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]]> Der Kriegssturm, welcher in diesem Sommer über unsere Länder fuhr und
die Gipfel stolzer Bäume brach, l>at geendet in einem warmen Wehen, welches
die Blüthen von tausend Festgewinden bewegt. Die lebenden Krieger sind fast
alle zur Heimath gekehrt, auch die große Woche der Einzuge ist vorüber. In
den meisten Landschaften des neuen Bundes und in den acht alten Provinzen
des preußischen Staates war seit vierzehn Tagen die letzte große Geschäftigkeit
des Krieges eine freudige Arbeit nach schwerer Sorgenzeit. Unzählbar sind die
Kränze und Sträuße, welche geflochten worden, sehr schön die Anreden, welche
die lieben Väter der Stadt an die bekränzten Hclmträger richteten, nicht klein
waren die runden Tonnen und essenswürdigen Schüsseln, welche in geschmückten
Festsälcn aufgestellt wurden. Und wenn es ein physikalisches Kunstnüttel gäbe,
die hallenden Hochrufe der Millionen zu einem einzigen Ton zu concentriren,
es wäre ein Donnerklang geworden, der von der Newa bis zu den Pyrenäen
die Luft erschüttert hätte. Unterdeß mußten die Zeitungen solchen Klang er¬
setzen. Sehr verschieden waren freilich die Aeußerungen derselben Freude. Im
stille» Kirchdorf thats eine Guirlande, die über die Straße gespannt war, ein
Choral. zu welchem die einzige Posaune des Dorfes den Grundton zu finden
strebte, auch die Jungfrauen hatten sich weißer Gewänder enthalten, aber die
Grüße, Umarmungen und die Freudenthränen der Eltern waren grade so warm,
wie wo anders. stattlicher vorbereitet erwiesen sich die Triumphe in der an-
sehnlichen Mittelstadt, hier war die Begrüßung am meisten einem schönen Volks-
fest ähnlich. Denn die ganze Bevölkerung der Umgegend war zu Wagen. Roß
und Fuß in der Stadt zusammengeströmt, in kleinen Bundesländern fast das
ganze Volk in seiner Residenzstadt versammelt, den bescheidenen Häusern war ^
der letzte Blumenschmuck des Jahres. Dahlien und Astern, die beste Zier, nnter
den einziehenden Truppen war die Ordnung gar nicht zu erhalten, denn die
Eltern und Bräute drangen heftig in die Reihen, es wurde so viel geküßt,
umarmt und gesegnet, daß das würdige Ceremoniell ärgerlich litt. Ja die Leute
ließen ihren Herrn Bürgermeister kaum aussprechen, obgleich auch dieser hier
und da reisig zu Rosse saß, und schrien ihr Hoch dazwischen, bevor er von sei¬
nem erhöhten Platze die weißbeklcidete Hand zum Tusche gehoben holte. An
solchen Orten wurde auch den Regimentscommandeuren Gelegenheit, an orato-
rischen Aufgaben ihre Tüchtigkeit zu erweisen und in schön gefügten Worten den
Bürgern Dank auszusprechen, eine Arbeit, die manchem wackern Krieger als
eine schwierige Kriegsarbeit erschienen sein mag. Ueber allem freilich stand das
große Schauspiel des berliner Einzuges, in der That ein großartiges, welches
einem kriegerischen Bolle wohl die eigene Bedeutung lebhaft vor Augen stellen
mußte.
Jetzt kehrt allmälig die alte Ordnung zurück, die aus dem Felde heim¬
gekehrt sind, erzählen von ihren Thaten und Leiden, schon ist die Sage ge¬
schäftig, ihre bunten Ranken zwischen den wirklichen Verlauf der Begebenheiten
zu ziehen, auch die Heldenthaten der Kleinen in der Compagnie und der Cor-
poralschaft verlangen Anerkennung, und die jungen Burschen, welche nicht mit
im Felde waren, vernehmen mit Achtung von den tödtlichen Schüssen und
Schwerthieben, welche der Zug und die guten Bekannten mit unwiderstehlicher
Tapferkeit ausgetheilt haben.
Auch die Zeit der militärischen Auszeichnungen ist gekommen. Es ist in
der Ordnung, daß der Soldat sich über solche Anerkennung freut. Freilich wird
auch hier manchem Entsagung zugemuthet, und es ist dem Kriegsherrn nicht
möglich, immer gerecht zu sein. Wen zufällig das Wohlwollen seiner Vor¬
gesetzten nicht begünstigt, der muß sich mit dem stillen Bewußtsein begnügen,
daß er völlig seine Pflicht gethan hat. Ist dabei Entbehrung, so wird sie dem
preußischen Soldaten, der nach kurzer Ze>t zu seinem bürgerlichen Beruf zurück¬
kehrt, leichter als dem Offizier, dessen ganzer Lebenserfolg von der Schätzung
seiner Borgesetzten abhängt.
Man hat in Preußen viel Kunst auf die Decorationen gewandt, hat viele
Orden und so feine Unterschiede erdacht, daß nur sehr wenige Menschen im
Lande noch wissen, was jede Nüance bedeutet und welcher Art von Verdienst
sie gebührt. Es ist erfreulich, daß das Erinnerungszeichen an diesen Feldzug
schlicht sein soll, wie vor fünfzig Jabren, aus feindlichem Kanonenmetall ge¬
gossen. Aus dem übrigen Kanonengut aber sollen die Glocken des berliner
Doms gegossen werden. Diese bronzene Denkmünze wird jeder Krieger dieses
Jahres, wer es auch sei, sein Lebtag mit Genugthuung bewahren.
Ja, es ist ein gutes Heer. Nicht seine Kriegsthaten sollen jetzt erwähnt
werden, sondern die Bravheit, welche der Bürger erkannte, auch in den Ländern,
welche das Heer in Feindschaft besetzt hielt. Die Offiziere haben sich als Gent-
keinen bewiesen, das hatte man erwartet, und sie haben in sehr großer Mehr¬
zahl glänzend die Ansicht widerlegt, daß der preußische Offizier bei aller dienst¬
lichen Tüchtigkeit hochfahrend, anspruchsvoll und ungesellig sei. Die freund¬
liche Bereitwilligkeit der Commandeure, dem Bürger die Kriegslast so leicht als
möglich zu machen, hat diesem Kriege preußischer Seits fast durchweg einen
Charakter von Humanität gegeben, der in der Kriegsgeschicbte in diesem Grade
vielleicht noch nie zur Geltung gekommen ist. Das alles war gut und recht.
Aber, um die Wahrheit zu sagen, am meisten haken dock die gemeinen Soldaten
sich in der Fremde Freundschaft gewonnen, und sie vorzugsweise haben in die¬
sem Kriege geholfen, die NichtPreußen mit dem preußischen Wesen zu versöhnen-
wohl gar zu befreunden. Excesse Einzelner waren in einer Zeit, in welcher die
bürgerliche Ordnung schwach war, nicht überall zu vermeiden, sie waren so
selten und so wenig bösartig, daß sie den großen Eindruck, den das Ganze
hervorbrachte, fast nirgends störten. Zahlreich sind die kleinen Geschichten, welche
bei uns in Sachsen von den Quartiergebern erzählt werden, wie die Soldaten
ihren armen Wirthen die Last zu erleichtern suchten, auf das Gebührende ver-
Zickteten, sich freuten, wenn sie einmal in der Wirthschaft helfen konnten, wie
sie vor dem Abmarsch noch ausgingen, den Kindern des Hauses Spielzeug
zum Andenken zu kaufen, oder — was sie sehr gern thaten — sich für ihre
Wirthe Photographiren zu lassen, um diesen ein freundliches Andenken zu geben.
Alle Anekdoten nach dieser Richtung bedeuten für das Ganze wenig und hier
ist nicht der Ort. sie zu sammeln, aber unter vielem Aehnlichen ist uns ein
ganz kleiner Zug für den Geist des Heeres als besonders charakteristisch er¬
schienen und er mag hier eine Stelle finden. Bei einem der großen Lazarethe
Von Leipzig war den leicht verwundeten Oestreichern gestattet, sich in dem großen
Garten, der dazu gehörte, aufzuhalten. Sie standen den Tag über am Eisen¬
gitter der Straße, unterhielten sich mit der andrängenden Stadtbevölkerung und
empfingen kleine Gaben, Cigarren, Früchte u. s. w., die ihnen reichlicher zu¬
getragen wurden als den Preußen. Die preußischen Verwundeten im Garten
aber hielten fiel/vom Gitter zurück, Da trug ein Mann einen Korb Kirschen
herzu und forderte einen preußische» Soldaten, der außerhalb des Gitters stand,
auf, die Kirschen den Verwundeten hineinzureichen. „Wem soll ich sie geben?"
frug der Preuße. „Natürlich den Oestteichcrn," war die Antwort. Der Sol¬
dat hielt den Korb einen Augenblick schweigend in der Hand, dann sagte er
ruhig: „Das ist auch recht, denn wir können bezahlen, was wir brauchen, und
sie sind arme Gefangene." Er konnte wohl das Selbstgefühl des Siegers und
den billigen Sinn, der in dem Heere auch gegen die Feinde lebt, nicht anspruchs¬
loser und bejser ausdrücken.
Nach dieser Richtung haben besonders die älteren Landwehrmänner, die
als Besatzungstruppen im Rücken des böhmischen Heeres standen, wacker ihre
Pflicht gethan. In ihnen war ein leiser elegischer Zug. Sie waren durch den
Krieg von Weib und Kind und von ihrer Werkstatt fortgerissen, und dachten
oft sorgenvoll dahin zurück. Sie saßen gleich in den ersten Tagen nach ihrer
Ankunft umringt von den Kindern des Hauses wie Vettern, die zur Familie
gehörten; dadurch erwiesen sie sich den Quarticrgebern als ehrenfeste und solide
Männer, mit denen man ein gcschcidies Wort sprechen konnte, sie vertraten in
ruhigem Discurs kräftig ihren Standpunkt als Preußen, aber ihr Gemüth war
zugänglich für die Beschwerden eines Bürgers und Hausbesitzers.
Sie alle kehren beim in ihre Garnisonen oder zu ihren Lieben, nur die
nicht, welche in fernem Lande die Erde deckt. Die ersten spärlichen Halme sind
auf ihrer Ruhestätte aufgeschossen, und der Herbstwind wirft das dürre Laub
darüber. Die Tausende, welche nicht wieder zur Heimath ziehen und die grö¬
ßere Zahl derer, welche ihr Leben lang eine schmerzende Erinnerung um große
Tage unsere? Geschichte mit sich herumtragen, ihnen wünschen wir vor allem,
daß der Kampf, in dem sie geblutet, dem Vaterlande zum dauernden Heil sei.
Uns allen ist Pflicht dafür zu arbeiten, aber der unvergleichlich größte
Theil dieses Friedenswerkes liegt auf dem Herzen der Männer, welche im Ge¬
heimen den entscheidenden Wassergang zwischen Preußen und Oestreich gewollt
haben.
Als der Krieg begann, war sonder Zweifel ein großes Ziel den Leitern
der preußischen Politik klar, der Krieg war ein Kampf um die Oberherrlichkeit
in Deutschland, der Siegerpreis, welchen sie hofften, war Ausschluß Oestreichs
aus einem Bundesstaat, der auf Grundlage der gemeinsamen Bcrkehröintercssen
aufgebaut werden sollte. Diesen Zweck beweist der Entwurf vom 10. Juni, ihn
beweist das wiederholte Angebot der Neutralität und Garantie des Besitzstandes
von Sachsen. Hannover, Hessen, Nassau, den Südstaaten. Was man neben
dem Ausschluß Oestreichs im günstigen Fall für Preußen und den Bundesstaat
fordern sollte, darüber war man keineswegs einig, ja es kann an entscheidender
Stelle diese Frage kaum zur Sprache gekommen sein. Noch am Tage vor der
Schlacht bei Langensalza trug Oberst v. Döring dem Könige Von Hannover
wieder Restitution in seinen Staat auf Grundlage des Programms vom 10. Juni
an, und es war bei dem unglücklichen Fürsten der äußerste Grad von Ver¬
blendung, und es waren ein blutiges Gefecht und Verluste der preußischen
Truppen nöthig, bevor in Preußen der Gedanke Boden gewann, das Land¬
gebiet, welches durch Blut erkauft war, zu behaupten. Aber auch nach der Er¬
gebung des hannoverischen Heeres noch nickt. Denn, wie man vernimmt,
wurde erst in Nikolsburg. als die Friedeiisverhandlungen mit Oestreich begannen,
beschlossen, daß man den Gewinn so glorreicher Siege nicht in Oestreich, son¬
dern in Deutschland zu suchen habe.
Daß dieser Entschluß so spät gefaßt wurde, hat die jetzt bevorstehende
Friedensarbeit wesentlich erschwert. Gegen die Einmischung Frankreichs für
Sachsen hatte man gar keinen festen Willen. Auch die übrigen occupirten
Länder waren so schonend und säuberlich angefaßt, wie Wohl nie in ähn¬
lichem Falle geschehen ist. mit geringen Einschränkungen, welchen der Trup-
penve«lehr nöthig machte, ließ man fast überall die alte Landesregierung
fortbestehen. Im Drang der Ereignisse bei der Entfernung der obersten Staats¬
leitung war das nicht zu verwundern. Aber es hat sich als ein Uebelstand er¬
wiesen. Die erste Erschütterung in den Gemüthern der Bevölkerung, die Un¬
zufriedenheit der Sachsen, Hannoveraner, Hessen mit der verkehrten Politik ihrer
Fürsten ging vorüber, ohne daß ihnen der volle Ernst der Lage deutlich ge¬
worden wäre. Erst spät, nach und nach in einzelnen zögernden Schritten faßte
Preußen die Verwaltung fester an. die Leute hatten überall durch Wochen nicht
für Ernst gehalten, daß ein Wechsel der Dynastien stattfinden könnte, an die
Stelle der Unzufriedenheit mit der alten Regierung war unterdeß Mitleid mit
den dcpossedirten Fürsten getreten, die weiche Zärtlichkeit, welche der Deutsche
bei einem Unglück seiner Regenten zu fühlen sich niemals versagt, gab sogar
dem Kurfürsten von Hessen, noch mehr der Königsfamilie von Hannover eine
Popularität, deren sie sich in glücklichen Tagen niemals zu erfreuen hatten, und
die sie durch ihr politisches Thun niemals verdient hatten. Je höher das
Nationalgefühl der Preußen sich steigerte, um so schärfer wurde der Gegensatz
in den occupirten Ländern empfunden. Unter dem Eindruck des ersten Waffen¬
schrecks, unmittelbar nach dem Treffen bei Langensalza und der Schlacht von
Königsgrätz hätten sich sämmtliche Parteien in den annectirten Ländern, ja sogar
die Truppen derselben, sehr fügsam in die neue Ordnung begeben, jetzt sind
einer particularistischcn Agitation Monate vergönnt worden, und in einzelnen
Theilen der Bevölkerung ist eine Verbitterung großgezogen, die hier und da
unbequem werden kann, und z. B. in Hannover ein entschiedenes Eingreifen
unvermeidlich machen wird.
Aber obwohl die Schwierigkeiten dadurch für den Augenblick größer ge¬
worden sind, sie werden doch bewältigt werden und die Gegner hoffen vergeblich,
daß Schwankungen am berliner Hof oder die Beseitigung des gegenwärtigen
Leiters der auswärtigen Politik im Großen die Resultate ändern werden. Man
hat in Berlin bis jetzt viele Nachsicht gegen separatistische Demonstrationen in
den neuen Landschaften bewiesen, weil man die meisten für unwichtig hielt.
Die Hannoveraner erfreuen sich des Königshauses, das seit jener englischen
Thronbesteigung vor 130 Jahren ihnen ganz fremd geworden war, erst seit
wenigen Jahrzehnten, und die beiden Repräsentanten des alten Geschlechtes.
König Ernst August und sein Nachfolger, waren nach allgemeinem Urtheil nicht
so geartet, daß sie als Regenten eine persönliche Hingabe von Leuten mit ver¬
ständigen Sinnen beanspruchen konnten. Das Ausland wird deshalb solche
behende Devotion ein ein schlechtes Nichts, d.h. an zwei Mißregierungen unan¬
genehmer Gebieter gar nicht verstehen. Wir Deutsche freilich kennen diesen
Grundzug unseres Wesens, wir sind ihm stets im Bösen und Guten gefolgt.
Der Trieb zu lieben und zu verehren ist in unsrem Volk von je so unWider,
stehiich gewesen, daß die Deutschen sich ein Object ihrer Hingabe erfinden
müssen, wenn sie zufällig keins haben. Sie umgeben dann leicht den Erwählten
mit aller Poesie ihres warmen Gemüths und ihnen ist alsdann lästig zu prüfen,
ob das Original in Wahrheit ihrer Hingabe werth ist. Das war schon in
Urzeiten so. Dies Gefühl hat durch zwei Jahrtausende die Treue des Gefolges
an den Herrn, die Hingabe des Frommen an seinen Heiligen, die Diensttreue
des Vasallen hervorgebracht, noch jetzt ist dasselbe Gefühl ebenso oft ein Quell
sittlicher Empfindungen, als eines gedankenlosen Bedientensinnes. Heut ist es
bei dem Bürger Hannovers etwas Treue, viel Trotz, und ein wenig Sorge
um den eigenen Geldbeutel. Und man darf mit den kleinen Leuten, welche
aus der Ferne ihren König verehrt haben, jede Nachsicht haben, ihre Kinder
werden aus demselben Bedürfniß eines loyalen Cultus ebenso eifrige Preußen
werden, als die Väter'jetzt eifrige Welsen sind.
Weniger Nachsicht verdienen die Damen, weiche die politischen Debütan¬
tinnen des Auslandes darin nachäffen, daß sie in schwarzer Kleidung trauern.
Und wir erlauben uns mit dem letzten Rest von Courtoisie. den wir vor dieser
monotonen Toilette empfinden, an eine peinliche Erfahrung zu erinnern. Bis
jetzt hat fast überall schwarzes Trauergewand, welches Frauen aus politischem
Grunde trugen, ihren Männern Unheil und Todesgefahr gebracht. Als die
Polinnen und Italienerinnen sich in schwarze Seide kleideten, wurden ihre
Männer Verschwörer. Die ersteren für eine imaginäre Republik, der die realen
Grundlagen des Gedeihens fehlten, die zweiten für die Idee eines großen
nationalen Staats. In beiden Fällen machte Pulverdampf der weiblichen De¬
monstration ein Ende; in Polen wurde es Verderben der Männer und Unter¬
gang der polnischen Wünsche, in Italien durch die Todesgefahr der Männer
Sieg des italienischen Einheitsstaats. Aber weder Polinnen noch Italienerinnen
haben vor Europa die Lächerlichkeit auf sich geladen, um der Caricatur eines
Grvßstaats willen ihre Männer zu Verschwörern zu machen. Es ist sehr zu
wünschen, daß die schwarze Seide der Ritterfrauen in Hannover für die An¬
gehörigen derselben nicht ähnliche finstere Folgen haben und nicht zuletzt ein
wirkliches Trauergewand werde.
Der Ritterschaft von Hannover aber, der aus dem preußischen West¬
falen und aus mancher anderen Landschaft des norddeutschen Staates sind die
Augen seltsam geblendet. Noch heut, nach einem blutigen Kriege, und dem
Sturz alter Negentcnhäuser. ahnen sie nicht, daß sie, grade sie und ihre alten
Freunde und Gebieter uns mitten in eine große deutsche Revolution versetzt
haben, deren Verlauf und Ausgang in nicht geringem Maße von ihrem eignen
Verhalten abhängt. Sie haben immer die Liberalen als ihre politischen Geg¬
ner gehaßt, sie haben bis zu diesem Jahre Fortschritt und Sieg der nationalen
Wünsche gehindert. Die liberale Partei suchte die nothwendige Vereinigung der
deutschen Staaten auf dem Wege des Bundesstaats und friedlicher Kompro¬
misse, sie wollte der Zukunft überlassen, nach ihrem Bedürfniß und ihrer Kraft
die Bande zwischen den einzelnen Ländern Deutschlands fester zu ziehen, bis einst
Deutschland unter einer Regierung geeinigt sei. Der Junker Hochmuth hat diese
Arbeit aufgehalten und vereitelt. Denn die conservative Faction der Mittel¬
staaten und die Ultramontanen waren es, welche die eigene locale Herrschaft
dadurch erhalten wollten, daß sie den Dualismus der Großmächte verewigten,
sie instigirten ihre Souveräne gegen Preußen und sie sandten ihre Söhne in
das östreichische Heer. Und doch wäre ein Bundesstaat, der durch Compromiß
der bestehenden Mächte vereinbart wurde, auch für die conservative Ritterschaft
die bequemste Verbindung mit den nationalen Forderungen gewesen. Was war
die Folge ihrer emsigen unklugen Arbeit? Das Lebensbedürfniß des preußischen
Staates erzwang doch diese Vereinigung, und da die Junkerpartei den fried¬
lichen Weg hemmte, so realisirte sich der unwiderstehliche Drang gewaltsam, er
übersprang die friedliche Agitation der Liberalen, beseitigte die Dynastien mehrer
Länder und stellte uns alle mit einem Mal auf den Boden des Einheitsstaates.
Wir acceptiren diesen großen Fortschritt zu einer Concentration deutscher Kraft,
obwohl der Weg nicht unser Weg gewesen ist. Wir verdanken diesen Fort¬
schritt aber der ausbündig unvernünftigen Politik der Junkerpartei außerhalb
Preußen, welche im eigenen Interesse den depvssedirten Fürsten ihren Hochmuth
ins Unerträgliche gesteigert hatte, und wir verdanken ihn dem patriotischen
Stolz einiger altpreußischer Junker, welche im Kampfe gegen die liberale Par¬
tei erkannten, daß nur ein kühnes Vorgehen Preußens auf nationalem Wege
ihren Staat und Deutschland aus der Unmacht herausheben könne.
Und wieder jetzt haben die ritterlichen Reactionäre in der Hand, ob
die gegenwärtige Umwälzung in ruhigem Verlauf endet oder nicht. Fügen
sie sich selbst mit einigem Verständniß der großen Ideen, welche jetzt das
Schicksal Deutschlands leiten, in die neue Zeit, so mag diese Revolution
von jetzt ab schonend und friedlich den politischen Staatsbäu Deutschlands
umgestalten und sie, selbst mögen in dem neuen Hause ihre Stellung, ihren
Besitz und, was im Grunde noch den höchsten Werth hat, eine bevor¬
zugte Stellung im Volke bewahren. Reagiren sie feindlich wie bisher gegen
die neue Zeit, so wird der innere Kampf heftiger und erbitterter gegen sie ent¬
brennen, als der Krieg dieses Jahres, und ihre Häupter werden mit Gewalt
herabgedrückt werden, um freien Weg zu schaffen für den neuen Staat.
Aus dem Weg, den die preußische Negierung seit diesem Frühjahr betreten,
ist kaum ein Anhalten möglich, noch weniger ein Rückschritt ohne Niederlage
und Schmach. Wie vorsichtig auch die Weise war, in welcher Preußen die
Bevölkerung deutscher Länder in sich aufgenommen hat, ehern ist die Hand des
Schicksals, welches sich jetzt auf uns gelegt hat, und wir alle müssen auf dem¬
selben Wege vorwärts, ohne Wahl. Wer sich widersetzen will, wird nieder¬
geworfen, der Trotz des Einzelnen wie jedes Theils muß fortan zum Heil des
Ganzen gebrochen werden. Ob die Männer, welche jetzt die Geschäfte Preußens
leiten, die Arbeit zu Ende führen, welche sie so selbstwillig begonnen, wissen
wir nicht. Aber auch eine neue Regierung in Preußen und ein neues System
wird die Kräfte nicht entbehren, welche auf dem jetzt eingeschlagenen Wege vor¬
wärts gehen müssen, vielleicht mit weniger Rücksicht und weniger Bedenken.
Der kurze Krieg hat dort eine Fülle von Kraft frei gemacht und zuverlässig
auch Talente heraufgebracht, welche das volle Maß von Patriotismus, Stolz
und Energie haben, um im Krieg und Frieden an der Lösung der deutschen
Frage zu arbeiten. Nach dieser Richtung sind die Tage des berliner Sieges¬
zugs für die Deutschen und das Ausland sehr lehrreich, das preußische Volk
ist sich seiner Stärke bewußt geworden wie das Heer. Es war kein hohler
Festrausch, der dort Hoch rief, die heimkehrenden Soldaten in die Arme schloß
und bedächtigen Leuten Freudenthränen auf die Wangen trieb; es war der
Anfang einer großen Zeit auch für das preußische Volk. Die kühnste Politik
wird fortan dort Beifall und aufopfernde Unterstützung finden. Und solche
Politik ist jetzt sogar nothwendig geworden, um dem Königshaus und der Re¬
gierung ihr Ansehen im eigenen Lande zu sichern. Die Zeit ist für Preußen
vorbei, wo die Regierung einen kläglichen Literaten wie May wegen Preußen-
feindlicher Aeußerungen mit ostensiblem Haß verfolgte und einen preußischen
Grafen oder Herzog, die ihren Sitz im Herrenhause verschmähen und erklären,
nicht mehr Preußen sein zu wollen, geduldig trotzen läßt. Es wäre unerfreu¬
lich, wenn an den Gutsherrn in Hannover und ein den Partisanen Oestreichs
in Westfalen ein Exempel statuirt werden müßte; aber die Herren mögen sich
erinnern, daß sie jetzt Vor dieser Aussicht stehen. Und wenn die Regierung
nicht von selbst Schritte thut, so werden nächstens einmal die Preußen dies
fordern.
Jeden Deutschen, der jetzt athmet, von König Wilhelm und seinem Mi-
nister an bis zum ärmsten Tagearbeiter in Mecklenburg, hat dieses Jahr über-
rascht und in neue Bahnen gedrängt. Wir wundern uns nicht, daß diese plötz-
liche Umwandlung Vielen Schmerzen macht; aber wir preisen den vor andern
glücklich, der sich in den vergangenen Jahren den Glauben an die Kraft und
Tüchtigkeit Preußens sicher im Herzen bewahrt hat, denn nur er empfindet die
Freude, daß ihm eine Erfüllung treugehegtcr Hoffnung ist, was jetzt plötzlich
ins Leben tritt.
Die nach der kurzen constitutionellen Aera in Mecklenburg wieder an das
Ruder gelangte Partei der Feudalen suchte sich allmälig wieder dem engen,
auch durch eine Militärconvention besiegelten Anschlusse an Preußen zu ent'
ziehen, in welchem die mecklenburgische Politik während der Vorangegangenen
bewegten Zeit ihren Halt gefunden hatte; sie konnte kaum die Zeit erwarten,
wo auch Mecklenburg wieder in den von Oestreich neu eröffneten Hafen des
Bundestags einlief. Der aus preußischem in mecklenburgischen Dienst über¬
getretene damalige schwerinsche Minister des Auswärtigen Graf v. Bülow han¬
delte gar nicht im Sinne der feudalen Partei, als er am 20, September 1830
die östreichische Aufforderung zur Beschickung des reactivirten Bundestages noch
ablehnend beantwortete und mit Bestürzung ersah sie aus dem Antwortschreiben
des Ministers, daß durch den Bundesbeschluß vom 12. Juli 1848 nach mecklen¬
burgischer Auffassung „eine völlige und durch keinen Vorbehalt bedingte Auf¬
hebung des Bundestags stattgefunden" habe. Die Ritterschaft des Amtes
Buckow machte sich zum Dolmetscher der hierdurch in den feudalen Kreisen her¬
vorgerufenen Empfindungen und sprach in einem Schreiben an den Großherzog
ihren Schmerz aus, daß der Graf v. Bülow das gesetzliche Bestehen und die
Fortdauer des Bundestags negire. Erst als Mecklenburg im Mai des Jahres
1851 wieder seinem Gesandten einen Sitz in der deutschen Oberpolizeibehörde
anwies, welche unter dem Namen des Bundestages ihre Thätigkeit von Neuem
begonnen hatte, fühlten die Feudalen sich ganz befriedigt und im Besitz der
alten Landesverfassung vollkommen gesichert, Lcßtcre stand unter dem beson¬
deren Schutz des Bundestags und von solchen umgestaltenden Einwirkungen,
wie der Bundestag sie bei einer Anzahl constitutioneller Verfassungen übte, war
hier nichts zu befürchten. Die sonstigen auf Unterdrückung der Volksfreiheit
gerichteten Schritte des reactivirten Bundestags aber waren den mecklenburgischen
Feudalen höchst willkommen. Alle Beschlüsse dieser Art wurden prompt aus¬
geführt und noch mit einigen verschärfenden Zuthaten ausgestattet. Je gründ¬
licher die Freiheit der Presse vernichtet und die Versammlungen und Vereine
zu politischen Zwecken ferngehalten wurden, desto erfolgreicher hoffte man sich
jeder neuen constitutionellen Anwandlung erwehren zu können. Zwar war bei
Wiederherstellung der alten Landesverfassung die Zusicherung einer Verfassungs¬
reform ertheilt und auch noch später ausdrücklich wiederholt worden. Allein
von einer Erfüllung dieser Zusicherung war um so weniger die Rede, als durch
die neuen Gesetze über die Presse und das Versammlungs- und Vereinsrecht
dafür gesorgt war, daß die Stimme der Bevölkerung nicht unbequeme Mah¬
nungen ergehen lassen konnte, und bald hatte man jeden Gedanken an eine
Aenderung der Verfassung so sehr aufgegeben, daß in einem landesherrlichen
Rescript an den Landtag vom 27. November, 18S8 grade das Entgegengesetzte
des früher wiederholt Verheißenen angekündigt ward, nämlich, daß die beste¬
hende Landesverfassung kräftig aufrecht erhalten und geschützt werden solle und
daß der Regierung nichts ferner liege als das „Experimeiitiren mit neuen will¬
kürlichen Verfassungsformen".
Gegengezeichnet war dieses Rescript von dem Stciatsminister v. Oertzen,
welcher, als Nachfolger des Grasen v. Bülow, am I.Juli 18S8 die Leitung
des Ministeriums des Auswärtigen übernommen hatte. Anfangs Justizbeamter,
hatte er sich dann auf sein Landgut zurückgezogen und sich von da aus lebhaft
als einer der Führer der adeligen Partei an den Kämpfen innerhalb der Ritter¬
schaft betheiligt; nach Wiederherstellung des Bundestages ging er als mecklen¬
burgischer Buiidestagsgcsandtcr nacb Frankfurt. Aus dieser Stellung brachte
er eure große Vorliebe für diese Institution in sein neues Amt mit, und wenn
er auch gelegentlich die Nothwendigkeit einer Reform der Bundesverfassung nicht
grade läugnete, so war es ihm dabei doch nur um eine größere Centralisirung
und Kräftigung der Bundesgewalt zu "thun, während er gegen die Aufnahme
parlamentarischer Elemente in den Organismus der Bundesverfassung einen
unverhohlener Abscheu hegte. Dies zeigte sich, als in den Jahren 1861 und
1862 das von Oestreich angeregte Project einer Delegirtenvnsammlung zur
Verhandlung kam.
Wie sehr er einer Reform des Bundes in dieser Richtung widerstrebte,
beweisen z. B. nachstehende, den östreichischen Bundesreformantrag bekämpfende
Aeußerungen seines Organs, des „Norddeutschen Korrespondenten", aus dem
August des Jahres 1862: „Die deutsche Nation trägt kein Verlangen, eine
Versammlung von Delegirten der jetzigen landständischen Versammlungen in
Frankfurt dem Bundestage gegenüber ihre Reden halten zu hören. Kein Ver¬
ständiger wird darüber auch nur einen Augenblick zweifelhaft sein, wohin die
nothwendige Consequenz aus den jetzt epidemisch verbreiteten politischen An¬
sichten führen muß, und daß ein auf diesem Wege eingeleitetes Experiment mit
dem Bundesparlament die Ruhe und den Frieden Deutschlands mit un¬
berechenbaren Gefahren bedrohet, so lange die einflußreichsten Regierungen in
Deutschland im Wettkampf nach sogenannter Popularität nur darauf bedacht
sind, die Selbständigkeit der Regierungen durch immer weiter gehende Stärkung
der repräsentativen Elemente zu schwächen. Eine kräftige Regie¬
rungsgewalt, das ist es vor allem, was Deutschland noth thut. Die jetzigen
amerikanischen Zustände sollten uns belehren, wohin das Uebermaß der falschen
Freiheit führt."
In Uebereinstimmung mit dieser Anschauung bezeichnete Herr v. Oertzen in
einem Schreiben vom 12. Januar 1863 an das badische Ministerium des Aus¬
wärtigen, welches ein modificirtes Project einer Delegirtenvcrsammlung vorge¬
legt hatte, die Verwandlung des Staatenbunds in einen Bundesstaat als
eine politische Unmöglichkeit. „Der deutsche Bund," bemerkt er, „ist
nicht blos nach den bestehenden europäischen Verhältnissen und nach seinen
Grundgesetzen ein Staatenbund, sondern er wird auch nach innerer Noth¬
wendigkeit ein solcher bleiben. ... Die Uebertragung der parlamenta¬
rischen Regierungsform auf den deutschen Bund muß nicht blos zu einer
einheitlichen Regierungsgewalt, sondern auch zu einer absoluten Majori¬
tätenherrschaft über die Interessen und Bedürfnisse aller Bestandtheile der
deutschen Nation führen, so daß der Staatenbund in einen Bundesstaat
sich verwandelt. Wie sehr ein solches Bestreben den wahren Wünschen der
deutschen Nation zuwiderläuft, beweist der Ausgang des Versuches, die frank¬
furter Reichsverfassung vom Jahre 1849 zur Geltung zu bringen." Weit ent¬
fernt, daß die Einheitlichkeit des Entschlusses und der Ausführung durch ein
neues repräsentatives Organ am Bunde gelähmt werden dürfe, müßten vielmehr
die Mitglieder des deutschen Bundes wieder frei werden von aller Beschränkung
und Lähmung durch ihre eigenen Volksvertretungen und diese Befreiung sei
unzweifelhaft durch bundesverfassungsmäßige Beschlüsse erreichbar.
Im August 1863 begleitete Herr v. Oertzen den Großherzog Friedrich Franz
auf den frankfurter Fürstentag. In einem von letzterem hier abgegebenen schrift¬
lichen Votum heißt es wörtlich: „An und für sich empfiehlt sich die Einfüh¬
rung eines konstitutionellen Systems in die Bundesinstitutionen nicht. Die
Voraussetzungen der englischen Verfassung fehlen in Deutschland. Wenn aber
dennoch eine deutsche Nationaivcrtretung, die sich nicht auf Kopfzahl, sondern
aus geistige Kräfte stützt, von hohem Werthe auch für die deutsche Bundes¬
gesammtheit sein kann, so heißt es nicht die Institution beschränken oder schwächen,
sondern unterstützen, wenn man dieselbe vor Conflicten sicher zu stellen sucht,
die zwischen der politischen Gewalt und einer mit dem Steuerverweigerungs¬
rechte ausgerüsteten Versammlung erfahrungsmäßig zu entstehen und mit dem
Untergange der einen oder der anderen zu endigen pflegen."
Bei so großer Abneigung gegen eine Umwandlung der Bundesverfassung
durch Einfügung einer Nationalvertretung konnte der bismarcksche Antrag vom
9. April 1866 auf Berufung eines nach Kopfzahl zu wählenden Parlaments
nicht leicht mit mehr Unwillen und Abscheu aufgenommen werden als in dem
Ministerium des Auswärtigen zu Schwerin. Der „norddeutsche Korrespondent"
machte es zu seiner Aufgabe, diesen Antrag mit allen Mitteln, selbst die hob.
mende Verspottung nicht ausgenommen, zu bekämpfen. Einer der den Feudalen
verhaßtesten demokratischen Namen ist der des früheren Parlamentsmitgliedes
Ludwig Reinhard, eines wegen seiner Ausdauer im Parlament seines Amtes
entsetzten und auch noch später viel verfolgten Mannes, der, aus Rostock auf
Betrieb des Ministeriums ausgewiesen, seit einigen Jahren Mecklenburg ver¬
lassen und in Koburg seinen Wohnsitz genommen hat. Wenn dieser Name im
„Norddeutschen Korrespondenten" mit'dem des Grafen Vismarck zusammen¬
gestellt und in einem „Bismarck und Reinhard" überschriebenen Artikel zur
Persiflirung des bismarckschen Antrags verwandt wurde, so weiß man in Meck¬
lenburg, daß das ministerielle Blatt damit diesen Antrag als etwas über alles
Maß Verächtliches und gänzlich Verwerfliches bezeichnen wollte. Ein anderer
Artikel über das Parlament in derselben Nummer des Blattes schloß mit den
Worten: „Wir halten ein aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenes deutsches
Parlament als Repräsentation des deutschen Volkes bei der Executivbehörde
des deutschen Bundes zu Frankfurt a. M. für ein Unding, wobei wir darauf,
ob der Modus der Wahl zu einer solchen Versammlung der indirecte oder der
directe sei, geringes Gewicht legen. Wie auch der Wahlmodus sei, über das
Ergebniß der Wahl kann unter den jetzigen Umständen kaum ein Zweifel be¬
stehen." Auch noch im Mai fuhr das ministerielle Blatt fort, das Parlament
zu bekämpfen, weil es den Zweck habe, den der Einheit widerstrebenden Par-
ticulansmus zu brechen. „Wir wollen diesen Zweck nicht," bemerkte es, „also
auch nicht das Mittel. Für uns ist daher ein deutsches Parlament nicht Von¬
nöthen. Auch ist dasselbe zu der deutschen Bundesreform an sich nicht erfor¬
derlich, sondern nur zur Durchsetzung einer bestimmten Bundesreform, die von
bestimmter Seite gewollt wird."
Indessen mochte das Blatt im weiteren Verlauf der Dinge doch vor den
Konsequenzen einer fortgesetzten Opposition gegen Preußen etwas erschrecken,
und fand es gerathen zu erklären, daß das von ihm aufgestellte politische Pro¬
gramm nicht von der Regierung inspirirt sei, wobei nur räthselhaft war, wie
ein aus großherzoglicher Kasse unterhaltenes Blatt und ein Ministenalbeamter,
welcher mit der Wahrung der Negierungsintercssen in der Presse beauftragt ist,
auf eigene Faust Politik treiben und eine Stellung zu den Tagesfragen ein¬
nehmen dürfen, welche mit der ihrer Committenten nicht harmonirt.
In den letzten Wochen des Mai erkannte die Regierung es für geboten,
die Politik der Neutralität zu proclamiren. Das ministerielle Blatt mußte
jetzt über die schwebende politische Frage schweigen und durch Begünstigung der
programmmäßigen Ausführung aller an verschiedenen mecklenburgischen Orten
projectirten Sänger-, Schützen- und Turuerfeste suchte man von oben den Ein¬
druck zu erwecken, als ob Mecklenburg unter allen Umständen entschlossen sei,
ein harmloser Zuschauer der kommenden Ereignisse zu bleiben. Alle Gerüchte,
welche diesen Standpunkt antasteten, wurden fleißig demcntirt. Am 22. Mai
berichtigte das ministerielle Blatt die in der preußischen Presse aufgetretene
Nachricht, daß der Großherzog seine Truppen auf preußischer Seite an dem
Feldzuge Theil nehmen lassen wolle, indem es bemerkte: „Es bedarf hiesigen
Lesern gegenüber kaum der Versicherung, daß diese Nachricht vollkommen grund¬
los ist, da sie den unveränderten Fnedensstand unserer Truppen vor Augen
haben. Im Uebngen aber verlautet glaubwürdig, daß Mecklenburg, falls der
beklagenswerthe Conflict zum Ausbruch des Krieges führen sollte, vollstän¬
dige Neutralität beobachten wird." Am 23. Mai wurde ebenso die Nach¬
richt, daß der Großherzog ein Commando in der preußischen Armee übernehmen
werde, für unbegründet erklärt.
In der verhängnißvollen Bundestagssitzung vom 14. Juni stimmte der
mecklenburgische Gesandte gegen den östreichischen Antrag auf Mobilmachung
und motivirte dies damit, daß der Antrag mit den Bundesgrundgesepen nicht
in Einklang stehe und daß auch die formelle Behandlung eine Verletzung der
Geschäftsordnung enthalte. Eine Instruction des Ministers v. Oertzen an den
Bundestagsgesandter vom 18. Juni billigte dieses Verhalten und verwahrte
die mecklenburgische Negierung gegen die Verpflichtung, den Beschlüssen vom
14. Juni Folge zu leisten. Dabei aber glaubte der Minister noch immer die
Politik der Neutralität beibehalten und den mecklenburgischen Gesandten am
Bundestage belassen zu können. Die Regierung ist, wie der Erlaß bemerkte,
„nicht der Ansicht, daß der Bund durch das Fassen unverbindlicher Beschlüsse
sich sofort auflöse, womit im Uebngen" — wie vorsichtig hinzugefügt ward —
„kein Urtheil über die Frage ausgesprochen sein soll, unter welchen Voraus¬
setzungen einer Regierung das Recht erwächst, den Bund als aufgelöst anzusehen."
Weiter heißt es dann: „Der Theilnahme an künftigen Bundestagsbeschlüssen,
welche auf den oben als unverbindlich bezeichneten Grundlagen beruhen, haben
Sie Sich demgemäß zu enthalten, und, bleibt es Ihrem Ermessen überlassen,
an anderen Gegenständen der Bundestagsverhandlungen nach Maßgabe der
schon bestehenden oder noch zu ertheilenden Jnstructionen Theil zu nehmen."
Während der Minister sich hiernach der Hoffnung hingab, zugleich mit
Preußen und Oestreich auf freundschaftlichem Fuße verbleiben zu können, fing
man doch für alle Fälle an zu mobilisiren. Dies sollte jedoch vorläufig ein
Geheimniß bleiben. Daher erhielten sämmtliche inländische Zeitungen vom
Minister des Innern die Weisung, über militärische Angelegenheiten zu schwei¬
gen. Weil aber doch die Pferde nicht im Geheimen angekauft werden konnten,
so wurde den in Schwerin erscheinenden Blättern folgendes gleichlautende Kom¬
munique zur Veröffentlichung am 16. Juni übersandt: „Gutem Vernehmen
nach werden, um den Bedarf des hiesigen Contingents zu completiren, einige
hundert Pferde angekauft werden. Als eine Mobilmachung infolge , des am
14. d. M. in der Bundesversammlung gefaßten Majoritätsbeschlusses kann diese
Anordnung nicht angesehen werden, da Mecklenburg, wie bekannt ist, gegen die
Mobilmachung der Bundesarmce gestimmt und gegen die Verbindlichkeit des
gedachten Beschlusses sich verwahrt hat. Der Pfcrdeankauf ist daher nur als
eine Vorsichtsmaßregel zu betrachten, welche im Interesse des Landes für noth¬
wendig erkannt ist, um bei dem Ernst der gegenwärtigen Zeitumstände unerwar¬
teten Eventualitäten gegenüber besser vorbereitet zu sein."
Was infolge dieser zweideutigen Rüstung und der erklärten Absicht der
mecklenburgischen Regierung. Sitz und Stimme am Bundestage nicht aufgeben
zu wollen, während der nächsten Tage von preußischer Seite geschah, um aus
einem Neutralen einen Bundesgenossen zu machen, entzieht sich zwar der ge¬
nauen Kenntniß um so mehr, als die Verhandlungen ohne Dazwischenkunft der
Minister unmittelbar zwischen den höchsten Personen geführt wurden. Man
wird aber aus dem, was über die Reisen von Adjutanten und deren Herren
und über sonstige Zeichen eines sehr bewegten Lebens und gespannter Situa¬
tionen an den beiden mecklenburgischen Höfen bekannt geworden ist, ziemlich
sichere Schlüsse in Bezug auf die Natur dieser geheimen Vorgänge ziehen
tonnen. Am Sonntag, den 17. Juni, Morgens wurde der großherzogliche
Flügeladjutant, Major v. Brcmdcnstein, in Berlin vom König empfangen.
Am 2t. Juni früh L Uhr erschien der Flügeladjutant des Königs von Preu¬
ßen, Oberstlieutenant Graf v. Finckenstein, in Schwerin und eilte schon u.in
7 Uhr Morgens zum Großherzog nach Nabcnstcinfeld. dem großherzoglichen
Sommersitz. Am 22. Juni empfing wiederum der König von Preußen den
Major v. Brandenstein, der ein Handschreiben des Großherzogs überbrachte.
Am 24. Juni kehrte derselbe mit einem Handschreiben des Königs zurück. Am
Tage darauf reiste der Großherzog Friedrich Franz nach Neustrelitz zu einem
zweistündigen Besuch bei dem dortigen Großherzog, der während der Zeit der
frankfurter Krisis in England verweilt hatte und erst kurz vorher über Berlin,
wo er, wie man sagte, sich vergeblich bemüht hatte, die Erlaubniß zur Behaup¬
tung einer neutralen Stellung zu erlangen, in seine Residenz zurückgekehrt war.
Schon am 26, Juni war der strelitzer Großherzog wieder in Berlin, wo er am
27. Juni dem englischen und dem russischen Botschafter längere Besuche ab¬
stattete. Am 28. Juni traf der Oberst Köhler, Mitglied des Militärdepcirtemenls
in Schwerin, in Berlin ein.
Die Deutung aller dieser Hin- und Herreisen ergiebt sich aus den unmittel¬
bar darauf hervorgetretenen Thatsachen. Den beiden Grvßherzogen war die
Wahl gelassen, entweder mit Preußen zu gehen und dafür die preußische Garantie
für ihren Besitzstand einzutauschen oder als Feinde Preußens betrachtet und be¬
handelt zu werden. Sie hatten das Erstere vorgezogen. Die Minister erfuhren
erst die fertige Thatsache und ergaben sich in dieselbe.
Der Großherzog Friedrich Franz reiste am 1. Juli Abends nach dem preu¬
ßischen Hauptquartier in Böhmen ab, wo er grade zur Schlacht bei Königs-
grätz eintraf. Der Bericht über die Bundestagssitzung vom 2. Juli enthält die
Mittheilung: Der Gesandte von Mecklenburg habe zur Kenntniß der Bundes¬
versammlung gebracht, „daß er bis auf Weiteres aus derselben abberufen
sei." Die Mobilmachung, ohnehin ein öffentliches Geheimniß und durch unum¬
gängliche Bekanntmachungen von Behörden selbst amtlich bezeugt, und der An¬
schluß an Preußen wurden nun nicht länger geläugnet. Das ministerielle Blatt
mußte am 11. Juli die active Betheiligung Mecklenburgs am Knege durch fol¬
gende osstciöse Motivirung mit der bisherigen Neutralitätspolitik auszugleichen
suchen: „Seit dem letzten verhängnißvollen Schritte des kaiserlichen östreichischen
Cabinets, durch welchen es einen fremden Monarchen zum Schiedsrichter über
die Geschicke Deutschlands aufgerufen hat, muß jeder Ungewißheit, auf welcher
Seite man für eine heilbringende Zukunft Deutschlands zu wirken habe und
wirken könne, ein Ende gemacht sein. Oestreich hat seine bisherige Stelle an
der Spitze^Deutschlands selbst aufgegeben und die Sympathien vieler deutscher
Herzen zurückgewiesen. Man irrt gewiß nicht, wenn man die oben gemeldeten
Thatsachen (den Anschluß des Großherzogs an Preußen und dessen Uebernahme
eines preußischen Commandos) mit dieser wesentlichen Veränderung der Sach¬
lage in Verbindung bringt." Dem Blatte konnte es unmöglich verborgen sein,
daß diese Motivirung vor der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse nicht
Stich hält. Die Anrufung des Kaisers der Franzosen von Seiten Oestreichs er¬
folgte bekanntlich erst nach dem Tage von Königsgrätz; der Anschluß Mecklen¬
burgs an Preußen aber war schon vor dem 1. Juli, dem Tage der Abreise des
Großherzogs in das preußische Hauptquartier, zur Thatsache geworden.
Die mecklenburgischen Truppen wurden dem preußischen zweiten Ncserve-
Armeecorps zugetheilt, welches in Leipzig und Umgegend sich sammelte und '
unter den Oberbefehl des Großherzogs Friedrich Franz gestellt wurde. In den
Tagen vom 14. bis 16. Juli ging die schwerinsche Division (176 Offiziere und
3,377 Mann mit 1.487 Pferden) per Eisenbahn nach Leipzig, wo der Gioß-
herzog, von dem preußischen Hauptquartier aus, am 18. eintraf und am 19.
das Commando antrat. Der Abmarsch von Leipzig begann am 20. Juli. Das
Coips rückte in die an Sachsen grenzenden Theile von Bayern und besetzte
diese, ohne auf einen irgend nennenswerthen Widerstand zu stoßen. Der Waffen¬
stillstand vom 2. August fand dasselbe bereits im Besitz von Nürnberg und
Erlangen. Die strelitzischen Truppen, welche erst am Is. August aus Ncustrelitz
abrückten und am 21. August in Leipzig ankamen, blieben hier bis zum Friedens¬
schluß und sind noch immer, nachdem das ganze Corps längst aufgelöst ist, ohne
Befehl zum Rückmarsch.
Ueber den Entschluß der beiden Großherzoge zur Theilnahme am Kriege
und über die Bedingungen und Zwecke dieser Theilnahme fehlte es der Bevöl¬
kerung Mecklenburgs an jeder amtlichen und directen Kundgebung. Nur die
Soldaten erhielten bei ihrem Ausmarsch durch eine aus dem Haupiquartier
Zwittau in Mähren datirte Proclamation des Großherzogs Friedlich Franz
vom 11. Juli über ihre Bestimmung und Aufgabe einigen Aufschluß, der aber
noch manches dunkel ließ. Die Proclamation lautet: „Soldaten! Ich sende
euch, indem ihr die Grenzen des engeren Vaterlandes überschreitet, um unter
den Oberbefehl Sr. Majestät des Königs von Preußen zu treten, meinen kriegs.
herrlichen Gruß! — Ich vertraue, daß ihr auch in diesem Feldzuge euch als
gute Soldaten bewähren und, dem mecklenburgischen Namen Ehre machen werdet.
— Wir sind es nicht, die den deutschen Bund in den Kampf hineingezogen
haben, jetzt aber wollen wir freudig unser Leben an die Vertheidigung der guten
Sache setzen. Es handelt sich um den Fortbestand auch unseres mecklenburgi¬
schen Vaterlandes, um die höchsten Güter der deutschen Nation, um ihre Un¬
abhängigkeit von ausländischem Einflüsse. — Darum fest mit Gott, der die
gerechte Sache zum Siege hinausführen wird, für Pflicht und Ehre!" In den
Worten, daß es sich „um den Fortbestand auch unseres engeren Vaterlandes"
handle, scheint ein Hinweis auf die von Preußen gestellte Alternative durch¬
zuschimmern. .In der Proclamation vom 19. Juli, mit welcher der Gro߬
herzog das Commando über das Armeecorps antrat, sowie in einer andern,
welche er von Hof aus am 24. Juli an die Bewohner von Oberfranken erließ,
spricht er nur als preußischer General, nicht im Hinblick auf politische Aufgaben
und Ziele.
Die gegen Preußen eingegangenen Verpflichtungen und die dafür erlangten
Zusicherungen erhielten ihren vertragsmäßigen Ausdruck in einem Bündnißver-
trage, welcher zwischen Preußen und anderen Verbündeten Staaten am 18. August,
mit Mecklenburg aber erst am 21. August, abgeschlossen und am 10. September
ratificirt ward. Der preußisch-mecklenburgische Bündnisvertrag macht in Bezug
auf das Parlament und die Zwecke des definitiven Bündnisses noch einen Vor¬
behalt, indem Mecklenburg seine Zustimmung zu diesen Theilen des Vertrages
von einer vorgängigen Berathung mit den mecklenburgischen Landständen ab¬
hängig macht. Doch enthält der Vertrag zugleich das Versprechen der beiden
großherzoglichen Regierungen, die Erledigung dieses Vorbehalts sofort einleiten
und thunlichst beschleunigen zu wollen. In Ausführung dieses Versprechens
wurde auf den 26. September ein außerordentlicher Landtag nach Schwerin ein¬
berufen, welcher „über die Rückwirkung der politischen Ereignisse in Deutschland
auf die inneren Verhältnisse Mecklenburgs, insbesondere über das Wahlgesetz für
das unter Führung Sr. Majestät des Königs von Preußen zu berufende deutsche
Parlament" berathen soll.
Diesem Landtage gegenüber wird nun der Minister v. Oertzen die Auf¬
gabe zu erfüllen haben, einen Vertrag zu verfechten, welcher als Ziel die Er¬
richtung eines norddeutschen Bundes aufstellt, der die bisherigen Rechte der
mecklenburgischen Landstände in wesentlichen Punkten avsorbiren, auf die poli¬
tischen und socialen Institutionen, welche mit dem feudalen Staatswesen zu¬
sammenhangen», seinen umgestaltenden Einfluß äußern und damit schließlich die
feudale Lande-Verfassung selbst in ihrer Wurzel treffen wird. Und als den
Weg. um zu diesem neuen Bunde zu gelangen, soll er die Berathung durch «in
Parlament empfehlen, welches aus allgemeinen und directen Wahlen mit ge¬
heimem Stimmrecht hervorgehen soll. Einem Minister, der sein ganzes Leben
hindurch die feudalen Anschauungen verfochten und in der deutschen Verfassungs-
frage noch unlängst den Bundesstaat für eine Unmöglichkeit und einen Wider¬
sinn erklärt hat, kann wohl kaum eine Ausgabe gestellt werden, welche eine
größere Selbstverläugnung erforderte. Dennoch wird man keine Ursache haben
zu befürchten, daß Herr v. Oertzen, wenn er es für zulässig hält, diesen Bruch
mit seiner Vergangenheit zu vollziehen und selbst die neuen Grundsätze und
Anschauungen, auf welchen das preußische Bundesproject ruhet, seinen bisherigen
politischen Freunden gegenüber als Minister zu vertreten, nicht ernstlich ver¬
suchen sollte, die Zustimmung der Stände für seinen Vorschlag zu erlangen.
Denn Mecklenburg muß dem Bunde beitreten und folglich auch die entsprechen¬
den Bedingungen erfüllen, wenn es sich nicht isoliren und damit allen Ge¬
fahren der Isolirtheit aussetzen will; und kein mecklenburgischer Minister, mag
sein Herz auch bis in alle Winkel und Falten mit feudalständischen Neigungen
durchdrungen sein, kann sich dem Bunde entziehen, wenn Preußen ihn ernst¬
lich will.
Allerdings wird es auf Seiten der feudalen Partei nicht ganz an Wider¬
stand fehlen. Schon während des Krieges konnte man die Anzeichen wahr¬
nehmen, daß die Herzen vieler Genossen dieser Partei bei den Fahnen Oestreichs
waren. Sie waren dort, nicht blos weil viele ihrer Söhne und Brüder, die
unter diesen Fahnen kämpften, sie dorthin zogen, sondern auch weil die Sache
des Feudalismus nur aus dem Siege Oestreichs Nutzen ziehen konnte, während
der Sieg Preußens ihr Gefahr brachte. Von einem Landrath, dem Grafen
v. Bernstorff auf Wedendorf, wurden gleich nach der Schlacht von Königsgrcitz
Geldsammlungen für verwundete Oestreicher eröffnet, deren Ertrag an den
patriotischen Verein in Wien abgeliefert werden sollte, und diese Sammlungen
wurden auch noch fortgesetzt, als schon der Großherzog mit seinem Armeecorps
Bayern bekriegte. Das Gerücht geht auch, daß in dem Kreise dieser östreichisch
gesinnten Feudalen Schritte geschehen seien, um einen Rücktritt des Großherzozs
von dem preußischen Militärdienst zu bewirken, welchen man mit seiner souve¬
ränen Stellung und den aus derselben sich ergebenden Pflichten gegen sein
Land nicht in Einklang gefunden haben soll. Neuerdings hat ein anderes Mit¬
glied der adeligen Ritterschaft, der durch die Chiffre I. v. Pi. anscheinend als
der Landrath Josias v. Plüskow auf Kowalz erkannt zu werden wünscht, in
dem ministeriellen Blatte selbst die Fahne des Widerstandes gegen die Inten-
tionen des Ministeriums erhoben, indem er seine Standesgenossen zur Ablehnung
des Wahlgesetzes und des Parlaments auffordert. „Die mecklenburgischen
Stände," bemerkt er, „können und dürfen zu dem Wahlgesetz und zu dem Par¬
lament nur Nein sagen. Und daß sie das auch mit Erfolg können, müssen
wir annehmen, sonst hätte man sie nicht fragen müssen. Wollten sie Ja sagen,
so käme das einem Selbstmorde gleich; Parlament und Urwähler widersprechen
unseren Verhältnissen zu direct. Will man uns dennoch hineinzwingen. so sollen
die Stände wenigstens die Gewaltthat nicht durch ihre Zustimmung verstecken
helfen, vielmehr ihre Rechte wahren für bessere Zeiten." Der Artikel schließt
mit den Worten: „Wer kann wissen, ob nicht ein Widerspruch der mecklenburgi¬
schen Stände gegen das Parlament hie und da bestimmenden Orts ganz er¬
wünscht sein möchte?"
Indessen wird die Anstrengung dieser Partei eine vergebliche sein, selbst
wenn es ihr gelingen sollte, auf dem bevorstehenden außerordentlichen Landtage
die Mehrheit zu erlangen. Die Ablehnung würde voraussichtlich für sie die
Folge haben, daß der Rechtsgrund ihrer Existenz einer neuen Prüfung unter¬
zogen würde, welche leicht mit der Wiederaufnahme des im Jahre 18S0 ge¬
waltsam unterbrochenen constitutionellen Staatslebens endigen könnte. Die
feudalen Stände haben in der Bevölkerung keinerlei Halt und Unterstützung
und mit ihrer Macht ist es aus, sobald sie die Regierung nicht mehr auf ihrer
Seite haben. Die feudale Partei hat daher — immer vorausgesetzt, daß man
in Berlin nicht aufhört, die Sache des neuen Bundes ernstlich und nachdrücklich
zu fördern — nur die Wahl, ob der Anschluß Mecklenburgs an den Bund mit
ihrer Zustimmung oder ohne dieselbe geschehen soll.
Schon manchen Fremden, dem das Wupperthal einiges Interesse abgewonnen
hatte, und schon manchen Eingeborenen, der sich draußen in der Welt oder kraft
inneren geistigen Aufschwungs über die bewußtlose Hinnahme alles Heimischen
als eines selbstverständlichen erhob, hat die Frage gequält, woher die hier wahr¬
zunehmende besondere Stärke und Lebendigkeit des religiösen Triebes stamme?
Denn es ist nicht etwa nur ein übertreibender zufälliger oder künstlich gemachter
Ruf. der dem Wuppertha! diesen Charakterzug zuschreibt. Es ist in der That
die ausgeprägteste Falte in seiner ganzen geistigen Physiognomie. Nirgends in
Deutschland nimmt der Geistliche durchweg die vornehme Stellung ein wie hier;
nirgends entwickelt die Kirche im täglichen Leben, und selbst in den politischen
Parteikämpfen der Gegenwart auch nur entfernt so viel Macht; nirgends sind
die religiösen Bestrebungen noch in gleichem Grade Volkssache, eine innerlich
empfundene Angelegenheit der Massen, wenn auch vielleicht nur einer kleinen
Majorität oder starken Minorität. Die dem neunzehnten Jahrhundert eigen¬
thümliche Vereinsbildung ist im Wupperthale zunächst und bis heute ganz über¬
wiegend in den Dienst der religiösen Interessen genommen worden. Die rhei¬
nisch-westfälische Missionsgesellschaft, welche Jahr aus Jahr ein lediglich aus
freiwilligen Gaben ungefähr 60,000 Thaler verwendet, ist hier entstanden und
hat hier in einem stattlichen Gebäude ihre centrale Bildungsanstalt. Seit 1814
arbeitet die bergische Bibelgesellschaft; und da diese seit 1834 darauf verfallen
ist, die heilige Schrift ohne die Apokryphen herauszugeben, so besteht jetzt neben
ihr die wupperthaler Bibelgesellschaft, welche sie mit den Apokryphen verbreitet.
Ebenfalls seit 1814 läßt die wupperthaler Tractatgesellschaft ihre religösen Flug-
blätter in die Welt wehen. Der Gustav-Adolph-Verein hat seit 1843 in Elber-
feld und Barmer Wurzel gefaßt. Die Evangelische Gesellschaft für Deutschland.
1848 in Elberfelo gegründet, sendet von hier ihre Reiseprediger und Colpor¬
teure kirchlicher Schriften aus. Auch die Pastoralhilfsgesellschasl für Rheinland
und Westfalen, welche für die Ausfüllung jeweiliger Lücken im Predigtamte
sorgte, hat hier ihren Sitz; desgleichen der Missionsverein für Israel, und die
Evangelische Gesellschaft für die protestantischen Deutschen in Nordamerika. Dazu
kommen dann noch die mehr örtlich beschränkten Vereine von religiöser Fär¬
bung, wie der Erziehungsverein, der Gefängnißverein, der Enthaltsamkeitsverein,
der Jünglingsverein, der Verein christlicher junger Kaufleute, der Frauen-
und Jungfrauenverein u. s. f. Diejenigen unter diesen Vereinen, welche ein
ständig offenes Local brauchen, finden dasselbe in Elberfeld schon seit einer
Reihe von Jahren, in Barmer demnächst ebenfalls in einem ihnen gewidmeten
eigenen Vereinshaus, das daneben wandernden Handwerksgesellen und ihres¬
gleichen eine gesunde. Physisch und moralisch saubere Schlafstelle darbietet. Die
meisten der aufgezählten Vereine feiern ihr Jahresfest gemeinschaftlich während
der im August oder September stattfindenden wupperthaler Festwoche, zu wel¬
cher regelmäßig von nah und fern zahlreiche gleichgesinnte Gäste eintreffen. Die
Elberfelder und Barmer ihrerseits bilden auf dem evangelischen Kirchentage und
ähnlichen kirchlich-religiösen Vereinigungen regelmäßig ein auffällig starkes und
hervortretendes Contingent.
Woher diese einseitig-ausschließliche Fülle eines sonst im modernen Leben
eher zurückgedrängten Triebes? Sie von der landschaftlichen Gestaltung oder
von der geognostischen Beschaffenheit des Wupperthales abzuleiten, wie einige
wollen, geht nicht wohl an. Es giebt genug ähnlich geformte Thäler in der
Welt, in denen die Pflanze der Frömmigkeit doch ungleich seltener und zer¬
streuter angetroffen wird; und weit über die Grenzen der wupperthaler Kirch¬
lichkeit und Religiosität hinaus reicht der Boden, auf welchem sie hier zufällig
gedeiht, der Sandstein und der Lennerschiefer. Ebenso wenig befriedigend er¬
scheint an sich die Annahme, welcher Goethe in seiner Recension der 1828
erschienenen Predigten von Gottfried Daniel Krummacher zu huldigen scheint:
daß die vorwiegende Beschäftigungsart die Leute religiös stimme. Die Weber,
sagt er, seien von jeher als ein abstrus-religiöses Völkchen bekannt. Allein
durchaus nicht alle, welche die Woche über am Webstuhl sitzen, sind Sonntags
auf der Kirchenbank zu finden, und die Fabrikherren oder Kaufleute, welche an
der Spitze der kirchlichen Gemeinden oder Vereine stehen, weben doch nicht.
Man muß die Auflösung des Räthsels in der historischen Entwickelung des
Wuvverthals suchen. Nicht ganz gleichgiltig mag schon der Umstand erscheinen,
daß das Christenthum hier nicht sowohl durch gewaltsame Auferlegung und
oberflächlich-plötzliche Massenbekehrung als durch individuelle Aneignung Eingang
fand. Dies wiederholte sich später mit der Reformation. Keine fürstliche Ge¬
walt drückte so unmittelbar auf das Wupperthal, daß die Bevölkerung in blin¬
dem Gehorsam ihren Glauben hätte wechseln oder beibehalten müssen. Es
blieb ihr durch alle politischen Umschwunge hindurch ein verhältnißmäßig hohes
Maß von religiöser Selbstbestimmung, Folglich eignete sie sich, was sie ergriff,
mit größter Innigkeit an. Der Streit des lutherischen mit dem reformirten
Bekenntniß ließ während des ganzen siebzehnten Jahrhunderts die Theilnahme
jedermanns an der religiösen Bewegung der Zeit nicht ausgehen. Mit dem
achtzehnten Jahrhundert lösten Mysticismus und Pietismus den Bekenntni߬
hader ab; es bildeten sich Secten der ehrwürdigsten wie der wunderlichsten und
bedenklichsten Art. die „Schwelgfeinen" unter dem betrügerischen Schwärmer
Elias Eller. welcher in Ronsdorf, eine Stunde von Barmer - Elberfeld, das
neue Zion errichtete und sich mit den Seinigen allen Sinnesgcnüssen hingab'
weil der „Bräutigam" bereits erschienen sei, — und die „Schmachtfeinen", wie
im Gegensatz dazu die Anhänger des frommen Gerhard Tersteegen genannt
wurden, weil sie einen ascetischen Wandel für verdienstlich hielten. „Feine"
ist, beiläufig bemerkt, im Wupperthal noch heute die populäre Bezeichnung der
kirchensrommen, religiösgesinnten Leute, und in weiterer Uebertragung selbst der
politisch-conservativen. Das kirchliche Leben des Thales vnsiei unter aller dieser
Dogmenzänkerei, Schwärmerei und Sectenbildung indessen keineswegs der An¬
archie. - Die Kirchengemeinden blieben mächtig, weil in ihnen das der Industrie
anhaftende aristokratische Element vornehmlich zur Geltung und Entwickelung
gelangte. Die Zeit, wo freie Reichsstädte neu entstanden, war lange vorüber,
als im Wupperthal ein wohlhabender und selbstbewußter Fabrikantenstand em¬
porkam; sein Freiheits- und Herrschaftstrieb bemächtigte sich folglich der tires.
lichen Formen, in denen dasjenige Leben sich bewegte, welches damals für den
Sinn und Geschmack der Menschen obenanstand. Der Kirchmeister stellte sich
gleichberechtigt neben den Bürgermeister und den Garnmeister. Er verfocht
nach oben hin. d. h. gegen die Einmischung der Landesbehörden. die Selbst¬
bestimmung seiner Gemeinde, also die Freiheit; nach unten hin aber vertrat er
ebenso bestimmt die überlieferte Gewalt Weniger, die willenlose Nachfolge der
Massen. Er war also abwechselnd liberal und aristokratisch, nimmer aber con-
servativ. Dies ist noch gegenwärtig die Grundfärbung der alten Familien in
Elberfeld und Barmer. Die Übertragung der dadurch bedingten Lebens¬
anschauung auf die dienende Menge sowohl, als auf den Zuzug von außen her
wurde wenig oder gar nicht eingeschränkt durch- fremdartige Geistesströmungen.
Da hier nie der Sitz eines Hofes oder einer Negierung. einer Overbehörde oder
einer Garnison war, so übte das Beamtenthum nicht den wohlthätig aufklären¬
den und befreienden Einfluß, der im achtzehnten Jahrhundert überall in Deutsch¬
land von ihm ausging. Da ferner eine selbständige höhere Unterrichtsanstalt
fehlte. Schulen vielmehr auf allen Stufen in förmlichster Abhängigkeit von der
Kirche erhalten wurden und die Kirche vermöge ihrer wesentlich aristokratischen,
nicht despotischen Verfassung stets so conservativ wie möglich blieb, so hatte
die philosophisch-rationalistische Geistesbewegung des Vongen Jahrhunderts im
Wupperthal schlechterdings keine Träger. Jung-Stilling, der von 1772 bis
1778 in Elberfeld als Arzt lebte, galt dort als Freigeist, während er im übrigen
Deutschland als Mystiker beinahe verschrien war.
Das neunzehnte Jahrhundert hat diese conservative Richtung der kirchlich
Gesinnten im Wupperthale nur immer weiter ausgebildet. Jener weise, aber
in der Ausführung halb verkümmerte Gedanke Friedrich Wilhelm des Dritten,
die lutherisch-reformirte Union, wurde hier auf gegenseitige Zulassung zum
Gottesdienste und Gemeinschaft des Kirchenregiments beschränkt. Als in der
reformirten Kirche zu Elberfeld die neue Agende zum ersten Mal vorgelesen
wurde, erscholl eine Stimme aus der Gemeinde, welche dem Prediger zurief, er
solle nicht Saublut auf den Altar bringen. Pastor G. D. Krummacher legte
seine Feindschaft dadurch an den Tag, daß er sie mit eintöniger Stimme halb¬
laut eilfertig herschnurrte und dann im schroffen Contrast sein herrliches Organ
mit irgendeinem kräftigen Spruch der Bibel mächtig erhob. Der reformirten
Gemeinde wurde dann auch der Gebrauch der Agende bald wieder ganz er¬
lassen; die lutherische Gemeinde benutzt sie noch heute, aber auch ihre beiden
Kirchen füllen sich erst, wenn die Vorlesung der Agende vorüber ist. Zur Her¬
beiführung der im Jahre 1855 gegebenen rheinisch-westfälischen Synodalordnung
sind die entscheidenden Schritte nicht von Elberfeld oder Barmer her, die doch
bei allen kirchlichen Bestrebungen voranstehen, geschehen; und seit die rheinische
Provinzialsynode besteht, sitzen die Vertreter des Wupperthals in ihr auf der
Rechten. Überschlage man das hier herrschende kirchliche Leben in seiner Ge¬
sammtheit, so nimmt man mit Verwunderung wahr, wie sich von allen ein¬
ander ablösenden historischen Epochen des Protestantismus hier Reste erhalten
haben und dicht neben einander bestehen, — von dem Pietismus so gut wie
von dem Orthodoxismus, von dem Mysticismus nicht minder als von dem
Hierarchismus. Im Allgemeinen freilich wiegen, in Uebereinstimmung mit der
übrigen Welt, unter den altlirchlichen Richtungen bekenntnißtreue Strenggläubig¬
keit und Hinneigung zur geistlichen Herrschaft Vor. Aber es ist doch daneben
ein rein pietistischer Zug. wenn kirchlichgesinnte Familien sich — wenigstens
daheim in der eigenen Stadt — den Besuch des Theaters versagen, und wenn
ein Geistlicher nicht einmal Bach- und Händelconcerte zu besuchen wagen darf,
um des Friedens in der Gemeinde willen. Ein entschiedener Zug von Pietis¬
mus ist es auch, wenn ein Mann in Barmer, Namens Quambusch, besonders
die Schriftsteller und öffentlichen Redner des Thales mit der Eröffnung heim¬
sucht, daß Gott sich entschlossen habe, nun wieder unmittelbarer in die Welt-
begebenheiten einzugreifen, und ihn dafür als Apostel ausersehen habe. Genug,
wer die Kirchengeschichte der letzten Jahrhunderte studirt, der kann im Wupper-
thale zu jeder großen historischen Erscheinung die' Belegstücke finden, ähnlich
wie die fossilen Ueberbleibsel der Erdumwälzungen in einem geologischen Cabi-
net, nur mit dem Unterschied, daß diese kirchengeschichtlichen Neste leben. Aber so
sehr waltet der conservative, rückwärtsgewandte Charakter vor, daß selbst die
freie Gemeinde, welche hier besteht, nicht freigläubig, sondern strenggläubig ist.
Einzelne ihrer Genossen hatten einen hervorragenden Antheil an den „ Er¬
weckungen", welche vor einigen Jahren im elberfelder Waisenhaus stattfanden
und weit und breit keinen besonders angenehmen Geruch hinterließen.
Die Bermenschlichung der kirchlichen Tradition, welche seit dem vorigen
Jahrhundert immer weiter in den Kern des Glaubens vorgedrungen ist und
immer allgemeiner die Massen des Volks ergriffen hat, vermochte im Wupper-
thal nur durch die Schule einigen Eingang zu finden. Und zwar war es
charakteristischer Weise zuerst ein Privatinstitut, von wo eine gesunde Reaction
gegen die Starrheit der Kirchenlehre ausging. Es war die Schule des genialen
Pädagogen Wilberg. der in Pestalozzis Fußtapfen trat und von welchem Diester-
weg. während er in Elberfeld wirkte, seiner eigenen Aussage nach das Beste
gelernt hat. Seine Leistungen hatten den wunderbaren Erfolg, daß eine Anzahl
der ersten Familien ihm, dem Elementarlehrer, ihre Söhne anvertrauten. So
wird, was in der älteren Generation Elberfelds an unabhängiger Intelligenz
vorhanden ist, nicht zum kleinsten Theile aus ihn zurückzuführen sein. Die älteren
Volksschullehrer sind' meistens seine unmittelbaren Schüler. Er gab im Jahre
1830 sein Institut auf zu Gunsten der damals neubegründeten Realschule, die
nahe daran war, das sehr verkommene Gymnasium zu verschlingen, wenn nicht
der jetzige Staatsminister v. d. Heydt für die Schule, welcher er seine Bildung
verdankte, eine finanzielle Garantie übernommen hätte. Sie bewies ihm ihre
Erkenntlichkeit für diese Errettung vom Tode, indem sie seine Büste in ihrem
Festsaal aufstellte; noch erwünschter aber ist es vielleicht ihrem Gönner gewesen,
daß sie fortfuhr, die Kirche in ihrer Erziehung der Jugend zu innerlich abhängi¬
gen Conservativen unbedingt zu unterstützen.
Auch in der Realschule Elberselds freilich lebte Wilbergs selbständiger und
rücksichtslos forschender Geist nur zum Theil fort, ebenso wie in der später
gegründeten und mit einem prächtigen Hause ausgestatteten barmer Realschule.
Aber doch waren es in Elberfeld nur Lehrer der Realschule, welche sich dem
im letzten Winter gegründeten Allgemeinen Bildungsverein anzuschließen wagten.
Nicht einmal die Lehrer der höheren Webeschule und Provinzialgewerbeschule
in Elberfeld bewiesen, außer einem ersten schüchternen Anlauf, gleichen Muth.
Und Lehrer der elberfelder Realschule oder der höheren Schulen Barmens
waren es auch, die es gegen Ende des vorigen Winters, als die Geistlichkeit
sich einmal wieder eine ihrer hergebrachten orthodox-hierarchischen Einmischungen in
den Religions- und sogar in den Geschichtsunterricht erlaubte, auf einen offenen
Zusammenstoß ankommen ließen. Einer dieser Fälle betraf einen Professor in
Barmer, der in der Geschichtsstunde u. a. unehrerbietig von König David ge¬
sprochen haben sollte; ein anderer traf einen Lehrer in Elberfeld, dem Zweifel
an der Authenticität der fünf Bücher Mosis entschlüpft waren; in einem dritten
Falle gar wurde der Lehrer von den Spitzen der lutherischen Gemeinde in
Ellmfeld zur Rechenschaft gezogen, weil er im Allgemeinen Bildungsverein sich
auf Lessings Wort bezogen hatte, daß andächtig schwärmen leichter sei als gut
und edel handeln. Der Art sind die Wahrhcitstörner, welche nicht durch das
Sieb der wupperthaler Glaubensbewahrer gehen. In dem ersterwähnten Falle
folgte ein Zeitungskampf, der um ein Haar die öffentliche Vervehmung der
Elberfelder Zeitung durch die conservative Partei nach sich gezogen hätte. Allein
nicht nur die Conservativen. auch die Liberalen wurden wach, als sie sahen,
auf welchen Standpunkt des Wissens und Denkens die Unterichtsstätten ihrer
Söhne zurückgeschraubt werden sollten. Sie waren ohnehin schon übel genug
daran. Die Leitung aller höheren Schulanstalten des Thales befand sich in
der Hand von Männern, welche entweder aus eigenem innerem Hange oder
aus Anerkennung vor der überlegenen Macht den Geistlichen und der conser¬
vativen Partei im Wesentlichen jederzeit zu Willen waren. In den Curatorien
überwog das kirchliche ober das conservative Element. Gelang es, die letzten
charaktervoller Lehrer, welche am Geschichts- und Religionsunterricht betheiligt
und nicht von der echten wupperthaler Anschauung erfüllt waren, durch Maß-
regeln von oben her oder Verleibung des Amtes hinauszutreiben, so hatten
gleichgesinnt Eltern nur die Wahl, ihre Knaben schon lange vor der Confir-
mation von Hause fortzuschicken, oder aber ihnen einimpfen zu lassen, was sie
für nahezu gleichbedeutend mit geistigem Tode hielten. Während solche und
ähnliche Empfindungen die erwähnten Kreise bewegten, begab es sich, daß die
Elverfelder Zeitung ihren Redacteur wechseln sollte. Ein Abschiedscsscn für den
scheidenden Gesinnungsgenossen, A. Lammers, wurde daher benutzt, um in einer
Reihe lebhafter und nachdrücklicher Kundgebungen die Partei der verfolgten
Lehrer zu ergreifen. Man fand denn auch, daß die Gegenpartei den Sinn und
die Tragweite dieser Protestcrhebung wohl verstand. Sie zog einstweilen ihre
Scheeren ein.
Aber ein noch folgenreicheres Unternehmen entsprang aus diesen Kämpfen.
Es trifft sich, daß im Wupperthal — wie gegenwärtig vielleicht im Durchschnitt
durch ganz Deutschland — die Träger des Fortschritts vorzugsweise Männer
(und Frauen, nicht zu vergessen) in den dreißiger Jahren sind; und da Ge¬
schäftsleute früh zu heirathen pflegen, der Hagestolz obendrein nirgends unglück¬
licher daran ist als in so ausschließlich industriellen Orten, so sind die meisten
dieser voranstehenden Liberalen Familienväter, und ihre ältesten Kinder reifen
dem Confirmantenunterricht entgegen. Sie haben folglich ein starkes eigenes
Interesse, zu verhindern, daß der Religionsunterricht orthodox-pietistischer Pastoren
auch noch das Gegengewicht einbüße, das in dem Religions- und Geschichts¬
unterricht unabhängig denkender durchgebildeter Lehrer liegt; ein starkes eigenes
Interesse, wo möglich zu bewirken, daß der Confirmantenunterricht selbst auf¬
höre, lediglich nach dem Geschmack der Nückschrittspartei ertheilt zu werden.
Ais nun die neuerdings von den Geistlichen gesuchten Händel mit aufgeklärten
Lehrern dieses doppelte Interesse des Liberalismus zum allgemeinen Bewußtsein
brachten, nachdem derselbe durch die Stiftung und Entwickelung des Allgemeinen
Bildungsvereins in Elberfeld und des Allgemeinen Bürgervereins in Barmer
bereits das Gefühl seiner Kraft erlangt hatte, wurde eine Organisation aus¬
drücklich zu jenem Zwecke nicht schwer. Man fand sie in der Anlehnung an
den deutschen Protestantentag, dessen Richtung und Thätigkeit, dem empfundenen'
Bedürfniß am besten entgegenzukommen schien.
Der äußere Anlaß erschöpft indessen nicht den Werth einer solchen Ver¬
einigung für das Wupperthal. Nirgends im Gegentheil bietet sich derselben
eine solche Fülle von Aufgaben, eine solche Sicherheit und Tiefe der Wirkung.
Leichter mag es fast an jedem anderen deutschen Orte sein, die Anhänger der
Selbstbestimmung in religiösen Dingen um eine gemeinsame Fahne zu sammeln,
aber am erfolgreichsten verspricht es sich hier zu erweisen. Unter den Vor¬
besprechungen ergab es sich, daß die wesentlichste Schwierigkeit nicht in dem
allzu radicalen, sondern in dem vermeintlich allzu conservativen Charakter des
Protestantentages lag. Das herrschende religiöse Extrem hatte in Vielen wie
gewöhnlich seinen extremen Gegensatz, eine entschiedene Neligionsscheu und Ab¬
neigung gegen alles Kirchenwesen hervorgerufen. Einem dogmatisch neutralen
Verein glaubte man nickt gut beitreten zu können. Weit lieber als für die
auf kirchliche Selbstregierung und Lehrfreiheit gerichteten Satzungen des Pro¬
testantentags würde man etwa für ein Programm ins Feld gezogen sein, das
die historisch-kritischen Ergebnisse der tübinger Schule mit denjenigen der neuesten
Philosophie verquickt hätte. Strauß und Roman fanden in diesen Kreisen mehr
Zustimmung als Schenkel, Bluntschli und Baumgarten. Allein mit einer so
individuellen und subjektiven Auffassung bekehrt man die Massen nicht. Bald
sahen die Meisten ein. daß die im Wupperthal vorliegenden praktischen Auf¬
gaben besser durch Anschluß an den Protestantentag gelöst werden würden,
durch Eroberung der Gemeinden für eine zcitverständige Betrachtung der sitt-
lichen Dinge, durch Foitwandeln auf der in den Synoden geöffneten Bahn im
Zusammenhang mit der Mehrheit der rheinischen und mit der Minderheit der
westfälischen Provinzialsynode, als durch den Cultus der gesunden Vernunft in
kleinen Cvnventikeln, oder wenn es hoch kam. durch die Bildung freier Ge¬
meinden. Der einzelne Vater freilich könnte ja auch durch letztere den ihm zu¬
meist am Herzen liegenden Zweck erreichen, nämlich seine Kinder vor einer ihm
falsch und verderblich dünkenden Kirchenlehre zu bewahren; jedoch für die Masse
des Volks wäre damit so gut wie nichts erreicht. Es ist aber heute nicht mehr
hoffnungslos, die evangelische Kirche von innen heraus umzustimmen. In Rhein¬
preußen vollends giebt es dafür ganz ausgiebige Mittel., Die Prediger werden
dort durch die Mehrheit der Gemeindevertretung gewählt; die Gemeindevertre¬
tung selbstverständlich durch die Gemeinde. Bringt man letztere also auf seine
Seite, so entscheidet man schließlich über den Geist der Predigt, und nicht darüber
allein, sondern mittelbar zugleich über die Art und den Grad von Einmischung,
welchen die Kirche d. h. die Geistlichkeit auf die Schulen jedes Ranges üben
soll, vorzugsweise auf die Volksschulen. Die Mehrheit der Gemeinden d. h.
der mitwählenden Gemeindeglieder tritt jetzt in die Fußtapfen konservativer
Führer, weil sich ihr keine anderen auswerfen. Sie wird in zahlreichen Fällen
anders wählen, wenn der gebildete Liberalismus seine träge, feige, vornehme
Scheu vor dem Inneren der christlichen Tempel überwunden haben und an
dem kirchlichen Gesammtleben des Volkes wieder thätigen, lebendigen Antheil
nehmen wird, jene unfruchtbare Fortgeschrittenheit verschmähend, die im vorigen
Menschenalter Mode war.
Die Besprechungen wegen Gründung eines örtlichen Protestantenvereins
für Elberfeld und Barmer begannen eben, als der drohende deutsche Krieg alles
in seine umwälzenden Strudel zog. Aber so mächtig und gesund ist der Trieb,
der zu ihnen drängte, daß sie trotz des Krieges und der ungeheuren Aufregung
dieses Sommers nicht ganz wieder zu Boden gefallen sind. Es wäre auch
schon des nächsten Anlasses und Zweckes halber verkehrt gewesen, darauf zu ver¬
zichten. Die Gegner des freien Unterrichts sind durch die jüngsten gewaltigen
Ereignisse so wenig umgestimmt oder zur Mäßigung bewogen worden, daß eine
wahrhaft kleinliche Verfolgung der Lehrer, welche an dem oben erwähnten Ab-
schicdsmcchle theilgenommen hatten, noch mitten im Sommer fortgesponnen
worden ist, — und das keineswegs durch gewöhnliche Polizeiseelen. Doch darf
man vielleicht hoffen, daß dies mehr das unvermeidliche Nachhallen eines ver¬
zogenen, als die Ankündigung eines herausziehenden Gewitters gewesen sein
werde. Wie es aber damit auch stehe: die Thätigkeit des wuppcrthaler Pro¬
testantenvereins kann nicht früh und kräftig genug eröffnet werden. Nimmt
ein besonderer Schulverein ihm einen Theil seiner hoben Aufgabe ab, so mag
er sich dem Neste desto energischer widmen. Es wäre schön, wenn etwa auf
dem bevorstehenden deutschen Protestantentage — dessen Besuch man der nun
preußisch gewordenen Stadt Hannover schuldet — eine Abordnung von ange¬
sehenen Männern ElberfeldS und Barmens erschiene, um sich seine nächste Zu¬
sammenkunft für das Wuvpetthal auszubitten. Damit würde vor aller Welt
Augen von dem Namen dieses anmuthigen und durch den Fleiß tüchtiger
Menschen belebten Erdenflecks jene Einseitigkeit abgestreift, welche in dem Spitz¬
namen „Muckerthal" wiederklingt; es bliebe an der Vorstellung haften eine
besondere Stärke und Lebendigkeit des religiösen Triebes, wie sie der geschicht¬
lichen Entwickelung des Thales entspricht, aber befreit von den Schlacken der
Ausschließlichkeit, des Geisteszwanges früherer Zeiten, des ausgesprochenen
leidenschaftlichen Gegensatzes zu dem Jahrhundert, als dessen Bürger wir nun
einmal leben müssen, und mit aller Energie und vollem Bewußtsein leben wollen.
Ich habe bereits hervorgehoben, daß in Frankfurt die Stimmung umge¬
schlagen; es thut mir leid hinzufügen zu müssen, daß sie trotzdem noch ebenso
confus und corrupt ist. wie am 20. Mai (Abgeordnetentag), nur in einer an¬
deren Art. Mit dem 4. und 6. Juli trat der Wendepunkt ein. Bis dahin
hatten nur die Austriacissimi das Wort. Sie tanzten einen politischen Hexen-
Sabbath. der sich besonders in der Presse sehr widerlich abspiegelte. Der „Post-
zeitung". einem konservativen Blatt, das von jeher zu Oestreich hinneigte, ge¬
bührt die in Anbetracht des örtlichen Standes und der Stimmung in Frankfurt
hoch zu veranschlagende Anerkennung, sich — einige Denunciationen gegen die
Majorität der nassauischen Kammer und deren Führer abgerechnet, welche wohl
dem hiesigen offiziösen Korrespondenten zur Last fallen — gleichgeblieben zu
sein und die Würde der anständigen Presse in Form und Inhalt gewahrt zu
haben. Die übrigen Blätter wetteiferten mit einander in kriegerischer Berserker-
Wuth, Ungebühr und Verunglimpfung Andersdenkender; namentlich schimpften
sie die süddeutschen Abgeordneten, welche dem liberalen und nationalen Gedanken
treu geblieben waren, grade deshalb mit jenem wüthigen Eifer, welcher das
charakteristische Kennzeichen des Nenegatenthums ist.
Außer den bekannten älteren Blättern schoß aber gleichzeitig oder kurz vorher
eine große Anzahl ohne Zweifel entweder von Oestreich oder von Wiesbaden,
Darmstadt, Stuttgart u. s. w. finanziell subventionirter und von östreichischen
und schwäbischen Literaten psssimae memorias bedienter Schmutz- und Winkel-
blättchen über Nacht gleich Pilzen empor, welche sehr schlau aus die Liebhabereien
und Schwächen des vornehmen und geringen Pöbels berechnet, dessen Sprache
mit Virtuosität redeten und von dem „süßen Mob" mit Begierde verschlungen
wurden. In Wiesbaden gründete ein ehemaliger hessischer Dorfschullehrer
Namens Becker, welcher früher an der Mittelrheinischen Zeitung beschäftigt und
von derselben wegen geringer Befähigung entlassen worden war, ein Filial
jener frankfurter Blätter, genannt die „Neue mittelrheinische Zeitung". Diese
und die officielle nassauische Landeszeitung bemüheten sich nach Kräften, die
Bestialitäten der blutdürstigen frankfurter Presse in das Nassauische zu über¬
setzen, blieben aber an Virtuosität des Schimpfens doch etwas hinter den frank¬
furter Idealen zurück.
Ein halbes Dutzend klerikaler Blätter und Blättchen, die in Mainz unter
der Aegide des hochwürdigsten Herrn Bischofs und päpstlichen Throncissistcnten,
Herrn -s- Wilhelm Emanuel Freiherrn v. Ketteler, erscheinen, besorgten die Ueber-
tragung in das „Katholische" und bewirkten in einzelnen wenig cultivirten
Gegenden Nassaus (denselben, die durch den Menschen- und Kinderbandcl eine
traurige Berühmtheit erlangt haben) Erscheinungen, von welchen ich unten
noch sprechen werde. Die Mainzer Blättchen wurden von dem katholischen
Klerus gratis vertheilt, und was das geschriebene Wort nicht vermochte, das
wurde ergänzt durch das gesprochene, im Beichtstuhl und auf der Kanzel. Es
war und ist ein Kreuzzug, der gepredigt wird mit flammenden Zungen gegen
Preußen und gegen alle, die nicht für Oestreich und das Concordat schwärmen.
„Auf die Fortschrittsleute! sie sind schuld an dem Krieg, sie haben uns an
Bismarck verrathen, sie haben die Preußen in das Land gerufen, sengt si^
hängt sie, schlagt sie todt!" So bläst die Schaar der schwarzen Jäger da§
„Halali" frisch auf zum fröhlichen Jagen. Zeitweise, namentlich so lange die
falschen Botschaften über östreichische Siege in den frankfurter Blättern graffirten.
geschah das nicht ohne großen Erfolg und das „Lreäo, guier ad8uräum est"
hatte volle Geltung. Sehr natürlich. Infolge des obligatorischen Schulunter¬
richts kann hier zu Lande jedermann lesen. Daß auch jedermann denken
könne, läßt sich keineswegs mit derselben Bestimmtheit behaupten. Nun denke
man sich in dieser stürmischen Zeit die aufgeregte Menge, gefoltert von Unruhe
und Neugierde. Unbekannte oder bekannte Wohlthäter stecken ihr die frank¬
furter Wurstblättchen und Brandschristen zu Tausenden in die Hände. Natür¬
lich werden dieselben gelesen. Darin steht, wie die Preußen überall die Männer
sofort in die Armee einreihen, mit den Frauen noch etwas übeler umspringen,
die Kinder zum Frühstück, die Rinder zu Mittag, die Pferde'zu Nacht speisen.
Korn und Kartoffeln und was sonst nicht niet-, nagel-, wand-, band- und mauer-
fest ist, mitnehmen und alles, was sie nicht mitnehmen können, zerstören. Ob¬
gleich auch unsere Bauern das sinnreiche Sprüchwort kennen: „Er lügt, wie
gedruckt", so sind sie doch allzu sehr geneigt, alles Gedruckte zu glauben, nament¬
lich wenn es ihnen der „Hochwürdige", der „Herr Pastor", der „geistliche Herr"
in die Hand drückt, und wenn es an allem Widerspruch gebricht. Und dieser
fehlte. Denn die Liberalen hatten sich leider zum großen Theil einschüchtern
lassen und auch ihre Presse wagte kaum noch, frisch von der Leber weg zu
sprechen. Was Nassau anlangt, so verdient sie Entschuldigung. Denn die
Regierung hat hier, unter Berufung auf den Bundesbeschluß von 18S4, welcher
indeß bei weitem nicht so weit geht, im Taumel der Reaction gegen den
Willen und unter lebhaftem, jedoch erfolglosen Proteste der Landstände ein
gegenwärtig noch bestehendes Preßgcset; erlassen, welches ihr die Befugniß giebt,
nach ihrem bon Mihir jedes Blatt zu jeder Zeit ohne Urtheil und Recht
durch eine Ordonnanz der Verwaltungsbehörde todtzuschlagen; und sie hat von
dieser mehr als discretionärcn Gewalt in der Vergangenheit während der fried¬
fertigsten Zeiten einen so indiscreten Gebrauch gemacht, daß man wohl weih,
wessen man sich von ihr zu versehen hat, namentlich in Kriegszeiten, wo man
stets Waidsprüchlcin, wie „L-uns pudlieg, supi'vena!«zx esto!", „Indor en-eng.
silönt IgMs" u. f. w. in Bereitschaft hat.
' Infolge jener Agitation war zeitweise und ist wohl noch in einzelnen Ge¬
genden, namentlich in den vormals kurtricrschcn und lurmainzischen Landes¬
theilen, in welchen man noch vielfach an die Zustände des heutigen römischen
Kirchenstaats erinnernde Spuren der antisvcialen und antistaatlichen Herrschaft
des geistlichen Krummstabes findet, und wo der Klerus die öffentliche Meinung
der ungebildeten Menge beherrscht, die Stimmung aus den Gipfel des Preußen-
Hasses, der sich theils in Furcht, theils in Wuth offenbart. Vor allem hat man
den guten Leuten eingeredet, in Preußen würden keine Katholiken geduldet, und
Preußen wolle das Land erobern nur zu dem Zwecke, um die Katholiken zu
zwingen, protestantisch zu werden. Vergebens legten zwei einflußreiche Mit¬
glieder unseres bischöflichen Dvmcapitels, der Domdcchant Dicht und der Dom¬
herr Rau, jener als alter eZo des Bischofs Mitglied der ersten, dieser gewählter
Abgeordneter zur zweiten nassauischen Kammer, mit aneikennenswerthem Frei-
muth in der Ständeversammlung öffentlich Zeugniß davon ab. daß in keinem
deutschen Staate sich die katholische Kirche einer Autonomie erfreut, wie sie
solche in Preußen unter dem Schutze der Verfassung genießt. Ihre Stimme
drang nicht unter die bethörte Menge. In dem Amte Montabnur hatte sich
eine Schaar Bauern mit Sensen und Dreschflegeln bewaffnet, um eine preu¬
ßische Husarenpatrouillc zu überfallen. Nur der klugen Mäßigung und der
Humanität des Führers der letzteren ist es zu verdanken, daß ein nutzloses
Gemetzel vermieden wurde, welches die verhängnißvollsten Folgen gehabt haben
würde. Die vormnls radicale „Neue Frankfurter Zeitung" aber und das hiesige
gouvernementale Organ des Exschulmeisters Becker klatschten dem tollen Unter¬
nehmen der fanatisirten Bauern Beifall und forderten zur Nachahmung auf.
In dem Amte Wallenrod flüchteten ganze Dörfer aus Angst vor den Preußen.
Sie schleppten it,r Vieh und ihre sonstige Habe in die Wälder und versteckten
sich selbst in die Höhlen. Denn sie fürchteten, ihr Vieh werde geschlachtet, und
sie selbst würden protestantisch gemacht werden, — offenbar ein Nachklang des
verhängnißvollen: „On^'us regio Hus religiö."
Auch die Furcht, von den Preußen zwangsweise assentirt zu werden, hat
an andern Orten eine große Rolle gespielt. Die östreichisch gesinnten Blätter
und Beböldcn hatten überall diese Mähr verbreitet. Das Hessen-darmstädtische
Dorf oder Landstädtchen Gladenvach. das an der kurhessischen Grenze, nicht
weit von Marburg liegt, wurde am 29. Juni von einem Schwarm jüngerer
kurhessischer Bauern und Bauernbursche überzogen, die herbeieilten, — theils
zu Fuß und außer Athem, theils zu Pferd, und Roß und Reiter triefend von
Schweiß. Sie verkündigten die Schreckensmähr, „der Preuß" sei im Anzug
und wolle alle Männer von 18 bis zu 40 Jahren aufheben. Es stellie sich
indeß heraus, daß von den 200 Geflüchteten keiner selbst einen Preußen gesehen
und keiner eine bestimmte Quelle für die Nachricht hatte, daß eine solche Aus¬
hebung bevorstehe, und da die ehrenwerthen Gladenbacher schon Preußen in der
Nähe beobachtet und die Meinung hatten, dieselben seien keineswegs Menschen¬
fresser, so gelang es ihnen, ihre aufgeregten Gäste dermaßen zu beruhigen, daß
diese Tapfern beschämt unter dem Schutze der Nacht in ihre Heimath zurück-
kehrten, zur größten Satisfaction ihrer respectiven Väter. Kinder, Mütter.
Bräute u. s. w., die sie ungern vermißten. Die Neue Frankfurter Zeitung,
von welcher die schon erwähnte vortreffliche Bayrische Wochenschrift sagt, „daß
sie seit ihrer Bekehrung zum Austriacismus das wiener Cabinet und den Bundes¬
tag mit Rosenwasser beträufele, ihr nach dieser Seite gerichteter Tadel wie ein
gedämpftes Lob klinge, ihre Forderungen mit jungfräulicher Bescheidenheit auf¬
treten, und daß sie es glücklich dahin gebracht habe, von den Diplomaten und
Staatsmännern der rcaciionären Schule neben der augsburger „Allgemeinen
Zeitung" mit gleicher Vorliebe gelesen zu werden", — die Neue Frankfurter
Zeitung, welche den Kurfürsten von Hessen mit einem „Engel des Lichts" und
den König von Hannover mit einem „Märtyrer" verglichen, die mit wahrhaft
byzantinischen Phrasen den jungen Kronprinzen von Hannover glorisicirt und
von ihm behauptet hat, „er sei in einer Nacht vom Knaben zum Manne ge¬
reift", erzählt uns während der letzten vierzehn Tage wiederholt vielerlei von
Freiwilligen aus Kurhessen, welche aus Anhänglichkeit an den Kurfürsten und
aus Haß gegen die Preußen ihre Heimath verlassen und sich zu ihrem Con¬
tingent nach Frankfurt begeben hätten. Richtig ist nun, daß Leute aus Kur¬
hessen eingetroffen sind. Unrichtig aber, daß sie alle von den angegebenen
Motiven geleitet wurden. Sie waren vielmehr zum größten Theile ebenfalls
beseelt und getrieben von jenem panischen Schrecken, der die tapferen Zwei¬
hundert nach Giadenbach getrieben hatte.
Die Eigenthümer und die hervorragendsten Mitarbeiter der „Neuen frank¬
furter Zeitung", die Besitzer der östreichischen Papiere, die Beherrscher der Börse
in Frankfurt, die heftigsten Austriacissimi, die am lautesten in die Kriegstrompete
gestoßen und am lebhaftesten für die czechischen, kroatischen, rumänischen und
polnischen Brüder im Osten geschwärmt haben, sind Jsraeliten. Diese That¬
sache kann nicht verschwiegen bleiben, aber sie darf nicht mißdeutet werden. Sie
hat mit dem jüdischen Glauben und mit der jüdischen Abstammung natürlich absolut
nichts zu schaffen. Sie darf daher auch nicht mißbraucht werden, um Abneigung
gegen die Juden hervorzurufen, gegen diese unsere Mitbürger, Mr deren Eman¬
cipation wir, die Liberalen, die wir jetzt von ihnen befehdet werden, Jahrzehnte
lang mit zäher Ausdauer und gutem Erfolg gekämpft haben gegen die für
Oestreich schwärmenden Conservativen, welchen jetzt die durch unsere Anstren¬
gungen Emancipirten anhängen. Wir hoffen, sie finden sich aus der Verirrung
des Augenblickes wieder zu der richtigen Stellung heraus.'
Zu ihrer Entschuldigung muß angeführt werden, daß hier zu Landeder
Handel mit Geld, Wertpapieren und Credit fast ausschließlich in ihren
Händen liegt, und daß ein so creditbedürftiger Staat wie Oestreich demselben
stets die lebhafteste Nahrung giebt. Bei der Balutastörung. der Besteuerung
der Coupons, den unsicheren Staatsfiiianzen. den Vorboten des Bankerotts,
pflegt jedermann eher etwas zu verlieren als der Bankier. In solchen schwie¬
rigen und verwickelten Verhältnissen gewinnt stets der Sachkundige und Ge-,
schäftsgewandtc. der Fachmann siegt über den Nichtfachmann. Das ist klar.
