Finnland denke, nicht an
Nordschleswig, welches doch so viel entschiedener als Finnland zum skandinavi¬
schen Norden gehöre. In Kopenhagen dürfen sich überhaupt politische Ideen,
die eine Aussöhnung mit Deutschland zum integrirenden Bestandtheil haben,
gegenwärtig noch gar nicht hören lassen. Der Schmerz über die Niederlage im
Felde und den Verlust von ganz Schleswig ist noch zu frisch, die Reaction
gegen den ausgestoßenen Einfluß der früher bekanntlich auch Dänemark beherr¬
schenden deutschen Cultur noch zu jung und leidenschaftlich, als daß selbst in
politischen Kreisen, wofern sie »ationaldänisch sind, der Gedanke an eine Ver¬
ständigung mit den Dents.ben laut werden dürfte. Was aber nicht national¬
dänisch ist, das muß sich in Kopenhagen auf stille Conventikel und anonyme
Zeitungsartikel beschränken. „Hjemmetydskeriet", Hausdeutschthum, gilt heutzu¬
tage in Dänemark und vor allem in der dänischen Hauptstadt für das schänd¬
lichste aller politischen Laster: es bedeutet dasselbe, wie wenn jemand in dem
thronverwandten Athen den Türkenfreund spielen wollte.
Ein Griechenfreund im Turban hingegen ist in Athen keineswegs unpopu¬
lär; ebenso wenig in Kopenhagen die Kölnische Zeitung, die sich der Dänen
Nordschleswigs so unverdrossen annimmt. Vom deutschen Standpunkt ist natur-
lich gegen diese Advocatur mancherlei einzuwenden, vor allem, daß sie die Billig¬
keit überbilligt. Allein aus einem allgemeinen europäischen Gesichtspunkt be¬
trachtet, laßt sich der Sache ein Portheil abgewinnen. Die Adresse, welche der
nordische Nationalvcrcin in Stockholm — der dortige sichtbare Träger der flau>
dinavischcn Idee — an die Kölnische Zeitung gerichtet hat, hätte ohne die
auffallende Haltung dieses Blattes jedenfalls nicht erlassen werden können, und
wir verdanken ihr daher den ersten Versuch eines unmittelbaren politischen
Verkehrs zwischen der deutschen und der schwedischen Nation. Diesem Danke
müssen wir freilich sogleich das Gegentheil von Dank für den hochmüthig schul¬
meisternden Ton der Adresse hinzufügen, der natürlich ebenfalls nur aus den
Avancen zu erklären ist. welche das große rheinische Blatt in der Sache den
Däncnfreunden gemacht hat. Die Stockholmer Herren sprechen ungefähr als
lebten wir noch Anno 1630, wo der große Schwedenkönig sich von hilfeflchcn-
den deutschen Klcinfürsten umgeben sah und noch keine deutsche Nation existirte.
Da diese aber jetzt, wie sie richtig bemerken, zur Weit gekommen und leidlich
erwachsen ist. so will sie sich mit Gottes Hilfe selbst dirigiren. Es kann ihr
unter Umständen erwünscht sein, mit Schweden einen Handelsvertrag oder auch
ein Kriegsbündniß abzuschließen, aber für völkerrechtliche Vorlesungen aus
Stockholm verspürt sie kein Bedürfniß. Es liegt vielleicht in der Verschieden¬
heit der beiderseitigen Natur, daß man in Deutschland für die Grenzen des
Sclbstl'estimmungsrcchts nationaler Gruppen einen etwas breiteren Maßstab
hat als in Schweden und vollends in Dänemark. Wir sehen auch noch außer¬
halb der nördlichsten schleswigschen Aemter hier und da auf Erden Menschen
von verschiedener Zunge und verschiedener nationaler Gravitation genöthigt,
in Frieden mit einander unter derselben Herrschaft zu leben. Es scheint nicht
recht thunlich, den Staatsverband plötzlich vorübergehend aufzulösen, damit jedes
Amt, jedes Dorf und womöglich jede Familie sich erst selber ihr politisches
Centrum ermittele; und wäre es thunlich, so sollte es wenigstens nicht blos in
Deutschland geschehen. Kurz, wir Deutsche sind nachgrade bis auf wenige
sparrenhafte Bekenner sentimentaler und phantastischer Allerweltsgerechtigkeit zu
der Anschauung gelangt, daß es praktisch nicht durchführbar ist, Europas poli¬
tische Grenzen streng und ausschließlich nach dem Nationalitätsprincip zuzu¬
schneiden. Wir sind vollkommen erbötig, Dänen und Polen und andern
Nationalitäten im Umkreis unseres Reichsgebiets bei ihrer Sprache ebensowohl
wie Katholiken, Juden und Zigeuner bei ihren Religionsbräuchcn oder Sitten
zu lassen, vorausgesetzt, daß sie nicht die öffentliche Sicherheit und die Rechte
Anderer bedrohen; aber nicht ebenso aufgelegt fühlen wir uns/unsere Grenzen
hinter Linien zurückzuziehen, jenseits welcher noch Deutsche beisammenwohnen,
weil wir nicht ganz so sicher, wie unserer eigenen gelassenen Duldsamkeit, der¬
jenigen der betreffenden Nachbarn sind, und weil wir all unser Gebiet nach her-
kömmlichen Begriffen rechtmäßig erworben haben und Wohl die Hoffnung hegen
dürfen, auch widerstrebende Elemente auf die Dauer mit dem Leben in unserer
Gemeinschaft auszusöhnen. Und wir meinen, daß es ihnen und uns zu Nutz
und Frommen gereiche.
So viel zur glimpflichen Erwiederung auf die Stockholmer Erbauungsschrift.
Der Eindruck, den die Generaldebatte des norddeutschen Parlaments hier
im Süden hervorgebracht hat, ist ein mächtiger. Hat man dem Zusammentritt
des Parlaments vorherrschend mit skeptischen Bedenken entgegengesehen, waren
selbst die Freunde nicht ohne Besorgniß. daß die Stimme der Volksvertretung,
durch keine gesetzliche Competenz gesichert, in dem durch die Waffen geschaffenen
Werk nur schwer zur Geltung gelangen werde, so hat nun der rasche energische
Zug der Geschäftsbehandlung, die Abwesenheit allen rhetorischen Prunks, der
ernste von allen Seiten kundgegebene Wille, auf der wie immer mangelhaften
Grundlage zu einem Abschlüsse zu gelangen, und endlich die im Lauf der De¬
batte bedeutend gestiegene Aussicht auf eine Verständigung über wesentliche
Abänderungen im liberalen Sinn die Geister in eine Spannung versetzt, die
mit jedem Tage wuchs und mit jedem Tage zuversichtlicher werden durfte. Eine
größere Anschauung bildet sich an den größeren Verhältnissen, welche sichtlich
das nationale Werk nimmt. Je rascher die Verständigung in Berlin gelingt,
um so mehr wird man sich im Süden überzeugen, daß die Constituirung des
norddeutschen Bundes das richtige Mittel ist, die Schaffung eines gesammt-
deutschen Organismus einzuleiten. Je kräftiger die Führung, um so williger
wird man ihr folgen. Und so unerläßlich auch in unsern Augen die Einfüh¬
rung wirklich constitutioneller Befugnisse des Parlaments ist, so wenig würden
wir doch Dank wissen, wenn der Streit über ein Mehr oder Weniger von ver¬
fassungsmäßigen Attributen, über einen höheren oder geringeren Grad formeller
Vollendung der Verfassung die Arbeit scheitern machte.
Erst an diesen Debatten, die für ganz Deutschland, wenn auch nicht von
den Vertretern ganz Deutschlands geführt werden, ist es vollends recht zum
Bewußtsein gekommen, wie entscheidend der jetzige Moment für die deutsche
Zukunft ist. Seil wieder eine deutsä,e Tribüne aufgerichtet ist, dringt lebhafter
in alle Gemüther die Ueberzeugung, wie Großes auf dem Spiele steht. Zu
der Sprache der Thatsachen gesellt sich die lebendigere Sprache der berufenen
Volksvertretung, und mit Freuden sieht man, wie die bewährten altpreußischen
Kämpfer für die nationale Sache verstärkt sind durch das erfrischende Element
der neuen Kräfte, die den Vortheil mitbringen, außerhalb der Verbitterung des
sechsjährigen Verfassungskampfs gestanden zu haben. Im öffentlichen Kampf
der Meinungen hebt sich zugleich die Stellung des Staatsmanns, der das
Werk begonnen hat, dessen Durchführung nunmehr sein Ehrgeiz sein muß. Er
ist ein andrer, seitdem er sich mit einem Parlament umgeben und die mora¬
lische Verantwortlichkeit für das, was er geschaffen, vor den Vertretern der
Nation übernommen hat. Cavour wußte den Werth eines Parlaments zu
schätzen, das er beherrschte, weil er seine Rechte achtete, und das ihm eine wirk¬
liche Stütze war, weil er seine Controle nicht zu scheuen hatte. Graf Bismarck
hat nie die Ambition besessen, eine Copie des italienischen Staatsmanns zu
sein; aber davon hat er sich in den wenigen Sitzungen überzeugen müssen, wie
die Mitwirkung der Nation nicht zu entbehren ist zur Ueberwindung der von
den particulären Mächten geschaffenen Hindernisse. In der denkwürdigen Montag¬
sitzung am 11. März hat der Graf gezeigt, daß er sich wohl bewußt ist,
wo die Bundesgenossen der nationalen Politik Preußens sind und wo die
Gegner.
Es war im Süden erwartet, daß die zahlreichen Erklärungen für den An¬
schluß an den Norden, die seit Nikolsburg sich gefolgt, nicht ohne entsprechen¬
des Echo im Parlament bleiben würden. In der That ist fast keine Rede ge¬
halten, ohne daß dieses Thema berührt und zum Theil ausgeführt wäre. Die
beliebte Phrase vom grvßpreußischen Particularismus hat damit ihre bündige
Antwort bekommen. Von allen Seiten und von verschiedenen, zum Theil ent¬
gegengesetzten Gesichtspunkten ist die Vereinigung des Südens mit dem Norden
als eine der wesentlichsten Aufgaben hingestellt worden, sei es nun, daß man
mehr den Nachdruck darauf legte, die Verfassung müsse derart eingerichtet wer¬
den, um den Zutritt der Süddeutschen zu erleichtern, oder daß man mehr das
rasche Zustandekommen der Verfassung betonte, weil dann die Süddeutschen
schon von selbst kommen würden. Dies war, wie gesagt, erwartet und selbst¬
verständlich. Niemand außer den süddeutschen Radicalen wünsch! die definitive
Mainlinie, zu deren Beseitigung — abgesehen von den idealen Motiven der
Nationalität, abgesehen von allen Sympathien und Antipathien — schon die
beiderseitigen Interessen nöthigen. Aber der einstimmige Ausdruck dieser Ge-
sinnung ist schon für sich eine Bürgschaft für deren Aushebung, sie ist eine vor¬
läufige nützliche Ankündigung für das Ausland, und sie war speciell für uns
eine Genugthuung, denen die Particularisten immer mit dem Geschrei in den
Ohren lagen: Preußen bat die Mainlinie geschaffen, hat Deutschland zerrissen,
und ihr bettelt euch bei einer Macht an, die euch zurückstößt!
Wichtiger noch ist, daß eben über diesen Punkt die officiellen Erklärungen
in Berlin immer deutlicher und unumwundener hervorgetreten sind. Zuletzt
hat Graf Bismarck gradezu die Umrisse eines Programms gegeben, wie nach
Herstellung des norddeutschen Bundes die nationalen Beziehungen zwischen
Nord und Süd zu regeln seien, und die Erklärung beigefügt, daß. was die
Machtfrage betreffe, das Zusammengehen des Nordens und Südens im Fall
eines Angriffs von außen definitiv gesichert sei. Das waren hocherfreulicbc
Erklärungen. Immerhin aber lassen auch sie noch Bedenken und Zweifel
übrig.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Frage der Festmachung des
Zollvereins den Anknüpfungspunkt für die Verhandlungen bilden wird. Der
Vorbehalt sechsmonatlicher Kündigung war das Mittel, um eine Einigung mög¬
lich zu machen und den vormals auf je zwölf Jahre geschlossenen Contrakt in
ein unauflösliches Band zu verwandeln; und dies wieder kann nur geschehen,
indem Süddeutschland an der Gesetzgebung in Zollsachcn theilnimmt. Aber
wenn Graf Bismarck hinzufügte, daß zu diesem Zweck „organische Einrichtungen"
zu schaffen seien, die er allerdings nicht näher andeutete, so scheint der Gedanke zu
sein, eine besondere Institution, etwa Ausschüsse der Volksvertretungen an Iroo ein¬
zuführen, und es liegt auf der Hand, daß ein solches Auskunftsmittel ein pein¬
liches Uebergangsstadium schüfe, das überdies vielleicht nicht ungefährlich wäre,
wie jede Institution, welche die politische Trennung gewissermaßen sanctionirt.
Es wäre wohl eine Etappe zur parlamentarischen Vereinigung, aber doch zu¬
gleich eine Consolidirung des Provisoriums, und wer weiß auf wie lange. Es
ist leider sehr erklärlich, daß man froh ist, die Herstellung der Verfassung jetzt
ohne die widerhaarigen süddeutschen Elemente vornehmen zu können, aber nach¬
dem der augustenburgischc, welfische und wcttinische Particularismus im Par¬
lament sich vcrhältnißmcißig so zahm und ungefährlich gezeigt hat, so weit
zahmer, als die Wähler dieser Abgeordneten sich vermuthlich gedacht hatten,
wird sich ja wohl auch die Scheu vor den gefürchteten Süddeutschen mäßigen
dürfen. In der Nähe besehen möchten sie leicht einen weit weniger bedrohlichen
Eindruck hervorbringen; zumal sich bald herausstellen würde, was zuweilen
unter der grimmigsten Löwenhaut steckt.
Noch ernster sind die Zweifel, die sich bei uns im Süden an das andere
Wort Bismarcks knüpfen, so zuversichtlich es lautet. Der gegenseitige Beistand
des Südens und Nordens bei jeder Gefährdung der Integrität Deutschlands,
sagte er, sei definitiv gesichert. Dies erhebt allerdings zur Gewißheit, was bis¬
her nur Vermuthung war, daß bestimmte Zusagen der Regierungen gewechselt
worden sind, die wahrscheinlich schon bis Nikolsbürg hinaufgehen und vielleicht
seitdem bestimmter erneuert worden sind. Allein zur Zeit fehlt es noch ganz
an der thatsächlichen Voraussetzung, welche die Erfüllung dieser Zusage von
Seite des Südens erst ermöglicht. Diese thatsächliche Voraussetzung ist die
Umbildung der süddeutschen Wehrkräfte nach dem preußischen System, und in
welchem Stadium diese sich befindet, ist jetzt durch die Veröffentlichung der heute>
garder Conferenzbeschlüsse zur Genüge aufgedeckt. Es hat sich gezeigt, daß man
sich in Stuttgart im Grunde über nichts geeinigt hat; — über nichts als
die Annahme der preußischen Wehrvcrfassung im Princip. Was die Ausführung
im Einzelnen betrifft, ist immer nur von „möglichster" Gleichartigkeit die Rede,
oder es ist ein Maximum und ein Minimum bestimmt, innerhalb deren den
einzelnen Staaten Raum für ihre Stamincseigcnthümlichkciten bleibt. Kurz es
ist kein rechter Ernst mit dieser Umformung; in allen Detailfragen hat man
keine Uebereinstimmung erzielt, und die Ansehung des 1. October als Termin
für die Wiederaufnahme der Verhandlungen zeigt am besten, welche E>le die
Regierungen haben, ihre Heere in die Verfassung zu setze», die sie fähig macht,
in einem deutschen Kriege mitzuwirken. Die beste Zeit geht verloren mit Nichts¬
thun. Oder nein, nicht mit Nichtsthun. Auf dem würtembergischen Kriegs¬
ministerium haben alle Hände zu thun mit Erledigung der Rechnungen und
Schreibereien, die aus dem Feldzug von Tauberbischvfsheim bergehoch auf¬
gelaufen sind, und die, wie man sagt, noch Jahr und Tag in Anspruch nehmen
werden. Und außerdem ist man beschäftigt, alle erdenklichen Arten von Schie߬
gewehren zu probiren und womöglich den definitiven idealen Hinterlader zu er¬
finden, der die verächtliche, schon vor zwanzig Jahren erfundene preußische
Schußwaffe weit hinter sich lassen wird, der aber vor allem die Bedingung
erfüllen muß, ohne Nadel construirt zu sein; denn schlechthin unüberwindlich ist
am Ncscnbach der Abscheu vor der Nadel, die den deutschen Bund todt-
gestochen hat.