Dem Kaufmanne, der nicht mit Waaren, sondern mit Geld und Credit handelt,
kann daher Oestreich nicht gleichgiltig sein. Der Gläubiger kümmert sich um
einen soliden bombenfesten Schuldner wenig oder gar nicht. Den unsichere
Schuldner aber, an welchem doch immer noch etwas zu verdienen ist, behandelt
er mit der größten Sorgfalt, wie die Eltern unter ihren Kindern das schwache
vorziehen, nicht obgleich, sondern weil es kränklich ist, und weil sie doch wenig¬
stens in Zukunft noch Erfreuliches von ihm zu erleben hoffen. Wer diesen
Causalnexus durchschaut, wird manches entschuldigen.
Aber verhehlen kann ich es doch nicht, es ist ein widerwärtiger und selt¬
samer Anblick, dieselben schwärmen zu sehen für die biederen Czechen in dem-
selben Augenblicke, wo die letzteren die Juden in Böhmen, das Messer in der
Hand, an der Kehle packen und ihnen hier „Stribro" (Silber her!) in die Ohren
schreie». Könnten doch diese biedern „deutschen Brüder" aus den böhmischen
Wäldern, wenn sie siegreich in die freie Reichsstadt am Main einrücken, in ihrer
waldursprünglich-sanscülottischer Naivetät den Einfall haben, dort dieselbe Ope¬
ration zu wiederholen, die sie in ihrer Heimath mit bestem Erfolge ausgeführt!
An Anzeichen dazu fehlt es auch im deutschen Reich nicht. Grade in den
preußenfeindlichsten Theilen Bayerns hat man Judenhetzen versucht. In Nassau
hat noch kürzlich der Graf von Walderdvrff, der Hvchtorv der ersten Kammer,
in der letzteren eine heftige Philippika gegen die „abscheulichen Juden, welche
die Bauern ruinirten" losgelassen. Es wurde nur von liberaler Seile er¬
wiedert, es gäbe Christen, die schlimmer seien; wenn ein Jude etwas verdiene,
so gebe er es doch alsbald wieder in Circulation und lasse es für die bürger¬
liche Gesellschaft arbeiten; wenn aber ein edler Gras die Bauern schlachte und
zu Pächtern oder Leibeigenen mache und deren freies Gut seinem gräflichen
Fideicommiß einverleibe, dann werde dieses der todten Hand und der Lati¬
fundienwirthschaft verfallene Eigenthum für immer dem wirthschaftlichen Ver¬
kehr und der bürgerlichen Gesellschaft entzogen; solches verübe „der Jude"
nicht. Auch hier stand der östreichisch gesinnte Graf gegen, die liberale anti¬
östreichische Partei für die Juden, d. h. für deren Bürgerrecht und Glaubens¬
freiheit.
Grade in dem nassaui.schen Bezirk aber, in welchem der genannte Graf
wohnt und wo sein Einfluß allmächtig ist, weil alle Bauern indirect und die
durch seine Guts- und Kammerverwaltung aus Bauern in Pächter verwandelten
Hintersassen direct von ihm abhängig sind, grade dort entbrannte auch infolge
der klerikalen Agitation eine Judenhetze. Die Sache kam in der Kammer zur
Sprache. Der Graf Walderdvrff war leider abwesend. Die liberale Partei
wollte einen Abwesenden nicht angreifen. Der Präsident der zweiten Kammer
beschränkte sich aus die Bemerkung, er bedauere die Abwesenheit des Herrn
Grasen, derselbe würde, wenn anwesend, es vielleicht haben erläutern können,
warum er den großen Einfluß, den er in seiner tzeimath besitze, nicht angewandt
habe, um jene Excesse — zu verhindern. Lapienti sat!
Beiläufig bemerkt, verdient es in den kleinstaatlichen Geschichtsannalen ver¬
zeichnet zu werden, daß, als am 6. Juli die nassauische Ständeversammlung
(vereinigte erste und zweite Kammer) über die Credite, welche die Regierung
gefordert hatte, um für Oestreich in den Krieg zu ziehen, abstimmte (und sie
verweigerte), auf der Adelsbank der ersten Kammer, welche zehn Mitglieder
zählt, nur zwei saßen. Von diesen zwei stimmte der eine, ein Beamter, für die
Regierung, der andere, ein Kammerherr des Herzogs, gegen die Regierung.
Dem letzteren, dem Freiherrn v. Schwartzkovpen, ließ der Herzog noch zur sel¬
bigen Stunde wegen dieses „eines Kammerherrn unwürdigen Benehmens" den
Schlüssel abverlangen.
Die übrigen acht Lordschaften fehlten. Acht Tage vorher, ehe Oestreichs
Niederlagen stattgefunden und bekannt geworden waren, waren sie alle da und
hatten tapfer für den Bundesbeschluß vom 14. Juni, also für Oestreich, ge¬
stimmt und zum Theil auch gesprochen. lömxorn. mutantur, et nos mutamur
in illis.
Ein sehr häßlicher Zug tritt in dieser aufgeregten Zeit — nicht bei dem
Volk, denn wo es sündigt, da liegt wirklich,' meiner Wahrnehmung nach, die
Ursache im Kopf und nicht im Herzen, das trotz alledem treu und brav ist —
bei Einzelnen hervor, nämlich der Hang, die Aufregung der Masse zur Be¬
friedigung gehässiger persönlicher Leidenschaften zu benutzen, namentlich sie zu
Zwecken der Privatrache auszubeuten. Aus der großen Reihe solcher Vorfälle
hier ein Beispiel:
Am 28. Juni machten die Preußen von Koblenz aus eine militärische Pro¬
menade nach Montabaur, einem nassauischen Städtchen, wo ein Justizamt seinen
Sitz hat. Ein Advocat aus der Nähe, der bei dem Justizamt seine Geschäfte
erledigt hatte, war im Begriff, das Local zu verlassen, als er in der Haus¬
thüre in mehr überraschender als angenehmer Weise mit einer Husarenpatrouille
zusammenstieß, welche ihn mit gezogenem Säbel und gespanntem Pistol anhielt,
sie zum Amtmann zu führen. Natürlich leistete der in so kategorischer Weise
Aufgeforderte Folge. Diesen Hergang benutzte ein ebenso unfähiger als neidi¬
scher College, um jenen zu denunciren, er habe die Preußen ins Land geführt
und ihnen als Spion gedient. Ein solcher Vorwurf, geschickt verbreitet und
aufgeputzt, war in diesen Tagen nicht ohne Lebensgefahr für den Verläumdeten.
Die Bundestagsarmee hat in Nassau allerdings gelegentlich neunzehn preu¬
ßische Landwchrsoldaten gefangen genommen. Aber weit hervorragender, qua¬
litativ und quantitativ, war das Fangen von „Spionen". Weit mehr wie die
Kriegführung schien sie dieses Geschäft als ihre eigentliche specifische Berufs¬
sphäre zu betrachten und sie lag demselben mit einem Eifer ob, daß die sehn-
derung dieser kriegerischen Action ihren besonderen „ Specialartisten " bedürfte.
Höchst komisch war es, als ewig wiederkehrenden Beweisgrund dafür, das! noth¬
wendig Spione in Hülle und Fülle im Lande sein müßten, den Umstand an¬
führen zu hören, die preußischen Führer kennten ja Weg und Steg in unserem
Lande besser als wir selbst, während doch Nassau nur eine Enclave Preußens,
zwischen Koblenz und Wetzlar, mit einer preußischen Etappenstraße mitten durch,
ist, und für das Ländchen keine andere brauchbare und zuverlässige Specialkarte
existirt als grade die des preußischen Generalstabs, deren sich auch die Negie¬
rung für ihre Arbeiten zu bedienen pflegt. Allein in dieser aufgeregten Zeit
war der Gedanke an diese Karte ein viel zu pbilisirös nahe liegender, einfacher,
hausbackener. Man bedürfte der Romantik mit Kant MÜt, und deshalb sing
man Spione.
Ebenso unglücklich, wie mit dem Fangen der vermeintlichen fremden Spione
des Feindes, war man mit seinen eigenen Spionen.
Der Herzog von Nassau hatte einen pensionirten Generalstabshauptmann
zum Chef seiner Spionage ernannt. Alle Behörden, die Polizei- und Landjägcr-
mannschaft waren angewiesen, ihm hilfreiche Hand zu leisten. In Civil ge¬
kleidet umschlich er die Preußen. Wenige Tage nach der verhängnifzvollen
Bundestagsabstimmung vom 14. Juni, in der Nacht vom Sonnabend auf den
Sonntag, telegraphirt dieser Hauptmann von der Lahn aus (wo er sich be¬
findet, um die im Kreis Wetzlar concentrirten preußischen Truppen zu obser-
viren), die Preußen fehlen sich von dort in Bewegung. Das Telegramm
gelangte Morgens 5 Uhr an den Herzog. Sofort Allarm aller nassauischcn
Truppen, welche in Bibrick und Wiesbaden concentrirt waren! Die Generale
galoppiren. Die Offiziere setzen die östreichischen Käppi, die Soldaten die
nassauischeu Käppi, die Trainsoldaten die preußischen Pickelhauben auf. In die¬
ser Abstufung der Kopfbedeckung des Militärs wollte man offenbar mit ahnungs-
und beziehungsreicher Symbolik die unendliche Ueberlegenheit Oestreichs über
Preußen andeuten. Man hatte sie unmittelbar vor Ausbruch des Krieges ge¬
wählt. Der Herzog hatte höchstselbst in Wien, wohin er damals ging, bei
einem wiener Militärkappenmacher die östreichischen Käppi für seine Offiziere
bestellt, deren Kopfmaß er sich dorthin hatte schicken lassen. Die wiener Käppi
kamen Ende Mai hier an. Aber, o Unglück, sie paßten nicht auf die betreffen¬
den nassauischen OWersköpfe; und der Hofkappenmachcr Frannd, aufgefordert, sie
»ach Maßgabe der einzelnen nassauischen Ofsizierskopfindividualuäten zu ändern,
antwortete mit dem echten Stolz eines deutschen Handwerkers: „Ich bin kein
Kappen flicke r, sondern ein Kappen nacher, und wer die Kappen schlecht ge¬
macht, der kann sie auch verbessern." Mit dem Verluste des Hofprädicats
bedroht, ging der wackere Meister, noch ehe man die Drohung verwirklicht hatte,
still resignirt ans Werk, stellte seine Leiter an die Hausthüre und strich mit
weißer Oelfarbe auf seinem Geschäftsschild das Wort „Hof" und den obligaten
nassauischen Wappenlöwen im Voraus aus freien Stücken aus. Das war das
eiste, für jedermann deutlich erkennbare Vorzeichen des Verfalls der nassauischen
Dynastie. Kein Wunder, daß bei dem übereilten Ausmarsch, welchen das be¬
drohliche Telegramm Von der Lahn veranlaßt hatte, die Käppi nicht paßten.
Noch weniger paßten die preußischen Helme den Trainsoldatcn oder „Thräncrn",
wie man sie hier nannte. Ursprünglich hatte die nassauische Linie russische
Czakos getragen. So wollte es der russenfreundliche Herzog Wilhelm. Statt
der Czakos hatte Herzog Adolph 1849, als er für das preußische Dreikönigs-
bündniß schwärmte, die preußischen Helme eingeführt. Als er aber sich von
diesem lossagte, um zur bregenzer Coalition und später zum darmstadt-Würz¬
burger Bündniß überzugehen, führte der auf östreichische Empfehlung zum
nassauischen Premierminister beförderte darmstädtische Cavaleriegeneral Prinz
Wittgenstein statt des preußischen Helens ein Käppi ein, das die östreichische
Grundform trug, jedoch mit einigen specifisch nassauischen Modificationen ver¬
sehen war. Die Pickelhauben wurden nun dem aus Anlaß deS Kriegs plötzlich
neuformirten Train zugetheilt. Sie paßten aber nicht auf die betreffenden Köpfe.
So sahen wir denn am 17. Juni in der stillen grauen Frühe des Sonntags¬
morgens die durck das Telegramm allarmirte nassauische Brigade eiligst in
der Richtung nach Frankfurt ausrücken in einem Zustande, der weniger Kriegs¬
bereitschaft als Fluchtbereitschaft zu nennen war. Wir sahen Trainsoldaten, die
keine Zeit gehabt hatten, das Pferd anzuschirren und nun selber das Pferdc-
kummt um den Hals trugen, während sie das Pferd an der Leine führten.
Dem einen war die allzuweite Pickelhaube bis auf den Hals heruntergesunken,
so daß man nichts mehr von den kriegerischen Gesichtszügen sah. Dem andern
saß der zu enge Helm auf dem Occiput und das schuppengepanzerte Sturm-
band fand seinen Halt statt unter dem Kinn — an der Spitze der Nase. Bei
jenem siel uns der sinnreiche Junker aus der Manch« ein, der das Barbier¬
becken für den Helm des Mambrino hielt und es betrachtend bemerkte: „Mich
dünkt und will es bedeuchten, als ob der Heide, welchem vormals dieser Helm
angehöret, einen sehr dicken Kopf gehabt haben müßte."
So also stürmte die Brigade fort, nachdem sie vorher rührenden Abschied
genommen. Denn sie erfreute sich sehr der Sympathien der weiblichen Be¬
völkerung, insonderheit von der dienenden Classe. In Hunderten von Dupli-
caten präsentirte sich in den Straßen und Alleen die Gruppe von Hektor und
Andromache,
„Will sich Hektor ewig von mir kehren,
Wo der Preuß' mit Zündnadelgcwchrcn" u. s. w.
hieß es; und die Thränen rannen. Sie hätten unvergossen bleiben können.
Denn kaum waren die Truppen eine gute Stunde fort, da kam abermals el>^
Telegramm des spionirenden Hauptmanns von der Lahn, allerdings seien die
preußischen Truppen aus dem Kreise Wetzlar aufgebrochen, aber nicht nach
Wiesbaden zu, sondern in entgegengesetzter Richtung, nach Kassel; und kaum
war dieses Telegramm angekommen, da setzte sich der Herzog höchstselbst zu
Pferde, um seine Truppen wiederzuholen. Er beglückwünschte sie. wegen ihrer
Bravour und bezeichnete <das Ganze als einen Probeallarm und einen sehr ge¬
lungenen Uebungsmarsch; die Soldaten rückten wieder in Wiesbaden ein und
der Andromachen trüber Blick wurde wieder heiter.
Aber seitdem hatte das naive Gefühl der sogenannten „Bundestreue"
dem der Unsicherheit und dem Bewußtsein, daß man schweren Ereignissen ent¬
gegengehe. Platz gemacht*). Auf verschiedenen Eisenbahnstationen in der Nähe
der Residenz Bibrich wurden Truppen mit geladenem Gewehr und gespanntem
Hahn aufgepflanzt, um, wen» ein Zug mit Preußen heranbrause (was nun
freilich wohl in der Art grade nicht sehr wahrscheinlich war), Feuer auf den¬
selben zu geben. Der erwähnte Chef des Auskundschaftungswesens hatte stets
eine geheizte Locomotive zu seiner Verfügung, womit er nächtlicherweile seinen
recvgnoscirenden „Löwenritt" ü. 1a Freiligrath in das Land hinein machte. Später
riß man auf der Lahn- und der Nheinbahn die Schienen auf, namentlich in den
Tunnels. Nassau selbst hatte unter diesen Unterbrechungen des Verkehrs schwer
zu leiden. Die Preußen nicht. Denn diese führen einen wohl organistrten Eisen¬
bahntrain mit sich, der alles Zerstörte in kürzester Frist wieder flickt.
Der Herzog hatte von seinen neun Generalen (9 Stück auf 6000 Mann)
den einen Namens Roth zum Commandanten der Brigade ernannt. Obgleich
sein etwas verkümmertes Aeußere keineswegs Aehnlichkeit mit dem martialischen
Benedek verrieth, hielt man ihn doch für einen ebenso furchtbaren Haudegen.
Denn er hatte in seiner Jugend in Spanien eine Karlistenbande geführt und ^ ^
wußte aus der Heimath des Don Quixote sehr merkwürdige Geschichten „tsi
tiemxo alö röMg, Nlrrieg.swQg," zu erzählen. Er hat sich nun zwar keines¬
wegs im ferneren Verlaufe der Dinge als Feldherr bewählt, wohl aber hatte
er, wie mir ein Mitglied der Eisenbahnverwaltung erzählte, eines Tags den
Einfall, den in der That höchst spanischen Einfall, sämmtliche Tunnels und
Brücken unserer soeben erst mit schweren Kosten vollendeten Staatscisenbahnen
müßten — wahrscheinlich irr in^orein Miierulissiini nassoiei gloriam — in
die Luft gesprengt werden. Die Wiederherstellung derselben würde uns etwa
sieben Millionen gekostet haben. Dies schien jedoch dem Herrn General ein
Moment von untergeordneter Wichtigkeit zu sein. In Spanien gab es zu
Zeiten des Don Karlos keine Eisenbahnen. Dort hatte der General seine
Kriegskunst gelernt; und da er dieselbe nun in Nassau anzuwenden hatte, so
war es offenbar doch höchst zweckmäßig und den militärischen Antecedentien des
Höchstcommandirenden völlig angemessen, wenn es 1866 in Nassau ebenso wenig
Eisenbahnen gab, als dreißig Jahre früher in Spanien.
Seit Anfang Juli schläft der Herzog nicht mehr in seiner Residenz Bibrich
am Rhein, weil er fürchtet, von den Preußen dort aufgehoben zu werden, son¬
dern in der Bundcsfestung Mainz. Dies wird mir von glaubhaften Personen
aus Bibrich und Mainz, welche ihn Abends hinauf und Morgens herunter
reiten sehen, erzählt. Dasselbe thut sein Generaladjutant Generalmajor Hiero-
nymus Ziemieckt v. Zimiechenstein, ein Mann von unbekannter Herkunft, der
vor etwa drei Lustren als armer Oberlieutenant oder fremder Eapitcmo in das
Land kam und nun ein sehr reicher General ist. Der Boltswltz nennt die
prachtvolle Villa, die er sich in der Nähe des Kursaals erbaut hat. die „Aclien-
boutikc". Denn man behauptet, daß sie von dem an Spiclbankactien gemachten
Gewinne erbaut sei. Während der Herr General seine werthe Person in Mainz
in Sicherheit brachte, sorgte er für die Sicherheit seiner Villa Dadurch, daß er
sie von je sechs Mann Soldaten bewachen ließ.
Der Schrecken, der oben herrscht, verbreitet sich mit wachsender Kraft bis
in die untersten Regionen. Am stärksten herrschte er in ewigen katholischen
Landbezirken. Ein Mann aus dem katholischen Landstädtchen Hadamar, das
sich eines katholischen Couplets, Gymnasiums und anderer derartiger Anstalten
erfreut, welche für Aufklärung sorgen, sagte mir: „Wenn man bei uns eine
Bohnenstange in die Erde steckt und eine preußische Pickelhaube darauf pflanzt,
dann wagt sich kein Mensch mehr vor die Thüre!"
In dem hadamcuschen Dorfe Ellar, welches ein starkes Contingent zum
katholischen Klerus aus der Zahl seiner wohlhabenden Bauernsöhne zu stellen
pflegt und ganz unter klerikalen Einflüsse steht, beeilten sich die Bauern auf die
Nachricht, „der Brelß" sei im Anmärsche, ihr Getreide, ihre Leinwand und ihr
Geld zu vergraben. Die Angst der Ellarer und die von ihnen getroffenen
Maßregeln wurden ruchbar. Die weniger ängstliche Jugend des Nachbardorfes
Dorchheim beschloß einen freundnachbarlichen Schabernack. Um die Stunde der
Mitternacht zogen drei dorchheimer Jünglinge, schwer bewaffnet, gen Ellar. Der
eine endete auf einem zu diesem Zwecke mitgebrachten Nachtwächtcrhorne guoa,ä
xc)Wo Militärische Signale. Der zweite tractirte nach Kräften eine alte Gie߬
kanne, um ihr Töne zu entlocken, welche denen der Trommel möglichst ähnlich
sähen. Der dritte aber schoß mehrmals aus einem verrosteten Gewehr. Darob
entstand in Ellar eine furchtbare Paniquc. Alles rennet, rettet, flüchtet. Die
Männer binden das Lied'im Stalle los, die Weiber binden sich die kleinen
Kinder auf den Rücken, und so geht es mit Mann und Maus, mit Kind und
Kegel in wilder 'Flucht in die benachbarten Wälder, wo man hauste, bis der
schlechte Witz bekannt wurde, und der allgemeine Spott und Hohn die Ge-
flüchteten zurücktrieb in die verlassene Heimath. Und zur nämlichen Zeit buken
in dem Nachbardorfe Heckhvlzhauscn die Bauern Festkuchen. als sie vernahmen,
die Preußen kämen und waren im Herzen betrübt, als die erwarteten Gäste
ausblieben.
Der Krieg begann für uns am 28. Juni. An Diesem Tage und dem vor¬
hergehenden überschwemmten uns die frankfurter Zeitungen mit einer Fluch von
Extrablättern und Telegrammen über glänzende Siege der Oestreicher u»d vn-
nichtende Niederlagen der Preußen bei Gitschin, Nachod, Stalitz u. s. w. Der
Muth stieg, und das nassauische Heer confiscirte ein Dampfschiff, das zwischen
der rechtsrheinischen (nassauischen) Eisenbahn in Rüdesheim und der linksrheini¬
schen (preußischen) ni Bingerdrück als Trajecttuistalt diente. Das machte
drüben böses Blut und am 29. Juni statteten die Preußen hüben ihren Gegen¬
besuch ab.
Sie hielten ein ludwigshafcncr Dampfboot, „Pfalz" genannt, das rhein-
abwärts fuhr, am 28. Abends an, indem sie dem Capitän bedeuteten, wenn er
weiterfahre, werde man schießen. Er legte an. In der frühesten Frühe am
29. Juni setzte ein preußischer Hauptmann mit einer Compagnie Landwehr von
Blngcrbrück nach Rndesheim über und erschien auf dem Bahnhof. Der
nassauische Telegraphist auf letzterem eilte, der erhaltenen Warnung ungeachtet,
an seinen Apparat, um den feindlichen Ucverfall nach Wiesbaden zu melden.
Eine Kugel, die einige Schuhe über seinem Kopfe in die Wand schlug, machte
ihn abstehn. Die Eisenbahn halten die Nassauer selbst bereits zerstört. Es
blieb also nichts Anderes übrig, als einen reitenden Boten zu senden. Allein
dieser wurde von den Kurhessen, welche der Herzog Adolph zum Schutze seiner
Residenz Bibrich aus der Bundcsfestung Mainz requirirt hatte, nicht durch¬
gelassen, sondern als Spion gefangen genommen. Man hatte nämlich den
Truppen bekannt gegeben, es treibe sich ein preußischer Offizier in Civil in
Wiesbaden und im !)ihe>ngau als Spion herum, er trage einen weißen Sommer-
rock. Da nun jener Retter von Nüdesheim allerdings" einen weißen Rock trug,
noch besser als ein Offizier zu Pferde saß und anstatt einen einsamen Fuß- oder
Reilpfad einzuschlagen, was er konnte, mit großem Geräusch auf der großen
Landstraße mitten durch die Bundestagssvldctten galoppirte, wie dies ja bekannt¬
lich die Spione stets zu thun pflegen, so konnte es nicht fehlen, daß man ihn
für einen Spion ertläuc, um so mehr, da unsere Bundestagsarmee, wie gesagt,
nun einmal absolut nicht ohne einige gefangene Spione leben konnte. Sie
waren ihr fast unentbehrlicher als der Zusammenstoß mit dem Feind.
So kam es also, daß eine Nachricht über den feindlichen Einfall erst zu
spät nach Wiesbaden oder Mainz gelangt ist.
In RüdcSheim wurde der Domanialtcllcrmeister und der Bürgermeister
herausgetrvmmelt. Letzteren behandelte der Hauptmann anfangs sehr barsch,
weil er — mit Unrecht — glaubte, bei ihm bösen Willen voraussetzen zu
müssen. Dann ging es in den Domanialkellcr, in welchem die edlen Weine
von 1862 und 1865 lagerten. Ein Theil derselben war verkauft, aber noch
nicht bezahlt und abgeholt, die anderen waren für den Verbrauch bei Hof be¬
stimmt. Die ersteren wurden unbehelligt gelassen. Die letzteren nahmen die
Preußen mit nach Bingerbrück. Es muß bemerkt werden, daß das Domanial-
gut Staatseigenthum und keineswegs Pnvatgut des Herzogs ist. Auch von der
Weincrescenz oder deren Erlös hat das Land seinen Antheil zu beziehen. Nichts
hat daher im Rheingau mehr böses Blut gemacht, als die Wegnahme dieser
Weine. Der höchste Stolz des Nheingauers ist sein feiner Wein. Ein Griff
nach seinem Wein ist ein Griff nach seinem Herzen. Er blickte den stattlichen
Fässern mit Groll und Wehmuth nach, als sie, wie Schiller sagt,
„ — das schwanke Brett
Hinübertrug nach jener andern Seite,
Wo deutsche Treu vergeht."
Gleichwohl brach auch hier der rheingauer Humor hervor. Ein Weinguts-
besitzer, welcher zusah, mit welcher Schnelligkeit und Accuratesse die sonst etwas
träge Zunft der Weinschröter, getrieben von dem strammen kurz angebundenen
Wesen der Preußen, die schweren und großen Fässer schrotete (d. h. aus dem
Keller zog) und auflud, sagte mit launigen Neid: „Wenn die Kerle nur auch
einmal mir so schön schroteten, wie dem Breiß!"
Als alles vorbei war, steckte der rheingauer Humor sogar den preußischen
Landwehrhauptmann an. Er wandte sich an den Bürgermeister von Rüdesheim,
mit dem er in der Nacht etwas rauh umgesprungen war, mit den Worten:
„Und nun, Herr Bürgermeister, entschuldigen Sie mich, wenn ich anfangs etwas
hastig war; erlauben Sie mir zugleich, daß ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin
nämlich der Bürgermeister N. N. von X., wir sind also College», gu'n Morjen,
Herr Colleg!" Und der Bürgermeister ohne Waffen schlug ein in die ihm dar¬
gebotene Rechte des Bürgermeisters in Waffen.
D>eS tst der Act, welchen der Herzog Adolph in dem bekannten, weder
klugen, noch höflichen, jedoch nach der Auffassung unseres Hofdienstadels „höchst
ritterlichen" Briefe, den er am 7. Juli (demselben Tage, an welchem er von
dem Herrn v. Schwartzkoppcn wegen seiner preußenfrcundlichen Gesinnung und
seiner Abstimmungen in der Ständeversammlung den Kammerherrnschlüssel zurück¬
verlangte) an de» Fürsten zu Hohenzollern schrieb, als die „ Weinraz^la von
Rüdeshcim" bezeichnete, — ein in fürstliche» Erlassen bisher nicht sehr gebräuch¬
licher Ausdruck.
Am folgenden Tag fuhren schwere Wagen, beladen mit kolossalen Fässern,
durch die Straßen von Wiesbaden; es waren die Cabinetsweine aus den Do-
manialtellern von Hvchheim, Wiesbaden und Eberbach, welche in die Bundes¬
festung Mainz und von da auf französisches Gebiet, nach Straßburg, geflüchtet
wurden. Nach Straßburg hat auch die „Bereinigte Spielhölle von Wiesbaden
und Eins" ihr am Roulette und am IreirtL et (Zua.is.nec; verdientes Sünden¬
geld geflüchtet.
Die rüdesheimer Klerikalen, welche in den Wahlkämpfen der letzte» Jahre
so oft den Liberale» unterlegen waren, suchten nun ihrem aufgehäuften Grolle
Luft zu machen, indem sie mündlich und in der oben geschilderten frankfurter
Scandalprcsse einzelne Liberale, namentlich große Weinproducenten und Wein¬
händler, welche mit ihrem Absatz auf Preußen angewiesen sind und deshalb
nicht wünschten, daß man einen Krieg mit demselben vom Zaun breche, mit
den albernsten Verleumdungen heimsuchten, sie hätten den Preußen als Spione
gedient u. f. w. Meinem Freunde Theodor Dilthcy sagten sie sogar nach, er
habe für Preußen Courier geritten, was bei seine, Fettleibigkeit seine absonder¬
lichen Schwierigkeiten gehabt haben würde. Daß diese Denunciationen nicht
die verhängnißvollsten Folgen hatten, daran sind nicht die Denuncianten schuld,
sondern der schnelle Gang der Ereignisse.
Nachdem die Preußen sich wieder auf das linke Rheinufer zurückgezogen,
wurde unter der Leitung des bereits erwähnten Generalstabsvffiziers in einem
rüdesheimer Vergnügungsivcal, das, auf einer Terrasse gelegen, in den Rhein
nach Bingen und Bingerbrück hinaus hervorragt, in der „Rheinhalle", ein
Späheiposten aufgestellt, der täglich viele Stunden lang mit dem Fernrohr aus¬
lugte, sowohl nach dem Feind auf dem linke», als auch nach den Spionen auf
dein rechten Rheinufer.
Wirklich entdeckte der Gencralstabshauptmann auch Spione. Er nahm
nämlich an dem rüdesheimcr Berg, in ein Kirschenwäldchen versteckt, Männer
Mohr, welche ein jeder zwei lange Stangen unter sich hatten und mit den weit
ausgestreckten Armen Bewegungen in.icht'en. wie ein optischer Telegraph. „Halt,
nun haben wir sie," sagte der Hauptmann, „das sind die Kerls, sie machen
den Preußen in Bingerbrück Verrätherische Mittheilungen!" Er wollte eben
seine Anordnungen gegen sie treffen — „Herr Hauptmann," sagte da ein rüdes¬
heimcr Bürger, der in seiner Gesellschaft war, „ehe Sie etwas thun, lassen
Sie mich doch auch erst einmal durch Ihr Fernrohr gucken." Dies geschah.
„El. el, el, Herr Hauptmann." lachte nun der wackere Rüdesheimer.' „was
sind Sie aber auf dem Holzweg mit den Spionen? Wissen Sie denn auch,
wer das ist? Das ist der Schiffer Maul mit seinen drei langen Schlingeln
von Buben, die stehen da oben auf Leitern und thun ihre Kirschen ab." Nähere
Nachforschungen ergaben, daß die letztere Lesart die richtige war, und daß dem
Hauptmann seine kriegerisch aufgeregte Phantasie einen kleinen Possen gespielt
hatte, der übrigens den Schiffer Maul in die Mainzer Kasematten hätte bringen
können.
Umgekehrt irrte man sich in Gcisenheim. Dort waren die Preußen auch
gewesen am 28. Juni. Infolge dessen waren die östreichisch gesinnten Klerikalen,
wenn auch ohne allen Grund, in großer Angst. Plötzlich erscholl am 29. Juni
gegen Abend der Jubelruf: „Hurrah, die Oestreicher'kommen, sie ziehen schon
in hellen Haufen den Bleichplatz und den Gänscrasen herunter!" Als nun be¬
sagte Oestreicher etwas näher kamen, zeigte es sich, daß es die liebe Schuljugend
war. Sie hatte sich im Rhein gebadet und dann aus jugendlichem Muthwillen
und Neigung zur Abwechselung das Hemde einmal nicht unter sondern über
das Mains angezogen. Ans diesem äußeren Anscheine der Weißheit war der
östreichische Irrthum der geisenheimcr Klerikalen entsprungen.
Wieder ein großer Trouble war vorgestern. Bon Bad Ems kam eine
Depesche, es rückten von dort 20.000 Mann Preußen gen Wiesbaden. Diese
Schiffcrnachricht erwies sich später als irrig. Sie war wahrscheinlich von den
Preußen selbst veranlaßt. Gleichzeitig hieß es in Nüdesbeim: „Die Preußen
sieben in Wiesbade» und kommen rheinabwärts marschirr." Und in Wiesbaden
dieß es: „Die Preußen stehen in Nüdesheim und kommen rheinaufwärts nach
Wiesbaden marschirt." Der blinde Lärm war dadurch entstanden, daß der
Blitz in den Staatstelegraphen zwischen Wiesbaden und Rüdcsheim eingeschlagen
und die Telegraphendrähte zerrissen hatte. Sowohl oberhalb als unterhalb der
Unterbrechung schrieb man dieselbe dem „Preiß'" zu; und in Wiesbaden gab
es abermals jene wilde Flucht, die wir schon einmal am 17. Juni erlebt und
oben geschildert haben. Die Soldaten sagten — ich weiß nicht zum wievielsten
Male — ihren Geliebten das „letzte" Lebewohl. Ohne Zweifel, um von Frank¬
furt, wohin sie gingen, in wenigen Tagen wieder hierher zurückzukehren und
dann zum „allerletzten" Male Lebewohl zu sagen. Wie oft sie noch diese Pendel-
schwingungen zwischen Frankfurt und Wiesbaden machen werden, das weiß nur
Gott und außer ihm höchstens noch der Herzog Adolph und der Prinz Alexander.*)
Während die Preußen angeblich auf Wiesbaden, die Nassauer nach Frank¬
furt marschirten. hatten die Kurhessen im Rheingau auf der Landstraße zwischen
lschierstein und Walluf aus Wagen und allerlei landwirthschaftlichen und häus¬
lichen Geräthen eine riesenhafte Barrikade aufgeworfen, um den angeblich an¬
rückenden Preußen den entschlossensten Widerstand entgegenzusetzen. Allein es
kamen keine Preußen; und da sich auch sonst niemand fand, der von der Bar¬
rikade Gebrauch zu machen gedachte, so mußte man dieselbe nach einiger Zeit
wieder abtragen, ohne daß sie irgendeinen andern Zweck gehabt hätte, als mehre
Tage lang den grade hier sehr lebhaften Straßenverkehr zu hemmen und den
Bauern den Gebrauch ihrer Gercithschaften und Fuhrwerke zu entziehen.
Ich hörte indessen von knrhesstschcn Offizieren, welche durchweg den besten
Eindruck machten, Aeußerungen des Mißmuthes darüber, daß man sie zum her¬
zoglichen Keller- und Mcbcnschutz und zu anderen nutzlosen Dinge verwende,
sowie daß der Bundesarmcecorpscommandant in Frankfurt und der Bundes-
fcstungScvmmandant in Mainz Theile der Bundesarmee, statt für den Krieg,
zu Pnvatzwecken des Herzogs Adolph verwendeten und des letzteren Requisitionen
gegenüber, welche sich immer nur auf seine eigenen höchst Persönlichen Sonder¬
interessen, statt auf allgemeine Angelegenheiten, bezögen, allzu bereitwillig Folge
leisteten.
Eine sehr denkwürdige Aeußerung vernahm ich von einem alten russischen
Offizier, der sich hier als' Kurfremder aufhält. Er hatte die Kriege von 1812
bis 1814 mit Auszeichnung mitgemacht »ut interessirte sich, obwohl nunmehr
außer Dienst, sehr lebhaft für alle militärischen Angelegenheiten. Er ging An¬
fangs Juli nach Frankfurt, um sich dort und in der Umgegend die Bundes¬
armee anzusehn. Als er zurückkehrte, fragte ich ihn. was er davon halte. „Sie
wird geschlagen", sagte er lakonisch. Aber, wandte ich ein, es sind doch 130,000
Mann, das siebente und achte Armeecorps zusammen, Und die süddeutschen
Soldaten sind tapfer. „Gewiß, das weiß ich alles," sagte der würdige alte
Herr, „aber erlauben Sie mir ein Gleichniß. Sie wollen ein Diner geben.
Sie kaufen die feinsten Rohstoffe, die delicatesten Speisen auf dem Markte, bei
dem NlrrdranÄ dg comostidlös, bei dem Delikatessenbändler, in der Wild-
und Geflügelhalle, bei dein besten Metzger und bei dem ersten Fischhändler der
Stadt, kurz wo Sie wollen. Es ist alles vortrefflich. Dann aber begehen Sie
den Verhängnißvollen Fehler und übertragen die Zubereitung nicht Ihrem Koch
sondern Ihrem Kutscher. Sehn Sie, das von diesem Kutscher verdorbene Essen
— das vortrefflichste Material, verhunzt und unbrauchbar gemacht durch un¬
kundige Hände — das ist die Reichsarmee!"
Das ist traurig, sagte ich.
'
„Aber wahr," sagteder Russe.------
Mit Ur. 4O beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im September 1866.
Die Verlagshandlung.
Die große Frage des preußischen Staatsschatzes ist von dem Abgeordneten-
Hause in Berlin verhandelt. Die Abstimmung hat mit einem Siege der Re¬
gierung geendet. Die bewegte Verhandlung war nicht ohne dramatische Momente,
der wirksamste, das unerwartete Erscheinen des Ministerpräsidenten. Ein großer
Theil unsrer Freunde von der Fortschrittspartei hat bei dieser Frage eine pa¬
triotische Selbstverläugnung bewiesen, welche sehr erfreulich war. Die Frage
ist aber mit der letzten Abstimmung nicht für immer beantwortet, und es ist
von Interesse, sie auch in der Presse zu debattiren.
Ich gehöre einem der von Preußen neuerdings annectirten Territorien an.
Man kann mir daher sagen, es sei Anmaßung, wenn ein zwar nicht an Jahren,
aber doch an preußischem Staatsbürgerthum noch blutjunger Mann — ein
Neupreuße neuesten Datums — aburtheilen wolle über einen altpreußischen
Gegenstand von solcher Complication und solcher Tragweite, daß nur jemand,
der Jahrzehnte lang in und mit Preußen, in und mit der preußischen Verfas¬
sung gelebt habe, ihn beurtheilen könne. Ich will nicht behaupten, daß ein
solcher Vorwurf grundlos ist; wir Annectirten haben ja allerdings für das
nächste Jahr officisll noch nicht mitzusprechen, sondern leben unter der könig¬
lichen Dictatur. wogegen wir auch gar nichts zu erinnern haben, vorausgesetzt,
daß der eiserne Besen des Königs kräftig benutzt wird, um den Augiasstall der
Kleinstaaterei zu reinigen von jenen schätzbaren Eigenthümlichkeiten des Patri-
monial- und Domanialstaates, welche, wenn man sie beibehält, die neu erwor¬
benen Provinzen für die preußische Monarchie nicht blos werthlos, — nein,
zu einer mit Neben- und Contreregierungen behafteten Last machen würden.
Meine Berechtigung, über den preußischen Staatsschatz mitzureden, leite
ich auch nicht blos daraus her. daß wir nun Preußen und also beim Wohl
und Wehe des preußischen Staats — des einzigen wirklichen Staats in
Deutschland, denn weder das noch ungeordnete Conglomerat. welches sich Oest¬
reich nennt, noch eines der deutschen Territorien, mag es einen noch so stolzen
Titel führen, ist ein wirklicher moderner Staat— so direct interessirt sind, wie
irgendjemand sonst, und daß wir an dem Nutzen und dem Schaden, den Vor¬
theilen und den Lasten, welche ein gefüllter Schatz für Preußen im Gefolge
führt, unsern vollen Antheil haben werden. Ich stütze sie vielmehr auf die
Behauptung, daß eine Frage nur dadurch reif und klar wird, daß man sie von
den verschiedensten Seiten aus beleuchtet; und der Standpunkt jemandes, der
ein halbes Menschenalter hindurch von liberaler und nationaler Seite her gegen
die Zwergstaaterei und deren Uebelstände einen ununterbrochenen, beharrlichen
und nicht ganz erfolglosen Krieg geführt hat, und der sich nun freut, nach
Kräften einem wirklichen Großstaat, welcher bereits national ist und sicherlich
liberal werden wird, zu dienen — nun, das ist am Ende doch auch ein Stand¬
punkt, der durch die große örtliche Entfernung, weiche mich von Berlin trennt,
vielleicht nicht einmal an Bedeutung verliert. Denn zuweilen gewährt eine
weite Distanz eine größere Perspective und bessere Uebersicht als die unmittel¬
bare Nähe; und wenn ich hinsichtlich der bisherigen preußischen Lerfassungs-
kämpfe, welcher^ ich indeß stets bis in das Detail mit der größten Aufmerksamkeit
gefolgt bin — denn es waren deutsche Kämpfe, und sie werden früher oder
später ihre Flüchte für Deutschland tragen — nicht so genau informire bin,
wie ein langjähriges Mitglied des Abgeordnetenhauses, so bin ich dafür andrer¬
seits völlig frei von den Nachwirkungen einer früher eingenommenen Position.
Dergleichen Nachwirkungen aber dauern in der Regel länger — sie sollten es
freilich nicht — als die erregenden Voraussetzungen. Zumal die Gemüths-
affectionen, welche durch lange Streitigkeiten erzeugt werden, und in der Regel
länger dauern als der Streitgegenstand selbst und der darüber geführte Partei¬
kampf. Wir sehen dies z. B. jetzt in dem Abgeordnetenhaus, wo zwar conser-
vative wie liberale Mitglieder zuweilen einträchtig für eine Regierungsvorlage
stimmen, aber dann unter einander, ihre beiderseitigen Motive zu verdächtigen
bestrebt sind. — So viel zur Legitimation meiner Person.
Was die Sache anlangt, so fasse ich das Jahr 1866 auf als eine ver¬
besserte und vermehrte Auflage des Jahres 1813. Jedes dieser Jahre ist eine
große deutsch-nationale That. Jedes hat uns von einer Fremdherrschaft befreit;
das Jahr 1813 von der französischen, das Jahr 1866 von der östreichischen.
Dadurch, daß Oestreich 1813 später noch in die Allianz gegen Frankreich ein¬
trat, wurde die.Unterwerfung der durch Napoleon den Ersten souverän gemachten
Rheinbundsfürsten und sonstigen Territorialherrn unter das unitarische deutsche
Gesammtinteresse verhindert und demnächst in dem Bundestag eine Institution
geschaffen, welche einer unter Oestreichs Leitung stehenden Kooperation der
Territorialherrn gegen den bereits bestehenden preußischen und den noch zu
gründenden deutschen Staat als brauchbares Werkzeug zu dienen geschickt war.
Das Jahr 1866 hat die Aufgabe von 1813 mit vertiefter Auffassung und ver¬
stärkter Kraft wieder aufgenommen. Indem es uns von der östreichischen
Fremdherrschaft befreiete, hat es den zweiten Act der nationalen Aufgabe voll¬
endet, aber noch nicht das Einigungswerk selbst, welches erst durch den bevor¬
stehenden dritten Act seine Krönung finden wird.
In Parenthese sei bemerkt: Wer etwa Anstoß daran nimmt, wenn ich
von östreichischer „Fremdherrschaft" spreche, der ist gebeten, die soeben erschienene
treffliche Schrift: „Woher und wohin?" von Professor Ludwig Karl Aegidi in
Hamburg zu lesen, in welcher alles, was über diesen Punkt vorzubringen wäre,
besser gesagt ist, als ich es zu sagen im Stande bin.
Durch die große nationale That von 1866 sind nicht nur ein paar Terri-
torien Preußen annectirt, sondern auch alle politischen Parteien, welche unter
einander einen gemeinsamen nationalen Boden anerkennen, und welchen das
Vaterland über der Partei, der Staat über der Coterie steht. Dies gilt im
doppeltem Grad von den liberalen Parteien. Denn der preußische Sieg, oder
um es noch präciser auszudrücken: der Sieg der preußischen. Negierung und
des preußischen Heeres, hat die Bahn gebrochen zu einer nationalen Politik,
welche zugleich frei und kräftig sein muß, um ihr Ziel zu erreichen."
Im Süden Deutschlands, wo immer noch die confuse „Volkspartei dem
Ultramontanismus und Particularismus die Schleppe trägt, beginnt bereits die
wahrhaft liberale Fraction sich als „deutsche Partei" zu constituiren und um
Preußen zu schaaren. Wir Liberalen in den annectirten Territorien fühlen uns
mit Genugthuung befreit von der saueren und undankbaren Arbeit, im Schweiße
unseres Antlitzes das verwachsene knorrige Holz des Particularismus zu spalten
— eine kleinliche banausische und unfreie Arbeit, über welcher man selbst in
Gefahr kam, kleinlich und unfrei zu werden. Wir bereiten uns mit Eifer darauf
vor, der an uns ergangenen deutschen Mahnung Folge zu leisten.
Diese Mahnung, sich aufzuraffen zur Mitwirkung bei der Lösung der
großen nationalen Aufgabe, welche die preußische Regierung — ganz einerlei,
aus welchen anfänglichen psychischen Motiven — nun doch einmal fest in die
Hand genommen hat und ohne Vernichtung ihrer eigenen Existenz nicht wieder
fallen lassen kann, diese Mahnung, welche in Außer-Preußen und in Neu-Preußen
bereits Gehör zu finden beginnt, ist auch an die deutsche Fortschrittspartei des
preußischen Abgeordnetenhauses herangetreten. Ein ehemaliges Mitglied des
Hauses, das eine hervorragende Stellung in der Fortschrittspartei einnahm, sagt
in einem sehr lesenswerthen Briefe an ein jetziges — welcher Brief hoffentlich
der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten bleibt — darüber: „Was wir anerkennen
müssen, das mögen wir ganz anerkennen. Was gethan werden muß. das thun
wir nicht halb! Es heißt nicht etwa dvirue miuo machen zum mauvais
^en. Denn das Spiel ist nicht schlecht. Es ist zwar anders, als wir
erwarteten, aber im Grunde doch Kor ^su. Darum also auch nicht zum
bon jou, mauvaise wirnz gemacht! Deshalb gilt es, sich zu befreien
von jeder fesselnden Rücksicht auf Ziele, welche wir verfolgten, und Aeuße¬
rungen, die wir gethan zu einer Zeit, als die Dinge ganz anders lagen, wie
heute."
Der Staatsschatz ist in Preußen eine alte und herkömmliche Heeresinstitu¬
tion. Es ist wahr, sie hat sich mit der modernen constitutionellen Verfassung
noch nicht recht in Harmonie zu setzen gewußt, und da es auch an genauen
gesetzlichen Vorschriften fehlt, so ist ?s nicht nur in dem Abgeordnetenhause,
sondern auch in dem Herrenhause (Antrag des Grafen v. Arnim-Boytzenburg
und Genossen vom 18. Februar 1859) in Betreff der Bildung, Verwendung
und Verwaltung des Schatzes, sowie des Rechts der Mitwirkung und der Con-
trole des Landtags hierbei, zu Differenzen mit der Regierung gekommen, welche
noch nicht völlig ausgetragen sind.
Nur so viel dürfte als unter den streitenden Theilen feststehend anzusehen
sein, daß in der Regel die Bestände des Staatsschatzes baar in gemünzten
Gelde vorhanden sein müssen, und daß aus demselben andere Aus¬
gaben, als solche zu Kriegszwecken, nicht gemacht werden dürfen.
Ohne Zweifel hat auch die Landesvertretung das Recht, den Vollzug dieser Vor¬
schriften zu controliren. wenn auch der Ausübung dieser Controle, so weit es
sich um öffentliche Debatten im Plenum handelt, aus Rücksichten des Staats¬
wohles einige Beschränkungen aufzuerlegen sein dürften.
Dieser Staatsschatz ist also eine militärische Anstalt, welche das stehende
Heer, beziehungsweise einen Theil desselben, ersetzt oder ergänzt. Diese Er¬
gänzung ist um so nothwendiger bei einer auf cousequenter Durchführung der
allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Heeresverfassung, welche eine übermäßig
lange Dauer des Kriegs so wenig verträgt, daß für den Fall des Kriegs auch
durch das Disponiblehalten eines verhältnißmäßig starken Betriebscapitals für
einen schnellen Umschlag und durch unerwartetes und wuchtiges Beginnen für
ein rasches und glückliches Ende gesorgt werden muß.
Wenn Preußen gewiß wäre, ohne Gefährdung seiner Mission, die nächsten
Jahrzehnte hindurch in Frieden leben zu dürfen, dann eilte es gewiß mit Fül¬
lung des durch den Krieg geleerten Staatsschatzes gegenwärtig durchaus nicht
so. daß man nöthig hätte, zu diesem Zwecke ein Anlehn aufzunehmen. Läge
etwa Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit dafür vor. daß innerhalb der nächsten
vier Jahre das Ziel so vollständig erreicht werde, daß Preußen dieser Stütze
seiner nationalen Politik später entrathen könnte, so könnte man schon jetzt die
Möglichkeit, den Bestand des Staatsschatzes von 1870 ab zur Schuldentilgung
zu verwenden, in Aussicht nehmen. Allein weder das Eine noch das Andere ist
der Fall; und wenn man im Augenblick den Staatsschatz nicht wieder gefüllt
oder ihn abgeschafft hätte, so würde man entweder die Wehrkraft, eventuell den
gouvernementalen Glauben an dieselbe, schwächen, oder aber man müßte, um
den vollen Stand der bisherigen Schlagfertigkeit zu erhalten, zu einem andern
Mittel greifen, d. h. man müßte an die Stelle des parat liegenden baaren Geldes
eine Vermehrung des stehendes Heeres setzen.
Man sagt: „Der Staatsschatz ist ein unwirthschaftliches Institut; wenn in
demselben dreißig Millionen Thaler liegen, so verlieren wir nicht nur alljährlich
anderthalb Millionen Zinsen, sondern — was viel mehr ist — die gesammte
Production, welche man mit dreißig Millionen Thalern erzielen kann, und
welche der Ernährung von 60,000 Arbeiterfamilien oder einer Viertelmillion
Seelen gleichkommt." Das alles ist richtig. Der Staatsschatz ist allerdings ein
unwirthschaftliches Ding, ganz in demselben Sinne, aber auch nur in dem
Sinne, wie es das Heer und der Krieg überhaupt ist. Und doch, kann die
wirthschaftliche Thätigkeit alle diese Institutionen und Proceduren ganz ent.
hehren? Ist denn die Blut- und Einkommensteuer, welche wir für das Heer
entrichten, etwas Anderes als die Assccuranzprämie. durch welche wir bei der
die gegenseitigen Gesammtinteressen vertretenden Staatsgewalt Eigenthum und
Erwerb, Leib und Leben in Versicherung geben? und ist es denn „unwirth-
schaftlich". sich durch Assecuranz der Continuität nicht nur seiner nationalen
und politischen, sondern auch seiner ökonomischen Existenz zu versichern? Und
ist nicht auch der Krieg, und namentlich ein solcher Krieg, wie der von 1866,
eine wirthschaftliche Nothwendigkeit? Wenn sich durch das Fortschreiten der
Culturentwickelung auf der einen und das Zurückbleiben auf der andern Seite
die realen Machtverhältnisse (alles, was der Engländer po^ver nennt, auch
KnonIsäM mit Inbegriffen) so verschoben haben, daß die alten, sei es durch
Herkommen, Vertrag, Staats- oder Völkerrecht geheiligten politischen Formen
absolut nicht mehr passen wollen, so krankt unter einem solchen Mißverhältniß
alles, auch die Wirthschaft. Die erstorbenen und erstarrten Formen erdrücken
den jugendlich anschwellenden und aufstrebenden Körper der wirthschaftlichen
Thätigkeit, welche unsäglich leidet durch das altüberkommene particularistische
Abpferchungssystem. Es ist, als ob das vorjährige verdorrte Laub nimmer
Platz machen wollte den treibenden Knospen und Keimen des wiederkehrenden
Frühlings. In solchen Fällen, ist da nicht der Krieg, dessen Ausgang die
materielle Machtlage mit der sich aus den Friedensschlüssen und den darauf
folgenden neuen Verträgen ergebenden formellen Weihe des neu gebildeten
politischen Rechts in Harmonie setzt, auch ökonomisch nöthig, weil ein solcher
Krieg ein Ende setzt den Beengungen und Schwankungen, welche die wirth¬
schaftliche Produktion erschweren?
Die wirthschaftliche Frage wäre also so zu formuliren: Ist der Zweck der
Schlagfertigkeit, welcher durch den Staatsschatz erzielt werden soll, durch ein
anderes Mittel ökonomisch vortheilhafter zu erreichen? Soll man etwa, statt
den Staatsschatz wieder zu füllen, das stehende Heer, abgesehen von dem aus
den Annectirungen hervorgehenden Zuwachs, um weitere hunderttausend Mann
vermehren? — Gewiß nicht, denn diese hunderttausend Arbeitskräfte sind nicht
nur lahm gelegt, wie die dreißig Millionen Thaler gemünzten Geldes, sondern
verzehren auch, was die Thaler nicht thun. Es ist also immerhin proporlionell
weniger unwirthschaftlich, Thaler lahm zu legen, als Menschen.
Hier stoßen wir freilich auf den Einwand: „Nun, wenn denn beides un¬
wirthschaftlich ist, so wollen wir nicht untersuchen, welches unwirthschaftlicher
sei, sondern lieber beides unterlassen!"
Allein unseres Erachtens wäre das nicht nur unrecht, sondern (was in der
Politik stets weit schlimmer ist) sogar unklug! In der Politik aber muß jeder
klug sein, nicht nur die Negierung, sondern auch — woran freilich die Masse
nicht immer denkt — der Landtag. Hätte das Land und hätte namentlich der
Landtag bei dem Versuch, in der gegenwärtigen kritischen Sachlage, die Macht¬
stellung der Regierung wirklich oder scheinbar zu schwächen, etwas gewinnen
können?
Leider sind wir in Deutschland seit lange gewöhnt, das Land und die Re¬
gierung in einer Art von feindseligem Gegensatz zu einander zu denken; und
es ist traurig, daß dieser pessimistischen Weltanschauung eine gewisse historische
Berechtigung nicht abgesprochen werden kann, erstens insofern als in vielen
Ländern das Sonderinteresse der regierenden Familie über das Gesammtinteresse
des Staates gesetzt und beide dadurch mit einander in ewige Reibung gebracht
wurden. Allein weit weniger als sonstwo war dies doch in Preußen der Fall, wo
sich dieHohenzollern stets ihrer Stellung als Oberhaupt eines aufstrebenden Staates
klar, voll und lebhaft bewußt waren, und wo Friedrich der Große sich mit Stolz
rühmte, nichts zu sein als „der erste Diener des Staates". Jene pessimistische
Weltanschauung ist zweitens erwachsen aus dem Umstände, daß in Deutschland
der Patrimonial-, der Domanial-, der Polizei- und der Zwergstaat, weil er die
hohe Mission des nationalen Macht- und Rechtsschutzes nach Außen und nach
Innen leider nicht zu erfüllen vermochte, sich mit bureaukratisch-geschäftiger klein-
meisterlicher-Bevormundungswuth gen'einschädlich in alle bürgerliche Kreise, in
Handel und Industrie, Landwirthschaft und Gewerbe, Schule und Kirche, Ge¬
nossenschaft und Gemeinde, Gesellschaft und Wirthschaft einmengte, und, indem
er seinen Wirkungskreis räumlich ausdehnte, seine eigene intensive Kraft schwächte,
die bürgerliche Gesellschaft aber durch die Vielregiererei im Innern theils lähmte.
theils erbitterte. Deshalb gilt es heute, den Wirkungskreis des Staats auf die
natürlichen Grenzen zu beschränken. Aber es wäre der verhängnisvollste Irr¬
thum, wenn man glaubte, grade deshalb müsse man an sich die Staatsgewalt
virtuell überhaupt schwächen und auch auf denjenigen Gebieten, die ihr von
Rechtswegen ausschließlich zustehen und auf welchen sie unbedingt stark sein
muß. um ihrem Beruf zu genügen. Indem wir den Wirkungskreis des Staats
beschränken, wollen wir seine intensive Kraft condensiren und erhöhen.
Der Glaube an die Nothwendigkeit des Schatzes gehört zu den Traditionen
des preußischen Staats. Die Staatsgewalt sagt: Bei uns kommt alles auf
rasches Zuschlagen an, und dazu gehört unter anderem auch ein parater Kriegs¬
schatz. Das vorige Jahrhundert hat diesen Satz bestätigt. War aber die jüngste
Vergangenheit etwa geeignet, diesen Glauben zu erschüttern? Gewiß nicht; bei
dem Volke nicht, bei der Staatsgewalt noch weniger. Die Staatsgewalt aber
kann so wenig abdanken, wie c>as Volk; und gegen ihre Ueberzeugung regieren,
kann sie noch weniger. Der Fürst muß sich in einem konstitutionellen Staat
mit seinem Volke vertragen. Man thut Unrecht, dies die „beschränkte"
Monarchie zu nennen. Es ist die durch den organisirten Volkswillen ver¬
stärkte Monarchie. Aber das Volk muß sich auch mit seinem Fürsten ver¬
tragen und in Preußen will es dies auch. „Diesem König," heißt es in dem
angeführten Briefe, „darf die Landesvertretung in d lesen Augenblicke ja nicht
zu nahe treten. In den Augen der Welt hat er zu viel geleistet und zu viel
noch vor. als daß das Volk litte, baß man ihm in einer Geldfrage unnütze
Quästionen mache."
Zudem befindet sich die liberale Partei, wohl nur vorübergehend, in einer
eigenthümlichen und schwierigen Stellung. Hätte ihr die Negierung — was sie
freilich nicht konnte — schon vor Jahren gesagt, was sie mit dem verstärkten
Heer und den erhöheten Credner wollte, so würde die Majorität des Abgeord¬
netenhauses wahrscheinlich zu den meisten Dingen, die sie mit anerkennenswerther
Treue und Ausdauer bekämpft hat, „Ja" und „Amen" gesagt haben, nament¬
lich dann, wenn ihre Voraussicht und Zuversicht so stark war. wie die der Re-
gierung. Gleichwohl war dem äußeren Anblick nach während der ganzen Krisis
von 1865 auf 1866 wirtlich die Negierung die bewegende und das Haus die
hemmende Kraft. Gegenüber dem zu gründenden parlamentarischen Bundesstaate
scheinen sogar beide Häuser eine gewisse Kühle zu zeigen. Wenn man die
Reden der letzten Woche gelesen hat, so könnte man fast glauben, das Herren-
Haus fürchte, der Reichstag werde zu liberal und könne daher das Herrenhaus
beeinträchtigen, und das Abgeordnetenhaus fürchte, der Reichstag werde zu kon¬
servativ und könne daher das Abgeordnetenhaus beeinträchtigen, und beide,
Herren- und Abgeordnetenhaus, hätten eine gemeinsame Abneigung gegen jenen
„großen Unbekannten", der sich Reichstag nennt und vielleicht dereinst einmal,
ein umgekehrter Saturn, seine widerwilligen Väter verschlingen könnte. In
dieser Stellung, welche wir nicht näher ausmalen wollen, war es nicht oppor¬
tun, einen Conflict aufzusuchen, dem man ausweichen konnte. Denn hinter der
Landesverfassung geht in der nächsten Zukunft vielleicht die Reichsverfassung
eines deutschen Einheitsstaates oder wenigstens die Unionsverfassung eines deut¬
schen Bundesstaats auf.
Gewiß, der Staatsschatz birgt in sich konstitutionelle Bedenken und Gefahren.
Aber die Frage ist: Werden diese Gefahren durch die Verweigerung der Wieder-
anfüllung vermindert oder nicht vielmehr vermehrt?
Gewiß, der Staatsschatz bedarf einer legislativen Regelung. Aber die Früge
ist: Ist der gegenwärtige Augenblick der geeignete hierzu?
Der Staatsschatz war gefüllt. Der Krieg hat ihn geleert. Es gilt, ihn
wieder zu füllen. Der König hat den Krieg begonnen gegen den Willen der
Landesvertretung. Allein das Volk giebt in diesem Falle, wie es scheint, jetzt
dem König Recht und jauchzt dem. was durch den Krieg erreicht worden ist,
seinen, Vcisall zu. Und alles das wäre nicht erreicht, oder wenigstens nicht so
schnell und nicht so glänzend erreicht worden ohne den Staatsschatz. Der
Staatsschatz ist daher im Augenblick — trotz alledem und alledem — eine po¬
puläre Institution.' Dazu ist er aber auch eine bestehende Institution, welche
der eine legislative Facior nicht beseitigen kann ohne die Zustimmung der bei¬
den andern. Endlich aber haben von dem EinheUswert'e erst zwei Acte gespielt,
der dritte steht, wie oben dargethan, noch bevor. Ob er mit oder ohne Krieg
ausgeführt wird, wissen wir nicht. Deshalb müssen wir auch im liberalen
Interesse, an Mannschaft und Geld einen höheren oder mindestens denselben
Grad von Schlagferngkcit erhalten, welchen wir vorher hatten, ja selbst auf
die Gefahr hin, daß sür einige Zeit die freiheitliche Entwickelung hinter die
Macht- und Einheitsfrage ein wenig zurücktritt. Denn ein jedes Ding hat
seine Zeit.
Deshalb Beibehaltung des Staatsschatzes, so lange bis der Staat seine
Einheitsmisston erfüllt und jeder der gesetzgebenden Factoren die Ueberzeugung
von der Entbehrlichkeit dieser bis jetzt unentbehrlichen Stütze der nationalen
Poulet gewonnen hat.
Was die moderne Sprachwissenschaft für die großen Massen des linguisti-
schen Materials zu leisten begonnen hat, das ist auf engerem Gebiete auch von
der Spccialwissenschaft der deutschen Sprachkunde oder der deutschen Philologie
angestrebt Morden. Doch ist zuckt zu läugnen. daß jene dieser voraus ist. Ein
abschließendes Werk, wie dort Bopps vergleichende Grammatik, giebt es hier noch
nicht und kann es auch nicht geben. I. Grimms deutsche Grammatik behält
ihren einzigen Werth, auch wenn man erkennt, daß sie nicht blos äußerlich,
sondern auch innerlich unvollendet oder lückenhaft blieb. Niemand wußte dies
besser als ihr Schöpfer, dessen wissenschaftliche und geistige Hoheit von selbst
jede Ueberschätzung des Geleisteten ausschloß. Er bedauerte namentlich, daß
es ihm so sehr an zuverlässigen Vorarbeiten im Gebiete der deutschen Dialekt¬
kunde fehle. Seitdem er dies zuerst aussprach, ist mehr als ein volles Menschen¬
alter vergangen und man müßte entweder unbekannt mit der Arbeit dieser Zeit
oder befangen sein, wenn man nicht mit einiger Genugthuung anerkennen wollte,
daß unterdessen sehr viel geschehen ist, um diesem Mangel abzuhelfen. Wenn
damals noch Schmellers Grammatik der bayrischen Mundarten und sein bay-
risches Wörterbuch nicht blos durch die Fülle des Materials und die Strenge
und Sinnigkeit der Methode, sondern überhaupt einzig in ihrer Art dastanden,
so sind inzwischen sehr viele andere deutsche Mundarten nicht weniger gut be¬
arbeitet worden. Hat sich ja doch sechs Jahre lang, von 1854—1861, eine
besondere Zeitschrift für deutsche Dialektkunde halten können, deren auch in
diesen Blättern, so viel wir uns erinnern, öfters nach Verdienst gedacht worden
ist. Es war dies das handgreiflichste Kennzeichen, daß eine neue Wissenschaft
sich aus dem mütterlichen Schoße zu selbständigem Dasein losrang. Die Zeit¬
schrift ist wieder verschwunden, nicht aber das Interesse des activ und passiv
dabei betheiligten Publikums. Selbst Firmenichs großartig angelegte Ueber-
sicht von Sprachproben aus allen deutschen Dialekten, in dem bekannten, wun¬
derlich benamseten Werke, Germaniens Völkerstimmen, .wäre noch vor dreißig
Jahren undenkbar gewesen. Ja, einer unserer tüchtigsten Germanisten, was
Fleiß und ursprüngliche Frische der Auffassung betrifft, Weinhold, hat soggr
den Versuch gewagt, das gesammte grammatikalische Material der deutschen
Hauptdialekte in einer Anzahl von Monographien darzustellen. Seine aleman¬
nische Grammatik giebt als ersten Band eine genügende Probe dessen, was zu
erwarten ist. Trotzdem behält unser Ausspruch, den wir an die Spitze dieser
Betrachtungen gestellt, doch sein Recht. Aller Enden fehlt es sogar noch an
den elementarsten Vorarbeiten, an zuverlässigen Sammlungen und Redactionen
des Materials. Sie scheinen so leicht und sind doch so schwer. Es giebt noch
immer gar zu viel wohlgesinnte Leute, welche meinen, mit einer guten Portion
Begeisterung für das Volkstümliche, allenfalls auch mit einem leidlich geschärften
Ohre sei die Sache gethan. Es liegt so nahe, daß sie von einem Manne,
dessen Verdienst sie so feurig zu preisen Pflegen. Von Schmeller, lernten, mit
welchen Dornen und Klippen jeder zu kämpfen hat, der die unmittelbaren
Aeußerungen des naiven Volkslebens auch nur receptiv bewältigen will. Wer
aber die Sache so ernst nimmt, wie sie es verdient, und auch die nöthige
wissenschaftliche Schule mitbringt, verfällt leicht einem andern Mißgeschick: er
dringt auf seinem methodisch abgezirkelten Wege nicht bis zum Volke selbst oder
bis zu den Quellen, deren Ausbeute doch sein alleiniges Ziel ist. — Ueberhaupt
ist schon der unübersehbare Umfang der Arbeit eine genügende Erklärung für
ihr langsames Vorrücken. Ganz anders ist es j« mit dem Sprachmaterial be¬
schaffen, welches die vergleichende Grammatik, so wie sie jetzt betrieben wird,
zu bewältigen hat. Sie ist längst darüber hinaus geschritten, nur. einen zu¬
fälligen Durchschnitt des Standes einer der Sprachen, mit denen sie sich be¬
schäftigt, allein ins Auge zu fassen. Sie ist im Großen und Ganzen und im
Kleinen und Einzelnen durchweg historisch - genetisch. Ihr genügt für das
Griechische nicht nur das, was man in den älteren Schulgrammatiken als das
Durchschnittsgriechische aufzustellen pflegte, jene spätere sogenannte attische Prosa
und was damit verwandt ist. Sie geht bis zu den ältesten vorhandenen Quellen,
also bis zu der Sprache der homerischen Epik zurück und gleicherweise in die
Breite. Was man die verschiedenen griechischen Dialekte zu nennen sich ge¬
wöhnt hat — ein Ding, das sich von dem gleichnamigen Begriff der Dialekte
in unserer deutschen Sprache sehr merklich unterscheidet und eigentlich nicht wohl
damit verglichen werden darf — ist ihr von allergrößter Wichtigkeit. Nicht
anders hält sie es mit dem Sanskrit, dem Lateinischen. Das Deutsche vollends
wäre ohne die Anwendung der historisch-genetischen Methode gar nicht brauchbar
für sie. Aus dem Deutschen, oder bestimmt gesagt, aus I. Grimms deutscher
Grammatik hat sie dieselbe ja überhaupt erst sich zu eigen gemacht und ist in-
direct selbst dadurch erst ins Leben gerufen worden.
Aber auf ihrem erhöhten Standpunkt genügt es fast immer, nur die wirk¬
lich zur Schriftsprache gediehene Thätigkeit des Sprachgeistes in den verschiedenen
Völkern und Zeiten zu berücksichtigen, dadurch ist ihre Arbeit so viel einfacher
und leichter. Denn die Natur einer Schriftsprache bringt eine gewisse ruhige
Stetigkeit und durchsichtige Einfachheit der Sprachanschauungen mit sich, wäh¬
rend jeder Schritt aus ihr heraus in die Dialekte in.ein confuses Dickicht
führt, dessen Romantik eben grade darin zumeist besteht.
Wie sich die einzelnen Hauptäste des gemeinsamen Sprachstammes zu ein¬
ander verhalten, so verhält sich wieder innerhalb eines Specialgebietes, an jedem
einzelnen Hauptäste, die Detailverzweigung zu diesem und die Detailverzweigung
stellen eben die Dialekte dar. Die Lebenssäfte des Ganzen circuliren in jedem
Theile und aus ihnen bilden sich die sichtbaren Formen, deren Werden nicht
allein aus den physiologischen Processen an dem Hauptäste begriffen werden
kann. Es gehört dazu auch noch die Kenntniß aller der Vorgänge an den
Zweigen, da sie ebenso sehr den Hauptast ernähren und bilden helfen, wie sie
von ihm ernährt und gebildet werden. Aber welches Messer ist fein genug, um
diese zarten Gefäße bloß zu legen und welches Auge scharf genug dem Ge¬
wimmel der Atome zu folgen? Denn wie überall im Reiche der organischen
Welt öffnet sich bei jedem Blicke weiter in das Innere eine noch weitere, noch
unendlichere Aussicht. Ein scharfes und sachverständiges Ohr hört nicht blos
jedem Dorfe und Weiler seine besondere Mundart an, sondern auch jedem Haus
und jeder Familie. Es ist der methodischen Beobachtung einstweilen noch un¬
möglich, in dieses feinste Geäder einzudringen und noch weniger gelingt es,
durch allgemein verständliche Zeichen es festzuhalten. Denn geschrieben mit den
Buchstaben, die wir herkömmlich für unsere gebildete Sprache verwenden, ver¬
wischen sich selbst die markirtesten Verschiedenheiten der Klänge und Laute.
Greift man. wie dies häufig geschehen ist, zu neuerfundenen Zeichen, denen man
einen conventionellen Werth beilegt, so ist dadurch wenig gewonnen, denn sie
können nicht bis zu jener Unendlichkeit vermehrt werden, die der Sachverhalt
fordert, wenn ihm sein volles Recht angethan werden soll. Auch beziehen sich
diese Zeichen alle nur auf eine Function der Sprache, auf die Erzeugung der
Laute. Aber den Dialekt chnraktcrisirt ebenso sehr die eigenthümliche Art seiner
Betonung, seine Stimmlage, sein Rhythmus, alles was zu seiner natürlich und
allgemeingiltigcn Declamation gehört. Dafür sind noch keine Zeichen im Ge¬
brauch. Wollte man solche erfinden, so müßte es eine Art Notenschrift sein,
aber freilich viel complicirter, als die für die Musik gebräuchliche. Aber auf
die Dauer wird man eines solchen Hilfsmittels doch nicht entrathen können.
Wo die eigene Erfahrung, das lebendige Gehör dasselbe überflüssig macht, ist
kein Bedürfniß darnach vorhanden, aber wer ist im Stande als Pcriegct im
Stile der naiven Kinderzeit des Wissens von Ort zu Ort selbst alle die ver¬
schiedenen Laute und Modulationen aufzufangen und wenn er es könnte, wer
vermöchte sie längere Zeit sicher in der Erinnerung zu behalten? Wenn man die
wissenschaftliche Erforschung einer fremden Sprache blos von der günstigen Ge¬
legenheit abhängig machen wollte, sie in ihrer Heimath lebendig zu vernehmen,
würde es wenige Linguisten geben. Aber nicht anders fleht es mit den Dia¬
lekten im Verhältniß zu einander, nur daß hier alles unendlich feiner und zarter
gefaßt sein will. All dies reicht aber noch nicht aus: der heutige Dialekt allein
sagt uns noch lange nicht genug über seine Natur und seine Stellung im
Sprachkörper. Auch er muß seine Geschichte haben, wenn wir ihn anfassen
wollen, wie es das Bedürfniß der Wissenschaft fordert. Er hat sie auch gehabt,
aber ihre Urkunden schließen viel mühseligere Arbeit ein, als die der Schrift¬
sprache. Hier ist alles grade zu diesem einen Zwecke, so zu sagen der acten-
mäßigen Sicherheit des sprachlichen Thatbestandes zubereitet, der Dialekt aber
ist eben deshalb hauptsächlich — allerdings nicht ausschließlich, wie manche
wähnen — Dialekt, weil er eines solchen Haltes, der zugleich etwas von einer
Fessel an sich hat, von jeher entbehrte. Wäre das linguistische Interesse der
früheren Zeit nicht so gänzlich auf die Sprache der Bildung fixirt gewesen, so
würden wir vielleicht directe Zeugnisse für die ältere Entwickelung unserer
Dialekte haben, mit denen wenigstens einige der Hcuiptlückcn unseres genetischen
Wissens oder unseres Postulates eines solchen ausgefüllt werden könnten. So
aber ist man zwischen todten Trümmern wie in einer unendlichen Steppe, in
welcher nur hier und da einige kümmerliche Grashalme sich das Leben fristen.
Damit ist es erklärt, weshalb unsere sonst so überaus fleißige deutsche
Philologie noch kaum zu den ersten Anfängen einer wissenschaftlichen Behand¬
lung unserer Dialekte gediehen ist. Gewiß, sie wird dereinst auch hier
Schwierigkeiten überwinden, für die ihre Kräfte gegenwärtig noch nicht gerüstet
sind, aber so lange es noch nicht so weit gekommen ist, muß auch der Bau
unserer deutschen Grammatik und Sprachgeschichte noch immer beträchtliche
Lücken zeigen.
Wie überall wird auch hier die Arbeit nicht nach dem Schema fortrücken,
das sich die systematische Theorie davon entwirft. Zuerst wäre da die Samm¬
lung des ganzen vorhandenen linguistischen Materials, dann seine Ordnung und
Verarbeitung nach seiner grammatikalischen und lexikalischen Seite, daran schlösse
sich zuletzt seine kulturgeschichtliche Verwerthung. Aber die letztere bietet dem
grade hierhin mit Vorliebe gewandten Sinne unserer Zeit so viel Reiz, daß sich
eine Selbstbeschränkung, die auf viele Menschenalter hinaus freiwillig darauf
verzichtete, gar nicht erwarten läßt. Grade hier ist auch das Feld, wo sich das
Interesse der allgemeinen Bildung und der speciellen Facharbeit am ersten be¬
gegnet, und darum wollen wir wenigstens eine und die andere der unzähligen
Perspectiven, die sich hier dereinst eröffnen werden, andeuten.
Die letzten Jahre haben die Verwerthung der Linguistik für die Entwicke¬
lungsgeschichte des menschlichen Geistes oder die Culturgeschichte im höheren
und eigentlichen Sinne sich zu einer besonderen Disciplin gestalten sehen. Man
hat sie Völkerpsychologie genannt, ein Terminus, der grade so gut und grade
so schlecht ist, wie die meisten andern in allen Wissenschaften. Was die Völker¬
psychologie auf einem grenzenlosen Gebiete zu leisten beauftragt ist, könnte und
müßte auf dem engen Gebiete der deutschen Sprachkunde eine der Zukunft vor-
behaltene vergleichende Charakteristik der Dialekte leisten, wenn ihr erst mehr
und zuverlässigeres Material zu Gebote steht. Es würde dann nicht schwer
halten, in dem lebendigen Klänge der heutigen Mundarten die Grundzüge der
naiven Volksseele in den verschiedenen Gruppen der deutschen Nation aufzu¬
finden und sie nicht blos als unterhaltende Curiositäten, sondern als ernste und
schwerwiegende Urkunden des geistigen und > sittlichen Volksdascins zu verwer¬
then. Eine vorläufige Skizze vermöchte eine geschickte Hand schon aus Firme¬
nichs Sammelwerk zu entwerfen, obgleich es, wie es auch dem gewissenhaftesten
Fleiße bei einer solchen unvorbereiteter Massenarbeit ergeht, keineswegs überall
einen sicheren Boden darbietet. Aber die Aufforderung dazu liegt so nahe,
wenn man z. B. ein und dasselbe Volkslied in einigen Dutzend Von Aufzeich¬
nungen aus den verschiedensten Theilen Deutschlands vor sich hat, oder wenn
dieselben Gegenstände der Volksepik, so viel uns noch davon übrig geblieben
ist, die pathetischen Märchen und die Volkstümlich humoristischen Schnurren
und Anekdoten überall wiederkehren, im letzten Grunde stofflich die nämlichen,
aber doch so unendlich variirt in Ausdruck. Darstellung und Haltung, und
zwar, wie jeder unbefangene Blick erkennen muß, nicht durch eine bedeutendere
originelle Individualität, die ihnen ihre specielle Fassung gegeben hat, sondern
durch das Volk selbst, durch die unauflösliche und rastlose unbewußte Thätig¬
keit unendlich vieler Einzelner, d. h. aller derer, die an ihrer Reproduction be¬
theiligt sind und waren und sie von Generation zu Generation und von Ort
zu Ort getragen haben. Hier kann nur jenes geheimnißvolle Ding, was man
Volksseele nennt, als wahrer Autor gelten. Es ist bekannt, daß es immer
noch Leute giebt, die über diesen Ausdruck lachen, aber die Sache selbst wird
damit nicht beseitigt. Er ist übrigens auch nicht so neu, wie sich manche ein¬
bilden: er findet sich schon hier und da in unserer Populär-Philosophischen Lite¬
ratur der classischen Periode und wäre er neu, so würde dem, der ihn ge¬
schaffen, der Dank gebühren, den man jedem Bereicherer der Sprache, und
damit des bewußten Geistesschatzes der Nation schuldet. Sobald man das Volk
als einen lebendigen Organismus zu erfassen begann, sobald sich eine Wissen¬
schaft der Volkskunde bildete, mußte man auch auf die innere Kraft aufmerk¬
sam werden, welche das Leben dieses Leibes erzeugt und beherrscht. Wo es
ein Volk in der modernen Begriffsauffassnng giebt, muß es auch eine Volksseele
geben. So lange vom Volke nur als von einem Haufen von so und so vielen
„Seelen" die Rede war, die nur durch das Band der Zahl zusammengehalten
wurden, konnte man natürlich von einer einzigen Volksseele nichts wissen. Denn
es liegt auf der Hand, daß 1,300 oder 15,000 oder wie viel sonst „Seelen",
die so und so viel Häuser, Kühe, Schafe, Schweine und Ziegen besitzen, nicht
auf eine einzige Seele zu reduciren sind.
Vollends unerschöpflich ist aber der Stoff, den die bisherige Geschichte
unserer Dialekte bietet und noch fast ganz unausgebeutet, wenigstens nach allen
den Seiten bin, wo er auch für die allgemeine Bildung unmittelbares Jnter-
esse hätte. Denn jene einzelnen monographischen Versuche, die genetische Ent¬
wickelung dieser oder jener deutschen Haupt- oder Untermundart darzustellen,
hallen sich meist in den beschränkten Grenzen der eigentlichen Linguistik. Es
genügt ihnen, die äußere Verbindung der gegenwärtigen Klänge, Formen und
Wörter mit denen herzustellen, die ein paar hundert Jahre früher, oder auch
ein halbes oder ganzes Jahrtausend früher an demselben Orte gehört wurden.
Eine sehr dankenswerthe und mühselige Arbeit und dgs letzte noch viel mehr
als das erste, wie jeder Sachverständige weiß, aber der Begriff der Sprach¬
geschichte muß doch etwas weiter und tiefer gefaßt werden. Mit einer bloßen
literarhistorischen Statistik ist es noch weniger gethan, denn das geschichtlich
Jnteressanteste an den Dialekten ist grade das, was nicht als bewußte Dialekt-
literalur sich darstellt. Denn eine solche wird nicht umhin können, aus der
Naivetät der lebendigen Bewegung der Volkssprache herauszutreten und sich
eine Art von künstlicher Sprache zurechtzumachen, die sich nicht anders zu ihrer
natürlichen Wurzel verhält, wie die allgemeine deutsche Schriftsprache zu allen
deutschen Dialekten zusammen. Denn auch diese ist, wie auf der Hand liegt,
nicht vom Himmel herabgefallen, sondern ein Conglomerat aus allen möglichen
Bestandtheilen, die einst der Volkssprache, d. h. den Dialekten angehört haben
oder ihnen noch angehören. Darum entnimmt der Forscher für die älteren Ge¬
staltungen unserer Volksmundarten mehr aus ihren unwillkürlichen, unreflectirten
Manifestationen, die den nur halbgebildeter Schrifistcllern oder Schreibern ent¬
schlüpfen, wenn sie nach ihrer Meinung die Sprache der Bildung wiedergeben
wollen. Dies gilt allerdings für eine Zeit, die jetzt vollständig abgeschlossen
ist und die schon in der Hauptsache mit dem Schlüsse des fünfzehnten und dem
Beginne des sechszehnten Jahrhunderts ihr Ende erreicht hatte. Denn seitdem
sich unsere neuhochdeutsche Schriftsprache gebildet hat, ist auch sofort die reflec-
tirte Rücksicht auf die Spracheinheit und Nichtigkeit in einer Art thätig ge¬
wesen, wovon die frühere Zeit nichts wußte. Ja man kann sogar sagen, daß
unsere Schnftspracbe selbst bis zu einer gewissen Grenze das Product einer
solchen reflectirten Thätigkeit ist.. Wenigstens geht die Entstehung der deutschen
Grammatik Hand in Hand mit der Fixirung des neuhochdeutschen und die
geniale Unmittelbarkeit, in der sich z. B. das sogenannte Mittelhochdeutsch aus
den Voltsmundarten seiner Zeit herausgehoben und gestaltet hatte, nicht anders
wie die Blume aus den Blätteln der mütterliche» Pflanze, mit denen sie eins
ist und die sie doch in ihrer höchsten Veredelung und Vergeistigung zu etwas
Neuem umformt, macht einer ängstlichen und schwerfälligen Pedanterie Platz,
die seitdem nicht aufgehört hat, ungünstig auf unsere Schriftsprache und mittel¬
bar wieder durch sie auch auf die Volksmundarten zu wirken. Was jene Zeit
unter Grammatik verstand, mußte nothwendig etwas sehr Dürftiges sein, wenn
wir es mit dem Maße unseres heutigen linguistischen Strebens und Wissens
messen. Doch würde diese an sich nicht weiter schädlich gewesen sein; der
Schade entsprang hauptsächlich daraus, daß die i» jeder Art unzureichende,
kurzsichtige und von allem richtigen Sprachgefühl möglichst verlassene Theorie
es sich herausnahm, die Praxis des Sprachlebens zu bestimmen und daß diese
letztere sich gutwillig einer solchen Knechtung fügte. Keiner der hervorragenden
Begründer unserer neueren Sprache, selbst nicht ein Luther, hat sich davon
frei erhalten, obwohl der volle Umfang des angerichteten Schadens erst da sich
erkennen läßt, wo man, wieder nur unter der Zuchtruthe einer dürren NcfKxion,
sich nicht mehr damit begnügen will, richtig zu schreiben, sondern auch schön zu
schreiben bestrebt ist und wo man diese Schönheit durch eine unmittelbare
Uebertragung fremder Kunstformen und fremder Stoffe der deutschen Literatur
aufzwänge, wie es Opitz mit nachhaltigem Erfolge, aber vor und neben ihm
auch schon andere, z.B. ein Buchner und Weckherlin gethan haben. Von da
an datirt eine Jsolirung der deutschen Mundarten, die das Mittelalter nicht ge¬
kannt hat und die sich bis in die neueste Zeit hinein fortgesetzt hat. Erst seit
etwa hundert Jahren stellte sich wieder ein Zusammenhang her, nur anders als
er in den naiven Zeiten der Sprache und Literatur gewesen war. Damals
gaben die Dialekte ebenso viel als sie empfingen., und gegenwärtig oder seit
jener Epoche empfangen sie nur, aber geben sehr wenig. Zwar gehört es zu
den Dogmen unserer Litcrar- und Sprachgeschichte, daß Goethe seine auch im
blos linguistischen Sinne so originelle und reiche Diction zum Theil dem Ein¬
fluß seines heimischen Dialektes verdanke, aus dem er so viel geschöpft habe,
wie kein anderer vor und neben ihm, doch ist man bisher den Nachweis dafür
schuldig geblieben. WahrschcinlicWhat man sich nur durch einige Aeußerungen
in Dichtung und Wahrheit zu dieser Annahme bewegen lassen, dort aber ist
nur von der Sprache der mündlichen Unterhaltung, nicht von der der Bücher
oder der Schriftsprache überhaupt die Rede. In Wirklichkeit sind in den
Erzeugnissen der frühesten Zeit, und hier wieder besonders in den noch nicht
zur Veröffentlichung bestimmten Briefen einige frankfurter oder rheinfränl'ische
Idiotismen anzutreffen, aber sie sind in der reiferen Periode des Dichters und
Prosaikers ganz aufgegeben. Das Meiste, was den nicht sachverständigen Leser
wunderlich anzuklingen scheint, ist, wenn es nicht selbsteigene Schöpfung aus
der Tiefe des Geistes der deutschen Sprache und nicht blos eines ihrer Dialekte
ist. aus einer ganz anderen Quelle abgeleitet, über die ja der Autor gleichfalls
genügenden Aufschluß giebt. Das Studium der deutschen volkstümlichen Lite¬
ratur des sechzehnten Jahrhunderts, dessen schönste Frucht Götz von Berlichingen
ist. läßt sich in seiner sprachlichen Nachwirkung bis weit hinein in die Weimarer
Periode verfolgen, wie der Dichter ja auch Stoffe und Formen in Menge von
daher entlehnt hat. Auch später hat er einzelne dieser Jugendtöne noch bei¬
behalten und selbst im zweiten Theile des Faust sind sie nicht ganz verklungen.
Aber hier ist nichts von dem, was man mundartliche Einflüsse nennen kann.
Es fehlt vor allem ihr erstes und nothwendigstes Kennzeichen: das unmittel¬
bare Herüberströmcn aus der lebendigen Umgebung der Volkssprache. Wenn
man durch gelehrte reflectirte Vermittelung eine Mundart, die selbst schon lange
aufgehört hat, lebendig zu sein, aus ihrem mumienhaften Dasein wieder zu
neuem Leben erweckt, so ist es ungefähr dasselbe, als wenn man Stoffe und
Formen einer fernen Vergangenheit, etwa der griechischen Poesie, in die Litera¬
tur wieder einführt. Wenn es mit Geschick und Kunstverstand geschieht, kann
es nur förderlich sein, wie sich von selbst versteht, aber niemand wird doch be¬
haupten, daß das Griechenthum dadurch in jenen sinnlich greifbaren Contact
mit unserer Literatur getreten sei, auf den es hier allein ankommt.
Was von Goethe gilt, gilt auch von den anderen Heroen unserer classischen
und nachclassischen Periode. Die meisten. z> B. Lessing. Herder, Schiller, halten
sich systematisch frei von allen solchen Einflüssen, obwohl es ihnen nicht immer ge¬
lingt. So zeigt die Originalgestalt vieler Jugendarbeiten Schillers, die wir gewöhn¬
lich nur in sehr umgearbeiteten Redactionen kennen, eine nicht geringe Anzahl von
schwäbischen Idiotismen und nicht grade solche, die,für eine Bereicherung und
Verschönerung der herkömmlichen Schriftsprache gelten können. Später hat sich
der Dichter, wie man weiß, solche Unarten, denn dafür gelten sie ihm selbst,
beinahe ganz abgewöhnt und noch mehr hat sein Körner dafür gesorgt, alle
Spuren davon auszumerzen.
Merkwürdig ist es. daß unsere eigentlichen Romantiker so wenig aus die¬
sem Börne geschöpft haben, obgleich sie es doch gewesen sind, die den Begriff
Volk und volksthümlich adelten oder neu schufen. Denn was man vorher
darunter verstand, war so ziemlich das Gegentheil dessen, was wir nach dem
Vorgange dieser Lehrmeister dabei zu empfinden Pflegen. Wie öfters haben wir
Vergessen, von wem unsere Erkenntniß stammt: ist ja doch im Allgemeinen keine
andere Phase geistiger Thätigkeit so undankbar behandelt und gleichsam zum
Prügeljungen für alle Verkehrtheiten der Nachfolger gemacht worden, wie unsere
Romantik. Nur die schwäbische Poetenschule hat es innerhalb bescheidener Gren¬
zen gewagt, ihre heimathlichen Laute ertönen zu lassen, doch ist es bei diesem
eigenthümlichen Völkchen weniger der gesunde Jnstinct des volkstümlichen
Wesens, wovon sie thatsächlich ebenso weit und noch weiter entfernt sind als
die von ihnen so herzlich — schon als norddeutsche — verabscheuten Roman¬
tiker. Im Grunde versteckt steh hinter diesen viele so anheimelnden Reminiscenzen
an Naturlaute des Volkes doch nur ein gewisser kindlicher Eigensinn, der es
glaubt besser zu machen als andere, wenn er es nicht so macht, wie sie. Wo
das Ganze der Poesie selbst in seiner idyllischen Grundstimmung das Volks-
thümUche Moment zur eigentlichen Voraussetzung hat. z. B. bei Auerbach, ver¬
steht sich ein modificirter Einfluß des Localdialekts von selbst. Die Dorf¬
geschichten wären ohne eine solche Lvcalfärbung nicht genießbar, so wenig wie
Theokrits Idyllen ohne jene dorische Hülle, die freilich noch etwas Anderes als
ein deutscher Localdialekt ist. Uebrigens hat grade Auerbach, wahrscheinlich
ohne alles reflectirtes Bemühen, seine schwäbelnder Sprachbestandtheile in eine
gewisse höhere und allgemeinere Sphäre gerückt, als sie einer bloßen Copie der
Wirklichkeit zukommen kann.
Dagegen kann man sich umgekehrt den Einfluß der Schriftsprache auf
unsere Mundarten während des letzten Jahrhunderts kaum groß genug vor¬
stellen. Bis etwa in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war davon nichts
zu merken. Keine Periode unserer Sprachgeschichte zeigt eine solche Stagnation
wie die Zeit vom dreißigjährigen Kriege bis dahin. Unmittelbar vor dem Be¬
ginne dieser Katastrophe und zum Theil auch noch ehe sie ihre späteren kolossalen
Dimensionen annahm, war die Schriftsprache wenigstens in einem lebhaften
Umformungsprocesse begriffen, wenn es auch kein naturwüchsiger und heilsamer
war. Aber man darf wohl behaupten, daß erst mit Haller und Klopstock eine
weitere Phase darin eingetreten ist, die eigentlich unmittelbar nach Opitz hätte
folgen müssen. Die Mundarten sind etwa vom Beginne der Reformation an
bis zu diesem Zeitpunkt tief durchdrungen worden von den Einflüssen der
Schriftsprache, aber es ist nicht so leicht, die fertigen Ergebnisse davon aufzu¬
weisen, weil die Schriftsprache selbst noch halb unter der Gewalt der früheren
volksthümlichen Sprachtradition stand und zu wenig einheitlich formirt und fixirt
war. Denn Luthers Einfluß auf die Sprache wird doch gewöhnlich zu sehr
überschätzt, zum Theil durch die Schuld seiner eifrigsten sprachlichen Parteigänger.
Sie waren es bekanntlich immer aus confessionellem Interesse. Luther sollte
auf allen Gebieten des Geisteslebens als Autokrat dastehen, so verstanden sie
die durch die Reformation gewonnene Freiheit des Geistes. Es ist eigentlich
nur das Kirchenlied und die populäre Erbauungsliteratur auf protestantischer
Seite, in denen Luthers Art auch in der Sprache eine Dictatur übt. Nickis
ist gewöhnlicher, als daß sich die Epigonen auf sein sprachliches Muster berufen,
ihn so zu sagen als den Klassiker an sich betrachten, aber es ist oft schwer,
irgendetwas in der Sprache solcher Jünger aufzufinden, was nothwendig von
ihm herstammt und nicht ihm sammt der ganzen Zeit gehört. Dennoch strömt
auch in dieser Zeit viel mehr Kraftwirkung von der Schriftsprache auf die
Dialekte, als umgekehrt von jenen auf diese und es ist somit im Wesentlichen
schon der noch jetzt giltige Zustand festgestellt. Eine überwiegend gelehrte
Sprache oder eine Sprache der Gelehrten und Bücher, wie es das Neuhoch¬
deutsche von seinem ersten Athemzuge an gewesen ist, kann auch wohl nicht
anders, als sich entweder ganz von den Volksmundartcn absperren oder sie
beherrschen. Eine wahre Gegenseitigkeit ist hier unmöglich, sie paßt allein in
eine Zeit, die mehr künstlerisch und namentlich poetisch angelegt ist als ge¬
lehrt und prosaisch, wie es das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert waren.
Wir haben schon einige Grenzlinien angedeutet, innerhalb welcher die Be¬
einflussung der Volkssprache durch die gebildete Schriftsprache damals beschlossen
bleibt. Vor allem die Confession. Es ist eine bekannte Thatsache, daß die
katholische deutsche Literatur seit der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts
sich systematisch von der Herrschaft der protestantischen Schriftsprache zu eman-
cipiren strebte. Grade so oft wie protestantische Schriftsteller der Zeit sich als
sprachliche Nachfolger Luthers bekennen, stößt man bei den katholischen, nament¬
lich den aus Bayern und Tirol gebürtigen, auf eine ausdrückliche Verdammung
des Ketzerdeutschen, wittenberger oder lutherischen Deutschen. Sie sprachen sich
mit größerer Berechtigung als jene angeblichen Nachfolger über ihr Verhältniß
zu Luther aus: die gesammte Geschichte der deutschen Sprache kennt keinen
größeren Abfall von allen Grundgesetzen der Schönheit, der Kraft und der
Gewandtheit, als er sich in der katholischen Literatur jener Periode darstellt.
Wer dieselbe nicht aus eigener Anschauung kennt, macht sich schwerlich eine
Vorstellung von der kindischen Unoeholsenheit, tölpischen Roheit und haben Weit¬
schweifigkeit auch der besseren, d. h. der einstmals für besser als die andern ge¬
haltenen unter diesen Scribenten. Diese ärgste aller Verzerrungen, welche sich
der Genius der deutschen Sprache gefallen lassen mußte — und er ist doch
wirklich von äußerst langmüthigem und duldsamem Temperament — hat natür¬
lich auch >n den Volksdialektcn keine sehr erfreulichen Spuren hinterlassen. Die
noch jetzt so auffällige Roheit und das Ungefüge des bayerischen Dialektes in
seinen verschiedenen Verzweigungen, namentlich als bayerischen im engeren
Sinne und als bayerisch-tirolischen stammt der Hauptsache nach davon her. wenn
man auf die linguistischen Wurzeln zurückgeht. Diese sind natürlich selbst wieder
durch andere, noch tiefer gehende bedingt, von denen wir hier absehen müssen.
Es hat lange gebraucht, bis die Schriftsprache in diesen Theilen Deutschlands
sich aus jener barbarischen Verwilderung ohne Gleichen herausgearbeitet hat
und vollständig ist es ihr wenigstens da noch nicht gelungen, wo die Autoren
nur auf gelehrtem Wege sich die Kenntniß der hochdeutschen gebildeten Schrift¬
sprache erworben und nicht selbst Gelegenheit gehabt haben, in den weiter vor¬
geschrittenen Theilen Deutschlands ihr Ohr und ihren Geschmack zu verfeinern,
oder wo die Stoffe an sich eine volksthümliche Beziehung haben und ohne
einen tüchtigen Zusatz von jener Roheit in dem Kreise, für welchen z. B. die
populäre Erbauungsliteratur bestimmt ist, nicht die volle Wirkung thun würden.
Denn da der Volksgeist in den genannten Theilen von Deutschland seit dem
dreißigjährigen Kriege bis zu diesem heutigen Tage stagnirt hat und die Durch-
schrultsvildung in Altbayern und Tirol z. B. seitdem eher Rückschritte als
Fortschritte gemacht hat, ist es natürlich genug, daß auch die Sprache der
Bücher, die für das Volk bestimmt sind, einen einigermaßen archaistischen oder
altmodischen Beigeschmack haben muß.
Das confessionelle Element spielt auch jetzt noch in der Bewegung unserer
Sprache auf protestantischer Seite eine ähnliche Rolle wie in dem Reformations-
zeitalter, nur ist der Pragmatismus seiner Wirksamkeit ein anderer geworden.
Damals repräsentirte es- auch sprachlich den Fortschritt, die Bildung und Be¬
freiung des Volkes aus seiner dumpfen Naivetät, wie umgekehrt die katholische
Reaction auch auf dem Gebiete der Sprache das Zurücksinken in jene traurig¬
sten Zustände einer gewaltsam und reflectirt aufgezwungenen Unreife und Ver¬
sumpfung bedeutete. Alle deutschen Mundarten der protestantischen Theile
unseres Vaterlandes haben damals nachweislich rasche Fortschritte nach einem
von der Natur und Vernunft selbst festgesteckten Ziele, nach ihrer organischen
Verbindung und Anlehnung an die Schriftsprache gemacht. Ihre Resultate
verschwinden zwar im Vergleich mit denen der Gegenwart, aber man darf nicht
vergessen, daß jetzt eine Reihe von Factoren wirkt, welche damals noch nicht
vorhanden waren. Damals war es die neue Kirche, welche die Erziehung des
Volkes zu einer höheren Stufe der Bildung auch in der Sprache übernommen
hatte. Jeder protestantische Pfarrer fühlte in seinem Gewissen neben der Sorge
für die reine Lehre auch die für die reine Sprache, denn die eine wie die
andere hatte ihm sein Meister ans Herz gelegt. Er wirkte dafür nach Kräften
in den damals noch so viel häufigeren Veranlassungen zur Rede, die ihm sein
geistlicher Beruf gab. in den überall fast täglichen Predigten, in dem seelsorger¬
lichem Verkehre mit seiner Gemeinde. Wo nach dem Plane der Reformatoren
die Volksschule wirklich ins Leben trat, also namentlich in den mitteldeutschen
Ländern, wurde sie ein zweiter Hebel zur Verbreitung der Schnfisprache.
Wer die deutschen Mundarten der Gegenwart in ihrem Verhältniß zur
Schriftsprache und unter sich mit einander vergleicht, entdeckt überall die Ergeb-
nisse dieser bildenden Thätigkeit des protestantischen Geistes. Man muß con-
fessionell gewisse Landstriche als Basis für solche Untersuchungen wählen, aber
nicht solche, in denen die Mischung bis zu einer Atomisirung der Elemente ge¬
führt hat. wie z. B. in manchen Theilen Schlesiens, Frankens und der Rhein-
lande. Denn wo jede Ortschaft halb der einen, halb der andern Confession
angehört, wo sogar jedes Haus im Kleinen die Mischungsverhältnisse des Ganzen
wiederholt, ist es beinahe unmöglich, Unterschiede der Sprache, die auf diese
Ursache zurückgeführt werden dürfen, zu constatiren Sie werden nicht fehlen,
aber sie müssen so fein sein, daß der Beobachter immer Gefahr läuft, durch die
allzu minutiöse Subtilität seines Objectes in Täuschungen zu versinken. Andere
Momente, wie der Einfluß der verschiedenen Beschäftigungen, der Stände, oder
in einer ausgedehnteren Ortschaft des speciellen Theiles derselben erhalten dann
einen viel wirksameren Einfluß und drängen den Unterschied der Confession in
der Sprache ebenso zurück, wie sie es im gewöhnlichen Leben thun, wo ja auch
Katholiken und Protestanten auf gleiche Weise zu den reicheren und ärmeren
Classen zu gehören oder ihr Contingent zu der Schneider- und Schusterzunft zu
stellen Pflegen. Nur wo ein oder das andere dieser erwähnten Momente mit
dem confessionellen sich verbindet, da mag man berechtigt sein, diesem letzteren
als dem innerlich bedeutsamsten — das war es wenigstens überall bis auf
unsere Tage herab und ist es auch jetzt noch mehr, als man gewöhnlich glaubt
— eine gewisse Hegemonie zuzugestehen, die aber eine relative Selbstthätigkeit
der andern nicht ausschließt. So z. B. wenn in der Stadt Augsburg, die be¬
kanntlich zu den confessionell am meisten gemischten deutschen Städten gehört
und zugleich zu denen, die sich mit einer sprichwörtlich gewordenen Pedanterie
die Parität in allen und jeden Beziehungen zu wahren suchten, ein auch local
scharf von den übrigen abgegrenzter Stadttheil, unten am Lech, dicht an der
Grenze des stockkatholischen Altbayerns, hauptsächlich von Webern bewohnt
wurde, die durchweg der katholischen Kirche angehörten. Ihre Mundart unter¬
scheidet sich markirter von der in der übrigen Stadt giltigen, als es sonst die
Mundart zweier Nachbarorte thut. Hier hat man Recht, von einem katholischen
augsburger Dialekt und von einem protestantischen zu sprechen. Denn, die
übrige Stadt ist zwar nicht ausschließlich von Protestanten bewohnt, sie über¬
wogen aber wenigstens in früheren Zeiten nicht blos an Zahl, sondern auch
an Bildung und Vermögen so sehr, daß sie ihrem localen Bereich auch einen
bestimmten mundartlichen Stempel ausdrückten, den man eben darum a priori
protestantisch nennen darf. Aehnliche Erscheinungen ließen sich noch mehre auf¬
führen. Jenseits der Grenzen der christlichen Confessionen gehört auch die
mundartliche Abgeschlossenheit der jüdischen Einwohner einigermaßen hierher, wo
sie in größeren Massen, früher meist auf einen Stadttheil beschränkt, zusammen¬
wohnen. Doch ist hier der religöse Typus so unauflöslich mit dem nationellen
und socialen verwoben. daß es schwer zu sagen ist, welchem davon das Ueber¬
gewicht zukommt.
Wo aber Protestanten und Katholiken in natürlich geschlossenen kleineren
Gruppen unter einander wohnen, also etwa dörferweise, da wiederholt sich im
Kleinen stets dasselbe, was im Großen auch der oberflächlichsten Betrachtung
nicht entgehen kann, wo es sich um weite Landschaften mit compact-confessio-
neller Bevölkerung handelt. Es ist schon vorhin der bayrische Dialekt, der
auch in seiner engeren Begrenzung immerhin ein Gebiet von 7—800 Quadrat¬
meilen umfaßt, als Beispiel für den negativen Einfluß des Katholicismus auf
die Mundart angeführt, negativ, wenn man unter positiv vernünftigerweise die
Durchdringung derselben durch die Mächte der höheren menschlichen Bildung
und Gesittung auch auf sprachlichem Felde versteht. Wer das rechte Ohr und >
die nothwendigen Borkenntnisse für diese Dinge besitzt, kann aber auch in den
confessionell nicht zersplitterten, sondern nur gemischten Theilen Mittel- und
Süddeutschlands jedem noch in der Naivetät seines Dialektes befangenen Bauer
anhören, ob er in einem katholischen oder protestantischen Dorfe daheim ist.
Es wird oft dem genauesten Kenner der Localdialekte schwer werden zu bestimmen,
ob dies Dorf am Main oder an der Nednitz. an der Nidda oder an der Wetter
liegt, aber den protestantischen Klang hört er doch schon von ferne aus den
geschmeidigeren, weicheren Lauten, aus dem bewegteren Fluß der Worte heraus,
auch wenn er sie selbst noch gar nicht verstehen kann. Das Katholische stellt
sich überall als das relativ Einfachere, Alterthümlichere in Färbung und Modu-
lation dar. Es klingt derber, gelegentlich wohl auch voller, aber noch öfter
roher und elementarer; es fließt zäher von den Lippen, es bat eine viel be¬
schränktere Rhythmik. Geht man seinen Wortbcstandtheilcn genauer nach, so
finden sich verwandte Eigenschaften. Es hat in sich gewöhnlich noch Reste
älterer Sprachperioden erhalten, die derselbe protestantische Dialekt schon völlig
mit dem Boden verarbeitet hat. Lautgesetze und Flexionen sind so zwischen
zwei Nachbardörfern nicht weniger als durch ein paar hundert Jahre sprach¬
geschichtlicher Evolutionen getrennt; wohl bemerkt, nicht etwa da, wo uralte
Volks- und Sprachgrenzen noch jetzt in gewisser Stabilität sich erhalten haben,
wie zwischen der Gesammtmasse des bayrischen und des schwäbischen oder frän¬
kischen Dialektes. Hier versteht es sich von selbst, daß z. B. ein bayerisches
Grenzdorf in der Oberpfalz linguistisch von seinem eine Viertelstunde entfernten
fränkischen Nachbardorfe ferner abliegt als von dem letzten deutsch-tirolischen
Grenzdorfe, das vierzig bis fünfzig Meilen Weges von ihm entfernt. Es han¬
delt sich in unserm Falle um ein und dieselbe Sprachgruppe, ja selbst um die
feinsten Gliederungen in ihr, wo nach den sonst giltigen Entwickelungsgesetzen
der Mundarten wohl auch ganz feine Unterschiede vorhanden sein könnten.
Aber sie würden sich dann in ganz anderer Weise gestalten, sie würden nicht
blos die gemeinsame Basis der Mundart, sondern auch ein und dasselbe Niveau
ihrer Gestaltung erkennen lassen, während so die gemeinsame Basis zwar unver¬
kennbar vorhanden, aber das Niveau ein so gründlich verschiedenes geworden
ist. Will man sich vollständig über diesen eigenthümlichen Zug unseres Sprach¬
lebens ins Klare setzen, so mache man die umgekehrte Probe. Man untersuche
die Abweichungen der Mundart zwischen den Nachbarorten gleicher Konfession
und man wird finden, daß solche auch auf engstem Raume zwar vorhanden,
aber ein ganz anderes Gepräge haben als da, wo neben dem Raum und viel
mächtiger als der Raum auch noch die Konfession trennt und individualisirt.
Die Probe ist überall leicht zu machen, weil neben den confessionell zerschnittenen
Gauen immer auch andere in dichtester Nachbarschaft liegen, die nur einer ein¬
zigen Consesston angehören.
Das Volk hat somit gar nickt Unrecht, wenn es in solchen Fällen von
einer „katholischen oder protestantischen Sprache" dieses oder jenes Ortes oder
mehrer Orte weiß. Sprache ist ihm so viel wie Mundart, denn diesen gebil-
deteren Ausdruck kennt es noch nicht, weil es überhaupt noch nicht über den
Gegensatz von Schriftsprache oder gebildeter Sprache und seiner eigenen naiven
Sprachweise zum Bewußtsein gekommen ist. Höchstens kennt es eine vornehme
Sprache und eine der gemeinen Leute, obwohl es die eine wie die andere
immer neben einander in Gebrauch sieht und es seltsam finden würde, wollte
einer, dem Stand und Bildung das Recht geben, vornehm zu sprechen, zur
gemeinen Sprache herabsteigen. Es fühlt mit richtigem Jnstinct, daß man ihm
keine Ehre anthut, wenn man es für unvermögend erklärt, die Sprache der ge¬
bildeten Leute zu verstehen.
Bis vor hundert Jahren hat die Volksschule zwar auch für das Eindringen
der höheren Culturelemente der Sprache in die Mundarten gearbeitet, aber erst
seit dieser Zeit thut sie es mit einem Erfolge, dessen Tragweite kaum zu er¬
messen ist. Das Volksschulwesen des Reformationszeitalters war bekanntlich
nur eine nach allen Seiten hin lückenhafte Schöpfung und die Periode der
katholischen Reaction sowie der dreißigjährige Krieg hat selbst diese geringfügigen
Anfänge beinahe ganz vernichtet. Wo sich aber noch etwas davon erhalten
hatte, oder wo, wie z. B. in den thüringischen Ländern, gründlich und gewissen¬
haft nachgebessert wurde, lassen sich die Früchte einer solchen wahrhaft humanen
Thätigkeit auch in ihrem sprachlichen Niederschlage in der Volksmundart nicht
verkennen. Alles was die protestantischen Mundarten im Gegensatz zu den
katholischen charaktensirt, tritt hier mit noch größerer Prägnanz und Reinlichkeit
heraus. Hier bildeten sich auch die natürlichen Herde für alle weiteren Fort¬
schritte des Volksschulwesens und hier mußte es auch in der neueren Periode
seines allgemein siegreichen Aufschwungs nach allen Richtungen hin am tiefsten
in das Volksleben eingreifen.
Die Volksschule der Neuzeit hat überall dem sprachlichen Unterricht eine
besondere Stelle unter ihren Lehrfächern eingeräumt. Früher geschah das nicht,
sondern insofern die Muttersprache das Mittel des Unterrichts in allen andern
Gegenständen war. wurde sie selbst praktisch dabei gelehrt. Unsere Theoretiker
sind bis heute noch nicht darüber einig, ob der specielle Unterricht im Deutschen
an dieser Stelle nothwendig, oder nicht sei. Gleichviel, wie ihre endgiltige
Ansicht sich gestalten möge, der Unterricht im Deutschen wird der Volksschule
nicht mehr entzogen werden können, weil er sich in langjähriger Praxis ge-
wissermaßen zu dem Ehrenpunkte der ganzen Institution gestaltet hat. Kein
Zweifel, daß er meist nach unpassender Methode und darum mit Zeitverschwe¬
dung ertheilt wird und daß Lehrer und Schüler die vollen Früchte, auf die sie
ein Recht hätten, nicht davon ernten. Jeder Fachmann kennt die schreienden
Mängel, deren Beseitigung unerläßlich ist, und es fehlt auch nicht an gemä¬
ßigten und deshalb praktischen Reformvorschlägen. Aber trotz alledem hat jene
so viel verlachte Sprachbenklehre eines Wurst, die noch immer die Basis der
sprachwissenschaftlichen Weisheit der meisten unserer Elementarlehrer bildet, doch
auch ihre eminenten Verdienste um den Fortschritt der sprachlichen Cultur in
Deutschland und wenn auch nur so. daß sie zufällig das Werkzeug gewesen ist,
dessen sich der Genius der Cultur bedient hat, um in die stockende und dumpfe
Abgeschlossenheit der Volkssprache die Keime einer freieren und schöneren Ent¬
wickelung zu streuen. Diese moderne Volksschule wirkt nicht allein indirect aus
die Volkssprache, wie sie es etwa in früheren Jahrhunderten gethan hat, son¬
dern sie führt dieser direct eine Menge neuer Elemente zu, durch welche ihr
ganzes Gepräge als Dialekt wesentlich verändert und in gewisser Beziehung
zerstört werden muß und zum Theil schon zerstört worden ist. Selbstverständlich
bleiben die Leistungen dieses Institutes auch auf dem sprachlichen Felde weit
hinter dem Ideale zurück, das sich die Theorie gebildet hat oder das aus den
Köpfen einzelner jugendlicher Volksbildner hinaus in die Wirklichkeit will.
Ginge es ihnen nach, so wäre es schon längst um die Existenz aller Volks¬
mundart geschehen. Sie begnügen sich nicht damit, ihre Schüler und Schüle¬
rinnen während des eigentlichen Schulunterrichts zum Gebrauche des schrist-
mäßigen Ausdrucks anzuhalten, sie verlangen auch, daß sich die liebe Jugend
auf der Gasse und im Hause an den steifen Faltenwurf dieses fremdartigen
Sonntagsstaates gewöhne. Ergötzliche Beispiele solcher Bildungsversuche und
der dadurch erzielten Resultate sind schon in den Anekdotenschatz dieser unserer
Zeit übergegangen. Jedenfalls könnten jene" enthusiastischen Vorkämpfer der
Cultursprache daraus lernen, daß weder ein einzelner „Schulmeister" alten Stils,
noch ein einzelner „Herr Lehrer" modernen Stils kräftig genug ist, um die
Volkssprache mit einem Male und gründlich umzumodeln. Sie selbst mögen
immerhin mit dem besten Beispiele vorangehen. Es ist wahrhaft bewunderns-
werth. wenn auch die Bewunderung, offen gestanden, einen kleinen Beischmack
von Ironie nicht ausschließt, wie energisch der regelrechte moderne Volkslehrer
an sich selbst gegen alles das kämpft, was nach seinem besten Wissen gegen die
Reinheit der Sprache verstößt. Solche lebendige Mustersammlungen echt hoch¬
deutscher Diction sind natürlich die feurigsten Parteigänger für die Sache, an
die sie selbst so viel Schweiß gewandt haben. Aber das zähe Bauerthum läßt
sich dadurch allein nicht aus seiner Position verdrängen. Unter der städtischen
Jugend sind allerdings ihre Erfolge auch viel handgreiflicher, aber hauptsächlich
weil hier eine Menge anderer nach gleichem Ziele hin wirkender Einflüsse ihren
Bemühungen zu Hilfe kommen, wovon auf dem Lande noch wenig zu spüren ist.
In der städtischen Bevölkerung der Gegenwart ist jener nivellirende Zug,
der unsere Zeit überhaupt charakterisirt, auch in den Borgängen der sprachlichen
Entwickelung von tiefgreifender Wirksamkeit. Jedermann bestrebt sich bewußt
oder unbewußt die Kluft auszufüllen, welche sonst den Niedern von den Höhern,
den Ungebildeten von dem Gebildeten schied. Wie unsere städtischen Volks¬
trachten vor unsern Augen verschwunden sind, so geschieht es auch der Volks¬
sprache. Es kann nicht fehlen, daß der spröde Stoff und die ungelenken Hände,
die sich daran abarbeiten, allerlei ungeschickte Dinge produciren. Unsere origi¬
nellen Dialekte der früheren Zeit waren ohne Zweifel linguistisch angesehen
etwas in sich Vollkommeneres und Schöneres, als das noch so wenig abgeklärte
Gemisch von Redensarten und Wendungen aus der Sprache der Bildung oder
der Bücher und Zeiiungen, was sich jetzt überall zwischen die noch unvertilgte
Naturstimme des Volkes eingedrängt hat und diese mehr und mehr übertönt.
Ader die Thaisache selbst besteht zu Recht und es bleibt ein vergebliches Be¬
mühen unserer volkstümlichen Romantiker, sie ungeschehen zu machen und wieder
zu der allen Naivetät zurückzustcuern. Diese Leute könnten, wenn sie nicht mit
dem der deutschen Art angeborenen Eigensinn immer nach der Seite hinaus¬
strebten, wo es ein für alle Mal keinen Weg giebt, ihre Kräfte und ihren
guten Willen viel nützlicher verwerthen. Wollten sie Sorge dafür tragen, daß
das Bildungstreben der niederen Classen oder des Volkes im gewöhnlichen
Sprachgebrauche auf b>e rechte Art genährt würde, daß es die Redeweise der
Vornehmen nicht blos lächerlich copirte, sondern sich frei und bewußt zu eigen
'machte, so würden sie der Herrlichkeit der deutschen Muttersprache, der ja an¬
geblich ihr Eifer gilt, ganz andere Dienste leisten, als so. wo sie entweder mit
ihren rückläufigen Bemühungen gar nichts wirken oder verlacht werden.
Denn den Untergang der alten Volksmundarten durch die mehr und mehr
sich ausbreitende Allmacht der Schriftsprache halt nichts mehr auf. Er vollzieht
sich hier rascher, dort langsamer, je nachdem die ihn bedingenden Factoren an
dem einen Orte schon länger und^ energischer in Thätigkeit sind als an dem
andern. Darum sind unsere Großstädte zu alle^rst diesem Naturgesetz versallen.
Wollte man hier wieder specialisiren, so würden auch hier nicht unbeträchtliche
Verschiedenheiten sich herausstellen, die sich aber alle aus dem vollkommen deut¬
lichen Pragmatismus des ganzen Vorgangs erklären lassen. Es begreift sich
sehr leicht, warum die wiener Volksmundart der Schriftsprache zäheren Wider¬
stand entgegenstellt als die berliner oder leipziger. Wien befindet sich in sprach¬
licher Hinsicht ungefähr auf dem Standpunkte, auf welchem die beiden genannten
norddeutschen Städte vor etwa 150 bis 200 Jahren standen. Aber dennoch
sind auch dort im Laufe des letzten Menschenalters rasche Fortschritte gemacht,
oder wenn man dergleichen Vorgänge der Anschaulichkeit halber auf Zahlen-
Verhältnisse reduciren will, in etwa dreißig Jahren der Volkssprache so viel
hochdeutsches Element zugeführt worden, wie früher in etwa hundert. Je nach
der allgemeinen Culturstellung des einzelnen Ortes, vor allem nach seiner Ein-
fügung in das lebendige Getriebe des allgemeinen deutschen Verkehrs, läßt sich
auch überall gleichsam g, priori das Verhältniß der Volksmundart bestimmen.
Wer ein Auge für solche scheinbar gleichgiltige Dinge hat, vermag schon an
dem Mobiliar, was sich in den Stuben der Leute aus dem eigentlichen Volke
findet, zu schließen, wie weit die gebildete Sprache durchgedrungen ist. Wo sich
ein Sopha, wenn auch in bescheidenster Gestalt, schon als nothwendiges Requisit
an der Stelle der altherkömmlichen Bank oder des Großvaterstuhls eingebürgert
hat, darf man darauf rechnen, daß die, die sich darauf von ihrer harten Arbeit
ausruhen, mit einiger Geläufigkeit in der Sprache derjenigen sich auszudrücken
wissen, die früher allein das Monopol eines solchen Luxusgegenstandes besaßen.
So wenig aber unsere romantischen Verfechter der alten Schlichtheit des täg¬
lichen Lebens das Sopha wieder wegdisputiren werden, wie sie ja selbst auch,
so viel wir sie kennen, am wenigsten geneigt wären auf diese Behaglichkeit zu
verzichten, so wenig werden auch jene ander» Romantiker das Hochdeutsche aus
dem Volksmunde wegschaffen, zumal da sie selbst nur Hochdeutsch denken und
sprechen gelernt haben. Keine menschliche Voraussicht kann aber bestimmen,
wie lange unsere Volksmundarten noch Widerstand leisten. Auf der einen
Seite scheint es, als wenn sie sehr rasch dem Untergang entgegeneilten. Wenn
ihr Zerstörungsproceß nur in derselben Progression wie seit fünfzig Jahren
fortgeht, so möchte nach weiteren fünfzig Jahren wenig mehr von ihnen übrig
sein. Da sich aber höchst wahrscheinlich die Wucht der Kräfte, die für die
Schriftsprache kämpfen, immer mehr verstärkt, so könnte man glauben, daß selbst
diese Frist, noch zu lange gesteckt wäre. Doch ist auf der andern Seite nicht
zu übersehen, daß sich die Widerstandskraft der zähen Beschlossenheit mancher
Theile des deutschen Volkes gar nicht berechnen läßt. . Die bäuerlichen Classen
sind bis jetzt trotz des Äsers der ländlichen Volksbildner auf der Kanzel und
in der Schule noch wenig von der Sprache der Bildung berührt, viel mehr
schon das ländliche Proletariat, die besitzlosen, nicht an die Heimath- gefesselten,
nicht an die engen Schranken eines einförmigen, in steter Regelrechtigkeit sich
abspinnenden Berufes, wie es der bäuerliche ist. gebundenen Leute. Das alte
Bauernthum verschwindet allerdings mehr und mehr und damit auch die Hei¬
math, des Dialektes, aber es giebt doch auch große Landstriche, in denen es-
geschützt durch allerlei natürliche oder unnatürliche Verhältnisse noch aus lange
hinaus eine Zukunft hat und mit ihm auch seine Sprache. Verbindet sich da¬
mit etwa auch noch ein confessivnelles Element, etwa der künstlich wieder an¬
gefachte katholische Fanatismus-, der leider viel tiefer in das Volk eingepfropft
worden ist. als unsere optimistischen Beurtheiler der deutschen Zustände Wort
haben wollen, so muß natürlich seine Widerstandskraft noch mehr wachsen
oder noch zäher, werden. Sie wird es zwar niemals auf sprachlichem Gebiete
zu einer so scheußlichen Reaction der dumpfen particularistischen Elemente bringen,
wie wir sie jetzt aus politischem erleben, aber sie wird ihrem Gegner doch auch
jeden Schritt streitig machen.
Wie aber das Eine mit dem Andern zusammenhängt, ist unverkennbar.
Grade in jenen süddeutschen Landschaften, in denen der Herd der politischen
Opposition gegen die von der Vernunft und Geschichte geforderten einheitlichen
Tendenzen liegt, wo der Particularismus nicht blos von einem Herrn von der
Pfordten oder Varnbüler, oder von einem Haufen fanatischer Pfaffen vertheidigt
wird, sondern wirkliche Volkssache ist, hat auch die Sprache der einheitlichen
deutschen Bildung noch die wenigsten Fortschritte gemacht. Hier ist auch jene
romantische Anhänglichkeit an den Dialekt keineswegs nur auf einige müßige
und unklare Köpfe beschränkt, sondern sie liegt als unausgesprochener Jnstinct
noch immer in den Gemüthern der Menschen. Wenn ein gebildeter Mann
aus Schwaben selbst da, wo er Gegenstände der höchsten Geistescultur im
lebendigen Worte auszudrücken hat, sich durchaus nicht von den Lauten und
Formen seines Volksdialekts losmachen kann, so ist dieses ein Anachronismus,
aber kein so unschuldig lächerlicher, wie man es mit ungerechtfertigter Gut¬
müthigkeit häufig.anzusehen pflegt. Lächerlich ist es freilich, weil die naive
Roheit der Laute so ganz und gar nickt zu der aufs äußerste getriebenen Ver¬
feinerung des geistigen Gehaltes der Rede paßt. Denn so weit der Dialekt
innerhalb seiner Schranken bleibt, hat er wenigstens für den verständigen Zu¬
hörer niemals etwas Komisches. Nur der Ungebildete, der selbst noch halb oder
ganz von seinem Jargon beherrscht wird, ist auch von einer rücksichtslosen Un¬
duldsamkeit gegen alles erfüllt, was ihm fremdartig erscheint. Aber die Ge¬
schichte aller unsrer Dialekte hat is ja mit sich gebracht, daß die Schranken,
innerhalb deren sie wirklich eine in sich organische Sprachgestaltung darstellen,
so sehr eng gezogen sind. Von der gesammten geistigen Arbeit der Neuzeit,
also von dem Gesammtinhalt der Bildung der Neuzeit haben sie nichts sich zu
assimiliren verstanden und daraus folgt, daß jeder Schritt in diese Bildung
hinein zugleich auch ein Schritt aus der Mundart heraus sein muß. Wo man
den einen thut, aber den andern unterläßt, ist es eben nur ein Zeichen jenes
verstockten Eigensinnes, dem man als dem Grundfehler der deutschen Volks¬
seele schonungslos zu Leibe gehen muß, falls sie überhaupt noch eine Zukunft
haben soll.
Es ist ohne Zweifel ein Nachtheil für die Sprache der deutschen Bildung,
daß sie durch eine nicht mehr zu redressirenbe Entwickelungsgeschichte mehrer
Jahrhunderte so ganz außer allen receptiven Contact mit den Dialekten ge¬
kommen ist. Wir haben bereits darauf hingewiesen und können nur noch hin¬
zufügen, daß die Dialekte in ihrer gegenwärtigen Haltung noch weniget als je
geeignet sind, einen merkbaren Einfluß auf jene auszuüben. Sie werden von
ihr zerbröckelt, bis nichts mehr von ihnen übrig ist, aber ihre Elemente dienen
nicht dazu, um dem Sprachfelde neue Fruchtbarkeit zu verleihen, sondern
sie zerstieben in alle Winde. Niemals, auch nicht bei einem vollständigen
Siege der gebildeten Schriftsprache, werden alle Deutsche aus einem Munde
reden. Es wird auch dann grade so wie von jeher Unterschiede in der
Sprachweise geben, die durch die Landschaft, den Beruf, die sociale Stellung
bedingt sind. Aber diese neuen Mundarten werden ihr Material nur aus
der Schriftsprache entnehmen und es nach ihren Bedürfnissen verarbeiten. Von
den alten Dialekten wird nichts in sie transspiriren, als jene physikalischen
und physiologischen Bedingungen, unter denen die Lautgebung zu Stande
kommt. Unsere alten Dialekte besaßen daneben aber noch ganz andere
Eigenartigkeit. Sie waren vom Wirbel bis zur Sohle selbständige sprachliche
Organismen, in den Formen, in dem Wortvorrath, im Satzbau nicht minder
als im Laute.
Schade, daß so manches Brauchbare, was sich unsere Sprache der Bildung
aus den Mundarten hätte aneignen können, den Weg in sie nicht hat finden
können. Denn man mag von unserer Schriftsprache noch so hoch denken, man
wird doch, falls nur überhaupt die Fähigkeit zu solcher Beurtheilung vorhanden
ist, eine große Anzahl sehr übeler Gebrechen nicht abläugnen können. Sie
lassen sich schließlich alle auf ein und dieselbe Wurzel zurückführen: daraus, daß
das sogenannte Neuhochdeutsch von Anfang an und bis heute ausschließlich sich
als Büchersprache gebildet und entwickelt hat. Die lebendigen Mundarten waren
das beste und natürlichste Heilmittel für die pedantische Erstarrung und ungelenke
Schwerfälligkeit dieser Sprache der Gelehrten, die bei uns so lange Zeit zum
größten Nachtheil einer wahrhaft freien und schönen Bildung zugleich auch die
Gebildeten repräsentirten. So wie die Sachen jetzt liegen, bleibt nichts übrig,
als daß die Sprachwissenschaft selbst vermittelnd eintritt. Sie ist es. die den
Beruf hat, die dem leiblichen Untergang verfallenden Gebilde unserer Mund¬
arten zu einer ewigen Dauer im Reiche des Geistes umzugestalten. Sie nimmt
sich dieser ihrer Aufgabe mit größter Rührigkeit an. aber es ist auch die höchste
Zeit dazu. Vieles ist schon unwiederbringlich verloren und anderes kann der
nächste Tag vernichten, denn die Zerstörung schreitet hier an manchen Stellen
unglaublich rasch vor.
Aber es ist nicht genug, daß die Wissenschaft das Vorhandene und Vor¬
handengewesene inventarifirt und dann in ihrer Art blos zu ihrem Gebrauche
verwendet. Es ist wünschenswerth. daß von ihrer Arbeit der Sprache selbst ein
directer, unmittelbarer Gewinn erwachse. Unsere Sprache ist nun einmal ein
Product reflectirt-gelehrter Arbeit. Daher mag sie auch immerhin auf demselben
Wege sich Erfrischung und Ergänzung holen und zwar aus dem Apparat«, den
ihr die Wissenschaft aus den Dialekten härtlich zurecht zu machen hat. Bis-
her ist es noch nicht geschehen, ja es ist noch nicht einmal die erste nöthige
Vorarbeit dazu gemacht, die Feststellung der Methode. Denn mit blos empiri¬
schem Tasten würde man hier nicht weit kommen, wo es sich um eine durchweg
der wissenschaftlichen Reflexion anheimgegebene Leistung handelt.
Die Bewegungen der vierziger Jahre, die theils politisch-religiösen, theils
socialen, theils nationalen Charakters waren, entwickelten den durch die metter-
nichsche Represfionspolitik aufgesammelten Gährungsstoff und bereiteten die ge¬
waltsame Lösung des Jahres 1848 vor. Die Bestrebungen des tollen Jahres
erstreckten sich daher auch auf alle Gebiete des öffentlichen Lebens: politische,
nationale, religiöse^ wirthschaftliche Probleme, oft mehr in ihrer Bedeutung
empfunden als wissenschaftlich erfaßt, sollten auf einmal bewältigt werden, als
ob die Versäumnisse von so viel Jahrzehnten in ebenso viel Monaten sich nach¬
holen ließen. Mit Fieberhast wollte das Volk sich selbst erneuern und in einer
großen Gesammtleisiung seine Mündigkeit und Reife bewähren. Das Werk
war bewundernswerth, aber auch so ungeheuer und so wenig vorbereitet, daß
es die Kräfte jeder Nation überstiegen hätte.
Die deutsche Nationalversammlung, das Organ, welches die Gedanken und
Wünsche der Zeit in Gesetz und Wirklichkeit verwandeln sollte, fand nur den
allgemeinen Auftrag vor, Deutschland eine Verfassung zu geben und alle schwe¬
benden Fragen zu lösen. Form und Modalität, überhaupt die Ausführung
dessen, was die Geister Jahre lang bewegt hatte und nun auf unerwartet
schnelle Weise der Erfüllung entgegenzugehen schien, war dem politischen Sinn
und Tact einer Versammlung überlassen, welche die Besten der Nation in ihrer
Mitte sah. Die Gefahren, welche aber jede/unbeschränkte Befugniß in sich
birgt, traten bald auch an das Parlament heran, dem das starke Gegengewicht
einer wohlgeleiteten festorganisirten Regierungsgewalt fehlte.
Die große Ausgabe des Verfassungswerks, das ein Codex der Einheit und
Freiheit des Volkes zu werden bestimmt war, bedürfte umfangreicher Vorberei¬
tungen. Eine Theilung der umfassenden Arbeit war geboten und es knüpfte
sich unwillkürlich eine Reihe wichtiger Konsequenzen an die Frage, welchem Ab¬
schnitt der Aufgabe der Vorzug vor den übrigen gegeben werden sollte. Die
Ereignisse, die den Märztagen gefolgt waren, hatten schon zur Genüge gezeigt,
daß die Schaffung einer einheitlichen Reichsgewalt, eines Kerns, an welchen sich
die neue Organisation anschließen könnte, dringend nothwendig sei und die Be¬
trachtung der deutschen Verhältnisse hätte, wie man denkt, darauf hinführen
müssen, diesen schwersten Theil des Verfassungswerks unter Benutzung der gün¬
stigen Zeitumstände sofort zuerst in Angriff zu nehmen. Allein es wirkten
andere Rücksichten auf die Versammlung bestimmend ein. Die großen Erwar¬
tungen, welche das Volk auf das Parlament setzte, mußten in gemeinverständ¬
licher Weise bald bethätigt werden. Die Versammlung, die ihren Halt und
Stützpunkt im Volke, aus dem sie hervorgegangen, fand und bei den Regie¬
rungen keiner nachhaltigen Förderung begegnete, konnte nicht die durchgreifende
Energie besitzen, die ein Staatsmann an der Spitze eines machtvollen Staats
anzuwenden vermag. So kam man auch, durch die Vorbilder von Frankreich
und Nordamerika bestimmt, zu dem Entschluß, die freiheitlichen Forderungen des
Volkes zuerst endgiltig festzustellen und zog das populärere Wesen der politischen
Freiheit der politischen Einheit vor, die doch der Nation als höchstes Ziel
vorgeschwebt hatte.
Das war die Entstehung der deutschen Grundrechte.
Mit seltener Hingebung wurde an den deutschen Menschenrechten gearbeitet.
Die Leistungen blieben hinter den Erwartungen nicht zurück. Der Gewinn
langer politischer Kämpfe und die Frucht umfassender Studien über Staat und
Staatseinrichtungen wurden zu einem Ganzen verbunden, das den Namen eines
vernünftigen freisinnigen Programms für eine innere Politik mit Recht in An¬
spruch nehmen konnte. Aber freilich gingen über dem Zustandekommen des
Werks Monate hin und die Ereignisse warteten nicht. Die Abschlagszahlung,
welche man der Vorliebe des Volkes für freiheitliche Fragen leistete, kostete, das
ist nicht zu viel gesagt, das Gelingen des ganzen Werks und mit diesem selbst
ging auch wieder zu Grunde, was die bürgerliche Freiheit in Deutschland für
alle Zeiten hatte befestigen sollen.. Die Grundrechte wurden mit der übrigen
Reichsverfassung für die Einen eine Ausgeburt gefährlichster demokratischer Grund¬
sätze und Ideen, für die Anderen das Ideal gemeinsinniger Wünsche und Hoff¬
nungen; sie verschwanden aus dem politischen Leben der Nation und erlangten
allmälig in den Augen der großen Menge des Volkes den Glorienschein halb
mythischer Erinnerungen, die gefährlicher als politische Vorurtheile wirken, weil
sie unbestimmte Gefühle an die Stelle ruhiger Erwägung der thatsächlichen Ver¬
hältnisse treten lassen.
Betrachten wir aber zunächst den Inhalt der Grundrechte, ehe wir an der
Hand der Ereignisse ihren Werth für die Jetztzeit untersuchen. Es wird sich
dabei empfehlen. ihre Bestimmungen in der vom Gesetz eingehaltenen Reihen¬
folge zu geben, da die einzelnen Sätze keiner Erläuterung bedürfen, und die
Mannigfaltigkeit der Bestimmungen von selbst zeigt, daß alle Zweige des staat¬
lichen Lebens von ihnen betroffen werden.
Art. I schafft ein deutsches Neichsbürgerrecht, sichert die Freiheit der Nieder¬
lassung und des Gewerbebetriebs, sowie der Auswanderung und schreibt gleich¬
mäßige rechtliche Behandlung der Deutschen in allen Staaten vor. Die schon
von der Bundesacte verbotene Erhebung der Abzugsgelder wird wieder untersagt
und die Strafe des bürgerlichen Todes aufgehoben.
Art. II spricht unter Aufhebung des Adels die Gleichheit der Stände aus,
beseitigt alle nicht mit einem Amte verbundenen Titel, verbietet die Annahme
fremder Orden, erklärt die allgemeine Berechtigung zu den öffentlichen Aemtern
und führt die allgemeine Wehrpflicht ein.
Art. III sichert die persönliche Freiheit, bestimmt die Formen und Voraus¬
setzungen für Verhaftungen und Haussuchungen, hebt die Todesstrafe, Pranger.
Brandmarkung und körperliche Züchtigung auf und gewährleistet das Brief¬
geheimniß.
In Art. IV wird die Preßfreiheit ausgesprochen und die Aburtheilung der
Preßvergehen den Schwurgerichten überwiesen.
Art. ^ erklärt die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der Religions¬
gesellschaften, schafft die Staatskirchen ab, untersagt den Zwang zu kirchlichen
Handlungen, vereinfacht die Eidesformel, führt die bürgerliche Ehe ein, hebt das
Eheverbot zwischen Christen und Nichtchristen auf und überträgt die Führung
der Standesbücher an die bürgerlichen Behörden.
Durch Art. VI wird Lern- und Lehrfreiheit verkündet, die-Schule der
Aufsicht des Staats unterstellt und nur bezüglich des Religionsunterrichts der
Kirche ein Aufsichtsrecht gelassen. Den öffentlichen Lehrern werden die Rechte
der Staatsdiener beigelegt, die Anstellung der Lehrer gebt unter Wahrung der
Betheiligung der Gemeinden auf den Staat über. Das Schulgeld wird für
Volks- und niedere Gewerbeschulen aufgehoben, für Unbemittelte der kostenfreie
Unterricht an allen öffentlichen Lehranstalten angeordnet.. Der Schulzwang be¬
steht fort; die Freiheit der Berufswahl und -Bildung wird anerkannt.
Art. VII gewährleistet das Bitt- und Beschwerderecht und gestattet die ge¬
richtliche Verfolgung öffentlicher Beamten wegen amtlicher Handlungen ohne
vorgängige Genehmigung der Behörden.
Art. VIII sichert das Vereins- und Versammlungsrecht.
Art. IX erklärt die Unverletzlichkeit des Eigenthums unter Vorbehalt des
Rechts der Enteignung, schützt das geistige Eigenthum, spricht die Veräußerlich-
keit und Theilbarkeit des Grundeigenthums aus. hebt die Untertänigkeit auf,
schafft die Patrimonialgerichtsbarkeit, gutsherrliche Polizei und alle hieraus
fließenden Leistungen und Gegenleistungen ab, befreit das Grundeigenthum von
Zehnten und Abgaben unablösbarer Art, giebt das Jagdrecht dem Eigen-
thümer zurück, untersagt Familienfideicommisse. beseitigt den Lehensverband, ver¬
bietet Vermögenseinziehung und schreibt gleichmäßige Besteuerung aller Staats¬
bürger vor.
Art. X überweist die Gerichtsbarkeit an den Staat, sichert die Unabhängig¬
keit von Gerichten und Richtern, verbietet Cabinetsjustiz und Ausnahmegerichte,
schreibt Oeffentlichkeit'und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens mit öffentlicher
Anklage und Geschworenen für schwere Strafsachen und politische Vergehen vor,
spricht die Trennung von Rechtspflege und Verwaltung aus, untersagt die Ver¬
waltungsrechtspflege, sowie die Ausübung einer Strafgerichtsbarkeit durch die
Polizei und erkennt die Vollziehbarkeit rechtskräftiger Urtheile an.
Art. XI gewährt den Gemeinden die Selbstverwaltung und bestimmt die
Zutheilung einzelner Grundstücke zu Gemeindeverbänden.
Art. XII schreibt für die deutschen Staaten Verfassungen mit Volksver¬
tretung und Ministerverantwortlichkeit vor.
Art. XIII sichert den nichtdeutschen Volksstämmen ihre volksthümlicke Ent¬
wickelung.
Art. XIV stellt die Deutschen in der Fremde unter den Schutz des Reichs.
Dies ist der wesentliche Inhalt der deutschen Grundrechte.
Es ist hier nicht der Ort. den kritischen Maßstab an die einzelnen Be¬
stimmungen der Grundrechte anzulegen und in das Detail von Fragen einzu¬
gehen, die wahrscheinlich niemals zu vollem Abschluß kommen werden. Dagegen
scheint es passend, in flüchtigem Umriß hinzustellen, wie weit die Grundrechte
uns in Wirklichkeit zu eigen geworden sind auf dem Wege der Landesgesetz¬
gebung und unter dem Einfluß der nachhaltigen Agitationen, die das letzte
Jahrzehnt namentlich auf dem wirthschaftlichen Gebiete auszuweisen hat. Diese
Vergleichung ergiebt von selbst Folgerungen, die für unsere weitere Darstellung
zur Unterlage dienen.
Wir folgen bei der Vergleichung wieder dem System der Grundrechte selbst
und finden schon in Artikel I, daß ein wesentlicher Theil der Bestimmungen
uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Abzugsgelder werden längst
nicht mehr erhoben; ein Versuch von Kurhessen, sie auf mittelbare Weise wieder
einzuführen und dadurch der bedenklich gesteigerten Auswanderung entgegen¬
zuwirken, wurde mit Nachdruck zurückgewiesen. Die Auswanderungsfreiheit unter¬
liegt nur den durch die Wehrpflicht gebotenen Beschränkungen; es scheint un¬
zweifelhaft, daß ihre Beseitigung von den»Grundrechten nicht aufgestellt wird,
da sonst dem in Artikel II vorgeschriebenen Grundsatze der allgemeinen Wehr¬
pflicht ein bedenkliches Hinderniß in den Weg gelegt würde. Ein Reichsbürger¬
recht fehlt, aber der gothaer Vertrag hat die traurigen Mißstände der Heimath-
losigkeit beseitigt und die Freizügigkeit in sehr wirksamer Weise gefördert. Die
Schranken zwischen den einzelnen Staaten sind noch nicht gefallen, die Gewerb-
treibenden können noch nicht ganz Deutschland als Feld ihrer Thätigkeit be¬
trachten; aber die Normen, welche für die Neugestaltung des Gewerbewesens auf
nationaler Grundlage in Anwendung kommen sollen, sind, Dank den Bestrebungen
praktischer Gelehrten und der unwiderstehlichen Wucht der Thatsachen, gewonnen
und in einem beträchtlichen Theile Deutschlands als tüchtig erprobt. Die Un¬
klarheit, welche 1848 auf diesem Gebiete herrschte, ist verschwunden und die
Selbstthätigkeit.des Volkes hat sich erfreulich bewährt. Die Bestimmungen des
Artikels sind entweder bereits Gemeingut oder, wo sie es aus politischen Grün¬
den nicht werden konnten, da wird die Bundesreform das Fehlende rasch nach¬
holen. Art. II der bismarckschen Grundzüge vom 10. Juni deutet dies unter 6
bestimmt an.
Die in Art. II behandelten Rechte unterliegen, wie wir glauben, theilweise
gegenwärtig einer den Verhältnissen mehr Rechnung tragenden Auffassung. Das
Urtheil über den Adel, der in seiner Bedeutung seit 1848 übrigens eher m-
ais abgenommen hat, ist im Volke vermuthlich überall noch dasselbe; allein
man strebt jetzt zunächst nach Fortschritten auf dem realen Gebiet und rechnet
mit den gegebenen Größen. Man findet, daß unendlich viel dringlichere Fragen
zu erörtern sind, als die Aufhebung des Adels und die Beseitigung fremder
Orden und bloßer Titel, und wird sich, mögen auch hier und da Tagesredner auf
die Antipathien der Menge durch Beleuchtung dieser Fragen wirken, über sie
nicht ereifern. Die Gleichheit vor dem Gesetze ist ein Grundsatz der Landes¬
verfassungen, ebenso die allgemeine Zugänglichkeit öffentlicher Aemter. Daß die
allgemeine Wehrpflicht nun eine deutsche Einrichtung wird, ist nach den herr¬
lichen Erfolgen der preußischen Waffen außer allem Zweifel.
Die Unverletzlichkeit von Person und Wohnung, welche Art. III verkündet,
ist mehr oder weniger in alle Strafgesetzgebungen übergegangen. Die Fort¬
schritte, welche auf diesem Gebiete dem Polizeiregimente abgerungen sind, lassen
sich nicht verkennen. Mit ihnen ist aber auch die Einsicht allgemeiner geworden,
daß Grundsätze dieser Art leichter ausgesprochen als durchgeführt, daß sie nicht
die Früchte momentaner Bestrebungen, sondern langgeübter, auf seine Rechte
eifersüchtiger Selbstthätigkeit des Volkes sind. Die Abschaffung der Todesstrafe
ist immer noch ein Gegenstand des Streits zwischen den Männern der Theorie
und einer an den überlieferten Ideen hartnäckig festhaltenden Praxis; die rühm¬
lichen Vorgänge einzelner Staaten haben jedoch die Bahn gebrochen und geben
praktische Belege für die Entbehrlichkeit der Strafe in Deutschland. Uebrigens
scheint die Zeit vorbei zu sein, wo man die Aufhebung der Todesstrafe aus
rechtsphilosophischen Gründen mit Eifer und Begeisterung forderte: man fühlt
die praktische Tragweite der Frage und wird mit diesem Bewußtsein an ihre
Lösung herantreten. Die wichtigen Forschungen, welche nach 1848 über Straf¬
arten und Strafverbüßung angestellt sind, haben für die ganze Materie eine
neue reale Grundlage geschaffen. Pranger und Brandmarkung sind entweder
ganz oder so gut wie ganz verschwunden, die körperliche Züchtigung besteht
noch in wenigen Ländern, unter anverm in Sachsen.
Die von Art. IV ausgesprochene Freiheit der Presse ist noch nicht mit
allen ihren Konsequenzen verwirklicht; allein die stärkste Widersacherin. die
Censur, gehört zu den Undenkbarkeiten und eine objective Betrachtung unserer
Zustände führt darauf, daß bereits viel gewonnen ist. Der Machtbereich der
Presse hat mit dem politischen Leben zugenommen, die Parteien erkennen immer
mehr die Bedeutung der Journalistik für ihre- Zwecke und die Regierungen
neigen sich der Ansicht zu, daß auch auf diesem Gebiete die Präventivpolizei
weichen müsse. Gewiß ist noch viel zu thun, ehe das Vorbild Englands, so
weit dies erstrebenswerth, erreicht ist; aber man hat grade hinsichtlich der Presse
die schon einmal erwähnte Erfahrung gemacht, daß nur durch eifrige Wahrung
der eingeräumten Rechte diese zu vollem Leben gelangen und vervollkommnungs-
sähig werden können.
Auch aus dem in Art. V behandelten religiösen Gebiet ist manches in Rück¬
stand. Die Freiheit der Kirche ist entweder nicht oder nur beschränkt durch¬
geführt, das Sectenwesen unterdrückt oder in der Entwickelung gehemmt, die
Emancipation der Juden nicht überall und nicht vollständig erfolgt. Wichtige
Fortschritte sind aber gemacht und rücksichtlich der evangelischen Kirchenverfas¬
sung hat man eine Selbstverwaltung auf synodaler Grundlage theils ins Leben
gerufen, theils angebahnt oder vorbereitet, die den Bruch mit der Vergangen¬
heit und die Erneuerung der Kirche aus eigenem Geiste sichert. Die Einfüh¬
rung der Civilehe bildet einen Streitpunkt unter den betheiligten Factoren, der
in Baden zu Gunsten der Neuerung entschieden ist. Die Fragen, welche dieser
Artikel der Grundrechte betrifft, sind im Flusse und ihre Erledigung hängt nicht
länger von abstracten'Sätzen, sondern vorr dem gedeihlichen Fortgange unserer
gesammten Entwickelung ab.
Die durch Art. VI gewährleistete Lern- und Lehrfreiheit ist in den Landes¬
verfassungen sanctionirt. Die Rechte der Kirche über die Schule sind noch
immer Sache eifriger Discussionen. Die lange Reactionszeit hat sorgfältig,das
Bestandene conservirt und den Widerstand gegen zeitgemäße Veränderungen
verstärkt. Nur Baden ist, wie auf allen Gebieten des staatlichen Lebens, mit
einem rühmlichen Beispiele vorangegangen und liefert den Beweis, daß die
Schule selbst in einem confessionell getheilten Lande dem Staate unterstehen
kann. Die Frage der Staatsschulen dürfte ihre praktische Lösung zu Gunsten
der gemeindlichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit gefunden haben; min¬
destens hat sich die Ansicht befestigt, daß auch auf diesem'Felde die Entwicklung
der Selbstthätigkeit größerer oder kleinerer Volkskreise nicht zu hemmen ist. Die
Stellung der Lehrer ist wenigstens finanziell beträchtlich verbessert worden und
der gesteigerte Bedarf an Lehrkräften nöthigt von selbst, diesen Punkt unaus¬
gesetzt im Auge zu haben. Die Freiheit der Berufswahl und Bildung ist im
Allgemeinen anerkannt. Die Beschränkungen, welche für Studirende hinsichtlich
des Besuchs der Landesuniversitäten bestehen, sind durch den meist aufgehobenen
Eollegienzwang wenigstens abgeschwächt worden.
Das von Art. VII gewährte ',' ne- und Beschwerderecht ist durch die Landes¬
verfassungen gesichert. Die gerichtliche Verfolgung öffentlicher Beamten wegen
Amtshandlungen ist in beschränktem Maße gestattet und in diesen Fällen an
die Genehmigung der vorgesetzten Behörde nicht gebunden.
Das Vereins- und Versammlungsrecht, welches Art. VIII behandelt,
unterliegt noch mehrfachen Beschränkungen; aber es ist im Grundsatz an¬
erkannt. Die neuesten Vorgänge bei den londoner Reformmeetings zeigen, daß
auch England auf diesem Gebiete noch von Zweifeln und Polizeimaßregeln
weiß.
Von dem reichhaltigen Stoffe des Art. IX ist wenigstens vieles eingebürgert
und wirkliches Necht. So die Unverletzlichkeit des Eigenthums unter Zulassung
der Enteignung in Fällen des öffentlichen Bedürfnisses, der Schutz des geistigen
Eigenthums, die Beseitigung der Untertänigkeit — Mecklenburg ausgenommen
— die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, die Ablösung von Zehnten
und Abgaben, die Zurückgabe des Jagdrechts an den Eigenthümer. Das Grund¬
eigenthum ist in dem größeren Theile Deutschlands theilbar. die grundherrliche
Polizei mindestens beschränkt und modificnt, der Lehnsverband der Aushebung
entgegengeführt, die Vermögenseinziehung untersagt. Die Gleichheit der Be¬
steuerung hat durch Einführung der Grundsteuer in den östlichen Provinzen
Preußens eine wichtige Ausdehnung erfahren.
Die Normen des Art. X sind eine der Errungenschaften des Jahres 1848
für fast ganz Deutschland und bilden in ihrer Mehrzahl einen festen Bestand¬
theil unseres Rechtssystems. Man streitet eigentlich nicht mehr über Oeffent-
lichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens, öffentliche Anklage und Jury,
sondern darüber, wie diese Grundsätze am besten und entsprechendsten durchzu¬
führen seien. Die Ueberweisung der politische» Vergehen an die Schwurgerichte
ist noch nicht erfolgt, aber viel beantragt und in Erinnerung gebracht; die
Trennung der Rechtspflege und Verwaltung in den meisten Staaten vollzogen.
Die Frage der Competenzconflicte hat noch keine endgiltige Lösung gefunden;
es bestehen aber Gerichtshöfe für ihre Entscheidung. Die Ansichten über die
Zulässigkeit der Verwaltungsrechtspflege sind in einer Krisis begriffen und
dürften sich allmälig derselben zuneigen. Die Frage greift so tief in unsere
Rechtseinrichtungen ein. daß sie nicht so bald zum Austrag gelangen wird.
Die Strafgerichtsbarkeit der Polizei ist entweder beseitigt oder erheblich ein¬
geschränkt. Die Vollstreckbarkeit von Urtheilen hat durch ein vom alten Bunde
zu Stande gebrocktes Gesetz, das in der Mehrzahl der Staaten eingeführt ist,
rechtlichen Ausdruck gefunden.
Die von Art. XI aufgestellten Grundsätze für die Gemeindeverfassungen
sind im Wesentlichen in den Landesgesetzgebungen ausgeführt. Nur die Orts¬
polizei ist für große Städte meistens in der Hand des Staats belassen und
den Rittergütern ihre Sonderstellung gewahrt.
Die Landesverfassungen sind in den meisten Staaten nach Art. XII nor-
mirt. Wieweit das Leben ein wirklich constitutionelles geworden, darüber
werden wir uns hier nicht zu verbreiten brauchen.
Der in Art. XIII ausgesprochene Schutz der volksthümlichen Entwickelung
fremder Volksstämme hat nach dem Ausscheiden Oestreichs seine Hauptbedeu¬
tung verloren. Die Schonung der Nativnalitätsrechte ist für die Deutschen
sprichwörtlich.
Der Schutz im Auslande, welchen Art. XIV zuletzt verheißt, ist — bald
kein leerer Traum mehr. Die preußische Energie wird sorgen, daß die Flotte
ihre Aufgaben auf allen Meeren erfüllt und den deutschen Namen geachtet und
gefürchtet macht.
Diese Uebersicht kann am wenigsten auf Vollständigkeit und Genauigkeit
Anspruch machen. Jeder Kenner der deutschen Verhältnisse weiß, welche außer¬
ordentliche und nur durch besonders günstige Umstände wirklichen Erfolg ver¬
heißende Kraftanstrengungen erforderlich sind, um aus den dreißig und einigen
Gesetzgebungen den Stand einer einzigen Frage zu ermitteln. Unsere Darstel¬
lung soll aber auch nur dazu dienen, Vergleichungsmomente zwischen jetzt und
der Zeit, wo die Grundrechte entstanden, zu gewinnen und für diesen Zweck
wird sie auf billige Beurtheilung rechnen können. Es handelt sich hier nicht
darum, über einzelne differente und zweifelhafte Fragen abzuurtheilen und den
eigenen politischen Standpunkt Specialitäten gegenüber wahrzunehmen, sondern
in unbefangener Weise festzustellen, welchen Werth die Grundrechte für die
Jetztzeit besitzen.
Der allgemeine Eindruck, welchen die Vergleichung hervorruft, ist gewiß
der eines angenehmen Staunens über die unverkennbaren Fortschritte, die wir
auf politischem Gebiete seit 1848 aufzuweisen haben. Nicht, daß wir es schon
ergriffen halten, kann man hier sagen, wir jagen ihm aber nach, daß wir es
ergreifen. Wir haben es herrlich weit gebracht, mag mancher rufen und die
tausend Wünsche aufzählen, die noch unerfüllt, die tausend Mängel, die noch
erhalten sind. Der eifrige Liberale wird Errungenschaften, wie die Aufhebung
der Censur, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens, öffentliche
Anklage und Jury, Abschaffung der Patrimonialgerichtsliarkeit. Befreiung von
Grund und Boden übergehen und mit Pathos hervorheben, daß die Concessio-
nirung Buchhandel und Presse hemme, das einzig richtige Preßgesetz noch immer
nicht gefunden, die Staatsanwaltschaft, ein gefährliches Werkzeug in der Hand
der Regierungen, keine sichere Gewähr für die blinde Gerechtigkeit sei, die Ge¬
schworenengerichte nur Gerichtshöfe für unverfängliche Sachen bilden und der¬
gleichen mehr. Wie erstaunt aber würde ein aus dem Grabe auferstehender
Liberaler von 1840 auf das Deutschland nach 25 Jahren blicken! Es ist
Leben, wo Grabesruhe herrschte, Klarheit und selbstbewußtes Thun, wo Phan¬
tasten und ideale Strebungen walteten, viel Irrthum bei viel richtiger Erkennt¬
niß, viel gesammeltes Vorwärtsdringen bei manchem Ueberhasten und Zuviel¬
thun, mit einem Wort, ein Volk in voller Selbstumwandlung. Fleiß und
Thätigkeit der Bewohner haben den Wohlstand vermehrt und die schlummernden
Kräfte zu reichem Leben entwickelt; die meisten Regierungen, vor allem die
preußische, sind bedacht gewesen zu fördern, aufzumunteni, zu unterstützen und
zu neuem Fortschreiten anzuregen. Das Volk ist auch in de» Besitz der mate¬
riellen Mittel gelangt, um seine Aufgaben auf politischem Gebiete zur Lösung
zu bringen.
Wie schon angedeutet wurde, ist in der für die Geschichte eines Volkes
kurzen Zeit wenig zu Ende geführt, vieles nur begonnen, manches erst an¬
gestrebt. Es bedarf noch langer Arbeit und schwerer Kämpfe, ehe die Grund¬
rechte wirklich den festen unantastbaren und unangetasteten Grund unserer Rechte
bilden und wie viele Jahre könnten noch auf den innern Ausbau unserer Staaten
aufgewendet werden! Allein wir dürfen nicht dem Ideal vom besten Staat
nachstreben und darüber die nationalen Aufgaben bei Seite setzen. Es klingt
schön und volksthümlich zu rufen: erst frei, dann einig; aber der Ruf verhallt
im Winde, wo die Windsbraut gewaltiger Ereignisse unser Schiff in den Strom
wirft, der zur Einigkeit fluthet. Könnten wir wählen, nun dann ließe sich der
Ruf hören, obschon wir ihm ungern folgen möchten; allein es giebt keine
Wahl, der Strom ist mächtiger als das Wort Einzelner, als der Ruf einer
Parthei.
So drängt sich denn die Frage für alle aufrichtigen nationalen auf: was
wird aus den deutschen Grundrechten? Sollen sie einen Theil ihres neuen
Programms bilden oder soll man der unerbittlichen Logik der Thatsachen fol¬
gen und auf die Fahne schreiben: keine Grundrechte, ein geeinigtes Deutschland?
Wir glauben zu wissen, was Graf Bismarck auf die Frage antwortet. Er
würde den Frager lange ansehen und zum zweiten Male sagen: Foppen wir
uns nicht! Meine Grundzüge und nur meine Grundzüge! Was antwortet die
nationale Parthei?
Wir knüpfen hier wieder an die Betrachtung über die Entstehung der
Grundrechte an. Es wurde nachzuweisen versucht, daß die Grundrechte einem
Conflicte politischer und nationaler Interessen, der zu Gunsten der ersteren ge¬
löst wurde, ihren Ursprung verdanken. Man hatte — warum sollte es in der
hochgehenden Zeit anders sein? — die muthige Ueberzeugung, daß die Nation
als Nation und als Volk auf einmal neugestaltet werden könnte. Der Um¬
schwung aller Verhältnisse war so außerordentlich und überwältigend, daß die
Mittel und die Grenzen des Erreichbaren nickt in Erwägung gezogen wurden.
Da. fast das Unmögliche geschehen war. hielt man das Unausführbare für aus¬
führbar. Und es ist nicht zu'viel gesagt, mag es auch allzuviel Anstoß erregen,
daß die Reichsverfassung überhaupt unausführbar war.
Wie weit sie in nationaler Beziehung lebensunfähig, darüber belehrt die
Gegenwart und die nahe Zukunft alle, die belehrt sein wollen, zur Genüge.
Das Verhältniß zu Oestreich, die Aufrechthaltung der europäischen Sonderstel¬
lung Preußens, die Zwitterverbindung Schleswigsschon das allein war hin¬
reichend, um eine Gestaltung von Dauer zu hindern, wenn eine wirkliche Ge¬
staltung überhaupt möglich war. Man denke dann an die Fragen der Militär¬
gewalt und der völkerrechtlichen Vertretung, die jetzt wohl einstimmig als
ungenügend behandelt angesehen werden! Man vergegenwärtige sich endlich die
Lage Preußens mit seiner vielfach gehemmten und unentwickelten Macht und
man wird, ohne die Einflüsse der mannigfaltigen feindlichen oder ungünstigen
Zeitströmungen in Berücksichtigung zu ziehen, sagen müssen, daß die nationale
Gestaltung, welche die Reichsverfassung sich vorgesetzt hatte, an inneren Unmög¬
lichkeiten krankte. Diese Ansicht soll, wie wir allen Andersdenkenden mit größtem
Nachdruck bemerken, nicht eine Kritik sein; bei historischen Fragen von so großer
Tragweite verstummt die Kritik, die den Anschein des Besserwissens oder Könnens
hat und an ihre Stelle tritt die leidenschaftslose Prüfung der zusammenwirkenden
Verhältnisse.
Für eine ernste Erwägung politischer Möglichkeiten ist hiermit die Frage
von selbst ausgeschlossen, ob nicht wenigstens die Grundrechte, als der vorzugs¬
weise politische Theil der Reichsverfassung, Lebensfähigkeit behalten hätten. Wo
die Form keinen Halt erlangt, da kann der Inhalt zu einem eigenen Leben
nicht kommen. Und wie sollten die Grundrechte eine Ausnahme machen, die
sich meist auf allgemeine Sätze beschränken, deren Ausführung der Landesgesetz¬
gebung überlassen wurde und überlassen werden mußte. Sind manche Bestim¬
mungen der preußischen Verfassung gesetzgeberische Monologe genannt worden,
wie viel mehr verdienen die Grundrechte diese Kennzeichnung, die als fremdes
Erzeugniß in die Gesetzgebung der Einzelstaaten hineingeworfen wurden und
für deren Verwirklichung leine zwingende höhere Macht vorhanden war!
Es mag eigenthümlich erscheinen, daß, wie die vergleichende Darstellung
ergiebt, einzeln und im Einzelnen ins Leben geführt oder angebahnt wurde,
was zu gleicher Zeit als Ganzes und im Ganzen zurückgewiesen wurde. Aber
welche Betrachtungen man auch an diese Thatsache anknüpfen wolle, die Ein¬
schlagung dieses Wegs läßt sich nicht ungeschehen machen und man steht theils
vollendeten, theils halb vollendeten Thatsachen gegenüber. Warum nicht daraus
folgern, daß dieser Weg vielleicht sogar der natürlichere und geeignetere war?
warum sich nicht darüber freuen, daß das Angestrebte erfüllt ist oder der Er¬
füllung entgegenreift, wenn auch auf andere Weise, als gedacht und gewollt
wurde?
Wir gelangen hier zu einem Punkt, der ein offenes Wort verlangt. Jeder
Deutsche weiß, daß das politische Leben aus Compromissen zusammengesetzt sei,
so mancher kann von den Compromissen erzählen, die die englische Geschichte
aufweist. Kann man aber selbst Compromisse eingehen, zur rechten Zeit das
Eine preisgeben, um das Andere zu gewinnen? Wir denken, die nächste Zu¬
kunft wird uns lehren, ob es die geschultesten Politiker Deutschlands verstehen.
Die nächste Zukunft wird aber auch ein solches nationales Kompromiß ver¬
langen.
Sei man von der Nothwendigkeit, die Grundrechte in die neue Bundes¬
verfassung aufzuehmen, von der Zweckmäßigkeit, sie mit zu verkünden, noch so
überzeugt, wir deuteten schon an. daß die preußische Regierung diese Ansicht
zurückweist und nur die Einigkeit Deutschlands anstrebt. So lange Graf Bis-
marck die preußisch-deutschen Geschicke lenkt, wird die Politik, die in den Grund¬
zügen vom 10. Juni aufgestellt ist, befolgt und durchgeführt werden. Daran
kann nur zweifeln, wer die Erfolge Preußens jetzt noch bezweifelt. Eine Nach¬
giebigkeit Preußens in diesem Punkte ist — wir fügen hinzu, Gott gebe es, denn
an ihm hängt nach unserer Ueberzeugung das Gelingen des Werks — nicht zu
erwarten. Soll er denn geopfert werden?
Man könnte einhalten: was opfert Preußen? Wir wollen darauf zu ant¬
worten suchen. Die Opfer des Kriegs lassen wir außer Anschlag; sie machen
sich, glauben wir. schon für Preußen selbst bezahlt. Ist es aber kein Opfer,
daß Preußen, der Politik der freien Hand entsagend, sich an die Spitze stellt
und mit seiner vollen Macht in den Bund eintritt? Gewiß erlangt es dadurch
große Vortheile, aber opfert es nicht auch? Die bundesstaatliche Organisation
wird in ihren Anfängen und Grundzügen eine preußische Schöpfung sein, mit
den Eigenthümlichkeiten des preußischen Staats; öffnet sie aber nicht den preu¬
ßischen Staat ebenso gut wie die übrigen Bundesstaaten einem neuen Agens,
bahnt sie nicht eine unabsehbare Umwandelung Preußens ebenso gut wie der
andern Länder an? Und ist dieser Verzicht auf Selbständigkeit kleiner als für
Waldeck oder Mecklenburg? Sollte er dem großen deutschen Piemont nicht recht
viel schwerer als dem kleinen italienischen werden?
Gut, wird man achselzuckend sagen, wir wollen diese und alle Opfer, die
Preußen bringt, anerkennen; sie sind ebenso nothwendig wie die unsrigen.
Was helfen uns, der Parthei, der politischen Richtung. Opfer? Der Staat
bringt sie dem Staat, es geht aus einer Hand in die andere, wenn es nicht
etwa in derselben Hand bleibt. Wir brauchen Zugeständnisse und wo finden
wir diese?
Zugeständnisse! Die Unterlagen für die Bundesreform beschränken sich bis
jetzt auf die Grundzüge vom 10, Juni und das Wahlgesetz. Das letztere ist
mit einigen Abänderungen das Reichswahlgesetz, die Grundzüge geben Theile
der Reichsverfassung verkürzt oder auch wörtlich wieder; wo sie abweichen, da
ist es bedingt durch die einheitlichere Organisation des neuen Bundesstaats.
Ein Blick lehrt, daß man sich anlehnt an die Schöpfungen von 48 und 49,
daß man aufnimmt, was damals fallen gelassen wurde, daß man die verpfän¬
dete Ehre Preußens einlösen will, wie man sie bei Düppel und Alsen eingelöst
hat. Man sagt, das ist Politik, man kann nicht anders. Allein folgt man
immer dem, was man thun muß? Hat die preußische Politik sonst diese Rich¬
tung eingeschlagen? Ist das allgemeine Wahlrecht mit geheimer Abstimmung
das Programm des preußischen Ministeriums gewesen?
Die Menschen theilen sich in solche, die zu bekehren und solche, die nicht
zu bekehren sind. Wir wenden uns an die ersten mit der Frage: ob wirtlich
keine Zugeständnisse vorliegen, ob die Aufstellung des nationalen Programms
nicht ein einziges großes Zugeständniß bildet? Gewiß kann man hier sagen:
wer Augen hat zu sehen, der sehe!
Es bleibt eine Frage übrig, die wir mit einer gewissen Scheu nur be¬
rühren: „Die Forderung der Grundrechte ist ein Angriffspunkt gegen die bis.
marcksche Politik. Wir müssen fordern, was man nicht bewilligt, damit" —
„— damit, erlauben wir uns fortzufahren, nichts gewonnen und alles verloren
wird." Es giebt die Fähigkeit nichts zu lernen und nichts zu vergessen: sollte
man aber diese Fähigkeit nicht jenen Männern lassen, die recht eigentlich ein
wohlerworbenes Recht für sie zu haben scheinen?
Wir fassen unsere Ausführungen zusammen. Die Grundrechte trugen
1848 wesentlich zum Mißlingen der nationalen Bestrebungen bei, ohne für die
politischen in der Hauptsache einen andern als einen moralischen Erfolg zu er¬
zielen. Sie wurden fallen gelassen, um in der Gestalt theils von Einzelgesetzen,
theils in Verfassungen — man sehe die preußische — neue Form zu erhalten
und gingen auf diesem Wege in das staatliche Leben der Nation über. Das
was sie sein sollten, ein reichsrcchtlicbcs Bollwerk dcutschbürgerlicher Freiheit,
wurden sie nicht; was sie sein konnten — ein deutsches Urmaß für freiheitliche
Wünsche und Gewährungen — das wurden sie. Sie sind aufgegangen im
politischen Leben des Volks: nur theilweise volles und freies Eigenthum, theil¬
weise Verheißung, theilweise Gegenstand des Kämpfens und Ringens, aber eins
und verschmolzen mit unserm Sein. Will man noch Werth darauf legen, daß
ihr Buchstabe aufgefrischt und gewahrt wird? will man deshalb das Werk nur
einen Augenblick gefährden, das uns dein weltgeschichtlichen Ziele, dem Lohne
Jahrhunderte alter Bestrebungen entgegenführt? will man ejner Nechtscontinuität,
die keine Nechtscontinuität ist, das Gelingen eines „gewagten Unternehmens"
opfern, das die geistige Continuität mit den nationalen Ideen von 1848 in
sich trägt? will man immer wieder nach dem Unausführbaren streben, wo das
Ausführbare sichere Aussicht auf Erfüllung hat?
Unsere Antwort liegt in der Frage; unser Programm heißt: keine Grund¬
rechte, ein geeinigtes Deutschland; unser Feldruf ist: „frisch drauf"!
Geschichte des Landes Anhalt und seiner Fürsten. Von Gerhard
Heine. Köthen, 1866. Verlag von Eduard Heine.
Die Geschichte eines der kleinsten deutschen Kleinstaaten im Jahre 1866 dem
anhaltischcn „Volte" erzählt zu hören, hat fast etwas Rührendes. Denn dieses
historische Unternehmen gemahnt lebhaft an den Doppelsinn des „historischen" Inter¬
esses. Bis zu dem wahrscheinlich nicht mehr fernen Zeitpunkte indessen, von welchem
die kleinen Sonderexistenzen Deutschlands im Bewußtsein der zu ihren Jahren ge¬
kommenen Nation nur noch als Erinnerungen an Altvüterhausrath bestehen werden,
mag der vorliegende populäre Abriß der cmhaltinischcn Landesgeschichte als ein
brauchbares Nachschlagcbüchlein gern empfohlen werden. Ueberdies schreitet ja in
diesem kleinen Raume manche wackere Gestalt an uns vorüber, dcrelr Gedächtniß
zu bewahren nicht blos Pflicht des Specialpatrioten ist. Die Darstellung beruht
zwar nicht auf Originalforschungcn; aber von der einschlagenden Geschichtslitcratur
ist das Wichtigste benutzt und die Wiedercrzählung ist in den meisten Abschnitten
geschickt und schlicht, wenn auch hin und wieder der Liebhaber der Heimath etwas
zu stark hervortritt.
Leichter Muth hat der Friede den Deutschen nirgend gebracht; bis auf
den tiefsten Grund war unser Leben erschüttert, noch hat jeder Einzelne zu
thun, sich in den veränderten Verhältnissen zurecht zu finden. Schnell ist der
friedliche Verkehr eines Volkes gestört, nicht so leicht erhält der Schaffende und
Genießende, Kaufmann und Consument das Vertrauen auf die Festigkeit irdischer
Verhältnisse zurück. Und nicht nur die politische Verwickelung hat das Jahr
zu einem sorgenvolleiMemacht, auch die Krankheit, welche erst in unseren Jahren'
wie ein Gespenst in ihrem weißen Bahrtuch aus dem Orient herangeweht wurde,
liegt noch über dem Lande, und erst von der Winterkälte hofft man Befreiung.
Wer über die Opfer trauert, welche der deutsche Krieg dieses Jahres sich gefor¬
dert, der denke auch daran, daß die eine Krankheit, welche in demselben Jahre
herrschte, wohl mehr als die zehnfache Zahl der Menschen uns entrissen hat.
Aber über den ernsthaften Deutschen schien die Octobersonne in so reinem
Glanz, als, ob die, Natur durch goldenes Licht und reine Luft die verlorene
Lebensfrische wieder ersetzen wollte. Wer jef irgend vermochte, gönnte sich in
den letzten milden Wochen des Jahres späte Erholung. Der Jäger suchte sein
Waidgeräth hervor, der Städter floh in die Berge unter das fallende Laub der
bunten Baumwipfel. Auch in den großen Geschäften haben Wochen verhältni߬
mäßiger Ruhe begonnen, seit dem Schluß der preußischen Kammern haben
mehre Minister Berlin verlassen und beurlaubte Krieger suchen Erholung in der
Heimath und Heilung in solchen Bädern, welche späte Kur noch gestatten.
Unterdeß sind Hannover, Hessen, Nassau. Frankfurt dem preußischen Staate
feierlich einverleibt, in Frankfurt und Hannover war der Tag, wo des Königs
Patent Publicirt wurde, nur ein militärischer Festtag, er wird deshalb nicht
weniger segensvoll für die Bevölkerung dieser Territorien sein. Der preußischen
Regierung wird Nachsicht mit dem Trotz der Kleinen ziemen, denn auch sie
trägt einen Theil der Schuld, daß die Deutschen in den letzten Jahren nicht
politisch stärker und weiser geworden sind.
Unterdeß haben die Verhandlungen mit Sachsen aufs neue begonnen. Und
wieder beginnt ein auffallendes Durcheinander unsicherer und widersprechender
Gerüchte. Es ist Grund zu der Annahme, daß vor etwa vierzehn Tagen die
östreichischen und sächsischen Stimmen, welche eine für Sachsen ungewöhnlich
günstige Entscheidung prognosticirten, nichts Unwahrscheinliches meldeten, und
vielleicht wäre von ihnen bei größerer Discretion ein Erfolg erreicht, d. h. der
menschliche Antheil des Königs von Preußen bis zu einer Aeußerung gebracht
worden, deren Consequenz auch Graf Bismarck hätte übernehmen müssen. Die
Briefe aber aus der Umgebung des Königs von Sachsen und dem sächsischen
Heere mögen mit den erstaunten Fragen der Presse wohl eine unerwartete Wir¬
kung gehabt haben, die sächsischen ProPositionen wurden in letzter Instanz für
unannehmbar erklärt, und man mußte sächsischerseits auf die preußischen Aeuße¬
rungen neue Anerbietungen formuliren. Der Punkt, um welchen die Verhand¬
lungen fast ausschließlich schweben, ist die Militärfrage, in ihr liegen, wie man
annimmt, die Hauptschwierigkeiten der Verständigung. Wir vernehmen, daß
man preußischerseits die °von Sachsen angebotene militärische Verpflichtung des
Kronprinzen gegen den Bundesfeldherrn, welche die Integrität des von ihm
zu commandirenden sächsischen Heeres conserviren sollte, zurückgewiesen hat, und
daß man preußischerseits auf einer völligen Einfügung der sächsischen Soldaten
in das preußische Heeressystem besteht. Die neuen Offerten, welche die säch¬
sischen Bevollmächtigten nach Berlin getragen haben, sind unbekannt und werden
es wohl noch einige Zeit bleiben, da man jetzt mit größerer Discretion zu
Werke geht.
Wir werden also wohl noch fernerhin von Gerüchten leben müssen, und es
ist nicht zu verwundern, wenn diese sehr verschieden lauten. Denn ein absolutes
Stillschweigen ist bei einem Geschäft, an welchem Viele leidenschaftlich betheiligt
sind, doch nicht möglich. Die Verhandlungen selbst aber werden in Berlin
keineswegs an einer Stelle gepflogen. Während General v. Fabrice mit dem
Kriegsministerium verhandelt, haben Graf Hohenthal und Herr v. Friesen officiell
mit Herr v. Savigny zu thun und suchen außerdem ihre persönlichen Verbin¬
dungen zu Pflegen und den Antheil, welchen erlauchte Damen dieser Frage
gönnen. Es ist deshalb nicht zu verwundern, wenn auch in Berlin die An¬
sichten über das Wünschenswerthe und Erreichbare weit auseinandergehen, und
ebenso die Auffassung über den Stand der Verhandlungen täglich wechselt.
Hier dringt die Aeußerung einer liebenswürdigen Hofdame, dort die Meinung
eines konservativen Rathes im auswärtigen Amte oder wieder eines Beamten
aus dem Kriegsministerium in die Oeffentlichkeit. Selbst die officiösen Blätter
holen ihre Nachrichten aus solchen Quellen. Und wenn die Zeidlersche Corre-
spondenz gestern versicherte, die Rücksichten auf die europäische Stellung Preu¬
ßens und auf Sicherung des Weltfriedens hätten eine Abmachung mit Sachsen
in die größte Nähe gerückt, so versichert morgen wieder ein Korrespondent, der
sein Ohr einem andern officiellen Charakter genähert hat, es sei daran gar
nicht zu denken. Es wird gut sein, auf alle diese Nachrichten wenig zu geben;
zumal so lange Graf Bismarck fern von den Geschäften lebt, wird schwerlich
etwas entschieden werden. Wenn die Verhandlungen einmal dem Abschluß nahe
waren, so ist diese Situation vorbei, und wir werden uns in Sachsen darein
finden müssen, daß der Friede noch weit entfernt ist und daß namentlich in der
Militärconvention die Differenz zwischen den preußischen Forderungen und den
sächsischen Zugeständnissen noch sehr groß ist.
Was die preußische Negierung in dem Lande thun wird, wenn die Friedens¬
verhandlungen abgebrochen werden müßten, darüber wissen wir nichts. Aber
offenbar hält sie für nicht zeitgemäß, in dem bisher tolerirtcn Gange der Re¬
gierung etwas zu ändern, so lange die Verhandlungen schweben.
Die Hindernisse, welche der Militärconvention entgegenstehen, kommen im
letzten Grunde daher, daß Preußen in seinem und des Bundesstaats Interesse
etwas fordern muß, was nach der Anschauung aller Höfe einer Mediatisirung
des sächsischen Königshauses gleichkommt. Und der dahinter liegende größere
Uebelstand ist der, daß selbst durch eine Militäreonvention. welche in Wahrheit
das sächsische Heer unter Preußen stellt, immer etwas Ungenügendes geschaffen
wird, wenn das sächsische Königshaus daneben restituirt wird. Denn welche
Fälle sind hier möglich? Der erste ist, daß das gesammte sächsische Heer durch
Fahneneid an den Bundeskriegsherrn, also den König von Preußen, gebunden
und in seiner ganzen Organisation preußisch wird. Also preußische Aushebungs¬
commission, Militärgesetz, Exercitium und Bewaffnung, ein Offiziercorps, welches
ganz aus Preußen zusammengesetzt wird.
Bei solcher Heeresverfassung würde allerdings im Laufe der Jahre das
sächsische Volk preußisch werden, nur ist für ein Königthum von Sachsen da¬
neben offenbar kein Raum im Lande. Und Preußen seinerseits würde während
der nächsten Jahre mit widerspenstiger Mannschaft zu thun haben, und das
sächsische Offiziercorps würde in der preußischen Armee schwer untergebracht
werden können. Denn wenn dasselbe bei den sächsischen Regimentern die Ma¬
jorität hätte, so würde die Stellung der dazu commandirten preußischen Offi¬
ziere eine äußerst unbehagliche sein, nicht besser die der sächsischen Offiziere in
preußischen Garnisonen. Es ist sehr wohl möglich, daß Militärs, die vor
Kurzem gegen einander gekämpft haben, gute Kriegskameraden werden, aber
nach allem, was diesem Kriege vorausgegangen und gefolgt ist, ist man nicht
zu der Annahme berechtigt, daß zwischen den Gegnern von Königsgrätz an
demselben Offizierstisch ein gutes kameradschaftliches Verhältniß durchgesetzt
werden könnte. Die sächsischen Offiziere würden in der großen Mehrzahl als
unzufriedene Pensionirte im Lande leben, und Preußen würde für ein ganzes
Armeecorps Offiziere, und zwar tüchtige Führer in schwieriger Stellung zu
schaffen haben. Ein anderer Fall ist, daß nur das Offiziercorps, oder gar nur
die oberen Chargen preußisch würden, d. h. dem König von Preußen den Fahnen¬
eid ablegen, daß aber die Mannschaften in ihrem alten Verhältniß zu ihrem
sächsischen Kriegsherrn verbleiben, übrigens nach preußischem Muster organisirt
würden. Es bedarf keiner Ausführung, daß dieses Auskunftsmittel das schlech-
teste von allen ist, es giebt unsichere Soldaten und ein feindliches Verhältniß
zwischen Gemeinen und Offizieren oder zwischen Offizieren und Oberoffizieren.
Der dritte Fall endlich wäre, daß die sächsische Armee erhalten bleibt, und daß
nur ihr Commandeur dem obersten Kriegsherrn eidlich verpflichtet wird. Dieser
Ausweg hat allerdings den Uebelstand, daß die eidlich verpflichtete Persönlichkeit
bei ernstem Conflict der Regierungen von Sachsen leicht entfernt werden kann,
und daß alsdann der dünne Faden abgerissen ist, welcher das sächsische Heer in
Bundespflicht hält. Derselbe Ausweg nimmt aber auf der andern Seite, wie
schon früher hier bemerkt wurde, einer Anfügung des sächsischen Heers an die
Bundesarmee alle militärischen Schwierigkeiten.
Da diese Lösung aus politischen Gründen nicht gewählt werden kann und
von Preußen bereits entschieden zurückgewiesen ist, so bleibt nur der erste: Ein¬
verleibung des sächsischen Heeres in die preußische Armee.
Wenn aber dies durchgesetzt wird, dann ist für gemeinen Menschenverstand
unmöglich zu begreifen, wie das sächsische Königshaus neben einem preußischen
Heere in Sachsen wohnen und regieren soll. Und sollte dies Unverständliche
doch versucht werden, so würde auch Preußen Uebelstände zu tragen haben.
Denn es zieht den sächsischen Mann nur auf wenige Jahre zur preußischen
Fahne, er kommt aus einer Bevölkerung, in welcher der Gegensatz zu preu¬
ßischem Wesen durch ein heimisches erbittertes Regiment in schneidender Schärfe
erhalten wird und er kehrt in das bürgerliche Leben zurück, um die späteren
Jahre seines Lebens unter sächsischer Herrschaft zu verbringen; unter der Fahne
Schwarz-weiß, im Civil Grün-weiß, das kann in der nächsten Generation nicht
gut thun, allmälig freilich, wenn ein solches Verhältniß überhaupt Dauer haben
könnte, würden Soldaten und Bürger trotz alledew Preußisch werden,
Aus diesen Gründen ist man zu dem Schlüsse berechtigt, daß wenn Preußen
auf einer Einverleibung des sächsischen Heeres in das preußische fest stehen bleibt
— wie jetzt die Absicht ist — der Friede überhaupt nicht geschlossen wird, und
daß, wenn er doch zu Stande käme, ein solcher Friede nur der Anfang einer
in Kurzem eintretenden neuen Umformung der sächsischen Verhältnisse sein
könnte.
Für die preußische Regierung ist die Lösung der sächsischen Frage abhängig
von der Stellung der Großmächte in größeren europäischen Verwickelungen.
Grade jetzt zwingt der drohende Verfall der Türkei die Staaten zur Vorsicht
und zu neuen Allianzen. Es ist sehr möglich, daß die Entscheidung über das
Schicksal Sachsens abhängig wird von einer Entscheidung über das Schicksal
der Türkei. Denn das weiß man in Berlin, daß der deutsche Bundesstaat
nicht im Orient Preis und Frucht seiner Allianz zu suchen hat, sondern nur
auf deutschem Boden.
Während in Sachsen noch ein großer Theil des Volkes der Rückkehr seines
Königshauses harrt und darin das Ende der unangenehmen Aufregungen hofft,
welche dies Jahr gebracht hat, sind die Südstaaten in der entgegengesetzten
Lage, daß ihnen ihre Fürsten geblieben und für ihre inneren Angelegenheiten
die größte Freiheit der Selbstbestimmung bewahrt ist. Und doch sind sie nicht
zufrieden, sie haben reichlich, was sich ein großer Theil der Sachsen ersehnt und
sie ersehnen sich, was die Sachsen in ihrem loyalen Eifer gering achten, die
Perbindung mit dem Bundesstaat. Allerdings bildet die Bundesstaatspartei in
Bayern und Würtemberg nur eine kleine Minorität, aber die Unzufriedenheit
ist allgemein und sie wird nicht harmloser dadurch, daß die Meisten nicht wissen,
Was sie sich begehren. Unsere lieben Vettern im Süden, welche so stolz darauf
sind, daß sie die alte Urkraft der Germanen vertreten, sind durch den prager
Frieden aufgefordert, eine engere Verbindung ihres alten Germanenthums durch
eine Föderation der Südstaaten zu bewirken. Man ist versucht, anzunehmen,
daß die Friedeschließenden, als sie dem Süden diese Erlaubniß gaben, allerseits in
boshafter Laune waren. Zwar an dem warmen Herzen und der guten Theorie
der Völker haben wir nie gezweifelt, wie aber die Regierungen dort den neuen
Bund beginnen, das zu sehen ist überreich Gelegenheit geworden. Ihre mili¬
tärischen Befehlshaber haben zuerst bewiesen, daß die neue Zeit des Dämpfers
entledigt ist, welchen der alte Bund auf Preßüberschreitungen gesetzt hatte. Es
war ein klägliches und würdeloses Schauspiel, die gegenseitigen Anklagen und
Verdächtigungen zu lesen, der Bayern gegen Hannoveraner und Würtenberger,
der Würtenberger gegen Badenser. Das Stärkste in dieser Richtung ist aber die
Flugschrift: „Actenmäßige interessante Enthüllungen über den badischen Verrath
an den deutschen Bundestruppen in dem soeben beendigten preußisch-deutschen
Kriege. Stuttgart. 1866." Wer auch Verfasser dieses Angriffs sei, derselbe
muß offenbar unter den Auspickn des Prinzen Alexander von Hessen geschrieben
haben, da er aus den Acten des Generalstabes officielle Mittheilungen macht,
darunter von dem Prinzen Alexander unterschriebene Befehle; und er muß der
Regierung von Würtemberg nicht eben Anstoß gegeben haben, da man mehre
Auflagen unbeanstandet verbreiten ließ. Ja, die Flugschrift beansprucht gradezu
einen officiellen Charakter. Sie greift den Befehlshaber der badischen Division,
den Prinzen Wilhelm von Baden und hinter ihm den Großherzog selbst in
einer Weise und mit Ausdrücken an, welche der deutschen Presse auch bei Com-
promittirung eines jeden Privatmannes bis jetzt unerhört waren. Daß eine solche
Sprache, gleichviel ob die Vorwürfe selbst irgendeine Begründung haben, von
dem Mitglied eines regierenden Hauses gegen ein anderes geführt werden
konnte, das ist schon an sich Symptom einer auflösenden Zeit. Denn was war
bis jetzt das Letzte, was unseren Dynastien eine gewisse Haltung gab? die
Geschicklichkeit, sich vornehm und vorsichtig zu der Oeffentlichkeit zu stellen. Wer.
der Animosität so unterliegt, daß er diese letzte Virtuosität des hohen Adels
verliert, der macht das Publikum zu abfälligen Beurtheilern seiner Berechtigung,
in einU privilegirten Stellung unter uns Deutschen zu existiren. Nicht ohne
Grund hegten unsere erlauchten Familien bis jetzt die Empfindung, daß jede
Verminderung des Ansehens, welche ein Mitglied ihres hohen Standes traf, sie
alle beschädige. Wir constatiren, daß man in Süddeutschland diese Vorsicht des
vornehmen Selbstgefühls aufgegeben hat und öffentliche Beleidigungen auf das
Haupt eines Standesgenossen häuft, in einem Ton und Eifer, wie er ungefähr
der neuen frankfurter Presse geziemt hätte.
Was aber die Beschuldigungen selbst betrifft, so sind sie in der starken
Parteiverblendung geschrieben und verschweigen die Hauptsache, welche das Ver¬
halten des badischen Divisionärs motivirt.
Als der Krieg begann, wurde gegen das Statut desselben seligen Bundes,
dessen Verfassung zu vertreten sich die Südstaaten den Anschein gaben, das
achte Armeecorps zusammengesetzt, indem man nicht nur nassauische, auch
östreichische Truppen dazu zog und, während man noch eine neutrale Stellung
beanspruchte, einen östreichischen General zum Corpsführer wählte. Mit einem
Bruch des Bundesrechts sing man den Krieg an, man zwang Baden zum Bei¬
tritt, indem man das Fürstenhaus mit Vergewaltigung bedrohte.
Der Großherzog gab nach, weil er nicht nur von Bayern und Würtemberg,
auch von der Majorität seines eigenen Volkes und Heeres bedrängt war, welche
in demselben wüsten Kriegstaumel schwärmten, wie die Schwaben und Bayern.
Wenn er widerstand und sich persönlich für Preußen erklärte, wurde das Land
von den Bundestruppen besetzt, er verlor die Disposition über sein Heer, das
badische Volk und Heer wurden für. die Zwecke eines kopflosen Krieges aus¬
genutzt, seine Soldaten einer elenden Kriegführung geopfert. Und wozu? um
den stillen Wunsch des Hauses Würtemberg nach einer Vergrößerung seines
Landbesitzes zu erfüllen. Ohne Zweifel empfand er als Landesherr, daß seine
Stellung nicht die eines Privatmanns war, und daß er sich der Verpflichtung
nicht entziehen durfte, der Vormund seines aufgeregten Volkes zu bleiben, das
heißt so viel als möglich seinem Lande und seinem Heere unnütze Opfer an
Lieferungen und Menschenblut zu ersparen. Er fügte sich in das Unvermeid¬
liche mit der damals in Süddeutschland seltenen Einsicht, daß dieser Krieg ein
ungerechter, unnöthiger und unheilvoller sei und ein schlechtes Ende für die Be¬
theiligten nehmen werde.
Und wenn seinem Bruder, welchem er das Heer anvertraute, nicht seine
Auffassung der politischen Lage dieselbe Ueberzeugung begründet hätte, so mußten
ihm, der in der preußischen Armee seine Schule durchgemacht hatte und ungefähr
wußte, was kriegerische Ordnung heißt, doch sicher die militärischen Verhältnisse
des achten Armeecorps den letzten Zweifel nehmen. Es war eine Reichsarmee
in des Wortes ärgster Bedeutung, trotz dem guten Material, welches die Truppen
boten, die jämmerlichste Desorganisation. Der Herzog von Nassau, der Groß-
herzog von Darmstadt, jeder dachte daran, seine Truppen speciell zu leiten, zu
schonen, womöglich nur zum Schutz des eigenen Landes zu verwenden. Es
wäre doch ein ungewöhnlicher Grad von Selbstentäußerung gewesen, Wenn
Baden unter diesen Umständen anders verfahren wäre.
Die in der Flugschrift mitgetheilten Belege — einige flüchtig geschriebene
Rapporte — beweisen zur Zeit nichts, man müßte erst den Prinzen selbst
und seine Vertheidigung hören, welche dem Vernehmen nach erscheinen soll, zur
Zeit nicht in unseren Händen ist. Aber es ist sehr möglich, daß das Commando
der badischen Division dem Befehl des Corpscommcmdos keinen eifrigen Ge¬
horsam bewiesen hat und mehr darauf bedacht war, Baden zu schützen; als sich
für Oestreich zu opfern. Die Berechtigung zu diesem Verfahren konnte derselbe
jeden Tag in der absoluten Kopflosigkeit des Kommandos, der allgemeinen Con-
fusion und der Zwistigkeit zwischen dem Prinzen Karl von Bayern und dem
Prinzen von Hessen finden. Es war der Fluch dieses ruchlos begonnenen
Krieges, daß Zank der Führer und wüstes Durcheinander der Befehle überall
den etwa möglichen Erfolg verdarb. Wer mit wohlmeinenden Urtheil in diese
elende Wirthschaft sah, der durfte sich vorkommen wie ein nüchterner unter
Trunkenen.
Es ist ohne Zweifel keine beneidenswerthe Lage in einer Armee, welche
durch ihre Zusammensetzung und durch ihr Commando zu ernsten militärischen
Leistungen untüchtig wird, einen Befehl zu haben, aber es ist höchst ungerecht,
dem Befehlshaber eines einzelnen Contingentes Vorwurf daraus zu machen,
daß er nicht freudig und willfährig das Unverständige und Gemeinschädliche
that, was ihm einmal befohlen wurde. Ohne Zweifel empfand Prinz Wilhelm
von Baden peinlich die Collision zwischen militärischer Subordination und
politischer Pflicht, aus der Brochure ist zu ersehen, wie er bemüht war beide
zu versöhnen. Daß ihm dies nicht zur Zufriedenheit von Würtemberg gelungen
ist, darüber darf man sich nicht wundern, ist doch eine Versöhnung zweier un¬
vereinbarer Interessen überhaupt unmöglich. Er war aber nach der unsinnigen
Militärverfassung des alten Bundes nicht nur dem Corpsführer, sondern auch
seinem Kriegsherrn zum Gehorsam verpflichtet. Daß er in solcher unklarer
Stellung auf militärische Anerkennung verzichten mußte, ist natürlich, aber er
hat nach unserm Erachten in der Hauptsache grade das gethan, was ihm in
seiner precciren Lage übrig blieb, er hat in einem Bruderkrieg, der durch die
süddeutschen Regierungen in urtheilsloser Selbstverblendung gewollt war, das
Volk und Heer von Baden so weit vor Unheil bewahrt, als er dies zu thun
vermochte, ohne eine gewaltsame Krisis über den Staat Baden und seine Divi¬
sion heraufzubeschwören. Daß er dieser Pflicht gegen sein Vaterland sich unter¬
zogen, dafür wird ihm zuletzt Baden dankbar sein und mit Ausnahme der öst¬
reichischen Partei im Süden auch das übrige Deutschland.
Daß der Prinz aber dieser Pflicht und den Befehlen seines Bruders genügt
hat, ohne den militärischen Anstand zu verletzen und ohne mit den Preußen zu
conspiriren, während er im Bundescommando stand, das sollte selbst der Haß
politischer Gegner nicht bezweifeln. Den Verdächtigungen, die nach dieser Rich¬
tung ausgesprochen werden, fehlt jeder Schatten eines Beweises. Aber von
allen Arten des Hasses, welcher des Menschen Urtheil verdirbt, ist der Haß
solcher, die durch ihre eigene Unfähigkeit besiegt worden sind, der allerbitterste.
Die erwähnte Flugschrift aber hat einen Nutzen, sie läßt errathen, was
Deutschland von den östreichisch gesinnten vornehmen Häusern Süddeutschlands
zu erwarten hat. Die militärische Vereinigung von Bayern, Würtemberg und
Baden ist jetzt unmöglicher, als sie je war.
Wir dürfen unter diesen Umständen fröhlich der Anziehungskraft vertrauen,
welche der preußische Bundesstaat auf den deutschen Süden ausüben wird.
Nach Wochen der größten Erregung ist jetzt in Geschäften und in der Stim¬
mung eine Ruhe eingetreten, sie ist nur wie die Ebbe nach einer großen Fluth--
weite, ihr wird eine neue Erhebung folgen, wenn das Parlament des preußischen
Bundes zusammentritt. Dann erst wird die Nation den Segen der großen
Wandlungen lebhaft empfinden und in den Debatten sich schnell in die Um¬
wandlungen einleben. In Sachsen aber wie in dem Süden wird diese Ver¬
sammlung die separatistischen Wünsche kräftig bändigen. Jetzt steht die prell-
ßische Regierung noch allein den abgeneigten Parteien gegenüber, sie darf ver¬
trauen, daß eine Versammlung, welche alle Stämme bis zum Main nicht in einem
zukünftigen, sondern auf sicheren Grundlagen eines gewordenen Staates ver¬
einigt, auch auf die Deutschen, deren Verhältniß zu diesem Staate noch unklar
ist, eine unwiderstehliche Wirkung ausüben wird. Gutes Wort und gerechte
Rede thuns nicht allein, aber sie sind von je unentbehrlich gewesen, um daS
Erörterung und verständige Betrachtung liebende Herz der Deutschen zu ge¬
winnen.
Vor einigen Wochen wachten diese Blätter eine Blumenlese aus wiener
Zeitungen, welche die unglaubliche Befangenheit der öffentlichen Meinung in
Oestreich, ihr keckes Umspringen mit der Wahrheit unwiderleglich bewies.
Darüber herrschte nun in Wien großer Aerger. Das eine Journal verlangt,
die Dramen des Herausgebers der Grenzboten sollen vom Repertoir des Hof¬
burgtheaters gestrichen werden, das andere wünscht seine Romane in den Bann
gethan, ein wiener Correspondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung endlich
glaubt den ärgsten Trumpf auszuspielen, indem er behauptet, der Herzog von
Koburg habe den Artikel bestellt, um sich an den wiener Journalisten für die
geringe Anerkennung zu rächen. Es ist — nebenbei gesagt — überaus charakte¬
ristisch, daß in keinem Lande die Zweifel, ob man in der Politik von der Ueber¬
zeugungstreue geleitet werde, so häufig wiederkehrt, wie in Oestreich. Der
Herzog von Koburg wird sich den Vorwurf, daß er die Grenzboten beeinflusse,
nicht zu Herzen nehmen, der Herausgeber wird sich gleichfalls in das Schicksal
ergeben, nicht mit „Rokambolo dem Galeerensträfling" und andern beliebten
Feuilletonromancn die Gunst derjenigen Wiener zu theilen, welche durch die
Phrasen ihrer Zeitungspresse beeinflußt werden. Wird aber dadurch die Be¬
schuldigung, daß die wiener Presse ihre Pflicht schlecht erfüllt, entkräftet? Ebenso
wenig als Lügen und Verleumdungen durch Wiederholung und Steigerung zur
Wahrheit werden. Wohl war man zu der Hoffnung berechtigt, daß wenigstens
nach hergestellten Frieden die Besinnung zmückkchren, nicht mehr die erhitzte
Einbildungskraft, sondern der ruhig prüfende Verstand den Nedactionsstift
führen werde. Je schimpflicher und erbärmlicher der siegreiche Feind geschildert
wird, desto größere Schmach trifft ja den Besiegten. Die Hoffnung wurde aber
bitter getäuscht, in den letzten Wochen das alte Schimpfgeschäft unverdrossen
fortgesetzt.
Um künftigen Recriminationen vorzubeugen, sei schon jetzt bemerkt, daß
nicht an jedem Tage alle Journale in dasselbe Horn stoßen, daß der eine und
der andere Leitartikel billigere Urtheile aiisspricht. die eine und die andere Zei¬
tung heute oder morgen vom Gesammtchore sich trennt. Man kennt die Riva¬
lität der wiener Hauptblätter; das Gegentheil von dem, was die „Neue Presse"
behauptet, erscheint der „Alten" unwillkürlich als die bessere Wahrheit, das
„alte Frcmdenblatt" braucht nur etwas schwarz zu nennen und sicher entdeckt
das „neue Fremdenblatt" die Weiße Farbe daran. Dieses zugegeben und auch
bereitwillig erklärt, daß die alte Presse und das neue Fremdenblatt allen andern
Zeitungen im Deutschenhaß den Rang ablaufen, muß dann mit dem alten
Nachdruck wiederholt werden, daß die Durchschnittsstimmung der wiener Organe
sich nicht geändert hat. jetzt wie im Juni und Juli kein Unsinn groß genug
erscheint, der nicht als pure Wahrheit dem leichtgläubigen Volte vorgetischt
wird, daß die in den meisten Journalen stereotype Jnvasionschrvnik, die Kor¬
respondenzen vom Lande, die FcuiUctonnotizen über das Austreten der Preußen
grade so viel Lügen enthalten, wie die früheren Berichte vom Kriegsschauplatze.
Und. wohlgemerkt. Lügen, die man als solche aus der Stelle entlarven mußte.
Denn daß der König von Preußen dem Gastwirthe nicht mit der Zeche durch¬
brennt, daß es kein Lieblingsvergnügen der preußischen Offiziere ist, die Bett¬
stelle als Nachtstuhl zu benutzen, daß man den Corporalstock in Preußen nicht
kennt, das konnte, das mußte man auch in Wien wissen.
Wir finden es begreiflich, wenn der Besiegte seine Niederlage verkleinert
und beschönigt. Es möge also immerhin das Zündnadelgewehr das ganze Ver¬
dienst des Sieges für sich in Anspruch nehme», es mag richtig sein, daß die
Preußen bei Chinin durchbrachen, weil sie durch „Verrath" sich in den Besitz
der östreichischen oräiL 6s bataills vom 11. Juni gesetzt hatten; wir wollen
nicht markten über die Zahl der Verräther und Spione, welche angeblich der
preußischen Armee den Elfolg in die Hände spielten; wir wollen nicht darüber
streiten, ob in der That alle Photographen, Botaniker. Agenten. Handelsreisende
und Wcrtelmänncr, welche in den letzten Jahren Böhmen durchstrichen, ver¬
kappte preußische Generalstabsossiziere waren oder nicht. In diesen Behaup¬
tungen liegt allerdings viel Blödsinn, er wird aber durch eine patriotische Em¬
pfindung entschuldigt. Wäre es natürlich zugegangen, so hätten, denkt der
beschränkte Patriot, die östreichischen Waffen nicht den Kürzeren ziehen können.
Es handelt sich aber um Anderes. Wenn sich deutsche wiener Blätter, ohne
im eigenen Lande gebührend abgefertigt zu werden, darin gefallen, die preu¬
ßische Armee als eine Räuberbande darzustellen, wenn sie Offiziere und Mann¬
schaft schlechthin als Diebe bezeichnen, welchen der „Unterschied zwischen Mein
und Dein unbekannt ist", wenn sie „Magenberstung" als eine gewöhnliche
Krankheit bei den preußischen Truppen schildern, wenn sie von preußischen Libe¬
ralen behaupten, Bismarck könne sie durch eine Gänseleberpastete erkaufen, wie
ja auch die preußischen Soldaten nur nach Oestreich zogen, um sich hier einmal
satt essen zu können, wenn sie deutsche Aolksstcunme „Hunde" tituliren, welche
die Hand des Herrn, der sie prügelt, noch lecken, so beschimpfen sie den deutschen
Charakter, so untergraben sie ihre eigene Stellung. Das deutsche
Element in Oestreich kann sich nicht auf sein numerisches Uebergewicht berufen,
es kann sich auch nicht mehr, wie in früheren Zeiten rühmen, daß das deutsche
Reich ihm den Rücken sichere, sein bester Rechtstitel war den fremden Völkern
gegenüber der Besitz der größeren Bildung. Mochten auch die nichtdeutschen
Stämme sich öffentlich von dem deutschen Culturleben lossagen, insgeheim
nährten sie sich doch nur von demselben und wenn auch widerwillig, erkannten
sie doch stets die Suprematie der deutschen Mitbürger in geistiger Beziehung
an. Diesen Nimbus zerstören die Deulschöstreicher leichtsinnig in ihren Organen.
Alles, was von den Panduren und Kroaten ausgesagt wurde, das gilt von
den Deutschen, so lautet das Thema, welches tagtäglich von wiener deutschen
Zeitungen variirt wird.