Hat man sich in Stuttgart grade über die praktischen Fragen nicht einigen
können, so geht wenigstens Baden einfach praktisch zu Werke. Es läßt seine
Gewehre in preußische Hinterlader verwandeln und borgt sich inzwischen preu¬
ßische Waffen, mit denen allmälig sein ganzes Heer einexercirt wird. Dort und
in Bayern ist das Ministerium eine Gewähr für ehrlichen guten Willen, auch
ist in München der Kammerausschuß über die Wchrfrage ernstlich an der Arbeit
und auf gutem Weg. Ganz anders in Würtemberg. Hier allein — mit Aus¬
nahme des unschädlich gemachten Hessens — ist immer noch dasselbe Ministerium
am Ruder, das mit lustiger Zuversicht das Land in den Krieg getrieben, das
im Voraus sein höhnisches Drohwort nach Berlin gerufen und dann nach der
Niederlage die Unterstützung Frankreichs in den Friedensverhandlungen an¬
gesprochen hat. Seit jenen offenkundiger Thatsachen aber hat die Regierung
nicht tin einziges Mal durch ihr offizielles Organ dem Lande eine Andeutung
gemacht, daß andere Wege eingeschlagen seien. Mag sie es nun nicht für der
Mühe werth halten, über solche Kleinigkeiten das Kolk aufzuklären, oder den
Muth nicht finden, offen Farbe zu bekennen, auffallend bleibt dieses völlige
Stillschweigen im höchsten Maße, und ich spreche nur eine Thatsache aus. wenn
ich sage, daß dieses Stillschweigen in Verbindung mit anderen Symptomen das
tiefste Mißtrauen in die eigentlichen Gesinnungen des Ministeriums wachruft.
Seitdem der berüchtigte franzosenfreundlibe Culturhistoriker die Redaction des
officiellen Blattes wieder mit seiner Landpfarre vertauscht hat, enthält dasselbe
sich ängstlich jeder Bemerkung, die wie eine Parteinahme gedeutet werden
könnte. Dagegen fährt jene unreinliche Localpresse, die für höhere Inspirationen
nicht unzugänglich und sonst als der Barometer für die Stimmung in den lei¬
tenden Kreisen gilt, ihren Kleinkrieg gegen Preußen und die preußische Partei
mit den bekannten Mitteln munter fort. Auch die Verzögerung in der Ein¬
berufung der Kammern wird in dem Sinne gedeutet, daß die Negierung ab¬
warten und noch in keiner Weise öffentlich vor dem Lande sich binden will.
Nimmt man dazu das gemüthliche Tempo und die zeitraubenden Experimente
in der Heeresfrage, so kommt man nothwendig zu dem Geständniß. daß, wenn
ja die Kriegsgefahr rasch hereinbrechen sollte, zumal wenn man die geographi¬
schen Verhältnisse ins Auge faßt, in Würtemberg gradezu noch alles mög¬
lich ist. Sicher wird die Negierung bei jedem Druck von preußischer Seite
aufs entgegenkommendste sich benehmen, sie wird es nicht an Zusicherungen
fehlen lassen, sie wird weit entfernt von hannoverscher Widerspenstigkeit sein. Aber
der Gedanke ist unabweisbar, daß sie gleichzeitig noch mit allerlei Eventualitäten
spielt, und es wäre daher mehr als beruhigend gewesen, wenn Graf Bismarck
auch von festen Garantien gesprochen hätte, welche eine gemeinsame deutsche
ActiiR im Kriegsfalle sichern.
Am meisten hat auffallen müssen, daß die Regierung die Stuttgarter Be¬
schlüsse veröffentlicht hat, ohne irgendwie eine Organisation zu motiviren, welche
dem Lande so bedeutende Opfer auferlegen wird, und grade beim schwäbischen
Volk nicht auf den freudigsten Willkomm rechnen kann. Die Annahme des
preußischen Systems zu befürworten, hat die Regierung bisher durchaus der
nationalen Presse überlassen. Sie selbst thut nichts, um der Agitation, welche
der radicale Particularismus eröffnet bat. ihrerseits mit Gründen entgegenzu¬
treten und der zu erwartenden Vorlage einen günstigeren Boden in der Bevöl¬
kerung zu bereiten. Offen fordert das Blatt, dem der Graf Bismarck die Ehre
einer Erwähnung angethan hat, das Volk in Fettschrift zur Auswanderung
auf, und die Negierung schweigt, läßt Monat um Monat verstreichen und sieht
gelassen zu, wie das Volk inzwischen von Demagogen gegen eine Reform be¬
arbeitet wird, für die sie sich selbst engagirt hat. Das sieht wahrlich nicht aus,
als ob es der Regierung Ernst wäre, und rechtfertigt es, wenn wir auf die
zuversichtlichen Aeußerungen Bismarcks erwiedern: Garantien, Herr Graf,
Ueber den Triumph der magyarischen Staatsmänner soll berichtet, von den
Bestrel'ungen und Zielen der ungarischen Minister erzählt werden: der erste
Name aber, der unter die Feder kommt, ist abermals der Freiherr v. Beust.
Das sieht nachgrade geschmacklos aus und erinnert an den Mann, der nur
eine einzige Anekdote im Verrathe besaß, diese aber dafür um so eifriger bei
jeder Gelegenheit zum Besten gab. Dennoch liegt in der Nennung dieses
Namens keine Abschweifung von der Sache. Herr v. Reuse spielt eben den
Ueberall und Nirgends in Oestreich, dirigirt alles, soufflirt alles, spricht über
alles und denkt für alle; er ist der politische Spiritus röetvi-, er tritt aber auch
in der socialen Welt in Heldenrollen auf. Las man in den letzten Wochen die
wiener Cameo^lschronik, gewiß wurde Herr v, Beust, mit Fräulein Wvlter
vom Hofburgtheater am Arme, als Mittelpunkt der Ballfeste gepriesen; blätterte
man in den wiener Theaternachrichten, so erfuhr man heute, daß Herr v, Beust
ein Drama, etwa den Statthalter von Bengalen, aus den Klauen der Censur
befreit, am andern Tage, daß er im Gespräche mit dem Possenschreiber Berg
sein Entzücken über die wiener Vorstadtbühnen geäußert und wie sehr seine
Kenntniß Oestreichs durch das Studium der „alten Schachtel" und der „schönen
Helene« gewonnen, versichert habe. Er steht am Hichinger Hofe in großem
Ansehen, weiß aber auch die Aengstlichcn, welche einen vorzeitigen Ausbruch
des Nachegcfühls gegen Preußen fürchten, zu beruhige». An Bismarcks Stelle
würde er nicht anders, gehandelt haben. Die Freunde des Concordates ver¬
trauen auf ihn, die Anhänger des Liberalismus vertheidigen ihn eifrig gegen
Belcredi. Thun und die Patrone des „Vaterlandes". Mit derselben Gewandt-
heit, mit welcher er die schwebenden Fragen behandelt, die Parteien durchein¬
anderschiebt und neu ordnet, nimmt er auch jeden beliebigen Charakter an.
Er ist den Pamphletisten gegenüber so großmüthig, wie Friedrich der Große,
er sendet dem „Kikeriki" seine photographirte Visitenkarte, damit seine Karrikatur
ähnlicher gerathe; des Fürsten Schwarzenberg berühmtes Wort: die Welt werde
über Oestreichs Undankbarkeit staunen, hat er auf die Kroaten überaus treffend
angewendet und in dem ungarischen Ausgleiche Cäsars Veni, vicZi, viel glän¬
zend in Scene gesetzt.
Der Ausgleich ist Beusis persönliches Werk, sein ausschließliches Verdienst.
Niemand wird bestreiten, daß er an Energie und Klugheit seine Vorgänger im
Amte weit übertrifft, unter den östreichischen Staatsmännern seinesgleichen nicht
zählt. Freilich wurde er auch von zwingenderen Motiven angetrieben als die
letzteren. Er kämpfte für seine Selbsterhaltung; wenn ihm der Ausgleich nicht
gelang, so war nicht allein sein politisches Ansehen gefährdet, er spielte dann
eine lächerliche Figur, besaß nicht mehr Feinde, sondern Spötter und Verächter.
Als er im verflossenen Herbst das Ministerium antrat, wie ein virtuoser Spieler
eine halb verlorene Partie von Stümpern übernimmt, stand bei ihm der Ent¬
schluß, irgendeinen Hauptstreich zu wagen, fest. Er mußte sich mit Eclat in
die neue Welt einführen oder sich verloren geben. Die Wahl des Schauplatzes,
in welchem er seinen Muth und seine Kunst erproben weilte. siel ihm nicht
schwer. In der rein äußeren Politik hielt er sich in vorsichtiger Reserve, weil
er nicht über reale Machtmittel gebot, die hier allein ein energisches Auftreten
gestatten. Dagegen stellte sich ihm in dem ungarischen Verfassungsstreite der
wünschenswerte Gegenstand für seine Zauberkünste entgegen. Die Lösung
dieser Frage galt für überaus schwierig, ja unmöglich, sie interessirte die öffent¬
liche Meinung Europas in hohem Grade, so daß er gewiß sein konnte, seine
Thätigkeit werde die Aufmerksamkeit aller Höfe und Cabincte fesseln und sie
war schließlich durch Schmerlings ruchlose Trägheit und Belcredis Bornirtheit
so gänzlich verfahren und verwickelt, daß er jedes Mittel ungescheut gebrauchen
konnte, ohne Furcht, Tadel zu finden und zur Verantwortung gezogen zu
werden.
Der Ausgleich um jeden Preis wurde seine Parole. Es kam ihm auf die
Bedingungen nicht an. ihn kümmerten nicht die Wunden, die er dem Staats¬
wesen schlug, ihn plagte nicht die Sorge, daß er Oestreichs Zukunft für einen
glänzenden momentanen Triumph verkaufe. Er brauchte den letzteren, während
ihm die erstere in zweifelhaftem Lichte erscheint. Damit war auch sein Weg
vorgezeichnet: rückhaltlose Bewilligung aller magyarischen Forderungen. De-
cretirung solcher Maßregeln, welche die Ungarn zufriedenstellen, sie geneigt
machen, den alten Streit als beigelegt zu proclamiren. Vertuschen und Ver¬
schweigen aller Schwierigkeiten, welche sich noch nachträglich dem thatsächlichen
Ausgleiche und vollendeten Frieden entgegenstellen dürften.
Hat Herr v. Beust den Ausgleich durchgesetzt? Wer will daran zweifeln,
wenn es alle Zeitungen verkündigen, die Magyaren selbst jubelnd behaupten,
die Regierung, die wiener wie die peslhcr, feierlich proclamirt. Die Ungarn
besitzen ihr selbständiges Ministerium, das Land ist in seine alte Machtvoll¬
kommenheit eingeführt, die Gesetze des Jahres 1848 sind wieder hergestellt, die
Oberherrlichkeit der Magyaren über die anderen Stämme, die Herrschaft des
engeren Ungarns über die Nebenländer anerkannt. Und dennoch ist in Wahr¬
heit der Ausgleich noch lange nicht fertig. Von vollendetem Ausgleiche kann
man erst dann reden, wenn die Stellung Ungarns zu den Erbländern geregelt,
das Verhältniß der Neichsregicrung zu den Ländcrgewalten einst geordnet ist.
Es ist dies wichtig, die Mehrheit der Magyaren erklärt, diese Regelung und
Ordnung sei nicht ihre Sache. Sie wären befriedigt, es mögen nun die anderen
Provinzen sehen, wie sie sich zu dem thatsächlich selbständigen Ungarn stellen
wollen. Eine ungarische Frage, einen ungarischen Vcrfassungsstrcit gebe es seit
dem Ministerium Andrassy nicht mehr. Dann giebt es aber eine östreichische
Frage, einen östreichischen Verfassungsstreit. Die Namen sind geändert, die
Sache ist geblieben. Wenn der wiener Reichsrath schlüssig geworden, zwischen
ihm und dem ungarischen Landtage das Einverständnis; erreicht, wenn die ge¬
meinsamen Angelegenheiten genau bestimmt und der Modus ihrer Behandlung
gefunden ist, denn ist der Ausgleich auch sachlich vorhanden und wirklich voll¬
endet. Herr v. Beust weiß, daß diese Verhandlungen nicht glatt verlaufen
werden, er hat aber nicht falsch gerechnet, wenn er annimmt, daß alle späteren
Schwierigkeiten den Nimbus seiner That nicht verwischen werden. Er ist der
Wunderthäter und bei Wundern ist bekanntlich der erste Glaube entscheidend,
dem letzten Erfolge des Wunders nachzuspüren, nimmt sich niemand die Zeit,
dazu haben nur Wenige die Lust und den Eifer.
Doch hüten wir uns, Herrn v. Beust zu verläumden. Man sagt, er konnte
leicht mit den Ungarn Frieden schließen, indem er sich ihnen auf Gnade und
Ungnade ergab. Das ist nur bis zu einem gewissen Grade richtig. Er hat
allerdings viele Staatsinteressen compromittirt, dadurch, daß er den Antheil
Ungarns an der Staatsschuld in Frage ließ, die Einheit des Zollgebietes. die
Sicherheit des Handelsverkehrs nicht wahrte, „kündbare Zoll- und Handels¬
verträge zwischen Ungarn und den Erbländern" zuließ, die Früchte eines langen
Kampfes geopfert. Die Ziele seiner persönlichen Politik hat er nicht außer
Acht gelassen, seinen Ruf eines klugen und gewandten Mannes nicht gefährdet.
Den Warnern und Zweiflern an der Nichtigkeit seiner Kunst hält er Folgendes
entgegen: Das ungarische Ministerium ist nicht so stark, als man es durch die
ihm bewilligten Zugeständnisse glaubt, die Stellung der Magyaren nicht so fest,
daß sie der östreichischen Freundschaft entbehren können. Alle die Schwierigkeiten,
mit welchen die östreichische Administration seit 1850 zu kämpfen hatte, wird
auch die ungarische Verwaltung auf ihrem Wege antreffen. Sie wird nicht
wohlfeiler regieren, als die von Wien aus gesendeten Beamten, aber auf die
gleiche Saumseligkeit im Steuerzahler stoßen, ja vielleicht noch einer heftigeren
Opposition begegnen. Denn von dem nationalen Ministerium erwartet jeder¬
mann das Unmögliche, von diesem hofft der Vollblutm.igyar namentlich auch
alle thörichten Wünsche verwirklicht. Der lange Stillstand des constitutionellen
Lebens hat die klaren Anschauungen verwischt, die Verschiedenheit der Verfassung
Vom Jahre 48 von der eoustiwtio avita übersehen lassen.
Wie viele von den Männern, die da nach der alten legitimen Verfassung
riefen und deren Wiederherstellung bejubeln, wissen, daß dieselbe 1848 begraben
wurde, die gemüthliche Comitatsanarchie von dem budapesther Ministerium
nicht geduldet werden könne. Finanzielle Nöthe und administrative Schwierig¬
keiten aller Art stehen dem Ministerium Andrassy in Aussicht. Dadurch ist ge¬
sorgt, daß es nicht seine Selbständigkeit allzu stark betont, sich nicht schroff der
wiener Negierung entgegenstellt. Noch ein anderer Moment verdient Erwägung
und erleichtert die Position des wiener Cabuietes. Wie im Jahre 1848 ist
auch jetzt Siebenbürgen der ungarischen Herrschaft unbedingt überliefert, sind
die Privilegien der Kroaten zu Gunsten des Hauptlandcs beseitigt. Den
gleichen Ursachen^ folgen aber diesmal nicht die gleichen Wirkungen. Kein
Bürgerkrieg droht in Siebenbürgen, keine Volkserhebung bereitet sich unter den
südslawischen Stämmen vor. Die siebzehnjährige Mißregierung Bachs und
Schmerlings hat die Enthusiasten für das ungetheilte Oestreich arg gelichtet,
auch fehlt der militärische Impuls, welcher in der Revolutionszeit den bewaff¬
neten Widerstand gegen die Magyaren nährte und organisirte. So wenig das
System der Centralisation jetzt unter Sachsen. Rumänen, Slowaken. Kroaten
und Serben auf Anhänger rechnen kann, so wenig dürfen sich aber auch die
Magyaren schmeicheln, diese Stämme für sich gewonnen zu haben. Erreicht
ist nur das Eine, daß ein gemeinsamer Kampfboden anerkannt ist, auf diesem
bilden die nicht magyarischen Ungarn den Kern cinerparlamentarischen Opposition,
welche nach Umständen von dem ungarischen Ministerium gegen die nationalen
Heißsporne, und von der wiener Regierung gegen ein ungarisches ungeberdiges
Ministerium verwendet werden kann. Die ungarischen Führer müssen erst durch
eigene Erfahrung belehrt werden, wie unendlich schwieriger es sei zu regreren.
als mit gekreuzten Armen ihr Recht und nur ihr Recht pathetisch aber eintönig
auszurufen. Diese Erfahrung wird sie milder stimmen und Transactionen
zugänglich machen.