Glaubt man, durch diese Verunglimpfung deutscher Männer — zwischen
Preußen und Bayern und Badensern wird kein merklicher Unterschied gemacht
— die verlorene Stellung im „Reiche" wieder gewinnen zu können? Die
wiener Staatsmänner und Publicisten sind in einer argen Täuschung begriffen,
wenn sie wähnen. Oestreich genieße noch jetzt in Deutschland das gleiche An-
sehn wie vor dem Kriege, die Niederlage bei Königsgrätz hätte ihm nicht die
Herzen entfremdet. Als aber gleiwzeitig mit der Nachricht von der Schlacht
sich die Kunde verbreitete, die östreichische Regierung berge sich unter dem Mantel
Napoleons, bemühe sich, die Intervention Frankreichs herbeizurufen, da fiel es
wie Schuppen von den Augen. Die ehrlichen Großdeutschen verfluchten am
lautesten die Politik, welche lieber ein Volk Vernichten hilft, als daß sie einen
Cabinetsvortheil aufgäbe. Daß die aimer Presse seitdem nicht aufhört zu
Hetze», nicht den Augenblick erwarten kann, bis die Zuaven Deutschlands Strom
wieder zu Deutschlands Grenze machen, hat das Verhältniß Oestreichs nicht
verändert oder verbessert. Sprößlingen bedrohter deutscher Fürstcnfamilien ist
es erlaubt, auf Frankreichs Einmischung zu hoffen, denn diese haben nur ihr
dynastisches Interesse zu wahren. Wer aber im Namen des deutschen Volkes
sprechen will, darf nicht Napoleons Langmuth unbegreiflich finden, darf nicht
mit offener Schadenfreude auf die gesteigerte Eifersucht Frankreichs hinweisen.
Nichts hat mehr dazu beigetragen, den Glauben an die deutsche Gesinnung der
Oestreicher zu erschüttern, als ihre Gleichgiltigkeit gegen die Integrität des
deutschen Bodens, nichts beweist den geringen Zusammenhang zwischen Deutsch¬
land und Oestreich so deutlich, als die hier unumwunden ausgesprochene Sehn¬
sucht, recht bald mit Frankreich gegen deutsche Heere zu kämpfen. Daß nicht
alle Deutschöstreichcr diesen Wunsch theilen, ist wohl gewiß; wären aber nicht
blos Einzelne, sondern die Masse der Bevölkerung deutscher Empfindungen fähig,
wie könnte das Kvkettiren mit den Franzosen sich ungestraft in der Presse breit
machen? Oestreich ist. Dank dein Siegesmarsche der preußischen Heere, für die
Deutschen keine terrg. iueoZiritg, mehr. Ehemals, wenn Ultramontane, diese
treuesten Verbündeten Oestreichs, dem rheinischen Bürger und Arbeiter die öst¬
reichischen Zustände als paradiesisch schilderten, von der Macht des Kaisers,
von der Tüchtigkeit des Volkes, der deutschen Brüder am Moldau- und Donau-
Strande, begeistert sprachen, wie schön da zu wohnen, frei und glücklich zu
leben sei, da mußten wohl die Leute daran glauben, denn Oestreich kannten sie
nicht, und ihre ultramontanen Rathgeber waren in ihren Augen ehrenwerthe
Männer. Seitdem die rheinischen Jungens auf ihren Gruß regelmäßig von
den deutschen Brüdern das »lo nsro^naun zur Antwort empfangen, seitdem
sie sich persönlich von der östreichischen Misere in politischer und wirthschaftlicher
Beziehung überzeugt haben, sind sie für das Lob des Kaiserstaates stumpf ge¬
worden. Mögen die Jesuiten von Maria Laach jetzt noch so inbrünstig für die
Wiederherstellung der östreichischen Macht in Deutschland beten, die rheinische
Jugend, die bei Königsgrätz gekämpft hat, bewegen sie nicht, wohl aber be¬
wegen die Lebenserfahrungen dieser Jugend die Herzen und verändern die
Meinung der Alten. Im deutschen Süden ist es wohl kaum anders bestellt;
das wüste Geschrei über den Verrath der Bundesgenossen, während doch die
eigene Leistung alles zu wünschen übrig ließ, hat die östreichische Partei hier
gewciüig gelichtet.
Das Eine möge man sich in Wien gesagt sein lassen: mit der alten herr¬
schenden Stellung Oestreichs in Deutschland ist es vorbei, und wenn jemals
die deutschen Provinzen Oestreichs in eine engere politische Verbindung mit
Deutschland treten sollten, so kann dieses nur unier der Aegide Preußens ge¬
schehen. Aber auch das Andere dürfen die Deutschöstreicher nicht übersehen:
die schwerste und heftigste Krisis ist in diesem Augenblick über sie angebrochen,
nicht mehr und nicht weniger als ihre Existenz steht in Frage.
Wir sind weit entfernt, die Deutschen in Oestreich für die Mißgriffe der
Regierung verantwortlich zu machen. Es war im Jahre 1849 möglich, die
Dictatm des deutschen Volksstammes in Oestreich zu begründen und zum Heile
des Staates durchzuführen. Grobes Unrecht war begangen, viel Blut vergossen
worden. Geführt konnte das alles nur werden, wenn man den niedergewor¬
fenen Stämmen ein neues, reicheres Leben zuführte, sie mit materiellem Wohl¬
stande bedachte, zu geistiger Selbständigkeit zog. Die Rolle der Deutschen hätten
die Zeitgenossen verflucht, aber die Nachkommen gesegnet, denn über die reichen
Fluren Ungarns hätte sich der Strom gediegener Cultur verbreitet. Man hätte
anfangs die gewaltsame Weise der Beglückung beklagt, später sich aber mit der
neuen Lage ausgesöhnt. Der Absolutismus in den fünfziger Jahren war nur
groß im Kleinen. Polizeichicanen nannte man Regierung, Vielschreiberei hieß
Administration. Eine kostbare Zeit ging verloren, der Augenblick, in welchem
das Centralisationssystem, das seiner Natur nach in Oestreich nur absolutistisch
sein kann, siegreich-durchgeführt werden konnte, wurde nicht benutzt. Wir be¬
greisen, daß sich jetzt die Deutschöstreicher dem Dualismus zuwenden. Kann
Oestreich nicht centralistisch regiert werden, so ist der Dualismus die einzige
Form, welche den Deutschen ihren politischen Einfluß sichert, vorausgesetzt, daß
diese nicht, wie es leider allen Anschein hat, auch den Dualismus für sich ver-
hängnißvoll gestalten.
Scheinbar stellen sich die Dinge noch ziemlich gut für die Deutschen an.
Die Magyaren, ihrem alten Ruf politischer Klugheit diesmal wenig entsprechend,
haben sich die günstigste Gelegenheit entschlüpfen lassen, ihre Ansprüche zur An¬
erkennung zu bringen. Im Juli würde die wiener Hofburg jede Bedingung
des endlichen Friedens mit dem mächtigsten Königreiche unterschrieben haben.
Deal, das magyarische Orakel, versteht aber nur Programme zu schreiben, sie
zu verkörpern besitzt er nicht den Muth oder nicht die Kraft; er ist der Re¬
gierung unbequem, aber nicht furchtbar, wie es ein volksthümlicher Agitator
nach der Schlacht bei Königsgrätz hätte werden können. Es galt, in Wien die
Angst vor einer magyarischen Jnsurrection zu nähren und zu steigern, auf der
andern Seite das Gewähren der bekannten Forderungen als ein untrügliches
Mittel zu schildern, welches die Loyalität aller Ungarn wecken muß. Bei dem
fanatischen Haß des Hofes gegen Preußen würde man schließlich nachgegeben
haben, um nur der preußischen Bundesgenossenschaft Klapkas ein Gegengewicht
zu bieten. Die Magyaren versäumten den rechten Zeitpunkt. Ihre Zeitungen
erörterten wohl breitspurig die staatsrechtliche Frage, ob die Preußen zum Be¬
treten des ungarischen Bodens berechtigt sind, ohne vorher dem ungarischen
Könige den Krieg anzukündigen, zu einem thatsächlichen Eingreifen konnten
sich ihre doctrinären Führer nicht verstehen. Nun ist der Friede abgeschlossen,
östreichische Soldaten wieder im Lande, die wiener Regierung im Besitze voller
Freiheit. Wenn nicht äußere Schwierigkeiten des Cabinets eine günstige Wen¬
dung der ungarischen Frage herbeiführen, dürfen die Magyaren nicht hoffen,
von der Regierung ihr volles Recht zu erlangen. Sie müssen sich um Verbün¬
dete umsehen, und das sind einzig und allein die Deutschöstreicher. Insofern
sind die letzteren besser gestellt. Gefahrlos ist aber der Dualismus für dieselben
noch keineswegs.
Der enge Anschluß an die Magyaren, die denn doch nur die bloße Per¬
sonalunion befriedigt, setzt sie nicht allein in einen feindseligen Gegensatz zu
jeder wiener Negierung, es sei denn, daß diese sich vollständig mit den Ungarn
identificirt. was schwer anzunehmen ist, sondern verpflichtet sie auch, diesseits
der Leitha das strengste Centralisationssystem zu empfehlen. Glauben sie denn
etwa, die viel zahlreicheren slavischen Stämme werden sich die deutsche Herrschaft
geduldig gefallen lassen, nachdem ihnen wiener'Zeitungen täglich predigen, die
Deutschen seien ein erbärmliches Volk, die norddeutschen Sieger eine brutale
Race, die süddeutschen Besiegten ein verkommenes Geschlecht, das sich unter dem
tyrannischen Drucke Preußens nicht einmal zu krümmen wagt? Sind die
Deutschen außerhalb Oestreichs so schlecht, wie sie die wiener Presse schildert,
so sind es die Deutschen in Oestreich nicht minder und eben auch nur werth,
mit den Füßen gestoßen zu werden. Diese Consequenz haben bereits die
nichtdeutschen Stämme gezogen und werden sie offen aussprechen, sobald
ihnen der Augenblick dazu passend erscheint. Und schlagen sich die Deutsch¬
östreicher, was wahrscheinlicher ist. auf die andere Seite, helfen sie dem Mini¬
sterium die sogenannten Uebergriffe der Magyaren bekämpfen, so bedroht sie
eine andere Gefahr. Jede den Magyaren zugefügte Schlappe kräftigt die Sla¬
ven, zunächst jene, die Ungarn bewohnen, dann aber auch die außerungari-
schen Slaven Oestreichs. Nun kennt man aber den Fanatismus der letzteren,
sich auch in der Bildung von den Deutschen unabhängig zu stellen. Sie
würden, sobald sie gekräftigt sind, den Deutschen den Krieg erklären, jubeln,
daß sie die allen gehässigen Lehrmeister einmal ihre Macht fühlen lassen können
und auf die Vernichtung des deutschen Elementes in Oestreich lossteuern. Werden
die Deutschöstreicher stark genug sein. Widerstand zu leisten? Das Schicksal des
Abgeordnetentages von Aussee, wo die einige deutsche Gesammtvartei in das
Leben gerufen werden sollte, der nächste Tag aber schon Zwiespalt und arge
Mißverständnisse offenbarte, verringert die Hoffnung, zumal zahlreiche Deutsche
in Oestreich ihre Eigenthümlichkeit darin finden, kein politisches Bewußtsein
zu besitzen, jeder herrschenden Partei zu dienen. Wenn sie aber im Gefühl ihrer
Hilflosigkeit den Schutz der Stammgenossen ansprechen wollten, würde nicht bis
dahin der Haß, welcher von einzelnen wiener Blättern geschürt wird, seinen
Schatten geworfen, Norddeutschland, das allein Hilfe bringen könnte, sich dann
gewöhnt haben, in den Dcuischöstreichern unversöhnliche Gegner, ein sremdgewor-
denes Glied der deutschen Nation zu erblicken? Die Schleswig-holsteinischen Par-
ticuiaristen waren wenigstens so klug, mit der Enthüllung ihrer Tendenzen bis
nach ihrer Befreiung zu warten. Die Deutschöstreicher. welche schon jetzt die
Zerstörung des deutschen Einheitsstaates in ihr Programm aufnehmen, trauen
uns doch nicht die Gutmüthigkeit zu, sie zu stützen und im Ansehen zu er¬
halten?
In welcher Richtung man auch blicken mag. als die Grundlage deutscher
Macht in Oestreich tritt uns stets die Achtung und die berechtigte Furcht ent¬
gegen, welche die anderen Stämme ihr entgegentragen. Diese Achtung zerstören
die Organe der Deutschöstreicher muthwillig. Oder ist es erhört, daß Leute,
welche unaufgefordert sagen, ein östreichischer Patriotismus erfülle sie nicht voll¬
ständig, befriedigt seien sie nur durch die Verbindung mit Deutschland, in dem¬
selben Athemzuge die Deutschen schelten und den letztern jedes Recht zur selb¬
ständigen Constituirung absprechen? Ob der nächste große Krieg über einem
Jahre oder erst nach einem Jahrzehnt ober noch später losbrechen wird, weiß
niemand. Wir alle fürchten, ja erwarten ihn, wir alle wissen das Eine, daß
Oestreichs Regierung sich den Feinden Preußens und .des dann hoffentlich schon
befestigten deutschen Einheitsstaates zur Seite stellen, gegen die Mehrheit der
Deutschen kämpfen werde. Nach den Aussprüchen der deutsch-östreichischen Or¬
gane zu schließen, darf das wiener Cabinet in einem solchen Falle auf die
eifrige Mitwirkung der Deutschösireicher hoffen; kein Cabinetskrieg, sondern ein
Volkskrieg wird sich entspinnen. Ist diese Voraussetzung begründet, so ist auch
jeder Zweifel, was die Pflicht von einem preußischen Staatsmann fordert, be¬
seitigte Er wird um jeden Preis den politischen Einfluß der deutsch-östreichischen
Partei durchkreuzen, er wird sich bemühen, ihr ein Gegengewicht in Oestreich
selbst zu schaffen oder wenn dieses für seine Macht zu viel sagen sollte, er wird
ihre politischen Gegensätze im Kaiserstaate begünstigen. Daß solche vorhanden
sind und als Himmschuh bei allen Verfassungs- und Machtfragen wirken können,
wenn sie auch für sich kein positives Staatsprincip zu schaffen vermögen, weiß
man in Wien recht gut. An ihrem Widerspruche scheiterten bis jetzt noch alle
Versuche, Oestreich neu zu organisiren. Sie zu gewinnen, hält gleichfalls nicht
so schwer, als man in Wien gemeinhin glaubt. Wenn in der Vergangenheit
dazu kein ernster Ansatz gemacht wurde, so erklärt sich dieses aus der natürlichen
Scheu, die Grenze» deutscher Bildung zu schädigen. Nachdem nun aber aus
deutsch-östreichischen Kreisen der Bruch mit der „corrumpirten, bedientenhafter,
nur für den Cäsarismus noch empfänglichen" deutschen Natur verkündigt wurde,
fällt diese Rücksicht fort.
Das deutsche Element war in Oestreich nicht ernsthaft gefährdet, als
großmäulige Czechen im wiener Reichstage 1848 decretirten: „Nur so lange wir
Slaven wollen, besteht Oestreich." Schon um dieses Wollen verständlich zu
machen, war die deutsche Sprache unentbehrlich. Es wurde nicht ernstlich ge¬
fährdet durch die Concordatspolitik und des jüngst wieder zu Ehren gekommenen
Gvluchowski, sarmatischen Andenkens, Ministerium. Grade die groben Angriffe
auf die deutsche Bildung und das nur in Deutschland freie Gedankenleben stählt
und kräftigt es. Jetzt erst droht dem Deutschthum in Oestreich eine große
und ernste Gefahr, weil seine Vertreter es selbst verlciugnen, auf die Mehrzahl
der Deutschen Schimpf und Hohn häufen, weil sie den nothwendigen und un¬
erbittlichen Gang der Geschichte absichtlich verkennen, gegen die Entwickelung
einer selbständigen deutschen politischen Macht eigensinnig sich sperren. U-it
weil die Gefahr so groß und ernst ist, muß das harte Wort wiederholt werden:
die deutsche Presse in Oestreich thut nicht ihre Pflicht, die Deutschöstrcicher üben
nicht ihre Schuldigkeit. —
Die Beschimpfungen, mit welchen zuversichtlich diese Anklage wird- be¬
antwortet werden, quittire ich übrigens schon jetzt mit Namensunterschrift.
Wie wir in den voraufgegangenen Skizzen das Wupperthal geschildert
haben, muß es ohne weiteres einleuchten, daß hier für wissenschaftliches und
künstlerisches Streben ein ausnehmend ungünstiger Boden ist. Der großen
Masse der Bevölkerung fehlt es dafür schon an der Vorbildung und äußeren
Lage, dem kleinen Neste wenigstens an der Muße. Nur die weibliche Hälfte
der reichen und wohlhabenden Familien hat beides; angesteckt aber von dem
strengen und pedantischen Ernste, der die ganze männliche Bevölkerung zur
Arbeit treibt, vertieft auch die gebildete Frau sich eher in Erziehungssorgen,
als daß sie den Musen opferte. Es ist etwas Ehrwürdiges in der Hingebung,
mit welcher diese Mütter die Ausbildung ihrer Kinder weit über das sonst
übliche Maß von Antheil und Ueberwachung hinaus verfolgen. Wo kommt es
sonst so leicht vor, baß eine hochgebildete, für jeden geistigen Genuß empfäng¬
liche Dame sich von einem Elementarlehrer in eine neue Methode des Lehr¬
unterrichts einweihen läßt, um selbst nachhelfen zu können, anstatt einfach ihre
Zuflucht zu einer weiteren bezahlten Lehrkraft zu nehmen? Hier aber kommt
es nicht allein vor, sondern es fällt nicht einmal auf. Das elterliche Pflicht¬
gefühl ist so lebhaft, wie man es selten findet. Und wohl den Frauen, deren
innerer Drang diese glückliche Bahn einschlägt! Sie wären übel daran, wenn
sie in so starrer, nüchterner Umgebung ihren Herzensfrieden in die Beschäftigung
mit Kunst oder Wissenschaft setzen wollten.
Eine einzige Kunst hat sich bis jetzt im Wupperthale Bürgerrecht erworben:
die Musik. Keine andre konnte sich auf dem Grunde des christlichen Idealismus,
der hier bis heute das stärkste und lebendigste Gegengewicht gegen das Erwerbs¬
und Genußleben des Tages ist, so leicht aufbauen wie sie. Die von ihr er¬
regten Empfindungen haben eine ausgeprägte Verwandtschaft zu den religiösen
Schauern und Ahnungen; und in der hier herrschenden reformirten Kirche wird
sie nicht einmal durch die plastischen Künste ergänzt, sondern waltet ausschlie߬
lich. An die Pflege des Kirchengesangs, die Fülle der unsrer classischen Literatur
voraufgehenden geistlichen Lieder, die Benutzung der Orgel schloß sich weltlicher
Musikbetrieb wie von selber an. Auch trägt derselbe noch heute überwiegend
das ernste Gepräge, das seinem Ursprung und dem ganzen Charakter der Stätte
entspricht.
Man kann den Anfang der musikalischen Bestrebungen Elberfelds zurück-
datiren auf die Anstellung des älteren Schornstein als Organist der reformirten
Gemeinde, welche 1808 erfolgte. Er war weder als Virtuos bedeutend noch
hat er sich als Componist einen Namen gemacht, aber er besaß einen feinett,
dem Classischen zugewandten Geschmack. , Von ihm wurde im Winter 1811
auf 12 der gegenwärtig noch bestehende Gesangverein gegründet; von ihm ging
auch der erste Anstoß zu den berühmten niederrheinischen Musikfesten aus. indem
er 1817 mit Hilfe der Gesangs- und Orchesterkräfte Düsseldorfs und Barmens
eine große Aufführung des „Messias" veranstaltete. Der von ihm geweckte
Sinn für classische Musik blieb vorherrschend, ohne doch die Aneignung gut
empfohlener Neuigkeiten auszuschließen, wie denn hier z. B. Schumanns „Sängers
Fluch", Reinthalers „Jcphtha", van Eykens „Lucifer", Meinardus „Salomo"
die erste Aufführung erlebten, Schumanns „Paradies und die Perl" und Gades
„Comala" die zweite oder dritte. An der Spitze des Gesangvereins und der
Abonnemenlsconccrte steht jetzt der jüngere Schornstein, ein Schüler Hummels.
namentlich im Einstudiren der Chöre bewährt. Den Kern des Orchesters bildet
die jvhannisberger Capelle unter Julius Langenbach, einem Schüler Spohrs
und ganz wackeren Violinspieler, der aus dem Johannisberge das ganze Jahr
hindurch Concerte u, ig, Strauß giebt, auch schon bis nach Brüssel hin mit
seinen Leuten einträgliche Kunstreisen gemacht hat. Barmer stand bis 18S4
im Punkte der öffentlichen Musikvorträge hinter Elverfcld weit zurück, nahm
dann aber durch Karl Reinecke, den jetzigen Dirigenten der leipziger Gewand¬
hausconcerte, einen bedeutenden Aufschwung, und ist darin auch unter dessen
Nachfolger, A. Krause, nicht zurückgegangen. Beide Städte haben einen vor¬
trefflichen, mit einer Orgel ausgestatteten Concertsaal; doch verdient die barmer
Concordia vor dem elderfelder Casino noch den Vorzug. Liebhaber eines ge¬
diegenen Orgelspiels finden dasselbe durch I. A. van Eyter in der reformirten
Kirche vertreten.
Auch in nicht wenigen Häusern ist gute Musik zu hören. Aber nicht
immer verträgt sie sich mit einem ausgebreiteten, unbefangenen Interesse an
allem Schönen und Großen, mit der von der Gegenwart geforderten ernsten
Theilnahme an fruchtbaren öffentlichen Bestrebungen; und wo sie mit so leiden¬
schaftlicher Ausschließlichkett herrscht, nichts Anderes neben sich aufkommen läßt,
da schlagen ihre veredelnden Wirkungen natürlich leicht um. Zu Gunsten einer
reinen und vollendeten menschlichen Bildung sollte man wünschen, daß die übrigen
Künste sich gleichmäßiger Pflege zu erfreuen hätten. Aber die Nähe Düsseldorfs hat
bis jetzt nicht einmal einen besonders lebendigen Sinn für die Erzeugnisse der
Malerei Hervotgerufen. Es ist noch ein bloßer erster Anfang, wenn in Barmer
vorigen Winter eine Gemäldeausstellung stattgefunden hat — wird aber hoffent¬
lich kein Anfang bleiben. Wahrhaft kläglich sieht es um das Theater aus.
Anstatt daß die Liebhaber der die Herzen läuternden und den Geist bereichernden
Bühne in beiden Städten zusammenträten, um durch angemessene Einwirkung
eine ordentliche Truppe bei einander zu erhalten, überläßt man alles der Zer»
splitterung in der ordinärsten Spekulation. Das Sommertheater leidet an den
gewöhnlichen groben Gebrechen seiner Gattung, erfüllt aber doch wenigstens
den socialen Beruf, gewisse Gesellschaftsclassen von schlimmeren Zerstreuungen
und Genüssen zurückzuhalten; das Wintertheater fehlt Barmer ganz, und ist
in Elberfeld so beschaffen, daß seine Anziehungskraft nicht einmal bis ans
düsseldorfer Ende der Stadt reicht, geschweige denn aus die anderthalbstündige
Erstreckung der Nachbarstadt Barmer hin. Wo ist da die Erinnerung geblieben,
daß einst Immermann mit der von ihm geschulten Truppe aus Düsseldorf
herüberkam und Gastvorstellungen gab? Und doch liegt in dieser Erinnerung die
Idee aus der sich eine bessere Zukunft gestalten könnte. Düsseldorf, Elberfeld und
Barmer, d. h. 200,000 Menschen auf eine Eisenbahnstrecke von anderthalb Stunden
Länge vertheilt, sollten sich — ohne natürlich den Sommerbühnen ihr ganz anders
gemeintes Handwerk zu legen — mit einer einzigen Gesellschaft von darstellen¬
den Künstlern begnügen, aber dafür von Künstlern. Wenn diese abwechselnd
in zwei oder drei würdig eingerichteten Musentempeln aufträten, so bekäme jede
locale Partei des Ganzen sür ihr ästhetisches und sociales Bedürfniß genug.
Coulissenschwärmer könnten leicht auch ein ununterbrochenes Vergnügen haben,
und die Spieler brauchten ihre Kraft nicht zu verzetteln, sondern könnten sie
durch ein hinlängliches Maß von Wiederholungen zusammenhalten. Wenn
irgendwo der oft aufgetauchte Gedanke von Bühnenverbänden zwischen Nachbar-
städten zum Zwecke einer durchgreifenden Hebung ihres Theaterwcsens ausführbar,
ja des glänzendsten Erfolges sicher erscheint, so ist es aus diesem Flecke des
Vaterlandes.
Wie um die theatralischen, so steht es auch um die poetischen Bestrebungen
im Wupperthale. Sie haben mehr sociale Bedeutung als ästhetische. Freiligrath
und Hackländer haben beide hier einst an Comptoirpulten gestanden, aber beide
nicht hier ihren literarischen Ruf erlangt. Von ihren dichtenden Zeitgenossen
oder Nachfolgern, den Adolph Schnees. Emil Rittershaus. Karl Steller, Karl
Sichel und anderen als einer eigenthümlichen wuppe^thaler Schule zu sprechen,
wie mitunter wohl geschieht, hieße dem Begriffe Gewalt anthun. Diese Männer,
durchweg Kaufleute, bedienen sich des Pegasus wie die prosaischen Naturen des
Standes eines gewöhnlichen Reitpferds: um sich vom Comptoirstaube zu erholen
und den inneren Menschen in der wünschenswerthen Bewegung zu erhalten. Liegt
in ihrer poetischen Praxis ein höherer Sinn, so ist es allenfalls der eines that¬
sächlichen Protestes gegen die Alleinherrschaft des religiösen Idealismus. Die
Frischeren und Tüchtigeren unter ihnen haben sich neuerdings den Katechismus
des Heißsporn zu Herzen genommen, den Gervinus schon vor zwanzig Jahren
einer rein literarischen und philosophischen Generation predigte, und sind vom
Gesänge zur That fortgeschritten, indem sie theils an politischer Parteithätigkeit,
theils an den beiden allgemeinen Biidungsvereinen des Wupperthals eifrigen
Antheil nehmen. Inzwischen fühlen sich vom Kusse Apollos immer zahlreichere
Kreise strebsamer Jünglinge angehaucht; das Dichten wird, wie in den schönsten
Tagen des alten Hellas, eine Gabe jedermanns, eine Beschäftigung der Massen,
und die den Fluthen zunächst ausgesetzte periodische Presse weiß sich durch
keine Deichbaukunst mehr vor der Überschwemmung mit Versen zu schützen.
In dem Süßwasser dieser Reimereien muß die Dichtkunst so sicher untergehen,
wie ihre Schwester Polyhymnia in dem Geklimper, das aus jedem Hause
schallt. Verdünnter Thee mag- besser sein als gar kein Thee, aber der echte
Theetrinker verlangt doch mehr von seiner Tasse, als blos ein schweißtreibendes
Mittel.
Gleichviel indessen! Es ist am Ende wichtiger, daß Vielen eine Ahnung
des^Höheren auf den Fittichen des Verses und Reimes zugeflogen kommt, als
Wenigen ein voller Trunk, Wir wollen uns die Demokratisirung des poetischen
Betriebes gefallen lassen, wenn die Ansprüche nur auf der Höhe der Leistungen
bleiben. Die Leidenschaft, des Reimers ist vielleicht auch nur als das natür¬
liche Ergebniß der Bekanntschaft mit unsern großen Dichtern anzusehen, welche
in der Bevölkerung des Wupperthals noch ziemlich jungen Datums ist. Lange
Zeit waren Schul- und Eibauungsbücher die einzige hier gangbare Lecture.
Wäre Schiller bis an die Gegenwart heran dem Volke nicht so gründlich fremd
geblieben, die Nationalfeier seiner hundertjährigen Geburt im November 1869
hätte hier nicht zu solchen Verketzerungen von den Kanzeln herunter, wie sie
wirklich vorkamen, herausfordern können. Dafür aber ist jetzt in der Bibliothek
des elberfelder Bildungsvereins auch nichts begehrter als Lessing, Schiller und
Goethe. Man vergleiche damit z. B. die Büchernachfrage im berliner Handwerker¬
verein : sie richtet sich vorzugsweise auf technologische Werke u. tgi.
Schlägt der so genährte ästhetische Sinn im Wupperthale einmal durch, so
wird er sich vor allem auch auf die Verwerthung der natürlichen Reize des
Thales zu werfen haben. Sie sind mannigfaltig und ausgeprägt genug, aber
beinahe durchweg so vernachlässigt, als flösse die Wupper noch zwischen ein¬
samen Bleichen und vereinzelten Gehöften hin. Außerhalb der Chausseen giebt
es keine leidlich gebahnten Spazierwege. Das Spazierengehen ist in dieser
arbeitsamen Welt gleichsam mit Strafe belegt: entweder durch die Langweilig¬
keit der Heerstraße, die meist auf der Thalsohle hinschleichend keine eigentliche
Fernsicht gewährt, oder durch die Mühseligkeit der die Höhen erklimmenden,
Weitblicke erschließenden Fußwege, auf denen neben manchem andern Dorn
auch die Leichdörner üppig gedeihen. Der Fremde kann sich nicht genug wun¬
dern, daß so schöne Partien so nahe einer volkreichen Stadt so wenig begangen
werden, und für zartere Sohlen in der That auch so wenig gangbar sind. Eine
weise öffentliche Fürsorge findet hier noch in Hülle und Fülle zu thun, um
fleißigen Menschen eine wohlthuende Erholung im Freien näher zu rücken.
Die wissenschaftliche Erforschung der umgebenden Natur hat sich ein meist
aus Lehrern und Aerzten bestehender besonderer Verein zur Aufgabe gemacht,
dessen kundigstes Mitglied. Professor Fuhlrott, den Gelehrten durch seine Ent¬
deckung eines interessanten Urmenschengerippes im Neanderthcil bekannt ist. Das
Neandcrthal, mit einem bedeutenden Marmordruch, gehört zu den Sehenswür¬
digkeiten der elberfelder und düsseldorfer Umgegend. Besondere Seiten der Natur¬
wissenschaft Pflegen, aber freilich auf praktische Zwecke gerichtet, der Landwirth¬
schafts- und der Thierschlchvercin. Das allgemeinste Bildungsziel hat sich der
schon 1832 entstandene Wissenschaftliche Verein gesteckt. Seine Mitglieder tragen
einander in den Zusammenkünften selbstverfertigte Aufsätze über beliebige wissen¬
schaftliche Stoffe und Fragen vor. In einem Kreise jüngerer Kaufleute und
Fabrikherren, der die meisten Träger des Fortschritts in Elberfeld einschließt,
werden minder bekannte Literaturstücke abwechselnd vorgelesen. Diese Bestrebungen
sind aber eher ein Sinken als ein Aufsteigen. Ihnen thut, nicht zum Nachtheil
der Gesammtheit, die Wirksamkeit für öffentliche Bildungszwecke Abbruch, welche
seit vorigem Winter in beiden Städten festen Boden gewonnen hat. Der
Allgemeine Bildungsverein in Elberfeld, der Allgemeine Bürgerverein in Bar¬
mer sind schon erwähnt worden. Sie sind vermöge der eigenthümlichen Be¬
schaffenheit des Wupperthals von ungleich umfassenderer Wichtigkeit als ihres¬
gleichen irgendwo anders: Hauptquartier und Lager der activen liberalen Partei,
eine bequeme Stätte zur Zusammenführung der beinahe nirgends gleich schroff
geschiedenen gesellschaftlichen Stände, ein mächtiger Hebel, um jene allgemeine
Aufklärung über Weltbund Menschen auszubreiten, der die einseitige Predigt
der Kirche es hier so ausnehmend schwer macht, Wurzeln zu schagen. Dazu
hat dann die verständige Initiative des Oberbürgermeisters Brett in Barmer
einen Cyklus wissenschaftlicher Vorlesungen gefügt, die ebenfalls alle Winter,
und womöglich abwechselnd in beiden Städten, wiederholt werden sollen. Es
gab dergleichen Vorlesungen schon länger; die Lehrer der höheren Unterrichts¬
anstalten hatten sich zu Gunsten ihrer Witwenkasse oder ähnlicher milder Zwecke
dafür verbunden. Indessen klebte diesen Cyklen etwas Conventionell-Pcdantisches
an. Die Vorträge flössen nicht unmittelbar genug aus einer unbeschränkt sich
geltendmachenden begabten Individualität hervor; das Publikum schien sich mehr
aus Wohlwollen oder Rücksicht, als aus freier Neigung versammelt zu haben.
Es war damit ähnlich, wie mit dem Bergischen Geschicktsverein, der unter 'der
Leitung des Gymnasialdirectors Bouterwek auch mehr antiquarische Minutien
als echtes Gcschichtsstudium treibt. Die wissenschaftlichen Vorlesungen von Mit¬
gliedern der donner Universität, welche im vorigen Winter in Barmer begonnen
haben, nahmen einen höheren Flug. Zumal zwei Vorträge Springers über die
Renaissancekunst ließen Wohl manchem Hörer ein neues Licht aufgehen über den
Genuß, den solche unterhaltende Belehrungen gewähren können. Man wird in
Zukunft nicht ausschließlich fremde Kräfte heranzuziehen brauchen; unter den
Lehrern der wupperthaler Anstalten ist mancher tüchtige Gelehrte, mancher
werdende Redner. Aber einerlei, woher die vortragenden Kräfte kommen, die
Einrichtung selbst kann nicht sorgfältig genug gepflegt werden. Sie ist eins der
Wirksamsten Mittel, um die Einseitigkeit in Bildung und Leben auszugleichen,
zu welcher das Wupperthal vor dem Zeitalter der Eisenbahnen und der Zei¬
tungen durch eine merkwürdig consequente und exclusive geschichtliche Entwicke¬
lung verurtheilt war.
Man kann es den Leuten im Norden, die Andreas Hofer und Genossen
für deutsche Helfen, für Vorkämpfer der Freiheit halten, nicht oft genug sagen,
daß sie in der That'nichts waren als die getreue Garde des Papstes, die
Schutzwehr der geistlichen Herrschaft in den Alpen. Diesen Charakter bewahrten
auch ihre Söhne und Enkel bis aus den heutigen Tag. Tröstlich ist es freilich
nicht, aber leider wahr, und die letzten Ereignisse liefern einen neuen Beweis
dafür. Die östreichische Regierung that seit der Wiedervereinigung Tirols mit
den alten Erbländer so gut wie nichts, um diese geistliche Vormundschaft auf¬
zuheben, sie war selbst klerikal, entschieden ultramontan, ging mit den Seelen-
Hirten Hand in Hand, gestattete ihnen alles, was sie begehrten, und hielt am
Grundsatze fest, daß die Treue der Tiroler von ihren Winken hange. Die Ver¬
treibung der Zillerthaler, die Handhabung des Toleranzpatcnts und letzthin
das Ausnahmegesetz über die Bildung protestantischer Gemeinden sind Zuge¬
ständnisse, die man den Bischöfen und dem Klerus zu machen für unerläßlich
hielt. Immer wieder hoben sie, wenn es die Zulassung einzelner Wandervögel
aus dem protestantischen Ausland galt, drohend den Finger auf und sprachen:
„Weg mit der Freundschaft ohne Glaubenseinheit!" Die Negierung kannte
ihren passiven Widerstand aus dem Jahre 1848 und wollte ihre Gunst eines
bloßen Wortstreites halber nicht aufs Spiel setzen. Sie sistirtc demnach schlie߬
lich, wie sonst manches andere, die Gleichberechtigung der Protestanten mit den
Katholiken für das orthodoxe Tirol, machte die Bildung evangelischer Gemein¬
den daselbst von der Zustimmung des tiroler Landtags, nämlich der katholischen
Bischöfe und ihres Anhangs, abhängig und gab dem einflußreichen Klerus selbst
durch das Gemeindegesetz die Mittel, ansässige Protestanten von jedem Antheil
an der Gemeindeverwaltung auszuschließen. Als sich kurz nachher die Friedens¬
sonne zu verdüstern begann, war ihre Sorge, dieses Ausnahmegesetz durch die
Zeitungen zu verkünden, um sich des Dankes der Allvermögendcn zu versichern.
Auch ließen es diese nicht an Kundgebungen ermangeln, in wie nahen Be¬
ziehungen der tirolische Heldenmuth zur Glaubenseinheit stehe, indem sie un¬
mittelbar vor Beginn des Krieges eine Wallfahrt aller Landgemeinden des
innsbrucker Dekanatsbezirkes zur dortigen Pfarrkirche veranstalteten „zum Danke
für jene allerhöchste Entscheidung und zur Erflehung des Segens im bevor¬
stehenden Kampfe".
Am Psingstdienstage, unmittelbar nach dem Aufgebot der Landesvertheidi¬
gung, hatte auch der Fürstbischof Gaffer von Brixen eine Aufforderung an
seinen Diöcesanklerus erlassen, daran den thätigsten Antheil zu nehmen. „Bei
dem bevorstehenden Kampf." hieß es daselbst, „stehen die wichtigsten Interessen
der christlichen Religion und der katholischen Kirche auf dem Spiele." Die
klerikalen „Tiroler Stimmen" erläuterten diese Worte dahin, daß ein erbitterter
Kampf gegen die „stockprotestantischen Preußen und die Feinde Roms in Italien"
bevorstehe. Wie der brixner Bischof ließ sich auch der auf dem Stuhle von
Trient vernehmen und ermahnte seine Heerde, „die ungereAen Angriffe des
Feindes in heiliger Absicht zurückzuhalten", während der Erzbischof von
Salzburg dem sämmtlichen Klerus seines Diöcesanantheils in Tirol thätiges
Zusammenwirken mit den k. k. Behörden und warme Theilnahme an der Landes-
vertheidigung durch Wort und Beispiel einschärfte. Dem eifrigen brixencr
Bischof genügte aber nicht sein erster Aufruf; am 19. Juni und 13. Juli sandte
er einen zweiten und dritten nach, beide mit dem Refrain: „Gelobt sei Jesus
Christus und die unbefleckte Empfängniß Maria." Im zweiten wurde hervor-
gehoben, daß „eine öffentliche Stimme in der Kammer zu Florenz die katho¬
lische Religion für abgethan erklärte", im dritten aber der größte Nachdruck auf
„das Gottvertrauen der Christen" gelegt. Diesen Stimmen aus der Bundes¬
lade folgten Feste zur Erneuerung des Bündnisses mit dem Herzen Jesu, die
schon Andrä Hofer alljährlich angeordnet, mittlerweile aber in Verfall gekommen,
und Processtonen mit den wunderthätigen Bildern in Absam, Trens und Bozen.
Bei der letzteren siel die andächtige Menge auf die Kniee nieder, wenn die
Geistlichen die steinerne „Gnadenmutter" vorübertrugen, in Steinach wurde ein
Bußgang mit „unserm Herrn im Elend" gefeiert.
Die Landesschützen, nämlich die Reservisten und jene Militärpflichtiger, die
das Loos dazu bestimmte, wurden schon im Mai in Compagnien aufgestellt
und vom I.Juni an eingeübt, gleichzeitig aber auch im Ober- und Unterinn¬
thal Scharfschützen geworben und daselbst wie in Mntschgau, Meran, Sana,
Kältern, Neumarkt. Taufers, Ampezzo. Buchenstein u. s. w. Listen für die
Sturmmannschaft angefertigt und ihre Offiziere gewählt. Allenthalben war der
um das Heil seiner Schäflein besorgte Klerus auf der Kanzel und im Beicht¬
stuhle bemüht, das Volk zum Kampfe aufzufordern und den Schützen, als es
nach dem Ausbruch des Krieges zum Ausrücken kam, bei der feierlichen Be¬
eidigung auch vom Altare seinen Segen zu spenden. Ueberdies ward ihnen
auch noch jener des Fürstbischofs Gaffer zu Theil, der alle durch Brixen ziehenden
Compagnien vor seinem Palaste aufziehen ließ, um ihnen Muth und Gottes¬
vertrauen einzusprechen. Nur die innsbrucker Studentencompagnie entzog sich
dieser Weihe, mußte aber auch trotz des Schutzes hoher und höchster Personen
selbst vom amtlichen „Tiroler Boten" den Vorwurf des Mangels an militärischer
Haltung hinnehmen. Hier und da drängten sich die Seelenhirten sogar zu den
Commissionen der Landesvertheidigung, oder betheiligten sich an der Auswahl
der Sammelplätze für die Sturmmannschaft. Auch hatte jede Compagnie mit
Ausnahme der akademischen ihren Feldkaplan. ihre Namen wurden durch die
Landeszeitung öffentlich bekannt gegeben.
Der Grund, weshalb die tirolischen Zionswächter so gar viele Furcht vor
den Italienern hatten, lag, wenn man ihre Predigten hörte, in der unchrist¬
lichen Raublust der Pinnontesen, namentlich der Ganbaldianer, ^le es nur auf
die Plünderung der Kirchen und Klöster abgesehen hatten. Die Einziehung des
Kirchengutes, die Abschaffung der Mönche, vor allem der Jesuiten, und die
Aushebung der Kleriker zu Rekruten waren ja blos die Vorboten ärgerer Dinge,
die erst kommen sollten. In Italien gilt nunmehr gleiches Recht für alle, die
- Gottgeweihten wie die Ketzer, der erste Schritt der italienischen Negierung bei
der Besitznahme Venctiens war das daraus bezügliche Gesetz und die Beseiti¬
gung des östreichischen Concordats. Die römische Kirche will der Staat im
Staate sein, ihre Freiheit bedingt die Unterwerfung aller Bürger unter ihr
Gesetz. Diese verträgt sich am besten mit dem absoluten Regiment. Nur
„Waffen und nichts Anderes" verlangte der klerikal-feudale Baron Paul
Giovanelli an der Spitze der Conservativen in Meran in seiner Adresse an den
Kaiser, um anzudeuten, daß es sie nach der in dessen Kriegsmanifeste verheißenen
„Verständigung über die inneren Verfassungsfragen" gar nicht gelüste. Mit
der Hetze in Deutschtirol nicht zufrieden, stachelten die fanatischen „Tiroler
Stimmen" auch die Geistlichen in Welschtirol auf. „das Volk aufzuklären über
die religiösen und politischen Bestrebungen der Jtalianissimi, damit die Gut¬
gesinnten zum Durchbruch kommen und die Oberhand erlangen". Beim ketzer¬
feindlichen trienter Bischof und seinen Jesuiten, die hier so thätig für den
Peterspfennig warben, wie anderswo um die Frauengunst*), konnten sie auf
sichere Unterstützung rechnen, und in der That scheinen sich einige reiche Pfründ-
ner in Valsugana diese Mahnung so warm ans Herz gelegt zu haben, daß es
die Italiener bei ihrem Einrücken für angezeigt hielten, sie abzufassen und nach
Padua zu schicken. Andere, die ein gleiches Schicksal befürchteten, entzogen sich
ihm durch die Flucht. Die Jüngeren, die oft Wider Willen dem Zwange des
Cölibats verfielen, verwünschten freilich Rom und seine Satelliten. Ja es
fehlte auch nicht an solchen, die das Volk zum Danke für die Befreiung von
der Fremdherrschaft aufforderten und sie mögen dabei wohl an die Abschüttelung
ihres eigenen Joches gedacht haben.
Doch lassen wir diese vorbereitenden Schritte'und gehen wir zu den Er¬
eignissen selbst über, bei denen die Landesvertheidigung mitwirkte. Nach dem
Urtheile von Sachverständigen ließ ihre Einrichtung manche gründliche Ver¬
besserung wünschen, selbstverständlich kann es aber nicht unser Zweck sein, näher
darauf einzugehen. Doch glauben wir zur Klärung des Verhältnisses des kai¬
serlichen Militärs zu den Schützen hier schon im Allgemeinen bemerken zu
müssen, daß jenem der Löwenantheil des Kampfes zufiel, während diese nur zu
seiner Unterstützung dienten.
Die ersten Schüsse und zwar von Seilen der Landesschützen fielen am
23. Juni auf dem wormser Joch; es waren nur einige Patrouillen der feind¬
lichen Nationalgarde, die ihnen gegenüberstanden und sich bald auf Sponda-
lunga zurückzogen. Aehnliche Vorpostengefechte hatten am 25. am Tonale und
an der Grenze von Judicarien statt, wo sich eine Compagnie des Regimentes
Kronprinz von Sachsen und die innsbrucker Schützencompagnie unter Gras
Wickenburg mit 600 Mann regulärer Truppen und Freischaaren schlugen.
Hauptmann Nuczizka verfolgte den anfangs geworfenen Feind zu hitzig und fiel
nebst 14 anderen seiner Compagnie und 3 Schützen, worauf der Rückzug nach
dem befestigten Lardaro angetreten wurde. Garibaldi stand damals mit seinen
Freischaaren noch am Gardasee, wo der k. k. Corvettencapitain Manfroni eben¬
falls am 23. Maderno beschoß und am 27. die Bucht von Salv blockirte. Die
östreichische Flotille war stärker als die italienische, die nur 5 Kanonenboote
mit 13 Kanonen zählte, während jene aus 2 Transportschiffen, 6 Kanonen¬
booten mit 30 Kanonen und 6 Kanonenschaluppen mit je einer Kanone bestand.
Am 2. Juli trieb sie bei Gargnano die italienischen Freischaaren zurück, ver¬
hinderte die Landung dreier feindlicher Kanonenboote und vereitelte das Durch¬
brechen der Blockade. Ein kühnes Wagniß war auch die Wegnahme des italie¬
nischen Raddampfers Benaco, den sechs Mann auf einem östreichischen Boote,
nachdem sie die Seile, woran er befestigt war, abgeschnitten, am 21. Juli unter
dem Feuer zweier Kanonenboote aus der Rhede von Gargnano herausholten.
Schließlich beschoß noch die östreichische Flotille am 25. Juli im Vereine mit
einer Batterie des Forts Nicolo die gegen Riva vordringenden Garibaldianer
aus drei Kanonenbooten und besetzte, nachdem sie diese wiederholt zurückgetrieben,
Riva mit einer Abtheilung von Matrosen.
Garibaldi hatte nach dem vorerwähnten Gefechte am 26. Juni die Grenze
von Judicarien überschritten und daselbst Storo. Bordone, Lodrone und Darzo
besetzt, sich aber am 30. Juni wieder vom tiroler Boden zurückgezogen. Um
den Feind herauszufordern und hierdurch seine Stärke zu erkunden, unternahmen
sofort am 3.-Juli zwei östreichische Halbbrigaden unter Mitwirkung der Studenten-,
innsbrucker« und rattenbergcr Compagnie einen Streifzug gegen Rocca d'Arso.
wobei dem Jägerhauptmcum Gredler mit drei Compagnien vom Kaiserjäger-
regimente die Aufgabe wurde, ihre Verbindung zu erhalten. Er brachte dem
Feinde bei Monte Suello einen Verlust von 700 Mann bei und Garibaldi
selbst erhielt eine Wunde am Schenkel, die ihm durch mehre Wochen eine
Sänfte nöthig machte. Die Oestreicher zogen sich aber, nachdem sie gewahr
geworden, daß ihnen bei 7000 Mann gegenüberstanden, wieder über die Grenze
zurück. Bald nachher drang der Feind von neuem vor, was die beiden kleinen
Gefechte bei Lodrone vom 7. und 10., woran auch die Rattenbergcr Antheil
nahmen, nicht zu verhindern vermochten. Ihr Erfolg beschränkte sich auf 13 Ge¬
fangene, worunter auch eine Dame. Erst am 16., nachdem Garibaldi schon mit
mehren Regimentern im Chiesethal vorgerückt, fand bei Cimego wieder ein
namhafter Angriff der Oestreicher statt. Die Garivaldianer kämpften längs der
schnurgeraden Landstraße in ausgedehnten Marschcolonnen ohne Flankenbedcckung
und büßten diesen Fehler ihrer Aufstellung mit einem Verluste von zwei Com¬
pagnien, die in der Chiese ertranken, 200 Gefangenen und einem eiligen Rück¬
zug. Hätten die Oestreicher noch eine Stunde auf die Ankunft ihrer zweiten
Abtheilung gewartet, wäre auch Garibaldi mit seinem ganzen Stäbe in ihre
Hände gefallen.
Die Schlappe hatte keine weiteren Folgen, und da Garibaldis Heer auf
34,000 Mann angewachsen, konnte auch an eine größere Unternehmung gedacht
werden. Es handelte sich über Riva und das Sarcathal nach Trient vorzu¬
gehen, das General Medici von Osten her angreifen sollte. Um die Oestreicher
in Judicarien, zu beschäftigen, sandte ihnen Garibaldi dahin eine Abtheilung
seiner Truppen entgegen und drang mit seiner Hauptmacht von ungefähr
20.000 Mann ins Ledrothal. Erstere wurde am 18. Juli vom Generalmajor
v. Kann mit bedeutendem Verluste gegen Condino zurückgeworfen, letztere schloß
das Fort Ampola ein, das sich ihr nach kurzem Widerstande ergeben mußte.
Die blos 35 Mann starke Besatzung hatte umsonst um Hilfe gebeten, und die
Eingeschlossenen verzweifelten um so mehr an ihrer Rettung, als die Geschütze
wegen der schlechten Bauart der Schießscharten nicht einmal die feindliche Bat¬
terie auf dem gegenüberliegenden höheren Hügel bestreichen konnten. Die Ab-
ficht, die dem geänderten Kriegsplan des Feindes zu Grunde lag, war kaum
zu verkennen; man beschloß daher einen Handstreich mit 4—6,000 Mann, da
man auf eine fast fünfmal größere Macht Garibaldis gefaßt sein mußte. In
der Nacht vom 20, Juli überstiegen zwei Halbbrigaden unter dem Obersten
Montluisant und Major Graf Grüne nebst zwei Landesschützencompagnien den
6000 Fuß hohen Pichea, Überstelen am 21. früh die Garibaldianer bei Locca,
einem am Fuße jenes Berges und an der Mündung des Ledro- ins Conzeithal
stoßenden Dörfchen, nahmen es im Sturm und vertrieben den Feind auch aus
dem darunter gelegenen Bececa, wobei sie 1,200 Gefangene machten. Umsonst
riefen die garibaldianischen Offiziere den fliehenden Regimentern zu: „Lalverts
almöiw l'onoi'e della, es-inieia, rossa,!" Weder die Ehre noch Versprechungen
konnten sie zum Stehen bringen. Nachdem die Oestreicher dem Feinde noch
außerdem einen Verlust von 1000 Todten und 2000 Verwundeten beigebracht,
traten sie um 3 Uhr Nachmittags den Rückzug an. Die Garibaldianer waren
durch diesen Schlag so völlig entmuthigt, daß von ihren weiteren Kämpfen
wenig mehr zu erwähnen kommt. Um ihr Vordringen gegen Riva zu verhin¬
dern, sprengten die Kaiserlichen, ohne auch nur einen Schuß zu thun, das ober¬
halb Sperone gelegene Fort, das zur Abhaltung der feindlichen Geschütze er¬
baut war, und zerstörten damit einen Theil der schönen Ponalstraße. Als nun
die Garibaldianer auf der westlichen Seite über Campi und Deva bis an die
Mauorn von Riva zu herankamen, wurden sie auch von dort durch die Kanonen
der östreichischen Florille verjagt. Von Garibaldis Truppen standen am 3. August
im Bezirke von Condino noch 9 Compagnien, er selbst erhielt am 10. in Bececa
bei seiner Hauptmacht die'Weisung, Tirol zu räumen und eröffnete sie seinen
Offizieren mit den Worten: Oou 1,000 uvwim g-bdiamo xrosv ig, Sicilia, von
20,000 uomini übbiamo preso I'Italia ekirtiirle <z in<zriäi0lig,l<z, con 40,000
uomiiü non gMiamo prizso die eine montaMö. M rivereses al äover vis
rM'teeipg.i'öl, speriamo s, tempi mogliori !"
Ueber das Mißlingen eines Heerzugs mit ungeübten Truppen, vor deren
Kugeln man je näher um so sicherer ist, und einem Generalstabe, der nach dem
Berichte der „Kölner Zeitung" auch nicht einen militärisch gebildeten Offizier
zählt, kann man sich kaum verwundern. Was vermag die Zahl ohne Schule
und Leitung? Auch der tiroler Landsturm scheiterte im Jahre 1809 an der
Kriegskunst der Franzosen.
Der Raum dieser Blätter gestattet uns nicht, auch noch die einzelnen Ge¬
fechte aufzuzählen, die am Stelvio. Tonale und in Vallaisa stattfanden und
auch den Landesschützen manchen kleinen Erfolg eintrugen. Der Feind stand
mit 6,000 Mann in sabio, anderen 5,000 in Thiere und 8,000 in Agordo, ohne
einen Angriff zu versuchen, drang aber nur durch Valsugana ein, das wenig
besetzt war. Die Italiener wollten eben noch zur rechten Zeit das trienter
Gebiet besetzen, um sich darauf beim Waffenstillstand und Frieden zu berufen.
Wie eitel der Vorwand der „Opinione" war, Cialdini habe nur wegen der Bedro¬
hung von P>linota»o den Befehl ertheilt, in Tirol einzurücken, ergiebt sich aus
der Anzahl der Truppen, womit Major Pichler die Grenze von Valsugana ver¬
theidigte. Mitte Juli bestanden sie in zwei Compagnien des Regimentes Erz¬
herzog Rainer, der landecker Schützencompagnie und einer halben Raketenbatterie,
die später noch durch zwei Compagnien des Regiments Wimpfen.vermehrt wurden.
Mit solchen Kräften durfte Pichler wohl mit einigen Freischaren, aber nicht mit
einem Corps regulärer Truppen anbinden, an deren Einfall jedoch, wie es
scheint, im östreichischen Lager nach der Abtretung Venetiens an Frankreich gar
nicht gedacht wurde.
Die Armeedivision, die Generallieutenant Medici am 22. Juli in den Kampf
führte, zählte 14—15,000 Mann mit zwei Schwadronen Reiter und 18 Kanonen
kleinen Kalibers. Man focht am ersten Tage von 6 Uhr früh bis 8 Uhr Abends,
die Oestreicher wichen nicht eher, als bis ihre Stellung umgangen war. Auch
die bei Le Tezze aufgestellten landecker Schützen,'die ihr Kaplan Anton Schön¬
herr „im Namen Jesu" zum Ausharren anfeuerte, hielten sich wacker. In der
Nacht zog sich Major Pichler auf Borgo und nach einflündige-in blutigem Ge¬
fechte am folgenden Tage zuerst nach Levico und dann nach Pergine zurück, da
er auch mit den eingetroffenen Verstärkungen den übermächtigen Feind nicht
aufzuhalten vermochte. Diese bestanden nur in einer Division des Regiments
Erzherzog Rainer, die noch am Kampfe in Borgo, und einem aus Verona her¬
angezogenen Bataillon des Regimentes Baron Martini, das am Rückzugsgefechte
bei Levico theilnahm. Ein zweites ebenfalls aus Verona angelangtes Bataillon
des Regimentes Hartmann traf erst Nachts und Generalmajor v. Kann mit
einer vierpfündiger Batterie in den ersten Stunden des 24. Juli in Pergine
ein. Man sagt, der Truppencommandant, Generalmajor Baron Kühn, den die
Nachricht des feindlichen Einbruchs im Badeort Cumano, unweit Stenico, fand,
habe die Truppen in Judicarien nicht eilig genug zur Hilfe beordert; nach
unserem Ermessen hätten sie jedenfalls erst in die Ereignisse vom 24. eingreifen
können. Gewiß ist es aber, daß Kühn schon bei seinem Eintreffen in Trient
am 24. früh entschlossen war, diesen Platz aufzugeben. Selbst das Anlangen
der beiden Halbbrigaden unter Baron Montluisant und Möraus hielt ihn nicht
ab, in einem um 11 Uhr 40 Minuten Vormittags an den Statthalter ab¬
gegangenen Telegramm zu erklären: „Der gleichzeitig in Judicarien mit 40,000
Mann sich sammelnde Angriff Garibaldis, sowie die vom Feinde beabsichtigte
Umgehung unserer linken Flanke durch das Cembrathal veranlassen mich zur
Concentrirung meiner Truppen im Etschthale, um die Vertheidigung nach Deutsch-
tirol verlegen zu können." Dagegen wär nur zu bemerken, daß die Garibal-
dianer eben erst am 21. geschlagen und decimirt und weder zum Vorrücken ge-
rüstet, noch 40,000 Mann stark waren*), der Flankenangriff durch das Cemvra-
thai aber noch in den Lüften schwebte. Baron Kühn stand an der Spitze von
wenigstens 10,000 Mann regulärer Truppen, die Landesschützen gar nicht mit¬
gerechnet, und erklärte später im Tagesbefehl Ur. 42, daß seine Truppen durch
einen gewaltigen Nachtmaisch „ dem verrätherischen Feinde im Besitze Trients
zuvorgekommen". Wenn schon der Rückzug^so mußten die Gründe desselben
unter diesen Umständen noch mehr befremden. — In Trient war alles in höch¬
ster Aufregung. Hofrath Graf Hohenwart, der Polizeichef in Südtirol, die
politische Prätur und das Kreisgcricht flüchteten nach Bozen, wo schon ein paar
Tage früher einige gutgesinnte Familien aus Valsugana durchgekommen, das
Hauptquartier wurde rückwärts nach Lavis verlegt.
Es lag nun an General Medici, am 24. früh seinen Sieg weiter zu ver¬
folgen, die fortwährend nachgerückten Verstärkungen mochten ihn jedoch über die
Anzahl der ihm gegenüberstehenden Oestreicher irre geführt haben. Wie es
scheint, dachte er nun durch eine Flankenbewegung ihre Kräfte zu theilen, indem
er zwar nicht über Cemlua, sondern über Calceranica und Val forta zwei
Bataillone nebst Artillerie gegen Matarello, eine Stunde unterhalb Trient, ent¬
sandte. Der Versuch mißlang jedoch gänzlich. In Val forta wurden die
Italiener von drei Compagnien Kaiserjäger unter Cramolini und zwei Com¬
pagnien Landesschützen mit lebhaftem Gewehrfeuer empfangen und auf Vigolo
zurückgeworfen. Sie verloren hierbei SO Gefangene, 80 Todte, mehre Verwun¬
dete und ihre Negimentsfahne, welche die Inschrift trug: Lrigata Lioilia,
61 Regimemto al ^anterio. Die erste Compagnie der innsbrucker Freiwilligen
hatte die Verwundung ihres Hauptmanns Zimmeter zu beklagen, wodurch die
„Tiroler Stimmen" einen ihrer herzhaftesten Korrespondenten verloren.
Was mehr als eine gewonnene Schlacht half, war die mit der italienischen
Armee geschlossene Waffenruhe, deren Nachricht am 24. Abends eintraf. Nur
die Patrioten, die ihre Führer zu Präfecten, Appelpräsidenten und General-
procuratoren ernannt wußten und das Feuerwerk zur Begrüßung der welschen
Brüder schon bereit hielten, hingen die Köpfe, General Kühn schwang die Zucht¬
ruthe. Als er am 25. zurückkehrte und die Waffenruhe von Medici noch nicht
anerkannt war, erließ er eine Kundmachung, worin er zur Aufrechthaltung der
Ruhe und Ordnung alles Geläute verbot und die Beleuchtung aller ersten
Stockwerke bei einbrechender Dämmerung anordnete. Ein anderer Mauer¬
anschlag gestattete den Aus- und Eintritt nur an fünf Punkten der Stadt mit
Legitimationsscheinen. Zugleich wurden an allen Ausgängen Barrikaden errichtet,
die Fenster an der Piazza d'armi zu Schießscharten vermauert und die Zwischen-
warte der Häuser behufs der Verbindung im Innern durchbrochen. Der
Schrecken, der sich durch diese Maßregeln der Bewohner bemächtigte, war so
groß, daß einige selbst an ihrer Gesundheit S^alten litten. Eine Deputation
mit dem Bischof und Bürgermeister an der Spitze begab sich zum General, ver¬
sicherte ihm ihre Ergebenheit und bat ihn, die Grciuel eines Straßenkampfes
und feindlicher Beschießung von der getreuen Stadt abzuwenden. Der General
wies sie mit dem Bemerken ab, daß es die Trienter gewesen, die den Feind
herbeigewünscht, nun müsse er ihn gebührend empfangen. Sie möchten, meinte
er, zu General Medici gehen und ihn bitten, ihnen zu Liebe nicht nach Trient
zu kommen. Daran dachte aber dieser wohl selbst nicht mehr; denn von seinen
Freunden in Pergine dazu aufgefordert, sagte er ablehnend: „Ich gehe nicht
nach Trient ein Glas trinken." Am 28. Abends bestätigte ein italienischer
Parlamentär den Abschluß der Waffenruhe, und ehe deren Frist am 2. August
ablief, wurde sie um 8 Tage verlängert. Die Oestreicher zogen mittlerweile
noch eine ganze Brigade von der Donau an sich und sammelten am Jsonzo
bedeutende Streitkräfte. Da von Paris für die Annexion des trienter Gebiets
keine Unterstützung zu hoffen war, meldete am 10. Abends ein Telegramm, der
Feind habe sich verpflichtet, am 11. um 4 Uhr sind Tirol zu räumen. Er er¬
füllte dies so pünktlich, daß zur bestimmten Stunde kein italienischer Soldat
mehr auf tirolischem Boden stand. Der abgeschlossene vierwöchentliche Waffen¬
stillstand wurde erst ein paar Tage später verkündet.
Damit war aber den Leuten, die sich gegen die Italiener so gründlich er¬
bittert, ein schlechtes Genüge geschehen. Krieg, Krieg und wieder Krieg lautete
die Devise der sanftmüthigen Geistlichen, wiewohl ihnen davor selbst ein wenig
graute. Als man nach dem Eintritt der ersten Waffenruhe so ziemlich fest das
Ende der Feindseligkeiten voraussagen konnte, das Landesvertbeidigungsober-
commando aber für alle Fälle gleichwohl den Landsturm aufbot, ließen sie,
damit nicht zufrieden, durch die etschländer Gemeinden folgendes Telegramm im
„Tiroler Boten" verkünden: „Liebe Nordtiroler! Wir deutsche Südtiroler sind
in Gefahr! Wir bitten euch, kommt uns zur Hilfe und rückt schnellstens an
unsere Grenze." Man traut seinen Augen kaum, wenn man bedenkt, daß den
rechtgläubigen Tirolern gegen die gottlosen Garibaldianer der Beistand des
Himmels nicht fehlen konnte. Was man von diesen hörte, war haarsträubend.
Gleich bei ihrem ersten Einfalle hatten sie in Darzo die Betstuhle aus der
Kirche herausgeworfen, um einen Tanz aufzuführen, wobei einer von ihnen die
Orgel spielte. In Condino wandelten sechs derselben gleich nach ihrer Ankunft
während der Mittagsstunden nackt durch die Straßen und die Geistlichen mußten
an Sonntagen die Predigt einstellen, weil ein paar Freigeister dazwischen riefen:
„l^orr 6 vero nienw!" oder den Redner mit Einwendungen unterbrachen. Ein
anderes Mal stellten sich einige vor den Beichtstuhl hin und liefen lachend
davon, wenn sich der Geistliche anschickte sie beichtzuhören. Andere zogen in
Locca einem Christusbilde das rothe Hemd an. schmückten es mit der Feldbinde
und fehlen ihm ein paar Hörner ans. In Lodrone mußte der Curat an der
Spitze der Truppen marschiren, um sich den feindlichen Kugeln auszusetzen, und
dem Pfarrer von Pieve ti Ledro wurde ein Revolver auf die Brust gesetzt,
damit er eine Ergebenhcitsadresse an Victor Emanuel unterschreibe. Wenn man
auch diesen von Geistlichen berichteten und mit ähnlichen andrer Kriege wett¬
eifernden Vorfällen Glauben beimißt, standen sie doch vereinzelt, sonst würde
man das Bild gewiß etwas allgemeiner gehalten haben. Allein mit solchen
kleinen Scandalen war dem Volk viel leichter beizukommen und die Braun-
und Schwarzröcke verfehlten dann auch nicht, sie noch besser auszumalen und
aus Eigenem zu vermehren, wie uns Ohrenzeugen bestätigten. Leider war der
Tag der Rache für diesmal noch nicht gekommen. Als der Landsturm am
24. Juli zum ersten Male aufgerufen wurde^ erhielt er sogleich Gegenbefehl,
und als er vor Ablauf der ersten wie der zweiten Waffenruhe auf die ihm
angewiesenen Stellen rückte, flogen noch kurz vor der letzten Stunde Boten
und Telegramme nach allen Seiten, die ihn nach Hause schickten. Den Rosen¬
kranz in der einen Hand, den Stutzen in der andern waren die wackern Bursche
viele Meilen weit gewandert, hatten fleißig Messe gehört beim Schmettern der
Kriegßmusik, aber kein Feind ließ sich sehen, keine Büchse knallte. Das war
doch eine schwere Geduldprobe. In Anbetracht ihrer und als Sporn für die
Zukunft bereitete man den Heimkehrenden allenthalben einen mehr oder weniger
feierlichen Empfang, namentlich in Bozen. wo der Obercommandant der Landes-
vertheidigung Feldmalschalllieutenant Graf Castiglione vor die in dreifacher
Reihe aufgestellte Sturmmannschaft hintrat und sie mit folgenden Worten an¬
sprach:, „Dreimal rief ich euch, treue und biedere Männer, unter die Waffen,
und jedesmal endet ihr, 36,000 Mann stark, an die euch zugewiesenen Stellen.
Freudig verließet ihr Haus und Hof, Weib und Kind, die eurer Arbeit bedürf¬
tigen Felder, und strömtet von Berg und Thal herbei, um dem vermessenen
Feinde zu zeigen, daß keine Wandelung der Zeit den Muth, die Treue und die
Anhänglichkeit des Tirolervolks an das allerdurchlauchtigste Herrscherhaus zu
mindern vermochte. — Ich danke euch im Namen unsres allergnädigsten Kaisers
und Herrn."
Die Militärs und Beamten suchten überhaupt die ganze Erhebung in
diesem Sinne zu deuten, obschon sie nur zu gut wußten, wer ihre Träger, und
deren Hilfe selbst nicht verschmähten. Was sie auf eigene Faust thaten, ergab
sich fast durchweg als Uebermaß des Eifers. Dahin zählen wir namentlich die
Anwerbung von Freiwilligen, die neben der Bildung neuer Scharfschützencom¬
pagnien an verschiedenen Orten Deutschtirols und Vorarlbergs sehr eifrig be¬
trieben wurde, nachdem der Kaiser am 17. Juli wegen der Verstärkung der
Nordarmee zu doppelt kräftiger Vertheidigung des Landes ermahnt hatte. Die
Angeworbenen erhielten, wenn sie schon früher als Unteroffiziere oder Gemeine
Militärdienste geleistet, 40 oder 35 Gulden, sonst aber 2S Gulden Handgeld,
wodurch sich dann eine wahre Musterkarte flotter Gesellen zusammenfand, meist
wälsche Arbeiter, die durch die Einstellung der Brennerbahn brodlos geworden,
auch ehemalige päpstliche und mexikanische Söldner und selbst abgehärtete Kost¬
gänger von Arresten. Das Resultat konnten nur jene als befriedigend ansehen,
die Schützen um jeden Preis wollten und die dadurch erwachsenen Kosten gar
nicht in Anschlag brachten. Noch größere Verdienste sammelten sich die Retter
der Ehre Wälschtirols. Die vecrätherischen Signori, welche die Ankunft des
Generals Medici mit unsäglichem Jubel gefeiert, sollten beschämt werden durch
die allgemeine Stimme des Volkes. > Schon bei der Erstürmung Borgos gab
es Bauern, die sich nur Stutzen erbaten, um mit den Kaiserlichen zu kämpfen,
über viele andere nicht minder offenbare Kundgebungen von Patriotismus hielt
die Polizei in Trient Vormerkung. Man wußte dies in Wien so darzustellen,
als ob sich durch ganz Wälschtirol nur ein Schrei der Entrüstung erhoben über
den verwegenen Feind, als ob alle, mit Ausnahme der Signori, nur der eine
Wunsch beseelte, ihn mit bewaffneter Hand aus dem Lande zu jagen. Eine
allerhöchste Entschließung vom 6. August ermächtigte sohin den Generalmajor
Baron Kühn, auch in Wälschtirol d.e Landesvertheidigung zu organisiren und
schon am 10. desselben Monats erging dessen Aufruf an die Südtiroler. Er
gemahnte sie ihrer alten Anhänglichkeit an das Kaiserhaus und forderte sie auf,
sich um die siegreichen Fahnen Oestreichs zu schaaren und ihren stillen Thälern
die Segnungen des Friedens für immer zu erkämpfen. Eine angehängte Kund¬
machung des k. k. Hofraths Graf Hohenwart enthielt auch die nähern Bestim¬
mungen über ihre Aufstellung. Alle Einwohner vom 18. bis zu 60 Jahren
wurden aufgerufen sich bei ihrer Prätur zu melden, um das kurz nachher aus
2,200 Mann festgesetzte Contingent von Landesschützen zu stellen, das nicht
überschritten werden durfte. Für den Fall eines Abgangs sollten zur Ergän¬
zung die Militärpflichtiger nach den vorhandenen Listen einstehen. Alle ohne
Unterschied erhielten ein Handgeld von 12 Gulden, und zwar die Hälfte davon
zur Beischaffung von Kleidung und Schuhen; sie durften aber nicht gleich den
deutschtirolischen Landesschützen ihre Offiziere selbst wählen, sondern erhielten
sie von der k. k. Armee. Zur Deckung der Kosten dieser Werbung überbrachte
ein geheimer Bote 8,000 Stück Napoleond'or nach Trient, als Sammelplätze
waren die Orte Predazzo, Eies, Stcnico und Vvlano bestimmt, nur für den
Bezirk Trient fand man keinen nöthig. Trotze des verschwenderischen Lobes über
die alte Anhänglichkeit der Wälschtiroler hegte man also doch einigen Zweifel
an ihrem guten Willen, wiewohl ohne Grund, da das Handgeld, so klein es
war, sie doch in Menge zur Kasse lockte. Fast noch mißtrauischer als die'etwaige
Einziehung der Militärpflichtiger klang die Aufstellung kaiserlicher Offiziere zur
Leitung, grade als ob man das Corps sonst nicht zusammenhalten könnte.
Wenn so große Vorsicht noth that, ließ der Patriotismus manches zu wünschen
übrig. Auch konnte man angesichts der Adressen, welche Victor Emanuel von
den Vorstehern und Räthen mancher Gemeinden überbracht wurden, und stür¬
misch den Anschluß Wälschtirols an Italien forderten, eine Unterdrückung des
wahren Voltswillens nur durch die überwiegende Menge andrer nachweisen, die
sich für Oestreich erklärten. Beispiele sind verführerisch, und so wurde denn
bald nach dem Abzug der feindlichen Dränger eine Aufforderung an alle Ge¬
meindevorsteher in Umlauf gesetzt, „sofort die Gemeindevertretungen einzuberufen
und auf Grund ihres Beschlusses eine Adresse an Se. k. k. Majestät abzufassen,
in welcher die Gemeinde im Namen aller ihrer Glieder den Wunsch ausspricht,
mit Oestreich vereinigt zu bleiben, ohne sich auf irgendwelche Bemerkungen ein¬
zulassen". Es verstehe sich von selbst, hieß es dann weiter, „daß diese Adresse
als von der Gemeindevertretung freiwillig und nicht zufolge höherer Einflüste¬
rung verfaßt figuriren muß". Wir wissen zwar nicht, wie viele solcher Adressen
an den k. k. Hofrath Gras Hvhenwart, der sie überliefern sollte, gelangten, ihr
Zudrang scheint aber nicht befriedigt zu haben, da ein officiöser Correspondent
der „Augsburger Allgemeinen Zeitung" trotz der bestimmtesten Abläugnung einer
diesfälligen Anregung aus Wien auch ihre fernere Annahme zusichern zu können
meinte.
Wir wollen hierbei nicht verschweigen, daß beim Einzug der Oestreicher
eine übergroße Menge Menschen, in Pergine bei 20,000, herbeiströmte, um sie
wie im Triumphe zu empfangen. Generalmajor Kühn wurde fast erdrückt von
den schlichten Leuten, die sich drängten, ihm die Hände zu küssen, er konnte die
Freudenthränen nicht unterdrücken. In Levico, das für sehr garibaldianisch
galt, schmückten sich die Bauern mit grünen Zweigen, von den Fenstern flaggte
die tiroler Fahne, das Volk schrie: Lvvivg. l'^Vustria,, ewivv 1'Imxeiatore!
Auch die Bauernhäuser auf der Straße uach Borgo prangten in festlichem
schwarzgelb und in Borgo selbst entkleidete die Menge die östreichischen Fahnen
ihrer Hüllen und schmückte sie mit Kränzen. Man muß aber auch erfahren,
wie die Bewohner des Valsugano von den italienischen Truppen behandelt
wurden. Das Vieh nahmen sie ihnen von der Weide, selbst die noch unreife
Frucht vom Acker, die erzwungenen Lieferungen bezahlten sie mit italienischem
Papiergeld und in den letzten Tagen gar nicht. Gleichwohl möchten wir es
bei der Beweglichkeit des wälschen Blutes und der Stammverwandtschaft mit
den südlichen Nachbarn sehr bezweifeln, daß sie diesen bei einem neuen Einfall
als erbitterte Feinde gegenüberstehen. Was Generalmajor Kühn beim feierlichen
Empfange in Pergine den Abgeordneten des Marktes sagte, dürfte auf viele
passen: - „Sie haben, grade so wie heute mich, früher den General Medici
begrüßt, und würden ihn, wenn er morgen käme, abermals so empfangen,"
Der ländliche Ball, der am selben Abend dem General Kühn gegeben wurde,
war nur ein schwacher Abglanz des prachtvollen Festes, womit kurz vorher die
Anwesenheit des Prinzen Amadeus gefeiert wurde.
Italien steht am Vorabend eines nothgcdrungenen Friedens, Garibaldis
Freischaaren sind entlassen, die Armee Victor Emanuels wird um die Hälfte
vermindert. Bleibt das „Trentino", bleibt Wälschtirol für Oestreich gesichert?
Wir glauben es nicht. Seine Vereinigung mit Italien ist nur aufgeschoben.
Nach dem Prineip der Nationalität und dem Zeugniß seiner Signori ist es
durch und durch italienisch, und was auf die Stimme des armen tributpflichtigen
Volkes zu halten, erfahren wir täglich. Oestreich könnte in dieser, wie in fast
allen brennenden Fragen nur dann auf Erfolg hoffen, wenn es aufrichtig und
ohne Hintergedanken die Bahn der Freiheit einschlüge; seine Feinde wären
dadurch entwaffnet. Daran ist aber unter den jetzigen Umständen gar nicht zu
denken. Tirol muß Tirol bleiben, das Goldland der Pfaffen, und wenn es
einmal um seine reichere südliche Hälfte kommt, so ist das, wie manches andere,
ihr Werk.
Im 3. Bande Ur. 7 der in Arenia erscheinenden Zeitschrift „die Lichtstrahlen"
über welche ich vor Kurzem in diesen Blättern einige Notizen gegeben habe,
steht ein Bericht zweier von den amerikanischen Missionären abgesandten syrischen
Geistlichen über ihre Reisen und ihre Thätigkeit unter den Brüdern auf tür¬
kischem Gebiet, namentlich in Botan, dem Lande nordwestlich von Mosul, wo
sich das kurdische Hochgebirge zum obern Tigris herabsenkt. Diesen Bericht
geben wir im Folgenden in wörtlicher Uebersetzung wieder.
Natürlich haben diese eingebornen Missionäre keine weitere Bildung als
die, welche sie von ihren Lehrmeistern erhalten haben; ihr ganzer Standpunkt
ist einseitig und dazu sind sie eben nicht besonders gewandt im Erzählen. Den¬
noch bietet der Bericht manches Interessante dar. namentlich über die religiösen
Zustände der Christen in jenen Gegenden. So wohlwollend die Missionäre
von mancher Seite her aufgenommen werden, so heftige Anfeindungen erleiden
sie nicht blos von den im Westen ziemlich zahlreichen Landsleuten, die in das
Netz der römischen Kirche gegangen sind, sondern noch mehr von einigen con>
servativen Nestorianern selbst. Daß Letztere von ihrem Standpunkt aus nicht
so sehr im Unrecht sind, wie die Berichterstatter meinen, wäre nicht ganz schwer
zu beweisen; doch unterliegt es keinem Zweifel, daß sie eben keinen hohen Stand¬
punkt einnehmen, und daß das altmorgenländische Wesen mit seinem Hängen
an Aeußerlichkeiten — hier dreht sich der Streit namentlich um das Fasten —
für Naturen, die ein wahrhaft religiöses Bedürfniß empfinden, keinen Vergleich
aushalten kann mit dem Christenthum der Amerikaner und ihrer Zöglinge trotz
seiner unläugbaren Schwächen.
Großer Erfolge können sich unsre Erzähler freilich nicht rühmen, obgleich
sie ihre Aufgabe allem Anschein nach in Anbetracht der Landes- und sonstigen
Verhältnisse recht geschickt angreifen. Ohne Zweifel haben einheimische Geist¬
liche, die ausdrücklich die höchsten Autoritäten der alten Kirche anerkennen und
sich leicht bis zu einem gewissen Grade den Anschauungen ihrer Zuhörer accom-
modiren, bessere Aussichten des Gelingens, als ganz fremde Misstonäre.
Die Sprache, in welcher unsere Missionäre mit den Bewohnern der West-
lichen Gegenden verkehrten, war wohl hauptsächlich die diesseits und jenseits der
kurdischen Berge allgemein verbreitete türkische. Zwar ist die eigentliche Mutter¬
sprache aller dieser Nestorianer ein syrischer Dialekt, aber nach bestimmten An¬
gaben in der genannten Zeitschrift ist das Syrische in Botan so verschieden von
dem in Arenia, daß ein gegenseitiges Verständniß in der Muttersprache nicht
möglich ist. Mit etwas gelehrteren Geistlichen konnte man in der altsyrischen
Schriftsprache verkehren.
Die Reise durch wilde Gebirge und von Räubern arg heimgesuchte Gegenden
war natürlich nicht ohne Gefahr; doch scheint die Furchtsamkeit der Bericht¬
erstatter noch größer gewesen zu sein als diese. Nur die Nestorianer der innern
Hochgebirge hegen eben einen tapfern, selbstbewußten Geist, während die in den
Ebenen unter persischem oder türkischem Druck seit langer Zeit niedergebeugten
ganz den demüthigen, ängstlichen Sinn der Rajas zeigen.
Der Beliebt ist jedenfalls nach und nach geschrieben. Am deutlichsten erhellt
dies aus der Stelle, nach der die Briefe aus Mosul noch nicht angekommen
sind, während nachher deren Ankunft und noch bedeutend spätere Ereignisse
erzählt werden. Ob der Bericht blos von einem der Beiden (Murad Chan)
abgefaßt ist, oder ob sein Gefährte auch Theil daran hat. ist nicht zu sehen.
Das Geographische anlangend, so wird sich der Leser nach den Haupt¬
punkten leicht im Allgemeinen orientiren. Die Reise geht von Arenia am Ufer
des danach benannten Sees im westlichen Aserbaidschan (Nordmedien) mitten
ins Kurdengebirge hinein nach Kutschanis, dem Sitz des Patriarchen der Ne¬
storianer, und von hier über Dschulamerg, den Hauptort dieser Gegend, zunächst
am Ufer des wilden Bergstroms Zab her über Amedia und Alkosch nach Mosul,
gegenüber dem alten Ninive; von hier aus geht es nördlich nach Gezira
(Dscheziret Ihr Omar) im Tigris und weiter in das nahgelegne höhere Land.
Die genannten Orte, sowie noch mehre andre wird man auf jeder genaueren
Karte finden. Doch muß ich gestehen, daß ich einige im Bericht vorkommende
Dörfer weder auf Kieperts Karte des osmanischen Reichs noch auf sonstigen
mir zu Gebote stehenden Karten gefunden habe. Besonders bedaure ich, daß
ich nicht eine der Zwischenstationen zwischen Arenia und Kutschanis (von denen
Mametan öfter in der Zeitschrift erwähnt wird) nachweisen kann, da uns hier
nicht einmal die sehr genaue Chamylos-Kiepertsche Karte von Aserbaidschan
hilft, obgleich doch wohl die beiden ersten Stationen noch innerhalb dieses
Landes fallen. Für einen Theil der Reisen bietet' die Karte zu Layards
„Niniveh und seine Ueberreste" einige Daten. Wir ergreifen diese Gelegenheit,
um die Schilderungen Layards über die Christen der Gebirge und der Gegend
von Mosul bestens zu empfehlen.
In der Schreibart der Ortsnamen habe ich mich aus guten Gründen fast
überall eng an die Aussprache des Syrers gehalten, auch wo in europäischen
Werken eine andere Schreibweise vorlag. Leider ist aber der Gebrauch der
Vocalzeichen aus mehren Ursachen im Neusyrischen so unbestimmt nicht nur in
Bezug auf Qualität, sondern auch auf Quantität, daß meine Umschreibung
immer nur als eine ungefähre Wiedergabe der syrischen Aussprache gelten kann.
Nur selten konnten wir eine Controle vermittelst einer bekannten arabischen
Schreibart ausüben. Was die Consonanten anbetrifft, so spreche man 2 immer
als weichen Zischlaut (wie im Französischen), s als harten, ^ fast vocalisch (wie
im Englischen).
Bei einer Sprache, von der es kein Wörterbuch und nur eine unvollkom¬
mene Grammatik giebt, wird es einem Uebersetzer schwer, kleine Fehler zu ver¬
meiden. Doch hoffe ich, daß solche wenigstens nicht zahlreich sein werden. Ein¬
zelne Wörter, deren Bedeutung ich nicht sicher ermitteln konnte, habe ich durch
Fragezeichen angedeutet.
Zu manchem Punkt wären wohl noch weitere sachliche Ausführungen er¬
wünscht; doch da ich zunächst weiter nichts beabsichtigte, als einen Text zu¬
gänglich zu machen, der in einer nur äußerst wenigen europäischen Gelehrten
verständlichen Sprache geschrieben ist, so muß ich es dem, der sich für den Inhalt
interessirt, überlassen, sich die weiteren Informationen selbst zu verschaffen.
Dienstag den 10. October (1851) verließen wir Arenia und gingen nach
Tschiniza; da predigten wir am Abend.
Mittwoch veUießen wir Tschiniza und begaben uns nach dem Gebiet Bra-
dus nach Gangatschin ins Haus Mariwas; auch da predigten wir.
Donnerstag begaben Wir uns nach Kala demiru ins Haus Bados und
predigten auch da; man hörte sehr schön zu.
Freitag gingen wir von dort nach Mamekan ins Haus des Diakonus
Taman, wo wir drei Tage blieben; wir warteten nämlich auf den Herrn
Doctor (der Mission), der von Kutschanis kommen sollte.
Mittwoch (sie) verließen wir Mamekan und begaben uns nach Schewa-
wuta in? Haus des Reis (Ortsvorsteher) Kanun, der, uns mit großer Freude
empfing. Man brachte uns ein Evangelienbuch. Abends predigten wir vor
ungefähr dreißig Menschen.
Donnerstag gingen wir von dort nach Kutsch amis, wo wir im Hause
des (Patriarchen) Mar Schimon sehr freundlich aufgenommen wurden. Wir
hatten Audienz bei ihm, küßten ihm die Hand und gaben ihm die Briefe (der
Missionäre). Er ließ uns Platz nehmen, trat ans Fenster, las die Briefe, gab
uns jedoch keine Antwort. Am Sonnabend sagten wir dem Denchs, er möchte
doch den Patriarchen bitten, uns einen Brief zu geben. Er hatte dies nämlich
versprochen^ Am Montag hatten wir wieder Audienz und redeten mit ihm
folgendermaßen: „Wir sind an Dich gesandt, daß Du uns einen (Empfehlungs-)
Brief gebest, damit wir ins Land Botan zum Predigen gehen können." „An
wen," erwiederte er, „soll ich Euch einen Brief geben? Ich habe die Leute in
Botan nie gesehen." Als wir sagten, wir wüßten die Namen der Ortsvorsteher,
sprach er: es geht nicht an!" Die Priester Kanun, Huria und Abdelahad
disputirten mit uns über die Lehren von dem Kreuz, dem Abendmahl und der
Taufe; wir erwiederten ihnen sanftmüthig. Der Patriarch betheiligte sich nicht
dabei, seine einzigen Worten waren: „alle Sahebs*) sind gute Leute."
Wir erhoben uns, baten um Urlaub und küßten ihm die Hand. Am
Freitag war ein Erdbeben in Kutschanis, welches das Haus des Patriarchen
erschütterte.
Am Montag verließen wir Kutschanis. Als wir an den Berg Bar Tschella
kamen, war er mit Schnee bedeckt, so daß wir nur mit vieler Mühe hinauf
kamen. Dann kamen wir nach Dschulamerg. Jetzt überfiel uns ein Regen¬
wetter; außer uns beiden bestand die Gesellschaft noch aus einem Mann aus
(dem Distnct) Tiari und zweien aus (dem District) Vaz. Wir waren am Rande
des Zab, als die Sonne unterging. Die Leute aus Baz trennten sich von uns,
wir aber gingen am Rande des Zab fort in Finsterniß, Dunkel und fürchter¬
lichem Regen, Zu beiden Seiten des Zab sind hohe Berge, der Weg ist in
den Fels gehauen. Wenn ein Pferd ausglitt, so flog Feuer aus seinen Hufen.
Laut rauschte der Fluß, heftig schlug der Regen nieder, kurz es war eine un¬
beschreibliche Noth. Wir ritten immer längst des Zab, bis ein Theil der Nacht
vorüber war. Uns war sehr bange. Wir sahen ein Feuer wie einen Stern
in einer Schlucht (?) von Tiari leuchten. Als wir an die Stelle kamen, wo
der Fluß des (Ortes) Tal in den Zab hinabstürzt, blieben wir stehen: auch das
Feuer verschwand uns da aus den Augen. Als wir nun nach dem Gipfel eines
Hohen Felsens sahen, erblickten wir ein Licht wie Mondschein (?). Wir stiegen
sogleich am Rand des Flusses hinauf und sahen da in einer Höhle ungefähr
fünfzehn Leute, welche ein Feuer angezündet hatten. Nothgedrungen*) gingen
wir zu ihnen, und da waren es Leute aus (den christlichen Districten) Tiari und
Diz. Als wir auf ihre Frage, „woher kommt Ihr?" erwiederten, „vom Hause
des Patriarchen", standen sie rasch auf, kamen auf uns zu und trockneten un¬
sere Kleider. So kamen wir zu Ruhe. Wir glaubten, daß der Herr dies Feuer
für uns eingerichtet hätte und dankten ihm sehr. Hier predigten wir nun den
Leuten von Christus, der um der Sünder willen vom Himmel herabgekommen,
und sangen ihnen geistliche Lieder vor. Sie dankten uns schön dafür. Wir
aber wunderten uns gar sehr über die Macht des Herrn, d,er uns in dieser
Nacht der Noth in einer Felsenspalte eine Gesellschaft gegeben hatte. Er tilgte
auch unsre ganze Müdigkeit: die ganze Nacht ließen wir unser Feuer nicht
ausgehen.
Dienstag verließen wir die Höhle und kamen nach Tal ins Haus des
Makel (Häuptlings) Raschu. In der Nacht blieben wir in einem Pavillon (?).
Wir predigten ihnen von der Buße.
Mittwoch verließen wir Tal und erstiege» den Berg Bet sellde. Mit
vieler Mühe kamen wir nach (dem District) Techoma. nach Gundechta. Als
wir an die Kirche kamen, sahen wir da den trunksüchtigen Priester Oschcma
(Hosianna) mit rothen Augen. Wir grüßten ihn, aber da ward er zornig und
sprach: „ich will mit Euch und Euren Engländern nichts zuthun haben, denn
ich habe um Euretwillen viel Tadel auszustehen; ick will Euch nicht einmal beher¬
bergen." So machte er großen Lärm über uns. Wir kehrten daraus beim Dia¬
conus Asaddu ein. der uns sehr gastfreundlich behandelte. Er hatte noch einen
alten, liebevollen Vater.
Donnerstag verließen wir. vom Diaconus Asaddu begleitet, Techoma und
kamen nach Bia ins Haus des Sahda. Am Abend predigten wir über den
Apostel Jacobus. Sie freuten sich sehr über die Worte Gottes. Sahda sagte:
„in meinem ganzen Leben habe ich jetzt erst zweimal eine Predigt gehört."
Nachdem wir Freitag Bia verlassen, erblickten wir eine Karavane von un¬
gefähr 40 Leuten aus Techoma. Einer von uns trat nun vor sie hin und
einer mitten unter sie, und so predigten wir ihnen etwa eine halbe Stunde.
Gegen Abend kamen wir nach Amedia. Wir kehrten in einem Haus ein und
sahen da viele Leute aus Tal/ Am Abend zogen wir ein neues Testament
heraus, um zu predigen. Sogleich erhoben sie sich, küßten uns. und als wir
predigten, gefiel das ihnen gar wohl.
Am Sonnabend stiegen wir auf die Feste von Amedia. Unser Pferd war
sehr hungrig und hatte wunde Füße. Wir gaben 5 Schcchis (etwas über
2 Silbergroschen) für Hafer und fütterten damit das Pferd. Ein Viertel Hafer,
d. i. nach unserer Rechnung 2 Haftas*), kostete 6 Schahis (2^ Sgr.), ein
Viertel Weizen 8 Schahis (nicht ganz 4 Sgr.). Da wir sahen, wie theuer
es hier war. blieben wir selbst lieber hungrig. Brod konnten wir nicht kaufen,
weil keins da war. Nachts blieben wir mit drei. Leuten aus Techoma in einer
Herberge. Am Abend predigten wir. Als wir am Sonntag Morgen aufstan¬
den, waren unsere Gefährten aus Mosul grade im Begriff abzureisen. Wir
gingen auf den Markt, konnten aber kein Brod kaufen. Ein Kaufmann aus
Mosul kaufte für uns mit Mühe ungefähr IV« Hasta für 15 Schahis (7 Sgr.).
Ein Geruch von Hunger kam von Amedia her!
Wir verließen den Ort und gingen bis an eine Höhle, wo wir übernachteten.
Am Montag verließen wir die Höhle. Unterwegs kauften wir einen Sack Stroh
für 4 Schahis. Wir gelangten an eine Herberge am Wege und ließen uns
hier nebst vier Leuten aus Alkosch nieder. Da uns diese berichteten, daß der
Ort sehr gefährlich sei, so hielten wir die ganze Nacht hindurch ein Feuer in
Brand. Unsere Gefährten schliefen, während ich mit einem Kaufmann Wache
hielt. Um Mitternacht traten fünf (kurdische) Räuber mit Flinten, Schwertern
und Schilden ins Haus und schauten wie Besessene hierhin und dahin. Beim
Schein des Feuers erkannte mein Gefährte, der Kaufmann, einen von ihnen
und begrüßte ihn als Bekannter. Auch die andern wurden dadurch verwirrt
und waren nicht im Stande, uns auszuplündern. Auf ihre Frage nach dem
Inhalt unsrer Ladung sagte der Kaufmann: „blos Briefe und Brod sind drin."
Mit den zu dem Kaufmann gerichteten Worten: „Du hast uns einen großen
Schaden zugefügt!"*)" entfernten sie sich darauf.
Dienstag verließen wir die Herberge und kamen nach Alkosch ins Haus
des papistischen Priesters Jonan (Jonas); dieser gab uns aber kein Quartier.
Da sagte uns jemand: - „wenn Ihr zum Kloster Rabban Hormizd geht,
so wird man Euch da sehr gut halten." So machten wir uns denn wieder
auf und stiegen auf hohen Stufen nach dem Kloster empor, wo uns die Mönche,
in der Meinung, wir seien Papisten***), sehr freudig aufnahmen.
Wir gingen zum Gebet mit ihnen. Als nun die andern Mönche hinaus¬
gegangen waren und wir mit dem Mönch Michael zurückblieben, baten wir ihn,
uns alle (sehenswerthen) Stellen zu zeigen, da wir von fern hergekommen
wären. Da steckte er ein Licht an und zeigte uns einige Stellen. Da wir
uns wunderten, fragte er, ob wir noch mehr sehen wollten. Wir bejahten es,
und nun zeigte er uns das Grab des heiligen Hormizd und den Ring, den er
um seinen Kopf zu binden pflegte. Wir glaubten das jedoch im Herzen nicht.
Mittwoch verließen wir das Kloster in Gesellschaft von zwei fränkischen
Patres, die erst vor kurzem aus ihrer Heimath gekommen waren und eine La¬
dung Wein nach Mosul brachten. Der Weg bis Mosul war wegen der Araber
sehr gefährlich. Als wir an die Brücke von Mosul kamen, hielten uns die
Römer*) zurück, damit wir Quarantäne hielten. Die Patres logen ihnen auf
die Frage, woher sie kämen, vor, sie kämen aus dem Stadtgebiet von Mosul,
und> wurden infolge ihrer Lüge« eingelassen, während wir, die wir auf ihre
Frage nicht logen, in das Quarantänehaus geführt wurden. Fünf Tage hielten
wir Quarantäne, und man nahm uns dafür 8 Sahibkiran 8 Schahi (etwa 2V» Thlr.)
ab. Da der Quarantäneaufseher, ein Osmanly, hörte, daß wir lesen könnten, so
beschied er uns eines Tages zu sich und fragte mit unsern Büchern in der
Hand: „ist dies das Evangelium?" Auf unsere bejahende Antwort sagte er:
„lest mir vor; ich möchte doch sehen, wie das ist". Wir lasen ihm einige pas¬
sende Stellen vor und sangen ihm auch einige geistige Lieder vor. Er fand
viel Gefallen daran und sagte, den andern Tag wollte er uns aus der Qua¬
rantäne freilassen. Am andern Tag, Sonntag Morgen, wurden wir denn auch
frei und begaben uns ins Haus des Mr. Williams.**)
Am Mittwoch gingen wir zum Konsul,***) damit er uns einen Brief für
das Land Botan gäbe. Er öffnete einen Kasten (?) und zeigte uns Schriften.
Wir lasen laut zusammen, worüber er sich sehr freute. Dann gab er uns
einen Brief und sprach: „meine Kinder, ihr sollt mit mehr Menschen zusam¬
men reisen, denn der Weg ist wegen der Araber sehr gefährlich; darum bleibt
in Tel Kef, bis eine Karawane zusammen ist und dann geht."
Denselben Tag um Mittag verließen wir Mosul. Unterwegs trafen wir
einen Reiter mit einer Lanze, der seinen Kops und sein Gesicht (nach Beduinen-
art) umwickelt hatte. Ich sagte zu Musche: „paß auf! dieser Mensch ist sehr
böse". Er entfernte sich dann ein wenig von uns und zog sich vom Wege in
die Wüste zurück; auf einem unebnen Terrairi verloren wir ihn aus den Augen.
Als wir oberhalb einer Vertiefung ankamen, in die wir hinabgehen sollten,
sahen wir zur Rechten und erblickten einen Kopf in einem niedrigen Terrain,
der wie ein Vogel nach der Vertiefung hin kam. Wir erkannten, daß eS jener
Mensch war, darum gingen wir in die Vertiefung hinab und eilten sehr rasch.
Als wir beinahe schon aus jener heraus waren, näherten wir uns zwei Leuten
aus Mosul. Da sahen wir, daß der Reiter oberhalb der Vertiefung hervorkam,
aber als er sah, daß wir aus seinem Bereich entronnen waren, ärgerlich seiner
Wege ging. Wir wunderten uns über die große Macht Gottes und dankten
ihm gar sehr, daß er uns aus so vielen Nöthen errettet hatte. In Tel Kes
kehrten wir beim Diaconus Habbc ein.
Am Freitag verließen wir Tel Kef in Begleitung eines Lastthiervermiethers(?)
und gingen nach Maelthajc ins Haus des papistischen Priesters Paulos.
Da kamen zu uns die Papisten, Diaconus Jschak und Ne'is Choschib von
Marge. Der erstere fragte uns: „seid ihr Amerikaner?" Wir sagten: „nein,
wir sind Christen". „Wir auch", sagte er. Da sprachen wir: „wenn es der
Herr Priester erlaubt, wollen wir ihm auf das von Dir Gesagte antworten/'
Als der Priester nun seine Erlaubniß gab, so erklärten wir: „Ihr gehorcht dem
Papst mehr als Christo." Wir redeten noch weiter über den Papst; erkennte
nichts erwiedern. Dann redete er über die Maria, daß sie die Mutter Gottes
und die Retterin sei. und über die Ohrenbeichte. Wir brachten Beweise aus der
heiligen Schrift vor, ungefähr eine Stunde lang: alle seine Worte wurden
widerlegt. Da schämte er sich sehr, aber Reis Choschib sagte: „wahrlich, so ists,
wie diese Männer sagen; wir sind im Irrthum; alle ihre Worte sind wahr."
Der Priester aber sagte nichts; wir merkten, daß er der Lehre der heil. Schrift
nicht kundig war.
Friedrich Rückerts Leben und Dichtungen von or. C. Beycr. Koburg,
Sendclbach. 1866.
Als eins der ersten literarischen Denkmäler für den jüngst hingegangener letzten
Helden der poetischen Zeit unsres Jahrhunderts begrüßen wir das kleine Buch mit
Wärme. Es versucht Rückerts Dichtungen unter dem bei jedem wahren Poeten
einzig zutreffenden Gesichtspunkte der Selbstbekenntnisse des Menschen aufzufassen und
so der Theilnahme des deutschen Volkes zu vermitteln. Wie es der hingebenden
Pietät des Verfassers, obenein bei örtlicher Nachbarschaft, nicht schwer gewesen sein
kann, seine Notizen über des Dichters Lebensgang durch mündliche Traditionen zu
bereichern, so sichert ihm die anerkennenswerthe Popularität in Sprache und Erzäh¬
lung, mit welcher er seine Aufgabe löst, den Antheil des großen Kreises von Haus
und Schule, für den er schreibt. Verständige Oekonomie in Auswahl und Ein¬
ordnung der Lesefrüchte aus den lyrischen und didaktischen, sowie in den prosaischen
Resumes der epischen Schriften giebt der Schilderung trotz ihrer Mittclgattung
zwischen Biographie und Anthologie anmuthcndc und harmonische Haltung.
Verlag von I. Ciuttentag in Berlin.
Durch alle Buchhandlungen zu beziehen-
Viert« Auflage, in 12 Lieferungen 5 S Sgr., von:
G. G. Lessing.
Sein Leben und seine Werke.
Bon '
Adolf Stahr.
Wermcljrle und veröcsj'arte UMs-Aufgabe,
2 Bände. 79S Seiten. Preis 2 Thlr. für beide Bände.
Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen:
Die historischen Volkslieder der Deutschen
vom dreizehnten bis sechszehnten Jahrhundert.
Gesammelt und erläutert
von
A. von Aliencron.
Herausgegeben von der historischen Commission bei der König!. Akademie der Wissenschaften in München.
Erster und zweiter Sand.
Ler. 8° 5 40 Bogen. Geh. ü 3 Thlr. 10 Ngr.