Mit diesen und ähnlichen Argumenten tröstet Herr v. Beust die über seine
Nachgiebigkeit verblüfften Höflinge und Ministerialbeamten. Er hält aber,
wenn jene Trostgründe nicht wirken sollten, noch andere Waffen in Bereitschaft.
Durch den Ausgleich mit Ungarn hat er Oestreichs Machtstellung gestärkt, dem
östreichischen Kaiser- die Mittel verschafft, den Kampf mit Preußen nächstens
wieder aufzunehmen. Wir erkennen darin einen wirklich genialen Zug, daß
Herr v. Beust die Schwächen der ungarischen Staatsmänner so rasch begriffen
und so glücklich für seine persönlichen Zwecke benutzt hat. Die Magyarenführcr
halten an dem Grundsätze fest, daß für Ungarns Selbständigkeit und Freiheit
Oestreichs Einmischung in die deutschen Angelegenheiten nothwendig sei. Auch
Thiers meint ja. die Größe Frankreichs werde durch die Schwäche Deutschlands
bedingt. Die gegenwärtigen ungarischen Minister, die ganze Deäkpartei und
auch viele Pesther Radicale sind großdcutsch gesinnt, wenn auch aus einem an¬
dern Grunde als die idealistischen Schwaben. Sie sehen in der Verquickung
östreichischer und deutscher Vcrfassungspolitik eine Garantie gegen das Erwachen
einer selbständigen östreichischen Staatskunst. So lange die Bewohner der
Staatskanzlei Oestreichs Bestand gefährdet glauben, wenn nicht in Darmstadt
und Stuttgart nach der Melodie des östreichischen Ländlers getanzt wird, so
lange die wiener Politiker Oestreichs Macht höher stellen als den organischen
Staat, haben die Magyaren für ihre Selbständigkeit wenig zu fürchten.
Die Unterstützung der deutschen Politik ist dem wiener Cabinet um keinen
Preis zu theuer erkauft, u>d auch wenn ein östreichischer Ministerpräsident,
wie Felix Schwarzenberg, gleichzeitig europäische Machtpolitik treiben, und
Oestreich neu organisiren wollte, dazu reichen Oestreichs Kräfte nicht aus.
Auf die großdeutschen Sympathien der ungarischen Führer stützte Herr
v. Beust seine Pläne. Ohne Mühe bewies er, daß in der deutschen Politik,
wie er sie auffasse, Oestreichs und Ungarns Interessen zusammenfallen, daß
sonst gegen die föderalistischen Slawen kein Gegengewicht zu finden sei. diese
in Oestreich und Ungarn die Gewalt an sich reißen würden. Der Zustimmung
der ungarischen Staatsmänner darin gewiß, stellte er nun die weitere Forde¬
rung, daß Ungar» die deutschen Pläne Oestreichs unterstütze, ihm die Mittel
in die Hand gebe, seine europäische Machtstellung auch fernerhin in Ehren zu be¬
haupten. Diese Mittel bestehen in der völligen Completirung des ungari-
schen Heerestheiles und dem Verzichte auf eine nationale Organisation des
letzteren.
Da es bekannt war, daß-die mächtige Militärpartei in Wien in keinem
Falle eine Theilung der Armee dulden würde, da überdies Andrassy und seine
Freunde an einer neuen Honvcdauflage kein Gefallen hatten, so kam die Einigung
bald zu Stande. Herr v. Beust opfert die Sicherheit des östreichischen Handels,
und drückt das Auge zu, wenn östreichisches Recht schon am Ufer der Leitha sich
in Unrecht verwandelt, und hat nichts dagegen, daß nur die Erbländer am Fi-
nanzkarrcn ziehen und neben den das Lastschleppen gewohnten östreichischen Kanten
das ungarische Rößlein frei und munter galoppirt,-und gibt die Stetigkeit des
Verkehres, die wirthschaftlichen Verhältnisse Preis, —darüber kann später ver¬
handelt werden. Aber augenblicklich hat er 48,000 Rekruten geschenkt erhalten
und da Herr v. Bete auch einen Staatsschatz (!) sammelt, so kann er hoffen,
im Sommer, wenn es paßt, die große Trommel wieder zu-rühren.
Werden Beusts Pläne verwirklicht werden? Das hängt von der Stellung
der Deutschen im wiener Reichstage ab. Ihren Pflichtenkreis zu schildern, ist
Was die berliner Universität, der geistige Exponent des neuen preußischen
Staates, der deutschen Wissenschaft bedeutet, lehren die jüngst gefeierten Jubi¬
läen hervorragender Mitglieder dieser großartigen Körperschaft ebenso wie die
Reihe schmerzlicher Verluste, welche sie in kurzer Zeit erfahren. Der erste grö¬
ßere Lebensabschnitt, den die jüngste unsrer Hochschulen zurückgelegt hat, mahnt
zugleich daran,,daß eine Periode wissenschaftlicher Arbeit von wahrhaft einziger
Würde und Höhe mit ihm zu Rüste geht. Welch eine Zahl herrlicher Geister,
alle angethan, epochemachenden Aufschwung in Erkenntniß und Forschung je
auf ihrem Gebiete den Namen zu geben, sind mit den Geschicken des ersten
Halbjahrhunderts der berliner Universität verbunden; aber die meisten, welche
aus der großen Zeit, die sie erzog, noch zu uns herüberragen, nahen dem Ziel
menschlicher Tage, und wie sie mit denen, die schon heimgegangen, in erlauchter
Zeitgenossenschaft cmporgediehen sind zu geistigen Führern ihrer Nation, können
auch die Jahre nahe bei einander liegen, welche diesem herrlichen Geschlecht
von Coätanen den Feierabend der Lebensarbeit bringen.
Desto lauter und freudiger feiert die dankbare Mtwelt die festlichen Stun¬
den, welche bedeutsame Erinnerungen aus der Vergangenheit der theuren Männer
wach rufen. So beging der große Kreis vo» Genossen, Schülerin und Bewun¬
derern vor wenig Wochen Leopold Rankes fünfzigjähriges Doctorjubiläum, ein
Fest, das von der umfassenden fruchtbaren Wirksamkeit rufus großen Historikers
ebenso treues Zeugniß gab wie von der Dankbarkeit und der Begeisterung,
mit welcher alle, denen er im engern und im weitern Sinne Lehrer war und
ist, sich die Seinigen nennen.
Am 13. März ist wiederum ein seltenes Gelehrtenfest in Berlin gefeiert
worden. Um den einundachtzigjährigen Altmeister der deutschen Philologie,
August Vöckh, versammelten sich von Nah und Fein seine Schüler und Freunde,
um ihm an dem Tage Glück zu wünschen, an dem er vor nunmehr sechzig
Jahren in Halle die Doctorwürde erlangte. sei on das fünfzigjährige Jubiläum
im Jahre 1837 war zu einem Festtage der deutschen Wissenschaft geworden,
am 24. November 1865 war es Böckhs achtzigjähriger Geburtstag, der wieder¬
um den Anlaß zu den freudigsten Kundgebungen bot. Aber mochten auch alle
Ehrenbezeugungen, welche Akademien und Universitäten, welche Stadt und
Staat zu verleihen im Stande sind, nahezu erschöpft sein: die treue Dankbar¬
keit, die begeisterte Verehrung seiner Schüler, die Bewunderung aller Männer
der Wissenschaft, die Hochachtung jedes Staatsbürgers, sie mühten wieder einen
Ausdruck gewinnen, und so vereinten sich denn die Vertreter aller Stände, und
jeder hat in seiner Mi>e zur Verherrlichung des Festes beigetragen.