Die ganze Sammlung ist auf vier Bände berechnet, von denen jährlich Einer ausgegeben werden soll.
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D Verlag von I. Hütten tag in Lei-Jm.
Löcher erschien:
LoKwabs, Dr. H., Die ^»räerunZ avr Xuust-InÄusti'ig in LnZIauä unä äczr Lona ^
clivser ?rage in ventsvblancl. I^ur Stand und luclustrie, (Zeiuviuclvu, Lohnt- nun Vereins- A:
pochen. ?reif 1>/g '1'Illr.
trüber ersetüeu:
Lsr-
Aus, <ü. ^., KruQÄsütM eier ?ing.u2>visssusedo.le mit dczsouäorör LlZÄeumrg auk
cien?reuss!schon Leune. 1865. Lreis 2Vz 'llllr.
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Bei Georg Reimer in Berlin ist so eben erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Ca Httlserus aus Sachsen.
Broch. 2-/2 Sgr.
Lei ?r. Krrmow in I,eiv2iA ersebiou uncl ist in Alm IZueblurncllungeu vorriitbig:
Dr. L. LiunneMann,
KesctiiMe aer voräamkrikanisokkn Literatur.
8». brovliirt. — 20 Ngr.
Dieses ^Verte ist Keineswegs eine troekeuv ^.ut/lllilnng clvsson, was ^.rnvrikü, auk clvm Llebists
Ser Literatur bervorgebruebt bat, sondern es entrollt in lobeucligvr Darstellung vor äeiu ^.uge clef
Lesers ein treues Lilcl, der ullwäliligen literarlsoben IZutwioKIung clef grossen DauÄes jenseits clef
Oesans, uncl bietet so uueb neuen, gie sich niobt gorucle mit litvrar-historischen Ltuäisn besassen,
eins angensbine uncl --u gloivbvr ^eit uuterlurlteuüe unä belsbreuäe Deetüre.
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^ H ^» ^ ^ Ztaatswisscnsch after im Lichte um srrer Zeit.
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^ <5»^ ^ stünde de§ deutschen Bodens. 8 Bde. Bon or. E. H. Th. H»du. Pr. 12Thlr. SV. Rar.
Band I. Allgemeine Volkswirthschaftslehre. II. ÄolkswirthschaftSlehre der Urproduktionen. III. Volks'
Wirthschaftslehre der Gewerbe und des Handels. IV. Finanzwissenschaft. V. Staatsrecht. VI. Völkerrecht.
VII. Politik. VIII. Statistik. Das Werk kann auch uach und nach in Lieferungen u ?V- Ngr. bezogen
werden; jeder Band wird auch einzeln abgelassen.
Nach fünfzig Friedensjahren entbrannte der deutsche Krieg. Niemand in
Deutschland, der nicht über sechzig Jahr alt war, oder in der Fremde beobachtet
hatte, wußte aus eigener Erfahrung von der Noth, Vergewaltigung und den
Forderungen eines Krieges zu erzählen. Der rasche Verlauf, das schnelle Ende
des Kampfes brachte Millionen nur unvollkommen ins Bewußtsein, welches die
Consequenzen eines solchen Ausnahmezustandes in civilisirter Gesellschaft sind.
In den einverleibten Landschaften und in den Staaten, die vorläufig sich selbst
überlassen wurden, beginnt das Leben wieder im gewohnten Gleise zu laufen,
hier und da sucht man leichtherzig und gedankenlos das Ungeheure zu vergessen,
oder findet sich gleichgiltig in das Unabänderliche, und es sieht an manchen
Stellen aus, wie an jenem Orte Kurhesseus. wo der Ortsdiener ausschellte:
„Beim Bürgermeister ist eine königliche Bekanntmachung angeschlagen, wer die
lesen will, kann hingehen, und vom 3. October sind wir preußisch." Auch in
solchen Kreisen, welche den verhängnißvollen Ernst ihrer politischen Lage besser
erkennen sollten, sucht man die Eindrücke der letzten Monate als etwas Un¬
gemüthliches abzuschütteln und möchte in der alten behaglichen oder sentimen¬
talen Staatenlosigkeit forlvegetiren. In Sachsen hat es große Aufregung ver¬
ursacht, als General v. Tümpling den Befehl erließ, Offiziere und Mannschaften
der sächsischen Armee, welche sich in Sachsen ohne preußischen Erlaubnißschein
aushielten, zu arretiren. Beurlaubte sächsische Offiziere faßten das als eine
unerträgliche Beleidigung und verließen zürnend wieder die Heimath. Doch
was war dieser Befehl anders als eine Von den kriegsrechtlichcn Folgen des
Kampfes? Noch war, als die Drohung erlassen wurde, weder ein Waffenstill¬
stand noch ein Vertrag mit Sachsen geschlossen, und die sächsische Armee im
Kriegsstand zu den Occupationsrruppen. Der preußische General hatte doch
nur eine selbstverständliche militärische Pflicht erfüllt und es ist lehrreich, daß
Vielen noch alles Verständniß fehlt, wie diese Maßregel nur ein Symptom des
Krankheitszustandes ist, in welchem sich das Land Sachsen befindet. Wenn in
der zweiten Kammer Würtembergs eine große Majorität ihrem alten Parteizorn
noch heut nicht entsagt hat, ernsthaft darüber eifert, ob sich der Schwabe an
den neuen Bundesstaat anschließen soll oder nicht und zu dem Beschluß kommt,
man möge dies unterlassen und sich mit den süddeutschen Nachbarn allein ein¬
richten, so ist auch diese Debatte und ihr Resultat Symptom einer politischen
Naivetät, welche der Besorgniß Raum giebt, daß unsern Freunden in Schwaben
im günstigen Falle einmal dasselbe Schicksal über den Hals kommen werde,
welches der hessische Orrsdiener aufgeschellt hat. Denn in Wahrheit ist den
Schwaben längst die Möglichkeit genommen zu wählen, ob sie zu dem deutschen
Bunde treten wollen oder nicht. Ihr Zollverein mit halbjähriger Kündigung,
ihre eingeschlossene Lage und ihre politische und militärische Desorganisation,
die sie selbst nicht gründlich bessern können, zwingen, sich wahllos dem Bunde
anzuschließen; und nicht sie, sondern Preußen hat die Bedingungen zu formu-
liren, unter denen es ihren Einschluß zum Nutzen Deutschlands will. Noch
immer bildet man sich in Süddeutichland ein, Preußen habe keine dringendere
Aufgabe, als sich um ihre Sympathien zu bewerben. Mögen sie sich jetzt des
Glaubens freuen, es sei wieder alles wie zuvor, etwa mit der angenehmen
Aenderung, daß die Südstaaten jetzt gänzlich unabhängig sind, keine Bundes-
pflicht zu erfüllen haben und im Vollgenuß der Freiheit dahinleben können.
Die Erkenntniß wird nicht ausbleiben, und die jetzt in Bayern, Würtemberg,
Baden keine liebere Unterhaltung haben, als die Tyrannei des norddeutschen
Bundes und Preußens hervorzuheben, sie werden in ihrer Jsolirung schneller,
als wenn sie jetzt einverleibt wären, fühlen, daß sie schon seit fünfzig Jahren
nur Preußen zweiter Classe, nur socii, nicht eivös rowam gewesen sind, und
daß sie grade dieser halben und ungesunden Lage, die ihnen so lieb geworden,
ihre gegenwärtige politische Unklarheit beizumessen haben.
Besser als viele Deutsche im Lande wissen die Landsleute in der Fremde
den Werth der preußischen Erfolge zu schätzen. Aus England, Frankreich, den
Vereinigten Staaten, aus Südamerika, selbst aus Australien kommen Freuden¬
rufe und Glückwünsche. Viele der Männer, welche jetzt dort so patriotisch warm
empfinden, sind als verbitterte Leute ausgewandert, in ihrem Herzen Abneigung
gegen das alte Preußen. Aber ihr Leben in großen Staalöverhä'klassen hat
ihnen den Werth eines Grvßstaats und die idealen Empfindungen, welche er
seinen Bürgern mittheilt, so werthvoll gemacht, daß ihnen Augen und Herz
geöffnet sind für die Bedeutung eines Preußens, welches sich seiner Kraft be¬
wußt wurde.
Auch von den fremden Nationen wird die Bedeutung der preußischen
Erfolge völliger gewürdigt, als in manchen Landschaften der Heimath. Die
politischen MachtverKciltnisse Europas sind dadurch plötzlich geändert, nach vielen
Jahrhunderten der Ohnmacht vermag die deutsche Nation wieder ein Herren¬
wort in Europa mitzusprechen, an die Stelle des deutschen Bundes, den seine
verfassungsmäßige Passivität allen Gegnern deutscher Kraft werth machte, ist
die Politik eines aufstrebenden Staates getreten, der unter allen Großmächten
Europas die günstigste Finanzlage und ein Heer hat, dessen Organisation jetzt
beneidet und wie zu Friedrich des Zweiten Zeiten um die Wette nachgeahmt
wird. Wichtiger noch als die politische Wiederbelebung Italiens ist die von
Deutschland geworden; unser Volk ist zur Zeit kriegerischer, die continentale
Lage in der Mitte Europas zwingt den neuen Staat, Mitspieler zu werden
bei jedem Streit der Großmächte. Seine geographischen Verhältnisse machen
ihn zu dem gefährlichsten Gegner Rußlands und Frankreichs, und deshalb zum
werthvollsten Verbündeten, seine Culturinteressen endlich verknüpfen ihn so
innig mit den höchstcultivirten Ländern Europa's, daß die Zunahme seiner
innern Kraft eine Stärkung für alle andern geworden ist. Denn die Zeit
schwindet, wo ein Volksthum die Ausbeutung seines schwachen Nachbars sich
für den besten Vortheil hielt.
Es ist natürlich, daß dieser Fortschritt Europas am schnellsten und willig¬
sten da erkannt wird, wo die insulare Stellung festländische Allianzen noth«
wendig macht, in Italien und England. Wir haben in der letzten Zeit man¬
chen plötzlichen Umschwung in der öffentlichen Meinung Englands erlebt, kaum
einen größern als während der letzten Monate im Urtheil über Preußen. Es
war zunächst der Erfolg im Kriege, der dies Wunder bewirkte; aber nicht er
allein, auch die unbefangene Freude über jede tüchtige Kraftäußerung, welche
den Engländern seit alter Zeit eigen ist, die lange zurückgedrängte Erinnerung
an die enge Verwandtschaft mit Preußen, welche auf ähnlicher Bildung und im
protestantischen Gewissen ruht; endlich die politische Erwägung, daß jetzt unter
den Großmächten Europas ein neues Gewicht gegen die Schwächen des fran¬
zösischen Wesens und seine alte Neigung A Uebergriffen in die große Wag¬
schale falle, auf welcher die Schicksale Europas gewogen werden. Gern ver¬
gessen wir. daß man in England zu sehr die gesunde Tüchtigkeit unserer Staats¬
grundlagen verkannt hat über den Mängeln, welche noch aus der alten Zeit
des tyrannischen Beamtenstaats bei uns zurückgeblieben sind. Die große Mehr¬
zahl der englischen Blätter und Politiker hat dies gut gemacht, denn, was sie
für uns hatten, war eine warme und herzliche Anerkennung.
Es wird erzählt, daß Kaiser Napoleon nach der unerhörten Cession Vene-
tiens eine Conferenz von Marschällen und Generalen einberufen habe. Auf dem
Tisch seines Cabinets lag eine Karte von Deutschland, der Kaiser frug die Ein-
getretenen, welche Zeit für Frankreich nöthig sei, um eine Armee von 300,000
Mann am Rhein aufzustellen. Die Antwort war: etwa zehn Wochen. Da
sprach der Kaiser: dann ist die Sacke entschieden. Frankreich hält Frieden. Und
er bewies, auf den Lauf der deutschen Eisenbahnen deutend, in drei Wochen
stehen 300,000 Preußen am Rhein, in zehn Wochen sind sie also in der Nähe
von Paris. Ob diese Rücksicht wirklich den Kaiser bestimmt hat, seine Ver¬
mittlerrolle mit solcher Mäßigung durchzuführen, wissen wir nicht. Grade durch
sie hat er für Oestreich mehr durchgesetzt als irgendeinem andern Sterblichen
möglich gewesen wäre, er hat eine zweite Katastrophe vor Wien gehindert und
aller Wahrscheinlichkeit nach den lothringischen Stolz vor einer zweiten De¬
müthigung bewahrt, die fürchterlicker gewesen wäre als die Tage von Skalitz
und Königsgrätz. Er hat auch die definitive Regelung der deutschen Angelegen¬
heiten durch seine Intervention aufgehalten, Sachsen und die Mainlinie als
zwei gefährliche Fragezeichen in Deutschland stehn gelassen. Das fühlt man im
Heere und Volke Preußens. Dennoch hat sein Verhalten in dieser Zeit den
Eindruck persönlicher Würde und einer maßvollen Haltung gemacht. Es war
sein eigenes. Interesse, einen Krieg um Tod und Leben seiner Dynastie zu ver¬
meiden, aber es war auch für Preußen eine große Sache, daß ein solcher Kampf
in diesem Jahre erspart blieb. Und wir verstehen die schwierige Lage und die
Pflichten eines Beherrschers der Franzosen zu würdigen. Jetzt hören wir, daß
der Kaiser erkrankt ist und lesen, daß unfruchtbarer Scharfsinn in der Tages¬
presse bereits in eine unsichere Zukunft hinein combinirt. Wir Preußen be¬
gnügen uns, ein aufrichtiges und warmes Bedauern auszusprechen über die
Erkrankung eines Fürsten, der den Deutschen vom Anfang seiner Negierung
ein gescheidter und anerkennender Beurtheiler war, und der uns gegenüber, wie
groß auch zuweilen die Versuchung zu Uebergriffen wurde, in bedrohlichen Jahren
und in Zeilen unserer Schwäche stets eine besonnene und wohlgeneigte Haltung
erwiesen hat. War er ein Gegner unserer Sacke durch seine Pläne und Pflich¬
ten gegen Frankreich, so war er uns doch ein freundlicher Gegner, der in allen
seinen offiziellen Acten stets loyale Offenheit und noch etwas Anderes bewiesen
hat, was der Preuße zuweilen ritterliche Artigkeit nennen durfte. Es ist billig,
daß wir dem klugen Staatsmann in derselben Weise begegnen. Der Preuße
darf vies aussprechen, ohne in Verdacht zu kommen, daß er eigennützig um die
Freundschaft Frankreichs werbe. Wohl vermag Preußen ein guter Verbündeter
Frankreichs zu sein, denn wir begehren keinen Fuß breit französischen Landes
und wir sehen neidlos das Wachsthum seiner Macht am Mittelmeere und die
großartige Entwickelung der französischen Production. Aber wenn wir Freunde
sein sollen, so tragen wir uns nicht an, man muß uns suchen. Diese Zurück¬
haltung ist doppelt geboten nach dem Kriegstaumel, den die preußischen Erfolge
in Frankreich hervorgerufen haben. Wir vermögen freilich dem Kaiser auch
nichts Lockendes zu bieten, denn Preußen würde einer Vergrößerung Frankreichs
auf Kosten der Schweiz und Belgiens nicht zusehen können, ohne sein eigenes
und das deutsche Interesse wahrzunehmen, wir können auch in einer Zukunft,
die wir fern wünschen, seiner Dynastie keine Stütze gewähren, denn das ver¬
mag nur der gute Wille Frankreichs, und es ist zur Zeit ungewiß, ob dem
Kaiser ein enges Bündniß mit Preußen als günstig für die Befestigung seines
Hauses in Frankreich erscheinen wird, Aber wir sind Frankreich gegenüber
immer in der glücklichen Lage, daß wir gute und zuverlässige Nachbar» sein
können, Und daß aus dem friedlichen Wettstreit der beiden großen Culturvölker
Centraleuropas sich allmälig eine große Gemeinsamkeit der Interessen entwickeln
mag. Nur eins fordern wir von Frankreich, daß es sich gewöhne, alles deutsche
Gebiet, was außerhalb Oestreich liegt, als ein Volk und ein Land zu be¬
trachten, und daß es nicht durch den Eifer einzelner schwäbischer und ultra¬
montaner Fanatiker bestimmt werde, in Begünstigung der separatistischen Wünsche
weiter zu gehen, als der Kaiser bisher gethan hat. Nicht allen Deutschen ist
vergönnt gewesen. bei dem Kampfe dieses Jahres auf der rechten Seite zu
stehen, und der Aerger über das Unerwartete verwirrt noch vielen,das Urtheil;
auch fehlt es unter uns nicht an Fürsten und Parteiführern, deren Verblendung
so bösartig ist. daß sie jetzt lieber französisch als mit Preußen deutsch sein
wollen. Aber wenn es ein Mittel giebt, Preußens Politik und sein Heer
höchst populär und dem gesammten deutschen Volke werth zu machen, so wäre es
trotz allem Aerger in Frankfurt und Schwaben grade ein Krieg mit Frankreich.
Wir haben immer für einen Beweis von erleuchteten Urtheil gehalten, daß
Kaiser Napoleon in dieser Rücksicht den Charakter des deutschen Volkes mit
seinen Tugenden und Schwächen richtig gefaßt hat.
Ueber der Temperatur preußischer Beziehungen zu Nußland liegt ein ge¬
wisses Geheimniß. Rußland war seit Friedrich Wilhelm dem Dritten ein verwöhnter
Nachbar. In langen Jahren eines friedlichen Stilllebens galt Kaiser Nikolaus
in der preußischen Armee für den großen Herrn, an dessen Lob und Auszeich¬
nungen fast mehr gelegen war als an der Zufriedenheit des eigenen Kriegs¬
fürsten. Zwar Friedrich Wilhelm der Vierte ließ sich so leicht keine Gelegenheit
entgehen, in seiner geistreichen Weise einen persönlichen Gegensatz zu dem Forma¬
lismus des Zaaren hervorzuheben, aber der Glaube an die russische Uebermacht
blieb bis zum Krimkriege in Heer und Diplomatie. Zwischen König Wilhelm
und dem Kaiser Alexander besteht noch eine persönliche Freundschaft, und unter
den russischen Generalen, welche in den Grenzländeni auch die Civilverwaltung
leiten, lebt bis zu diesem Jahre der alte Hochmuth, welcher dienstliche Gefällig¬
keiten preußischer Behörden als etwas Selbstverständliches betrachtete und den
Preußischen Staat für eine Dependenz Rußlands anzusehen geneigt war.
Darüber hat das preußische Ministerium des Auswärtigen noch in der letzten
polnischen Jnsurrection Erfahrungen gemacht. — Aber nicht nur Preußen
empfand den Druck einer herrischen und unfreundlichen Nachbarschaft, sorglich
hat Nußland die Verbindung mit deutschen Fürstenhäusern ausgebeutet, mit
Ausnahme der Wittelsbacher, Albertiner und Welsen ist jedes größere Fürsten¬
haus Deutschlands eng mit dem russischen Kaiserhause verschwägert, durch hun¬
dert Jahre war es russische Politik, die Gemahlinnen aus den erlauchten Fa¬
milien Deutschlands zu wählen, und jüngere Prinzen dieser Häuser an den
Hof und in das Heer zu ziehen, Es ist deshalb bedeutsam, daß in dem Jahre
der böhmischen Schlachten nicht eine deutsche, sondern eine dänische Fürsten¬
tochter, freilich auch sie aus deutschem Blut, nach Nußland geworben wurde.
Auch hier ist die üble alte Zeit der gemüthlichen Beziehungen und Familien¬
interessen überwunden. Grollend sehe» die Vertreter der russischen Politik sich
bei uns die große Umwälzung vollziehen. Und man würde mehr als warnende
Privatbriefe und diplomatische Aperyus zu beantworten haben, wenn nickt der
große Staat des Ostens unter Kaiser Alexander dem Zweiten durch eine große
sociale Reform im Innern in Anspruch genommen wäre und außerdem durch
eine Ausbreitung der Herrschaft in Asien. die an Großartigkeit kaum von den
Erwerbungen übertroffen wird, welche England seit hundert Jahren gemacht
hat. Der größte Welttheil wird allmälig unter zwei europäische Mächte ge¬
theilt, deren Fortschritte unaufhaltsam sind, weil sie mit einer gewissen Natur¬
nothwendigkeit vor sich gehen. Wie weit die Ausbreitung der Grenzen über
Mongolen. Chinesen und asiatische Kaukasier eine wirkliche Stärkung der rus¬
sischen Macht fördere, ist eine Frage der Zukunft, für unsere Zeit ist erkennbar,
daß dadurch das letzte Schicksal des türkischen Reiches beschleunigt wird.
Es ist der dringende Wunsch Frankreichs und des Tory-'Ministeriums in
England, die Krisis, welche am Bosporus bevorsteht, hinauszuschieben. Aber
wenn auch die türkischen Truppen durch Gewalt und Versprechungen mit den
Kandioten fertig werden; es ist viel Blut geflossen, der Haß heiß entbrannt,
die Begehrlichkeit der Griechen und SüdslaVen lange durch russische und fran¬
zösische Agenten genährt und in ihren Aeußerungen unberechenbar; ein Gemetzel,
die" türkische Finanzwirthschoft. ein Aufstand in Konstantinopel können jeder Zeit
zu einer Entscheidung nöthigen. Wir haben darum keine Sicherheit, daß der
Zeitraum der großen industriellen Weltausstellung in Paris friedlich verläuft.
Der fünfzehnte December naht, er soll die französische Besatzung aus
Rom entfernen und dem Mittelmeerstaat der Halbinsel Entscheidung über
eine Frage bringen, welche seit Jahren die nationalen Leidenschaften aufgewühlt
hat. Schon ruft die italienische Volkspartei, man müsse ein Ende machen, trotz
der kaiserlichen Zuaven, welche in päpstliche Uniformen gekleidet sind, und trotz
der italienischen Regierung, welche im EinVerständniß mit Frankreich über das
Territorium des Kirchenstaats entscheiden möchte. Die Verhandlungen um
Venetien haben gezeigt, daß die Minister Victor Emanuels über einem unsicher
heißblütigen Volke stehen, dem seine nationalen Ansprüche weit mehr ins Be¬
wußtsein gekommen sind als seine politischen Pflichten. Aber ob die Selb¬
ständigkeit Roms noch auf Monate hinaus conservirt werde, oder ob ein heftiger
Volksact die weltliche Herrschaft des Papstes werfe, in beiden Fällen wird
Italien in neue unabsehbare Verwickelungen verflochten. Im ersteren Falle
wird das beginnende Einvernehmen mit Oestreich verdorben — was wir für
kein Unglück halten — und die theure Freundschaft Frankreichs verloren; im
anderen Falle aber wird dem italienischen Staat ein innerer Gegner geschaffen,
der gefährlichste von allen, zur Zeit unbesiegbar. Denn was bedarf Italien
vor allem, um groß und fest zu werden? Volkserziehung. Zucht der Beamten,
Reform der Universitäten nach deutschem Muster, das Aufblühen einer freien
Wissenschaft, welche Volkslehrer zieht. Hört die katholische Kirche auf, den
Italienern eine feindselige, weltliche Macht zu sein, so gewinnt sie zuverlässig
in Italien den-größten Theil ihres verlorenen Einflusses aus die Herzen wieder,
ihre Grundsäße bleiben, ihr System, wenig modificirt, muß in den Staat auf»
genommen werden. Wie soll eine aufgeklärte Regierung das moralische Siech-
thum und die Herrschaft des pfäffischen Wesens bändigen, wenn dies unsichtbare
Wesen erst aufgehört hat politisch gefährlich zu sein? Ist der Papst nur Ge¬
bieter der Seelen, so muß der Staat dem früheren gefährlichen Gegner Con¬
cessionen machen, weil ihn selbst nicht mehr die politische Leidenschaft des Volkes
gegen die Kirche stützt. Wir begreifen nicht, wie man in Italien einem Con-
cordat entgehen will, das der vornehme Schutzherr der Kirche, Oestreich, sich
nicht fern zu halten vermochte. Und wenn erst Bettelmönche und Jesuiten als
gute Italiener zum Volke predigen, dann wird nach menschlichem Ermessen un¬
möglich werden, Bürger, Soldaten und Beamte zu ziehen, wie sie der neue
Staat nicht entbehren kann.
. Und wieder, wenn die päpstliche Kirche in Italien unter die weltliche Herr¬
schaft eines einzelnen Staates gestellt wird, wie soll die katholische Kirche in
Frankreich und Deutschland päpstlich bleiben? Mit der Entscheidung über das
Schicksal Roms wird die Kirchenfrage zu einer großen politischen Frage und
alle Culturstaaten der Welt werden in die Lage kommen, darauf eine Antwort
zu suchen.
So neigt sich dies Jahr, welches dem deutschen Staat die Grundlagen
eines neuen Daseins gegeben hat, nicht Friede verheißend feinem Ende zu.
In Oestreich mühen sich Regierung und Presse, den prager Frieden wie einen
Waffenstillstand zu behandeln, dem eine militärische Genugthuung folgen werde.
Von derselben Hoffnung nähren sich alle übrigen Gegner Preußens. Preußen
hat einen zweiten Kampf mit seinen Gegnern vom alten Bunde nicht zu scheuen,
wenn diese Gegner ohne fremde Hilfe bleiben. Denn — Italien ausgenommen,
dessen militärische Kraft noch unentwickelt ist — vermag jeder einzelne Gro߬
staat des Continents den Krieg gegen einen Nachbar mit mehr oder weniger
Gefährde, mit größerer oder geringerer Aussicht auf Erfolg, zu unternehmen.
Für Preußen war der große Erfolg dieses Jahres, daß es grade so viel Zu¬
wachs zu seiner Heeresmacht gewonnen hat, um jedem einzelnen Staat des
Continents gewachsen zu sein, nicht nur durch eine größere Zahl von Streitern,
auch durch gebessertes Terrain, Verbindungen, Hilfsquellen. Ja es ist nach
dieser Richtung nicht mehr der relativ schwächste unter den vier continentalen
Großstaaten. Aper ebenso klar ist. daß jede Vereinigung von je zwei Staaten
gegen einen dritten die Existenz des dritten bedroht. Nicht jeden in gleicher
Weise. Was will man Frankreich in Europa nehmen, außer etwa Niz^a? Wie
will man Rußland um Congreß-Polen verkleinern, ohne auch Preußen und
Oestreich Schwierigkeiten zu bereiten? Nach dieser Richtung ist Preußen noch
auf einige Jahre der am meisten gefährdete Staat, denn es ist auf allen Seiten
mit Nachbarn umgeben, welche deutsche Provinzen für sich begehren.
In diesen Wochen steht jede Großmacht allein, keine in inniger Verbindung
mit einer andern, jede beobachtend und mit vorsichtiger Schonung der Nachbarn
sich' den Weg zu künftigen Allianzen offen haltend. Aber aus dieser reservirten
Stellung mag schon die nächste Folgezeit herausnöthigen urtd darinn ist für
den deutschen Königstaat genau das geboten, was jetzt zu Berlin am eifrigsten
vorbereitet wird: die Einfügung der neuerworbenen Länder in das preußische
Wehrsystcm.
Wenn schon der Dichter Friedrich Rückert dem größeren Publikum unbe¬
kannter geblieben ist und setzen wir gleich hinzu, bleiben mußte als manche
andere Günstlinge der Zeit, so ist der Gelehrte Friedrich Rückert selbstverständ¬
lich noch weniger in das allgemeine Bewußtsein gedrungen. Es gehört ja mit
zu den Eigenthümlichkeiten unseres deutschen geistigen Lebens, daß es bei aller
seiner Breite und Tiefe einzelne seiner Hauptströmungen gleichsam durch un¬
durchdringliche Dämme von einander geschieden fortbewegt. Wir sehen hierin
keineswegs eine nothwendige Folge jener mit Recht gerühmten Eigenschaften,
sondern einen Mangel, der einen viel tieferen und gefährlicheren Grund hat,
als man gutmüthig und leichtsinnig genug gewöhnlich zu glauben geneigt war,
bis diese unsere unmittelbare Gegenwart die Wahrheit so verhängnisvoll zu
enthüllen begann. Denn ein gesunder nationaler Organismus hätte auch auf
dem geistigen Gebiete eine solche Jsolirung der Kräfte nicht geduldet, wie ja
ein Blick auf andere bessere Zeiten und durchgebildetere Völker zeigt. In
unserm speciellen Falle mochte man Wohl zur Entschuldigung oder Erklärung
anführen, daß das wissenschaftliche Feld, auf welchem sich die Thätigkeit des
Gelehrten Friedrich Rückert bewegte, ein allzu fern abliegendes sei. Denn wer,
außer einer ganz kleinen Anzahl von Fachgenossen, möge oder könne sich um-
die orientalistischen Studien bekümmern? Wenn nur diese Fachgenossen wußten,
was sie von ihm zu halten hatten, so schien damit dem Interesse der Wissen¬
schaft Genüge gethan. Daß umgekehrt auch sie wieder den Dichter mehr oder
minder ignorirten, war nur die natürliche Folge derselben Ursache, hat aber,
wie sich leicht nachweisen läßt, nicht wenig dazu beigetragen den Meister, der
sich in seiner Totalität so wenig begriffen fühlte, immer mehr nach außen ab¬
zuschließen, allerdings ohne seiner produktiven Potenz weder als Dichter noch
als Forscher Eintrag zu thun. Aber er behielt die Früchte beider Felder mehr
und mehr für sich, ohne irgendwie durch den Mangel an entgegenkommenden
Verständniß sich gekränkt oder auch nur gereizt zu fühlen, wie es so manchen
Andern mit geringeren Gaben und größeren Ansprüchen geschehen ist. Es be¬
dürfte für ihn nicht des warnenden Beispiels eines August Wilhelm von Schlegel,
der in ohnmächtiger Selbstgenügsamkeit schließlich zu einer komischen Figur
herabsank und natürlich auch in seinen Productionen, sowohl im Gebiete der
Poesie wie in dem der Wissenschaft weit hinter dem Ziele zurückblieb, und zwar
je länger desto mehr, das er nach seiner Ausstattung hätte erreichen müssen.
Friedrich Rückert folgte hier, wie überall, seinem eigenen Genius und dieser
führte ihn so sicher und mühelos, wie es nur den wenigen auserwählten Lieb¬
lingen des Schicksals vergönnt ist. Es wird sich auch wohl selten ein zweites
Beispiel dafür finden, wie sein Nachlaß auf eine selbst die Nächststehenden und
Vertrautesten überraschende Weise darthut.
Würden, wie zu hoffen steht, die sehr zerstreuten gedruckt erschienenen wissen¬
schaftlichen Aufsätze und Abhandlungen Rückerts gesammelt, so würden sie trotz¬
dem eine Anzahl von Bänden füllen. Einige davon sind von so bedeutendem
Umfange, daß sie deshalb recht wohl für selbständige Bücher gelten könnten.
Fast alle aber sind in die bescheidenste und bequemste Form gekleidet, in die
von Recensionen. Da sich unwillkürlich nach dem bekannten Durchschnittswert!)
solcher Producte das Urtheil über ihren Gesammtwerth bildet, so ist es nicht
zu verwundern, daß auch sie gleichsam nicht für voll gerechnet wurden und daß
man von einem Friedrich Rückert noch etwas mehr als Recensionen erwartete,
zumal da man wußte, daß er nicht blos eines, sondern mehre wissenschaftliche
Themata auch zu äußerlich selbständiger Behandlung in Angriff genommen habe,
z. B. eine Ausgabe, Uebersetzung und Erklärung des Schah-Rauch, eine zu¬
sammenfassende Darstellung des semitischen Sprachbaues — dem Stoffe nach
etwas Aehnliches, wie Ncnans vergleichende Grammatik der semitischen Sprachen
— eine persische Grammatik, eine arabische und persische Metrik, außerdem auch
noch eine Reihe kritischer Textesausgaben aus allen Zweigen der orientalischen
Literaturen, sowie Commentare in selbständiger Bearbeitung, z. B. zu den Pro¬
pheten des Alten Testamentes und den Psalmen.
All dies, was Rückert als Gelehrter geleistet hat oder leisten wollte, pflegt
im Bausch und Bogen in das Spccialgebiet der Orientalia gerechnet zu werden.
Die Fachgenossen.selbst, mit wenigen Ausnahmen, beurtheilten es von diesem
an sich berechtigten aber auch ebenso beschränkten Gesichtspunkt und so weit
unsere allgemeine Bildung überhaupt von wissenschaftlichen Leistungen Notiz zu
nehmen gewöhnt ist, die nicht zu-dem herkömmlichen Apparat des höheren
Schulunterrichts in directer Beziehung stehen, galt ihr Rückert eben auch nur
als ausgezeichneter Orientalist, weil ihn die nächsten Sachverständigen dafür
hielten. Er selbst hat sich aber ein anderes und viel weiteres Ziel gesteckt und
es bis zur letzten Stunde seines Lebens rastlos verfolgt. Es war die Sprache
im weitesten Sinne des Wortes, deren wissenschaftlicher Erkenntniß seine ge¬
lehrte Thätigkeit gewidmet war, wie diese selbe wissenschaftliche Erkenntniß der
Sprache ihm die gleichsam naturnothwendige Basis seiner Poesie von Anfang
an gewesen und bis zuletzt geblieben ist. Daß die sogenannten orientalischen
Sprachen sich nach außen hin und auch zeitweise in seinem eigenen inneren
Leven und Schaffen einen bevorzugten Platz errangen, vertrug sich recht wohl
mit jener Universalität seines Strebens. Denn es war natürlicherweise bedingt
von Einflüssen, die bis zu einer gewissen Grenze vom Zufall, wenn man es
so nennen will, abhängig blieben. Die Entfaltung der Wissenschaft der Sprache
knüpfte sich ja bekanntlich an das Studium der orientalischen Sprachen, be¬
sonders des Sanskrit. Jeder, der auch noch so selbständig seinem Genius
folgend seinen Weg nach demselben Ziele mit vielen Andern macht, wird doch
unwillkürlich von ihnen beeinflußt und in ihre Bahnen gezogen. Ist es eine
originelle Natur, so bleibt sie freilich nicht für immer darin, und jeder Schritt,
den sie auf gleichem Wege mit den Andern thut, ist ein Versuch, ihre eigene
Bahn zu finden und sich von der Masse wenigstens durch das Tempo ihres
Ganges zu emancipiren. So darf man Wohl auch beHäupten, daß Rückert
durch äußere und insofern zufällige Anregung auf das Feld der orientalischen
Studien gelockt wurde; Joseph von Hammer auf der einen Seite. Friedrich
Schlegel auf der andern waren seine ersten Führer, der Eine in die bis dahin
vorzugsweise orientalisch genannten Gebiete der arabischen und persischen Lite¬
ratur, der Andre in das wenigstens für Deutschland und somit in gewissem
Sinne für die Wissenschaft zuerst durch ihn nicht geöffnete aber mit brillantem
Funkengesprühe von Ferne her beleuchtete Gebiet der indischen Studien.
Friedrich Schlegel und Hammer sind beide jetzt antiquirt in den Augen
der Wissenschaft. Der Erste vielleicht mit Unrecht, weil er, auch wenn man das
strengwissenschaftliche oder vielmehr nach heutigem Begriffe nicht strengwissen¬
schaftliche in ihm abzieht, noch immer etwas übrig behält, was bleibenden
Werth hat und wäre es auch nur die oft wirklich vollendete Form der Dar¬
stellung. Dadurch wird den von ihm originell gefundenen Gedanken, die ihrer
Materie nach Natürlich Gemeingut geworden sind, für ewig ihre wahre Origi¬
nalität und zugleich ihre Lebensfähigkeit in gestalteter Form gesichert. Ueber
Hammer dagegen mag die moderne Wissenschaft einen Strich ziehen oder ihn
höchstens noch als einen ihrer untergeordneten Diener gelten lassen, die blos
dazu geeignet sind, die Massen des Rohmaterials heranzuschleppen und allen¬
falls auch für die primitivsten Zwecke der Arbeit härtlich zu machen. Aber
in seiner Zeit und für den Kreis der Bildung, in welchen auch Rückert gleich¬
sam hineingeboren war, muß auch seine Bedeutung sehr hoch angeschlagen
werden. Jedermann weiß, was Goethe für seinen westöstlichen Divan Hammer
nicht blos zu verdanken glaubte oder gar zu verdanken vorgab, sondern wirk¬
lich verdankte. Auf dem von ihm beherrschten oder wenigstens geschäftig be¬
gangenen Felde war er in Deutschland der Erste, der den Begriff des Studiums
der orientalischen Sprachen von seiner traditionellen Beschränkung entkleidete
und es gewissermaßen idealistrte. Bis dahin galt es entweder als eine curiose
Liebhaberei, zu deren Befriedigung viel Zeit und Geld, namentlich sehr theure
Bücher gehörten, oder als ein Mittel, um Dragoman bei der östreichischen Ge¬
sandtschaft in Konstantinopel zu werden, wie es Hammer selbst gewesen ist, oder
als ein Vehikel für die Erklärung des Alten Testamentes. Durch Hammer
dämmerte die Ahnung auf, daß hier eine selbständige Welt von Geist und
Schönheit beschlossen liege, deren Lösung eben das Ziel her orientalischen Ge¬
lehrsamkeit sei. Das Ziel dieser Studien war damit schon um vieles weiter
gesteckt als bisher, und die Massenproduktion — wissenschaftlich allerdings durch¬
gängig leichte Waare —, mit welcher Hammer seine Lebensaufgabe durchzu¬
führen suchte, die Fluth von Textesausgaben der hervorragendsten orientalischen
Dichterwerke, von Uebersetzungen gleichfalls in poetischer Form — mochten ste
ästhetisch und wissenschaftlich auch noch so mißlungen sein —, von literar-
geschichtlichen Darstellungen eines Geisteslebens, das für die deutsche Bildung
der Zeit noch mit dem Schleier der Nacht bedeckt war, all dies imponirte und
regte unendlich an. bis Goethes westöstlicher Divan zum ersten Male die zu
voller Reife abgeklärte Herrlichkeit des orientalischen Geistes ganz und gar in
den deutschen Geist aufnahm und aus ihm reproducirte. .
Es läßt sich sehr leicht auch aus äußeren Zeugnissen gewöhnlicher Art
nachweisen, wie diese Dreiheit von Anregungen, durch Friedrich Schlegel, durch
Hammer und schließlich und entscheidend durch Goethe nicht etwa nur den
Dichter Friedrich Rückert, sondern auch den Gelehrten für lange Zeit in die
Bahn geführt hat, auf der er sich nach der gewöhnlichen Meinung immer d. h.
seitdem überhaupt sein wissenschaftliches Thun sich bestimmt fixirt hatte und
ausschließlich befunden haben soll. Jedenfalls war es nur eine Anregung von
jenen zweien, die man mehr oder minder nach ihrer eigenen Meinung zu den
Vertretern der Wissenschaft im Gegensatz zu dem Dichter Goethe stellen muß.
was Rückert von ihnen erhielt, außerdem verdankt er ihnen nichts; er war
vom ersten Moment, wo er als Schüler in diese Studienkreise eintrat, über
seine Lehrer hinaus. Einmal, weil er einen Reichthum von wissenschaftlich
durchgeschulter Arbeitskraft mit herüberbrachte, von der weder die geistreiche be¬
queme Art des Einen, noch die eilfertige und breitspurige Routine des Andern
etwas besaß, dann aber, und dies war noch viel bedeutsamer, weil er in jedem
Falle die Einheit seines Genius, sowohl wo er sich als Dichter, als da, wo er
sich als Forscher oder Gelehrter bethätigte, nicht reflectirend, sondern instinctiv
strenge festhielt. Beide Functionen seines einen Wesens waren nur die Aeuße¬
rungen derselben gemeinsamen Action des Geistes, nicht blos verschiedene Actio¬
nen eines und desselben Geistes, wie es der gewöhnlichen Anschauung zu er¬
scheinen pflegt und wie es so oft und so schal als möglich bald dem Dichter
Rückert. bald dem Gelehrten Rückert wenn auch nicht zum Borwurs gemacht,
doch absichtlich zur Beschränkung des Werthes des Einen oder des Andern zu
benutzen versucht wurde. Wenn man die Totalität seines Wesens nach der
vulgären Fiction in einen Dichter und einen Orientalisten spaltete, konnte nach
dem gewöhnlichen Längenmaße des menschlichen Geistes, so zu sagen, natürlich
weder für den Einen, noch für den Andern ein bedeutendes Quantum erübrigt
werden. Nur schade, daß dies Durchschnittslängenmaß eben nicht für ihn paßte
und am allerwenigsten, wenn man es Halbiren wollte.
Uebrigens hat er selbst in dem ersten Producte, was-er in die Welt ge¬
druckt hinaussandte, sein wissenschaftliches und zugleich sein Gesammtprogramm
auf eine wunderbar klare Weise gegeben. Sein ganzes späteres Schaffen als
Dichter und Gelehrter ist hier in den wesentlichen Grundzügen mit einer Art
Von Divination gezeichnet, die für den secirenden Verstand etwas Unbegreifliches
enthält. Da es in einem Druckwerke geschehen ist, das nach der Bestimmung
seiner ganzen Gattung ebenso rasch vergessen als gelesen, oder vielmehr von
den Wenigsten, die überhaupt zu lesen Pflegen, weder mit Augen gesehen, noch
gelesen wurde, nämlich in einer akademischen Habilitationsschrift, so ist es be¬
greiflich, daß auch diejenigen, die sich ernst und eindringlich mit dem Geiste
Friedrich Rückerts befreundet haben, davon nichts zu wissen scheinen, „visssr-
tatio xniIol0Alco pi>iI<)8oMieÄ <to iäöli, rMIoloAg,?,, yuain — und wie die andern
solennen und verzopften Formeln beißen, die bei solchen Gelegenheiten an¬
gebracht werden müssen — publics <ieksnclst ^ri^srieus Küe1<ert. -heilg., 30.nar2
181Z." 86 Seiten auf sehr bescheiden graues Papier in sehr altmodischem
hohem Octavformat gedruckt, macht schon das Aeußere dieses Werkchens auf
den heutigen Leser einen eigenthümlichen Eindruck. So weit sich übrigens noch
eine gewisse populäre Tradition aus jener Zeit bis auf unsere Tage in Jena
und in den Theilen Deutschlands, die von den akademischen Einflüssen dieser
damaligen Centraluniversitcit berührt wurden, erhalten und die gewaltigen Kata¬
strophen der Weltgeschichte und des Universitätslebens während des letzten halben
Jahrhunderts überdauert hat, verweilt diese oder verweilte bis zur jüngsten
Zeit noch immer mit einer sichtbaren Vorliebe bei jener Habilitationsschrift und
noch mehr bei den drastischen Vorgängen während der Habilitation selbst. Nie¬
mals vorher und niemals seitdem hat ein solcher Actus. dessen indifferente
Nüchternheit sprichwörtlich geworden ist, die unmittelbaren Theilnehmer so tief
erregt, wie die Vertheidigung dieser Abhandlung Ze laha xlrilolvgmö. Der
noch völlig namenlose, in Jena kaum persönlich bekannte junge Docent — er
zählte am 30. März Z8I1 noch keine 23 Jahre — imponirte wahrscheinlich am
meisten durch die Macht seines ganzen Wesens, das sich in einem unvergleich¬
lich durchsichtigen Aeußern auch dem blödesten und kindischsten Sinne als etwas
Einziges in seiner Art begreiflich machte. Daneben aber erregte auch die schon
damals ungewöhnliche Gewandtheit in der äußeren Handhabung der lateinischen
Sprache, ein stets schlagfertiger Witz und Humor, den man überall eher als
auf diesem Katheder zu finden gewohnt war. den Enthusiasmus des studen¬
tischen Publikums, das in dem damaligen Jena aus der Elite von ganz Deutsch¬
land bestand. Eine Menge Anekdoten sind von der Sage zu den wirklichen,
qu sich schon pikanten Ereignissen dieses Wortgefechtes hinzugedichtet, die weit
und breit noch jetzt cursiren, wenn auch vorauszusehen ist, daß sie mit der Ge¬
neration, die sie erzeugt hat, absterben werden. Der olympische Stolz eines
Eichstädt — der große lÄclrstRäius, der letzte wirklich „perfecte" Lateiner, was
die spätere Kritik nicht einmal einem Gottfried Hermann ganz und gar zuge¬
stehen wollte —, die vornehme suffisance eines Gabler und mehrer anderer
namenloser Heroen des akademischen Zopfes erlitten hier eine so eclatante
Niederlage, daß sich die Freude der süßen akademischen Plebs und zugleich ihre
Indignation über die geringschätzige und höhnische Vornehmthuerei, mit der jene
illustres und speetadilös zuerst ihren Gegner niederzuschmettern gedachten, nicht
anders Luft machen konnte, als in einer allgemeinen Vertilgung aller den Ge¬
nannten zugehörigen Fensterscheiben nebst.unzähligen obligaten Pereats und den
obligaten Vivats für den jungen Helden. Es muß denn doch diesem sonst so
kurzsichtigen Völkchen nachgerühmt werden, daß es zwar wenig Verstand, aber
desto mehr Jnstinct hat. Wenn irgendeinmal. war er hier auf der rechten
Spur. Der künftige Dichter der geharnischten Sonette, der Uebersetzer der
Makamen stellte freilich eine andere Art von Philologie dar, als man bis dahin
in den Hörsälen von Jena zu tractiren gewöhnt war und wenn auch zehn
gegen eins zu wetten ist, daß unter den Hunderten von begeisterten Vivatrufern
nicht einer auch nur die ersten Sätze der Dissertation in ihrer ganzen, man
möchte sagen, grenzenlosen Perspektive verstanden hat, so schadet das der An¬
erkennung, die man ihrem gesunden Sinne zollen muß, nicht im Geringsten.
Ein Franz Passow, damals Lehrer am weimarischen Gymnasium und später ein
begeisterter Verehrer Friedrich Rückerts, wußte doch, eben weil er Philolog im
gewöhnlichen Sinne und nicht mehr Student war, nichts weiter über die Disser¬
tation zu sagen, als daß er sie für das Product eines Narren erklärte und in
Knittelversen verhöhnte.
Der Begriff der Philologie wär von Rückert in so großartige Perspektive
gestellt, daß es grade einem besseren Kopfe schwindeln konnte; der gewöhn¬
liche Troß wurde von dem gänzlich Unbegreifbaren natürlich nicht ange¬
fochten. Schon darin lag nach dem damaligen Stand der Wissenschaft eine
unvergleichliche Kühnheit, daß einer mitten aus der zünftigen Schaar heraus,
wie es dieser junge Mann that, der sich selbst einen Philologen nannte und
Philologie dociren wollte, rund heraus erklärte, griechische Sprache und Poesie
behaupteten nur eine Stelle in dem Entwickelungsgang des menschlichen Geistes,
sie seien aber nicht die absolute Vollendung der Sprache und Poesie, nicht die
Sprache und Poesie an sich, wie es die Philologen, altmodische und neumodische,
auf gleiche Weise damals noch als unbedingtes Credo hinstellten. Für jeden
Zweifel hatten sie nur ein mitleidiges Lächeln, denn Zorn verlohnte sich kaum.
Dieser blieb einer späteren Zeit aufbehalten, als jene geniale Intuition eines
Einzelnen eine mehr und mehr Anhang findende Ketzerei wurde. Jetzt, ist uns,
Dank der philosophischen und historischen Arbeit des letzten Menschenalters das
gesammte griechische Wesen so völlig in den Organismus der geschichtlichen
Entwickelung eingefügt, daß es uns, die wir so schnell zu vergessen gelernt
haben, sonderbar vorkommt, wenn man der ersten Verkündigung dieser Wahr¬
heit solche Bedeutung beimißt. Sie ist uns schon so trivial geworden, daß wir
die schüchternen Versuche des Widerspruchs nur mehr als Kuriositäten belächeln,
wie man sie freilich am ersten an>„Philologen" in jenem alten Sinne zu finden
gefaßt ist. Der Hinweis auf die orientalischen Quellen der griechischen Cultur,
den das Schriftchen versuchte, konnte nach dem damaligen Stande der positiven
Kenntnisse in "der Linguistik und Geschichte nur ein sehr fragmentarischer sein,
doch ist er frei von allen jenen phantastischen Consusionen, in die sich Creuzer
und seine Anhänger verloren. Daneben aber erkannte die künstlerische Potenz
des jungen Philologen den eigentlichen Kern des griechischen Wesens mit einer
Klarheit und Tiefe, die für immer auch in der schmucken Fassung des lateinischen
Ausdrucks etwas Classisches an sich tragen. Die Schönheit der Erscheinungs¬
form ist ihm das weltgeschichtliche Product des griechischen Geistes, allerdings
nur ein Moment der weltgeschichtlichen Evolution, aber ein ewig giltiges und
befruchtendes und hier wieder ist ihm Homer die wahre Quintessenz und Quelle
des Griechenthums in seiner idealen Bedeutung. So hat denn auch der Mann
und Greis nicht umzulernen nöthig gehabt: die griechische Sprache und Poesie
ist ihm stets dasselbe geblieben, was sie der Intuition seiner Jugend war. Er
lebte in ihr und von ihr als von der süßesten und liebsten Speise unter allen
und seine Tafel war doch wahrlich reicher besetzt als bei den Meisten. Er wid¬
mete ihr auch dann noch immer nicht blos jene einzige durchbohrende Kraft der
Receptivität, mit der er jedes Object in dem Moment, wo er an dasselbe heran¬
trat, auch sofort bewältigte, sondern er blieb bis zuletzt nach seinem eigenen
Bekenntniß ein bewundernder und demüthiger Schüler des griechischen Kunst¬
genius. Ohne an den Minutien der specifisch philologischen Arbeit dieser letzten
Decennien besondern Antheil zu nehmen, las er fortwährend griechische Dichter
und wenn auch mit Vorliebe Homer, so doch mit noch mehr Zeit und Kraft¬
aufwand die Tragiker, selbstverständlich ohne der auch in ihren Trümmern so
reichen Reste der übrigen griechischen Poesie zu vergessen. Wie überall war
sein Lesen und seine Receptivität zugleich die lebhafteste und vielseitigste Pro-
ductivität. Eine ganze Reihe der von ihm benutzten Handausgaben bezeugt
dies: wie schon der vierzehnjährige Knabe sein Schulexemplar der Odyssee dazu
benutzt hatte, um mit äußerst zierlicher, aber leider auch vergänglicher Bleistist-
schrift eine metrische deutsche Jnterlinearversion dem griechischen Texte zwischen¬
zuschieben, so sind auch jene später benutzten alten und neuen Drucke mit Noten
aller Art angefüllt. Theilweise eigentlich kritischer Natur, Wiederherstellungen
des Textes so zu sagen von innen heraus, ohne sich um die Lesarten des Codex
^ oder L oder X viel zu kümmern, aber auch ohne sie zu verachten, meist be¬
gründet durch die poetische Substanz des Lesers und Kritikers, ausnahmslos
auf metrische und rhythmische Erkenntnisse gestützt, für welche der gewöhnliche
Herausgeber, unbeschadet seines Fleißes und seines Wissens, meist gar kein
Organ besitzt, aber beinahe ebenso oft auch, wie in jenem Exemplar des Homer,
Interlinear oder Randversionen, natürlich alle sogleich künstlerisch geformt,
den Rhythmen und Meeren des Originals nachgebildet, leider gewöhnlich in
kleinster Schrift und fast immer mit Bleistift im Momente hingeworfen, aber
meist auf den ersten Wurf so fertig, daß spätere Revisionen selten etwas daran
zu bessern fanden.
Daneben bezeugt eine Menge Einzelblätter, die aus den letzten Jahren
Rückerts stammen, daß er wahrscheinlich nur für sich selbst und einige fach-
gelehrte Freunde auch zusammenhängende kritische und namentlich metrische
Studien besonders in den Tragikern und Pindar gemacht hat, wenn es dafür
eines Zeugnisses bedürfte. Eine Anzahl von größeren Textesabschnitten aus
verschiedenen Tragödien des Euripides liegt vor in sauberster Reinschrift, wie
unmittelbar zum Drucke fertig gemacht. Es sind namentlich lyrische Stellen
und sie stehen in deutlicher Beziehung zu den umfassenden Aufzeichnungen und
Darstellungen griechischer lyrischer Vers- und Strophenformen, aus denen sich
beinahe ein vollständiges System der griechischen Metrik und Rhythmik zusammen¬
setzen ließ. Denn sie werten erzeugt durch sehr ausgedehnte und bis in das
allersublilste Detail geführte Untersuchungen über den Bau des dramatischen
Trimetcrs und namentlich des Hexameters. Für den letzteren ist der griechische
wie natürlich zur. Basis genommen, aber seine specifische Entwickelung bei den
Römern, namentlich bei den Elegikern, für die Rückert unter allen Erzeugnissen
der römischen Poesie die entschiedenste und fast ausschließliche Vorliebe bewahrte,
ist ebenso gründlich erforscht und dargelegt, aber in diesem Falle alles auf ein
bestimmtes praktisches Ziel hin, um die Theorie des deutschen Hexameters zu
begründen. Denn alle bisherigen Vnsuche, vor allem Voß und seine Schule,
schienen ihm eine gänzlich falsche Bahn betreten zu haben und er selbst war
mit seinen früheren, ohnehin sehr sparsamen hexametrischen Gestaltungen all-
mälig ganz unzufrieden geworden. In der unendlichen Fülle der poetischen
Tagebuchblätter, wie man sie wohl nennen dürfte, in denen das ganze innere
und äußere Leben des Dichters bis ins kleinste Detail während der letzten
zwanzig Jahre niedergelegt ist, findet sich eine sehr beträchtliche Anzahl von
hexametrischen Versuchen oder solchen im elegischen Versmaß. Von umfassenderer
Anwendung dieses Verses bietet nur die einzige vollständige und gradezu druck¬
fertige, auch thatsächlich für den Druck bestimmte Übersetzung des Theokrit ein
Beispiel. Sie stammt aus der Mitte der fünfziger Jahre, ist aber bis zuletzt
mancher Revision unterzogen worden. Nach den Schriftzügen zu urtheilen,
müssen einige solcher Verbesserungen, die durchweg metrischer und rhythmischer
'Art sind, noch aus den allerletzten Lebensmonaten stammen.
Schon viel früher, noch in den dreißiger Jahren versuchte er die ganze
Kraft und den Reichthum seiner Sprach- und Verskunst an dem vielleicht gro߬
artigsten Objecte, das die gesammte Poesie des Alterthums darbietet, an einer
Uebersetzung der Vögel des Aristophanes. Die Kunde von diesem Versuche ist
seiner Zeit in das Publikum gedrungen und jeder, der Friedrich Rückert zu
würdigen verstand und zugleich einen Begriff von dem Wesen der ariftophaneischen
Poesie hatte, erwartete die Resultate davon mit höchster Spannung. Doch ist
das gleichfalls druckfettige und durch spätere Revisionen nur wenig veränderte
Manuscript eben nur Manuscript geblieben, wahrscheinlich weil er seinen Vor¬
satz, mehre aristophaneische Komödien und nicht blos diese eine zu übersetzen,
im Drange andrer Studien damals nicht ausführen konnte und später noch
weniger darauf zurückzukommen gestimmt war. Bis zuletzt aber pflegte er seine
grenzenlose Bewunderung des Aristophanes als Künstler und namentlich als
einziger und unübertroffener Muster des Verses auszusprechen. Dies scheint ihn
überhaupt zu ihm hingezogen zu haben: der Inhalt und die Stimmung der
attischen Komödie war sonst, wie sich leicht denken läßt, seiner durchaus posi¬
tiven, reinen und harmonischen Seele keineswegs homogen und es kann kein
Zweifel darüber obwalten, daß er sich aus diesem Grunde von einer Arbeit
abwandte, die ihn, so zu sagen, nur von der technischen Seite her anziehen
konnte, während er ihre ethische Substanz ungenießbar fand. Natürlich trat
mit dem wachsenden Ernste des eigenen innern Lebens grade diese Rücksicht
allmälig in ganz andrer Kraft an ihn heran, als in den früheren Jahren, wo
sich der Mensch in dem Dichter noch eher dem bloßen Techniker oder Künstler
unterordnen mochte. Jene in Stoff und Form an Aristophanes angelehnten
Gebilde, die beiden Theile der politischen Komödie, Napoleon und andere dem
Publikum noch völlig unbekannte ähnliche Erzeugnisse frühester Zeit wären
später nicht denkbar gewesen.
In nächster Beziehung zu dieser vielseitigen und durchweg productiven
Thätigkeit auf dem Felde der griechischen Literatur stand auch sein Antheil an
der lateinischen Sprache und ihrer Literatur. Als Philolog vom Fache in
der älteren beschränkten Bedeutung, wo damit nur Griechisch und Lateinisch ge¬
meint war, hatte er seine öffentliche gelehrte Thätigkeit begonnen. Seine Vor¬
lesungen in Jena nach seiner Habilitation, die er übrigens nicht lang-e fort¬
setzte, sondern schon Ende 1812 abbrach, erstreckten sich auf streng philologische
Gegenstände. Es lag in der damaligen Richtung der Philologie, welche selbst
wieder durch die Einflüsse der allgemeinen Bildung bestimmt wurde, daß das
Lateinische sein früheres unverhältnißmäßiges Uebergewicht an das berechtigtere
Griechische hatte abtreten müssen. Nichts desto weniger beherrschte Rückert das
Lateinische als Sprache selbst und in allen Gestaltungen seiner Literatur voll¬
ständig. Ein interessantes Zeugniß dafür ist seine Habilitationsschrift selbst.
Sie ist in einer Art Lateinisch geschrieben, daß die fremde und todte Sprache
vollkommen lebendig und so zu sagen als die Muttersprache des Autors er¬
scheint. Der vulgäre Ausdruck „in classischem Latein geschrieben", der so oft
als ein gedankenloses und zweideutiges Lob angewandt wird, paßt hier am
wenigsten. Er besagt eigentlich ein seelenloses, der wahren inneren Harmonie
und damit der eigentlichen sprachlichen Lebensfähigkeit entbehrendes Flickwerk
aus allerlei Reminiscenzen, für welche es zuletzt nur eines recht handfesten Ge¬
dächtnisses und einer unermüdlichen Uebung bedarf. Jedermann weiß, daß man
mit diesem modernen classischen Latein originelle oder auch nur moderne Ge¬
danken nur stammelnd ausdrücken kann. Hier aber in dieser Abhandlung über
die Idee der Philologie ist nicht blos der Hauptinhalt des modernen philo¬
sophischen Denkens, insbesondere der älteren schellingschen Philosophie, sondern
auch der durchweg originelle Flug eines selbständigen Geistes vollkommen klar
und zureichend, dabei aber auch in der gewandtesten und zierlichsten Form dar¬
gestellt. Es würde nickt leicht sein, ein ähnliches Beispiel vollkommen zutreffen¬
den und schönen Ausdrucks für Materien von dem entschiedensten modernen und
philosophischen Gehalte in deutscher Sprache aufzufinden, geschweige denn unter
den zahlreichen größeren und kleineren lateinisch geschriebenen philosophischen
Büchern und Dissertationen dieser oder auch einer späteren. Daß aber jene
Kritiker alten Schlages, welche nur ihr classisches Latein gelten ließen, wie sie
es eben nicht besser verstanden, auch den formal sprachlichen Ausdruck in Rückerts
Dissertation angriffen und, wie es scheint, heftiger und gereizter als den Inhalt
selbst, der ihnen wahrscheinlich gar zu fern ablag, darf nach dem eben Gesagten
nicht Wunder nehmen.
Das linguistische Interesse Rückerts an der lateinischen Sprache nahm in
dem Maße zu, als er selbst den Kreis seiner sprachlichen Studien immer mehr
erweiterte und was dasselbe war, sich in das Detail immer tiefer versenkte.
Doch hat er ihr nie jene zeitweise ausschließliche Beachtung und Beschäftigung
zugewendet, wie so vielen andern ihrer Schwestern. Da hier die Arbeit nach
der Beschaffenheit des Materials und der Zahl der damit beschäftigten Kräfre
eine leichtere war als anderswo, so überließ er sie im Wesentlichen Anderen,
ohn» sich ganz von ihr zurückzuziehen. Dagegen fesselte ihn die künstlerische
Seite der lateinischen Literatur noch bis zuletzt. Ihre Bedingtheit von dem
Vorbilde der griechischen und wiederum ihre relative Originalität boten ihm
einen fortwährenden Reiz. Vor allem war es die römische Lyrik, der er grade
so wie der griechischen, ja fast noch eifriger, seine receptive Productivität zu¬
wandte. Seine metrischen und rhythmischen Studien gingen, wie schon bemerkt,
naturgemäß immer vom Griechischen aus, aber das Lateinische wurde ebenso
eindringend und liebevoll beachtet. Noch in den allerletzten Jahren beschäftigte
ihn eine metrische Nachbildung des Horaz, zwar nicht des ganzen Horaz oder
auch nur aller seiner lyrischen Erzeugnisse, aber doch einer ziemlich großen An¬
zahl derselben. Die Arbeit gehörte zu den Beschäftigungen, die er zur Erholung
von mühsameren und umfassenderen besonders gern auf seinem Lieblingsruhe¬
platz, auf dem Goldberge, vorzunehmen pflegte. Dort auf dem einsanken Tiscke.
der eine kleine Anzahl von Büchern aufbewahrte, die zu gleichem Zwecke be¬
stimmt waren, lag auch seine Handausgabe des Horaz. die bekannte leipziger
Duodezausqabe von 18S1, die Moritz Haupt besorgt hat. Das Exemplar.
ü>. 1852 bezeichnet, enthält, wie die meisten von ihm gebrauchten Bücher,
eine Menge von Randbemerkungen aller Art. In ihrer kaustischer Sckärfe
und in der schlagenden Kraft des epigrammatiscken Ausdrucks stehen diese Rand¬
noten neben dem gewöhnlichen Haufen ihrer Art ganz einzig da. Sie beziehen
sich meist auf das Technische und eigentlich Poetische der einzelnen Gedickte,
theilweise aber auch auf die Textesherstellung des Herausgebers, an welcker
dieser Leser nicht wenig auszusetzen hatte. Was von der eigentlichen Über¬
setzung sich vorgefunden hat. umfaßt etwa zwischen einem Drittel und der
Hälfte der lyrischen Gesammtmasse des Horaz. In der vorliegenden Form,
lose, mit Bleistift unendlich fein beschriebene Blätter, kann es nach der Gewohn¬
heit Rückerts. alles eigentlich fertig Abgeschlossene mit Tinte und äußerst sauber
selbst zu mundiren, noch nicht für abgeschlossen gelten. Einige dieser Blcistift-
blcitter müssen nach den Schriftzügen aus den letzten Monaten des vergangenen
Sommers stammen, wo er, trotz der Belästigungen seines körperlichen Uebels,
doch noch immer seine gewohnten Spaziergänge nach seinem Goldberg zu machen
pflegte. Uebrigens ist nach dem Inhalt der erwähnten Randnoten nicht zu
glauben, daß er gesonnen war, noch viel mehr als das Vorliegende zu über¬
setzen. Das Nichtübersetzte ist durch so markirte ästhetische Verdammungsurtheile
als werthlos bezeichnet, daß er sich wohl nicht aus bloßer äußerer Gewissen¬
haftigkeit entschlossen haben würde, auch nur eine Stunde seiner Geistesthätig¬
keit auf seine Reproduktion zu verwenden.
Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß sich die philologische Thätig¬
keit Rückerts in jenem tiefsten und umfassendsten Sinne schon von jeher auch
auf die Muttersprache richtete. Es genügte ihm das angeborene Sprackgefühl
und die vollendete Handhabung des unmittelbar lebendigen Sprachmaterials in
keiner Weise, wie sie wohl anderen großen Meistern des Wortes genügt hat.
Die vollkommene Identität seines künstlerischen und wissenschaftlichen Genius
trieb ihn zu dem eindringenden Studium der Geschichte unserer Sprache und
unserer poetischen Formen, wie es neben ihm und zum Theil durch das Ver¬
dienst von persönlich ihm verbundenen und befreundeten Männern, vor allem der
Gebrüder Grimm, Schmellers und Uhlcmds, zu einer reich ausgebildeten special-
doctrin erhoben worden ist. Er folgte mit reger Theilnahme den Fortschritten
dieser Wissenschaft, er bemächtigte sich des reichen Materials, welches durch die
Thätigkeit unserer Germanisten aus dem Staube der Bibliotheken hervorgezogen
und in reinlichen und sorgfältigen Ausgaben zugänglich gemacht wurde. Keine
bedeutendere Forschung auf diesem Felde blieb ihm unbekannt, aber wie überall
ging er auch hier als ein Autodidakt von Gottes Gnaden, frei von den Fesseln
der Schule, seinen eigenen Weg Das ideal-patriotische Interesse, waS auch er
unter der Anregung einer dafür günstigen Zeit zuerst zu den Denkmälern unserer
älteren Poesie und Sprache mitgebracht hatte, machte bald einem abgeklärten,
rein wissenschaftlichen Platz. Als ein Zeugniß für jene frühere noch befangenere
Schätzung mag der bald aufgegebene Versuch gelten, die umfangreichen Reste
unserer mittelalterlichen Lyrik, die sich in der sogenannten Manesseschen und der
Weingärtner Handschrift erhalten haben, zu bearbeiten und in gereinigtem Texte
wiederherzustellen. Vieles davon gab ihm auch, wie gewöhnlich. Veranlassung
zu Nachbildung in neuhochdeutscher Sprache, wovon ja auch einige wenige
Proben in die gesammelten Gedichte aufgenommen sind. Jene umfassende Arbeit,
1816 in Stuttgart begonnen, durch die römische Reise 1817 unterbrochen und,
wie es scheint, später nicht mehr vorgenommen, konnte nach dem damaligen
Stande der Germanistik zu keinem Resultate führen. Rückert besaß dazu auch
keine anderen Hilfsmittel als den so incorrecten bodmerschen Abdruck der
Manesseschen Sammlung und die Weingärtner Handschrift selbst, die sich
schon damals in Stuttgart befand. Mit äußerster Genauigkeit sind ihre Les¬
arten verglichen und Kleinigkeiten beachtet, für die man dem Dichter wohl kaum
ein Auge zutrauen dürfte. Interessant bleiben jene daraus gewonnenett Textes¬
wiederherstellungen immerhin, wenn sie auch für die Technik der heutigen Wissen¬
schaft unmittelbar kaum zu verwerthen sind. Das feinste Metrische und rhyth¬
mische Gefühl spricht aus jeder, kritisch genommen l'se mehr als gewagten Con-
jectur, zugleich auch das tiefste Verständniß der innern Stimmung und Em¬
pfindung jener so ganz aparten Producte. Er verlor diese Gattung unserer
älteren Poesie auch später nicht aus den Augen: so giebt, um nur eins zu er¬
wähnen, sein Handexemplar von des Minnesangs Frühling in gewöhnlicher
Weise kurzer, schlagender Randnoten, kühner Correcturen des Textes U. s. w.
ein Zeugniß von der lebhaften Theilnahme, mit der er freilich von einem andern
Augpunkt als in jenen Jugendjahren noch in seinem höchsten Greisenalter jene
künstlerisch so reich ausgebildete Erscheinung beachtete. Er selbst stellte in einer
kurzen gelegentlichen Bleistiftnote in seinem Handexemplar des Horaz ihren tech¬
nischen oder künstlerischen Werth in Vergleich mit dem der griechischen, namentlich
äolischen Lynk, wie wir sie namentlich durch die Vermittelung des Horaz kennen
und sagte ,>an die bunte Mannigfaltigkeit des Minnesangs reicht die äolische
Lyrik nicht", setzte aber hinzu: „Goethes lyrische Weisen sind schöner als beide."
Bei weitem den größten Theil der Arbeitskraft in den Jahren der voll¬
sten Reife und meist noch ungestörter Körvcrfrische verwandte Rückert, trotz
der vielseitigsten gelehrten Thätigkeit, von der bisher nur ein paar Rich¬
tungen angedeutet wurden, auf sein eigentliches wissenschaftliches Berufsfach
im gewöhnlichen und im höchsten Sinne, die orientalischen Sprachen. Das
Dreigestirn des Arabischen. Persischen und Sanskrit, das man zu meinen
pflegt, wenn man von orientalischen Sprachen und Literaturen schlechtweg
spricht, war ihm verhältnißmäßig erst spät aufgegangen. Vor seiner Rückkehr
aus Italien, im Herbste 1818, hatte er nur aus abgeleiteten Quellen den
Orient mehr ahnen als kennen gelernt, wofür seine Habilitationsschrift zeugt.
Aber er war doch schon auf dem richtigen Wege: die Herrlichkeit der orienta¬
lischen Poesie in ihrem seldstwüchsigen Rechte neben der antikclassischcn wird
dort ausdrücklich betont und gepriesen, ebenso daß das Sanskrit den Schlüssel
für die gesammte Sprachforschung zu geben bestimmt sei. Aber erst der per¬
sönliche Umgang mit Hammer führte ihn zu wirklichen Studien. Er bewahrte
diesem Manne daher auch immerfort ein dankbares Gedächtniß, obwohl niemand
unter allen Lebenden so wie Rückert befähigt war, seine oft beinahe lächerlichen
wissenschaftlichen und ästhetischen Mängel zu erkennen. Ein freundlicher brief¬
licher Verkehr zwischen den beiden setzte sich lange Jahre fort, bis er endlich
von Seite Hammers auf eine gradezu unbegreifliche Weise gestört wurde, sei
es, weil er den Ruhm seines ehemaligen Clienten, den er in gewissem Sinne
auch für seinen Schüler rechnete, beneidete, sei es, daß irgendwelche Einflüste¬
rungen den eiteln und leicht erregbaren Mann irre machten. Durch Hammer
wurde Rückert auch in die Wiener Jahrbücher der Literatur eingeführt, für
welche er namentlich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eine ganze Reihe
von Recensionen lieferte. Damals existirte in Deutschland noch keine orientalische
Specialzcitschrift, aber die jetzt lange begrabenen und beinahe vergessenen Wiener
Jahrbücher öffneten bereitwillig ihre Spalten auch den umfangreichsten Auf¬
sätzen aus jenem Fache, wenn sie sich nur an die kanonische Form der Recension
banden. Auf diese Art sind einige dieser Recensionen beinahe zu der Größe
eines mäßigen Buches angeschwollen und, wie schon bemerkt, alles andere eher,
als was man so gewöhnlich unter einer bloßen Recension versteht.
Thatsächlich reducirte sich der Einfluß Hammers auf Rückert blos auf eine
allgemeinste Hodegetik zum Studium der orientalischen Sprachen, die er selbst
verstand, d.h. Arabisch. Persisch und Türkisch, nebst allerlei freundlicher Aus¬
hilfe an Büchern und anderem gelehrten Apparat. Gelernt hat Rückert von
Hammer höchstens nur, wie man es nicht machen darf, sowohl als factischer
Gelehrter wie als Uebersetzer. Rückert war von Anfang an auf seine eigene
Kraft verwiesen, aber er setzte diese nun auch, sobald er seit dem Jahre 1820
mit seinem früheren Wanderleben abgeschlossen und sich in Koburg niedergelassen,
ganz und völlig ein und das Resultat war, daß er in wenigen Jahren unter
die ersten Meister der Wissenschaft zahlte. Um solche Erfolge zu erringen, be¬
dürfte es freilich einer unvergleichlichen Begabung für sprachliche Studien oder
richtiger für das Wesen der Sprache in jener eminenten Bedeutung, wo die
Poesie und alle Kunstform eine ihrer natürlichen Ausstrahlungen ist, wie es
die Intuition des Jünglings gefunden und in begeisterten Worten dargestellt
hat. Aber daneben war es doch auch ebenso sehr Sache der Willenskraft. Der
Ausdruck „eiserner Fleiß" würde in diesem Falle nicht recht passen, weil die
Metapher zu sehr die Vorstellung des Mühseligen. Schwerfälligen erweckt. Es
läßt sich aber auch eine höchste, von dem Willen erzeugte und geleitete An-
spannung der Geisteskraft denken, die sich als ein fortwährender Adlerflug des
Geistes darstellt. So war es bei ihm. Da er den sprödesten Stoff des Sprach¬
materials nicht von außen erlernte, sondern sofort von innen reproducirte, da
in ihm alles Fremdartige sofort in sein Eigenstes sich umsetzte, so mochte diese
Art des Lernens den Andern, die nur von ferne zusahen und sie nur nach ihren
Ergebnissen beurtheilen konnten, etwas Unbegreifliches, man möchte sagen etwas
Dämonisches scheinen. Unbegreiflich, oder wie man es sonst nennen will, bleibt
natürlich immer das, was man angeborene Begabung. Talent, Genius zu
nennen Pflegt. Aber die Art, wie dieser Genius sich des Stoffes bemächtigte,
war doch nur dieselbe, wie sie jeder Andere, wenn er dieselbe Concentration der
ganzen Seele darauf wenden will, auch in seiner Macht hat. Darum kann
man auch mit Fug und Recht Rückert einen der specifisch fleißigsten Arbeiter
nennen, welche die Geschichte der Wissenschaft kennt und nicht blos in jenem
banalen Sinne, daß Wohl wenige andere Gelehrte so viel Stunden ihrer Lebens¬
zeit an und hinter dem Büchertische verbracht haben, wie er. sondern auch in
dem höheren, daß nur wenige jede Secunde der Arbeitszeit in so gewaltiger,
so viel es scheint, immer gleicher Anspannung der Kraft des Geistes auszu¬
laufen vermochten. Denn wenn jemand etwa verstehen wollte, was der Aus¬
druck „sich in die Arbeit versenken" bedeute, so mußte er ihn bei der Arbeit
sehen. Aber nicht als wenn er nach der Art gelehrter Nachteulen die Sehkraft
bei natürlichem Sonnenlicht verloren und wie sie, wenn sie zufällig aus ihrem
Bücherneste aufgestört werden, nun tölpisch und lächerlich hin und her zu fahren
gepflegt hätte, denn in dieser Hinsicht besaß er gar nichts von dem Stempel
des Stubengelehrten, so wie er auch sonst allen äußeren gelehrten Prunk gänz¬
lich von sich ferne hielt.
Aber auch dies alles erwogen, bleibt es noch immer unbegreiflich, wie ihm
die Zeit für sein grenzenloses Lernen und Schaffen — beides war ja bei ihm
unzertrennbar — ausreichte. Insbesondere geben die äußerlich so stillen Jahre
der Zurückgezogenheit als Privatgelehrter in Koburg, von 1820 —1826, das
Bild einer so intensiven und zugleich so vielseitigen gelehrten Arbeit, wie keine
jweite Periode in seinem Leben. Um sie auch nur in ihrer äußern Ausdeh¬
nung zu würdigen, muß man wissen, daß er sich einen guten Theil der damals
noch mehr wie jetzt schwer zugänglichen und was für ihn damals besonders
entscheidend war. überaus theuren literarischen Hilfsmittel mit eigener Hand
abschrieb. Manches davon hat sich erhalten, so z. B. eine vollständige und sehr
saubere Abschrift des Sanskritwörterbuchs von Wilson in zwei riesigen Folio-
bänden, allerdings keine todte Copie, die bei ihm undenkbar gewesen wäre,
sondern sofort durch eigene Beobachtungen vermehrt und emendirt. Ganze
Stöße von Bänden abschriftlicher arabischer und persischer Textausgaben sind
allmälig bis auf unbedeutende Reste zu Grunde gegangen, weil eine spätere
Zeit correctere Drucke davon lieferte. d>e seine nur für seinen eigenen Gebrauch
gefertigten Arbeiten überflüssig machten. Ebenso benutzte er schon damals fleißig
den kostbaren orientalischen Handschriftenschatz der gothaer und andrer Biblio¬
theken und ließ sich die Mühe minutiösester Copirunz und Vergleichung nie¬
mals verdrießen. Bickes Derartige ist später von Andern herausgegeben, manches
aber auch noch nicht, was einstweilen nur in der mehr oder minder unmittelbar
druckfertigen Gestalt seiner abgeschriebenen und emendirten und gewöhnlich auch
mit Noten und metrischen Nachbildungen versehenen Texte vmliegt. Wie immer
war er auch in solchen Arbeiten von einer großartigen Unbefangenheit und
Selbstlosigkeit. Daß er jedem, der von ihm geistige oder wissenschaftliche Förde¬
rung begehrte, sie ohne Rückhalt und mit gänzlicher Hintansetzung seiner eigenen
Person gewährte, wissen die, die es erfahren haben, nach Gebühr zu würdigen.
Aber noch ehrwürdiger ist der Eindruck, den man aus den stummen Zeugnissen
seines Fleißes selbst empfängt. So oft er sie später, oft nach einem Zwischen¬
raume vieler Jahre wieder in die Hand bekam, entweder durch zufällige Ver¬
anlassungen oder durch den Gang seiner Studien auf sie zurückgeführt, übte er
gegen sie eine rücksichtslose Schärfe der Kritik, wie er sie niemals so leicht gegen
die Leistung eines Fremden anwandte. Notizen auf dem Umschlage von Con-
voluten solcher Papiere, wie etwa „unbrauchbar, antiquirt, blos zum Andenken
aufzuheben" oder „durch die Arbeit >von X. überflüssig gemacht" vernichteten so
mit einem Worte die Früchte langer Und mühseliger Thätigkeit, befreiten ihn
aber auch wieder von einer Last oder einer Verantwortlichkeit gegen sein eigenes
gelehrtes Gewissen, indem er sich nun nicht mehr darum zu kümmern brauchte.
Natürlich erhalten dadurch günstige Urtheile, die sich an der Spitze mancher
ältrer entweder unvollendeter oder lange abgeschlossener Arbeiten finden, ein um
so höheres Gewicht. Was er selbst bei späterer Revision der Erhaltung werth
fand oder sich zu einer vollendenden Durcharbeitung vorbehielt, darf Wohl
unbesehen als ein noch ungehobener wissenschaftlicher Schatz gelten. So z. B.
steht in seinem Handexemplar des Sanskrittextcs des Naia (es war die erste
boppsche Ausgabe von 1819): „Ich habe den Naia wieder gelesen 1857,16. Mai
(seinem siebenzigsten Geburtstage) und ihn würdig befunden in metrischer und
poetischer Reinheit hergestellt zu werden. Ich habe dazu in den Blättern für
Metrik die meisten zu verbessernden Stellen zusammengestellt. Die meisten sind
auch im Texte selbst von mir corrigirt." Da er allmälig doch fühlen mochte,
daß ihm die Zeit, diese sowie unzählige andere Aufgaben auch äußerlich voll¬
ständig zu lösen, nicht mehr hinreichen möge, so sind diese und so viele andere
ähnliche Notizen zugleich auch als eine Mahnung und Verständigung für die¬
jenigen gemeint, welche später zu Ehren und Frommen der Wissenschaft seine
Gcistesschätze zugänglich zu machen gedächten. Denn es darf wohl als allgemein
bekannt vorausgesetzt werden, daß er diesen Fall vorausgesehen und verschiedene
darauf bezügliche Dispositionen getroffen hat. Er wollte nicht blos für sich
selbst, sondern für die Wissenschaft oder alle die, welche an diesen Studien be¬
theiligt sind, gearbeitet haben, wenn er auch sich selbst von der äußeren Be¬
schwerde und dem unendlichen Zeitverluste dispensirte, den die Veröffentlichung
solcher gelehrter Arbeiten nothwendig mit sich bringt. Er war sich bewußt,
seine Kraft nicht blos für sich, sondern für die Gesammtheit besser anzuwenden,
wenn er nur den Theil der Arbeit, den eigentlichen geistigen und schöpferischen
auf sich nahm, in welchem es ihm kein Andrer gleichthun konnte. Was ebenso
wohl Andern überlassen werden mochte, ließ er auf sich beruhen, indem er sich
,dem Vertrauen hingab, daß eine nähere oder fernere Zukunft schon die Mittel
und Wege finden werde, um sich der Früchte seines Geistes zu bemächtigen.
Jene gedeihlichste Periode der gelehrten Thätigkeit wiederholte sich in aus¬
gedehnterem Maßstabe am Schlüsse seines Lebens, in den letzten achtzehn Jahren,
die er von 1848—18K6 fortwährend in Neuseß und fortwährend nur sich selbst
lebend zubrachte. Zwischen inne liegt seine akademische Berufsthätigkeit in
Erlangen und Berlin. Da er für sein eigenstes Fach oder für den Studien¬
kreis, dem er sich grade damals mit der größten Intensität gewidmet hatte, als
Lehrer wirkte, so verband sich beides, sein Amt und seine Privatthätigkeit gänz¬
lich mit einander. Nur brachte es das Amt mit sich, daß er diese oder jene
Specialität wenigstens zeitweise besonders berücksichtigte, die er vielleicht ohne
eine solche äußere Veranlassung weniger oder in anderem Zusammenhange auf¬
genommen haben würde. Dies gilt hauptsächlich von seinen Arbeiten im Be¬
reiche der hebräischen Sprache und Literatur. Als Professor der orientalischen
Sprachen hatte er herkömmlich die Verpflichtung dieses Fach zu vertreten und
er that es viele Jahre lang, aber allmälig mit sinkendem Interesse, bis er sich
endlich, da sich ein anderweiter Ersatz in einem jüngeren Docenten fand, ganz
davon dispensirte. Später führte ihn wohl hier und da einmal der Gang seiner
Studien wieder darauf zurück, aber er verweilte immer nur kurz dabei. Die eng¬
gezogene Grenze, innerhalb deren die Denkmäler des hebräischen Geistes, sowohl
in der Poesie wie in der Sprache selbst beschlossen sind, bot ihm zu wenig Aus«
heute. Daß er sich aber einstmals mit Voller Kraft auch in diesen Stoff ver¬
senkte, dafür zeugt nicht allein die bekannte Übersetzung der Propheten. Sie
ist unvollständig geblieben; es sollte nämlich ein Commentar folgen, der nie¬
mals erschienen ist. Doch ist er zum großen Theil sorgfältig ausgearbeitet und
zum Drucke vorbereitn noch bandschnfrlich vorhanden und auch später öfter
revidirt und verbessert. Er umfaßt die kleinen Propheten vollständig, von den
großen nur die letzten zwanzig Capitel des Jesaias. Er basirt offenbar auf
Kollegienheften und scheint auch bei den Vorlesungen, die Rückert mehre Mqle
grade über diese Themata hielt, benutzt worden zu sein.
Neben der Übersetzung der Propheten wandte er seine nachbildende Meister¬
schaft aber auch den Psalmen zu. Etwa siebzig davon, also ungefähr die Hälfte,
nach ihrem poetischen Verdienste ausgewählt, sind in dem Original möglichst
treu sich anschließender, öfter und auch noch in den spätesten Jahren sorgfältig
nachgefeilter Form vorhanden. Ein Vergleich mit pen Zandern Älteren und
neueren deutschen Psalmenübersetzungen, an denen wir bekanntlich einen Ueber¬
fluß haben, ist kaum anzustellen, denn man darf behaupten, daß alle früheren
Uebersetzer in dem, was hier hauptsächlich wirkt, in dem völligen Eindringen
in die rhythmische Form dieser hebräischen Lyrik so viel wie nichts geleistet
oder es höchstens zu unsicherem Tasten gebracht haben. Diese Übersetzung ist
wie die der Propheten von einem ausführlichen, leider aber lückenhaften Com¬
mentar begleitet. Auch er geht, wie es scheint, auf Collegienheftc zurück, erhebt
sich aber weit über das gewöhnliche Niveau solcher, und war, wenn auch nicht
zur Veröffentlichung, doch zu vollständiger wissenschaftlicher Begründung und
Erschöpfung des Gegenstandes für den Autor selbst bestimmt. studi.er über
Hiob sind nur zu den ersten Anläufen gediehen: eine zusammenhängende voll¬
ständige Uebersetzung, das sicherste und niemals fehlende Zeichen, daß Rückert
ein Object wirklich bewältigt hatte, findet sich nicht, sondern nur gelegentliche
Ansätze dazu, die um so mehr es beklagen lassen, daß diese Arbeit ganz bei
Seite gedrängt wurde, wie auch eine ähnliche über die Sprüche Salomonis.
Es ist ein eigenthümliches, aber nach der Geisteshaltung Rückerts wohl
zu erklärendes Factum, daß grade aus dieser Zeit auch eine Uebersetzung der
poetischen Theile des Korans stammt, oder in dieser Zeit zum Abschluß gebracht
wurde, denn die Anfänge reichen noch in die k.vburger Periode, wahrscheinlich
in die allererste Zeit der arabischen Studien überhaupt. Diese Koranübersetzung
ist, wie es scheint, so weit vollständig, als es von Anfang beabsichtigt war,
denn Rückert dachte niemals daran den ganzen Mischmasch abgeschmackter Con-
fusion und platter Trivialität, der sich neben der gehaltvollsten Poesie in der
Sammlung des Koran findet, rmäs eruäs ins Deutsche zu übertragen. Auch
hier geht ein ausführlicher, rechtfertigender und begründender Commentar Hand
in Hand mit der Uebersetzung. Der Commentar sollte wie jener über die Prp-
pheten und die Psalmen zugleich die Stelle einer kritischen Textesausgabe ve»-
treten. Darauf bezieht sich auch die gelegentlich ins Publikum gekommene
Notiz, daß Rückert mit einer Kvranausgabe und Uebersetzung beschäftigt sei,
oder sich beschäftigt habe. Auch diese Koranstudien hat er noch in spätrer Zeit
in gewohnter Weise gepflegt und revidirt, obgleich er unsers Wissens später
nicht mehr an ihre Veröffentlichung dachte.
Neben dem Arabischen und Hebräischen wurden aber auch die andern semi¬
tischen Sprachen trotz des natürlichen Übergewichtes, welches das Arabische
linguistisch und literarisch ihnen gegenüber behauptete, von Rückert nicht un¬
beachtet gelassen. So stammen grabe aus der erlanger Periode, die man des¬
halb die wesentlich semitische seiner gelehrten Thätigkeit nennen kann, umfassende
Arbeiten über das Aethiopische, das ihn nur von der rein linguistischen Seite
anzog, da es eigentlich keine selbständige Literatur besitzt, sondern sich auf Ueber-
setzungen aus dem preise der jüdischen und christlichen kirchlichen Denkmäler
beschränkt. Schon damals fesselte ihn auch das Koptische; er erkannte sofort
in ihm ein merkwürdiges Mittelglied zwischen dem Semitismus und Jndo-
gcrmanismus, oder wie er es später immer entschiedener fixirte, die Reste einer
älteren Sprachbildung, in der nur die Keime jener beiden großen Aeste des
flectirenden Sprachstammes vorhanden und beschlossen liegen. Doch hinderte
ihn damals der Mangel an irgend genügenden Hilfsmitteln weiter vorzudringen,
vielleicht auch die grenzenlose Trockenheit und Unerquicklichkeit der koptischen
Literatur, die wie die äthiopische fast nur eine Uebersctzungsliteratur innerhalb
des engsten Kreises ist. Damals überwog bei ihm offenbar noch das künstle¬
rische oder poetische Interesse über das rein linguistische; später verhielt es sich
umgekehrt. Daß er syrisch und Chaldäisch nicht blos vollständig beherrschte,
sondern auch wie überall, sofort auch hier selbständig über das bisher Geleistete
hinausging, bedarf keiner Erwähnung. Das Resultat waren die großartig an¬
gelegten Fragmente einer vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen,
die schon erwähnt wurden. Es läßt sich nicht erkennen, ob diese vorhandenen
relativ wenigen Blätter jemals zu einem vollständigen Ganzen gehört haben:
jedenfalls aber können sie selbst nicht möglich gedacht werden ohne viele andre
zwischen und vor ihnen, die bis jetzt spurlos verschwunden sind. Es war darauf
abgesehen, das Wesen des semitischen Sprachbaues in seinen innersten Tiefen
bloß zu legen und so zu sagen den semitischen Grundtypus an sich zu recon-
struiren. Arabisch und Hebräisch, als die beiden zugänglichsten und entwickeltsten
sa'öpsungen des semitischen Sprachgenies, sind vorzugsweise berücksichtigt und
hier wieder das der Z^it nach jüngere, in seiner eigentlichen sprachlichen Con¬
ception aber ältere und ursprünglichere Arabisch. Doch der äußeren Zugcingllchkeit
wegen wird immer vom Hebräischen ausgegangen, weil es bei weitem die be¬
kannteste und relativ auch leichteste Sprache der ganzen Gruppe ist. Formen-
lehre und Syntax sind gleicherweise berücksichtigt, aber nicht getrennt oder nach
einander, wie es unsere gewohnte Schablone sprachlicher Darstellungen zu ver.
langen pflegt, sondern mit und in einander. Denn es ist die Erkenntniß des
Sprachgeistes in seiner Totalität, auf die hier gezielt wird und nicbt eine
äußere Vollständigkeit des bloßen Sprach Materials oder seine übersichtliche
Gliederung zum Vehufe des Lernens. Ob auch das elementar-sinnliche Element des
Landlebens mit herangezogen worden ist, läßt sich aus den Trümmern nicht
ersehen. Die Vergleichung nach den andern Sprachgruppen, namentlich den
indogermanischen hin. ist zwar nicht unterlassen, aber doch mit großer Resinction
angewandt, ein Zeichen, daß sich damals Rückerts Ansichten über diesen so
äußerst wichtigen Gegenstand noch, nicht zu der scharfen Bestimmtheit durch,
gearbeitet hatten, die sie später erreichten.
Das Interesse für eine solche Vergleichung erwachte bei ihm in dem Mo¬
mente, wo er neben Arabisch zugleich auch Persisch und Sanskrit zu durch-
dringen begann. Er ließ es sich auch nicht durch die ungemeinen Schwierig¬
keiten verkümmern, mit denen diese Forschung umringt ist, noch weniger durch
die Verketzerungen, denen ein solcher freierer Flug über das einmal abgezirkelte
und abgezäunte Feld der Tagesmode in der Wissenschaft hinaus nothwendig
ausgesetzt ist. Niemand hütete sich sorgfältiger vor allem unzulänglichen und
unvorbereiteter Zufahren, wie er: aber wenn jemand mit einem solchen Apparat
von linguistischen Wissen, wie er sich zum zweiten Male bei keinem in dieser
Zeit vereinigt fand, an die Sache herantrat, und wenn dieser jemand noch dazu
mit einem gleichfalls einzigen Maße genialer sprachlicher Intuition ausgerüstet
war, so durfte ein solcher sich auch wohl an etwas wagen, dem aus praktischen
Gründen schwächere Kräfte fern bleiben mußten. Wenn dies recht und billig
ist und keiner an sie die Forderung des Unmöglichen stellen wird, so scheint es
umgekehrt gleichfalls recht und billig, den Genius auch auf seinem separaten
Wege gewähren zu lassen. Doch man weiß ja, wie es hier und anderwärts
mit der Reciprocität bestellt ist. Auch Rückert wäre gewiß nicht dem zornigen
oder höhnischen Gebelfer entgangen, wenn er die Früchte seiner bis zuletzt mit
immer wachsendem Eifer fortgesetzten vergleichenden Sprachstudien auf den
Markt gebracht hätte. Daß er es nicht that, war nicht etwa Scheu vor dem
Arts'eil der Schule, sondern einfache Folge des eben erwähnten Umstandes.
Wäre es ihm vergönnt gewesen bei längerer Lebensdauer zu einem Abschluß zu
gelangen, so würde er auch nicht gezögert haben die Resultate seiner wissen¬
schaftlichen Thätigkeit hier wie anderwärts klar und bestimmt zu ziehen, ohne
daß er sie deshalb auch sofort dem Drucke übergeben hätte. Aber er ist auch
sich selbst gegenüber hier wohl zu einem vorläufigen innern, doch zu keinem
äußern Abschluß gekommen.
Für die Periode des Vorwiegens semitischer Studien kann die Vollendung
der Hamasa als Grenze angenommen werden. Sie fällt in das Jahr 1844;
die Arbeit gehörte zu denjenigen, die sowohl den Gelehrten wie den Dichter
in aller seiner Kraft in Anspruch nahmen. Begonnen war sie schon in den
ersten Jahren seiner orientalischen Studien, noch in Koburg. aber aus verschie¬
denen Ursachen oft Jahre lang liegen geblieben, so daß bis zu ihrem völligen
Abschluß beinahe ein ganzes Menschenalter verging. Bon da ab verlor Rückert
die arabische Sprache und Literatur zwar nicht aus den Augen, aber er sagte
sich selbst, daß er bis zu dem Ziele vorgedrungen sei. das er sich ursprünglich
selbst gesteckt hatte und daß er einen Theil seiner Arbeitskraft nun von diesem
Felde hinwegziehen könne, um ihn anderwärts ergiebiger zu verwenden. Den
Platz des Arabischen hatte allmcilig in der Neigung und in der äußern Dis¬
position über seine Arbeitszeit das Sanskrit und daneben das Persische ein¬
genommen. Durch das letztere war selbstverständlich auch immer ein Ver-
bindungsfäden mit dem Arabischen festgehalten, von dem es in den Kunstformen
seiner Literatur in den Stoffen, ja selbst in seinem lexikalischen Material so
stark beeinflußt ist, daß es ohne jenes gar nicht recht begriffen werden kann.
Dem äußeren Umfange nach ist das Material aller Art, welches Rückerts
Sanekritstudien zu Tage gefördert haben, noch bedeutender selbst als das der
arabischen, ja der gesammten semitischen. Ohne seinen Gehalt noch in Betracht
zu ziehen, scheint sich darin eine weit über das gewöhnliche Maß des Fleißes
und der Productivität hinausreichende Thätigkeit eines ganzen vollen Lebens ab¬
zuspiegeln, während es hier nur ein Stück, wenn auch ein vorzüglich begün¬
stigtes, des Ganzen ist. Was Rückert als Ahnung in seiner Doctordissertation
ausgesprochen, das sah er allmcilig im Laufe des letzten Menschenalters der
linguistischen Studien in Erfüllung gehen. Im Sanskrit war zwar nicht die
Ursache an sich gefunden, wie manche Leute von starker Phantasie und geringer
Gcdankenschcufe wähnten — Rückert selbst hat sich niemals eine solche Confusion
der Begriffe zu Schulden kommen lassen —. aber doch eine Art von Schlüssel
für die Genesis und Construction einer ganzen Menge von Sprachen. Die
Sprachvergleichung,,eine Wissenschaft, die ohne die genaue Kenntniß des Sans¬
krit undenkbar wäre, beruhte auch für ihn zunächst auf dieser Grundlage, aber
wir haben schon gesehen, daß seine linguistische Perspective viel zu großartig
war, als daß er seinem Auge an der Grenze der sogenannten indogermanischen
Sprachen hätte Halt gebieten können. Die vollkommenste Herrschaft über das
Sprachmaterial des Sanskrit erlangte er rasch und ungefähr in derselben Zeit,
in der er eine für die Erlernung offenbar viel schwierigere Sprache, eine, die
namentlich in der Fülle und Mannigfaltigkeit ihres Wortschatzes das Sanskrit
weit übertrifft, das Arabische, sich zu eigen machte. Nur Möchten wir hier noch
bemerken, daß der Ausdruck in derselben Zeit sich auf eine längere Periode be¬
zieht. Wenn Rückert an die Bewältigung einer neuen Sprache ging, ein Fall,
der sich in seinem gelehrten Leben mindestens ein Halbhundertmal wiederholte,
so befolgte er, nicht aus Reflexion oder als mnemotechnisches Hilfsmittel, son¬
dern durch den unmittelbaren Jnstinct seines Geistes getrieben, stets die Methode,
eine ganze längere Zeit — er rechnete im Durchschnitt 6 bis 8 Wochen dazu
nöt'sig —, nur diese eine Sprache vorzunehmen und ausschließlich in ihr zu
leben. Es war ihm während dem gradezu unmöglich, Schriftwerke einer andern
oder mehrer anderer daneben zu lesen, am allerwenigsten etwa mehr als eine
ihm noch unbekannte auf einmal oder neben einander zu erlernen. Sein Geist
bohrte sich, so zu sagen, oder versenkte sich so völlig hinein in das ihm noch
fremde Object, daß einstweilen kein Raum für etwas Anderes gleicher Art blieb.
Andere wissenschaftliche Gegenstände aus ganz entlegenen Gebieten konnten ihn
nicht stören: sie diente» ihm vielmehr zu der bei solcher erschöpfenden Anspannung
durchaus nöthigen Erholung.
Das linguistische Interesse, welches ihn zuerst zum Sanskrit geführt hatte,
verband sich naturgemäß sofort mit dem poetischen. Wenn irgendwo, erhielt
das eine wie das andere hier seine reichste Befriedigung, ohne daß er je zu
einer Überschätzung sich hätte verleiten lassen. Davor sicherte ihn schon seine
universelle Kenntniß der Sprache, sein Eindringen und Einleben in die Welt¬
literatur in einem Umfange und einer Tiefe, deren sich nicht leicht ein Anderer
rühmen konnte. Wie hätte er von einseitigen Vorurtheilen befangen sein kön¬
nen, er, der in allen sichtbaren Erscheinungen der Sprachen und ihren Kunst¬
schöpfungen nur die stufenweisen und organischen Offenbarungen eines und
desselben Geistes sah, er, dem der Begriff der historischen Berechtigung und
Würdigung schon durch Intuition aufgegangen war. als er nur noch auf einem
relativ sehr engen Gebiete, dem der classischen und modernen Sprachen und
Literaturen, heimisch war? Daß ihn aber die verba!tnißmäßig einzige Vollen¬
dung der Sprachbildung, ebenso wie die verhältnißmäßig einzige Fülle der
Phantasie und poetischer Conception im Sanskrit mit stets wachsender, weil
stets besser begründeter Bewunderung erfüllte, versteht sich eben deshalb von
selbst. Jene sonderbare Art von angeblichen Patriotismus, der ihm als Dich¬
ter und als Gelehrten seine angebliche Vorliebe für so völlig fremdartige Dinge
und die nach einem ebenso wunderlichen Vorurtheil nothwendig damit verbun¬
dene Entfremdung von der eigenen Heimath zum Vorwurf zu wenden suchte,
blieb ihm unverständlich, oder er hätte in ihr das, was sie ist, eine bloße Bor-
nirtheit, wenn nicht etwas Gemeineres sehen dürfen, wenn seine große und reine
Seele nicht zu arglos dazu gewesen wäre. Es geschah häusig genug, um irgend¬
einen poetischen, landsmannschaftlichcn oder politischen Parteigenossen gegen
ihn den absolut selbständigen und Unabhängigen möglichst ins Licht zu setzen
und wenn man sonst nicht viel zu sagen wußte, so war man damit wohlfeil
genug mit einer Waffe versehen, die immer einige Wirkung that, da wir uns
in Deutschland während der letzten Decennien nur durch die Herrschaft der
patriotischen Phrase trotz ihrer von Vielen geahnten und jetzt so entsetzlich
offenkundig gewordenen Lügenhaftigkeit so sehr haben imponiren lassen. Sein
Patriotismus war von anderem Gehalte; wie er in Beziehung auf die großen
praktischen Interessen der deutschen Nation stets und mit ganzer Seele Theil
nahm und nach seinen reichen Kräften förderlich eintrat für alles, was zu ihrer
Ehre und Läuterung diente, wußte jeder, der ihm nahe stand. Nur das patrio.
lische Pbrasenthum und die gedunsene Schwätzerei, von welcher namentlich die¬
jenigen sich nicht erslttigen konnten, die sich jetzt als die eigentlichen Todfeinde
jeder gründlichen und ernsten That zur Rettung der deutschen Nation aus einem
Abgrund von Schmach, Verkommenheit und Verwahrlosung erweisen, war und
blieb ihm immer unerträglich, wie er überhaupt weder an sich noch an Andern
die Phrase duldete.
Wie groß er von dem Berufe deS deutschen Geistes und der deutschen
Sprache auf dem idealen Gebiete der Kunst und der Wissenschaft dachte, davon
legt schon jene früheste Jugendarbeit, die Abhandlung über die Idee der Phi¬
lologie, genügendes Zeugniß ab. Dem deutschen Wesen erkannte er allein die
Fähigkeit zu. den ganzen Reichthum des fremden Geisteslebens in sich aufzu¬
nehmen, ohne sich selbst untreu zu werden. Und wie er in beredten Worten
gegen den Unfug der ehr- und charakterlosen Hingabe an das Fremde eiferte,
ebenso sehr bekämpfte er auch die Pedanterie des nationalen Purismus, der
bornirten Exclusivität auf idealen Gebieten. Die Idee der Weltliteratur war
ihm schon damals aufgegangen, aber er faßte sie nicht in jenem vagen, kosmo¬
politischen Sinne, in welchem sie gleichbedeutend ist mit einem Aufgeben der
deutschen Eigenart. Er selbst hat ja durch seine eigene künstlerische Thätigkeit
am deutlichsten gezeigt, wie er sie meinte, denn kein Anderer hat, wie auch seine
Verkleinerer zugeben müssen, eine so unendliche Menge von Schätzen der Fremde
der Heimath zugeführt und sie ganz und gar deutsch gemacht, nicht blos mit
einem äußerlich übergehängten deutschen Gewände verkleidet. Schon damals
erklärte er sich gegen die Art, wie Voß die fremde, namentlich die antike Poesie
deutsch zu machen versuchte. Er fand sie im Gegensatz zu der damals geläufigen
Mmiung durchaus roh und handwerksmäßig. Ihm selbst schwebte schon damals
ein anderes Ideal des Uebersetzers vor, das er später so bewunderungswürdig
verwirklichen sollte. Daß es ihm nicht blos mit Hilfe des sprachlichen Jnstinctes
ober des angeborenen Talentes gelang, bedarf keiner Bemerkung, wie mächtig
man sich auch beide denken möge. - Er versenkte sich mit rastlosem Fleiße in die
subtilsten und mühseligsten Studien unserer lebenden Sprache, grade so wie er
ihre Vergangenheit allseitig ergründete. Er ging ihr in alle ihre verborgensten
Falten und Winkel nach und nichts war so klein und scheinbar so genngfügig,
worauf er nicht die Schärfe seines Blickes gelenkt hätte. Ohne dem Verdienste
Anderer zu nahe zu treten, darf man wohl behaupten, daß kein Anderer unter
den Lebenden sich an feiner und bis in die allerletzten Tiefen dringenden Er¬
kenntniß unserer Sprache mit ihm messen konnte. Aber er hatte dies, wir
wiederholen es noch einmal, nicht als ein Geschenk irgendeiner transcendentalen
Offenbarung, sondern als die Frucht unermüdlicher, liebevoller und selbstloser
Arbeit. Unzählige Notizensammlungen aller Art, zum Theil bis zum Tage
seines Scheidens fortgesetzt, zeugen davon. Grade in den allerletzten Tagen
beschäftigte er sich bei noch völlig ungeschwächter Geisteskraft mit solchen Fo»
schungen und als er schon die Kraft zum Schreiben verloren hatte, dictirte er,
ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, noch einige Bemerkungen, die sich auf
den Wortschatz unserer lebenden Sprache beziehen, Ergänzungen zum Wörter¬
buche der Gebrüder Grimm, wie er sie früher halb humoristisch bezeichnete.
Denn der Gesichtspunkt, von dem er ausging, war ein grundverschiedener. Ihm
kam es darauf an, der Sprache ihre gesammte Lebensfähigkeit abzulauschen, um
sie zu künstlerischem Gebrauche für sich zu verwenden oder Anderen den Weg
dahin zu zeigen. Die bloße gelehrt-historische Sammlung des Sprachschatzes
einer gewissen äußerlich abgegrenzten Periode, wie etwa seit Luther, hatte für
ihn gar kein Interesse, so sehr er auch den darauf verwandten Fleiß zu wür¬
digen wußte und sich an dem vielen sinnigen und richtig Gesehenen in dem
Detail jenes Werkes erfreute. Seine Mängel liegen so offen vor, daß sie Rückert
am wenigsten entgegen konnten, aber nach seiner Art, die durch und durch
positiv war, verweilte er auch hier mit Borliebe,bei dem, was er und die Welt
aus jener wohlgemeinten und'mühseligen Arbeit gewonnen hatte.
All dies brauchte einem vorurtheilsfreien und verständigen Kenner des
Dichters Rückert nicht gesagt zu werden. Doch da wir an solchen keinen Ueber¬
fluß haben und der Stand unserer deutschen Bildung derartig ist. daß man
auch in der nächsten Zukunft nicht auf die Anbahnung eines innigeren Ver¬
hältnisses zwischen ihm und dem deutschen Publikum zählen darf, so war diese
kurzgefaßte Auseinandersetzung des Sachverhaltes, wenn auch eine Abschweifung,
so doch nothwendig, um die Lüge der banalen Phrase aufzudecken oder alt dem
rechten Namen zu bezeichnen. — ,
Jene innige Durchdringung des Geistes der Fremde und der deutschen
Heimath, wie sie Rückerts ganze Poesie charakterisirt, hat bekanntlich grade an
einem Stoffe der SanStritliteratur sich am seelenvollsten und kunstreichsten voll¬
zogen. Sein Nal und Damajcinti ist selbst nur von wenigen aus der großen
Last derer bemängelt worden, die von dem „Deutsch-Orientalen Rückert" sonst
nichts wissen wollten. Die überwältigende Schönheit des Stoffes und der
Dichtung konnte selbst auf den stumpfen und groben Sinn, durch den sich im
Allgemeinen unser Publikum vor dem anderer gebildeten Länder unvorteilhaft
auszeichnet, seine Wirkung nicht verfehlen. Wer das Original kennt, weiß, daß
hier keine eigentliche Uebersetzung, sondern eine freie Nachbildung, eine Umdich-
tung, wie sie die größten Meister, voran Shakespeare, so oft versucht haben,
einen ihrer größten Triumphe feiert. Das Original in seiner vollen landschaft¬
lichen und nationalen Absonderlichkeit kann dadurch für die Wissenschaft nicht
ersetzt werden, wohl aber hat der Geist der modernen Bildung und Kunst durch
Rückert alles, was ihm davon brauchbar und insofern ewig menschlich berechtigt
ist, aufgesogen. Neben dieser freieren Schöpfung ist die Zahl der anlehnenden,
wirtlich abhängigen Nachbildungen indischer poetischer Erzeugnisse eine so
große, daß wer das Sachverhältniß nicht kennt, vermuthen müßte, ein reich be¬
gabter, künstlerisch und wissenschaftlich gleich mächtig ausgestatteter Genius habe
alle seine Kraft und die ganze ihm vergönnte Zeit seines Erdendaseins nur für
diese eine Arbeit eingesetzt. Vielleicht von der größten Anziehungskraft für die
wissenschaftlichen und gebildeten Kreise dürfte darunter eine Uebersetzung der
Sakuntala sein. Sie stammt aus den fünfziger Jahren, ist vollständig vor¬
handen, sorgfältig nachgebessert und vollkommen druckfertig. Sie scheint auch,
wie aus einigen Notizen des Verfassers hervorgeht, gradezu dafür bestimmt ge¬
wesen zu sein, ist aber auch aus den schon auseinandergesetzten Gründen im
Pulte liegen geblieben. Selbstverständlich geht neben der Uebersetzung, äußerlich
aber ganz getrennt von ihr, ein unendlich reicher Apparat von kritischen und
exegetischen, namentlich auch technischen Studien über die poetischen Formen des
Stückes und der indischen dramatischen Poesie überhaupt. Denn es finden sich
außer eigentlich gelehrten Bemerkungen und Studien zu den bedeutendsten
übrigen bisher bekannten Erzeugnissen derselben auch noch verschiedene Ansätze
zu kunstmäßigen Uebertragungen, von denen aber keiner weit gediehen zu sein
sckeint. Wie er in den brahmanischen Erzählungen und anderwärts einige der
gehaltvollsten Episoden des Mahabharata dem deutschen Volke dargeboten hatte,
zwar anders als Rat und Damajanti, nicht als freie Umdichtung, fondern
als deutsche Nachdichtung des indischen Originals, so beabsichtigte er noch eine
große Anzahl anderer Blüthen der indischen Epik unserer Sprache anzueignen.
Vieles davon, fast ausnahmslos gleichfalls dem unerschöpflichen Mahabharata
entnommen, ist von ihm vollendet worden, manches aber nur begonnen. Ueberall
schließt sich auch hier die gelehrte, kritisch-exegetische Thätigkeit unmittelbar an
die künstlerische. Neben der deutschen metrischen Uebertragung steht gewöhnlich
der gereinigte Sanskrittcxt. das Ergebniß seiner productiv-l'ritischen Arbeit, selbst
eine Art von Kunstschöpfung, indem hier eine dem ursprüngliche» Dichter min¬
destens gewachsene poetische Kraft das Vor Alter Verfallene' wieder in dem
Jungbrunnen des wissenschaftlich geschulten Kunstgesühls belebt hat.
Aber mehr als dies alles ergriff ihn die Fülle und Tiefe der Ergebnisse,
welche sich durch das allmälige Bekanntwerden der Vedaliteratur herausstellten.
Von dem ersten dürftigen sxeeimoir Roseus bis zu den fast unübersehbaren
Publicationen der jüngsten Zeit entging ihm hier nichts. Auch hier wieder
bezeugte er seine vollste Theilnahme durch umfassende, natürlich den Kunstformen
der Originale nachgeviloete Uebersetzungen, besonders von Hymnen des Rig-
Veda. Sie stützen sich auf eine großartige Fülle von metrischen und rhyth¬
mischen Beobachtungen zunächst eins dieser vorsanskritischen Poesie, dann aber
auch aus der eigentlichen sanskritischen Periode. Die Entdeckung, wie man sie
wohl nennen darf, der BedaUleratur fällt in eine Lebensperiode Rückerts, wo
er nach dem gewöhnlichen Herkommen die Befugniß gehabt hätte auszuruhen
und Anderen die Ausbeute der neuen Welt des Geistes, die sich damit erschloß,
zu überlassen. Er aber wurde dadurch nur zu erhöhter, gleichsam verjüngter
Thätigkeit angeregt und behielt die wahrhaft begeisterte Theilnahme an der
Hebung dieser Schätze, von der er in dem Momente erfüllt wurde, als er ihre
ersten Resultate kennen lernte, ungeschwächt bis zuletzt. Er ist immer wieder
auf die Beden, ihre Kunstformen und ihr eigentlich linguistisches Material, be¬
sonders das lexikalische zurückgeführt worden, was seine hier vorzugsweise reichen
und vollständigen Papiere bezeugen.
Wir haben in dieser möglichst gedrängten Uebersicht nur die eigentlichen
Spitzen und diese nicht einmal alle, so z. B. übergehen wir ganz seine kolossalen
Arbeiten über das Schah-Rauch, heraustreten lassen, in denen sich die wissen¬
schaftliche Thätigkeit Rückerts zusammendrängte. Aber es darf auch nicht ganz
Übergängen werben, daß sie unendlich ausgebreiteter war, als sich bisher dar¬
stellte. Daß man ihn nicht als einen bloßen Orientalisten in dem beschränkten
Fachsinne gelten lassen darf, hat sich bereits ergeben. Seine linguistischen und
literanschen Interessen reichten aber noch weit über die bereits umschriebenen
Grenzen hinaus. Es ist eine Periode in seinem gelehrten Leben gewesen, in
der er dieselbe Concentration des Geistes, von der wie von dem Blitze alle
Hindernisse zerschmettert wurden, einer Reihe von Sprachen zuwandte, die auch
bei dem jetzigen Aufschwung des linguistischen Studiums doch nur sehr verein¬
zelt gepflegt werden. Hierher läßt sich schon das Koptische rechnen, dessen emi¬
nente Bedeutung ihn bis in die letzte Zeit zu unermüdlichem Fleiße reizte.
Die Resultate davon liegen in den ausgedehntesten grammatikalischen und lexi¬
kalischen Sammlungen vor, die zugleich wie immer völlige Neuconstruirungen
des bisherigen Wissensstandes sind. Wegen einer gewissen Wahlverwandt¬
schaft seines literarischen Genius, nicht seines sprachlichen, möge hier auch des
Armenischen gedacht werden. Im Beginne der vierziger Jahre beschäftigte
er sich eindringlich damit und eine poetische Frucht davon ist die Tragödie
König Oesalt, eines der ergreifendsten Geschichtsbilder von welthistorischer Per-
spective.
Fast ebenso mächtig wie später durch das Koptische sah er sich lange Zeit
durch die südindischen Sprachen angezogen, die man gewöhnlich Tamulisch,
Telinga, Karnata und Malabarisch zu nennen pflegt. Wir behalten diese nur
halb richtigen Namen hier natürlich bei. Die neue Well, die sich ihm damit
erschloß, setzte sich für ihn gleich in Verbindung mit einem äußerlich weit davon
entlegenen Sprachkreis, in welchen er schon früher eingedrungen war, mit dem
der finnisch-tatarischen Sprachen. Darunter fesselte ihn vorzugsweise die gewöhn¬
lich Finnisch im engere» Sinne genannte, weil sie in den Resten ihrer gro߬
artigen Volksepik fast allem unter ihren Schwestern sich zur Kunst veredelt hat.
Aber er gebrauchte sie und ihre Verwandten auch zu umfassende» sprachver-
gleichenden Studien sowohl nach den südindischen und andern flexionslosen
Sprachen, namentlich nach der malayischen hin, wie auch nach der Seite der
vollendet flectirenden, der indogermanischen, ohne sich jedoch erschöpfend oder
abschließend darauf einzulassen. Jn>der letzten intensiv und extensiv so unend¬
lich reichen neusesser Arbeileperiobe hat er nur selten einmal dies ungeheure
Gebiet betreten, doch es auch nicht ganz bei Seile gelassen. Aus der früheren
Zeit stammen als selbstgeschc>ffene Hilfsmittel des Studiums eine Menge von
handschriftlichen, stets natürlich eigenhändigen Arbeiten, die schon als Zeugnisse
seines rastlosen Fleißes im gewöhnlichen Sinne des Wortes interessant sind.
Eine Reihe stattlicher Folianten und Quartanten enthält die Abschriften der vor¬
handenen düisligen und noch dazu höchst seltenen und damals vor zwanzig
Jahren noch viel unzugänglicheren Hilfsmittel lexikalischer und grammatikalischer
Art, auch Texte, wie immer, sofort selbständig weiter geführt, durchgearbeitet und
ganz umgegossen der Sache nach, wenn auch nicht in der Form.
W>r wollen hier kurz abbrechen; was hälfe es noch weitere statistische That¬
sachen einer wissenschaftlichen Allseitigkeit aufzuzählen, die offen gesagt zu ge¬
waltig ist, als daß man sie recht zu würdigen, ja nur als möglich zu begreifen
vermöchte? Es gehörte dazu eine ähnlich disponirte Natur, die aber auch mit
ähnlicher Energie alle in ihr ruhende Kraft in Bewegung gesetzt hätte. Wäre
es eine bloße Gelehrtennatur, so würde sie wieder nicht geeignet sein, das volle
Verständniß für Rückert als Gelehrten zu hegen, denn jene einzige völlige
Durchdringung des Gelehrten Art des Dichters, des Forschers und Künstlers
ist ja das. was seine Individualität construirt. — Wer in das Detail eingehen
wollte von dem, was hier nur in der Massenwirkung gleichsam von ferne ge¬
zeichnet werden konnte, würde einen unerschöpflichen Stoff finden, dessen An¬
ziehungskraft, weil er so durchaus von dem Walten eines künstlerischen Genius
erfüllt ist, auf jeden wirken müßte. Denn alles, was von ihm stammt, ist von
einem inneren Leben erfüllt, das die Sprödigkeit des Stoffes, auch wenn er
der entlegenste und abstruseste ist, ganz bewältigt hat. Es läßt sich keine kleinste
Notiz seiner Hand denken, die nicht durch die Originalität in Ausfassung und
Form, so wie sie dasteht, als ein Document desselben Geistes bezeichnet wäre,
dem die deutsche Nation jedenfalls die vielseitigste und reichste künstlerische Ge¬
staltung ihrer Sprache zu danken hat. —
Vor zwei Jahren, als die Discussion über die Zukunft der Elbherzogthümer
die deutschen Politiker aufregte, ist bei Abwehr der particularistischen Forderungen
von Seiten der national Gesinnten oft das Stichwort ausgesprochen worden:
wir wollen kein zweites Hannover. Der Vergleich lag nahe genug. Denn
hinreichender Grund war zu der Befürchtung, daß wie im Welfenkönigreiche.
so auch in dem Lande nördlich der Elbe die exclusive und eigenwillige Natur
des Volksstammes sich bei autonomer politischer Verfassung nur um so hart¬
näckiger auf sich selber stellen und von productiver Gemeinschaft mit dem Lebens¬
principe des neuen Deutschland, dem preußischen Staate, sich ausschließen würde.
„Hannover" aber heißt nach seinem bisherigen politischen Charakter ins Be¬
griffliche übersetzt nichts anders als Körper gewordenes Frondiren gegen
Preußen, das politische „Nein" unter jeglichem Aspect. Andrerseits bezeichnend
für die politische Impotenz solcher Königthümer wie das welfische war. ist der
Dünkel, mit welchem das Deficit der Macht geläugnet wurde; soll es doch
weiland König Georg — der seinen Namen beiläufig bemerkt, nach dem Bei¬
spiel seiner fremdländischen Vorfahren gern in der wälschen Form aussprechen
hört — sehr verdrossen haben, daß es ihm nicht gelingen wollte, in politischen
Noten für das seinem Hochmuth anstößige Prädikat Mlttelstaatcn den Ausdruck
„Mittelreiche" zur Geltung zu bringen. Indeß, was ihm auf sprachlichem Ge¬
biete versagt blieb, hat er. einzig übertroffen von seinem hessischen Vetter, aus
politischem erlangt: er hat in der That aus seiner Monarchie das deutsche
Reich der Mitte gemacht, das Land des politischen Stillstandes, dessen oberstes
Gesetz die Laune des Herrn war und dessen Staatsbeamten zugemuthet wurde,
sichs zur Ehre zu rechnen, daß sie amtlich die königliche Dienerschaft hießen.
Dieser Mummenschanz ist, Gottlob, vorüber. Er hat, mit den Augen des
Humoristen betrachtet, der Nation neben schwerem Verdruß manche Erheiterung
gebracht; aber wir Deutschen sind seine politischen Rentiers, welche solche
Summen an ihre Unterhaltung wenden können, wie die Welfcnherrlichkeit uns
gekostet hat. Schlimm genug, daß ein so großer Theil der Hannoveraner zu
denen gehörte, die sich gewöhnt hatten, diese Wirthschaft humoristisch aufzufassen.
Das alte Erbtheil egoistischen Beharrens und passiven Selbstgenügens ist für-
bas geschichtliche Leben der Niedersachsen höchste Gewähr und größte Gefahr
zugleich. Die Fähigkeit ihres derben Wesens, viel tragen zu können, ehe sie
die Last spüren, hat sie auch vieles ertragen lassen, was einem Volksstamm
von solcher Begabung unziemlich ist. Nicht unempfindliche Nerven sind schuld
daran; gute Bildung, kluger Sinn, hochgesteigcrtes geistiges und materielles
Verkehrsleben geben ihnen volle Ebenbürtigkeit mit den übrigen Norddeutschen,
aber es haftet in ihrer braven Natur eine verhcingnißvolle Bequemlichkeit, die
sie im guten und im schlimmen Sinne davor bewahrt, außer Fassung zu ge¬
rathen. Diese Kraft unentwegter Gemüthsruhe ist angesichts der Anforderungen
unsrer modernen Zeit zu sittlicher Schwäche geworden. Wenn man.im Ge¬
spräch auch mit hochgebildeten Bürgern der zahllosen herrischen Thorheiten und
kindischen Rankünen des Königs, seines rein persönlichen und von unwürdigsten
Einflüssen beherrschten Regiments, ja selbst wenn man der Mißhandlungen der,
Landesverfassung und des Zustandes politischer Rechtlosigkeit gedenkt, in dem
er sein Volk zu exerciren liebte, begegnet man meist nur gutmüthigem Lächeln
oder dem Achselzucken des Bedauerns; die Entrüstung, die sich darauf gebührte,
ist den allermeisten abhanden gekommen, oder vielmehr sie haben sie nie gehabt.
Es versteht sich von selbst, daß wir mit um so größerer Achtung die Männer
der liberalen Opposition ausnehmen.
Seit Holstein wie Hannover dem preußischen Staate gesichert sind, droht sich
die Mahnung, deren eingangs erwähnt wurde, umzukehren; jetzt scheint gesorgt
werden zu müssen, daß die Provinz Hannover kein zweites Holstein werde. Daß
der neuen Ordnung der Dinge im Welfenreich kein stürmischer Enthusiasmus
entgegengebracht wurde, ließ sich bei dem politischen Temperament der Hanno¬
veraner erwarten. Wer aber voraussetzte, die Veränderung werde im Lande
mit phlegmatischem Gleichmuth oder gar mit stillem Behagen aufgenommen
werden, steht sich sehr getäuscht. Außer in Ostfriesland, das vermöge seiner
preußischen Traditionen in einer exceptionellen Lage war, sind in sehr wenigen
Orten freudige und zustimmende Kundgebungen erfolgt. Die große Mehrzahl
der Bewohner des flachen Landes wie der Städte hat sich ablehnend verhalten,
in der Hauptstadt ist die Stimmung bei Groß und Klein äußerstes Mißver¬
gnügen und es hat allmälig Formen angenommen, die sehr schlecht zu dem fast
übertriebenen Auslande Passen, den man sonst dort gewohnt ist. Zwar pöbel¬
hafte Auftritte der Art, wie sie in Celle vorgekommen sind, hat die Hauptstadt
nicht gesehen, aber große Ähnlichkeit mit denselben hatten die Excesse am Ge¬
burtstag des Kronprinzen doch. Immerhin mögen solche derbe Ausbrüche eines
Unwillens, für den es ja hundert kleine persönliche Anlässe geben kann, den
unteren Schichten der Bevölkerung in die Schuhe geschoben und sie sonach
höchstens disciplinarisch gerügt werden; zum preußischen Gouvernement haben
wir das Vertrauen größter Schonung; aber ganz vereinzelte Eruptionen waren
jene Erscheinungen nicht. Schon in den ersten Tagen nach der Katastrophe
von Langensalza. noch mehr natürlich seit dem Annexionsbeschluß, kamen aller¬
hand kleine Aufreizungen vor. Wenn gegen Abend die Knaben in den Straßen
Hochrufe auf den König und den Prinzen ertönen ließen, so ist es niemandem
eingefallen, das für et^pas Anderes als für jugendliche Kehlübungen zu nehmen,
aber wenn die Duodezpatrioten Umzüge halten mit weißgelben und schwarz¬
gelben Fähnchen und Spottlieder auf Preußen dabei singen, so liegt die Be¬
fürchtung nahe, daß sie dazu angeregt sind, und das ist von Seiten der An¬
stifter ebenso unpädagogisch wie feig. Ein solcher Rimelreim ist mir im Ge¬
dächtniß geblieben: „Guckuk, Guckuk warte, bald kommt der Bonaparte, will
uns helfen'wiederholen, was die Preußen uns gestohlen." Guckuk ist die all¬
gemein recipirte Bezeichnung des preußischen Adlers. Beim Dunkelwerden kann
man den Ruf allenthalben hören, wo sich preußische Soldaten befinden. Als
Ziel der demonstrativen Spaziergänge der Schuljugend galt Herrenhausen, wo
die Königin bis vor kurzem wohnte. Da traf sichs dann wohl, daß der Zug
dem Wagen der hohen Frau in der langen Allee begegnete; dann stieg sie aus,
die Kinder umringten sie und sie ließ sich die Namen nennen. Fast überall im
Lande, namentlich aber in der Hauptstadt, genießt die Königin wirkliche Ver¬
ehrung. Es ist keine Uebertreibung, daß eine Loyalitäts- und Beilcidsadresse
an sie, welche in der Stadt unter der Hand colportirt wurde, in kurzer Zeit
mit mehr als 40,000 Unterschriften bedeckt war. Aus dem kleinen Heimathhofe
zu Altenburg hat sie warmen Sinn für Freud und Leid des Bürgers auf den
stolzen Welfenthron mitgebracht; ihrem liebevollen und schlichten Wesen, ver¬
dankt die königliche Familie das Lob häuslicher Tugenden. Insbesondere hat die
Mildthätigkeit der hohen Frau die Herzen erobert; wir gönnen ihr den schönen
Besitz und es ist menschlich betrübend, daß sie künftig darauf verzichten muß.
sich der Wirkungen landeSmütierlicher Sorge zu freuen. Die Geschichte aber
ist eine hartherzige Frau. die an privaten Schmerzen stumm vorübergeht.
König Wilhelm hat wiederholt ausgesprochen, daß er loyale Pietät ehrt,
und er wird in dieser Richtung nie ohne Noth harte Maßregeln ergreifen.
Aber die Hannoveraner ihrerseits sollten Tact gern^ haben, die Grenzen dieser
Connivenz zu achten. So gut und schön die Ovationen für die Königin sein
mögen, dem selbstverschuldeten und heilsamen Falle des Königs sollte füglich
aller Weihrauch fern bleiben. Was in aller Welt soll es heißen, wenn man
Fünfgrvschenstücke, die sein Bild tragen, in Gold gefaßt an der Uhrkette trägt,,
wie man es bei genug gebildeten Leuten der höheren Classe sehen kann; oder
was soll das Fernbleiben vom Theater, über dessen gefürchtet? Schließung man
im, voraus mit hartem Vorwurf gegen Preußen jammerte; endlich, was denkt
man sich bei der herausfordernden Trauerkleidung, die bereits gebührende Rüge
gefunden hat? Das abstoßende Verhalten gegen die preußischen Truppen mag
Nachsicht finden, so lange das Schicksal der hannoverschen Armee, deren Offiziere
jetzt durchweg Civilkleidung tragen, unentschieden ist; aber wenn man mit
Ostentation fortfährt, vom Eintritt nicht nur vieler Kapitulanten, sondern auch
anderer Landeskinder in die östreichische Armee zu reden, so vergesse man nicht,
daß hierbei von Desertion die Rede ist, und daß die Strenge des preußischen
Militärgesetzes lieber unversucht bleibt!
Alle diese kleinen Züge des Widerspruchs sind zwar keineswegs siciats-
gefährlicb; aber sie stehen verständigen und gradsinnigen Norddeutschen schlecht
zu Gesicht. Denn leider bleibt nur die Wahl, sie entweder für unreife Faselei
oder für Speculation auf Rückkehr des Vertriebenen zu halten. Nach der über¬
langen politischen Passivität des Volkes ist diese Wahrnehmung höchst un¬
erfreulich und sie bestätigt nur, wie hohe Zeit es war, daß die Hannoveraner
Preußen d. h. active Bürger eines wirklichen Staates wurden.
Von sehr vielen verständigen Leuten des bürgerlichen Mittelstandes, auch
in der Residenz, muß man loben, daß sie der larmoyanten Sympathie für den
Exkönig, die ich unter ihnen selbst als ..Pudeltreue" habe belächeln hören,
fremd sind. Aber wenn der Blinde auch diesen Ausgang verdient hat — so
sagt man — warum ist uns der Kronprinz nicht zurückgegeben worden; er ist
unschuldig an der traurigen Politik des Vaters und überdies hatte Preußen die
Macht, sein Regiment durch alle möglichen Conventionen einzuengen. Weicht
auch dieser Einwurf der Vorstellung, daß durch ein solches Arrangement eine
in jedem Betracht unbefriedigende, für Herren und Unterthanen gleich pein¬
liche Doppelciutorität constituirt wurde, dann heißt es: Was hat das Land
verbrochen, daß man ihm seine Verfassung nimmt? Den thätigen Liberalen,
welche in der Kammer gegen die Handgriffe König Georgs mannhaften Protest
erhoben haben, mag des Landes Constitutionsurkunde den Werth haben, den
jedes Schmerzenskind für die hat. die es beim Leben erhielten; über die ab¬
solute Vortrefflichkeit mögen Kundigere urtheilen; bei den Meisten, welche dies,
Stichwort zu dem ihrigen gemacht haben, bedeutet es nicbt viel mehr als gei¬
stige Bequemlichkeit und die bekannte Liebhaberei des Eigenthums. Unsere Ver¬
fassung, so hört man. mag so gut oder so schlecht sein wie sie will, sie ist
unser Erwerb, unser Nechtsfundament; das ist Grund genug, um daran fest-
zuhalten. Ganz gut und brav; Wenns nur auch so wahr wäre. Es ist zu be¬
klagen, daß die Sonderverfassung eben als solche in Zukunft das Haupthinder-
n>ß tüchtiger politischer Zucht bilden würde, die den Hannvveranern nur gegeben
werden kann, wenn sie zu dem Stolze des Bewußtseins gelangen, im preu¬
ßischen Staate anzurathen und mitzulhaten. Wir meinen, diese Entschädigung
kann wenigstens auf die Dauer über den Affectionswerth, den die alten Insti¬
tutionen haben, hinwegsetzen. Ueberdies mag man sich erinnern, daß das
Königreich Hannover ein Eonglomerat ist, dessen verschiedene Bestandtheile ver¬
schiedene Geschichte und mit ihr verschiedenen politischen Erwerb haben ver¬
gessen müssen, um die hannoverische Verfassung zu einer Zeit zu erhalten, in
welcher die politischen Anforderungen der norddeutschen Stämme auf ziemlich
gleicher Höhe standen. Daß berechtigte und werthvolle Eigenthümlichkeiten ge¬
schont werden sollen, ist preußischcrseits überdies oft genug erklärt worden/
Aber nicht so sehr die Verfassung und ihr innerer Werth, als vielmehr die
Gunst der finanziellen Lage und namentlich ihre Wirkung in der Beamtenwelt,
das ist es, dessen die große Zahl derer, die jetzt ihre eigenen und die Chancen
Angehöriger erwägen, vor allem berücksichtigt, wenn sie die Autonomie ihres
Landes begehren.
Wie über die Frage der Beaintenbesoldung und andere noch wichtigere
während des Interims der Königsdictatur entschieden werden wird, ist nicht zu
übersehen, aber der gute Wille, mit welchem berufene Autoritäten des Landes
ihren Rath ertheilen, kann sicherlich viel Nutzen stiften. Die leichtfertige Art
freilich, mit der auch Leute von sonst tüchtigem Sinn und ehrenvoller Lebens¬
stellung das ganze Vorgehen Preußens verurtheilen, läßt leider nicht erwarten,
daß sie so bald etwaige Opfer, die von ihnen gefordert werden, über den neuen
unvegehrten politischen Gütern verschmerzen werden, die der Wechsel des Re¬
giments ihnen bringt. Es hat etwas sehr Widerwärtiges, den t5zpectorationcn
solcher Patrioten zuzuhören, die den preußischen Staat als den Bonvivant auf
fremde Kosten oder als den Bankerotier ansehen, der seine Hoffnungen auf
einen „Raubkrieg" gesetzt hat. Mag man indeß in diesen Kreisen, deren Exi¬
stenz nicht wegzuläugnen ist, vorläufig in passiver Ablehnung verharren und
sich damit schadlos halten, den König Wilhelm den „Aneigcnnützigen" zu nennen
— wie ein beliebtes Wortspiel lautet —, man wird erkennen, daß durch Bei¬
behaltung dieses vornehmen Degvuts jeder .auf eigene Kosten frondirt. Es
prägt sich in diesem Verhalten ein im bedenklichen Sinne bäuerlicher Zug aus,
der einem guten Theile der hannoverischen Bevölkerung anhaftet. Jahrzehnte
lang hat man der Weifendynastie ohne Murren, wenigstens ohne ernsthafte
Auflehnung, mit der edelsten Naturalleistung gesteuert, die es für gebildete
Völker giebt, mit dem sittlichen Besitz des Rechtsbewußtseins und der Würde
des Staatsbürgers, die zum Spiele königlicher Willkür erniedrigt war. Jetzt
soll es anders werden. Dieser unwürdige Schoß wird abgelöst, den Hanno¬
veranern ist fruchtbarer veredelnder. Antheil an einem wirtlichen Staate ge¬
schenkt; dafür wird d>e pecuniäre Steuer erhöht werden. Wer feilschend die
Münze in der Hand dreht und mit Wohlgefallen auf die Fleischtöpfe der ver¬
gangenen Aera zurückweist, giebt sich das Zeugniß, daß er vom großen Strome
erhabener Interessen, der die neue Zeit und das wiedergeborene Deutschland
bezeichnet, seitab gestanden hat.
Die Miederkehr der Erfahrungen von 1815 hätte der Nation bei den
neuen Annexionen Preußens erspart bleiben sollen; daß es geschehen wäre,
wenn die Jüngstvergangenhcit des preußischen Regiments den Anforderungen
des Liberalismus genügt hätte, ist nicht zu behaupten. Die liberalen Elemente
in den neuen Provinzen sind mit wenigen entschuldbaren Ausnahmen grade
nicht oppositionell. An der Unklarheit der politischen Ideale in den Kleinstaaten
liegt die größere Schuld. Seis drum; mögen manche Scenen sich heute wieder¬
holen, welche die Einverleibung der neuen Provinzen vor fünfzig Jahren be¬
gleiteten, mögen die Jnquilinen der guten Stadt Hannover noch oft bei Geburts¬
tagen des WelfenhauseS gelbweißen Sand vor die Hausthüren streuen, dem
heraufwachsenden Geschlechte, das erst ganz und völlig in den neuen Stand
eintritt, wird er nicht in die Augen fallen und der freie Blick in eine bedeuten¬
dere Zukunft wird ihnen hoffentlich nicht getrübt werden; denn schon in schwie¬
rigerer Lage hat Preußen dre Assimilationstrasr eines echten Staates bewährt.
Den Gegenwärtigen aber, gut und böswilligen, die in die großen Ge¬
schicke des Hohenzollernreiches hinclngezwungen find, mag ein Gleichniß gesagt
sein. Wenn der nordische Bauer sein Kind dem fremden Manne ungefragt
zum Weibe giebt, und man will ihn der Härte zeihen, so antwortet er: die
Liebe kommt nach der Hochzeit. Und die Erfahrung pflegt das Sprichwort zu
Ehren zu bringen. So wird es auch in dieser politischen Ehe Preußens lui
den neuen Ländern gehen, die nunmehr durch die Proklamation des Einver¬
leibungepatents solenn vollzogen ist. Ueber ein Kurzes hoffen wir gesunde
Kinder aus der ungewollten Verbindung.
Eine Geschäftsreise führte mich über Hannover und Hildesheim nach Kassel,
als eben die Besitzergreifung verkündigt wurde. Da die dem feierlichen Acte
geweihten Tage aufeinanderfolgten, so traf es sich ganz unabsichtlich, daß ich in
allen drei Städten zugegen war. Die Eindrücke waren sehr verschiedenartig,
aber zunehmend besser und erfreulicher, wie ich von Hannover nach Hildesheim,
von Hildesheim nach Kassel vorrückte.
In Hannover hatte acht Tage vorher die bekannte Doppelversammlung
von Landtagsmitgliedern und städtischen Beamten oder Vertretern stattgefunden,
— das erste Lebenszeichen Bennigsens und selner Freunde seit der Beendigung
des Krieges, der dem Staate Hannover die Existenz gekostet halte. Ihr langes
Stillschweigen hatte viel Staunen und Unmuth erweckt, im Lande sowohl als
außer Landes. In Wahrheit hatte ihre Lage außerordentliche Schwierigkeiten.
R. v. Bennigsen zumal, der inmitten der fanatisch Particularistischen kalcnberger
Bauern auf seinem Gute lebt und der, wenn er nach der drei Stunden ent¬
fernten Residenz kommt, auch eben nicht die frischeste politische Luft athmet,
hätte seine gewohnten Umgebungen schon auf eine Weile verlassen müssen, wenn
er so rückhaltlos auf Preußens Seite treten wollte, wie etwa die kasseler und
die Wiesbadener Führer oder wie die sächsischen Liberalen auf ihrer Landes¬
versammlung. Er hat es Vorgezogen, seine Maßregeln so zu treffen, daß ge¬
mäßigte und wohldenkende Particularisten mit ihm zusammengehen können.
Jeder Protest der liberalen Partei als solcher gegen die Adresse, welche die
Herren v. Münchhausen, v. Schlepegrell i ut v. Rössing nach Berlin überbrachten,
welche aber der frühere Cultusminister Lichtenberg verfaßt und der frühere
Finanzminister Erxleben mitunterzeichnet hatte, unterblieb demzufolge. Die
Hildesheimer mußten damit auf eigene Hand vorgehen, und in der Versamm¬
lung vom 1. October blieb ein gleichartiger Anlauf ohne Erfolg. Nicht eher
ferner wollte man sich öffentlich auesprechen, als bis alles vollendete Thatsache
sei. Die Versammlung wurde daher auch, weil die Besitzergreifung auf sich
warten ließ, vom 24. September auf den nächstfolgenden Sonntag hinaus¬
geschoben. In derselben soll sich Bennigsen denn auch anfangs gegen jede
öffentliche Erklärung überhaupt gesträubt haben; er wollte lediglich die Eingabe
an das Ministerium. Erklärung und Eingabe sind würdig gehalten, zweck¬
mäßigen Inhalts; aber ein wärmerer Ton. eine entschiedenere Parteinahme für
den neuen Stand der Dinge, ein freudigerer Muth für die noch übrigen vater¬
ländischen Arbeiten wird doch darin nicht ohne Befremden vermißt. Ist es
wirklich die active liberale Partei, die so spät und dann so vorsichtig bemessen
spricht? Nein, es ist eine Koalition aller mittleren Elemente, und die nationale
Fortschrittspartei, die gewohnt war, in Bennigsen den Dolmetscher ihrer Em¬
pfindungen und Entschlüsse zu finden, muß sich darein ergeben, ihn seine aus¬
gezeichnete Führerschaft auf bisher bekämpfte oder in bestimmter Entfernung
gehaltene andere Parteien oder Reste alter Parteien miterstrecken zu sehen.
Die sehr natürlichen Klagen über diesen relativen Wechsel der Stellung,
von einstigen begeisterten Anhängern Bennigsens im Lande ausgesprochen, tönten
noch in meinen Ohren nach, als ich die vormalige Welfeurcsidenz erreichte. Ich gebe
sie hier als eine feststehende und beachtenswerthe Thatsache wieder, ohne noch
entscheiden zu wollen, ob sie mehr als subjective Begründung haben. Das muß
der Erfolg lehren. Wenn das Ergebniß der Neichstagswahlen vorliegt, oder
wenn übers Jahr die Vertreter des hannoverschen Volkes gleichberechtigt in den
preußischen Landtag eintreten, wird sich zeige», ob Bennigsen sich augenblicklich
mit Recht oder Unrecht der unvermeidlichen Mißstimmung seiner eifrigsten bis¬
herigen Anhänger aussetzt. Ein Mann von seinem Charakter und seiner Ver¬
gangenheit kann wohl verlangen, daß man ihn nicht vorschnell verwerfe.
Ganz anders lautet natürlich das Urtheil über die nichtsnutzigen Agitationen,
deren Vorhandensein Bennigsen eine vielleicht zu weitgehende Rücksicht zollt.
Der Einverleibungstag rief jene bekannte Abgeschmacktheit des anonymen Central-
comitvs hervor, das natürlich bei Nacht lagert, in der Frühe gedruckte Zettel
in die Häuser werfen ließ, welche zur Schließung der Läden, Anlegung von
Trauerkleidern, Enthaltung von den öffentlichen Vcrgnüglichkeitcn u. tgi. in.
aufforderten. Die schlechte Copie wälscher und sarmatischer Nationalitäts¬
demonstrationen, angewandt gegen den die Nationalität vertretenden Staat,
verfing nicht einmal recht bei den mißvergnügten Beamtenfamilien und den
mit Verlust ihrer bunten Schilder bedrohten Hoflieferanten. Man brummt
wohl Uebereinstimmung im vertrauten Kreise vor sich hin. aber nach außen hin
machen die Meisten von ihr°er angeblich so unbezähmbaren Loyalität gegen das
Welfenhaus nur sehr bescheidenen Gebrauch. Schon waltet die weise Erwägung
vor. daß wenn man nicht bald mit der neuen Regierung Frieden schließe, andere
Kreise überwiegenden Einfluß erlangen möchten. Darum sehen wir denn auch,
daß die preußenscindlichsten Bureaukraten statt der „hoffnungslosen Ergebung"
des Herrn v. Münchhausen mehr und mehr eine fast unverschämt zu nennende
hoffnungsdreiste Ergebenheit gegen den neuen Herrn an den Tag legen. Wird
aber der Pöbel erst nicht mehr von vornehmen Herren und Damen aufgemuntert,
Gcsinnungsterrorismus zu üben, so wird ihm der Spaß bald etwas Altes werden.
Dann kann der gebildete Mittelstand die Sympathien für Preußen ungescheut
kundthun, die er zum großen Theil selbst in der Residenzstadt hegt und nur
aus Furcht noch verbirgt.
Hildesheim liegt ver früheren Wclfenresidenz zu nahe, als daß es nicht
unter der Tendenz kleiner und sich selbst überschätzender Höfe, den Ort ihres
regelmäßigen Aufenthalts künstlich zu steigern, vor andren hannoverschen Pro-
vinzialstädten hätte leiden sollen. Ohnehin gehörte es der Dynastie noch nicht
lange genug an, um die Treue gegen das Weifenhaus schon unter seine reli¬
giösen Gefühle aufgenommen zu haben. Der alte Frciheitstrotz der im Kampfe
gegen den Bischof erzogenen natürlich-regsamen Bürgerschaft und das begreif¬
liche Widerstreben des hier domiciürten Katholicismus gegen ein protestantisches
Regiment vereinigten sich, die Stadt zu einem ständigen Sitze der Opposition
zu machen, die hier bis 1848, ja eigentlich wohl bis 1859 vorwiegend demo¬
kratische Farbe trug, seitdem aber nationale Farbe mit einem gewissen Stich
ins Schwarzweiße. Man begann sich von da an gern der einstmaligen kurzen
Zusammengehörigkeit mit Preußen zu erinnern, weniger aus positiver Sehn¬
sucht, als weil man sich mit dem hannoverschen Staatswesen innerlich immer
mehr überwarf. Diese Stimmung mußte auf den Gipfel getrieben werden,
als König Georg seinen Günstling Wermuth zum Landdrosten von Hildesheim
mit dem ausdrücklichen Auftrag ernannte, diese sprödeste unter den „Töchtern
des Landes" zu zähmen. Wermuth, von Anlage und langjährigem Beruf
Polizeimann, war ein Meister in allen den kleinen Künsten, welche zu ober¬
flächlichen Erfolgen führen um den Preis, die Zukunft desto sichrer aufs Spiel
zu setzen. In einem so unumschränkt regierten Staate, wie Hannover vor diesem
gesegneten Sommer trotz Verfassung und Landtag war, brauchte ein dem König
so nahestehender und so seelenverwandter Mann wie er.vor keiner Dreistigkeit
zurückzuschrecken. Er hat sich denn z. B. auch nicht gescheut, um den vortreff¬
lichen, unabhängig gesinnten Magistrat der Stadt zu beugen, in Betreff einer
von ihm geforderten, vom Magistrat als zweckwidrig abgelehnten städtischen
Anlage zwei höheren Wasscrbaubeamten das von ihnen selbst aufgesetzte objec- -
dive Protokoll einer Conferenz als unbrauchbar zurückzugeben und die Unter¬
schrist unter ein von ihm gefertigtes unrichtiges Protokoll abzunöthigen, was
einer dieser Beamten hinterdrein voll Scham und Reue dem Magistrat brieflich
anzeigte. Während Hildesheim vor seiner Zeit grade vermöge der erleuchteten
Initiative des Magistrats — in welchem der Bürgermeister Bopser (1848 bis
1850 Schleswig.holsteinischer Minister des Innern) und der hochgebildete, ener¬
gische Senator Roemer die leitenden Rollen spielen — im gedeihlichsten Aufschwung
begriffen war, ließ der neue Landdrost es sich vor allem angelegen sein, die
gemeinnützige Thätigfeit des Magistrats völlig lahm zu legen. Die Bevölkerung,
dachte er, werde nicht unterscheiden zwischen Unvermögen und äußerer Unmög¬
lichkeit, sich von der ohnmächtigen städtischen Behörde der mächtigen königlichen
zuwenden, und so schließlich in einem allgemeinen unterwürfigen Fußfall die
alte Opposition der Stadt begraben. Es wäre unehrlich, zu läugnen, daß selbst
in Hildesheim auf diesem Wege erhebliche Fortschritte gemacht worden sind.
Wenige Jahre wie bisher vielleicht nur noch, und der Missionar des Welfen-
thums beherrschte in Gemeinschaft mit der stets für gewisse Gegenleistungen zu
habenden katholischen Klerisei die Wahlen. Vor diesem demüthigenden Schicksal
hat die preußische Occupation eine wackere Bürgerschaft bewahrt. Es war daher
kein Wunder, daß die ersten Pickelhauben nirgends im Hannoverland freudiger
begrüßt wurden als in Hildesheim. Sie sind dort wie Befreier ausgenommen
und wie Gastfreunde gehalten worden. Diejenigen unter ihnen, welche von
Hannover nach Hildesheim kamen, athmeten aus, als kämen sie aus Feindes in
Freundes Land. Die preußischen Offiziere verkehrten viel und gern mit den
Bürgern in den öffentlichen Localen, während die in Civil einhergehenden
Offiziere des aufgelösten welsischen Heeres, ja selbst die meisten Civilbeamten
sich des öffentlichen Erscheinens mehr als jemals enthielten. Es entsprach daher
nur einer schon mehre Monate langen Vergangenheit, wenn bei der Huldigungs¬
feier, die hier nicht wie in Hannover hinter Schloß und Mauern vor sich ging,
sondern unter der strahlendsten Mittagssonne, Magistrat und Bürgervorsteher
und andere angesehene Bürger im Festanzuge zugegen waren, und wenn der
dem neuen Staate zugewandte Sinn der Bürgerschaft die Gelegenheit ergriff,
um durch eine rasch veranstaltete Sammlung freiwilliger Beiträge die Truppen
der Garnison für den ihnen entgangenen Antheil an der heimischen Siegesfeier
schadlos zu halten.
In Kassel habe ich mich seit sechzehn Jahren fast alljährlich ein paar Mal
Stunden oder Tage lang ausgehalten, aber noch niemals, außer in diesem Herbst,
anders als mit gedrückten Gefühlen und trüben Betrachtungen. Ich lernte es kennen
unmittelbar nachdem die große Niederlage des preußischen Staates und der
Nation im Jahre 1830 diesem Boden, dem tapfer widerstrebenden Volke die
.empfindlichsten Spuren unter allen aufgeprägt hatte. Die triumphirend zurück¬
kehrende Wirthschaft des Kurfürsten sammt seinen Schergen Hassenpflug und
Vilmar breitete über das Land eine finstere Grabesdecke aus. Da ich bald
nachher zufällig Jacob Grimm in einer sprachwissenschaftlichen Angelegenheit
um Rath zu bitten-hatte, schilderte ich ihm in Kürze die Eindrücke, die mir
die ihm so theure Stadt hinterlassen hatte. Er antwortete: „Was Sie mir von
meinem Kassel schreiben, hat mich bewegt. Oft, wenn ich Abends von ein¬
samen Spaziergängen heimkehrend die Gegend beleuchtet sah, habe ich dort
meine besten Gedanken gehabt oder empfunden/' In der That beweglich war
das Geschick der Stadt selbst für Einen, den keine individuellen Bande näher
an sie fesselten. Ihr war während der letzten Fremdherrschaft, die Deutschland
zu ertragen gehabt hat, das Schimpflichste Loos gefallen — Stätte der Orgien
eines nichtsnutzigen zu sein, den nur der verwandtschaftliche Zufall als Herrn
über ehrliche Deutsche setzte. Und nun hatte sie aus dem Unglückstopf, der
1815 geschüttelt wurde, wiederum das unglücklichste aller Loose gezogen, und
mußte sich von eingebornen Drängern nicht viel anders behandelt sehen, als
damals von dem Sprossen der Familie Bonaparte und ihrem Trosse. So
oft man ihre öden Straßen durchstrich und ihre verwahrlosten Paläste, ihre
modernen Ruinen sah, packte des Vaterlandes ganzer Jammer Einen an. Es
war daher auch durchaus im Interesse der dynastischen Solidarität, daß die
menschenfeindliche Laune des Kurfürsten keine Congresse in Kassel abzuhalten
erlaubte. Die harmloseste» Seelen wären als Verschwörer und Revolutionäre
wider Willen wieder von hier fortgegangen. Die Steine der unvollendet da¬
liegenden Kattenburg, die zertrümmerten Glasscheiben der Orangerie, die ver¬
schlossenen Thüren der Bildergalerie, das Gras auf Plätzen und Straßen, ja
schon die weiten leeren Hallen des Bahnhofsgebäudes predigten, jedem Patrioten
verständlich, den Umsturz des Bestehenden.
Nun ist Gott Lob das Bestehende umgestürzt, und ein unsäglich .geplagtes,
durch Schuld der Regierenden zurückgehaltenes Volk wird sich zu neuem Muth und
Behagen am Leben erheben. Für die Kurhessen werden nach ihrem vollen Werthe
die Eisenbahnen und Telegraphen jetzt eigentlich erst erfunden, denn bisher waren
sie ihnen zuweilen Früchte des Tantalus. Eine Fabrikstadt von Haltaus Bedeutung
blieb vom europäischen Telegraphennetz ausgeschlossen. In der launischen Verhinde¬
rung einer reichen und selbständigen^Entfaltung des Eisenbahnwesens wetteiferte der
Kurstaat mit dem Welfenstaat. So groß und allgemein war die Lähmung, mit
welcher das gemeinschädliche kurfürstliche Regiment den Unternehmungsgeist des
Volkes schlug, daß selbst die Entfernung aller äußerlichen Bande nur langsam
dazu führen wird, ihn wieder zu beleben. Das nächste Gefühl ist aufjubelnde
Freude über den zurückgegebenen Gebrauch der Gliedmaßen; es wird vielleicht
noch Jahre dauern, ehe man ordentlich marschiren und bedeutende Ziele ins
Auge fassen lernt. Schon aus diesem Grunde möchte es der Situation ent¬
sprechen, wenn ein Theil des aufgehäuften Staatsvermögens, statt zu unmittel¬
barer und dauernder Minderbelastung der in jetzt Kurhessen wohnhaften Preußen
mit Steuern, vielmehr zur Entfesselung der natürlichen Hilfsquellen dieser so
lange und schmählich vernachlässigten Provinz benutzt würde. Es ist nur gut
zu heißen, wenn die preußische Regierung in Hannover nicht die Erbschaft ihrer
schlechten Vorgängerin in eigenen Eisenbahnunternehmungen antreten will, son¬
dern dem Privatcapital endlich die verschlossenen Thore aufthut. Aber man
kann im Grundsatz sehr entschieden gegen Staatsbahnen sein, und doch finden,
daß in der nunmehrigen preußischen Provinz Kurhessen ein umfänglicher Staats¬
bahnbau vollkommen am Platze wäre. Es würde damit ein Staatsversäumniß
von Jahrzehnten nachgeholt, und der nicht zu umgehenden Rechtsgleichheit der
neuen Preußen mit den alten am sichersten und schnellsten die vernünftige
Grundlage gleicher Leistungsfähigkeit geschaffen.
Kaum ist der Kurfürst aus Kassel fort, so melden sich die durch ihn bis¬
her ausgeschlossenen nationalen Eongresse. In einer und derselben Woche haben
die Künstler, die Genossenschaftsmänner, die Leiter.des Protestantentags sich dort
versammelt. Es war die Huldigungswoche; die Genossenschaftsmänner mit dem
unvergleichlichen Schutze-Delitzsch an der Spitze setzten ihre Sitzungen aus, um
der Feier beizuwohnen, die sonst so öden Straßen waren voll heiterer Menschen,
welche sich ihrer Freude rückhaltlos überlassen durften, die Ane lag im herrlich¬
sten Sternenglanze, die Soldaten fraternisirten zum hundertsten Male mit den
Bürgern, ihren neuen Landsleuten, und so ergab sich aus allem, daß hier nicht
blos, wie in Frankfurt und Hannover, eine mürrisch widerstrebende Stadt unter¬
worfen, sondern daß ein neuer Volkstheil mit dem preußischen Staat verschmolzen
war. Die Kurhessen werden in der Wärme dieses innerlich mitempfundenen
Einverlcibungsprocesses rasch die activen und positiven Tugenden des Mannes
wiedergewinnen, die sich während ihrer langen öffentlichen Leidenszeit noth¬
gedrungen in lauter passiven Heldenmuth umsetzen mußten; mögen die Hanno¬
veraner zusehen, daß sie ihren größeren Vorrath an Thätigkeitstrieb und Unter¬
nehmungsgeist nicht in unfruchtbarem, weibischen Sträuben gegen eine nicht
blos materielle, sondern auch moralisch übermächtige vaterländische Entwickelung
vergeuden.
An diesen Bericht eines verehrten Korrespondenten werden einige Bemer¬
kungen gefügt. Es ist wahrscheinlich, daß es der preußischen Regierung nicht
gelingt, bei dem Einverleibungkprvccß der neuen Landschaften Fehlgriffe zu ver¬
meiden. Wenn Herr Wiese sich für die Schulangelegenheiten Hessens Rath bei
Herrn Vilmar erholt, wenn Herrn Grafen von der Lippe überlassen bleibt, sich
die Vertrauensmänner zu wählen, mit denen Recht und Gericht organisirt wird,
ist niemandem zu verdenken, wenn er dem Erfolg ohne großes Vertrauen ent¬
gegensieht. Es ist ein mißlicher Umstand, daß den preußischen Beamten, welche
dort in der Reactionöperiode heraufgekommen sind, die Einleitung der wichtigsten
Veränderungen anvertraut werden muß. Nicht an gutem Willen und Eifer
wird es ihnen fehlen, wohl aber an unbefangener Würdigung der örtlichen
Zustände, und wie wir befürchten, zuweilen an frischer Kraft und großem Or¬
ganisationstalent. Wir alle wissen, daß rü Preußen selbst Gesetzgebung und
Verwaltung in manchem hinter den Forderungen der Zeit zurückgeblieben sind,
das läßt sich nicht im Augenblick nachholen, keinenfalls ohne Personenwechsel.
Unläugbar ist das sehr unbequem, es wird immer wieder verstimmen, und
eine wirkliche Vereinigung der Interessen und der Gemüther wird erst dann
stattfinden, wenn die neuen Preußen durch ihre erwählten Volksvertreter mit
den übrigen zusammen berathen. Unterdeß aber möchten wir doch werthen
Freunden in Hannover, Hessen. Nassau, Frankfurt einen Wunsch an das Herz
legen. Auch diejenigen, welche den Werth der Verbindung mit Preußen wohl
zu schätzen wissen, sind durch die Ereignisse dieses Jahres überrascht worden.
Daß die Einverleibung ohne jedes Zuthun der Völker stattfand, unter Waffen¬
lärm, durch einen Frieden, der hinter den böhmischen Bergen geschlossen wurde,
das hat alle Männer friedlicher Thätigkeit in eine passive Stellung gebracht,
deren Uebelstände jetzt fühlbar werden. Wir haben erlebt, daß über uns ver¬
fügt wurde, und deshalb beharren viele Wohlgesinnte noch jetzt in der Rolle
theilnehmender Kritiker, und weitverbreitet ist die Stimmung, den Preußen
allein liege ob, jetzt alles, was sie so selbstwillig begonnen, zum Ende zu führen.
Solche Stimmung wird genährt durch eine gewisse deutsche Unbehilflichkeit,
welche jede Thätigkeit, die nicht im gewohnten Gleise verläuft, von sich abhält,
'bei manchen der Besten durch ein stolzes Zartgefühl, welches verbietet, daß man
sich anträgt und Aufforderung und Entgegenkommen beansprucht. Ueberall
giebt es rühmliche Ausnahmen, aber irren wir nicht, so steht die Mehrzahl der
preußisch Gesinnten immer noch wie der Chor in der Tragödie mit Beistim-
mung, Seufzer und Klage.
Jetzt aber ist keine Zeit zu solcher Zurückhaltung. Jeder patriotische
Mann, dem um die Sache zu thun ist, d. h. um das höchste Interesse des
jetztlebenden Geschlechtes, muß erkennen, daß dies die Tage sind, wo ihm die
Pflicht gebietet, sich selbst zum Wohl seines Vaterlandes einzusetzen; wird er
nicht gesucht, so soll er sich anbieten, selbst wenn unrichtige Auffassung der
preußischen Negierung sein Erbieten nicht nach seinem Werth würdigt, soll er
sich nicht schweigend zurückziehen; es giebt viele Wege, ein Ziel zu erreichen,
die Presse, Adressen . Versammlungen. Deputationen haben jetzt entscheidende
Bedeutung gewonnen. Wer Schädliches zu hindern vermöchte, und thut es
nicht, auch der begeht ein Unrecht» und verletzt eine große patriotische
Pflicht.
Durch die Beendigung des Krieges.ist uns keineswegs ein sicherer Friede
geschenkt, in welchem die Volkskraft ruhig ihre Neubildungen zeitigen kann.
Wir sind mitten in einer revolutionären Umgestaltung des deutschen Lebens, die
dadurch nicht weniger radical wurde, weil sie mit kriegführenden Heeren be¬
gann. Ob das gute Ende dieser Bewegung ein einheitlicher Staat Deutschland
wird, ob die preußische Regierung, ermüdet durch den Widerstand äußerer Feinde
und die Apathie des Volkes, auf halbem Wege stehen bleibt; ob die große
Entscheidung friedlich verläuft, oder durch neues Blutvergießen herbeigeführt
werden muß, das hängt zum großen Theil von der Haltung der deutschen
Patrioten ab, und deshalb soll niemand meinen, daß es auch ohne ihn gehen
werde.
Es ist kein Geheimniß, daß an manchem deutschen Hofe und in der wiener
Burg nichts sehnlicher erwartet wird, als ein Umschwung, der das Alte restau-
rirt, Preußen demüthigt, Oestreich und den Bundestag wieder einrichtet. Man
soll allerdings nicht zu viel Gewicht legen auf die Illusionen deutscher Aristo¬
kratie und die Combinationen getränkter Erzherzöge, welche im nächsten Jahre
mit dem ganzen reorganisirten Heere des Kaiserstaats doch noch den Einzug in
. Berlin hoffen. Zwischen solchen Träumen und der That liegen viele Hinder¬
nisse, und die Lage des Kaiscrstaats mag im nächsten Frühjahr hoffnungsärmer
sein als selbst jetzt. Aber in jedem Falle liegt uns allen, nicht nur der preu¬
ßischen Negierung, sondern jedem Einzelnen ob, nach Kräften die Wiederkehr
solcher Gefahr zu vermindern. Kein besseres Mittel giebt es dazu, als Befesti¬
gung der neuen Staatoverhältnifse und warme Unterstützung der preußischen
Regierung, trotz aller Selbstverläugnung, welche hier und da noch einem ehr¬
lichen Liberalen nöthig wird.
Wir Kaden unsere Pflicht erfüllt, indem wir bis zu dem Tage, wo der
Krieg unvermeidlich wurde, gegen Mißgriffe und Partcitendenz des preu¬
ßischen Systems das Gewissen des deutschen Volkes vertraten. Seit die Noth¬
wendigkeit des Krieges offenbar wurde, war es ebenso unsere Pflicht, jede
Partcioppvsition zu unterlassen; es gab seitdem für uns Deutsche nur die Frage:
Preußen oder Oestreich, moderner oder mittelalterlicher Staat, Einheit oder Viel-
theiligkeit. Noch heute steht die Frage genau ebenso; für den neuen Preußen
aber ist Gelegenheit in Fülle, in friedlicher Arbeit den Sieg der Sache zu
fördern, an welcher uns Herz und Leben hängt.
In diesem Blatte ist bereits eine Reihe von Aufsätzen besprochen, die zuerst
unter dem Titel „Shakespearestudien eines Realisten" im Morgenblatt erschienen,
Aufsehen selbst in literarischen Kreisen erregten und später als selbständiges Buch
herausgegeben wurden, vor welchem sich Gustav Rümelin als Verfasser ge¬
nannt hat. Wenn hier nach Monaten, in denen die leidenschaftliche Theilnahme
der Deutschen ausschließlich einem anderen Gebiete hoher Interessen zugewandt
war, diese Arbeit eines Dilettanten noch einmal besprochen wird, so geschieht
dies zunächst, um darar^ zu erinnern, daß ein ästhetisches Urtheil sehr entschieden
auftreten kann, ohne irgend competent zu sein, dann aber, um an das Buch
einige Bemerkungen über die Stellung des großen Dichters in seinem Volke
zu fügen, welche auch den Lesern „der Grenzboten" von Interesse sein dürften.
Man hat das Buch des Herrn Rümelin als ein patriotisches Unternehmen
dargestellt, weil der Verfasser zu Gunsten der deutschen Dichter die Bewunde¬
rung des Briten wieder in festgcsteckte Schranken zurückgeführt habe. Offen¬
bar würden wir uns mit diesem wunderlichen Patriotismus den größten Schaden
zufügen; denn in Wahrheit hat unsere Bühne erst durch Einführung Shake¬
speares sichere künstlerische Grundlage gewonnen, auf diesem Grunde haben
unsere deutschen Meister ihre Werke errichtet, in den Werken Shakespeares findet
doch immer die Schauspielkunst ihre höchsten Aufgaben, die Dichter unerreichte
Vorbilder.
Wir übergehen viele gewagte Behauptungen des Verfassers, wie z. B. daß
Shakespeare ursprünglich eine „lyrische Begabung" gehabt, welche „das Theater¬
wesen" in ihm erstickte, daß der Druck seiner verachteten Stellung ihn sorglich,
ja zur Melancholie, zum Pessimismus geneigt gemacht habe, daß seine Bühnen¬
wirkungen „viel weniger auf der kunstvollen Planmäßigkeit und Zusammen¬
stimmung des Ganzen als auf dem spannenden Reiz der einzelnen Theile" be¬
ruhen u. s. w. Um Verständniß und Kenntnisse des Verfassers zu charakterisiren,
wird es genügen, hier sein Urtheil über einige Stücke anzuführen. Der Ver¬
fasser sagt S. 36: „In den englischen Historienstücken geht die Selbständigkeit
der Theile bis zum Uebermaß, mit Ausnahme von Richard dem Dritten haben
sie kaum eine weitere Einheit als die in den Titeln der Stücke enthaltene; es
sind aneinandergereihte lebende Bilder, für sich wirksam und bedeutend, aber
von losem Zusammenhang. So wird^der erste Act von Richard dem Zweiten,
dessen Beziehungen zum Folgenden so wenig klar hervortreten, verständlicher,
wenn man sich vergegenwärtigt, welches Interesse schon an und für sich ein in
Gegenwart des Königs auszufechtender Ehrenhandel von zwei großen Baronen
grade für dieses Publikum haben mühte. Wenn die Freunde des Dichters, die
hohen Beschützer seiner Bühne ihren Platz unmittelbar auf dem Bühnenraum
hatten und man sich täglich fast körperlich berührte, wenn so der wichtigste Theil
des Publikums eine unter sich zusammenhängende und dem Bühnenpersonal
persönlich befreundete Coterie bildete, so war der Anlaß so nahe und die Aus¬
führung so leicht, sich unter allen möglichen Gestalten, in Scherz und Ernst,
dem größeren Publikum unbemerkt, zu unterhalten."
Wir brauchen wacht kaum daran zu erinnern, daß Richards -despotische
Brutalität, die sich in der plötzlichen Aufhebung des Turnieres und in der
damit verbundenen Verbannung Herefords kundgiebt, grade die tragische Schuld
ist. an der er vor Miseren Ana.er zu Grunde geht, daß also der Bau des
ganzen Stückes auf diesem ersten Acte beruht und ohne ihn nicht bestehen
könnte.
Ferner meint Herr Rümelin: „Ein König, der so handele," wie Lear im
Anfang der Tragödie, „zeige so wenig Verstand, daß man sich über den bal¬
digen Verlust des Restchens kaum noch wundern könne." — Daß Lears natür¬
liche Anlage zu dem Wahnsinn, den die Vorgänge der Tragödie folgerichtig an
ihm ausbilden, auch die Anlage der Tragödie ausmachen mußte, hat der wahr¬
haft realistische Vortrag des Irrenarztes Professor Dr. Heinrich Neumann („Lear
und Ophelia. Breslau 1866") treffend nachgewiesen. — In seinem Urtheil über
„Maß für Maß" verlangt Herr Rümelin nichts Geringeres, als daß die darin
handelnden Personen das Gesetz der Todesstrafe für außerehelichen Liebesgenuß
ebenso „unsinnig und undenkbar" finden sollen, wie der Realist d. h. daß die Ge¬
schöpfe des Gedichtes den Dichter blamiren sollen. Ich erinnere daran, daß
der Stoff dieses Dramas gar nicht Shakespeares Erfindung, sondern von dem
späteren Puritaner Whetstone ist.
Bei Romeo und Julia erklärt Rümelin, „daß wenn Romeo, Julia, der
Pater Lorenzo und die Andern ruhige, besonnene, mit vernünftiger Ueberlegung
verfahrende Leute gewesen wären, gar kein Unglück hätte entstehen können." —
Sehr wahrscheinlich.
Für Desdemonas Geschmack wird bemerkt, ihre Liebe zum Venetianer von
maurischer Abkunft sei viel eher zu begreifen als „ihre Neigung über die kau¬
kasische Race hinaus für das Wollhaar und die dicken Wulstlippen des schwar¬
zen Scheusals." Es ist dies eine Ansicht, die das schwarze Scheusal selbst mit
Herrn Rümelin theilt und die bekanntlich ein Hauptmotiv für Othellos Eifer¬
sucht ist.
„Mit der Erklärung des Hamlet," sagt Rümelin, „wird man schwerlich je
zurecht kommen, wenn man nicht schon den ganzen Dichter kennt, wenn man
nicht weiß, welchen Hörerkreis er dabei im Auge hatte, um welche Wirkungen
es ihm zu thun ist, welchen Werth er überhaupt auf die Pragmatische Seite der
tragischen Handlung legt, und welche Befähigung er für diesen Theil der dra¬
matischen Technik hat, wie ihm überall der Effect der einzelnen Theile wichtiger
ist als der kunstvolle Faden des Ganzen."
„Hamlets Handlungen sind confus und unzweckmäßig; er wählt seltsame
und unverständliche Mittel für seinen Zweck. Der Grund hiervon ist aber nickt,
daß der Dichter ihn so darstellen wollte. Die unverkennbare Unzulänglichkeit
in Hamlets praktischem Thun ist nicht sowohl für Hamlet als für Shakespeare
charakterisirend. Worin sollen denn die deutlichen Beweise für seine Arme-,
schlossenheit liegen? Die retardirenden Momente sind ja für eine Tragödie so
unerläßlich, als die Hemmung für eine gute Uhr. Wenn Hamlet gleich nach
der Erscheinung des Geistes den Act der Rache vollzöge, so wäre das Stück in
der zweiten Scene zu Ende. In der That aber handelt Hamlet ununterbrochen
im Stück; sich wahnsinnig stellen, ist auch ein Handeln, und zwar ein sehr
intensives und anstrengendes.
„Wenn wir wohl begreiflich finden," fährt Gustav Rümelin fort, „daß bei
der dramatischen Behandlung der Hamlctsage als die Hauptaufgabe erschien,
unter der Decke verstellten Irrsinns Sprüche tiefsinniger Weisheit zu verbergen,
daß der Dichter diesen Anlaß benutzte, unter fremder Gestalt seinen eigenen
damaligen Gemüthszustand zum dichterischen Ausdruck zu bringen — auch ihm
versagte eine bornirte und vorurtheilsvolle Gegenwart die Dichterkrone, auch
seiner Seele hatte sich über diesen Erfahrungen ein Humor der Verzweiflung
bemächtigt, der sich in Reden, die der Menge unverständlich sind und als Worte
eines Irrsinnigen erscheinen können, Luft zu machen suchte —, so dürfen wir
doch ebenso wenig verkennen, daß eben diese Zuthat in die Hamletsage nicht
als etwas Fremdartiges, Störendes eingreift, daß es dem Dichter nicht ein¬
mal am Herzen lag, jedenfalls nicht gelungen ist, diese» Jnconvenienzen
ganz zu beseitigen. Derselbe Hamlet, dem Shakespeare die zarten Fühl¬
hörner, die Melancholie, den vibrirenden Geist und Witz der eigenen Dickter-
seele gegeben hatte, paßte nun einmal nicht mehr zum blutigen Rächer einer
blutigen That.
Mit welch sittlichem Adel und Feuer weiß Hamlet der Mutter das Ge¬
wissen zu schärfen und doch raucht die Degenklinge des weisen Bußpredigers
noch von dem frisch vergossenen Blut eines alten Mannes, der- ihm nichts zu
Leid gethan, des Baders seiner Geliebten. Er entschuldigt sich darüber etwa
wie wenn man jemand auf den Fuß getreten hat; ja seine Worte erinnern
fast an Mephistos: „Nun ist der Luna6 zahm." Die verständigen Bürger
von Helsingör mußten wohl sagen, es sei immer ein Glück für Dänemark, daß
die Krone an Claudius und nicht an diesen närrischen, übcrhirnischcn Prinzen
gefallen sei, aus dessen Betragen kein Mensch klug werden könne, der einen
alten treuen Diener tödtet wie eine Ratte, mit dessen Tochter >me Liebschaft
anfängt und sie dann ohne allen sichtbaren Grund wieder verläßt und zum
Wahnsinn und Selbstmord treibt.
Dieser Wahnsinn Opheliens tritt wie ein Naturereignis) ein, dessen Prä¬
missen uns nicht gegeben werden, das wir einfach als solches hinnehmen müssen.
Sie zeigt sich von der Geistesstörung Hamlets nicht tiefer und ungewöhnlicher
ergriffen, als wir den Umständen gemäß finden müssen. Der Tod des Vaters
ist allerdings ein neuer Schlag, doch ist es das normale Loos des Sterblichen,
daß die Eltern vor den Kindern sterben und Vater Polonius ist vom Dichter
nicht so angelegt, daß eine Tochter ohne ihn schlechterdings nicht weiter leben
zu können denken müßte. Daß er durch die Hand des Geliebten fällt, ist das
Schwerste an der Sache, doch war die Tödtung zufällig und ohne Absicht. Daß
Hamlet auch im Fall seiner Genesung nicht mehr Ophelias Gatte werden
könnte, ist vom Dichter wenigstens nirgends angedeutet und unter den gegebenen
Umständen keineswegs selbstverständlich; er konnte das Geschehene auf keine
bessere Art gut machen, der Verwaisten keinen wirksameren Trost bieten. —
Bei der Einführung von Schauspielern in das Stück war offenbar der primäre
Zweck, die Anspielungen auf die damaligen londoner Theaterwirren und die
eigenen Gedanken und Erfahrungen über das Bühnenwesen vorzubringen. Nun
fragte sich aber, wie lassen sich denn überhaupt Schauspieler in die Hamletsage
einfügen? Der Dichter kam auf den ganz plausibler Einfall, die Aussagen des
Geistes durch die Beobachtung des Königs bei Aufführung eines Stücks von
gleichem Inhalt zu controliren, so daß nun die Unterhaltungen Hamlets mit
den Schauspielern als das Secundäre, nur episodisch Eingeschaltete erscheinen.
Ebenso konnte sich der Dichter nicht verbergen, daß. wenn die weltschmerzlichen
Dialoge des subjectiven Hamlet so viel Raum einnehmen durften, dadurch allzu
stark retardirende Momente in die Handlung hereinkamen. Der Sagenhamlet
mußte sich deshalb von Zeit zu Zeit der Säumniß und Unthätigkeit anklagen
und es schob sich so als vermittelndes Zwischenglied fremdartiger Elemente die
Vorstellung des geistvollen unschlüssiger Säumers herein, die dann hier und
da jenen Schein, als ob das Ganze doch in einem Guß gedacht wäre, erregte,
der sich bei eingehendem Besinnen wieder schlechterdings nicht festhalten läßt."
So weit Herr Rümelin. Gegenüber diesem ausführlichen Urtheil wird
hier nur daran erinnert, daß die Frage, ob der vor unserem shakespearischer
auf der englischen Bühne gegebene Hamlet eine Jugendarbeit desselben Dichters
oder eines andern sei, noch nicht genügend erörtert ist, ebenso wenig in wie
fern Shakespeare das alte Stück benutzte; das jedoch ist sicher, daß der uns
vorliegende Shakespearische Hamlet mit dem der Sage außer dem Namen des
Helden nur den Anlaß weniger Situationen aus des nordischen Vorgängers
endloser Lebensgeschichte gemein hat und zwar für den Sagenhamlct die gering-
fügigsten. Die ganze Last der Mahnung des Geistes, das Mißtrauen an seiner
Echtheit, die Prüfung durch das Schauspiel, die bis zum Ende des Stückes
verzögerte That fand Shakespeare im „Jeromino" und der „spanischen Tragö¬
die" von Kyd vor, wie in Gervinus (Bd. 1, S. 121) und in Ulrici (Abth. 1,
S. 108 und 109) zu lesen ist, was Herr Rümelin nicht weiß oder vergessen hat.
Ferner erlauben wir uns noch die realistische Bemerkung, daß des Hamlet
Selvstqucilerei und unschlüssige gedankenblasse Grübeleien etwa den zehnten
Theil der ganzen Tragödie ausmachen; daß jene Stellen geheuchelter Wahn¬
sinns, die nach Rümelins Ansicht „ die ganz specielle Aufgabe für den waren,
der diesen Stoff dramatisch behandeln wollte." unter 106 Seiten der Rolle nur
21 einnehmen. Mithin muß Shakespeare den Schwerpunkt wohl wo anders
gesucht haben.
Bei Beurtheilung des Coriolanus wird Plutarch mit Shakespeare ver¬
wechselt. Wenn der Verfasser sagt: „Coriolan ist eine auf dem Boden alter
Republiken nicht denkbare Gestalt; seine Tapferkeit und Stärke gleicht der
eines nordischen Recken, eines Siegfried, Roland oder auch Simson. ist aber bei
republikanischen Bürgerheeren von ziemlich gleicher Bewaffnung nicht begreif¬
lich," so vergißt er, daß Shakespeare die verdächtigten Heldenthaten des Marcius
nur noch in abentheuerlicherer Uebertreibung bei Plutarch vorfand. Wir sehen
im shakespearischer Drama vielmehr allenthalben gemildert und auf das Wahr¬
scheinliche zurückgeführt. Grade in den kleinen epischen Momenten ist das
Deutlich zu erkennen. Zu Plutarch paßt Rümelins Anführung, „Marcius habe
die zurückfliehenden Volsker allein in ihre Stadt verfolgt, die Stadtthore seien
hinter ihm geschlossen worden und er habe sich nach längerer Zeit, zwar ver¬
wundet, aber nach Erlegung zahlreicher Feinde durch das geschlossene Thor
wieder den Weg gebahnt;" bei Shakespeare sehen wir, sobald Marcius die
Stadt betreten, die schadenfrohen Bürger zurückbleiben, sofort den Freund und
Mitfeldherrn Laetius erscheinen, der nach Marcius frägt, und da jener sich von
dem Feinde bedrängt ihren Augen zeigt, die Römer aufruft und mit ihnen dem
Freunde zu Hilfe in die Stadt dringt. Hiermit schließt die Scene und eine
spätere zeigt uns die Römer als Sieger. Rümelins Bericht von der Erlegung
der zahlreichen Feinde und dem Durchbruch durch das verschlossene Thor, findet
sich in Shakespeares Scene nicht begründet. Vielmehr hat uns der Dichter
mit richtigem Urtheil die allerdings riesenhaften Thaten, welche Plutarch den
Marcius' in der Stadt thun läßt, vorenthalten. Auch darin weicht Shakespeare
von seiner Quelle ab. der er sonst Schritt für Schritt folgt, daß er den Marcius,
dessen Muth und Schlachtlust in Aufidius einen bestimmten Anhalt fand, sofort
nach überstandenem Grauen der Schlacht, Besinnung und Kraft verlieren, ihn
ohnmächtig werden läßt. Wir haben hier also ein ganz augenfälliges Beispiel,
wie falsch Rümelins Behauptung ist, daß Shakespeare „von seinen Quellen
gewöhnlich nur darin abweiche, daß er sie in der Richtung des Phantastischen
überbiete und ihre pragmatische Motivirung abschwäche."
Aber genug der Beispiele! Mögen Shakespeares Dramen Weltweisheit.
Menschenkenntniß, Tiefe sittlicher Anschauung, ein reiches Wissen, Humor und
was sonst aufweisen oder nicht, die Haupsache ist, daß Gustav Rümelin be¬
wiesen haben will, daß Shakespeare alle diese „Qualitäten" nach den dar¬
gelegten Verhältnissen nicht besitzen konnte!
Von der Stellung der Schauspieler zur bürgerlichen Gesellschaft sagt
Rümelin (S. 4): „Sie bildeten einen ehrlosen, von der bürgerlichen Gesellschaft
ausgeschlossenen und geächteten Stand."
Einen kleinen Beleg für die Anerkennung, die unter Elisabeth und Jacob
dem Ersten der Schauspielcrstand trotz aller Anfeindungen der Puritaner genossen,
liefert jene Tafel an der Wand des Altarplatzes in der Kirche zu Stratford
am Avon in der Grafschaft Warwick. mit der Inschrift:
^uäieio ?^Inn, Mnio Loeratem, irrte Ug,rc>nem,
terra togit, xoxulus mosret, Olympus trabst.
Folgt darauf ein englischer Spruch, zu deutsch etwa so:
Oditt ^. Du: 1616.
^stg,t. 53. Die 23. ^xr.
Und höchstens sieben Jahre ehe dieser Stein von seinen Thaten Kunde
gab, legte man zu Füßen des Altars den Leib zur Ruhe.
Freilich war William Shakespeare Dichter und Theaterunternehmer, kein
bloßer Schauspieler. Aller Herr Rümelin versichert: „für die bürgerliche Achtung
war dies eher nachtheilig als günstig, und der Puritaner von der echtesten
Sorte sah darin wohl keinen weiteren Unterschied als den zwischen der Bordell¬
wirthin und der Dirne."
Nun findet sich im Todtenregister der Kirche Se. Saviour (Heilandssprengel)
in der londoner Vorstadt Southwark, daß ein Schauspieler Edmund Shake¬
speare in dieser Kirche am 31. December 1607 begraben worden. (1607. Des. 31 se.
Dclmonä LKaKösxöai'e!, s. Mz^er, in dirs elrurclr.)
Er war der jüngste Bruder Williams und spielte an dem gleichen Theater
„zum Globus" eine so untergeordnete Rolle, daß er nicht unter den Theilhabern
genannt wird. Wurde hier also „die Dirne" in der Kirche begraben? Oder
sollte man Rücksicht auf seine Verwandtschaft genommen haben? Das würde
sicherlich große Anerkennung der Zeitgenossen voraussetzen.
Einen ferneren Beitrag über die Stellung der Schauspieler giebt uns
Stephen Gosson, der hartnäckigste Verfolger der Bühne in seiner „Schule der
Entartung"; „sedool ok adusv"*); er sagt: „Ich spreche so nicht, als ob
jeder, der diesen Beruf treibt, sich so weit verirrte (nämlich: sich hochmüthig
gegen das Volk zu zeigen, das ihn doch des Sonntags bezahle), denn es ist
wohl bekannt, daß einige von ihnen sauber, bescheiden, wohl unterrichtet, ehren¬
hafte Haushälter und wohl angesehene Bürger unter ihren Nachbarn zu Hause
sind —" und dieser selbe Stephen Gosson flehte als fungirender Geistlicher des
Oels des Himmels Segen auf den Schauspieler Allcyn herab,**) der von den
Ersparnissen seines Höllensoldes in seiner Heimath ein Armenhaus gründete
(das Dulwich-Collegium) und das Elend der ganzen Gegend milderte.
In welchem Ansehen William Shakespeare in seiner Heimath stand, dasür
zeugen Briefe seiner Nachbarn und Freunde, die theils in eigner Noth, theils
in Sachen der Gemeinde sich an ihn wenden und die nicht nur seine Theil¬
nahme an den städtischen Angelegenheiten darthun — war er doch selbst Mit¬
pächter der Zehntabgaben — sondern in denen man sogar auf sein Ansehn in
London hofft.***)
Auch daß William Shakespeare seine beiden Töchter an angesehene Bürger
vermählte — die älteste Susanna an den straiforder Arzt Dr. John Hall, die
jüngere 1616 im Februar an den Weinhändler Thomas Quiney in Stratforo —
spricht für die Achtung, die er bei seinen Landsleuten genoß.
Und dennoch sagt Herr Rümelin: „Die Gesetz? jener Zeit stellen die Schau¬
spieler mit den Gauklern, Seiltänzern, Bärenführern u. s> w. stets in eine Linie"
— das einzige Gesetz, das hier gemeint sein kann, ist das vierzehnte der Elisa¬
beth. Es lautet etwa folgendermaßen-j-): „Alle Fechtmeister, Bärenführer, ge¬
wöhnliche Schauspieler von Jnterludes und Musikanten (nicht solche Schauspieler,
welche irgendeinem Barone dieses Königreiches oder irgendeiner anderen ehren¬
werthen Person höheren Ranges zugehören, und damit bevollmächtigt sind unter
Hand und Waffenstegel eines solchen Barones oder einer solchen Person zu
spielen), alle Gaukler, Hausirer, Kesselflicker und Schnorranten; welche besagte
Fechtmeister. Bärenführer, gewöhnliche Schauspieler von Jnterludes', Musikanten,
Gaukler, Hausirer, Kesselflicker und Schnorranten herumziehen und keine Er¬
laubniß von wenigstens zwei Friedensrichtern haben, von denen der Eine zu
dem yuoruw der Grafschaft gehören muß, wo und in welcher sie grade wan¬
dern, sollen festgenommen, verurtheilt und behandelt werden wie Schelme, Vaga¬
bunden und hartnäckige Bettler und sollen solche Buße und Züchtigung ein-
pfangen, als durch jenen hierauf bezüglichen Act bestimmt worden ist." Wie
Charles Knight richtig ausführt, war dies ein Erlaß, der lediglich zu Schutz
und Ehre der regelmäßigen Schauspieltruppen dienen mußte.
Und selbst gegen die vereinzelten Wanderkomödianten wurde nur einge¬
schritten, wenn sie keine Erlaubniß zu ihrem Gewerbe erhalten hatten. Dann
aber wurde gegen sie als Vagabonden verfahren und zwar verfügt das darauf
bezügliche Gesetz (das erste Edward des Sechsten): daß dem unglücklichen Wan¬
derer, der keine Arbeit nachweisen konnte, ein V (VaZaboncl) mit einem heißen
Eisen auf die Brust gebrannt werden und er auf zwei Jahre Leibeigner (Slave)
dessen sein solle, der ihn vor dem Friedensrichter denuncirt; und das Statut
weist den Inhaber des Leibeigenen an, „den besagten Leibeigenen mit Schlägen.
Fesseln oder sonst zum Arbeiten anzuhalten." Als man sah. daß durch solches
Verfahren die Demoralisation wuchs, wurde die Acte bald aufgehoben.
Daß „Elisabeth sich gleich nach dem Antritt ihrer Regierung zu einem all¬
gemeinen Verbot der öffentlichen Bühnen verstanden", wie Rümelin behauptet,
ist unwahr. Sie erneuerte das Edict von 1549, das unter Eduard dem Sechsten
aus politischen Rücksichten die Schauspiele von Ostern bis Allerheiligen unter¬
sagte, keineswegs im Allgemeinen. Auch wurde trotzdem bei Hose gespielt.
Die jährlichen Gehalte des Musik- und Komödiantenetats betragen just in jener
Zeit 1,230 Pf.*) Dazu findet sich ein Schreiben vom Jahre 1574 mit dem
Privatsiegel an den Großsicgelbewahrer, das ihm bestehlt, an alle Justitiarien :c.
Patentbriefe zu senden, welche James Burbadge und vier andre Personen.
Diener des Grafen von Leicester ermächtigen: „Die Kunst und das Fach Ko¬
mödien. Tragödien. Bühnenstücke und andres dergleichen, wie sie bereits aus¬
geübt und einstudirt oder hiernach ausüben und einstudiren wollen, auszuüben,
zu Pflegen und zu betreiben, sowohl zur Ergötzung unsrer lieben Unterthanen,
als zu unsrer Labung und Vergnügen, wenn wir es für gut finden, sie zu
sehen." — wer sich solcher Verpflichtung bei Hofe zu spielen weigern wollte,
solle mit Gefängniß, ohne Bürgschaft, zu seiner Pflicht angehalten werden —
und gestattet ihnen ihre Aufführungen „sowohl innerhalb unsrer Stadt London
und den Bezirken derselben" als auch „allenthalben in unserem Königreiche
England abzuhalten."
Auch das Folgende ist ein Versehen Rümelins: „Die Wirkungen der
Bühne," schreibt er. „waren rein localer Natur, da sie sich auf die Hauptstadt
beschränkten und von einer Bedeutung der Theater in anderen Städten oder
gar auf dem Land so viel als nichts zu sagen ist."
Es ist eine bekannte Thatsache, daß einzelne Städte, wie Aork. Coventrv.
Cavenham. Ehester, Kingstone u. a. ihre eigne Truppe hielten. **) Die von
Coventry war vornehmlich berühmt und spielte 1672 vor Elisabeth in Kenit-
worth, wohin sie Leicester seiner Dame zu Ehren hatte kommen lassen.
Daß die regelmäßigen Truppen der Barone beständig im Lande herum
gastirten, wie obiges Gesetz gestattet, ist ebenfalls bekannt. Die stratforder
Rechnungen des Magistrats, vor dem jede Schauspieltruppe eine Prüfungs¬
vorstellung zu geben und die der Bailiff nach seinem Gutdünken zu honoriren
hatte, bevor er die Concession zum Spielen gab*) (wa^orxlg,?) weisen zum
Beispiel auf, daß in den Jahren 1576 bis 1682. also während William Shake¬
speares Entwickelungszeit bis zu seiner Heirath und dem bald darauf folgenden
Entschluß zum Theater zu gehen: 1S76 zwei Truppen, 1577 zwei Truppen,
1679 zwei Truppen, 1580 eine Truppe, 1581 zwei Truppen. 1582 eine Truppe
in Stratford in der dortigen Gildenhalle Vorstellungen gegeben haben. Ja es
ist eine längst anerkannte Thatsache, daß die großen Reisen der sogenannten
englischen Komödianten, deren Thomas Heywood auch stolze Erwähnung thut.**)
nach Schottland, Holland. Deutschland, ja bis nach Italien hinab gedrungen
sind und daß sie für die deutsche Schauspielkunst von epochemachenden Einfluß
waren.***)
Eine weitere Angabe: „Im Jahre 1576 habe der Lordmayor und die
Gemeindebehörde Londons alle Theater aus dem Bereiche ihrer Amtsgewalt
(der City) ausgewiesen und dieselben genöthigt, in die Vorstädte und an exemte
Plätze zu flüchten." Kurz zuvor war der Lordmayor von dem geheimen Rathe
bedeutet worden, „die Schauspieler in der Stadt London zu dulden und ander¬
weitig für eine gute Aufnahme besorgt zu sein." Darauf erschien im Jahre
1675 eine Acte, nach welcher ihm die Macht zustand, allein theatralische Auf¬
führungen in der Stadt zu genehmigen (so gut wie den Mayors auf dem Lande)
und in welcher er, der Unzahl der entstehenden Truppen Einhalt zu thun, den
Schauspielern den Druck auferlegte, die Hälfte ihrer Einnahmen für wohlthätige
Zwecke abzugeben. Die Klagen der Frommen, „daß zweihundert Schauspieler
in seidenen Gewändern herumstolzirten. während fünfhundert arme Bürger
darbten", mochte ihn dazu getrieben haben. Auch gab er dem Drängen der
Puritaner nach, daß in der City an Sonntagen gar nicht, an Festtagen nur
nach dem Abendgebete (4 Uhr) gespielt werden sollte. Diesem Mandate gleichsam
zum Hohn kaufte James Burbadge ein großes Haus in dem Umkreis des
alten Klosters von Blackfriars „noch keinen Steinwurf, weit außer der Grenze
der städtischen Controle", zwischen den Besitzungen des Lordkanzler und des
Lord Hunsdon mitten inne und richtete das alte Gebäude, das längst als
Theatermagazin gedient, zu einem Theater ein, welches dem Bezirk, in dem es
lag, den Namen dankte: Blackfriars.
Dem Beispiel dieser Truppe folgten viele andere und zogen aus der City
und entzogen sich damit der schweren Abgabe und dem Verbot, am Sonntage
zu spielen,*) obgleich Gustav Rümelin behauptet „es durfte niemals am Sonn,
tage gespielt werden.
Wie sehr die Obrigkeit „mit der Bürgerschaft hierbei in Einklang handelte",
sagt Gustav Rümelin, „geht aus den zahlreichen Petitionen und Adressen hervor,
mit denen sie von den Einwohnern, zumal der Stadttheile, in welchen sich
Theater befanden, bestürmt worden."
Payne Collier hat diese zahlreichen Petitionen zu unsrer Kenntniß gebracht;
wir haben sie gezählt und gefunden, daß ihre Summe sich auf zwei beläuft.
Die eine bei obigem Anlaß des Baues von Blackfriars vom Jahre 1676, die
zweite vom Jahre 163Y, vierzehn Jahre nach Shakespeares Tode, also nicht
mehr, hierher gehörig. Beide waren völlig erfolglos; und was die erste betrifft,
so ist sie uns längst durch einen Zeitgenossen verdächtigt. Wenn sich auch Lord
Hunsdon und Lady Rüssel mit unterzeichnete, so theilt Thomas Nass**) uns doch
mit, daß sie aus „Weinschenken, Aleweibern und, Speisehäuslem" bestanden
hätte, „welche sich durch den zahlreichen Besuch der Theater in ihrem Erwerb
beeinträchtigt sahen".
Erst vierzehn Jahre nachdem alle diese MißHelligkeiten gehoben waren, tritt
William Shakespeare in die Reihe der Theilhaber von Blackfriars. ^
Aber mag auch die Behörde nichts gegen die Theater ausgerichtet haben
oder haben ausrichten wollen, der puritanische Einfluß war doch immerhin der
Art, daß, wie Herr Rümelin sagt, „achtbare Männer, gesittete Frauen und
Jungfrauen aus Gründen des Anstandes die Schwelle des Theaters nicht
überschreiten konnten, ja daß für sie nicht einmal ein Play vorgesehen war."
Und doch stieg die Zahl der Schauspielhäuser während Shakespeares Zeit
bis auf siebenzehn (Herr Rümelin läßt sieben weg) und alle reussirten dermaßen,
daß endlich die Negierung eine Schranke setzen mußte. Wer war denn .also das
Publikum, das diese zahlreichen Häuser überfüllte? Rümelin weiß die treffende
Antwort: müßige Junker, junge Stutzer, Matrosen und Dirnen. Er giebt uns
auch ein Bild des Globustheaters, oder besser seines Publikums, das er von
Thomas Nass indirect citirt. Da nicht gesagt ist, wo unter dieses fruchtbaren
Schriftstellers Schriften die angeführte Beschreibung steht, so wird es schwer,
sie zu finden. Dagegen wurde uns leichter, in S^ottowes Leben Shakespeares
eine Schilderung des Sommertheaters zum Globus zu finden, mit genauer
Angabe der Maße, wie sie die Theaterunternehmer und Zeitgenossen Shake¬
speares Henslow und Alleyn uns überliefert haben. Es ist jedenfalls diesen
beiden Männern Schuld zu geben, weren ihre Beschreibung anders lautet als
die des Herrn Rümelin. Unwesentlich ist, daß dieser nur zwei Galerien zählt,
während es deren drei gab, auch ist nicht erklärlich, wie er die Reihen im Par¬
terre sich gedacht hat, da in den Sommertheatern keine Bänke waren, was
aber das Sitzen und Liegen der Lords auf der Bühne „hinter den Coulissen"
betrifft, so müssen wir nur berichtigen, daß es noch bis lange nach Shakespeare
auf der englischen Bühne gar keine Coulissen gab und wollen nur flüchtig er¬
wähnen, wie dieser Brauch zu erklären ist. Wie bekannt, war die Bühne
ursprünglich ein an eine Wand gerücktes Gerüst, das einem Tische ähnlich von
drei Seiten dem Publikum zugänglich war; ja als man in Höfen spielte, die
ringsum offene Galerien besaßen, konnten Zuschauer selbst oberhalb der Bühne
Platz Nehmen. Diese Einrichtung blieb in den eigens als Theater erbauten
Häusern bestehen, wo die Bühne die ganze Breite des Raumes einnahm, ge¬
stattete man Einzelnen vom Publikum, rechts und links auf den Bretern selbst
zu sitzen und nur eine gewisse Fläche für die Handlung frei zu lassen. Aber
außerdem gab es sogenannte Herrenzimmer oder Privatlogen, die sich unmittel¬
bar an 'die Bühne anschlössen und in denen wir denn auch auf uns erhaltenen
Abbildungen vornehme Damen neben Herren sitzen sehen. So gab es doch
einen Platz, wo jene Edelfrauen und Bürgerweiber sitzen durften, «n welche
Stephen Gosson seine vier gedruckte Seiten lange Warnung richtet und in der
er unter anderem sagt: ,. Ich schreibe einige Zeilen an euer holdes Selbst,
nicht weil ich euch als eitle Hausfrauen zu tadeln, sondern als tugendsame
Damen zu berathen und zu ermuthigen gedenke. — Ich habe so manche von
euch gesehen, die gewohnt sind, sich in den Theatern zu lustiren — in der
That, ich muß gestehen, da kommen zum Schauspiel von allen Arten, alte und
junge: ich will nicht sagen, daß alle fehlen, doch ich versichere euch, ich will auf
keine schwören. — Seid ihr verdrießlich und ihr geht ins Theater, um die
Grillen wegzujagen, so ist das ein so gutes Mittel als euch gegen euren Kopf'
Schmerz an den Schädel zu hauen"*) f. w.
Daß die Damen in den offenen, unbedeckten Theatern sich, wie damals
überhaupt gegen Luft und Sonne üblich war, mit Larven geschützt haben, will
ich nicht bestreiten; in den geschlossenen Theatern wie Shakespeares Blackfriars.
wo bei Kerzenlicht gespielt wurde, saßen sie mit unbedecktem Gesicht, wie
Siephen Gosson ihnen vorwirft, „um gesehen zu werden".
Auch das Tabakrauchen war nichts DespectirlicheS, sondern so gebräuchlich,
wie noch heute in Holland; oder wie könnte man sonst das Verbot der Obrig.
seit der Universität Oxford deuten, welche das Tabakrauchen in der Kirche ver¬
bot, „wegen der zu großen Masse des Qualms".
Aber, meint Herr Rümelin, den Ton gaben doch die Junker an und ihre
Coteriespäße würzten Shakespeares Stücke, seine Helden mußte er aus dem Adel
wählen und das bürgerliche Drama vernachlässigen, das seine Zeitgenossen cul-
tiviren. — Da Shakespeare vor demselben Publikum spielte, wie seine Zeit¬
genossen und alle glänzende Geschäfte machten, so begreife ich nicht, wie Shake-,
speare einer Rücksicht unterworfen gewesen sein kann, die seine Rivalen nicht
zu nehmen hatten. Daß Shakespeare mit den Vertretern des bürgerlichen Lust¬
spiels, Ben Jonson und seiner Schule nicht zusammengeworfen werden darf,
weil diese als Gründer einer neuen Gattung gewissermaßen einer späteren
Periode angehören, während Shakespeare die Elemente der alten Schule in sich
vereinte, erfüllte und erschöpfte, ist hier nicht zu erörtern.
Den Junkereinfluß auf die Wahl der shakespeareschen Stoffe soll man in
dessen Stücken wahrnehmen? — Kurz ein paar Beispiele, die directen Bezug
auf die Bühne haben. Sagt nicht Hamlet über den Polonius, den echten Ver¬
treter des Hofgeschmackes: „Er mag gern eine Posse oder eine Zotengeschichte,
sonst schläft er ein —?" oder zeigt nicht der als Lord verkleidete Kesselflicker in
der „bezähmten Widerspenstigen" mit seinen Fragen, während er das Stück auf
der Bühne mit anschaut, deutlich genug: wie die Schauspieler den Kunstsinn
dieses vornehmen Theils des Publikums ansahen? Wie kommen denn über¬
haupt die Höflinge davon? Nicht der „alte närrische Schwätzer" Polonius.
auch die jungen Cavaliere, Rosenkranz. Güldenstern, Osrick, Christoph von
Bleichenwang? oder das ganze Lustspiel „Wie es euch gefällt", das die Nichtig¬
keiten des Schranzenthums in allen Abstufungen vom melancholistrenden Gern¬
redner, durch den affectirter Le Beau bis zum brutalen Genüßling. den Hof¬
narren herab geißelt?
. In wie fern Gustav Rümelins Ausnahme von seiner Regel. „Die lustigen
Weiber", dieselbe bestätigen soll, ist mir nicht klar. Wenn hierin offenbar das
lasterhafte Junkerthum an den Bürgerstand Preis gegeben wird, so kann ich
sonst dagegen nirgend finden, daß bürgerliche Stände. Geistliche, Schulmeister
und Polizei als solche lächerlich gemacht würden, vielmehr sehen wir nur ihre
Ausartungen gegeißelt, die heutigen Tages wie damals bespottet werden. Räth
doch z. B. Jacques, indem der elende Textdreher gehöhnt wird, sogleich dem
Narren einen ordentlichen Geistlichen zu nehmen. Uns dünkt, schon dieses kleine
Beispiel zeigt, daß Shakespeare nicht den Stand, sondern dessen profanirende
Entartung habe treffen wollen. Es kann nur absichtliches Verkennen sein, zu
sagen: „Bürgermeister, Friedensrichter, Gelehrte, Geistliche, Aerzte finden wir
nur in komischer Verwerthung." Es lassen sich eine Menge sehr ernster Ber-
treter dieser Fächer finden. Ich erinnere nur an den Oberrichter in Heinrich
dem Vierten (zweiter Theil), der durch seine strenge ausnahmslose Rechtlichkeit
und Pflichterfüllung dem jungen Prinzen die erste Aeußerung seiner edlen
Wandlung entlockt.