Aber welch ein gewaltiger Strom geistigen Lebens ist es auch, der sich
aus der Seele dieses Mannes heraus befruchtend und anregend über die deutschen
Hochschulen ergoß und weiter -getragen wurde in die Gymnasien und Real¬
schulen, so daß in unsrem deutschen Vaterlande, wo ja fast niemand unberührt
bleiben kann von dem Hauch antiken Geisteslebens, auch fast niemand ist. der
nicht seinen Theil von den Fru l'ten davongetragen hätte, die dieser Mann mit
voller Hand gesäet. Wo Böckh angefaßt hat, ist Grund gelegt worden, er
hat der geistigen Entwickelung der Philologie die Bahn bezeichnet, in der sie
fortarbeitet. — Ihm ist die classische Philologie nicht Anhäufung wissens-
wcrther Einzelheiten über Griechen und Römer: wie der Naturforscher die Werke
der Schöpfung ergründet, so will er das geistige Leben des Volkes in allen
seinen Erscheinungen als ein einheitliches Ganzes betrachten und auf historisch
reproducirenden Wege zur Anschauung bringe!?. Wie Winckelmann einst nichts
vorfand als Beiträge zur Geschichte der Künstler, und eine Geschichte der grie¬
chischen Kunst schuf, so ergriff Vöckh das Wesen der griechischen Literatur und
was bis dahin, wie Winckelmann es nennt, eine Er-ählung der Zeitfolge und
der Veränderungen in derselben gewesen war, das wurde in seinem schaffenden
Geiste ein organisch gegliedertes Ganzes, das sich noch in strenger Folgerichtig¬
keit entwickelt. Für die Geschichte des griechischen Dramas sind die Grund¬
gedanken seines ersten Hauptwerkes als princixibus ti-agoecii^e graeeav (1808)
heute ein Gemeingut der gebildeten Welt. In Heidelberg, wo er von 1807—11
an der Universität lehrte, entstand auch seine berühmte Abhandlung über die
Versmaße des Pindar (1809), worin er den künstlerischen Bau der antiken
Strophe wieder erschloß und so die Grundlage für das Studium der griechischen
Metrik schuf.
Im Jahre 1811 wurde er an die neu gegründete Universität zu Berlin
berufen und hier entwickelte er eine fast unvergleichlich dastehende Wirksamkeit.
Kurz nacheinander und zum Theil neben einander entstanden hier seine großen
Hauptwerke: die Ausgabe des Pindar mit Schotten und Kommentar (1811—22)
in der er zum ersten Mal den wirklichen Nachweis über den inneren Zusammen¬
hang, der einzelnen Theile der Oden führte, der Staaishaushalt der Aihener
(1817—40). durch welchen auch zum ersten Male der staatliche Organismus der
attischen Republik entwickelt wurde. Die hochberühmten Arbeiten über das
attische Seewesen erschienen 1840 in der zweiten Auflage des letztgenannten
Werkes, nachdem die Entdeckungen der Rechnungsablagen im Pircius das Ma¬
terial dazu geliefert. In dieselbe Zeit fallen die Vorarbeiten zu der Samm¬
lung aller bisher bekannt gewordener griechischer Inschriften, welche auf Kosten
der Akademie unter der Mitarbeiterschaft Von Franz Kurtius und Kirchhofs als
<noi-M8 lnsel-iptionum Zraeearum von 1825 — 69 erschien. Daneben beschäf¬
tigte sich Böckh mit der griechischen Philosophie; nachdem er schon 1807 über
platonische Dialoge geschrieben, erschienen 1819 Philolaus des Pythagoräers
Lehren und Fragmente, Bon höchster Bedeutung wurden seine metrologischen
Untersuchungen (1888), seine Arbeiten über Manetho (1845), über die Mond-
cyklen der Hellenen (1859) und die vierjährigen Sonnenkreise der Alten (1863),
daneben stehen eine Anzahl kleinerer Abhandlungen, die in den Schriften der
Akademie und den Lectionskatalogen veröffentlicht sind, so über den Midas d.es
Demosthenes, den Stil des Pausanias, die Entstehungszeit des Oedipus auf
Kolonos, über neu entdeckte Inschriften aller Art. Kurz es ist fast kein Gebiet
classischer Philologie, in daS er nicht eingegriffen, in dem er nicht Hervorragen¬
des geleistet hat. Ein eigenthümliches Interesse hat seine Uebersetzung der An-
tigone des Sophokles, welche er auf Wunsch Friedrich Wilhelm des Vierten nach
zweitausendjährigen Schlummer wieder auf der Bühne auferstehen ließ. Als
Professor der Beredsamkeit lag ihm die Pflicht ob. bei besondern Veranlassungen
die Festreden der Universität zu halten und so entstand eine Reihe vollendeter
oratorischer Meisterwerke.
Seine größte Wirksamkeit entfaltete Böckh als akademischer,Lehrer in seinen
Kollegien, die sich über nahezu alle Theile der classischen Philologie verbreiteten.
Mit dem feinsten nachempfinden wußte er hier in den Geist des Schriftstellers,
den er interpretirte. einzuführen, in seinen „Alterthümern" baute sich das ganze
Leben des griechischen Volkes im organischen Zusammenhange auf, mit ein¬
dringender S l'arse untersuchte er die verwickeltsten Fragen, in hinreißender Be¬
geisterung schilderte er die Schönheit jener Blüthentage des menschlichen Geistes,
mit psychologischer Feinheit wußte er die Entstehung uns ferneliegender An¬
schauungen zu entwickeln und mit wahrhaft attischer Grazie den Gang des
Vortrags über die wunderlichen Auswüchse hellenischer Sinnlichkeit hinwegzu¬
leiten.
Von Böckhs Ansichten und der BeHandlungsweise der griechischen Literatur
besitzen wir in der Literaturgeschichte Ottfried Müllers, seines hervorragenden
Schülers, einen schönen Abglanz. Ein Colleg, wie die böckhsche Encyklopädie
der Philologie wird wohl kaum jemals wieder gelesen werden.
Aber wenn der einundachtzigjährige Greis seinen Lehrstuhl jetzt auch jüngeren
Kräften überläßt, seine Geistesrichtung, seiue wissenschaftlichen Errungenschaften,
sie leben fort in der unübersehbaren Schaar der Schüler, die bewußt und un¬
bewußt die Art seines Denkens in sich aufgenommen, denn die meisten seiner
Anschauungen sind so vollständig Gemeingut unserer Bildung, daß man kaum
mehr weiß, daß ein Einzelner sie erst einmal hat erschaffen müssen.
Und wie jeder seiner Schüler sich sagen mußte, daß der geliebte Lehrer in
dem Bewußtsein, in dieser Weise gewirkt zu haben, von jeher seinen schönsten
Lohn fand, so kamen sie auch an seinem jüngstgefcierten Ehrenfeste von Nah
und Fern herbei, um ihm zu sagen, daß sie sich eins mit ihm fühlten in ihrem
Schaffen, daß er der Meister sei, zu dem sie in dankbarer Verehrung empor¬
blickten. Unübersehbar war die Zahl der Adresse», Briefe, Zuschriften, Depeschen
und Deputationen, die an diesem Tage bei dem Jubilar zusammenströmten.
Von der berliner Akademie, der Universität, dem Ministerium, dem Schul-
collcgium, den städtischen Behörden, den Gymnasien, den Realschulen, von
Potsdam, Halle, Jena, Breslau, Heidelberg, Bon», Hamburg, Leipzig, Wien,
Prag, aus England, von Behörden und einzelnen Gelehrten, von Facultäten
und Studentenschaften, von gekrönten Häuptern und den Mitbewohnern des
Hauses, von den Turnern und den Burschenschafter, von Greisen, die 1806
seine Schüler gewesen, als er noch Lehrer war am grauen Kloster zu Berlin,
bis zum blutjungen Studenten, der noch seine letzten Kollegien gehört, von
allen Seiten kamen die Glückwünsche angcfluthet, unübersehbar zuletzt und un¬
zählbar. An des verstorbenen Cornelius Stelle wurde Böckh zum Kanzler des
Ordens pour to moritv ernannt, dessen, Vicekanzler er bis dahin gewesen, von
dem König erhielt der Jubilar ein Handschreiben, von der Königin eine kost¬
bare Porcellanvase mit der Darstellung des königlichen Palais und der Statue
Friedrichs des Großen, begleitet von einem Handschreiben, welches neben den
Glückwünschen die schönen und würdigen Worte enthielt: „Möge das eine von
diesen Bildern Ihnen zur freundlichen Erinnerung an seine Bewohner, das
andere, welches das Andenken an alles das verewigt, was unter Friedrich dem
Großen Erhabenes geleistet worden, zur Gewähr dienen, daß das Vaterland
das Andenken an unsere großen Männer in Ehren zu halten weiß." Der
Kronprinz kam persönlich, um den Jubilar zu begrüßen, dessen jüngeren Kol¬
legen er sich als elfjähriger Doctor von Oxford nennen dürfe. Magistrat und
Stadtverordnete begrüßten den Gefeierten als Ehrenbürger der Stadt Berlin,
wozu er bei Gelegenheit seines funfzigjährigen Dvctorjubiläums ernannt war.