Endlich glaubt Herr Rümelin auch noch in der specifischen Art des shake-
spearischer Witzes, der uns vielfach so fremdartig anmuthet, einen Einfluß
jenes Bühnenpublikums finden zu sollen. „Der Jüngling, wie der Ungebildete
oder Halbgebildete." sagt er, „spielt gern mit dem Wort; er hat sich die Sprache
noch nicht so völlig assimilirt. wie der Mann von reifer Bildung. Eine Phrase
zu Tod zu Hetzen, der Rede eines andern einen albernen, beleidigenden, zwei¬
deutigen Sinn zu geben, die Ausdrucksweise in kolossalen Hyperbeln tst dem
Geschmack eines jugendlichen Publikums besonders entsprechend."
Nun Shakespeare selbst nennt sein Zeitalter so spitzfindig, daß der Bauer
dem Hofmann auf die Ferse tritt, eine Zeit, in der man mit Silben zu Tode
gestochen wird, wenn man nicht nach der Schnur spricht; wo jeder Narr mit
Worten spielen kann, so daß der Witz sich fast am besten durch Stillschweigen
bewährt und Gesprächigkeit nur noch an Papageien zu loben ist; wo mancher
Narr, so aufgestutzt, um ein spitzes Wort die Sache preisgiebt." Die über¬
reife Bildung der gelehrten Höfe hatte nach spanischem und italienischem Vor¬
bild diese Redeweise allgemein und modisch gemacht, sie wurde seit John LillyS
Pamphlet „Euphues" reden genannt; denn er war der zierlichste Vertreter die¬
ser Redeweise der Ueberbildeten.
„Wenn sich," sagt Gustav Rümelin, „der Shakespearische Witz in Beziehung
auf Zweideutigkeiten nicht sehr enthaltsam und wählerisch erweist, so ist auch
dieses aus der Zusammensetzung seines Publikums leichter verständlich. Man
thut der guten alten Zeit bitteres Unrecht, es erscheint uns als ein Frevel
gegen das puritanische Zeitalter.der jungfräulichen Königin, zu glauben, man
habe solche Reden im Munde einer gebildeten Frau für zulässig angesehen, wie
in dem Witzgefecht zwischen Benedict und Beatrice."
Es ist doch Wohl kaum möglich, daß Gustav Rümelin so völlig ohne
Kenntniß des damaligen s. g. guten Tones ist. um nicht zu wissen, daß Zoten¬
jägerei, obseöne Schaustellungen und eine Sprechweise, die wir unanständig
nennen, auch bei den vornehmsten Damen in jener guten alten Zeit allgemein
waren? Vielleicht fällt ihm einmal die mit großen Kosten hergestellte Abbildung
des Festzuges bei der Vermählung des Herzogs Johann Friedrich von Würtem-
berg mit der Markgräfin Barbara Sophie von Brandenburg am 6. November
1609 in die Hände, wo er sich an einem Beispiel aus seinem Schwabenlande
überzeugen kann, wie weit in jener Zeit die Grenze des Anstandes sich stecken
ließ. Er wird da im Geleite der splinternackten Fortuna unter andern die
voluptas an Ketten gehend von einer Frau dargestellt mit den priapischen Jn-
sigmen auf ihrem vertu Main einherparadiren sehen.
Daß es in England nicht anders war, dafür mag ein Zeitgenosse Shake¬
speares. Thomas Nass*), zeugen, wenn er ausruft: „Westminstsr! Westminster!
manches Jungfraucnthum hast du zu verantworten am Tage des Gerichtes!
Du warst einst eine Freistätte der Heiligen, jetzt ist deine Stätte frei von Hei¬
ligen. Chirurgen und Apotheker, ihr wißt, das ich sage, ist wahr; denn ihr
lebt gleich den Schergen von den Sünden des Volkes; zeugt ihr mir, ob irgend¬
ein Ort so liederlich ist, wie diese Dame London? — El, geht wohin ihr
wollt in den Vorstädten und bringt mir zwei Jungfrauen, die Keuschheit an¬
gelobt haben, und ich will ein Nonnenkloster bauen! Den Hof dürfen wir nicht
antasten, aber sicherlich ist dort, wie in den Himmeln, so mancher fallende Stern
und nur eine wahre Diana." Und die sich brüstende Keuschheit Elisabeths
heute noch für echt zu erklären, heißt besserer Erkenntniß widersprechen.
Dazu kommt noch ein nicht zu übersehender Umstand, daß grade die lösc¬
hten Stücke Shakespeares für die Hoffeste ausgesucht wurden, wie z. B. bei Ver¬
mählung der Prinzessin Elisabeth mit dem Pfalzgrafen eben jenes „Viel Lärm
um Nichts", das 'Gustav Rümelin solchen Anstoß gegeben, „Die lustigen Wei¬
ber", „Der Sturm" u. s. w., und außerdem die Thatsache, daß die ganze Gat¬
tung der zotigen Volksposse vom Hofe auf die Bühne überging. Ich erinnere.
an John Heywood.
Aber auch Shakespeares Gunst bei Hofe stellt Rümelin in Frage. Er sagt:
„Es ist natürlich nicht daran zu zweifeln, daß Shakespeare so gut wie andere
Schauspieler seiner Truppe auch in den königlichen Schlösser» zu spielen hatte,
daß dabei ein und das andere Mal auch eines von seinen Stücken zur Auf¬
füllung kam, allein man hat vergeblich versucht, irgendein reales Zeugniß für
ein.nähreres Interesse, das Elisabeth an unserem Dichter genommen haben soll,
ausfindig zu machen. Nach allem, was wir von ihrer Bildung und ihrem
Kunstgeschmack wissen, ist es auch nicht zu verwundern, daß sie an den Werken
einer so ungelehrten Kunst den „Stempel des Genius" nicht erkannte." Und
ferner: „Von König Jacob wissen wir nur. daß, als Shakespeare sich um ein
kleines Hofamt, mit welchem die Aufsicht über die scenischen Aufführungen.ver¬
bunden war. bewarb, ihm ein obscurer Concurrent vorgezogen wurdg. Auch der
Plan, den mütterlichen Adel auf sich übertragen zu sehen, ging nicht in Er¬
füllung."
Diese eben genannten Punkte würden in der That der Tradition und all¬
gemeinen Annahme, Shakespeare"habe bei seinen Fürsten in besonderer Gunst
gestanden, einen Stoß geben. Sie sind also einzeln zu prüfen. Jenes Amt
bei Hofe, etre mu8t6i' ok tus revels, hatten unter Elisabeth inne: Sir Thomas
Cawarden, von 1560 an Sir Thomas Banger, von 167,3 Sir Thomas Bla-
grave als sein substitue. von 1579 Sir Edmund Tilney mit Umgehung Lillys,
der sich in einem vorhandenen Briefe auf das ihm für diese Stelle gegebene
Versprechen beruft.
Unter Jacob erhält 1621 Ben Jonson eine nie in Erfüllung gegangene Sur-
vivance, 1622 Sir John AM) dieselbe Stelle.— Ein Schriftstück, das Shake¬
speare um die Stelle nachsuchen läßt, ist längst als gefälscht erkannt.*)
Der mütterliche Adel soll William Shakespeare geweigert worden sein. Es
ist unserm eifrigsten Suchen nicht gelungen, herauszubekommen, wer Gustav
Rümelin gesagt hat, daß William Shakespeare sich darum bemüht habe. Es bleibe
hier dahin gestellt, wie weit so etwas bei englischem Adelsbrauch überhaupt
möglich war. Dagegen theilen alle Berichterstatter mit, daß John Shakespeare,
' des Dichter Williams Bater, das Wappen her Urteils, der Familie seiner Frau,
auf sich übertragen zu sehn wünschte und daß ihm dieser Wunsch in einem
langen Diplome erfüllt wurde.**)
Die Zeichen der Ungunst König Jacobs fiele« somit weg, aber auch Zeichen
der Gunst finden sich. Unmittelbar nach seinem Regierungsantritt erhob Jacob
durch ein Patent***) die Truppe des Lordkanzler, Shakespeare als zweiten Unter¬
nehmer, zu königlichen Schauspielern. Und wenn sich auch unter Elisabeths
Regierung, wo leider die Rechnungsbücher mangeln, außer dem Zeugnisse der
Zeitgenossen Chettle und Ben Jonson und wenig anderen Andeutungen, Shake¬
speares Gunst nicht beweisen läßt, to kann sie unter Jacob gar nicht in Zweifel
> gezogen werden. In den Registern der Hoffeste von 1604 und 6 finden wir
unter vierzehn bei Hofe gespielten Stücken meist ungenannter Dichter, acht von
Shakespeare, meist mit Angabe feines Namens. Zu jener oben erwähnten
Bermählung der Prinzessin Elisabeth gab man unter vierzehn Stücken sechs
shakcspearesche, in einer Zeit, wo er sich längst von der Bühne zurückgezogen
hatte. Und als wegen der Pest die Theater in London geschlossen wurden,
ließ Jacob sich seine Truppe nach Wilton kommen.5)
Was endlich Shakespeares Ungelehrtheit betrifft, so könnte davon nur dem
übergelehrten Benjamin Jonson gegenüber die Rede sein. Man hat viel zu
thun, will man alle Werke in englischer oder die unübersetzten fremder Sprachen
aufzählen, die Shakespeare zum mindesten flüchtig inne haben mußte. Wenn
Rechtsgelehrte ihn zum gewesenen Advocatenschreiber machen, um der technischen
Ausdrücke willen, die ihm geläufig waren, so spricht diese Annahme eben nickt
für seine Unbildung. Auch fehlen alle triftigen Beweise, daß er den Schul¬
unterricht nicht regelmäßig genossen; denn „der Ruin" seines elterlichen Wohl¬
standes, den Gustav Rümelin als Grund anführt, war eine Geldverlegenheit
von höchstens zwei Jahren. Und welchen Grad von Bettelhaftigkeit setzte es
voraus, wenn der Vater von acht Kindern nicht eins derselben aus seinem Ge¬
schäft entbehren konnte, das in der Freischule ohne alles und jegliches Schul¬
geld unterrichtet werden konnte. Da ist Aubrevs Bericht glaubhafter, der den
jungen William nach absolvirter Schule Schulmeister aus dem Lande sein läßt.
Doch Shakespeares Wissen zu vertheidigen ist unnöthig; um die Wette waren
Engländer und Deutsche bemüht, den reichen und vollen Strom seiner edlen Bil¬
dung bis zu ihren Quellen zu verfolgen. Ja man hat darin des Guten zu
viel gethan, und fast jede mögliche Berusskenntniß aus seinen Werken erwiesen.
„Mit achtzehn Jahren," «wird uns gesagt, „kam Shakespeare in die Lage,
daß er ein acht Jahr älteres Landmädchen heirathen mußte, oder heirathen zu
müssen glaubte." — Die argwöhnischen Erklärer sehen hierin schon die Grund¬
lage seiner sogenannten unglücklichen Ehe. Die frühe Geburt der ersten Tochter
soll Vater und Mutter als Liebesdiebe brandmarken. Die Herren übersehen
aber, daß die kirchliche Weihe in jener Zeit erst einige Monate nach geschlossenem
Ehebunde üblich war und daß nach altgermanischer Sitte der vor Zeugen
förmlich abgelegte Eid der Treue volle Giltigkeit und Achtung hatte.*) Charles
Knight und andere haben den Punkt zur Genüge erledigt und eine Menge
Stellen in Shakespeares Stücken erklären die Sitte ausführlich. Shakespeares
Ehebund ist von jedem widerlichen Gewissenszwange rein zu sprechen und „seine
süße Heiligkeit ist nicht entweiht zum leeren Wortschwall".
Auch die oft besprochene Gunst des jungen Henry Wriothesley, Grasen
von Southampton, wird von Herrn Rümelin hervorgehoben. Aber das Ver¬
hältniß des Dichters zu dem jungen Grafen stellt sich nach den beiden vor¬
handenen Widmungen zu den erzählenden Gedichten keineswegs als ein ver¬
traulich freundschaftliches dar. Das Document, das dafür sprechen könnte, ist
gefälscht. Gustav Rümelin spricht über diesen Umstand sein Bedauern aus,
findet das Schriftstück aber so hübsch erfunden, daß er es dennoch benutzt.
Bodenstedts Versuche die Entstehung der Sonette nachzuweisen und die
sinnlos angenommene Einheit des Stoffes zu zerreißen, ignorirt Rümelin ohne
Weiteres. Aber wäre die Herausgabe seiner Studien nur wenige Wochen später
erfolgt, so würden ihm im Beginn dieses Jahres durch das erste Jahrbuch der
deutschen Shakespearegesellschast und den vortrefflichen Aufsatz von N. Delius
(Seite 18) wohl alle Anhaltspunkte genommen worden sein, die fraglichen
Sonette für etwas Anderes zu halten, als wofür unbefangenes Urtheil sie von
vornherein nehmen muß: für Dichtungen. Daß die Gedichte nicht an sont«
hampton gerichtet sein können, daß sie überhaupt gar nicht an eine Person,
und gar einen Mann gerichtet sind, ferner daß sie gleich nach ihrem Erscheinen
nur für „zuckersüße" Dichtungen galten, und erst durch einen raffinirten Specu-
lanten zu einer selbstverklugenden Biographie des Verfassers gestempelt und von
da ab in diesem Sinne beurtheilt und übersetzt wurden, das alles finden wir
bei Delius gründlich bewiesen. Auch geben er und Bodenstedt uns die englischen
und italienischen Muster an, denen eine Anzahl der shakespeareschen Sonette
nachgebildet ist. Daher erklären sich auch die zahlreichen Wiederholungen, die
nichts sind als Studien über dasselbe Thema und von dem ungeschickten Heraus¬
geber allesammt nebeneinander gestellt wurden. Auch aus seinen Dramen sind
mannigfache Parallelstellen nachzuweisen und in diese Gattung gehören grade
diejenigen Sonette, welche bisher den übelsten Schatten auf des Dichters
Leben geworfen hatten. Gern gebe ich zu, daß sich eine große Anzahl Gelegen¬
heitsgedichte darunter findet, und wenn wir Shakespeares Leben in seinen Einzel'
selten kennten, würde sich uns manches erklären. So steht uns natürlich nur
frei, auf die feststehenden Vorgänge seines Lebens die Anklänge zu suchen,
nimmermehr aber, aus dem Inhalt der Gedichte auf des Dichters Thaten zu
schließen.
Herr Rümelin hat die Behauptung aufgestellt, daß Shakespeare „gleich
nach seinem Tode fast zwei Jahrhunderte lang von seinem eigenen Volke ver¬
kannt und vergessen" worden sei. Es ist nicht ganz an dem. Seine Stücke
blieben nach seiner Entfernung vom Theater auf der Bühne, zwei Theater¬
unternehmer stritten sich um das Recht ihrer Aufführung, wir wissen, daß bei
seinen Lebzeiten, nicht „ein sehr geringer Theil, sondern von sechsunddreißig
Stücken neunzehn durch Speculanten im Druck erschienen, ganz dem Brauche
zuwider; daß Betrüger auf Shakespeares bekannten Namen hin mehrfachen
Buchhändlermißbrauch trieben, und daß sieben Jahre nach seinem Tode von
seinen früheren College» eine Gesammtausgabe seiner Dramen gemacht wurde.
Ihr folgten unter den Stuarts noch drei weitere Gesammtausgaben. Der von
1632 ist unter anderen ein Gedicht Miltons vorangedruckt, das etwa so lautet:
„Ein Epitaph auf den bewunderungswürdigen dramatischen Dichter
W. Sh akcsveare.
Also ist es unrichtig, „daß Shakespeares Werke nicht gelesen wurden".
Als der Einfluß des französischen Hoftons sich auch in England geltend machte,
sehen wir natürlich frivolen Modestücken die ernste Gattung weichen; als der
Bürgerkrieg die Theater schloß, konnten auch Shakespeares Dramen nicht ge¬
geben werden. Aber gleich nach Wiedereröffnung der Bühnen machte der
Schauspieler Batterlon nach Tradition des Souffleurs Davenant den großen
Dichter wieder auf der Bühne heimisch und erzielte reiche Einnahmen damit.
Die Belehrung Battertons ging so weit, daß er eigens nach Stratford reiste,
um dort Erkundigungen über Shakespeare einzuziehen und seinen Notizen ver¬
dankt man Rowes Lebensbeschreibung Shakespeares, in der fünften Ausgabe
der Werke. Bon Batterien bis auf unsere Tage hat sich in England die Tra¬
dition am Theater fortgepflanzt und es ist mehr dem Geschmack der Höfe und
Vornehmen, als dem Amts'eil des Publikums Schuld zu geben, wenn die Mode
der französischen Zeit die Auffassung der shakespeareschen Dramen und ihre Aus¬
nahme verdarb.
Es ist endlich nicht wahr, daß „die ganze romanische Race den britischen
Dichter heute noch fast ungenießbar findet". Gleichzeitig mit seiner Einführung
in Deutschland beginnt Shakespeare in Frankreich Boden zu gewinnen, an den¬
selben Stücken und mit denselben Berstümmelungen, wie bei uns, die nur
größer waren, weil der herrschende Zeitgeschmack eben von Frankreich ausging.
Bedeutende Mitglieder der Akademie haben sich beeifert, dem englischen Dichter
durch Bearbeitungen -gerecht zu werden, aus seinen Stücken wurde immer mehr
von der französischen Zuthat entfernt, immer mehr von dem Ursprünglichen
hergestellt, grade wie in Deutschland, bis Benjamin Laroche in der Borrede
seiner mit ebenso viel Pietät als Verständniß durchgeführten vollständigen Ueber-
setzung der shakespeareschen Dramen ausrufen darf: „Wo sind die Zeiten hin,
da Boltaire von der Höhe seines akademischen Stolzes herab Shakespeare als
Barbaren, als betrunkenen Wilden kennzeichnete; da Letourneur in seiner
schleppenden und farblosen Prosa die energische und naive Ausdrucksweise des
Schwans vom Avon unter dem lächerlichen Pomp seiner Umschreibungen erstickte
und ohne Weiteres die Scenen, die ihm nicht behagten, mit Stillschweigen
überging; da Ducis, der diesen großen Mann unter den lächerlichen Schutz
seiner schwerfälligen und eintönigen Alexandriner nahm, seine edelsten Meister¬
werke ins Classische travestirte? — Shakespeare ist abwechselnd Corneille, Mo¬
liere und La Fontaine, aber er ist mehr Dichter als einer von diesen drei
Männern: er hat die Eigenschaften, die sie auszeichnen, weiter entwickelt als
einer von ihnen, er besitzt andere, die ihnen fremd sind. Als komischer Dichter
ist seine Laune von Heiterkeit ursprünglich, lebendig, unversiegbar; als tragischer
Dichter hat er mit größerer Energie als einer seiner Nebenbuhler jene beiden
Triebfedern der menschlichen Seele angespannt: das Mitleiden und den Schrecken.
La Fontaine, Moliere und Shakespeare haben für alle Glieder der mensch¬
lichen Familie geschrieben. Der reife Mann genießt sie, die Jugend begreift
und liebt sie. Es sind drei Universaldichter. Ihre Werke werden neben Homer
und der Bibel rum längsten im Angedenken der Menschen fortleben." — An die
maßgebende Einwirkung Shakespeares auf die romantische Schule der Franzosen
wird hier nur erinnert.
Es bleibt nur noch ein Letztes, Shakespeares Stellung zu seinen gebildeten
und gelehrten Zeitgenossen und die Beachtung, welche seine Werke in literari¬
schen Kreisen fanden und die Gustav Rümelin (S. 16) „keine sonderliche und
hervortretende" nennt. Als Beleg führt er dafür eine Stelle „von Thomas
Nass*), einem angesehenen Kritiker jener Zeit" an und sagt: „In seiner Schil¬
derung einer Aufführung von Heinrich dem Achten im Globustheater sagt er
zu einer Zeit, da Shakespeare noch lebte, aber seine dichterische Laufbahn be¬
reits abgeschlossen hattet, unter anderem: „Der Verfasser dieses Stücks ist ein
gewisser William Shakespeare, ein Mann, dem es keineswegs an Talent fehlt.
Die Kenner geben indessen seinen Gedichten den Vorzug vor seinen Theater¬
stücken. Denn ein Theaterstück ist nur ein eitles Vergnügen. Die Menge ist
danach begierig, hält aber nichts von den Verfassern solcher Stücke u. s. w." —
Aber Heinrich der Achte wurde zum ersten Male aufgeführt im Jahre 1613-
wobei durch einen Böllerschuß das leicht gebaute Globustheater in Brand ge-
rieth. Und Thomas Nass, der, wie wir wissen, selbst dramatischer Dichter war,
mußte im Jahre 1601 sein junges Leben schließen***), das er an die Bekämpfung
der puritanischen Angriffe gegen Poesie und Bühne gesetzt hatte. Es ist also
nicht wahrscheinlich, daß er zwölf Jahre nach seinem Tode Worte geschrieben,
die ihm. von einem andern gesprochen, im Grabe kaum Ruhe gelassen hätten.
Es ist ferner derselbe Thomas Nass, welcher im „Hans Habenichts" (?ieie<z
?tu»7is88) wettert: „Ich will es gegen jeden Lumpenkerl und dickfäustigen
Wucherer unter ihnen allen vertreten: nirgendwo auf der Welt kann einem
Menschen gleiche Unsterblichkeit verliehen werden als in den Schauspielen. Was
schwatze ich zu denen von Unsterblichkeit, die ja die wahren Ehrenabschneider selber
sind! Sie wissen, wenn sie todt sind, wird sie niemand für eine edle Handlung
auf die Bühne bringen, höchstens in einer Wucherer- und Teufelsposse u> s. w." .
Und solche Stellen sind nicht vereinzelt bei ihm, sein gelehrter Streit mit
Harwey über ein gleiches Thema ist bekannt. Thomas Nass also kann so
über Shakespeare nicht geurtheilt haben.
Aber vielleicht meint Herr Rümelin nicht diesen Thomas Nass. Es gab
ja in jener Zeit noch einen andern dieses Namens, aber dieser andere heira-
thete Shakespeares Enkelkind, wird also über seinen Großvater besser unterrichtet
gewesen sein — vielleicht schrieb die citirten Worte ein Thomas, ohne Nass?
Und es ist richtig: über jenen Theaterbrand finden sich zwei Briefe vor von
Männern, deren einer mit Vornamen Thomas heißt und an einen Thomas
schreibt. Aber jene Stelle findet sich bei ihnen nicht. Wenigstens giebt Delius
Proben der Briefe und würde die Hauptsache nimmermehr weggelassen haben,
und was wesentlicher: die Erläuterer Shakespeares würden nicht solche Mühe
haben aufwenden müssen, um festzustellen, daß jener Heinreich der Achte Shake¬
speares Stück war, wenn bei jener Gelegenheit Shakespeare als Verfasser ge¬
nannt und beurtheilt wäre.
Doch London zählte zu Shakespeares Zeit noch andere Schrifsteller. Herr
Rümelin führt selbst einen andern an: Webster, Shakespeares Freund, der „von
Chapmans vollem und hohem Stil spreche, der Ben Jonson, Beaumont und
Fietcher Hochpreise" und der „Shakespeares Thätigkeit nur als eine ebenso glück¬
liche wie fruchtbringende erwähnt."
Aber außer Webster und Nass schrieben an der Wende des sechzehnten
und siebzehnten Jahrhunderts noch andere Engländer von ihrem großen Dichter;
möchten einige Proben ihrer Feder hier darthun, daß William Shakespeare auch
von seinen literarischen Zeitgenossen gewürdigt wurde.
In einer Epigrammensammlung von Weewer, die etwa in das Jahr 1S96
zu stellen ist, also in eine Zeit, wo Shakespeare erst etwa zehn Jahre als
Schriftsteller thätig und mehre seiner bedeutendsten Werke noch ungeschrieben
waren, finden wir die affectirt lobpreisenden Verse, die im Deutschen etwa
folgendermaßen lauten würden:
Und aus derselben Zeit lautet eine Stelle in Francis Merch berühmten
„,?g,I1g,al8 ?amia, >vies Ireasurz?" („SchaMstlein des Witzes") aus dem Jahre
1698: „Wie man sich die Seele des Euphöbus in Pythagoras lebend dachte,
so lebt die süße, würdige Seele des Ovid im methfließenden und honigzungigen
Shakespeare. Wie Plautus und Seneca unter den Lateinern als die Besten für
Komödie und Tragödie gelten, so ist sha/espeare unter den Engländern der
ausgezeichnetste in beiden Gattungen für die Bühne. Wie Epius Stolo sagt,
daß die Musen mit Plautus Zunge reden würden, wenn sie Lateinisch sprächen,
so sage ich, daß die Musen in Shakespeares fein gewobenen Phrasen reden
würden, wenn sie Englisch sprächen."
Und die scherzenden Verse des Zeitgenossen Davies in seinem LeourZe ot
?oIl7 (Geißel der Narrheit), die oft als Zeugniß für Shakespeares fürstlichen
Anstand citirt werden, lauten etwa so:
Und gewidmet sind diese Verse: /
Der ersten Gesammtausgabe der shakespearischer Dramen, die seine früheren
Collegen und Freunde John Heminge und Henry Condell sieben Jahre nach des
Dichters Tode Herausgaben, ist eine Anzahl von s. g. Empfehlungsgedichten vor¬
angestellt, von denen wir die besten hier folgen lassen wollen.
Leonard Digges weiht „dem Angedenken des abgeschiedenen Autors Meister
W. Shakespeare" folgende Verse:
Ein weiteres humoristisches Gedicht, unterzeichnet ^. N., lautet etwa so:
Endlich aus Ben Jonsons berühmtem, achtzig Verse langem Gedichte nur
einige entscheidende Hauptstellen:
Man sieht aus diesen Beispielen, daß unsere Shakespeareverehrung noch
nicht um die Lobpreisung der Zeitgenossen heranreicht.
Da ich zwar von Geburt Katholik bin, aber ein Ungar, so haben Sie
nicht zu fürchten, daß ein Klerikaler sich als Wolf im Schafskleide auf Ihrer
grünen Flur einschleiche. Wenn ich zu protestiren versuche gegen das Auf¬
kommen des Gedankens — der auch in einer der letzten Nummern Ihres Blattes
Ausdruck gefunden hat —, in Oestreich das Kirchenvermögen durch den Staat
einziehen zu lassen, wie das in Frankreich, Belgien, Italien, Rumänien u. s. w.
geschah, so entspringt dieser Protest keineswegs irgendwelchen Sympathien für
den Klerus.
Aber ich bin Ungar, daher mehr oder weniger des angeborenen Instincts
jener nicht sehr gelehrten, aber praktischen Nation mit theilhaft, welche in ihrer
tausendjährigen europäischen Geschichte so viel der glänzenden als der dunklen
Blätter haben mag, aber doch nirgend den Fleck politischer Hilflosigkeit.
Doch gehen wir direct zur Sache über.
Laut deutschen Journalen betrug Ende April 1864 die östreichische Staats¬
schuld: 3.316,443.180 Fi.. mit jährlichen Zuisen von 221,142 668 Fi.. Während
die normale Staatseinnahme der östreichischen Monarchie, selbst unter der Cen-
tralisationsdespotie der Periode Bach, nie 250.000,000 überstieg.
Ihre Wochenschrift nun giebt an. der Klerus habe selbst 1849 den Werth
des kirchlichen Grundeigenihums in Oestreich zu 366.000,000 Fi. declarirt.
Vergleicht man blos diese Ziffern, so wird man sich ziemlich trostlos ge¬
stehen müssen, bei solchen Staatsschulden wäre eines solchen Werthes Confis-
catio» grade so ergiebig und prciiös, als wenn man, wie das Sprichwort sagt,
„einen Veltcljungen in die Hölle wirf!". Dies Experiment, überhaupt kaum
deutbar, da es bei der bigotten Bevölkerung aller nichtungarischen Länder der
Monarchie - direct Revolutionen hervorrufen würde, in Ungarn dagegen die
energischste, zuletzt active Protestation aller constitutionell Gesinnten, — würde
auch bei glänzendsten Resultate überdies kaum ausreisen, für einmal den Jahres¬
zins der Staatsschuld zu decken. Also was wäre finanziell mit 366 Millio¬
nen Fi. gewönne!, gegenüber einer Staatsschuld, welche heute unzweifelhaft
schon über 4000 Millionen oder 4 Milliarden Fi. betrugen muß? °
Ferner vergißt man, was übrigens auch der erwähnte Artikel der „Grenz¬
boten" ausführt, oder — bei der großen Untcunliuß über Oestreich — man
weiß es nicht, daß schon Kaiser Joseph der Zweite, und viel gründlicher als
dies heute möglich wäre, dieses Experiment durchführte. Und was war das
Resultat? Daß die Negierung allerdings sich um ein paar hundert Millio¬
nen bereicherte; aber nicht nur, indem sie dem Volke widerrechtlich das weg¬
nahm, was im Grunde Volt'svennögcn war, und was der Klerus nur unter
gewissen Bediugnisscnl zeitweilig zu nutznießen hat, sondern noch mehr: das so
geplünderte Volk konnte dann auch noch für die? Erhaltung der ihrer Existenz-
mittel Beraubten mehre Lebensalter hindurch sorgen. Das war eine falsche
politische und Rechtsphilosophie jenes „Despoten ans Liebe". Er warf eines
Tages mit absolutester Willkür an die hunderttausend Kleriker nackt in das
Volk, belaste ihren Kirchcnrcichthum als gefundene Beute ein, und überließ es
den derart um ihr Capital betrogenen, schwerste Steuern zahlenden Bürgern,
nun nicht nur doppelte Steuern zu zahlen, sondern auch die keines bürgerlichen
Lebenserwerbes fähigen Ausgeplünderten bis an ihr jeweiliges seliges Ende zu
füttern und durch Almosen zu erhalten. Ich selbst bin nicht völlig ein
halb Jahrhundert alt, aber noch zu meiner Kinderzeit mußten in meines
Vaters Haus ein paar alte verkommene Paulaner ernährt werden, die Kaiser
Joseph der Zweite so echt human 1780 auf die Straße gesetzt hatte, indem
er hübsch selber einsteckte, was jene Pfaffen unseren Vätern — nämlich dem
Volke — abgenommen hatten.
Und was war die wirklich praktische Folge jenes glücklichen Versuches,
den angeblichen Dieb zu erleichtern? Die Witzigung desselben. Denn nachdem
nach Josephs Tode die Ncactivirung der Klöster und Orden in Oestreich er¬
folgte, hüteten die Verbrannten sich wohl, nochmals ihre Schätze frei liegen zu
lassen. Der Klerus in Oestreich und Ungarn besitzt zusammen wohl eine Capital
von über ein Milliarde, aber nur in Ungarn besteht dies Vermögen vor¬
wiegend in Gütern. Immobilien, Kirchenschmuck, überhaupt in greifbaren und
findbaren Gegenständen. In den josephinirten Landen der Monarchie dagegen
haben die Klöster und Orden nur so viel an Grundbesitz, als einestheils zur
leiblichen Versorgung der Brüder nöthig ist, und anderntheils an Schmuck, was
gewissen Orten historisch ihre Anziehungskraft giebt, z. B. die kostbaren, auch
artistisch sehr werthvollen Madvnnengruppen zu Maria Eichel, mit großen herr¬
lichen Juwelen aus Glas. Besonders die in der That reichen Orden der Bene-
dictiner, Prämonstratenser u. s. w. haben ihr oft kolossales Vermögen in Staats¬
papieren; ja ihre weltlichen Agenten sind in der Börsenwelt bekannt als die
verwegensten und glücklichsten Spieler. Ein Klerus von solcher Macht und
Bedeutung, wie der in Oestreich, wäre ein ziemlich armseliges Wesen, hätte er
nichts'als einen Grundbesitz von 366 Millionen Werth — noch dazu Werth
auf dem Papiere, denn wer die Grundbesitzverhältnisse Oestreichs kennt, der
weiß, wie geringe Realität gegenwärtig solche nominelle Werthe haben. Auch
Gesellschaften ungarischer Magnaten haben zusammen weit über 366 Millionen
Werth an Grundbesitz, und bemühen sich schon seit fünfzehn Jahren durch allerlei
Associationen davon was zu verkaufen, um baar Geld zu erlangen, — haben
aber trotz allen Commissionsprämien noch keinen Morgen, weder im In- noch
im Auelande, an den Mann bringen können. Nebenbei bemerkt, Ungarn hat
23,749 große Grundbesitzer, von denen viele mehr Land als jene kleinen deut¬
schen Fürstenthümer haben, die einen Monarchen mit Hofstaat ernähren, während
der jährliche Reingewinn obgenanntcr großen und dazu der 2.013,684 kleineren
ungarischen Grundbesitzer zusammen blos auf 101,779,856 FI. geschätzt wird.
Solche Folgen hat eine Regierungsweise, wie sie in Oestreich seit drei Jahr¬
hunderten dauert.
So sieht denn die materielle Seite der Frage aus: man müßte Revolu¬
tionen hervorrufen, und das allerglucklichste Resultat wäre die Confiscation von
Gütern im Nominalwerth von ein paar hundert Millionen, deren Verkauf dem
Finanzminister noch mehr Kopfzerbrechen machen würde als der Verkauf der
Staatsdomänen.
Was aber die politische und nationale Seite der Frage betrifft, so sind
diese weitaus noch bedenklicher.
Die östreichische Regierung hat seit achtzehn Jahren nicht nur gegen den
Willen ihrer Völker, und ohne diese in ihrer Gesammtheit zu fragen, auf eigene
Faust hin über zwei Milliarden Schulden gemacht, sondern in, Gegentheil, sie
hat diese Gelder in der offen ausgesprochenen Absicht geliehen, ihre Völker zu
bändigen; die östreichische Regierung möge daher ihre Schulden selbst bezahlen,
Notabene, es ist hier ausdrücklich von der östreichischen Regierung, nicht vom
künftigen Könige von Ungarn die Rede; denn Ungarn hat selbst so wenig
Schulden, als sein König welche machen darf und kann. Was in Frage steht,
ist die östreichische Staatsschuld, da es eine andre nicht giebt.
Diese östreichische Staatsschuld wurde aber nicht nur gegen Wissen und
Willen Ungarns und der meisten andren Lande Oestreichs contrahirt, sondern
überdies noch fast ausschließlich bei ausländischen Gläubigern, namentlich bei
den Süddeutschen und Schweizern, bei den Belgiern, Holländern und Englän¬
dern. Frankfurt war oft der Vermittler, der die glühenden Kohlen den andern
in der Hand ließ, doch auch sich selbst die Taschen beschädigte. In Belgien
allein sind. Dank dem Genie des Mr. Langrand-Dumonceau, anderthalb Mil¬
liarden, in Actien bis zu hundert Franken herab, den kleinen Kapitalisten und
Epiciers in die Sparbüchse gespielt. Sobald Oestreich endlich einmal den un¬
vermeidlichen Staatsbankerott aussprechen wird, trifft dieser fast mehr als das
Capital in Oestreich' jene Herren Ausländer, welche sich dem Dilemma accom-
modirten „lieber gut essen, wenn auch schlecht schlafen". Grade jene Schreier
nach östreichischer Bruderliebe und die Brüllsrösche mitteleuropäischer Demokratie,
grade sie haben die Völker zum Vertrauen auf Oestreich gemahnt, auf daß
Oestreich ja recht ungenirt die Mittel habe, die Freiheit zu verbreiten! Europa
lieferte bereitwillig die Mittel — damit Oestreich weiter lebe; und zwar grade die
ärgsten principiellen Gegner der Tendenz Oestreichs waren die bereitwilligsten
Opferer. Natürlich, beim Gelde hört nicht blos die Gemüthlichkeit, hören auch
Verstand, Politik und Nationalgefühl auf. Dagegen die Völker Oestreichs —
und zwar hierin einmüthig alle — haben sich weit mehr von dieser einen
Schwäche freigehalten, theils aus Armuth, theils aus Schlauheit oder aus
Opposition. Die Regierung war froh, konnte sie von den Unterthanen über¬
haupt nur ihre Steuern eintreiben. Und Zwangsanlehnsversuche hatten solchen
Erfolg, wie das boscarollische Anlehen per S00 Millionen 18S8, das im Aus¬
lande ein freiwilliges war, dabei aber doch 483 Millionen vom Auslande her
eintrug, während es in der Monarchie als Zwangsanlehen durch die Gensdarmerie
colportirt wurde, und trotzdem blos 17 Millionen ergab.
Endlich aber, und das ist der Hauptpunkt der ganzen Frage: was ist denn
eigentlich Kirchenvermögen? Doch ohne Zweifel und überall ist es das Resultat
der Gaben und Schenkungen, welche des jetzt lebenden Volkes Vorfahren, als
Funclioncire oder als Privatleute, der Kirche im Geiste ihrer Zeit darbrachten;
oder es sind Stiftungen, welche mit Willen der ganzen Nation geschahen, und
durch legislative Organe zu gesetzlichen Thatsachen wurden. Somit ist der
Klerus der nutznießende Pfandinhaber eines dem Volke gehörenden National¬
vermögens. Wenn es also je dazu kommt, daß dies Pfand zurückgelöst werden
soll, solcher Art, daß man das Capital einzieht, und von den Interessen den
Klerus besoldet — und ohne Zweifel wird es auch in Oestreich, früher oder
später dazu kommen — so hat doch gewiß nur das Volk selbst, die Nation,
Eigenthumsrechte auf dies Capital ihrer Vorfahren, und nicht eine Regierung,
welche von der Nation keine Genehmigung dazu erhalten hat.
Der bekannte wiener Bankier Se.-M. gab vor einigen Jahren eine Soiree.
Diese beehrte auch der damalige Finanzminister mit seiner Gegenwart. Durch
den Hausherrn in den Sälen umhergeführt, blieb der Minister plötzlich vor
einem Paare prachtvoller alter Kandelaber aus massivem Silber stehen, und
war kaum mehr vom Platze wegzubringen, bis endlich der ungeduldige Bankier
sich den geschäftlichen Scherz erlaubte, zu fragen: „Wollen Eure Excellenz diese
Leuchter etwa auch zur Aufbesserung der Finanzwirren haben?" Das etwa ist
die Stimmung der Oestreicher gegenüber den Finanzoperationen ihres Staates.
Man hat sich wohl zu hüten, solche Andeutungen wie die der Confiscation
des Kirchenvermögens auszusprechen. Die östreichische Regierung hat feine
Ohren. Bereits hat sie seit achtzehn Jghren was niet- und nagelfest in ge°
Sammler Monarchie und ihr zugänglich war, verkauft und verpfändet. Die
Staatsdomänen, die Bergwerke, die Eisenbahnen, die confiscirten Güter u. a. in.
Und daneben noch gegen vier Milliarden Schulden; all das um eine Politik
durchzuführen, wie jene von 1848 —186L, Es ist also die einzig denkbare
Möglichkeit vorhanden, daß man die Regierung vielleicht doch den Vvlks-
wünschcn geneigt mache, wenn man ihr die Möglichkeit nimmt, ihre Finan¬
zen eigenmächtig aufzubessern. Denn so lange sie auch nur noch eine Mil¬
lion aufzufinden weiß, bleibt sie unzugänglich und wandelt fort in ihren
Illusionen. Somit, seien Sie versichert^ sind alle Völker Oestreichs gefaßt, und
nicht wenige warten ungeduldig wie auf das letzte Rettungsmittel. auf eine
Staatsbanterotterklärnng, welche zwar momentan das gewerbliche und merkantile
Leben auch in der Monarchie fürchterlich träfe, aber der tödtlichen Abzehrung
ein Ende machen könnte. Jetzt geht es wie mit dem Schwänze deö Hundes,
dessen Operation auf ein Mal zu schmerzhaft für das Thier schien, der also
immer nur in Stückchen abgehauen wurde. Endlich aber, da die östreichische
Regierung nur zu Concessionen zu bringen ist, wenn die Staatsnoth drängt,
werden die Völker ihr wahrlich nicht auch noch das Kirchenvermögen in Sicht
stellen, also ihr eigenes Nationalvermögen zur Disposition geben. Im Gegen¬
theil, es wäre zu wünschen, daß anch all die andern Völker Oestreichs stets.so
entschlossen gehandelt hätten, als es die Ungarn thaten, welche seit achtzehn
Jahren geduldig den eigenen Ruin ertrugen, aber keinerlei Concessionen machten,
vielmehr noch heute mit 400 Millionen an Steuern im Rückstände find. Aber
durch diese Energie wurde die Krise von heute herbeigeführt, und einzig an
diesem Widerstande Ungarns brachen die östreichischen Negicrungsexperimente.
Also, der Ncchtsinhaber auf das Eigenthum der Kirchengüter ist das Volk,
die Nation; der Klerus ist blos dieses Schatzes zeitweiliger Nutznießer; die Re¬
gierung aber, die ihn eigenmächtig antasten würde, beginge ein Unrecht am
Das preußische Reich deutscher Nation. Ein Beitrag zum Aufbau. Braunschweig,
1866. Fr. Wagners Hofbuchhandlung.
Mit seltsam gemischter Empfindung, halb Stolz, halb Scham im Herzen,
blicken wir heute auf die Aera der nationalen Jubiläen zurück, die dicht hinter
uns liegt. Von dem Wendepunkt aus betrachtet, den Preußens Sieg herbei¬
geführt hat, erscheinen die meisten wie ebenso viele Todtenfeierlichkeiten, die den
Abschluß überwundener Epochen des nationale» Gedankcnlebens bezeichnen. Seit
dem stolzen Sommer dieses Jahres — das empfindet Freund und Gegner —
hat J.mus das Haupt gewechselt. Wir brauchen nicht mehr, den Blick rück¬
wärts gewandt. Muth und Beglaubigung unserer selbst von verschwundener
Herrlichkeit zu borgen; vor uns liegt Größeres als hinter uns. Schwärmer
und Sänger der Festjahre reiben sick verwundert die Augen: an der Stelle, ein
welcher die hehre Maid aus Uebelsein, der sie gehuldigt haben, erscheinen
sollte, stehen brandenburgische Necken, wilde Männer mit Keulen und trutzigcm
Antlitz; selten ist unreifen Köpfen greller der Unterschied von Ideal und Wirk¬
lichkeit vor Augen getreten, wie nun. Aber wir segnen die Stunde, in der
die Wahngebilde gutherzigen Selbstbetrugs wills Gott auf immer verscheucht
wurden.
Fremd fast, mit völlig unklaren Bewußtsein ihres Antheils, stand die
Mehrzahl auch der Guten und Besten in der Nation den gewaltigen Vorgängen
gegenüber. Als das Gewitter heranzog, war in Norddeutschland banges Grauen
der Erwartung vorwiegend. Die lärmenden Stimmen aus Süden erschütterten
die gedrückte Atmosphäre kaum; die Nähe großer Verhängnisse hielt die Seelen
gebannt. Tief an die Erde gedrückt von der bleiernen Luft zogen ganz einzeln
die Sturmvögel der Presse den Wolken voraus. Still und mürrisch, wie die
preußischen Krieger zum Kampfe, erwogen die meisten Patrioten die Chancen
des ungeheuren Wagnisses, das Preußen auf sich nahm.
Jetzt, da die Ernte des großen Sommers eingeheimst wird, sind die Zungen
gelöst; überall regt sich Zuruf, Rath, Mahnung und Einspruch, und es ist Ge¬
fahr, daß das Würdige und Beherzigcnswcrthe in dem Schwalle von publici-
stischen Kundgebungen ersticke, die ohnehin abgespannten Gemüthern begegnen.
Um so mehr ist die politische Journalistik dem wahrhaft Trefflicher schuldig, ihm
durch Beifall Eingang und Gehör zu vermitteln.
Bei der oben angeführten Schrift, 1)erer Gedankengang wir skizziren, leitet
uns^ hierzu nicht blos die Uterariscke, sondern in hohem Grade auch die Partei
Pflicht an. Wir begrüßen in dem anonymen Verfasser einen Genossen in Wunsch
und Kampf für das neue Deutschland, für das preußische Reich deutscher Nation,
wie er es mit sinnvoller Erinnerung an frühere arvße Stadien der vaterländischen
Geschichte nennt, einen tapferen Bekenner, dessen Zeugniß besonderen Werth
schon deshalb in Anspruch nimmt, weil er weder Preuße ist, noch in Preußen
schreibt, sondern offenbar einem unserer norddeutschen Kleinstaaten angehört.
Einsichtige Politiker haben sich nicht verhehlt, darnach Besiegung seiner
großen Feinde für Preußen die schwierigste Frage die sein wird: was soll mit
unseren kleinen Freunden geschehen? Der norddeutsche Bund und seine von
Macht zu Macht lautenden Verträge ist die Antwort; kann sie aber auch bei
allerbesten Willen der Contrahenten für mehr gelten als für den officiellen
Schein, nach dem sich die Dinge ihren Lauf nehmen sollen? Gewölle oder un¬
gewollt, verschuldet oder nicht. — bei dem Drange zum summarischen Proceß,
der unserer Zeit eigen ist, muß der Tag kommen, wo die Wucht der realen
Verhältnisse an alles, was öffentliche Geltung beansprucht, die erschütternd
lakonische Frage richtet, ob sein Dasein heilsam und nothwendig sei für den
neuen Staat und für ihn allein.
Um die Zukunft der particularistischen Interessen und Existenzen in der
kommenden Perote unsrer nationalen Entwicklung handelt es sich. Zu lange
Hot die Nation sie als ihre Lebensformen gehegt und gekalten, als daß sie
schlechterdings werthlos sein könnten; das Zeugniß, das unsre vergangene Ge¬
schichte dafür ablegt, zu ignoriren, ist unmöglich; und wenn sie auch nur Mit¬
tel, die in der Erfüllung des nationalen Staates ihren Zweck anerkennen müs¬
sen, so erleichtert das nicht die reale Aufgabe der Geschichte, sondern höchstens
das Gewissen derer, welche thätig sind, sie zu vollziehen. In Wahrheit sind
die particulären Existenzen da, sie geben vor, daß sie in die neue Zeit hinüber
ein Ewiges zu retten haben, und es ist eine große Angelegenheit der Nation,
darüber zu wachen. Finden die Träger dieser Interessen, in denen dieselben
Person geworden sind, die kleinen Fürsten, den Entschluß, mit ganzem Ernste
Ja zu sagen zu den neuen Thatsachen, welche vor uns liegen, erkennen sie die
Nothwendigkeit, sich selbst aus dem Principe, das diesen Thatsachen zu Grunde
liegt, neu sanctioniren zu lassen; wohlan, so wird der Nation die Sorge ge¬
nommen, daß gewaltsamer Beginn, der, wie nothwendig auch immer, doch
schmerzlich bleibt, der neuen Epoche die Methode vorzeichnet, und sie wird,
dankbar dafür, ihre Bewunderung denen nicht versagen, die gekonnt, was sie zu
müssen eingesehn.
Welcher Weg führt dazu? Die Hindernisse, mit denen Preußen zu kämpfen
bat, rühren wesentlich von der Verheißung des Parlamentes her. die scheinbar
ohne Noth gegeben, ohne Dank,-aufgenommen wurde. Nichts fast als die
Empfindung unendlicher praktischer Schwierigkeiten erweckt das Wort, das ehe¬
mals wie Zauber wirkte. Aber weil das Parlament das erste Bewegende der
neuen Zeit, als das unsre Volksredner es verlangten, nicht war, sondern in
Wirklichkeit die entscheidenden Thatsachen vorangegangen sind, deshalb ist es für
die Nation nicht geringer, sondern gerade ein desto ernsthafterer Gewinn; denn
das Parlament nach dem „Einfall" des Grafen Bismarck giebt festen Boden,
sichere Ausgangspunkte und damit eine Gewähr, daß seine Beschlüsse dauern,
anders als das achtundvierziger. dessen treffliche Genossen das Heil der Nation
in irdsti-ÄCto dictirten. indeß ihr Fuß im Leeren stand. — Wie groß auch den
Patrioten der Fortschritt dünkte, der gemacht worden wäre, wenn die Krone
Preußen nur mit den Regierungen sich geeinigt hätte, dergestalt, daß sie sich
ihren Verbündeten als einer Reihe von Vasallen gegenüber befände, dieser Zu¬
stand wäre doch nur quantitativ von dem früheren verschieden gewesen, bestände
nicht jener vierte Artikel des Bündnißvertrags, der die Verfassung Deutschlands
bedeutet.
Nachdem aber die Fusion der Armeen beschlossen, deren Oberbefehl die
Controle über das gesanunte Verkehrswesen von selber involvirt, wie es andrer¬
seits auf Finanzen, Unternchtspflege und Justiz nothwendig zurückwirkt, muß
die gegenseitige Durchsetzung der Volkselemente das Verlangen der Nechlscinhett
steigern; endlich kann infolge ihres Antheils bei Aushebung der Mannschaften
und bei Ordnung der Landwehren auch die Verwaltung mannigfaltigen Ein¬
flüssen nicht entgehen: bringt man die Summe dieser Consequenzen in Abzug
von dem Begriff der Souveränetät, was ist bann künftig der Unterschied der
entfürsteten Regenten und der deutschen Standesherren?
Der Präcendenzfall der deutschen Standesherren ist lehrreich und drohend
zugleich. Sie, auf denen einst große Hoffnungen der Nation standen, sind heute
trotz ihrer hochfürstlichen Ebenbürtigkeit vergessen, in unfruchtbarem Widerspruch
gegen die realen Zustande verkümmert. „Und wenn die Nation nicht ein durch¬
aus neues Interesse gewinnt, sie festzuhalten, wo giebt es eine Bürgschaft, daß
nicht auch die norddeutschen Fürsten aus der Liebe und dem Bewußtsein der
Nation herausfallen? Die deutsche Fürstlichkeit steht in Gefahr zur Antiquität
zu werden."
Und andrerseits auch das kleinstaatliche Bürgerthum wäre durch jenen
bloßen Bündnißvertrag mediatisirt, die wichtigste seiner Staatsbürgerrechte ohne
sein Zuthun von den preußischen Kammern' ausgeübt, wenn ihm nicht das
Parlament die Stätte böte, auf der es in seine vollen Rechte und in noch weit
höhere wieder eingesetzt wird.
In den schweren Competenzconflict, der sich bei der Auseinandersetzung
der Parlamentsidce mit den bestehenden Factoren der Vertretung erhebt", ist
jetzt die Parole der 49er Verfassung mit ihrem »staatenhause und Volkshaufe
hineingeworfen. Können die politischen Zweifel dadurch gelöst werden? So
lange wir im Ringen sind nach der höheren Einheit der Territorien, dürfen
die particularistischcn Interessen nicht innerhalb der Centtalgewalt Geltung ge¬
winnen. Die Anerkennung der höheren politischen Gesichtspunkte über den
Sonderinteresscn kann woh'l von einer Versammlung erwartet weiden, deren
Mitglieder zur Vertretung der Gesammtheit berufen sind, nicht aber von einer
solchen, welche darauf angewiesen ist, „für den Kleinstaat wie für einen ange¬
klagten Verbrecher zu Plaidiren"; und in dieser Lage wäre das Staatcnhaüs.
In Summa: „ein deutsches Parlament, wenn es mehr als eine bloße Beein¬
trächtigung der Executive sein soll, verträgt sich weder mit den Maehtansprüchcn
der Einzelregierungen, die der Bündnißvertrag factisch schon zu Unterobrigkeiten
herabgedrückt hat, noch der Einzelkammern, einschließlich der preußischen/ Wie
das Parlament die Volksvertretungen der unwürdigen Stellung entreißt, in
die wir gekommen sind, so sucht der Verfasser andrerseits in der Begründung
einer deutschen Peerie. in der Zunickbildung der tlcinfürstlichcn souveränes
in die Nobilität, die organische Vermittlung der vorhandenen Gegensatze."
'
Zu ihrem höchsten Schaden haben die deutschen Fürsten die Fundamente
ihres Einflusses in der Nation je länger je mehr saculansirt. die piivatrechtliebe
Anschauung ihrer Stellung bevorzugt. Jetzt ist auch »ach dieser Richtung Ein¬
halt geboten; ihre Schcinsvuveränetät kann künftig höchstens als eine mechanische
Störung innerhalb des neuen Staatswesens empfunden werden; der ganze In¬
halt ihrer Existenz ist rein negativ geworden, ein Zustand, der völlig unhaltoar
ist. Eisatz und Rettung kann ihnen nur dann kommen, wenn sie mit tapferer
Resignation zurückschreitend den idealen Boden wiederfinden, den sie freiwillig
Verlassen haben; wenn sie durch Annahme der Peerie die vollzogenen Rechts-
Minderungen bestätigen und dafür die ehrenvolle Macht eintauschen, die nicht
von Erde und Metall genährt, sie dem Herzen der Nation wieder näher bringt.
Unsrer Geschichte ist die Peerie keineswegs fremd, grade „daß aus politischen
Familien regierende wurden, das; die Stcrcrtshvhcii zerfiel und ihre Theile Polypen-
Hast zur Selbständigkeit erwuchsen, das ist das Verderben unsrer öffentlichen Zu¬
stände geworden. Tue eigentlich politische Thätigkeit in öffentlicher Arena, ein
unabhängiger Manu die eigene Ueberzeugung gegen Gleiche verfechten und
schöpferisch verwerthen zu können, war den Fürsten bisher unmöglich."
Vor allem das erste Erforderniß bringen die Fürsten mit in das neue Ver¬
hältniß: d>c völlige materielle Unabhängigkeit. Sie macht ihnen möglich, aus
dem 'Bewußtsein freier Beonrfnißlvsigkett zu handeln, zu welchem sie die In¬
sassen unserer Herrenhäuser nie haben erheben wollen. Ein denisches Herren¬
haus, wie das preußische, will sagen, eine über das rechte Maß ausgedehnte
Interessenvertretung, über das deutsche Volk'shaus zu setzen, ist wahrlich nicht
die Adjicht.
In der Peerie ferner ist das lcbenNge Bindeglied zwischen Staat und
Territorium gegeben. Neben der Ausübung obrigkeitlicher Functionen, die sich
von den Staaishoheitsrechten trennen lassen, namentlich also derjenigen, w >che
in England >n den Bereich des Selfgvvernmcnts fallen — Jurisdiction ^er
untern Instanzen, Polizei, Schulwesen, Verwaltung, Finanzwesen im Umfange des
Terrltorialkrerseö—, dre anregende und opferbereite Initiative in gemeinnützigen
Augeiegeuheiien würde Amt des Peers werden und ein unendlich segensreicher
EinfluN die Folge sein, vorausgesetzt, daß er das »cuc fürsteuwürdtge Dasein
und seine Pflichten begreift und will. Auch den Standesherren mag in der
Peene eine Stelle geboten werden, die Malril'el der Reichsfürsten neuen Stils
müßte auch sonst staatsmännischem Verdienste offen sein.
Das preußische Reich deutscher Ratio», für welche die Peerskammcr ge¬
dacht ist, uutcricheidet sich vou allen früheren Formen vornehmlich durch zweierlei:
ein sestgsschlosscucr durchaus übermächtiger Staat bildet seinen Kern, giebt ihm
dem Halt, durchwaltet das Ganze mit seinem Lebeusprincip. Und ferner: die
Reichsgewalt haftet nicht an den Firsten als ihren Organen, sondern regiert
urnniuclbar mit eigenen Beamten. Sind die Fürsten als Territorialherren zu¬
gleich Generale, so Vereinigen sie doch nicht mehr militärische und politische
Befugnisse in ihrer Person 'als solcher. Dann liegt der wesentlichste Fortschritt
von der weiland Dreitonigsverfassung.
Die Gewalt der größten Revolution, die wir seit drei Jahrhunderten er¬
lebt haben, treibt die Geschichte vorwärts; es ist alles im Fluß; wir können
das jetzt sich Bildende nicht aufhalten, wohl aber stören und verkrüppeln machen.
Sund die Fürsten die Ersten der Nation, so ziemt es ihnen, den großen Zug
der Geschichte zu verstehen; wollen sie es nicht, sie vermögen unsäglich zu scha¬
den, aber doch sich selber am meisten. Daß wieder ein Luther käme, den Adel
deutscher Nation erfolgreich an sich selber zu mahne». Der Beitrag zum Auf¬
bau, dein wir hier gefolgt sind, redet und wirbt mit edlem Ernst zu gleich ver-
hängnißvoller Zeit in der Energie Verwandter Gedanken. —
'
Geschrieben am Tage des sächsischen Friedens.
Der Verlauf des deutschen Krieges von 1866 steht in der Schnelligkeit,
mit welcher sich die Ereignisse folgten, in der Bedeutung der Gefechte, welche
sich Tag auf Tag aneinanderreihten und in dem großen Resultat, welches durch
diese Kämpfe erreicht wurde, einzig in der Kriegsgeschichte der Neuzeit da. Nur
der Feldzug Napoleons vom Jahre 1806 gegen Preußen, wo in den Tagen
vom 10.—14. October durch kurze, aber feste Schläge das preußische Heer nieder¬
geworfen und in volle Auflösung versetzt wurde, berechtigt zum Vergleich. Doch
unterscheiden sich beide Kriege darin, daß Napoleon damals den Sieg durch
eine meisterhaft ausgeführte Verfolgung voll ausnutzte und die Trophäen des
im Sande verlaufenden Heeres bis an die Weichsel auflas und daß er den von
Preußen, ebenso wie heute Von Oestreich angebotenen Frieden nicht annahm,
sondern auf die Vernichtung seines Gegners ausging. Die Ursache der raschen
Erfolge war in beiden Fällen, daß der Sieger die Neuzeit repräsentirte, während
der Besiegte sich stolz aus seine alten Vorzüge stützte. Das damalige franzö¬
sische, wie das heutige preußische Heer repräsentiren ein in voller Entwickelung
begriffenes Volk, das auf der Höhe der Zeitcultur steht und das dabei von
einem energischen Willen zu einem großen Ziel geleitet wird. Der Soldaten¬
kaiser aber verfolgte in dem Kriege nur das Interesse seiner Person und seines
Heeres, während Preußen die historische Entwickelung des eigenen Staats an¬
strebend einestheils die eigenen Truppen nicht so voll in ihren Kräften ausnutzt
und andererseits die zum Frieden dargebotene Hand rasch ergreift.
Bevor wir den Krieg selbst in seinem Verlauf betrachten, müssen wir zum
Verständniß zunächst die gegenüberstehenden Heere in ihren Eigenheiten zu er¬
kennen suchen, dann die Vorbereitungen zum Kriege behandeln, den Krieg selbst
in östliches und westliches Kriegstheater scheiden und endlich die Folgen desselben
für jetzt und die Zukunft zu bestimmen suchen.
Das preußische Heer hat drei Eigenthümlichkeiten, welche es charakterisiren.
— Die allgemeine Dienstpflicht mit einer Dienstverpflichtung von 19 Jahren
reiht die gesammte geistige und körperliche Kraft des Volkes in das Heer ein
und giebt ihm eine Stätigkeit und Nachhaltigkeit, welche keine andere Ergän¬
zungsweise zu erzeugen im Stande ist. In Oestreich sowohl wie in andern
deutschen Staaten ist der Wohlhabende und damit der gebildetere Theil der
Bevölkerung bekanntlich durch Gesetz und Herkommen aus den Reihen des
Heeres entfernt. Diese Armeen bestehen nur aus denjenigen Elementen, welche
im großen Ganzen sich Treiben und Thun durch plötzliche Impulse, durch Nach¬
ahmung und durch Gewohnheit bestimmen lassen, und nicht gelernt haben, selbst¬
thätig und erfindend in das Leben einzugreifen. Dieses selbstthätige Eingreifen
ist aber grade die beste militärische Tugend, und der Umstand, daß unter den
gemeinen Soldaten Preußens die Bildung so reich vertreten ist, sichert der
Armee dieses Staates, alle anderen Verhältnisse gleich gerechnet, ein Ueber-
gewicht über jedes nicht ebenso ergänzte Heer. Man hat oft vom Muth roherer
Völkerschaften gesprochen und z. B. vielfach die Todesverachtung der Russen
gerühmt. Diese Dauer im Feuer aber ist nur eine Art von Stumpfheit; was
schließlich allein zum Siege führt, die Initiative fällt bei solchen Truppen nur
dem Führer zu. Um diese vollständige Führung nicht zu verlieren, muß die
Truppe dann immer in Masse fechten. Diese ist aber gegen ein gut geleitetes
Einzelgefecht nicht mehr anwendbar, wie die Russen zur Genüge in dem Krim¬
kriege erfahren haben. Je höher der einzelne Soldat als solcher im Werthe
steht, um so dünner kann man die Linie machen, welche man dem Feinde ent¬
gegenstellt und um so lebendiger, in alle Gefechtsverhältnisse sich einschmiegender
kann sie geführt werden, sägt sie sich von selbst ein. Lesen wir z. B. in den
Berichten aus dem letzten Kriege, daß die Oestreicher bei Münchengrätz auf dem
Muskyberge eine das ganze Jsarthal beherrschende Stellung eingenommen haben,
zu deren Wegnahme kein anderer Steg führte als ein schmaler Felspfad, auf
dem sich nur einer hinter dem andern mühsam in die Höhe ringen konnte und
daß diesen Pfad die preußische Infanterie benutzte, um den Rand fast im Rücken
des Feindes zu ersteigen, sich in einem Walde zu entwickeln und dann muthig
vorzubrechen und den Gegner schon durch ihr Erscheinen zum übereilten Abzug
zu bringen, so drückt sich darin ein Thatendrang jedes einzelnen Soldaten aus,
den die Welt bisher nur an den Franzosen kannte und bei ihnen z. B. in glei¬
cher Art bei Ersteigung des Thalrandes der Alma bewunderte. — Liest man
in der östreichischen militärischen Zeitschrift, daß bei Königsgrcitz die östreichischen
Batterien, die auf weite Ziele wirksam schössen, durch preußische Tirailleurlinien,
welche plötzlich auf 100 Schritt vor ihnen auftauchten, überrascht, durch rasches
Feuer ihrer Bedienungsmannschaften meist beraubt und dann im Sturm genom¬
men wurden, so zeugt dies von einem Feuereifer des preußischen Soldaten, wie
ihn nur innerster Mannesmuth des Einzelnen hervorrufen kann und wie er in
ungebildeten Massen nie zu finden ist.
Die von den Franzosen 1859 angewandte Taktik, welche Napoleon in
seinem Armeebefehl bei Beginn des Krieges mit folgenden einfachen Worten
charakterisirt: „Die neuen gezogenen Waffen sind nur gefährlich, so lange ihr
ihnen fern bleibt; sie werden nicht hindern können, daß das Ba.jonnet wie
sonst die furchtbare Waffe der französischen Infanterie bleibe," — diese Taktik
hatten die Oestreicher zum Muster genommen und griffen die preußischen Tirailleur¬
linien in großer Nähe mit dem Bajonnete an. Die Preußen flohen aber nicht
vor den wüthenden Stürmen, sondern standen ruhig, zielten und gaben ihr
Feuer ab. Nicht ein einziges Mal ist zu lesen, daß ein solcher Effect von den
Oestreichern erreicht worden wäre. Stehen und richtig Feuern ist aber die
Hauptbedingung des Treffens und spricht zunächst für den einzelnen Soldaten
und dann erst für die Waffe. — Sehen wir von der Infanterie ab, wo die
Waffe allerdings dem preußischen Soldaten ein großes Uebergewicht gab und
suchen wir Beispiele bei der Cavalerie, die ja bis dahin bei den Oestreichern
immer als besser galt, so findet man zwar in den östreichischen Berichten eine
Menge Erzählungen, daß sie die preußische Cavalerie regelrecht geschlagen habe,
wo sie zusammengetroffen, aber nirgends, so viel Mühe man sich giebt, sind
Beweise des Erfolges aufgeführt, während mannigfach östreichische Standarten
durch Handgemenge der Cavalerie in die Hände der Preußen gekommen sind.
Man wird dadurch gezwungen, den Berichten der letzteren zu glauben, daß sie
bei gleicher Zahl immer Sieger geblieben sind. Da der östreichische
Cavalerist fast volle sieben Jahre bei der Fahne dient und anerkannt gut ge¬
schult ist, so kommt man nothgedrungen zu dem Schluß, nicht daß der östreichische
Cavalerist weniger Muth gezeigt hat, sondern daß die größere Intelligenz mitten
im Kampf, in dem Drange der Gefahr zur Geltung kam und sogar die bessere
Vorbildung des Gegners überwand. Einen Beweis für den beiderseitigen Muth
in diesem Kriege muß jeder erfahrene Soldat darin finden, daß die Cavalerie
bei allen Gelegenheiten in einander gekommen ist und sich tüchtig gerauft hat,
während es sonst in der Regel vorkam, daß der eine sich innerlich schwächer
fühlende Theil vor dem Zusammenprall Kehrt machte. Noch ein Moment muß
erwähnt werden, worin sich die Verschiedenheit des östreichischen und des preu¬
ßischen Heeres sehr deutlich ausspricht, das ist die Körperkraft. Der Deutsche
und zumal der norddeutsche ist von Natur kräftiger und größer als die slavischen
Völkerschaften, welche am stärksten in der östreichischen Armee vertreten sind;
dazu kommt ein im Ganzen viel wohlhabenderer, also viel besser genährter
Bauernstand in Preußen als in Oestreich, endlich bringt der gebildete Theil der
preußischen Soldaten mit seiner im Verhältniß zur Masse stahlartigen Kraft
noch die geistige Fähigkeit mit, den Fatiguen Trotz zu bieten. — Wer östreichische
und preußische Infanterie hat marschiren sehen, dem muß der elastische, rasche
Gang der Preußen gegen die gemessenen und resignirten Bewegungen der
Oestreicher aufgefallen sein. Wer eins der Lazarethe besucht hat. in welchen
Oestreicher und Preußen sich in gleichen Kleidern bewegten, der brauchte keinen
nach seiner Nationalität zu fragen, er konnte an der Apathie der Züge in dem
einen den Oestreicher, an dem sprechenden Auge den Preußen erkennen. Wer
nach beendigter Schlacht über das Feld ging, der soll am Schreien und Win¬
seln die Oestreicher erkannt haben, während die Preußen mit seltenen Aus¬
nahmen still dalagen.
Nicht in so bedeutendem innerlichen Gegensatz standen die Bayern. Würten-
berger und Badenser, am wenigsten die Sachsen und so war denn auch das
Ringen mit diesen Truppen in gleichem Verhältniß ein schärferes, intensiveres
und es wäre der preußischen Mainarmee nicht so leicht geworden ihre Erfolge
zu erreichen, wenn die Führung bei jenen Truppen eine bessere gewesen wäre,
wenn die Güte des Offiziercorps der süddeutschen Truppen nur in gleichem
Verhältniß zu dem preußischen gestanden hätte, wie der Menschenschlag, aus
welchem die Truppen hervorgegangen.
Das preußische Offiziercorps ist in seinem Vaterlande vor dem Kriege viele
Jahre als das personificirte Junkerthum angesehen und deshalb vielfach ange¬
feindet worden, auf der andern Seite sahen die Offiziere in dem Volke, welches
im Kampf um die Verfassung, dessen Kernpunkt die Armeereorganisation war,
sich der Regierung gegenübergestellt hatte, ihre persönlichen Gegner. Wie der
Krieg den Verfassungsconflict gelöst, so hat er auch den Gegensatz zwischen
Bürger und Offizier aufgehoben. Jeder hat den Werth des Andern kennen und
die Zusammengehörigkeit fühlen gelernt und in nichts hat sich diese Versöhnung
öffentlich herzlicher ausgedrückt, als in den Friedensfeierlichkeiten. Denn das
Vaterland ist wieder als der Berechtigte in den Vordergrund getreten, dem
alle angehören und für welches der Eine sein Blut, der Andre sein Gut ein¬
gesetzt hat. Preußen ist keine Phrase, so daß bei dem Ruf: „Hoch das Vater-
land!" sich der König und der Knecht als Brüder empfinden. Das preußische
Offiziercorps besteht, wie bekannt, im Kriege aus zwei Kategorien. Offizieren
der Landwehr und der Linie. Während die letzteren in der Mehrzahl aus dem
Adel des Landes hervorgehen, gehört die erstere Classe theils diesem, theils der
besitzenden Classe von Stadt und Land, in der Mehrzahl aber dem Beamten¬
stande an. Keinem fehlt ein höherer Bildungsgrad; und darin liegt die Be-
deutung der preußischen Landwehrofsiziere. Ihnen mangelt militärische Schule,
jene Sicherheit in der Handhabung der Disciplin, welche die Lebenslust einer
guten Truppe bildet, aber sie besitzen das Ehrgefühl lieber zu sterben als ver¬
ächtlich zu sein, sie gestehen dem Linienoffizier jeden militärischen Vorrang
zu. nur nicht den des Muthes und sie behaupten im Moment der Gefahr das
Uebergewicht des Geistes, welches ihnen ihre Bildung gewährt und das sie in
den einfachen Verhältnissen eines Gefechts vollständig zu Führern ihrer Mann¬
schaft befähigt. In den Stellungen, in denen das militärische Können immer
mehr zur Hauptsache wird, verschwinden sie, da sie im kräftigsten Mannesalter
aus den Dienstverpflichtungen scheiden. Aber der Landwehrosfizier bildet eine
so vorzügliche Ergänzung des preußischen Offiziercorps im Fall eines Kriege«,
wie keine Armee Europas aufweisen kann. Die östreichische Armee sowohl wie
die kleineren deutschen Kontingente müssen, um für den Fall eines Krieges über
die nothwendige Zahl von Offizieren disponiren zu können, schon im Frieden
die Kriegszahl vollzählig haben. Die im Frieden zuweilen inhaltarme und
schlecht bezahlte Charge eines Subalternoffiziers muß demnach in so großer
Zahl vorhanden sein, daß einerseits der Frieden keine Beschäftigung für sie
bietet und daß, wenn man das Avancement nach der Tour stattfinden ließe,
nur im Müßiggang oder doch nur in geistesleerer Beschäftigung groß gewordene
Menschen, also vorzeitige Greise, zu den höheren Chargen gelangen würden. Bei
solchen Aussichten erhält man aber aus den bessern Ständen kein genügendes Ma¬
terial und solche Genetale würden der Verderb einer Truppe sein. Die östreichische
Armee hat deshalb zwei verschiedene Elemente in ihrem Offiziercorps, solche, die
aus dem Unteroffizierstande hervorgegangen sind und nicht über die untern
Chargen fortkommen und solche, welche den höhern Ständen angehören und, je
nach ihrer Geburt, die obersten Stellen im Heere erreichen. In Preußen da¬
gegen existirt nur ein einziges, gleichberechtigtes Offiziercorps, an welches, ob
Linie, ob Landwehr, von vornherein Ansprüche der äußern und innern Bildung
gemacht werden und das also, so frei wie außer dem englischen kein anderes,
das Gesetz der Ehre zur unabänderlichen Richtschnur seiner Handlungen machen
kann. Und dieses sichere Ehrgefühl macht den preußischen Offizier nicht nur
zu einem Vorbild in der Schlacht, sondern auch zu einem pflichtgetreuen Mann
und vor andern zum wärmsten Vertreter und Pfleger der Interessen seiner
Leute. Es ist eine Lust für jeden alten Soldaten, durch die Lazarethe zu gehen
und zu hören, wie der Preuße, wenn er auf seinem Lager durch die Erzählung
warm wird, von seinem Hauptmann oder Lieutenant spricht, kein Oestreicher,
Bayer, Würtenberger u. s. w. schlägt auch nur entfernt einen gleichen Ton an.
Wer in den europäischen Heeren auch nur etwas bekannt ist, wird zugeben, daß
im Ganzen betrachtet nirgends der Offizier mit dem gemeinen Mann durch ein
solch festes Band des Vertrauens verknüpft ist. wie in der preußischen Armee,
zumal in den Regimentern, in welchen die alte preußische Disciplin im Offizier-
corps mit voller Strenge geübt wird. — Der zum Offizier avancirte Unter¬
offizier schließt sich vom gemeinen Mann und Unteroffizier ab, weil er nur durch
die Scheidung etwas Anderes ist und nur auf diesem Wege das Vorgesetzten¬
verhältniß scharf erhalten kann; in Preußen ist das letztere selbstverständlich, und
die Verbindung, die Annäherung beider Theile ist Aufgabe. Das preußische
Offiziercorps bildet eine Militäraristokratie, die höhern östreichischen Offiziere
gehören der Aristokratie Oestreichs an; das ist der Unterschied beider. Die süd¬
deutschen Offiziere bilden ein Mittelding, die Vorliebe für öffentliche Locale
aller Art läßt sie zum Schaden ihrer innern und äußern Selbständigkeit ihrer
Würde leicht vergessen. Der Corp^geiht im preußischen Offiziercorps hat den
einen militärischen Nachtheil, daß n sehr den Einzelnen bestimmt und dadurch
oft scharfe, aber brauchbare Charaktere ab- oder ausstößt und milde oder liebens¬
würdige zu gern und zu lange conservirt.
Die dritte Eigenthümlichkeit ist die Bewaffnung der preußischen Armee.
Dabei müssen wir noch einmal das vielberufene Zündnadelgewehr erwähnen.
Bei Besprechung dieses Gewehrs von fremden Schriftstellern hören wir, es
trifft schlechter, aber es schießt öfter als die gezogenen Gewehre andrer Armeen.
Man liest, daß man deshalb in Oestreich. Frankreich u. s. w. dazu schreitet, auch
Hinterladungsgewehre einzuführen, aber da ja eben die Schnelligkeit sich als
die Hauptsache ergeben hat, führt man statt der preußischen, die nur fünf Schuß
in der Minute abgeben, solche ein, die das Doppelte an Geschwindigkeit leisten.
Es erinnert dies an die Veränderung der Gewehre, welche Friedrich der Große
in den europäischen Armeen, auch in der preußischen veranlaßte. Er hatte durch
den eisernen Ladestock und das präcise Exercitium in seiner Infanterie eine
Schnelligkeit des Feuers erzielt, das seine Gegner überraschte und wie die Welt
sagte, überwand. Ihn hierin zu übertreffen wurde das Ziel aller Bestrebungen
und dies führte dahin, daß man die Zündlöcher größer machte, um die Selbst-
beschüttung der Pfanne vollständig zu sichern, und daß man die Kugeln und
Patronen kleiner machte, um durch einfaches Aufstoßen des Gewehrs das Herunter¬
fallen der Ladung zu veranlassen, das Ergreifen des Ladestocks aber zu ersparen.
Man erreichte das raschere Laden, aber man traf nicht mehr. Die- Franzosen
gingen damals zuerst von dieser Richtung ab, führten neue Gewehre noch in
den ersten Jahren der Revolution ein und trafen besser als ihre Gegner. Und
das war auch in dem letzten Kriege bei den Preußen der wesentlichste Vortheil.
Das Schnellfeuer hatte stellenweise großartige Erfolge, aber das Treffen ist doch
immer die Hauptsache und lesen wir, daß der preußische Soldat in Summa
und im Durchschnitt im Feldzug gegen die Oestreicher nicht zehn Patronen
verschossen, so möchte man behaupten, daß der Gegner mehr davon auf den
Mann verkrallt hat. Leider läßt sich dies nicht constatiren, da die Oestreicher
einen großen Theil ihrer Patronenwagen und Taschen verloren haben. —
Aber wenn es wahr ist, was preußischerseits actenmäßig behauptet wird, wie
es nie vorgekommen sei, daß eine Infanterie sich verschossen hat, so muß
zugegeben werden, daß nicht das Gewehr, sondern der Mann die Hauptsache
bildete. Die vorzügliche Ausbildung, welche der preußische Soldat auf dem
Schießstand genossen, welche ihn zum Schütten machte und ihm volles Vertrauen in
sein Gewehr gab, das war es, was ihn ruhig erhielt, wenn der Gegner wie
rasend auftürmte, und die auch den schnell abgegebenen Schuß zum Treffer
machte; dieselbe Gewöhnung war es, welche Tirailleurlinien beim Anprallen
feindlicher Cavalericmassen von jeder künstlichen taktischen Form abhielt und die
Kugel für hinreichend erachtete, den Gegner abzuweisen. Es ist nicht vorgekommen,
daß die preußische Infanterie gegen feindliche Cavalerieangriffe Carr6 formirt
hätte. Hat man östreichische und französische Infanterie auf dem Schießstand
gesehen, wo Treffen eine Seltenheit war, so kann man behaupten, daß das beste
Gewehr in solchen Händen eine schlechte Waffe und das Bajonnet, das bei
wirklichem Gebrauch immer trifft, besser ist. — Das gute Treffen, nicht das
Schnellfeuer hat den Oestreichern die kolossalen Verluste in der Schlacht bei
Königsgrätz zugefügt, wo die Preußen fast durchweg die Angreifer waren und
nur den fünften Theil so viel Leute verloren als ihre Gegner. Die Treffen
bei Nachod und Trauten«», am 27, Juni, die beiden ersten ringenden Gefechte
beider Armeen (das fünfte und erste preußische gegen das sechste und zehnte
östreichische Corps), versetzten die Preußen in die Defensive, und hier war frei¬
lich der Verlust der Oestreicher auf den entscheidenden Punkten achtmal so groß
als beim Gegner. Grade diese kolossalen Mißverhältnisse geben aber den Be¬
weis, wie gut die Preußen trafen, denn die Schnelligkeit des Schusses beim
östreichischen Gewehr gegen das preußische verhält sich nur wie 2 zu 6. —
Warum haben die Sachsen nicht im gleichen Verhältnisse wie die Oestreicher
verloren? nur weil sie besser schössen wie diese. Aehnlich verhält es sich bei den
süddeutschen Truppen. Wenn erst alle Zahlen genau bekannt sind, wird sich die
ganze Wahrheit obiger Behauptungen offenbaren. — In der Artillerie war die
östreichische Armee mit der Trefffähigkeit im Vorzuge, denn sie zahlte bei einem
Armeecorps 80 gezogene Geschütze, während ein preußisches Corps nur 48
gezogene und 48 nicht gezogene hatte. Dies hat sich denn auch bei der großen
Präcision, mit welcher die Oestreicher schössen und bei dem sehr vorwiegenden
Gebrauch, welchen sie bei jeder Schlacht, schon im ersten Augenblicke, von der
Artillerie machten, sehr zu ihrem Vortheil zur Geltung gebracht. Nur ist nach
preußischen Erzählungen allgemein aufgefallen, wie selten die östreichischen Hohl¬
geschosse platzten. Daß die preußischen gezogenen Geschütze weniger gute Er¬
folge gehabt, wie östreichische Berichte sagen, ist nicht zu glauben, da die Preußen
mehrfach bekunden, daß man an der schärfern Wirkung jedesmal die sächsischen
Batterien erkannte, welche doch von der preußischen Negierung geliefert waren.
Man wird in der preußischen Armee dazu schreiten müssen, auch nur gezogene
Geschütze zu verwenden, um den eventuellen Gegnern auch in dieser Waffe über¬
legen zu sein.
Bei der Cavalerie waren die Unterschiede in der Bewaffnung nur darin
vorhanden, daß die preußischen Ulanen längere Lanzen hatten als die Gegner,
und daß die Husaren und Dragoner auch Zündnadelcarabiner führten. Ersterer
Vortheil soll sich mehrfach geltend gemacht haben, überhaupt hat sich die Lanze
wieder als sehr wirksame Waffe bewährt. Die Zündnadelcarabiner sind nur
im Vorpostengefecht zur Anwendung gekommen, wenigstens läugnen die Preußen,
was östreichische Berichte erzählen, daß preußische Cavalerielinien die Oestreicher
mit Salven empfangen hätten. Dem preußischen Cavaleriereglement und der
preußischen Cavalerietradition widerspricht dies wenigstens ganz. Schon Friedrich
der Große sprach sich sehr ernst dagegen aus.
Berühren wir nun kurz die Vorbereitungen zum Kriege. Seit Anfang des
Jahres 1866 wurde das Verhältniß zwischen Oestreich und Preußen mit jedem
Tage gespannter. Oestreich glaubte, seinem Gegner sei mit dem Verfassungs¬
conflict ein Krieg unmöglich. Keinensalls erwartete es, daß das im Frieden
groß gewordene preußische Heer wagen würde, sich mit der kriegsgewohnten
östreichischen Macht und ganz Deutschland zu messen. So ließ sich der Kaiser
von einem Schritt zum andern hinreißen, beide Heere fingen an zu rufen,
Preußen mit dem vollen Bewußtsein dessen, was es wollte, seine Gegner wider¬
willig, zögernd und halb. So kam es zu dem, den Krieg aussprechenden Bun>
desbeschluß vom 14. Juni, den Preußen sofort benutzte, um eine Basis zum
Kriege zu schaffen, welche ihm seine getrennten Provinzen nicht boten. Zunächst
demonstrirte es die östreichische Brigade Kalik, welche einen prächtigen Kern bot,
um den sich die hannöverschen und hessischen Truppen sammeln konnten, um
sich zwischen die preußische Macht einzuschiebe», aus Holstein; ging dann gegen
Hannover und Kurhessen vor, legte diese lahm, zwang die andern norddeutschen
Staaten zur Passivität und disponirte fast seine ganze Armee gegen die öst¬
reichischen Kräfte. Am 19. Juni erklärte König Wilhelm den Krieg an Oestreich,
übernahm selbst den Oberbefehl und hatte folgende Kräfte aufgestellt:
1) Die erste Armee Prinz Friedrich Karl mit dem zweiten, dritten und
vierten Armeecorps und Cavaleriecorps, 72 Bataillone — 72,000 Mann,
18 Cavalerieregimenter ----- 11,000 Pferde und 49 Batterien mit 294 Geschützen
in der Gegend von Görlitz.
2) Die Elbarmee unter General v. Herwarth, das achte Armeecorps und
das halbe siebente Armeecorps, 34 Bataillone ^ 34,000 Mann, 6 Regimenter
Cavalerie — 3.900 Pferde. 22 Batterien mit 132 Geschützen bei Torgau.
3) Die zweite Armee, der Kronprinz, das Garde-, erste, fünfte und sechste
Corps, 92 Bataillone — 92.000 Mann, 20 Regimenter Cavalerie — 12,500
Pferde, 58 Batterien mit 348 Geschützen bei Neisse.
4) Die Mainarmee, General Vogel v. Falkenstein, eine Division vom
siebenten Corps, General v. Goben, die Division ans Schleswig, General
v. Manteuffel und die frühern Besatzungen der Bundesorte in der Division
General v. Bayer, damals die beiden erstem im Hannöverschen und General
v. Beyer in Kurhessen, 48 Bataillone 48.000 Mann, S Regimenter Cava¬
lerie — 3,300 Pferde. 16 Batterien mit 96 Geschützen.
5) Schlesische Landesvertheidigung General Graf Stolberg. 9 Bataillone
— 7,800 Mann. 3 Regimenter Cavalerie — 1,800 Pferde. 1 Batterie mit
6 Geschützen. Außerdem waren die Festungen mit den entsprechenden Garni¬
sonen besetzt oder in Formation, aber schon bei Berlin versammelt.
6) Das Reservecorps. General v. Mulde. 24 Bataillone ^ 24.000 Mann.
6 Regimenter Cavalerie — 3.600 Pferde und 8 Batterien mit 48 Geschützen.
Die Macht des Kaisers Franz Joseph und seiner Verbündeten war folgende:
1) Die Nordarmee unter Feldzeugmeister Benedek stand damals:
a) zur Deckung Böhmens gegen die sächsisch'schlesische Grenze General
Gras Clam-Gallas mit seinem ersten östreichischen Corps, der aus Holstein ge¬
zogenen Brigade Kalik, einer Cvvaleriedivision Edelsheim und den Sachsen. Das
erste östreichische Corps und die Brigade Kalik in der Normalstärke
b) Feldzeugmeister Benedek mit sechs östreichischen Corps und vier Di¬
visionen Cavalerie:
auf der Grenze von Böhmen und Mähren gegen Schlesien vorgeschoben.
2) In Bayern war man damals noch in der Formation begriffen, um die
ganze Feldarmee aufzustellen, dieselbe ist aber nie in der versprochenen Stärke
erschienen. Gefochten haben:
4 Divisionen s, 2 Brigaden s, 5 Bataillone, oder 40 Bataillone In¬
fanterie; außerdem bei jeder Division 1 Regiment Cavalerie und 16 Geschütze
oder 4 Regimenter Cavalerie, 64 Geschütze, also:
Z) In Würtemberg hatte man auch noch nickt die Formation vollendet,
man führte ins Feld eine Division bestehend aus:
4) In Baden, das nur gezwungen rüstete: eine Division, bestehend aus:
11 Bataillonen Infanterie — 8,800 Mann, 11 Escadrons — 1,600 Pferde.
38 Geschütze.
5) In Hessen-Darmstadt, ebenfalls in der Rüstung, eine Division bestehend
aus: 9 Bataillonen — 7,000 Mann, 8. Escadrons — 1,100 Pferden. 24
Geschützen.
6) Die aus den Bundesbcsatzungen gebildete östreichische Brigade Hahn
unter Feldmarschall Neivperg: 7.000 Mann Infanterie, 300 Pferde und
16 Geschütze.
Die Hannoveraner circa 19,000 Mann, Kurhessen 6,000 Mann und Nassauer
4,000 Mann, welche den eigentlichen Krieg, theils als vorher abgemacht, theils
als Festungsbesatzung in Mainz u. s. w. nicht mitgefochten haben, sollen nicht
in Anrechnung gebracht werden.
Addirt man die beiderseitigen Stärken, wobei von Stäben. Pionieren, Train
und Troß abgesehen ist, so disponirte Preußen im Felde über:
Davon standen aber auf dem östlichen Kriegsschauplatz:
Auf westlichem Kriegstheater:
Die Umstände, Unter welchen der diesjährige außerordentliche Landtag be¬
rufen wurde und der Zweck dieser Berufung erinnern sehr lebhaft an einen
ähnlichen Vorgang im Jahre 1848.^ Damals hatte der Großherzog Friedrich
Franz — in einer Proclamation vom 23. März „an meine Mecklenburger" —
erklärt, daß eine Reform der Landesvertretung, auch abgesehen von den Welt-
ereignissen der neuesten Zeit, unvermeidlich gewesen wäre, daß sie aber diesen
Ereignissen gegenüber das dringendste Erforderniß sei. „Es liegt die Noth¬
wendigkeit vor," so äußerte sich der Großherzog in jener Proclamation, „daß
Mecklenburg in die Reihe der constitutionellen Staaten eintrete, und weil ich
diese Nothwendigkeit erkenne, ist es mein ernster Vorsatz, daß der Schritt un¬
verzüglich geschehe."
Diese Nothwendigkeit ward dann noch einmal dem zum 26. April nach
Schwerin berufenen außerordentlichen Landtage vom Großherzog in der Eröff¬
nungsrede vorgehalten. „Ich weiß," sprach er. „ich begehre viel von meinen
getreuen Ständen, ein Scheiden von Ihrer bisherigen Wirksamkeit, aber ich
weiß auch, daß, so wie zu allen Zeiten, so auch jetzt Sie bereit sind zu jeglichem
Opfer, wenn Sie das Wohl des Landes darin erkennen." Die Stände ent¬
sprachen dieser Erwartung, nachdem schon vorher eine zahlreich besuchte Ver¬
sammlung von adeligen und bürgerlichen Mitgliedern der Ritterschaft unauf¬
gefordert die patriotische Erklärung abgegeben hatte, „daß sie alle und jede -
politischen Sonderrechte, welche ihnen bisher verfassungsmäßig zugestanden
haben, freiwillig und gern, um das Wohl des Vaterlandes zu fördern, opfern
wollen". In der Antwort auf die großherzogliche Proposition erklärten die
Stände sich bereit, „dem Rufe der Landesherren und den Anforderungen der
Zeit zu folgen und demgemäß ihre bisherigen grundgesetzlichcn Landstandschafts-
rechte zu der Folge aufzugeben, daß künftig nur gewählte Repräsentanten im
Ständeversammlung bilden".
Nachdem der Landtagsabschied diese Erklärung acceptirt hatte, wurde in
Uebereinstimmung mit dem ständischen Beschlusse eine aus frei gewählten Ver¬
tretern bestehende constituirende Versammlung berufen und mit dieser ein neues
Staatsgrundgesctz für Mecklenburg-Schwerin vereinbart. Dasselbe ward vom
Großherzog vollzogen, mit dem Gelöbniß, fest und unverbrüchlich daran halten
zu wollen, und am 10. October 1849 unter gleichzeitiger Aufhebung der bis¬
herigen landständischen Verfassung publicirt, auch demnächst durch Berufung
eines Landtags aus den 27. Februar 1850 in Wirksamkeit gesetzt. Indessen
hatte die feudale Partei längst angefangen, das dargebrachte Opfer zu bereuen,
und war bestrebt gewesen, es vom Altar des Vaterlandes zurückzunehmen. Es
gelang ihr auch nach kurzer Zeit, den Großherzog zu bewegen, mit den Wort¬
führern der gesetzlich aufgehobenen Ritterschaft nach den Normen der gesetzlich
aufgehobenen alten Landesverfassung ein Schiedsgericht zu bestellen, welches die
Frage entscheiden sollte, ob das Staatsgrundgesetz von 1849 in rechtsgiltiger
Weise zu Stande gekommen sei, und durch diese Fiction, daß das gesetzlich
Todte noch lebe und noch zur Bestellung eines Schiedsrichters fähig sei, sowie
daß der constitutionelle Fürst noch mit den erloschenen Ständen über die Frage
wegen der Rechtsbeständigkeit der neuen Verfassung Processiren könne, wurde
die Wiederaufrichtung der alten Landesverfassung herbeigeführt, welche sich seit¬
dem bis auf den heutigen Tag erhielt.
Durch den mit Preußen abgeschlossenen Bündnisvertrag vom 21. August d.J.
wegen Begründung »eines norddeutschen Bundes unter Mitwirkung eines frei
gewählten Parlaments war Mecklenburg in eine ähnliche Lage wie im Früh¬
ling des Jahres 1848 gekommen. Zwar wurde der Feudalismus weniger un¬
mittelbar von diesem Vertrage berührt als von den Forderungen, welche das
Jahr 1848 an ihn richtete; aber indirect mußte dieser Vertrag, wenn er zur
Ausführung gelangte und Mecklenburg in das Leben des neuen Bundesstaats
organisch einfügte, doch eine so bedeutende Aenderung aller politischen und
socialen Verhältnisse bewirken, daß als das Ende des damit betretenen Weges
der Untergang der feudalen Landesverfassung deutlich genug hervortrat.
So weit der Vertrag namentlich durch Ueberweisung wichtiger Theile der
Gesetzgebung an die zu begründende neue Bundesgewalt die Rechte der Stände
berührte, war in demselben die Zustimmung der letzteren vorbehalten worden.
Zur Erledigung dieses Vorbehalts wurde auf den 26. September von beiden
Großherzogen ein außerordentlicher Landtag nach Schwerin berufen. Wenn
aber auf dem außerordentlichen Landtage von 1848 die Regierungen sich von
der inneren Nothwendigkeit einer durchgreifenden Verfassungsreform durchdrungen
zeigten und die Stände diese innere Nothwendigkeit gleichfalls anerkannten und
sich bereitwillig in dieselbe fügten, so war die Stellung beider zu der verhan¬
delten Frage in dem gegenwärtigen Falle eine vollkommen andere. Die Re¬
gierungen verhehlten es den Ständen nicht, daß der proponirte Beitritt zu
dem neuen Bundesstaat nur das Product eines äußeren Zwanges sei, und die
feudale Partei, welche die überwiegende Mehrheit in der Ritterschaft bildet,
wurde durch die Reue über die im Jahre 1848 von ihr bewiesene Selbstver-
läugnung und über die damals von ihr gebrachten und nur mit Mühe rück¬
gängig gemachten Opfer jetzt zur größten Vorsicht bestimmt. Daß man, so
weit möglich, allen Konsequenzen des Bündnisses widerstreben müsse, welche in
irgendeiner Weise die feudale Landesverfassung zu alteriren droheten, darüber
war die ganze Partei einig. Nur über den Modus des Widerstrebens herrschte
Differenz, indem eine Minderheit von einer Betheiligung Mecklenburgs an
dem norddeutschen Bundesstaat überhaupt nichts wissen wollte, eine Mehrheit
dagegen die Sachlage so auffaßte, daß man dem Zwange weichen müsse und
nur darauf ausgehen könne, durch allerlei Vorbehalte und Clauseln so viel
als möglich von den bestehenden feudalen Institutionen zu retten und aufreckt
zu erhalten.
Der außerordentliche Landtag wurde unter großer Feierlichkeit im Thron¬
saale des Schlosses zu Schwerin vom Großherzog Friedrich Franz in eigener
Person eröffnet. Derselbe richtete eine kurze Ansprache an die versammelten
Stände, in welcher er auf die Rückwirkungen hinwies, die sich aus dem Kriege
zwischen Preußen und Oestreich und die daraus hervorgegangene allgemeine
Lage für die Stellung Mecklenburgs ergeben hätten, und die Mitwirkung der
Stände, so weit dieselbe verfassungsmäßig erforderlich sei. für die Begründung
des neues Verhältnisses in Anspruch nahm. Er knüpfte daran den Ausdruck
der Erwartung, daß die Stände, vermöge ihres oft bewährten Patriotismus,
ihm vertrauensvoll auf dem Wege folgen würden, den er nach bestem Gewissen
zum Wohle seines Landes einschlagen zu müssen geglaubt habe. Die Worte
wurden in einem Tone und einer Haltung gesprochen, welche auf die Anwesen¬
den den Eindruck einer fast militärischen Bestimmtheit machte.
Hierauf wurde die beiderseitige Landtagsproposition von den Landtags-
commissarien verlesen. In der schwerinschen Proposition wurde von den bis¬
herigen Verhandlungen mit Preußen über den Bündnißvertrag, unter Anfügung
der darüber geführten diplomatischen Korrespondenz, Mittheilung gemacht, welche
sich jedoch auf die unmittelbar zwischen dem König von Preußen und den bei¬
den Großherzogen von Mecklenburg getroffenen Verabredungen nicht erstreckte.
Es handle sich, so bemerkte die Vorlage, nicht mehr um die Grundzüge der
neuen politischen Gestaltung Deutschlands, sondern nur noch um die noth¬
wendigen Folgen bereits feststehender Thatsachen, auf welche entscheidend ein¬
zuwirken die mindermächtigen Staaten nicht in der Lage gewesen seien. Die
Macht der Führung und der Initiative liege jetzt in der Hand des Königs von
Preußen. Der Großherzog sei den auf die Neugestaltung Deutschlands bezüg¬
lichen Aufforderungen dieses erhabenen Monarchen, wenn auch theilweise nicht
ohne erhebliche Bedenken, doch im Wesentlichen mit vollem und rückhaltlosen
Vertrauen offen entgegengekommen. Derselbe lasse den Bündnißvertrag vom
21. August mit besonderer Hinweisung auf § 6 — welcher die ständische Zu¬
stimmung zur Betheiligung Mecklenburgs an dem Parlament vorbehält — zur
verfassungsmäßigen Berathung und Erklärung den Ständen vorlegen und
habe zugleich befohlen, zu demselben Zwecke auch den Entwurf eines Wahl¬
gesetzes vorzulegen, „welcher nach Maßgabe des Artikel 5 des Bündnisvertrages
in einer der gegenwärtigen Sachlage entsprechenden Fassung für das Großher-
zogthum Mecklenburg-Schwerin bearbeitet worden sei".
In der strelitzischeu ProPosition ward dann in Uebereinstimmung mit der
schwerinschen hervorgehoben, daß Mecklenburg einen maßgebenden Einfluß auf
die in ihren wesentlichen Grundzügen bereits festgestellte Entwickelung der deut¬
schen Verhältnisse nicht habe in Anspruch nehmen können. Mecklenburg —
so hieß es ferner — habe für jetzt seine Aufgabe darin zu suchen, die Bedin¬
gungen zu finden und auszusprechen, unter denen der heimischen Ver¬
fassung auch unter dem neuen Bundesverhältnisse eine gedeihliche Wirksamkeit
verbürgt bleibe. Wie die Fürsten, würden auch die Stände dem neuen Bunde
Opfer in Bezug auf Selbständigkeit und Unabhängigkeit bringen müssen. Unter
Berufung auf ihren Patriotismus werden die Stände dann aufgefordert, von
dem Bündnißvertrage behufs verfassungsmäßiger Berathung Kenntniß zu nehmen-
und sich namentlich darüber zu erklären, wie weit sie bereit seien, rücksichtlich
der im Artikel 6 der preußischen Grundzüge vom 10, Juni aufgeführten Gegen¬
stände der Gesetzgebung einer Beschränkung oder Aufhebung ihrer landesver¬
fassungsmäßigen Rechte zuzustimmen.
Die Vorlagen wurden einer aus vierundzwanzig Personen, zwölf Rittern
und ebenso vielen Bürgermeistern, bestehenden Commission zur Prüfung und
Berichterstattung hingegeben. Bei den Wahlen in diese Commission trug die
feudale Partei einen entschiedenen Sieg davon. Die zwölf Ritter gehörten
derselben ohne Ausnahme an, die städtischen Deputirten nur mit Ausnahme
eines einzigen, des Syndicus Meyer aus Rostock, welcher unter der constitutio-
nelle» Aera Minister des Innern gewesen war. Daß auch die Bürgermeister
fast sämmtlich die größten Anhänger der bestehenden Verfassung sind, beruht
nicht so sehr auf politischer Ueberzeugung, als auf ihrer abhängigen Stellung,
welche sie hindert, eine politische Ueberzeugung zu haben oder doch zu äußern.
Einerseits sind sie abhängig vom Großherzoge, der in einer großen Zahl von
Städten das Recht der Ernennung, in den übrigen wenigstens das Recht der
Bestätigung derselben hat, und dessen Regierung durch Beförderung auf bessere
Stellen, Verleihung von Hvfratbstiteln u. s. w. auf dieselben einzuwirken ver¬
mag; andrerseits bringt ihre Stellung als ritterschaftliche Patnmvnialrichter, in
welcher Eigenschaft sie während der ersten zehn Jahre der Kündigung unter¬
worfen sind, und ihre Advocciturvraxis es mit sich, daß sie sich nicht gern mit
den Rittern veruneinigen. In dem vorliegenden Falle vermochten sie ebenso
sehr den Beifall der Regierung als den der feudalen Partei in der Ritterschaft
zu ernten., wenn sie die mecklenburgischen Institutionen nach Möglichkeit gegen
die bedrohlichen Wirkungen des Bündnisses zu schützen suchten.
Nach zwei- bis dreitägiger Arbeit war der Commissivnsbericht fertig und
schon am 1. October konnte die Berathung über denselben im Plenum beginnen.
Der Bericht zerfiel in ein Majorität^ und ein Minoritätserachten, Von
welchen das erstere von sechs Rittern (vier schwerinscheu und zwei strelitzischen)
und elf Bürgermeistern, das letztere von den übrigen sechs Rittern (gleichfalls
vier schwerinschen und zwei strelitzischen) unterschrieben war.