Daß alle wissenschaftlichen Notabilitäten und die Spitzen der Behörden sich
einfanden, bedarf kaum einer Erwähnung. Und als. der Abend des bewegten
Tages herankam und mehr als 200 geladene Gäste die weiten Räume des
Festhauses durchwogten, da verkündete schmetternde Marschmusik den heran¬
nahenden Fackelzug der berliner Studenten. Ueber 600 Fackelträger kamen sie
an, zu Pferd und Wagen, die Chargutcn in vollem Wichs vorne auf, alle Ver¬
bindungen und Korporationen mit ihren Fahnen und Musttchören, ein reiches
bewegtes Bild jugendlicher Frische und Lebenslust. Aber es war nicht blos
Dankbarkeit gegen den hervorragenden Gelehrten, was diese Schaaren erfüllte,
was mit sympathischen Feuer in die herdeigeströmten Volt'smasscn hinüberzuckte,
was selbst unsere schnelllebende politische Tagespresse an dem Festtage des greisen
Professors sich sammeln hieß: das war noch etwas Anderes, es war die Zauber¬
kraft der vollendeten männlichen Persönlichkeit, welche den alten Lvckh zu einem
Vorbild edler Bürgertugend macht, wie sie ihn 'zum geistigen Haupte seiner
Wissenschaft erhob. Dieser Geist, in dem die zartesten Töne der hellenischen
Sänger wicderklangen, dieser Geist war auch gestählt im Kampfe gegen Unrecht
und Unterdrückung. Mit vollem Mannesmuthe trat er für die Rechte des
Volkes ein, laut erhob noch der Achtzigjährige seine Stimme gegen die Aus¬
schreitungen der Staatsgewalt. Das Leben in längst vergangenen Zeiten hatte
ihm den Vlick für die Fragen der Gegenwart nicht getrübt und mögen hier
die Worte einen Platz finden, die sein Schwiegersohn Professor Gneist auf dem
studentischen Commerse, der sich an den Fackelzug anschloß, unter dem Jubel
der akademischen Jugend über ihn gesprochen: „Wir leben in einer ernsten Zeit,
in der wir einer großen Zukunft entgegensehen, mit Velläugnung so manches
berechtigten Gefühles müssen wir an dem Werke der Gründung des deutschen
Staates arbeiten und in diesen schweren Augenblicken mag uns Vöckhs Wirten
wie ein günstiges Omen vor der Seele stehen. Ein Schwabe ist er von Geburt
und doch mit voller Seele eingewachsen in den Geist der norddeutschen Uni¬
versität. Mit voller Liebe hat er die Eigenthümlichkeiten des norddeutschen
Wesens erfaßt, mit Begeisterung hangt er an i ein Staate, dessen Bürger er
jetzt seit mehr als fünfzig Jahren ist. Daß dieser Geist, der für alles Schöne
und Edle lebt, in dieser Weise fähig war, die besten Eigenschaften den Nation
in sich zu verschmelzen, das mag uns eine Bürgschaft dafür sein, daß es auch
dem Norden und Süden des deutschen Volkes gelingen wird, in ein harmoni¬
Briefwechsel zwischen Goethe und Kaspar Graf v. Sternlurg (1820 —1832), Hcraus-
geacben von F. Th. Bratranck. Wien, Brauinüllcr.
Zu Marienbad im Juli 1822 war es, als die beiden edeln Greise Goethe
und Sternberg zum ersten Male persönlich zusammentrafen; jener stand damals
im 73., dieser im 61. Lebensjahre. Die Begegnung geschah, wie das Goethe
von so vielen seiner Erlebnisse zu rühmen hat, für ihn grade zur rechten Zeit;
„denn — wie er mündlich und schriftlich darüber bemerkte — sollte man wün¬
schen sich früher gekannt zu haben, so ist zu erwiedern: wenn zwei Reisende
aus zwei entfernten Weltgegenden nach einem Punkt zusammcnstrebcnd sich end¬
lich auf demselben antreffen, ihren Erwerb vergleichen und das einseitig Ge¬
wonnene wohlwollend austauschen, so möchte es wohl vortheilhafter sein, als
wenn sie die Reise zusammen angetreten und vollbracht hätten. Graf Stern¬
berg ist aus einer Zeit, wo sich Aussichten hervorthaten, Gesinnungen ent¬
wickelten, Studien besondere Reize ausübten, zu denen allen ich mich selbst be¬
kenne. Eine solche Annäherung ist mir doch unendlich werth, weil eine neue
Generation unter andern Bedingungen geboren, zu anderen Zuständen erzogen,
durch Verdienst und Unverdienst von der älteren absteht. Ein fortgesetztes
thätiges Verhältniß wnd beiden Theilen zu Nutzen und Frommen gereichen."
Und in der That wurde der mittelst wissenschaftlicher Berührungspunkte bereits
vor der persönlichen Bekanntschaft angeknüpfte und durch dieselbe zu regsten
geistigen Verkehr gestaltete Briefwechsel namentlich für Goethe von großer
Wichtigkeit, indem eine Persönlichkeit wie diese so allseitig 'an seine eignen
Lebensverhältnisse anklingend ihm in seinen reiferen Jahren überhaupt noch
nicht begegnet war und nun für den befriedigenden Abschluß seines wissen¬
schaftlichen Strebens ähnlich wirkte wie einst Schiller für die Wiedererweckung
der Poesie.— Graf Sternberg hatte ein bewegtes Leben hinter sich. In früher
Jngend für den geistlichen Stand bestimmt, hatte er diese Laufbahn mit Ehren
angetreten und namentlich als Canonicus in Regensburg zur Zeit des Reichs-
deputationshauptschlusses sich als Charakter bewahr«. Seine eigentlichen Nei¬
gungen aber führten ihn auf das Feld der Naturwissenschaften und durch
mannigfaltige Reisen ward ihm die Bekanntschaft und zum Theil engere Ver¬
bindung mit fast allen großen Naturforschern seiner Zeit eröffnet. Sein Special¬
fach fand er in der Botanik und hier wiederum galten der fossilen Pflanzen¬
welt seine Hauptstudicn, die er in seiner großen I'Iora sudteri-lrriea (1820—38)
zusammenfaßte und für die er in den Grubenwerken seiner eigenen Güter
ein vortreffliches Uutersuchungsfeld besaß. Ein Edelmann im schönsten Sinne
des Wortes lauschte er den Regungen vaterländisch-böhmischer Selbständigkeit
allenthalben, wo sie eine gesunde Richtung nahmen; er wurde der Gründer
des prager Nationalmuseums und erzielte, indem er zu den großen Wander¬
versammlungen deutscher Naturforscher die erste Anregung gab, eine erst in
unseren Tagen in ihrer vollen Wichtigkeit gewürdigte Förderung der Wissen¬
schaft. In diesem Manne nun fand auch Goethe einen Mentor. Jede natur¬
wissenschaftliche Frage, die ihn dringend beschäftigt (hauptsächlich handelt es sich
um Geologie und Meteorologie) legt er dem Freunde zur Begutachtung vor
und erhält von ihn, prompte und bestimmte Auskunft; während er wiederum
diesem zu Liebe innerhalb des kleinen Staates, der ihm zur Gerfügung steht,
Nachgrabungen anstellen und Berichte aufsetzen läßt. Die positiven Resultate
dieser schriftlichen Zwiegespräche sind- freilich wohl von der Wissenschaft längst
gebucht und zum großen Theil bereits antiquirt, aber einiges, z. B. die schöne
Studie Sternbergs über die Gcwitterznge in Böhmen, behält wohl noch heute
seinen Werth, und die Hauptsache ist ja nicht, was, sondern wie hier verhan¬
delt wird, mit welchem Ernst sich der Eine wie der Andere in die Sache ver¬
senkt, im Kleinsten das Größte zu erschauen sucht und das neu Entdeckte mit dem
bereits Gewußten geistvoll und besonnen zu combiniren weiß, ganz abgesehen von
der Form des goetheschen Briefstils, die auch hier des Lernenswerthcn genug bietet.
Wie der Herausgeber richtig bemerkt, wird durch die vorliegende Publication
freilich nicht der, welcher nach Sensationen und Pikanterien hascht, wohl aber
der befriedigt werden, den es erfreut, große Menschen in der Werkstatt« ihres
Schaffens zu belauschen. Uebrigens fehlt es keineswegs an lebendig gefärbten
Stellen allgemeinsten Interesses. Ich erwähne nur z. B. die scherzhafte Art.
wie Goethe die Klagen über Wiederkehr der gewaltsamen Brandepoche mit der
Hinweisung auf die Kirchen- und Kegcihistorie tröstet, oder an seine hübschen
Bemerkungen beim Erscheinen der scottschen Biographie Napoleons.
Ein Wort, das über Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten als Motto
stehen könnte, findet sich S. 165: „Der Mensch gesteht überall Probleme
zu und kann doch keines ruhen und liegen lassen; und dieses ist auch ganz
recht, denn sonst würde die Forschung aufhören, aber mit dem Positiven muß
man es nicht so ernsthaft nehmen, sondern sich durch Ironie darüber erheben
und ihm dadurch die Eigenschaft des Problems erhalten; denn sonst wird man
bei jedem geschichtlichen Rückblick confus und ärgerlich über sich selbst." —
Gleichzeitige Leistungen auf verwandten Gebieten werden mit Wärme besprochen,
das carussche Werk von den Ur-Theilen des Knochen- und Schalengerüstes mit
Emphase gelobt. Alexander v. Humboldt hingegen gewarnt, sich nicht an allzu
große Ansichten und Zusammenstellungen zu gewöhnen, für welche zur Zeit
noch die nöthigen Belege fehlen möchten. — Daneben giebt sich das Interesse
an ausländischer Literatur auch in diesem brieflichen Austausch .kund: „Grade
die junge Masse der Nationen" — schreibt Goethe — „die sich nach uns um¬
sieht, lebt mit einer andern, die aus dem alten Eigenen beharrt, in Wide> streit,
deshalb suchen sie sich durch uns zu stärken, indem sie, was an uns kräftig
sein mag, gelten lassen. Es ist ein eigenes Verhältniß, das sich erst »einigen
und zurecht schicken muß, welches aber mehr Zeit erfordern möchte, als uns zum
Mitwirken übrig geblieben ist."
Vorzüglich anregend ist ihm die französische Zeitung „to Klobe", doch nur
so lange sie nicht an dem politischen Partcikampf jener Tage selbst entschiedenen
Antheil nimmt, sobald dies (1827) geschieht, sinkt seine Theilnahme und er
prophezeit eine neue Staatsumwälzung. Seine politischen Anschauungen offen¬
baren sich jedoch von einer andern interessanten Seite, als er auf die Versamm¬
lungen der Naturforscher zu sprechen kommt: „Was den politischen Punkt be¬
trifft,^» wurde ich einem Staatsmann sagen: grade jetzt, da eine unselige
Schrift des Joh. Wit die widerwärtigsten Geheimnisse aufdeckt und dergleichen
noch mehre folgen werden, so ist es jklug, die wissenschafilichen Notablen einer
Nation auch einmal bei sich zu versammeln, zu versuchen, in wiefern man Zu¬
trauen zu ihnen gewinnen, ihnen Zutrauen einflößen könne; man würde gewiß
Bortheil davon ziehen und wenn man ihnen den Hellenismus nachgäbe, gar
wohl bemerken: daß man in neuerer Zeit vor eigentlichen Verschwörungen und
Erschütterungen bei uns wohl gesichert sei."
Der letzte Brief Goethes, acht Tage vor seinem Tode, zeigt uns den Alt¬
meister noch in ganzer Vollkraft des Schaffens und die Schlußzeilen rufen den
Sinn seines letzten Ausspruchs beim Abscheiden in bewegender Weise zur Er¬
innerung. —
Aber ganz als den ewigen Jüngling finden wir ihn in seinem alleriehien
Concept wieder, das noch später als dieser Brief fällt und uns unter den Bei¬
lagen aufbewahrt ist. Nachdem er bemerkt, daß das Studium der Spiralität
des Pflanzcnwachsthums ihn nicht losgelassen, fügt er hinzu:
„Im Anfange mußte die Schlingpflanze sich um den sich erhebenden Stamm
in kaum merklichen Kreisen herumwinden. Jemehr er sich aber der obern zarten
Spitze näherte, desto schneller mußte die Schneckenlinie sich drehen, um endlich
in einem Kreise auf einem Diskus sich zu versammeln, dem Tanze ähnlich, wo
man sich in der Jugend gar oft Brust an Brust. Herz an Herz mit den liebens¬
würdigsten Kindern selbst wider Willen gedrückt sah." (S. 282.)
Noch manche andere solcher gelegentlichen Bemerkungen von köstlichem Werth
sind in diesen Beilagen zuerst gesammelt. Das Juwel unter denselben aber ist
der Brief an eine Kunstschülerin in Prag, den das gute Kind, wie uns Stern¬
berg berichtet, forian als ein Amulet an ihrem Herzen trug. Diese zarte Pietät
möge gerechtfertigt werden, indem wir Goethes Wi'rde hier folgen lassen: „Da
Sie einen lebhaften Drcing fühlen, dasjenige, was Ihnen in der sichtbaren
Welt begegnet, nachzubilden, so bitte ich Sie inständig, sich nur an das Be¬
wegte, Thätige, Kräftige und Wirksame zu halten. Um mich verständlich zu
machen, geh ich schnell zu Beispielen: Sehen Sie den Kindern aufmerksam zu,
wenn diese nun im Frühjahr ihre Spiele beginnen; es sei nun, daß sie Ball
werfen und schlage», den Kreisel peitschen, den Reis treiben, aus Stelzen gehen,
sich überschlagen und wozu sie sonst die Ueberfülle der unaus^ebildeten Kräfte
muthwillig verschwenden. Heften Sie ferner Ihre Augen auf solche Handwerker,
welche kräftige, tüchtige Bewegungen nachzubilden Anlaß geben, den Schmiede-
meister, der mit seinen Gesellen um den Ambos her wirkend das Eisen bändigt.
Lauern Sie ihm, wie andere das Charakteristische des Geschäfts ab. Sind Sie
zu ruhigeren Betrachtungen geneigt,-so sehen Sie auf dem Markt Verkäufern
und Käufern zu, dort weiden einem aufmerksamen .geistreichen Blick die an¬
muthigsten Motive sich entdecken.
Nun aber, da ich Sie an die nächste Wirklichkeit hinführe, welche fast-un¬
werth schiene, von Ihnen nachgebildet zu werden, so sage ich noch, daß der
Geist des Wirklichen eigentlich das wahre Ideale ist. Das unmittelbar sichtlich
Sinnliche dürfen wir nicht verschmähen, sonst fahren wir ohne Ballast. Und
auch jenes Wirkliche sollen Sie nicht als gemein nachbilden. Was sich von
dem menschlichen Körper nackt mit Anstand zeichnen läßt, Hals, Nacken,-Brust,
Arme, Schenkel, Füße müssen durch leichte Gewände mehr geziert als versteckt
die freie Menschheit darstellen....., wobei ich denn aber und abermals
wiederhole, daß der bildende Künstler sich zuerst an der kräftigen Wirklichkeit
vollkommen durchüben müsse, um das Ideale daraus zu entwickeln, ja zum
Religiösen endlich aufzusteigen." —
Die sorgsame und correcte Ausführung, mit welcher sich der Herausgeber
seiner Aufgabe unterzogen, verdient alles Lob; er hat, ohne jemals Überflüssiges
zu geben, alles zur Erläuterung Wünschenswerthe in geeigneter Form beigebracht,
namentlich ist von ihm in trefflicher Zusammenfassung geschildert worden, wel¬
ches Interesse Goethe an böhmischer Nationalität nahm und in welcher Weise
die von den Vertretern derselben gewürdigt worden.
Mit Ur. R4 beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1867.Die Verlagshandlung.