In dem Erachten der Majorität ward vor Erörterung des Inhalts des
Bündnisvertrages die allgemeine Frage aufgeworfen: ob überhaupt für die
Stände Veranlassung vorliege, auf den Vorschlag einer unter Mitwirkung eines
Parlaments zu gründenden Bundesverfassung einzugehen, oder ob sie in der
Lage seien, denselben abzulehnen. Die Antwort hierauf ward durch folgende
Erwägungen gegeben. Durch die Macht der Ereignisse und der thatsächlichen
Verhältnisse sei den Landesherren die Nothwendigkeit auferlegt worden, in das
Bündniß einzutreten. Dadurch hätten sie zugleich die Unabhängigkeit und In¬
tegrität des Landes bewahrt. Eine Folge davon sei das Fortbestehen der
Landesverfassung, in deren Anerkennung nach Artikel 6 des Bündnisvertrages
vom 21. August die beiderseitigen hohen Paciscenten einverstanden seien. Die
Stände müßten die gebieterische Nothwendigkeit, welche den Großherzogen die
thatsächlichen Verhältnisse auferlegt hätten, anerkennen und auf diese Verhält-
nisse stehe ihnen kein Einfluß zu. Eine Ablehnung der Proposition würde
einestheils den Stand der Dinge nicht günstiger gestalten, anderntheils würden
dadurch, abgesehen von anderen Gefahren, die Regierungen in die nachtheilige
Lage versetzt werden können, von dem Einflüsse 5uf die Feststellung des Bundes¬
verfassungsentwurfs ganz ausgeschlossen zu werden und demnächst der Anerken¬
nung der ohne ihre Mitwirkung etwa zu Stande kommenden Bundesverfassung
thatsächlich sich doch nicht entziehen zu können. Die Commission könne des¬
halb nicht umhin, sich für das Eingehen aus die Proposition auszusprechen,
und trete der in der strelitzschen Proposition ausgesprochenen Meinung bei,
„daß Mecklenburg seine Aufgabe für jetzt darin zu suchen habe, die Bedingungen
zu finden und auszusprechen, unter denen der bestehenden mecklenburgischen Ver¬
fassung auch unter den neuen Bundesverhältnissen eine gedeihliche Wirksamkeit
verbürgt bleibe."
Es wird dann ausgeführt, daß das Parlament nur eine berathende Stimme
haben werde und daß daher die Betheiligung an dem Parlament ganz ohne
Gefahr sei, indem über die spätere Annahme oder Ablehnung des aus der Be¬
rathung mit dem Parlamente hervorgehenden Bundesverfassungsentwurfs noch
den Großherzogen wie den Ständen die freie Entscheidung vorbehalten bleibe.
„Durch diese Sachlage," so wird dann fortgefahren, „ist es uns ermöglicht, zur
Beschlußfassung der hochansehnlichen Versammlung zu verstellen: die ständische
Zustimmung dazu zu erklären, daß die hohen Regierungen sich an der Fest¬
stellung eines Bundesverfassungsentwurfes betheiligen und denselben dem zu
berufenden Parlament zur Berathung vorlegen, indem wir jedoch zugleich vor-
schlagen: dabei vorzubehalten und zu bedingen, daß die aus solcher Berathung
hervorgehenden Resultate demnächst den Ständen zur Abgabe ihrer verfassungs¬
mäßigen Erklärung darüber vorgelegt werden."
Eines weiteren Eingehens auf das Einzelne bedürfe es bei dieser Sach¬
lage zwar zur Zeit noch nicht: doch werde es nicht unangemessen erscheinen,
schon jetzt die preußischen Grundzüge einer näheren Erörterung zu unterziehen
und die daran sich knüpfenden Bedenken und Wünsche auszusprechen. Als solche
Bedenken und Wünsche treten dann besonders folgende Aeußerungen über die
preußischen Grundzüge vom 10. Juni hervor:
Die in den Grundzügen der Competenz der Bundesgewalt überwiesenen
Gegenstände müssen das Maximum des Competenzkreises bilden und über die
speciell dahin gewiesenen Gegenstände darf bei Feststellung des letzteren nicht
hinausgegangen werden. Ueberhaupt muß der Grundsatz gelten, daß dem Par¬
lamente eine Einwirkung auf die Versassungsverhältnisse der Einzelstaaten nicht
zuzuerkennen ist. Demnach wird unter anderm die Frage, ob und eventuell
unter welchen Bedingungen der Anschluß Mecklenburgs an den deutschen Zoll¬
verein stattzufinden habe, von der freien ständischen Vereinbarung und Zu¬
stimmung abhängig bleiben müssen. Zu der Bestimmung in Artikel 4 der
Grundzüge, wonach die Nationalvertretung aus, directen Wahlen nach Maßgabe
des Neichswahlgesetzes vom 12. April 1849 hervorgehen soll, wird bemerkt:
„Wir können dies nur sür sehr bedenklich erkennen. Die allgemeinen directen
Wahlen nach reiner Kopfzahl geben nach unserer Ueberzeugung keine Garantie
für ein dem ernsten und wichtigen Zwecke entsprechendes Ergebniß der Wahl,
sondern geben dasselbe in den meisten Fällen lediglich dem Zufall preis. Wir
halten deshalb dafür, daß in Bezug auf die Wahlen zu dem künftigen defini¬
tiven Parlament eine diese Bedenken wesentlich beseitigende Grundlage für das
zu erlassende Wahlgesetz angenommen werde und würden wir uns auch nicht
entschließen können, diese Bedenken in Ansehung des zunächst zu berufenden
Parlamentes fallen zu lassen, wenn nicht das letztere eben nur zur Be¬
rathung des demselben vorzulegenden Bundesvcrfassungsentwurfs versammelt
werden sollte." Starke Einwendungen werden sodann gegen den in Artikel 6
der Bundesgewalt zugewiesenen Competenzkrcis erhoben. Danach unterliegt
zunächst die gemeinsame Zoll- und Handclsgesetzgebung zwar in Betreff der¬
jenigen Staaten, welche dem deutschen Zollverein bereits beigetreten sind, keinen
Bedenken; aber der Eintritt Mecklenburgs in diesen Verein muß besonderer Ver¬
einbarung vorbehalten bleiben und bis dahin kann es sich rücksichtlich der
Zoll- und Handelsgesetzgebung der Bundesgewalt nicht unterwerfen. '
Zu der Competenz der Bundesgewalt hinsichtlich der Gesetzgebung über
Freizügigkeit, Heimaths- und Ansiedelungsverhältnisse, den Gewerbebetrieb, die
Colonisation und Auswanderung nach außerdeutschen Ländern wird bemerkt:
„Es' läßt sich nicht verkennen, daß diese Bestimmung ihrem bei weitem größten
Theile nach die erheblichsten Bedenken erregt, indem dieselbe in eigenthümliche
einheimische VertMnisse tief eingreift und namentlich für die Städte die drückend¬
sten Unzuträglichkeiten herbeiführen würde. Wir halten dafür, daß die hier be¬
legte Bestimmung auf die bezüglichen internationalen Verhältnisse der Staaten
unter einander so weit thunlich zu beschränken, in Bezug auf die einheimischen
Verhältnisse aber das verfassungsmäßige Recht bei Bestand zu erhalten sei."
Der Bestimmung gegenüber^ daß der Schiffahrtsbetrieb auf den mehren Staaten
gemeinsamen Wasserstraßen, sowie die Fluß- und sonstigen Wasserzölle zur Com-
petenz der Bundesgewalt gehören solle, wird die vertragsmäßige Revenue des
Großherzogs aus dem Elbzoll gewahrt, bei der gemeinsamen Civilproceßordnung
und dem gemeinsamen Concursverfahren der Vorbehalt gemacht, „daß diese
Competenz nicht auf die mit der Landesverfassung in engster Verbindung stehende
einheimische Gerichtsorganisation ausgedehnt werden darf." Man wollte dem
Bundesstaate nicht die Patrimonialgerichte zum Opfer bringen!
Die Fürsten, so schließt dieser Theil des Berichts, sollen ersucht werden, allen
ihren Einfluß aufzubieten, um den hier ausgesprochenen Wünschen die Erfüllung
zu sichern.
Der Bericht wendet sich dann zu dem Wah-lgesetz für das zu berufende
Parlament. Jede der beiden Regierungen hatte einen besonderen Entwurf
desselben vorgelegt. Anfangs wurde dieser Theil der Vorlagen sehr geheim ge¬
halten. Die Wahlgesetzentwürfe waren nicht mit den übrigen Schriftstücken
gedruckt worden und es bestand eine Zeit lang die Absicht, dieselben vor der
Hand als Geheimniß der Commission zu behandeln und' sie dem Plenum erst
gleichzeitig mit dem Berichte zur Kenntniß zu bringen. Nur der energischen
Reklamation eines bürgerlichen Mitgliedes der Ritterschaft ist es zu verdanken,
daß dieser Plan nicht zur Ausführung kam und daß das Actenstück noch einige
Tage vor der Berathung der Vorlagen im Plenum in die Oeffentlichkeit ge¬
langte.
Man hatte allerdings für die Geheimhaltung einigen Grund, da die beiden
Wahlgesetzentwürfe die durch den Bündnißvertrag auferlegte Verpflichtung, die
Wahlen „auf Grund« des Reichswahlgesctzes vom 12. April 1849 vorzunehmen,
in erheblichen Punkten bei Seite gesetzt hatten. Die Abweichungen von den Be¬
stimmungen des Reichswahlgesetzes bestehen hauptsächlich in Folgendem:
1) In § 2 der beiden Wahlgesetzentwürfe wird bestimmt: „Wähler ist
jeder unbescholtene Mecklenburger, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat."
Im Reichswahlgesetze heißt es: „Wähler ist jeder unbescholtene Deutsche u."
Der letztere Ausdruck setzt allerdings eine deutsche Reichseinheit voraus un'd ist
also auf den norddeutschen Bund nicht anwendbar. Die Analogie erforderte
aber eine Bestimmung, wie sie in dem preußischen Wahlgesetz für das Parlament
des norddeutschen Bundes enthalten ist. Diese lautet: „Wähler ist jeder
unbescholtene Staatsbürger eines der zum norddeutschen Bunde
zusammentretender Staaten :c."
2) Der schwerinsche Entwurf hat in § 2 den Zusatz: „Die Ausübung des
Wahlrechts der activen Militärpersonen ruht jedoch, solange sie bei der
Fahne stehen." Das Reichswahlgesctz gewährt dagegen ausdrücklich auch den
Soldaten und Militärpersonen das Recht zu wählen. Der strelitzische
Entwurf, in welchem jener Satz des schwerinschen fehlte, war daher in diesem
Punkte mit dem Reichswchlgesetz in Einklang.
3) Nach dem Neichswahlgesetze ist „wählbar zum Abgeordneten jeder wahl¬
berechtigte Deutsche, welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt und seit minde¬
stens drei Jahren einem deutschen Staate angehört hat" und das preußische
Wahlgesetz enthält die analoge Bestimmung: „Wählbar zum Abgeordneten ist
jeder Wahlberechtigte, der einem zum Bunde gehörigen Staate seit mindestens
drei Jahren angehört hat." Die mecklenburgischen Entwürfe enthalten dafür
die Bestimmung: „Wählbar zum Abgeordneten ist jeder nach den vorstehenden
Bestimmungen wahlberechtigte Mecklenburger."
4) In dem Reichs- und dem preußischen Wahlgesetz findet sich die Vor¬
schrift: „Erstandene (verbüßte) oder durch Begnadigung erlassene Strafe wegen
politischer Verbrechen schließt von der Wahl nicht aus", und rückstchtlich
des activen Wahlrechts wird der Begriff der Besch o tems e it dahin restringirt,
daß als bescholten diejenigen Personen gelten sollen, „welchen durch rechts¬
kräftiges Erkenntniß der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen' ist,
sofern sie in diese Rechte nicht wieder eingesetzt sind." Die mecklenburgischen
Entwürfe enthalten den ersteren Satz nicht und für bescholten erklären sie
solche Personen, „welche wegen begangener Verbrechen Zuchthausstrafe erlitten
haben oder wegen eines entehrenden Verbrechens gerichtlich bestraft sind, so
lange sie nicht etwa durch landesherrliche Begnadigung Herstellung ihrer Ehren¬
rechte erlangt haben". Der einzige Mann in Mecklenburg, welcher in einem
politischen Proceß zur Zuchthausstrafe verurtheilt wurde und dieselbe wirklich
hat erleiden müssen, ist der hochgeachtete frühere Präsident der mecklenburgischen
Abgeordnetenkammer, Moritz Wiggers. Die Absicht, ihn vom Parlament aus¬
zuschließen, sollte durch diese Abweichung vom Reichswahlgesetz wo möglich ver¬
wirklicht werden.
5) Nach den mecklenburgischen Entwürfen muß, „wer das Wahlrecht in
einem Wahlbezirke ausüben will, in demselben zur Zeit der Wahl das Nieder¬
lassungsrecht erworben haben". Das Reichswahlgesetz stellt als Bedingung
der Ausübung des Wahlrechts nur auf. daß der Betreffende in dem Wahlbezirk
zur Zeit der Wahl seinen „festen Wohnsitz" habe, und das preußische Wahl¬
gesetz fordert nur den Wohnsitz. In Mecklenburg wird aus dem Lande das
Niederlassungsrecht nur durch gutsherrliche Bewilligung erworben, selbst von
Seiten der Heimathsberechtigten und selbst in den Städten fällt das Nieder¬
lassungsrecht nicht schlechthin mit dem Heimathsrecht zusammen. Es werden
daher auch durch diese''Bestimmung der mecklenburgischen Entwürfe eine große
Menge von Personen vom Wahlrecht ausgeschlossen, welchen dasselbe nach dem
Reichswahlgesetz zusteht.
6) Die mecklenburgischen Entwürfe enthalten die Bestimmung: „Ueber
Reclamationen gegen das Wahlverfahren ist in letzter Instanz von Unserer
Regierung zu entscheiden." Dadurch scheint das Parlament des Rechts beraubt
werden zu sollen, die Wahlen seiner mecklenburgischen Mitglieder einer Prüfung
zu unterziehen. Das preußische Wahlgesetz enthält den der Reichsverfassung
entnommenen Satz: „Der Reichstag prüft die Vollmachten seiner Mitglieder
und entscheidet über deren Zulassung. Er regelt seine Geschäftsordnung und
Disciplin."
7) Dem Reichswahlgesetz stand ein gleichzeitig erschienenes Reichsgesetz
wegenZ.der Diäten und Reisegelder der Mitglieder des Staaten- und des
Volkshauses zur Seite, von welchem die mecklenburgischen Regierungen bei
ihren Vorlagen keine Notiz genommen haben. Noch weniger haben sie der in
das preußische Wahlgesetz aufgenommenen Bestimmung des Reichswahlgesetzes,
nach welcher kein Mitglied des Reichstages zu irgendeiner Zeit wegen seiner
Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes gethanen Aeuße¬
rungen gerichtlich oder disciplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Ver¬
sammlung zur Verantwortung gezogen werden darf, Beachtung zu Theil werden
lassen.
Die Commission scheint diese vergleichenden Studien für sehr überflüssig
gehalten zu haben, da sie der Abweichungen von dem Reichswcchlgesctze mit
keinem Worte erwähnt, und. sich im Uebrigen mit einigen unbedeutenden Be¬
merkungen begnügend, nur die Forderung stellt, daß der strelitzische Entwurf in
vollständige Conformität mit dem schwerinschen gebracht, also namentlich die
Bestimmung des letzteren hinsichtlich des Ausschlusses der activen Militärpersonen
von den Wahlen in denselben aufgenommen werde.
Der Bericht weist dann wiederum auf den geübten Zwang hin, indem er
erklärt, daß die Commission „nicht umhin könne", die Zustimmung der Stände
zu den Wahlgesetzentwürfen mit den proponirten Abänderungen zu beantragen.
Schließlich aber wird diese Gelegenheit auch noch benutzt, um dem Gedanken
an eine bei der neuen Bundesgewalt zu erwirkende Garantie der bestehenden
Landesverfassung Eingang zu verschaffen. „Der Zweck des von den Landes¬
herren eingegangenen Bündnisvertrages," bemerkt die Commission, „welcher
ausdrücklich auf die Erhaltung nicht nur der äußeren, sondern auch der-inneren
Sicherheit des Landes mit gerichtet ist, läßt erwarten, daß auch die Landes-
Verfassung, auf deren Fortbestehen die innere Sicherheit des Landes wesentlich
beruht, erhalten bleibe. Um dies desto gewisser zu erreichen, dürfte an die
Landesherren die Bitte zu richten sein, daß dieselben bei definitiver Feststellung
der Bundesverfassung die Garantie der bestehenden Landesverfassung durch die
Bundesgewalt in geeigneter Weise herbeizuführen geruhen wollen."
Das Erachten der aus sechs Rittern (Landrath v. Plüskow, C. I. Lueder-
Rethwisch/ Freiherrn I. v. Maltzan-Ki. Luckow, Graf v. Bassewitz-Dieckhoff,
F. v. Dewitz-Kölpin. U. O. v. Dewitz-Gr. Miltzow) bestehenden Minderheit
de>r Commission theilt die Auffassung der Thatsachen mit dem Mehrheitserachten. '
Es erkennt in dem Verfahren Preußens einen Zwang und in der Unterwerfung
unter diesen Zwang ein Unglück. Die Unterzeichner glauben aber, abweichend
von dem Mehrheitserachten, diesem Zwange, soweit es sich um die ständische
Zustimmung handelt, sich nicht fügen, sondern tapfer sich widersetzen zu müssen.
„Suchen wir," sagen sie, „nach den Gründen, durch welche die großherzoglichen
Landesregierungen die Annahme d,e>r Vorlagen empfehlen, so dürfen wir zunächst
constatiren, daß unter denselben kein Argument ist, welches sich auf eine in den
mecklenburgischen Landen vorhandene innere Nothwendigkeit stützt oder einem >
in dem engeren Vaterlande empfundenen Bedürfnisse Ausdruck giebt. Es wird
vielmehr die Unvermeidlichkeit des einzuberufenden Parlaments, dessen Unzuträg»
lichkeiten für Mecklenburg sich niemand verhehlen darfs, nur gestützt auf Ein¬
wirkungen von außen und eine dieselben begleitende Pression, der sich Mecklen¬
burg nicht länger habe entziehen können. Wir vermögen es nicht einzusehen,
daß man >einer solchen Bedrückung in einer die Lebensinteressen des Vaterlandes
berührenden Frage nachzugeben habe. Das Rad der Geschichte läuft rasch in
unseren Tagen: — wo im Frühjahr grünende Saaten standen, sind sie in¬
zwischen vom Kriege vernichtet; wo vor wenigen Wochen noch Völkerschlachten
geschlagen wurden, wird heute schon wieder der Segen des Friedens gesäet."
Die Minorität hofft also auf einen baldigen Umschwung und meint in
dieser Hoffnung die Zustimmung zu der Betheiligung am Parlament versagen
zu können. Mecklenburg — so heißt es weiter — habe sich die Frage vorzu¬
legen, ob die Gefahren, welche ihm daraus erwachsen, wenn es wesentliche
Grundlagen seines staatlichen Lebens auch nur der Berathung eines Parla¬
ments unterbreite, in welchem es für seine Eigenthümlichkeit kaum hoffen dürfe
ein Verständniß zu finden, nicht größer seien als diejenigen, welche zur Zeit
eine Pression.von außen ihm bereiten könne. „ Wir vertrauen, daß es «und
ohne Anordnung ,d.er intendirten Wahlen der Allerhöchsten Weisheit gelingen
werde, .das Land bei seinem Bestände und bei seinem Rechte zu erhalten." Auf
bey Vorbehalt der Majorität und die beigefügten Wünsche könne kein Gewicht
gelegt werden; denn wenn Mecklenburg sich erst an der Berathung im Parla¬
ment betheiligt habe, so werde es seiner Zeit mehr als heute eine Frage der
Macht, nicht des Rechtes sein, ob es sich der Ergebnisse der Berathung erwehren
könne. „Das Königreich Preußen mit seinem mächtigen Königthum, mit seiner
gehorsamen und gehorsamer werdenden Volksvertretung mag mit geringerer Ge¬
fahr als wir politische Versuche machen können; die Eigenthümlichkeit der vater¬
ländischen, tief in der Geschichte des Landes wurzelnden Verhältnisse verbietet
in Mecklenburg derartige Versuche."
In der That kann wohl keines der für den norddeutschen Bund bestimmten
Länder in ähnlicher Weise zum Tode getroffen werden, wie Mecklenburg, wenn
es die aus seiner Eigenthümlichkeit hervorgewachsenen Institutionen dem indem
dirten norddeutschen Bundesstaate zum Opfer zu bringen gezwungen werden
sollte. Dem Argumente der Majorität, daß es für Mecklenburg von Nachtheil
sein würde, wenn die Regierungen nicht an der Feststellung der Vorlagen für
das Parlament theilnahmen, begegnen sie mit folgenden Sätzen: „Wir glauben
nicht, daß dieser Nachtheil demjenigen zu vergleichen ist, welcher dem Lande
schon durch die Vornahme der Wahlen nach dem vorgeschlagenen Wahlgesetz
entstehen würde. Im Princip können wir das Wählen nach reiner Kopfzahl
zwar nicht für verwerflicher halten als manche andere in konstitutionellen
Staaten recipirte Wahlarten mit sogenannten conservativen Garantien: mit
mecklenburgischem Wesen dagegen ist das Wahlen zu Zwecken der Volks¬
vertretung überhaupt so unversöhnv ar, daß die beabsichtigten Wah¬
len schwerlich ohne Gefährdung der nöthigen Achtung vor Gottes und Menschen
Ordnung könnten ausgeführt werden." Alles dies sprechen die Unterzeichner
des Minderheitserachtens, wie sie sagen, mit dem vollen und ernsten Bewußt¬
sein ihrer den Ständen sowohl wie dem Lande gegenüber übernommenen
Verpflichtung aus und ohne sich über die möglichen Gefahren ihres Rath¬
schlages zu täuschen, welcher dahin geht: „hohe Landtagsversammlung wolle
den Allerhöchsten Landesregierungen ein weiteres Vorgehen in Grundlage der
Artikel 2 und 5 des Vertrages vom 21. August 1866 in Unterthänigkeit wider-
rathen."
> Ein besonderes Erachten als Mitglied der Commission gab der Syndicus
Meyer aus Rostock ab. Er schloß sich in demselben zwar im Uebrigen dem
Bericht der Commission an. erklärte sich aber gegen einzelne der beigefügten
Wünsche als ihrem Inhalte nach mit dem Wesen des Bundesstaates nicht ver¬
einbar, war auch mit der geforderten Garantieleistung für die Feudalverfassung
nicht einverstanden und beantragte zum Wahlgesetz den Zusatz, daß Strafen
wegen politischer Verbrechsn von der Wahl nicht ausschlossen, da dieser Zusatz
erforderlich sei. wenn das mecklenburgische Wahlgesetz mit dem Reichswahlgesetze
wesentlich übereinstimmen solle.
Bei der Verhandlung im Plenum, welche am 1. und 2. October stattfand,
eigneten sich die Stände die sämmtlichen im Cvmmissionsbericht aufgestellten
Anträge, Vorbehalte und Wünsche an, nachdem der von einem Mitgliede der Min¬
derheit der Commission, Herrn v. Dewitz-Gr. Miltzow. gemachte Versuch, eine be¬
sondere Standeserklärung der Ritterschaft herbeizuführen, von dieser mit 187 gegen
44 Stimmen zurückgewiesen war. Der meyersche Antrag wegen Aufnahme des
Satzes, daß Strafen wegen politischer Verbrechen von der Wahl nicht aus¬
schließen, wurde mit der großen Mehrheit von 186 gegen 36 Stimmen ab¬
gelehnt. Statt dessen wurde auf Antrag eines früheren radicalen Demokraten,
des Bürgermeisters Hermes aus Röbel, der Begriff der Bescholtenheit dadurch
verschärft, daß in dem Satze, nach welchem als bescholten solche Personen gelten
sollen, welche „wegen begangener Verbrechen" Zuchthausstrafe erlitten haben,
das „wegen begangener Verbrechen" gestrichen und somit die erlittene Zucht¬
hausstrafe schon als solche, auch die wegen bloßer Vergehen verhängte, für ein
Merkmal der Bescholtenheit erklärt wurde. Die Zuchthausstrafe, so meinte der
Herr Bürgermeister, wirke unter allen Umständen infamirend. Wegen Erhal¬
tung der Patrimonialgerichtsbarkeit wurde auf Antrag des Kammerherrn
v. Oertzen-Kotelow noch ein den betreffenden Passus des Commissionsberichtes
näher präcisirender Beschluß gefaßt, dahin lautend: „Stände erklären den be¬
sonders dringenden Wunsch, daß die Erlassung einer Civil- und Concursproceß-
ordnung wegen der für die einheimische Gerichtsorganisation unvermeidlichen
Consequenzen der Gesetzgebung und Oberaufsicht des Bundes entzogen bleibe."
Zur Begründung dieses Antrages erinnerte Herr v. Oertzen unter anderem
daran, daß mit der Patrimonialgerichtsbarkeit auch die gutsherrliche Polizei¬
gewalt fallen würde.
Ein im Auftrage von Rath und Bürgerschaft der Stadt Rostock von den
beiden rostocker Landtagsmitgliedern gestellter Antrag auf Suspendirung der
bestehenden Verbote der Versammlungen und Vereine zur Herbeiführung der
Möglichkeit einer Verständigung über die Wahlen, fand in der Versammlung
so wenig Anklang, daß die Antragsteller auf Abstimmung verzichteten, worauf
der Beschluß im Protokoll verzeichnet wurde: man wolle diesen Antrag auf sich
beruhen lassen.
Einiges Leben gewann die sonst sehr eintönig sich hinschleppende Verhand¬
lung, als der bekannte Kämpfer für die Wiederherstellung des Staatsgrund¬
gesetzes von 1849, Herr Manecke-Duggenkoppel. den Antrag der Commission
auf Herbeiführung einer Garantie für die bestehende Landesverfassung benutzte,
um aus sein altes Thema zurückzukommen. Er verlas ein Dictamen. in welchem
er die rechtliche Existenz dieser Verfassung bestritt und dieselbe nur noch als
eine factische Centralisation oligarchischer Bestrebungen gelten lassen wollte,
was großen Sturm des Unwillens in der Versammlung hervorrief. „Es ist
unerhört," rief der Vorsitzende Landrath v. Rieden, „daß der Versammlung fort¬
während so etwas geboten wird." „Es ist unerhört," rief der Landrath Graf
v. Bernstorff, „daß eine rechtsbeständige Verfassung dergleichen Angriffe erleiden
muß." „Es ist unerhört." rief der kleine Bürgermeister Hofrath Wulffleff aus
Sternberg, welcher im Jahre 1848 sich an die Spitze der konstitutionellen Be-
wegung in seiner Stadt gestellt und freie Wahl der Landesvertretung. Pre߬
freiheit und jede sonstige Freiheit verlangt hatte, „es ist unerhört," rief er jetzt
in größter Aufregung, „daß uns und unserer ehrwürdigen Verfassung diese
rücksichtslose Behandlung zu Theil wird." „Unerhört," rief dagegen Manecke'
„ist die Behandlung, der ich seit 17 Jahren auf Landtagen ausgesetzt bin, aber
ich werde meine Ueberzeugung dadurch nicht beugen lassen." Das Ende dieser
lebhaften Scene war. daß das Dictamen seinem "Verfasser „wegen Unange¬
messenheit des Inhalts als für das Landtagsprotokoll nicht geeignet" zurück¬
gegeben wurde.
Sonst beschränkt sich die von den verhältnißmäßig wenigen bürgerlichen
Gutsbesitzern, welche dem Bündnißvertrage günstig gesonnen sind, auf dem
Landtage entwickelte Thätigkeit auf zwei schriftliche Vorträge, welche sich beide
sehr im Allgemeinen halten. In dem einen geben die vier Gebrüder Pogge
und drei Genossen ihren Sympathien für Preußen und dessen deutschen Beruf
Ausdruck. In dem anderen sprechen sich Dr. Bade-Griebow und 32 Genossen,
darunter die Herren Pogge und Herr Manecke, über den Sinn ihrer Abstimmung
für das Commissionserachten aus. Sie seien diesem Erachten nur so weit bei¬
getreten, als es die Annahme der großherzoglichen Landtagspropositionen em¬
pfehle, könnten aber die in Gestalt von Vorbehalten, Bedenken und Wünschen
vorgebrachten Zusätze sich nicht aneignen. Denn einerseits werde durch dieselben
die beschlossene Annahme der ProPositionen größtentheils wieder zurückgenommen,
da. wenn jene Wünsche in Erfüllung gingen, das ganze bundesstaatliche Ver¬
hältniß Mecklenburgs zu den übrigen norddeutschen Staaten ein völlig illusorisches
werden würde. Andererseits könnten, sie die meisten jener Folgen des Bundes¬
verhältnisses, welche der Commissionsbericht befürchte und zu verhindern strebe,
nur wünschenswert!) für Mecklenburg finden, also namentlich die gemeinsame
Zoll- und Handelsgesetzgebung, die nun gemeinsamen Bestimmungen über
Heimaths- und Niederlassungsrecht, Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, Civil¬
proceßordnung u. s. w. Zugleich weisen sie darauf bin, „daß auch die ganz
überwiegende Zahl der mecklenburgischen Bevölkerung grade die Reformen, die
in dem Bündnißvertrag mit Preußen in Aussicht gestellt sind, herbeiwünscht,
und daß die Stände bei dieser ganzen Sache, sowohl ihrer Zusammensetzung
wie ihrer Gesinnung nach, die Meinung des Landes nicht zum Ausdruck
bringen."
So erfreulich es ist. daß es auf dem Landtage nicht ganz an Männern
fehlte, welche den durch das Bündniß eröffneten Aussichten mit Vertrauen ent¬
gegenkamen und diese ihre Stellung zu öffentlicher Kunde brachten, so hat die
in ihnen vertretene liberal-nationale Partei ihre Aufgabe doch nur halb erfüllt,
indem sie anscheinend aus Mangel an Organisation und Führung es unter¬
ließ, dem Wahlgesetzentwurf hinlängliche Aufmerksamkeit zu widmen. Eine
von ihr angestellte Begleichung des Entwurfes mit dem Reichswahlgesetz würde
sie nothwendig dahin geführt haben, die wesentlichen Unterschiede beider zu¬
sammenzustellen und die zur Ausgleichung derselben erforderlichen Abänderungen
des Entwurfes zu fordern. Statt dessen erklären sie die unbeschränkte Zu¬
stimmung zu den Vorlagen der Regierungen. Auch muß es auffallen, daß, sie
dem Versammlungs- und Vereinsrecht nicht so viel Werth beilegten, um sich zu
einer nachdrücklichen Unterstützung des darauf bezüglichen rostocker Antrags zu
entschließen. Was zur Empfehlung desselben von Seiten des Dr. Bade geschah,
verdient alle Anerkennung, vermag aber ein vereinigtes energisches Handeln der
Parteigenossen nicht zu ersetzen.
Am 3. Octover wurden die Landtagsabschiede verkündigt. Der Großherzog
Friedrich Franz spricht seine Befriedigung aus, daß die Stände, wie er aus
deren Erklärung entnommen habe, in richtiger Würdigung der Sachlage ihm
vertrauensvoll auf dem Wege gefolgt seien, welchen er unter den Erschütterungen
der, letzten Vergangenheit nach bestem Gewissen zum Wohle des deutschen Vater¬
landes und insbesondere seines eigenen Landes einschlagen zu müssen geglaubt
habe. Die einzelnen Voraussetzungen. Bemerkungen und Anträge, welche mit
Recht von den Ständen selbst als Wünsche, deren Beachtung zu geeigneter
Zeit im Interesse des Landes sich empfehlen werde, bezeichnet seien, würden
einer sorgfältigen Prüfung unterzogen werden und der Großherzog werde nach
erlangter Ueberzeugung von dem Grunde und der Ausführbarkeit der ständischen
Desiderien auf die thunlichste Berücksichtigung derselben hinwirken. Das Wahl¬
gesetz solle in der Art publicirt werden, daß die zu demselben gemachten stän-
dischen Erinnerungen in gewünschter Weise ihre Erledigung finden. Das
Schriftstück schließt mit dem Ausdruck der Anerkennung der Von der Ritter¬
und Landschaft unter den ernsten Umständen der Gegenwart bewiesenen „ver¬
trauensvollen, einsichtigen und patriotischen Haltung". In etwas kürzerer
Fassung erklärt auch der strelitzische Landtagsabschied: der Großherzog habe
die ständische Erklärung, soweit sie das Bündniß betreffe, mit Genugthuung
entgegengenommen und die beantragten Abänderungen des Wahlgesetzes gern
genehmigt.
Regierungen und Stände der Großherzogthümer Mecklenburg haben hier¬
nach zu dem in der Bildung begriffenen norddeutschen Bundesstaat eine Stel¬
lung eingenommen, welche den Widerwillen deutlich genug zu erkennen giebt,
der nur eine günstige Gelegenheit erwartet, um sich von den eingegangenen
Verpflichtungen wieder zu befreien. Sowohl die Regierungen wie die Stände
erklären, daß sie nur unter dem von Preußen auferlegten Zwange aus das
Bündniß sich einlassen. Die letzteren fügen zum Schutz der bestehenden In¬
stitutionen eine Menge von Bedenken und Wünschen hinzu, deren Beachtung
und Erfüllung mit einem bundesstaatlichen Verhältnisse in den meisten Punkten
vollkommen unvereinbar wäre. Sie wollen fortfahren, ein besonderes Zoll- und
Handelsgebiet zu bilden und ihre eigene Zoll- und Handelsgesctzgebung behalten,
sie wollen keine Einwirkung der bundesstaatlichen Gesetzgebung auf Heimaths¬
und Niederlassungsrecht, Gewerbebetrieb und Freizügigkeit, Gerichts- und Polizei-
Wesen u. s. w., und sie fordern schließlich sogar Garantie der bestehenden
mecklenburgischen Landesverfassung von Seiten der neuen Bundcsgewcüt, wo¬
durch der Einwirkung der letzteren auf Umgestaltung der inneren Verhält¬
nisse des Landes jede Aussicht abgeschnitt.en werden würde. Die Regierungen
weisen keinen dieser Wünsche zurück, versprechen vielmehr, denselben die thun¬
lichste Berücksichtigung zu Theil werde» zu lassen. Das von den Ständen vor¬
gehaltene Recht der Zustimmung zu der aus der Berathung mit dem Parlament
hervorgehenden neuen Bundesverfassung erkennen die Regierungen zwar nicht
ausdrücklich an; sie widersetzen sich aber dieser ständischen Prätension auch nicht
und wollen sich augenscheinlich den Vortheil nicht entgehen lassen, davon zu
gelegener Zeit Gebrauch zu machen. Die ganze Zustimmung zu dem Bündniß-
vertrage gewinnt durch diesen Vorbehalt etwas Lustiges; der unter der Ein¬
wirkung des Zwanges ertheilten und mit unerfüllbaren Wünschen belasteten
Zustimmung würde, nach der dabei vorschwebenden Absicht, später noch immer
der Rücktritt von dem ganzen Unternehmen folgen können. Dazu mag denn
auch noch die Hoffnung hinzutreten, daß es gelingen werde, teil Abschluß der
neuen Bundesverfassung bis über den 21. August 1867 hinaus zu verzögern, in
welchem Falle der nur auf die Dauer eines Jahres abgeschlossene Bündnihver-
trag von selbst erlöschen würde.
Allerdings wird dieses widerwillige Verhalten der mecklenburgischen Re¬
gierungen und Stände auf die Begründung des Bundesstaates und die Ein¬
fügung Mecklenburgs in denselben schwerlich von irgendeinem Einflüsse sein, da
derselbe Zwang, welcher den Abschluß des BündnißvettrageS bewirkt hat. vor¬
aussichtlich bei der definitiven Begründung des Bundes noch fortwirken wird.
Indessen wird es nicht schaden können, wenn die preußische Regierung unter
den vielen Gegnern, die sie in Deutschland har, auch die feudalen Bundes¬
genossen in Mecklenburg nicht übersieht, deren Neigung zum Couspiriren gegen
den Bundesstaat durch Reichthum und weitverzweigte Verbindungen unterstützt
wird. Der preußischen Regierung kann es nicht unbekannt sein, daß es von
ihrer Seite nur eines geringen Kraftaufwandes bedarf, um sich der feudalen
Minister in Mecklenburg zu entledigen und dadurch auch den Feudalständen
ihren letzten Halt zu entziehen, den sie in der Bevölkerung längst nicbt mehr
haben. nötigenfalls würde sie dadurch schon jetzt dem ganzen Schattenspiel
ein Ende machen können, welches den constitutionellen Rechtsboden seit dem
Jahre 1850 wieder occupirt hält, und sie würde, indem sie dies thäte, damit
nur eine Pflicht erfüllen und zugleich ein von den Amtövorgängern der jetzigen
preußischen Minister damals gegen Mecklenburg begangenes Unrecht sühnen.
Denn nur durch die Unterstützung des manteuffelschen Regiments ist den ver¬
irrten Rittern die Wiedererweckung der gesetzlich beseitigten alten Landesver¬
fassung gelungen.
Glaubt aber die preußische Regierung aus den Ausdruck des ihr geneigten
Willens, welcher in der großen Mehrheit der mecklenburgischen Bevölkerung
lebt, noch einstweilen verzichten und die ihr feindlich gesinnte feudale Landes¬
vertretung noch so lange dulden zu können, bis dieselbe vor der neuen Schöpfung
des norddeutschen Bundesstaats von selbst verschwindet, so hat das Volk dieses
Landes doch ohne Zweifel schon jetzt ein Recht, daß ihm ein gleicher AntheU an
den Wahlen für das Parlament, wie ihn die Bevölkerungen der übrigen
Bundesstraten genießen, eingeräumt werde. Zu diesem Zweck ist erforderlich,
daß die wesentlichen Abweichungen des beschlossenen mecklenburgischen Wahl¬
gesetzes von der vertragsmäßigen Norm für die Wahlen, dem Reichswahlgesetz,
schon sofort^beseitrgt werden und daß die Wahlen unter Bedingungen statt¬
finden, welche die Möglichkeit einer vorgängigen Verständigung der Wähler
über die zu wählenden Abgeordneten nicht ausschließen. Es darf nicht ge¬
schehen, daß die Staatsangehörigen der norddeutschen Bundesländer, welche in
Mecklenburg ihren Wohnsitz haben, das Wahlrecht entbehren, während die in
anderen norddeutschen Bundesländern wohnenden Mecklenburger wahlberechtigt
sind; daß die Wahlberechtigung weiter noch auf diejenigen Mecklenburger be¬
schränkt wird, welche das Niederlassungsrecht erworben haben, während in den
andern Ländern schon der Wohnsitz genügt; daß die wegen politischer Ver¬
brechen Bestraften und daß die Soldaten von den Wahlen ausgeschlossen
werden; daß das Ministerium die Entscheidung letzter Instanz bei Reclcima-
rionen gegen das Wahlverfahren in Anspach nimmt; endlich, daß das Verbot
der Versammlungen und Vereine zu politischen Zwecken auch in Bezug auf die
Wahlen aufrecht erhalten bleibt. Alles dies sind Forderungen, deren Nicht¬
erfüllung weder die Mecklenburger selbst, noch die übrigen im Parlament ver¬
tretenen deutschen Bevölkerungen sich gefallen lassen können, und welche daher
noch vor den Parlamentswahlen erfüllt werden müssen.
Gelegenheit zur Revision des beschlossenen Wahlgesetzes bietet sich theils
in dem noch vor Weihnachten bevorstehenden Zusammentritt des mecklenburgi¬
schen ordentlichen Landtags, theils i» dem sogenannten „Engeren Ausschuß"
der Landstände dar, welcher in eiligen Angelegenheiten, abgesehen von Geld¬
sachen, die Zustimmung Namens der Stände einstweilen ertheilen kann. Würde
nicht rechtzeitig die Conformität des mecklenburgischen Wahlgesetzes mit dem
Reichswahlgesetz hergestellt, so winde in Mecklenburg nur mit Protest gewählt
werden können und das Weitere der Entscheidung des Parlaments anheim¬
zugeben sein.
Wer aus Erfahrung weiß, wie tumultuarisch mitunter selbst von Verstän¬
digen in Rom und in der Campagna ausgegraben wird, wie ängstlich man im
Kunsthandel die Angaben der Provenienzen neuentdeckter Kunstgegenstände ver¬
meidet aus Furcht, daß sich die Negierung ins Mittel lege oder daß Unbefugte
nachgraben möchten, oder daß die Ergiebigkeit des Ortes durch das offene Wort
hinweggezaubert,werden könnte — den kann es nicht Wunder nehmen, daß so
viele Monumente, bekannte wie ncuauftauchende, ohne Angabe ihrer Heimath
bleiben, daß man von zahlreichen oft so wichtigen Denkmälern schmerzlich
genug eine Notiz über ihren Fundort vermißt. So konnte es kommen, daß
die in Inschriften erhaltenen hochwichtigen Urkunden des römischen Priester-
collegiums der kratres arvales längst Gegenstand gelehrter und gründlicher
Forschung waren, ohne daß man noch mit Wahrscheinlichkeit den Ort anzugeben
vermochte, wo in der römischen Campagna der Cultus der von diesem Colle-
gium gefeierten altlateinischen Flurgöttin ven, via stattfand, und die ihn be¬
treffenden inschriftlichen Protokolle ursprünglich aufgestellt waren. Man war
durch diese Urkunden selbst auf das genaueste über die religiösen Ceremonien
der Brüderschaft unterrichtet, wußte, an welchen Tagen im Jahr und in welcher
Weise sie ihre zahlreichen Opfer und Schmäuse hielten, wußte um ihre Orga¬
nisation und kannte eine große Zahl ihrer Mitglieder, unter welchen die ange¬
sehensten Römer, und selbst Kaiser figuriren, ja man kannte die Zahl und die
Beschaffenheit ihrer sacralen Gebäude, ihren Tempel der vsu, via, ihr Cäsareum.
Cncus und Tetrastylum; aber noch immer fehlte in Ermangelung von Er¬
wähnungen oder Beschreibungen der Localität bei alten Schriftstellern jede'
Möglichkeit einer annähernd genauen topographischen Präcision.
Eine glückliche Entdeckung des verstorbenen Archäologen Abeken machte der
Ungewißheit ein Ende. Er fand in den Ufsizien zu Florenz unter den Hand¬
zeichnungen Balthasare Pcruzzis (-j- 1536) den Grund- und Aufriß eines Ge-
bciudes der arvalischen Brüderschaft, und zwar mit Angabe des Ortes „am
vierten Miglienstein der Via Portuensis". Diese werthvolle architektonische
Skizze zeigt als Schmuck des Gebäudes neun Statuen römischer Kaiser, welche
mit dem Abzeichen der arvalischen Priesterwürdc, einem Aehrenkranze im Haar,
dargestellt waren. Die Statuen sind verloren gegangen, obwohl eine flüchtige
Notiz eines Cinquecentistcn bezeugt, daß sie von der ursprünglichen Stelle später
in einen römischen Palast gerettet worden sind; auch das Gebäude, welches dem
berühmten Schüler und Genossen Rafaels Anlaß zu der erwähnten Studie
gegeben, ist'gegenwärtig großentheils zerstört. Indessen läßt es sich an dem
angegebenen O.re, wenigstens in seinem Grundriß, noch deutlich erkennen, etwa
eine halbe deutsche Meile weit von der Stadt auf der Via Portuensis oder
Campana, welche von Trastcverc aus dem rechten Ufer des Tiber entlang sich
hinzieht; und dicht in der Nähe finden sich noch heutzutage die Ueberreste
der sämmtlichen Heiligthümer, die einst den Hain und Berg des arvalischen
Priestercollegiums schmückten. Nachgrabungen, welche der Zufall in neuerer
Zeit an diesem Ort anstellte, haben neue Fragmente der berühmten Urkunden
zu Tag gefördert, und damit auf das schlagendste die Richtigkeit der topo¬
graphischen Fixirung bestätigt. Leider haben weder die gegenwärtigen Eigen¬
thümer des Grund und Bodens noch die Regierung, der es in der gegenwär¬
tigen politischen und finanziellen Misöre an Geld und Lust zu wissenschaftlichen
Lorbeeren fehlt, sich entschließen können, eine Ausgrabung des ganzen Bezirkes,
welche die bedeutendsten Ergebnisse erzielen müßte, planmäßig zu veranstalten.
Man darf sich mit einem Grad von Wahrscheinlichkeit, der an Gewißheit
grenzt, sagen, daß dieser Fleck Erde noch eine Reihe von Monumenten verbirgt,
welche über viele Punkte der römischen Alterthumskunde die folgenreichsten Auf¬
schlüsse geben müssen. Aber das Geld ist eine Macht auch in der Wissenschaft;
sie muß sich begnügen und weiter Plagen, wo sie nur zu vermuthen und nicht
zu wissen vermag, bis das Glück ihr neue Quellen zuführt, die. wenn es metho¬
disch zuginge in der Welt, sofort und mit allen Mitteln zu Tag gebracht werben
müßten. Das kommende Jahrhundert wird es vielleicht nicht verstehen, daß
das gegenwärtige, in welchem die Bücher über Kunst und Kunstgeschichte wie
Pilse aus der Erde wachsen, trotz aller Winckelmannsfeste und Akademien, keine
Anstalten macht, die Schätze Olympias zu heben.
Es ist ein neuer Zufall — der Besitzer der Vigne, in welchem der Tempel
der v6g. sich befindet, mußte einen kleinen Anbau vornehmen — der eine
neue arvalischc Inschrift vor wenigen Monaten ans Licht gebracht hat. Sie
ist von Marmor Und von ansehnlicher Größe. 1,72 Meter hoch, 0.86 Meter
breit; ihre Aufzeichnungen liefern die Geschichte der Brüderschaft in den Jahren
68—69 n. Chr. G. und füllen eine Lücke in der Reihe der bisher bekannten
aus, so daß man mit ihrer Hilfe nunmehr die sämmtlichen Acten des Collegiums
aus den Jahren 87 — 60 zusammenstellen kann. Die Belehrungen, welche die
Inschrift giebt, sind größtenteils von untergeordnetem Interesse, z. B. daß als
ecmsulvZ suttveti des zweiten Halbjahres 5,8 n, Chr. G. A. Paconius Sabinus
und A. Petronius Lurco bekannt werden, daß Nero am 4. December die tribwricia
powstg.» annahm, und die Adoption des Nero durch Claudius am 26. Februar
.stattfand. Von allgemeinerer Wichtigkeit dürfte die Notiz sein', daß das Col-
legiuM der arvalischen Brut'er einmal eine Versammlung im Pantheon des
Agrippa abhielt, wodurch dieses Gebäude als Tempel erwiesen wird, was mehr¬
fach bestritten worden ist; und daß im zweiten Halbjahre 57 n. Chr. G.. in
welchem der Proceß des Paulus in Rom zu Ende geführt wurde, der Philo¬
soph Seneca Conwl war. nach der bestehenden Gerichtsordnung also Kenntniß
und Einsicht in die Acten des Processes haben und in irgendeine Beziehung
zu dem Apostel treten mußte, eine Beziehung, welche der auf uns gekommene
gefälschte Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus eher verdächtigen als er¬
weisen mochte. Die Inschrift ist ohnlängst von dem berühmten römischen Epi-
graphiker de Rossi in seinem dullvttino eristi-mo veröffentlicht und gelehrt
Im Nachfolgenden wird Fortsetzung und Schluß des aus dem Neusyrischeu
übersetzten Berichtes mitgetheilt, den die beiden von der amerikanischen Misston
abgesandten syrischen Geistlichen Murad Chan und Musche (Moses), Diaconen
zu Arenia, über die Reise geben, welche sie im Jahre 1831 in das Botan-
gebiet unternahmen. Das in Ur. 42 abgedruckte erste Stück dieser Erzählung
verläßt die Sendboten hinter Mosul, nachdem sie mehr eingebildete als wirk¬
liche Gefahren bestanden, und mehr durch die Zweifel der Mitbekcnner an ihrer
Rechtgläubigkeit, als durch Anfechtung der Feinde zu leiten gehabt haben. Diesen
Charakter, welcher die Zersplitterung der christlichen Elemente des Morgenlandes
Und den formalistischen Eifer derselben lebhaft zu erkennen giebt, behält auch der
Nest der Missionsfahrt bei, welche die Wandrer ins kurdische Hochland und zum
oberen Tigris führt. Die Einfalt der ErzählungSweise interessirt auch hier fast
Mehr noch als die geschilderten Beobachtungen, obgleich auch sie geeignet sind,
die Kunde über das Leben der Christen in Asien zu bereichern.
Am Sonnabend gingen wir von Maelthaje nach Zacho ins Haus eines
papistischen Priesters.
Sonntag verließen wir Zacho. wo es keine Nestorianer giebt, und gingen
nach Naherwan, einem Ort mit Nestoricinern. um dort zu predigen. Wir
kehrten beim Reis Schimon ein. der uns sehr freudig aufnahm. Wir gingen
in die Kirche, beteten dort und predigten. Der Rtts brachte ein Brevier und
sprach: „ich bitte Euch, in diesem Buche zu lesen". Sofort begannen wir Vor¬
zulesen, wie der Herr den Lazarus aus dem Grabe auferweckt und die Sünder
ebenso im Grab der Sünde gefangen liegen, und sangen dann laut aus dem
Brevier. Der Hof stand voll von Männern und Frauen.
Am Abend kamen die Bewohner des Orts zum Hause des Reis zusam¬
men, etwa dreißig an der Zahl, vier Parteien angehörig, nämlich Nestorianer.
Armenier, (syrische) Jakobitcn und Apostaten, wie dort die Papisten genannt
werden, und sagten: „wir wünschen diese Diaconen aus diesem Buche singen
zu hören". Wir lasen zuerst die Stelle vom Reichen und Lazarus und sangen
dann, darauf erklärten wir den Sinn davon; das gefiel ihnen gar sehr. Am
Morgen darauf kochten sie uns umsonst Pillau und Kaffee.
Dienstag gingen wir von Naherwan nach der Stadt Gezira (Dscheziret
Ihr Omar), wo wir die beiden folgenden Tage blieben. ,
Am Donnerstag begaben wir uns von Gezira nach Mar Aehä ins Haus
des Diaconus Eschaja (Esaias).
Am Sonntag baten wir den Priester, das Abendmahl auszutheilen. Auch
wir gingen mit ihm' in die Kirche: Dreimal baten wir den Priester Goriel
(Gabriel) um Erlaubniß, zu predigen, aber er wollte es nicht. Wir redeten
Einiges, blieben aber mehre Tage da, ohne zu predigen, und wurden von ihm
durchaus nicht dazu eingeladen. Da faßten wir den Entschluß, doch am Abend
in der Kirche zu predigen, um zu sehen, ob der Priester oder die Laien das
nicht litten. Als das Gebet beendigt war, lasen wir zuerst aus dem Neuen
Testament Römer 1.0. Wir fingen dann an: „O ihr Bäter, wir sind gekom¬
men von Arenia und vom Hause des Patriarchen, zu dessen Gemeinde wir
gehören. Wir haben Bischöfe, Priester und Diaconen, wie Ihr. Unser Abend¬
mahl, unsre Taufe und alle unsre Sacramente sind vollständig. Wenn Ihr
gegen Andere giltige Vorwände habt, so habt Ihr doch keine gegen uns. Wenn
Ihr von uns ein einzig Wort gegen das Neue Testament gehört habt, so wollen
wir verflucht sein; dann sollt ihr uns steinigen, unser Blut soll Euch dann zu
vergießen erlaubt sein." Wir predigten darauf über Rom. 10, 14: „Wie sollen
sie aber anrufen, an den sie njcht glauben? Wie sollen sie aber glauben, von
dem sie nichts gehöret haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?"
Da erhob sich der Priester und sagte: „Ihr gehört nicht zu uns; Ihr seid Pro¬
testanten, Euer Glaube ist zerrissen". Somit ging er fort und einige andere
mit ihm, aber 2 Diaconen blieben bei uns und sagten: „warum sollen wir sie
nicht annehmen? Sie predigen uns ja nicht im Namen Mohammeds! Dies
sind Worte Gottes. Wem es gefällt, der möge ihnen zuhören, wem nicht,
der nicht/' Wir predigten also und gingen darauf fort.
Am Montag gingen wir nach Chantal. Hier sahen wir einen Bruder
Mönch, einen jakvbitischen Diaconus, der aus einem Mönchskloster ausgetreten
und ein wahrer Christ geworden war, eine Schule halten für (den Missionär) Mr.
Marsh. Wir freuten uns sehr über einander. Wir unterhielten uns in der
(altsynschen) Schriftsprache und beteten zusammen. Da wir hörten, daß Mr.
Marsh von Diarbekr nach Gezira gekommen sei, so gingen wir zu ihm dahin.
Wir freuten uns zusammen und er sprach: „Wenn es Euch gefällt, so möge
einer von Euch bei der Schule des Diaconus Eschaja (in Mar Aehä) bleiben
und der andere mit diesem zusammen im Lande Botan umHerreisen."
Als wir nun nach Mar Aehä zurückgekehrt waren, hörten wir, daß der
Priester Goriel nach den verschiedenen Orten folgende Anordnung hingeschickt
habe: „Hört nicht auf diese Diaconen! Sie sind Irrlehren Sie haben weder
Abendmahl, noch Taufe, noch überhaupt Sacramente. Sie gehören nicht zu
uns. Sie sind Engländer." Dennoch gingen wir selbst zum Priester Goriel,
um ihn zu prüfen, und baten ihn, uns, wenn es ihm gefällig wäre, einen
Empfehlungsbrief zu unsrer Predigtreise ins Land Botan zu geben; aber auf
seine Worte: „ich kanns nicht; geht ja nicht hin, Ihr werdet da nur beschämt
werden; man wird Euch nicht annehmen!" verließen wir ihn. Wir beschlossen
nun, die Orte, welche Priester und Diaconen besäßen, jedesmal am Sonntag
zu betreten und sie zu bitten, das Abendmahl der Gemeinde und,uns zugleich
auszutheilen, damit sie uns trauten und wir eine Gelegenheit zum Predigen
hätten. Wir machten uns darauf fertig und begaben uns fern von dem Ort auf
einen Berg; hier setzten wir uns unter einige schöne Oelbäume, die uns an die
schönen Stellen erinnerten, an denen unser Erlöser gebetet hat. Wir schieden
mit schöne» Gebeten von einander; einer von uns kehrte zur Schule zurück,
während wir beide nach Zehe gingen, wo wir beim Priester Seliwa einkehrten,
der uns mit Freuden aufnahm. Das geschah am Sonnabend den 24. November.
Am Abend gingen wir in die Kirche. Als es Predigtzeit warb, lasen wir zuerst
aus dem Psalter vor, und ich predigte dann laut über die gelesene Stelle, wie
es in Arenia geschieht. Da sahen wir. daß der Priester ein Licht anzündete
und die Stelle des Buches bis zu Ende nachsah. Dann wandte er sich um
und rief mit lauter Stimme den Leuten zu: „Wer da sagt, daß diese Männer
nicht zu uns gehören, der ist verflucht! ich habe im Buche zugesehen, er hat
auch keinen Buchstaben weggelassen." Nachdem wir fertig geworden, baten wir
den Priester, am Sonntag Morgen das Abendmahl auszutheilen. Dies gefiel
ihm gar Wohl. So gingen wir denn am andern Morgen mit ihm in die Kirche,
theilten das Abendmahl aus, predigten und empfingen selbst das Sacrament.
Da glaubte er fest, daß wir zu ihm gehörten. Nachdem wir in sein Haus
zurückgegangen waren, hielt er uns mit Ehrerbietung fest. Zu den Laien sagte
er: „Jeder, der mich liebt, der komme und höre die Worte unsers Herrn Jesu
Christi an." Da folgten ihm alle, kamen zur Predigt und hörten sehr schön
zu. Um Mittag sagte der Priester: „wir wollen jetzt ius Haus des Reis
gehen; auch da sollt Ihr predigen." Die Bewohner des Orts versammelten
sich nun beim Reis und wir predigten über Jac. 3 und sprachen ein Gebet.
Am Abend versammelten sie sich wieder im Priesterhause. Nachdem wir über
Apostelgeschichte 3 gepredigt hatten, sagte der Priester: „ich möchte, daß Ihr
auch hier ein Gebet sprächet, wie im Hause des Reis;" das thaten wir denn
auch. Der Priester aber? sprach beständig folgendermaßen zur Gemeinde: „wenn
Ihr Gott liebt, so werdet Ihr diese Worte unsers Herrn Jesu Christi an¬
nehmen." Viel Liebe erzeigte er uns, wie auch sein Sohn, Diaconus Marracha.
Auch schrieb er für uns einen Empfehlungsbrief, damit uns die Bewohner der
verschiedenen Orte aufnahmen. Er schrieb also: „ Wer ,,die Worte unseres
Herrn Jesu Christi, die in der heiligen Schrift stehen, nicht annimmt, der sei
verflucht!"
Am Montag verließen wir Zehe in großer Freude. Wir glaubten, daß
die Gebete der Brüder (in Arenia) wegen unserer Reise im Lande Botan von
Gott erhört seien, daß er die Thür der Predigt austhäte, damit seine Worte
angenommen würden. Wir begaben uns nach Dschennet ins Haus des
Diaconus Jschak.*) Am Abend sammelten sich daselbst die Bewohner des Orts
und klagten sehr über die türkischen Großen, die sie so sehr drückten. Wir pre¬
digten ihnen deshalb über Apostg. 3, 19: „Thut nun Buße und bekehret Euch,
daß Eure Sünden vertilgt werden, so werden über Euch Zeiten der Erholung
kommen."
Dienstag gingen wir von Dschennet nach Nanib zum Reis Schelemon
(Salomo). Als wir dem Orte nahe kamen, sagten zwei Männer: „die Irr-
lehrer sind angekommen". Da merkten wir. daß das der vom Priester Gvriel
ausgeworfene Same war. Am Abend sammelten sich zu uns ungefähr 20 Menschen.
Auch diese verlangten nach Erholung von den Türken und wir predigten ihnen
deshalb über dieselbe Stelle: „Thut nun Buße u. s. w." Sie hörten wohl zu,
aber nur mit krankem (zweifelndem) Herzen.
Am Mittwoch gingen wir von Nanib nach Der gute, dem Wohnort des
(berüchtigten Kurdcnhäupllings) Beter Chan Beg, dessen Einwohner Armenier
sind. Wir kehrten bei einem (armenischen) Priester ein und blieben die Nacht bei ihm.
Er bewirthete uns sehr freundlich. Am Abend brachten wir Beweise aus der
heiligen Schrift (für unsre Lehre») vor. Der Priester war sehr gelehrt, mehr
als alle (syrische») Priester in Botan. Ein armenischer Kaufmann kam und
sagte dem Priester in kurdischer Sprache: „ni.min Dich in Acht vor diesen Men¬
schen, daß sie niemand in die Irre führen". Er aber sagte: „nein! nein! es
sind sehr gute Leute; sie nehme» all ihre Worte aus dem Alten und Neuen
Testament". „Und," fügte er hinzu, „wenns Dir gefällig ist, so frage sie doch
auf türkisch, und steh selbst zu." Da fragte der Kaufmann, ob wir Abendmahl,
Taufe u. f. w. hätten, und als wir ihm mit Gottes Hilfe Antwort gaben,
gefiel es ihm sehr.
Am Donnerstag gingen wir von Dergulc nach Berid zum R^ö
Dschimma. Da wir hier hörten, daß der Priester des Orts, Jschak, krank wäre,
so gingen wir zu ihm hin und redeten mit ihm. Er disputirte mit uns und
sagte: „Wenn jemand die Faste» brüht, so nehme ich ihn »icht an, mag er auch
Vom Himmel herabkomme»; denn die Propheten haben 'gesät, die Apostel ge¬
erntet-, aber erst die Kirchenlehrer haben das Getreide auf die Tenne gebracht,
gedroschen, gemahlen und Brod für die Menschheit bereitet" (d. h. erst die
Kirchenlehrer haben die Lehren der Bibel in die brauchbare und giltige Form
gebracht, daher auch ihre Fastenvorschriften, wenn auch nicht >n der Bib'el
zu finden, giltig sind). „Wie?" aniworlctcn wir, „die, welche den heiligen
Geist halten (Propheten und Apostel) hätten kein Bivo für die Menschheit be¬
reiten können, aber die, weiche ihn nicht hatten, sollten vermögt habe», für sie
Brode zu backe»?" Da wir sahen, daß er sehr u»^e>sse»d^r^r und mia't einmal
lesen konnte, so standen wir auf und gingen zum ^'is^urück. Am Abend
veiscimmeltcn sich die Bewohner des Ons und wir predigten >due» -von der
Siloahquelle (Joh. 9, 7 ff.). Ein Mensch aus der Versammlung sagte:
„Warum habt Ihr keinen Brief vom Patriarchen Mitgebracht? er ist durcoaus
nicht mit Euch einverstanden, darum habt Ihr keine» Brief von ihm." Da
wir ihm aber eine (zweckmäßige) Antwort gaben, so schwieg er.
Am Freitag gingen wir von Berid nach Schach. Beim Eintritt in den
Ort fürchteten wir uns sehr, weil die Bewohner das Jahr vorher die Diaconen
Sejad und Musche weggejagt hatten. Am Sonntag theilten wir das Abend¬
mahl aus. An die 200 Menschen. etwas mehr oder weniger, Versammelren
sich, und wir predigten ihnen darüber, wie man das Sacrament nehmen müsse,
nämlich über 1. Cor.11, 18*): „Wer aber unwüidig vom Brod des Herrn
isser und von seinem Kelch trinkt, der ist schuldig am Blut und Leib des Herrn.
Der Mensch prüfe sich selbst und danach esse er von diesem Brode und trinke
von diesem Kelch." Da konnten zwei Drittel der Gemeinde das Abendmahl
nicht erhallen. Wir gingen darauf aus der Kirche fort nach dem Pavillon
des Reis, wo sich etwa 30 angesehene Männer versammelten, denen wir über
1. Cor. 13 eine Predigt „von der Liebe" hielten. Als der Priester Luka
(Lucas) sah, daß seine geheimen Sachen ans Licht kämen*), so fing er an mit
uns zu streiten und sagte: „wir werden es machen wie unser Vater und unsre
Vorfahren!" Da erzählten wir nun aller den Leuten, wie Abraham es nicht
so gemacht habe, wie sein (ungläubiger) Vater Tarah u. s. w., und da sie
sahen, daß wir mit unsern Worten Recht hatten, so tadelten sie den Priester,
und er ward beschämt.
Ein Mann bat uns um Erlaubniß, während der Fasten die Wasserpfeife
(Kalium) rauchen zu dürfen. Wir suchten in den Synvdalbeschlüssen (?) nach
und fanden eine Stelle, wo geschrieben stand: „das kleine Fasten wird von
Mönchen und alten Leuten gehalten, wenn sie wollen, sonst nicht," und gaben
ihm deshalb Erlaubniß. Darüber freute er sich sehr und sagte: „ich möchte
mich für Euch hingeben, o Diaconen! meine Seele erfreut sich an der Wasser¬
pfeife."^) Dann stimmten wir das Lied: „Ha, die Stimme des Erbarmens
u. s. w." an und sagten ihnen dann Lebewohl, um uns nach Mar Jschak
zu begeben. Die Priester, Diaconen und der Reis gingen mit uns fort und
begleiteten uns voll Freude. Sie baten uns, sie noch einmal zu besuchen und
gaben uns einen Mann mit. In Mar Jschak kehrten wir beim Reis Matlub
ein. Als wir am Abend predigten, ließ sich ein Mann Namens Urias auf
die Knie nieder, streckte uns die Hand entgegen und sprach: „Zeigt mir den
Weg des Fastens.^damit ich ihn betrete. Ihr sagt immer blos: „Thut Buße
und quält Euch nicht u. s. w." So lange wir auf der Welt sind, geschieht
jenes doch nicht; stellt uns deshalb die Fastenregel fest." Da sagten wir:
„Wenn Du Gottes Gebote nicht hältst, so hältst Du auch die Fastenregel nicht."
Er aber erwiederte: .Von Jugend auf habe ich in den Fasten nicht einmal
die Wasserpfeife geraucht; wie sollte ich wohl nicht die Fastenregel halten?"
Er hielt sich also für einen gerechten Menschen, weil er den Beginn der Mo¬
nate und die Feste (nach denen sich ja die Fasten richten) kannte. Da sagten
wir ihm: „Es ist Dir also etwas Geringes, ein sehr guter Mensch zu sein.
B>s jetzt hast Du nur gefastet, so lange Du satt warst. Nun mußt Du Dich
aufmachen, in eine Felsenspcilte eintreten und da, ohne einen Menschen zu sehen
und ohne Wisser zu trinken, wie der heilige Aehä*"), ein ganzes Jahr lang
fasten: dann wirst Du vielleicht ein vollkommener Mensch." Ueber diese Regel
wurde er sehr betrübt, aber der N.is Matlub lachte und sprach: „wenn Dir
diese Gebote Gottes zu schwer sind, so halte diese Fastenregel." So ward er
beschämt, wir aber sagten: „lieber Bruder Urias, kannst Du beten?" Er sagte:
„el freilich!" Als wir ihn nun das Vater unser beten ließen, sing er zwar
an, kam aber nicht zu Ende, sondern verwirrte sich. Da lachten die Leute
über ihn, wir aber sagten: „Urias, gieb Dich Christo hin, der wird Dich heilen."
Er schwieg.
Am Montag gingen wir nach Hasar zum Reis Josef. Am Abend
kamen die Bewohner des Ortes zusammen und wir predigten. Ein papistischer
Diaconus aus Gezira stritt sich mit uns, aber er war der Lehre nicht kundig
und ward durch die Zeugnisse der heiligen Schrift widerlegt. Einige Menschen
aus Dschelu (der höchsten Gegend des innern Gebirges), die grade da waren,
finsteren den Leuten in die Ohren: „diese Leute sind Engländer geworden, sie
haben keine Fasten" und säeten so viel Unkraut aus, aber der Reis schalt
sie und.beschämte sie. Auch schrieb er nach Schach, daß man ihnen nichts geben
sollte (me,der Quartier noch Nahrung).
Am Dienstag gingen wir wieder nach Naherwan. Unterwegs überfiel
uns ein Regenwetter, wir verloren den Weg und kamen erst in der Dunkelheit
mit Mühe nach Naherwan, wo wir zwei Tage beim Reis Schimon blieben und
den Leuten predigten.
Von Naherwan wandten wir uns zurück nach Mansuria und von da
gingen wir nach unserm Quartier Mar Aehä. Hier erzählten wir dem (zurück¬
gebliebenen) Musche, welche Liebe man uns bezeigt und MM .gut man Gottes
Worte im Lande Botan aufgenommen habe. Darüber war^ große Freude.
Als der Priester Goriel hörte, daß wir im Lande Botan so aufgenommen
wären, ward er vom Teufelseifer erfüllt und ließ uns durch einige Leute sagen,
daß wir nicht in die Kirche kämen, da wir nicht zu ihrer Religion gehörten.
Wir hörten jedoch nicht darauf und gingen doch dahin; denn wenn das Land
Botan gehört hätte, daß der Priester Goriel uns aus der Kirche gejagt, so
wären viele Leute wieder verstockt geworden.
Als nun das Gebet zu Ende war. redeten wir mit der Gemeinde folgender¬
maßen: „Liebe Väter und Brüder; habt Ihr uns sagen lassen, daß wir nicht
in die Kirche kämen? Wir haben dock, längere Zeit bei Euch zugebracht: was
für eine Irrlehre habt Ihr von uns gehört?" „Keine," erwiederten sie. Da
sagten wir: „O Priester Goriel: was für ein schlechtes Wort hast Du von
uns gehört?" G. „Ihr seid Protestanten. Engländer. Irrlehren" Wir: „O
Priester Goriel, haben wir nicht den ersten Sonntag nach unserer Ankunft aus
Deiner Hand das Sacrament empfangen?" G.: „Ihr habt uns betrogen."
Wir: „Wir haben die Kirchenordnungen, wie Ihr, ebenso Bischöfe, Priester,
Diaconen. Kirchen und den Patriarchen." G.: „Die nehme ich nicht an." Wir:
„Wenn Du die nicht annimmst, so nehmen wir auch Dich nicht an."
Da erhob sich der Reis Pola (Paulus), schalt den Priester und sprach,
indem er uns an die Hand faßte: „Diese Leute sollen zehn Jahre lang in meinem
Hause bleiben! Jeder, der Lust hat, soll kommen und ihnen zuhören; wer keine
Lust hat, kann es lassen." So gingen wir mit dem nerf fort. Darauf schrieben
wir nach Mosul Briefe an Mr. Marsh: bis jetzt ist aber noch keine Antwort
gekommen. Nun kamen mehre Menschen beim Priester zusammen. Einige von
ihnen sagten: „Wir wolle» mit Flinten hingehen und sie umbringen, wenn
auch fünfzehn von uns dabei umkommen sollten!" Andere sagten: „Wir wollen
sie todt schlagen," Andere aber: „Nein, laßt sie. Wir habe» ihre Schule zu¬
nichte gemacht und haben sie von der Kirche abgeschnitten: nun ist es das
Beste, daß wir das Haus des Diaconus Esebaja zerstören, damit später kein
Mensch wieder hierher kommt, um zu predigen."
Nun schrieb der Diaconus Eschaja einen Brief nach Gezira an den Kauf-
mann Mansur, den Bruder des Konsuls (Nassau), über den Zustand der Dinge.
Dieser machte eine Vorstellung an Rüstern Agda. den türkischen Präfecten,
worauf er einen türkischen Gerichtsdiener erhielt und diesen nach ihnen (unsern
Widersachern) sandte. Man brachte nun den Priester nebst zwei andern Leuten.
Als aber die Priester der Papisten, sowie der Diaconus Anton und der Kauf¬
mann Mus« sahen, daß der Priester Goricl unserer Lehre entgegen wäre, freuten
sie sich sehr, machten sich auf, gingen zum Kaufmann Joseph und drangen
folgendermaßen in ihn: »Jetzt ist grade ein Fest; wir setzten unsere Hoffnung
auf Dich: gieb nicht zu, daß man sie ins Gefängniß werfe." So hetzten sie
jhn und erlangten' (durch sein? Vermittelung) ihre Befreiung aus dem Kerker.
Als die Papisten sich so mit ihnen verbündeten, sie ohne Furcht sein hießen
und ihnen allerlei Sachen angaben, wurden sie ganz aufgeblasen. Aber der
Kaufmann Mansur nahm dem Priester Goricl eine Versicherung ab, fernerhin
nichts mehr über unsere Sache zu reden. Er gab diese mit den Worten: „Rede
ich noch, so soll mir der Arm abgeschnitten werden."
Allein, nachdem wir nun nach Mar Aehä zurückgekehrt waren, ließ er uns
doch nicht in die Kirche ein, denn er hatte sich mit den Papisten dermaßen Ver¬
abredet: „Wenn Ihr uns helft, so wollen wir diese Leute wegjagen; können wir
ihnen aber nichts anhaben, so wollen wir lieber Papisten werden, ehe wir Eng¬
länder würden." Auch schrieb er am 4. Januar (1852) einen Brief an den
Patriarchen des Inhalts: „Diese Menschen sind Irrlehrer." Ferner sagte er:
„Niemand, der zu diesen Diaconen hingeht, darf in die Kirche kommen." Der
Brudersohn des Priesters, Diaconus Jschcrk, sowie seine Mutter und sein
Bruder, kamen beständig zu uns zur Predigt. Die Bewohner des Orts kamen
nun zum Priester und sagten: „wenn Dein Brudersohn zu diesen Diaconen
hingeht, so weiden viele Andre das auch thun." Als man aber dem Diaconus
Jschak sagte: „wir wollen nicht, daß Du Nachts zu den Diaconen gehest,"
erwiederte er: „wisset: wenn Ihr uns das Schwert über den Nacken legt, so
wollen wir doch darunter durch zur Predigt gehen." Als er nun am Abend
in die Kirche ging, sagte ihm der Priester Goriel: „Wenn Du zu den Diaconen
gehst, so verlaß schnell die Kirche, ehe noch die Leute kommen, damit Du nicbt
von ihnen beschämt werdest." Doch er erwiederte: „Ich wünscke,>daß Du
mich vor allen Leuten fortjagest; ich schäme mich nicht, denn ich werde nicht
wegen etwas Bösen verjagt, sondern um Gottes willen." Nachdem also die
Gemeinde versammelt war, jagten sie den Diaconus Jschat weg, und er verließ
-die Versammlung. Da sagte auch der Diaconus Ambar, der eigne Bruder des
Priesters: „wenn der Diaconus Jschak aus Eurer Gemeinschaft ausgetreten ist,
so will auch ich das Abendmahl nicht mehr aus Eurer Hand empfangen," und
trat gleichfalls aus. Gott und seine große Macht sei gepriesen, daß er den
Diaconus Jschak aus dem Hause des Priesters Goriel erwählt und sein Herz
dazu sehr erleuchtet hat, Beweise aus der heiligen Schrift herauszunehmen, um
den unwissenden Leuten Antwort zu geben! Viel Eifer hat auch seine Mutter
Marjam; sie sucht die Worte Christi eifrig auf und leistet den Predigern Hilfe
und Beistand.
Am ersten Sonntag im Januar kam endlich aus Mosul die Antwort für
uns, daß man unsere Sache dem Bruder des Consuls übergeben habe. Wir
gingen nun nach Schach zum Predigen, wurden aber nicht aufgenommen, denn
man sagte: „Gewiß hat der Priester Goriel etwas an Euch gefunden und Euch
darum aus der Kirche gejagt; nun können wir Euch auel nicht aufnehmen."
Von dort kehrten wir nach Gezira zurück und sagten zum"Kaufmann Mansur.
dem Bruder des (Consuls) Mr. Rassam: „so steht unsre Sache". Darauf er¬
wiederte er: „In Gezira giebt es keine obrigkeitliche Gewalt, auch ich habe
hier nichts zu sagen, darum geht nach Mosul." Wir sahen ein, daß unsre
Sache in Gezira schlecht stand. Wir kehrten also nach unserm Quartier zurück,
schrieben einige Briefe und sandten sie durch die beide» Diaconen Eschaja und
Jschak nach Mosul. So ging nun unser Werk: alltäglich beteten wir im Hause
des Diaconus Eschaja; wenn wir dann sangen, so sagte» Einige: „da hört
man die Stimme der Esel". Aber die glaubenöeisngr Mutter Marjam nahm.
wenn wir mit der Abendpredigt fertig waren, das, was sie von uns gehört
hatte, mit ins Haus eines Mannes mit Namen Daniel, eines Nachbarn deö
Priesters Goriel, und trug den Leuten das vor, was sie gehört hatte.
Unser Her, Jesus Christus hat durch seine gcoßc Kraft den Daniel und
seine Familie auserwählt. Einst kam Marjam bei Nacht sehr froh zu uns
und sprach: „Ich bringe Euch eine Freudenbotschaft!" Daniel hatte nämlich
nach uns geschickt. Wir gingen nun nach seinem Hause, wo er uns den
Wunsch ausdnickte. daß wir daselbst predigen und singen möchten. Als wir
ihn fragten, ob er sich denn nicht davor fürchtete, daß ihm der Priester Goriel
Schaden zufügen und ihn aus der Kirche ausweisen möchte, sagte er: „nein,
ich fürchte mich nicht".
Nun lasen wir zuerst aus dem Alten Testament und nahmen Beweise
daraus; darüber freute er sich sehr. Wenn wir nun in seinem Hause predigten,
so ward unsre Predigt auch im Hause des Priesters Goriel gehört, weil zwischen
beiden nur ein einziger Zaun war. Darüber ward dieser auf Daniel so zornig,
daß er eines Tages zu ihm sagte: „Es ist besser, daß Du Unzucht begehst, als
daß Du die Predigt dieser Verirrten anhörest." Daniel erwiederte ihm aber:
„O Priester Goriel, wisse, daß wenn ein heidnischer (muslimischer) Mokka käme,
und mir diese Worte unsers Herrn predigte, ich ihn annehmen würde." Da
schwieg er.
An einigen Sonntagen gingen wir ins Haus des Diaconus Markos und
entnahmen der heiligen Schrift Beweise. Dieser nimmt die Wahrheit freudig
auf. Als nun der Priester Goriel sah, wie wir die Leute belehrten, so kam er
wiederholt, um mit uns zu disputiren und unsere Worte zu entkräften. Er
redete mit uns über die alten Gebräuche, wir aber brachten Beweise aus der
heiligen Schrift vor; da nannte er uns Esel.
Als wir von Mosul Antwort bekamen, erfuhren wir, daß die Sahebs da¬
hin geschrieben hätten, wir möchten uns Mühe geben um das Land Botan;
die Brüder in Mosul hatten aber gesagt: „wenn sie ganz hilflos sind, so
mögen sie nach Mosul kommen."
So verließen wir denn Donnerstag den 7. Februar Mar Aehä und gingen
nach Gezira, wo^)ir uns auf ein Kekek (ein Floß, welches durch aufgeblasene
Schläuche getragen wird) fehlen, das im Begriff war, nach Mosul abzugehen.
Mit uus reiste ein papistischer Kaufmann. Unser Kekek war sehr schwer be¬
lastet: seine Ladung bestand aus 6 Menschen, 4 großen Mühlsteinen, SO Paar
Handmühlsteinen und tausend Stück Holz von der Größe eines Harkenstiels.
Am Freitag reisten wir nur zwei Stunden, am Sonnabend zehn. Wir waren
in Angst wegen, der Stromschnellen (?).
Am Sonntag fuhren wir wieder zehn Stunden: wir waren in Furcht vor
dem Wasser und dazu vom Land her vor den Arabern, aber Gottes Macht war
groß und wir wurden aus den Nöthen errettet.
Am Montag 7 Uhr kamen wir in Mosul an und wurden von den Brü¬
dern freudig empfangen. Wir ließen uns beim Diaconus Eramja (Jeremias)
nieder, der uns voll Freude aufnahm und viel Sorge um uns trug. Nach
einigen Tagen gingen Wir mit dem Diaconus Eramja nach Tel Kaf. Er
kehrte um, wir aber blieben vier Tage im Hause des Diaconus Habbe. Eines
Tages gingen wir und setzten uns vor die Thür der Papistenkirche zu einigen
Leuten hin. Als wir ihre Frage, ob wir Christen wären, bejahten, so sagten
sie: „Keiner, der den Papst nicht annimmt, nimmt Christum an." Wir sagten:
„Den Papst nehmen wir nicht an, sondern blos Christum: dies ist uns genug,
da kein andrer Name unter dem Himmel ist, durch den ein Mensch leben kann,
als der des wahren Christus."
Als wir eines Morgens aus dem Ort hinaus gegangen waren, hörten
wir von innerhalb - desselben eine laute Stimme. Wir trafen auf einen Pa¬
pisten mit einem Rosenkranz, i'n der Hand und fragten ihn, was das für eine
Stimme wäre. Er gab uns keine Antwort, und als wir ihn noch einmal
fragten, schalt er uns und sprach: „merkt ihr denn nicht, daß ich bete." Wir
sagten: „wir wußten nicht, daß Dein Pensum noch nicht vollendet wäre; geh
und vollende es." So ging er fort mit den Lippen flüsternd und in der Hand
den Rosenkranz umwendend. Wir kehrten darauf nach Mosul zurück.
In einer Sonnabendsnacht kamen wir im Hause des Mr. William zu¬
sammen um zu singen, und sahen daselbst einen Jezidi, einen Teufelsanbeter*).
Wenn die Jezidis hören, daß irgend jemand den Namen des Satans anwen¬
det, so wollen sie ihn tödten. Man muß ihnen gegenüber den Satan Taus
Makel nennen. Da wir dies nicht wußten, so sagten wir einem Knaben:
„Sage, verlangst Du nach dem Satan?" Als der Jezidi den Namen des
Satans hörte, schrie er vor Grimm auf. Er hatte einen Chandschar (krummen
Säbel) um; mit dem wollte er sich lieber durch den Pascha den Kopf ab¬
schneiden lassen, als daß der Name seines Herrn, des Satans, ausgesprochen
Würde. Dies ist ein schönes Beispiel für die Cuuslen: wenn er bereit war,
sich den Kopf um des Satans willen abschneiden zu lassen, wie viel mehr
ziemt es sich für Christen, sich den Kopf um Christi willen abschneiden zu
lassen.
Diese vor einem größeren Publikum in Bonn gehaltenen Vortrage — König
Heinrich der Achte, Eduard der Sechste und Maria Tudvr, Maria Stuart in Schott¬
land, Königin Elisabeth — geben ihrem Inhalte nach ein prägnantes Bild der
kritischen Periode in der Geschichte Englands. Der junge Historiker, dessen erste
größere Arbeit „Karl der Fünfte und die deutschen Protestanten" wir bereits mit
gebührender Anerkennung begrüßten, zeigt in diesen Darstellungen aufs neue hervor¬
ragendes Schilderungstalcnt, dessen Entwickelung stets in gleichem Maße mit der Tiefe
und dem Ernst der Forschungen zu wachsen Pflegt. Eine Bemerkung über den Stil
der Sprache können wir jedoch nicht unterdrücken! sie betrifft die wiederkehrende, auch
in dem andern angeführten Werke hervortretende Eigenheit des Autors, seine Ge¬
danken nicht mit einem Male, sondern mit wiederholtem Ansatz in verschiedenen
Wendungen auszudrücken. Dies kann sehr wirksam sein, wenn es sich um Steige¬
rung handelt und der Leser oder Hörer allmülig auf die Wucht des letzten Ausdruckes
vorbereitet werben soll; indeß sehr oft begegnen wir dieser Erscheinung, wo jene
Absicht nichl vorliegt und wir erhalten dann den Eindruck der Unsicherheit, ein Um¬
stand, der grade bei so lichtvoller Erzühlungsweisc doppelt auffüllt. Er erklärt sich
wohl aus der Gewohnheit mündlichen Vortrags; wie auch das Tempo der Schilde¬
rungen des Herrn M. stets an Rede erinnert; dann aber müssen wir doch darauf
aufmerksam mache», daß das geschriebene Wort etwas strengerer stilistischer Sichtung
bedarf. Diese möchten wir außerdem auch für eine Reihe gallisirender Satzcon-
structioncn in Anspruch nehmen, in welchen sich eine nicht durchweg zu rechtferti¬
gende Eigenthümlichkeit der Schule ausspcicht.
Dieselbe emsige und geschickte Hand, welcher schon früher die Uebersetzung, 1857
von schwedischen, 1858 von dänischen Volksliedern verdankt wurde, bringt.hier einen
dritten Band, der nach der Vorrede zu urtheilen, die ganze Sammlung abschließen
soll. Die Bearbeitung zeigt dieselben Vorzüge, wie die früher erschienenen. Anmuth
und Beweglichkeit des Ausdrucks, feines Gefühl für das specielle Colorit der Originale
und Sicherheit in der Wiedergabe desselben sind ihre Hauptvorzüge. Im Anhange
sino — der Gleichartigkeit der Stoffe wegen —- auch einige altniedcrländische, deutsche
und nachtragswcisc noch mehre schwedische Volkslieder beigegeben. Falls der Autor¬
name Rosa Warrens nicht etwa ein Pseudonym ist und das Publikum mit Sicher¬
heit die Uebersetzung dem schönen Geschlechte zuschreiben darf, so haben wir hiermit
das zweite die Voikslicderliteratur wahrhaft fördernde Werk zu registriren, welches
Frauenhänden verdankt wird. Wer in diesen, Gebiete auch nur flüchtig sich um-
gesehen hat, weiß, daß die erste Stelle der hochverdienten Talvj (Therese Adelgunde
Louise v. Jakob) gebührt.
Der Schluß des vorigen Aufsatzes hatte dargestellt, daß sowohl die öst¬
reichische als auch die preußische Macht in zwei ungleichen Theilen aufgestellt
war. Benedek mit 186,000 Mann Infanterie, 16.800 Pferden und 644 Ge¬
schützen*) gegen Oberschlesien, ihm gegenüber der Kronprinz, die Hauptmacht
92,000 Mann Infanterie, 12,500 Pferde und 348 Geschütze bei Neisse, dazu
das Corps Stolberg 7,800 Mann Infanterie, 1,800 Pferde und 6 Geschütze
südlich Ratibor unmittelbar an die Grenze bis Oderberg u. s. w. vorgeschoben.
Andrerseits der General Graf Clam-Gallas mit 55,000 Mann Infanterie,
6,400 Pferden, 164 Geschützen gegen Sachsen und Niederschlesien, ihm gegen¬
über zwischen Dresden und Görlitz der Prinz Friedrich Karl mit 106,000 Mann
Infanterie, 15.000 Pferden und 426 Geschützen.
Wenn man diese Zahlen einfach vergleicht, so mußte nach dem Gesetz
militärischer Gravitation nothwendig derjenige Theil den Gang des Krieges
bestimmen, der seine Uebermacht zuerst ins Gewicht legte. Am leichtesten war
dies für den Feldzeugmeister Benedek, der mit 186,000 Mann Infanterie gegen
nur 100,000 Mann Infanterie des Kronprinzen in Schlesien eindringen und
hoffen konnte, den letzteren zu schlagen, ehe Friedrich Karl, der fünfundzwanzig
Meilen entfernt vom Kronprinzen stand, heran sein konnte. Benedek hatte mit
seinem Corps nur zwölf Meilen bis Neisse zurückzulegen und davon acht noch
innerhalb der östreichischen Staaten, also mehr oder minder verdeckt vor den
Augen des Feindes. — Ging Benedek mit voller Macht gegen Neisse vor, zog
er dabei das Corps Clcun-Gallas, das zum Theil östlich von Prag und auch
nur zwanzig Meilen von Neisse stand, rasch heran und ließ er gegen Prinz
Friedrich Karl nur die Sachsen und einige Cavalerie stehen, so konnte der
Kronprinz sich nur dadurch retten, daß er sich auf Friedrich Karl zurück zog
und Schlesien zum größten Theil preisgab. Ein moralischer Schlag, der für
Preußen mit seiner jungen Armee und in seiner gewagten Unternehmung gegen
ganz Deutschland von der höchsten Bedeutung war. und der das Schicksal des
Krieges drehen konnte, obgleich die preußische Armee sich so viel besser ergab
als die östreichische. Die schlesischen Zeitungen athmeten denn auch vor Beginn
des Krieges eine wohlbegründete Sorge vor dem Einfall der östreichischen
Truppen. — Daß Benedei" den ihm durch die Lage gebotenen Vortheil nicht
nutzte, sondern sich Vom Feinde bestimmen ließ, war ein großer strategischer
Fehler. Die inzwischen bekannt gewordenen Verhandlungen zwischen Bayern
und Oestreich beweisen aber, daß letzteres sich verpflichtet hatte, den Angriff
abzuwarten, daß Benedek also nicht angreifen durfte. Wie eine Regierung
solchen Pakt, der dem Gegner vorweg ein moralisches Uebergewicht giebt, An¬
gesichts eines großen Krieges eingehen kann, ist nur dann erklärlich, wenn man
annimmt. Oestreich habe selbst da noch nicht an den Krieg geglaubt, als es
Preußen durch den Bundcsbeschluß vom 14. Juni terrorisirte. Der Kaiser Franz
Joseph, wie die ganze östreichische Armee unterschätzten ihren Gegner vollkommen,
wie ja alle wiener Zeitungen, und noch mehr die von Benedek für die Regie¬
rung des feindlichen Landes schon vorräthig gedruckten und von den Preußen
später gefundenen Proklamationen und Instruktionen beweisen. An die Echt¬
heit des von den Zeitungen publicirten bcnedekschen Armeebefehls vor Beginn
des Krieges kann man nicht glauben, er verriethe zu viel Unkenntniß und Ueber¬
hebung.
Benedek überließ also seinen Gegnern die erste Bestimmung des Operations¬
terrains. Da er es that, mußte er nach den preußischen Aufstellungen, die er
doch mehr oder minder genau kennen konnte, ja, die er kannte, wie später
aufgefangene Briefe u. s. w. beweisen, die Hauptkräfte gegen den Prinzen
Friedrich Karl disponiren. Wenn Benedek seine Armee, statt sie zu theilen,
vereinigte und in der Gegend von Pardubitz aufstellte, so wurde der preußischen
Armee die Vereinigung auf böhmischen Boden fast unmöglich, der Kronprinz
konnte im Angesicht der ganzen östreichischen Armee nicht die schlesischen Ge¬
birge Passiren. Schon Friedrich der Große hatte die Richtigkeit dieser Behaup¬
tung erfahren. Er hatte wiederholt versucht, auf denselben Wegen, die später
der Kronprinz einschlug, in Böhmen einzudringen, während eine andere Armee
von Sachsen her demonstrirte, aber vergebens. Die Anlage der beiden Festungen
Josephstadt und Königsgrätz allein weisen auf die strategische Bedeutung hin,
die man jener Gegend seit den Ersahrungen der schlesischen Kriege beilegte. —
Benedek muß geglaubt haben, daß die Preußen durch Oberschlesien, wohin diese
demonstrirten, gegen Mähren und Wien vordringen wollten, aber auch dafür
geben Friedrich des Großen zahlreiche Feldzüge in diesen Gegenden eine hin¬
reichende Lehre. Hier hat er nie glücklich operirt, Mähren mit der vorzüglich
gelegenen bedeutenden Festung Olmütz bietet kein Terrain für den Gebrauch
großer Armeen. Böhmen hat immer die großen Schlachtfelder geboten. /
Die preußischen Truppen erhielten also den Befehl zur Offensive nach
Böhmen, ihnen wurde Gitschin als Vereinigungspunkt von Neisse, Görlitz und
Barchen her gegeben. Der Befehl muß ungefähr den 20. Juni in die Hände '
der Heerführer gekommen sein, denn um diese Zeit beginnen sie ihre Bewegungen.
Von Bautzen und Görlitz hatte Prinz Friedrich Karl circa zwölf Meilen nach
Gitschin. der Kronprinz aber von Neisse außer den kolossalen Gebirgspässen
zwanzig Meilen. Man durfte ferner überzeugt sein, daß sofort bei Beginn der
Bewegungen in den preußischen Armeen, die sich in Sachsen gar nicht, in
Schlesien nur wenig geheim halten ließen, auch die Oestreicher sich entsprechend
in Bewegung setzen würden. Da nun diese Bewegung der Oestreicher ungemein
beschleunigt werden konnte durch die Eisenbahn, an der die Truppen von Brünn
bis in die Gegend von Königsgrätz lagen, diese Eisenbahn aber direct an die
vom Kronprinzen zu überschreitenden Pässe führte, hier also eine Ueberraschung
unmöglich erschien, so war menschlicher Berechnung nach die Vereinigung der
preußischen Armeen nur dann möglich, wenn der Prinz Friedrich Karl seine
Uebermacht gegen Clam-Gallas voll zur Geltung brachte, in breiter Front und
starken Märschen vordringend demselben keine Zeit zur Vereinigung ließ, ihn
vor sich hertrieb und durch eine Aufstellung in guter Position vorwärts Gitschin
dem Kronprinzen die Desiieen frei erhielt.
Doch der Krieg ist ein Wetter, dessen Gang zuweilen durch die geheimsten
Tiefen der Menschennatur bestimmt wird, er entzieht sich daher allen abstracten
Berechnungen. Fast das gerade Gegentheil trat ein. Prinz Friedrich Karl kam
ungemein vorsichtig vor. wir werden ihn seine ganze Armee stets dicht vereinigt
halten und stets für seine Flanken besorgt sehen, weshalb er nur langsam
marschiren und seinen Gegner nur fechtend vor sick her treiben konnte. Der
Prinz schlug erst am 29. bei Gitschin gegen Clam-Gallas. während der Kron¬
prinz bis zu diesem Tage mit drei Corps schon vier feindliche Corps aus dem
Felde geworfen, mit dem einen, dem ersten Corps selbst einen Ecken erlitten
und doch die Elbübergänge, an denen Friedrich der Große oft gescheitert war.
erobert hatte. — Ehe wir zu den einzelnen Bewegungen selbst übergehen, sei
hier gleich auf den Unterschied hingewiesen, welcher sich in den beiden Heer¬
führern durch die kurzen Tage ihrer Thätigkeit entwickelte. Während Prinz
Friedrich Karl in seinen Operationen sowohl, als auch in der Schlacht sich
immer concentrirt und frontal bewegt, sehen wir den Kronprinzen immer eine
große Front einnehmen, den Feind in der Flanke bedrohen und anfassen, die
eigene Rückzugslinie vergessen, die des Feindes immer scharf ins Auge fassen.
Die Art des Prinzen- Friedrich Karl ist wohl wissenschaftlich richtiger und ent¬
spricht der systematischen Schule des Erzherzogs Karl, während der Kronprinz,
nur den Erfolg vor Augen, mit seinen Leistungen an die schönsten Thaten aller
großen Feldherrn erinnert. Die Behandlung der einzelnen kriegerischen Acte
wird dies näher darthun.
Prinz Friedrich Karl hatte am 23. Juni seine Corps (General v. Herwarth
war mit der Elbarmee bis zum Eintreffen des Königs seinem Befehl untergeben)
bei Zittau und Rumburg an der böhmischen Grenze vereinigt und rückte an
diesem Tage Morgens in das östreichische Land ein, ohne vom Feind etwas
Anderes als Cavaleriepatrouillen zu treffen. Am 24. standen die Corps bei
Reichenberg und Gabel, drei Meilen Front einnehmend. Am 2S. hielt die
Armee einen Ruhetag, einzelne Abtheilungen, zumal der Elbarmee. die zurück¬
geblieben waren, näher heranziehend. Graf Clam-Gallas benutzte diese Zeit
seinerseits, um unter dem Schutz einer Arriöregardenstellung bei Turnau und
Hünerwasser seine längs der Grenze detachirten Brigaden hinter der Jser zu
vereinigen. Dieser Ruhetag der preußischen Armee, ehe der Feind erreicht und
getroffen war, muß als ein Fehler bezeichnet werden. Er gab den Vortheil der
Ueberraschung Preis und gestattete dem Feinde, die eigentliche Angriffslinie zu
erkennen. Es war ein doppelter Fehler, da das Vorrücken an den folgenden
Tagen um so schwerer war, da die Pässe für den Kronprinzen um so später
frei wurden. Am 26. ging Prinz Friedrich Karl mit der ersten Armee gegen
Turnau, mit der Elbarmee gegen Hünerwasser vor und kam an beiden Orten
zum ersten Kampf in diesem Feldzuge. Die Division Horn, welche die Avant¬
garde der ersten Armee hatte, traf bei Liebenau nördlich Turnau aus die feind¬
liche Arriöregarde. Das Gefecht beschränkte sich auf einen kurzen Artilleriekampf,
unter dessen Schutz sich die Oestreicher hinter die Jser zurückzogen, Turnau dem
Gegner ohne Gerecht preisgebend.
General v. Schöler mit der Avantgarde der Elbarmee nahm in raschem
Anlauf das leicht besetzte Hünerwasser und ging den von Münchengrätz mit
mehren Bataillonen vordringenden Oestreichern entgegen. Diese stürmten mit dem
Bajonnet muthig heran, aber ein kurzes Schnellfeuer brachte sie nach bedeuten¬
den Verlusten sehr rasch zurück. General v. Schöler schob seine Spitzen gegen
Münchengrätz vor, was von den Oestreichern stark besetzt war.
Prinz Friedrich Karl hatte die Jserlinie erreicht und bei Turnau bereits
überbrückt. Er stand nur noch drei Meilen von dem südöstlich gelegenen und
als Ziel gesteckten Gitschin; er glaubte aber nicht eher dorthin sich dirigiren zu
können, als bis er die Jserlinie ganz besetzt und den Feind von Münchengrätz
Vertrieben hätte. Den General v. Herwarth, der dort, wie sich später ergab,
mit Uebermacht stand, mochte er nicht für hinreichend erachten. Der Prinz
dirigirte auch die erste Armee dorthin und ließ damit die große Aufgabe über
dem Nächsten aus dem Auge. General v. Horn mußte noch am 26. seine
Truppen rechtsweg gegen das halbwegs nach Münchengrcitz gelegene Podol
dirigiren. Die Spitzen unter General v. Böse gingen, als sie Abends gegen
8 Uhr bei Podol ankamen, sofort zum Angriff vor und trafen hier auf die
als „eiserne" Brigade von Schleswig her bekannten sieben Bataillone des General
Gondrecourt. Die Preußen, nur zwei Bataillone stark, konnten trotz aller
Energie kein Terrain gewinnen, bis General v. Bose mit noch zwei Bataillonen
herankam und nun rasch in dem Ort aufräumte. Bei hellem Mondschein hatte
der Kampf in den Straßen gewüthet, um Mitternacht waren die Preußen Herrn
des Kampfplatzes und hatten 300 Gefangene gemacht.
Den 27. Juni verwandte Prinz Friedrich Karl wiederum dazu, die ganze
Armee gegen Münchengrcitz zu concentriren. Am 28. griff er die Oestreicher in
der dort genommenen Stellung, die nur eine Meile von der am 26. genomme¬
nen Linie lag, an. — Die Oestreicher hatten die ihnen gewährte Ruhe benutzt,
um die durch den Muskyberg, ein steiles Felsplateau, beherrschte und in der
Front durch die scharf eingeschnittene Jser gedeckte Position einzurichten. Da
aber bei Podol schon der Uebergang der Jser verloren war, Prinz Friedrich
Karl über mehr als doppelte Kräfte disponirte, den Gegner von allen Seiten
angriff und die preußische Infanterie den Muskyberg. wie schon erwähnt, auf
einem steilen Felspfad in den Rücken nahm, so wichen die Oestreicher nach
kurzem aber scharfem Gefecht der Umarmung des Gegners aus und zogen sich
gegen Gitschin zurück. Die Preußen verloren 97 Mann, die Oestreicher allein
an Gefangenen 1,600 Mann. — Prinz Friedrich Karl schob nunmehr am 30.
den General v. Herwarth noch weiter nach Westen, die Jser hinunter gegen
Jung-Bunzlau, wo aber kein Feind war, während die erste Armee den Befehl
hatte, den Oestreichern auf Gitschin in der Art zu folgen, daß das vierte
Armeecorps, welches bei Münchengrcitz gefochten hatte, in die Arrieregarde
kam, das zweite und dritte Corps aber von Turnau und Podol her die Tete
nahmen.
Graf Clam-Gallas hatte bei Gitschin seine gescnnmten Streitkräfte ver¬
einigt und beschloß in dieser Stellung sich zu setzen, um den von Süden heran¬
rückenden Corps Benedeks die Zeit zu verschaffen, zunächst den Kronprinzen in
den Defileen anzugreifen und zu schlagen. Prinz Friedrich Karl, der bis dahin
immer vereinigt gewesen war, hatte sich für den Tag. wo er zuerst in die Rich¬
tung überging, welche ihm vorgeschrieben war, und die ihn gegen die ganze
benedeksche Armee führte, getheilt. Der Prinz war aber immer noch stärker wie
sein Gegner und die beiden T6ten, Divisionen des zweiten und dritten Corps,
Werber und Tümpling, genügten, um die vereinigten Kräfte des Grafen Clam-
Gallas aus ihrer festen Stellung zu vertreiben.
Die Oestreicher hatten ihre Stellung eine Meile nördlich und nordwestlich
von Gitschin genommen, eine Brigade auf der Straße nach Münchengrätz und
Podol. der Nest aber, vier Brigaden Oestreicher und eine Division Sachsen auf
der Straße von Turnau; eine Division Sachsen in Reserve hinter Gitschin. Es
liegen uns außer verschiedenen preußischen Relationen von dem Gefecht ein
östreichischer und ein sächsischer Bericht vor. Aus dem ersteren sei hier
folgende Stelle wörtlich wiedergegeben: „Es ist merkwürdig und für die Art
unserer Kriegführung im Norden bezeichnend, daß die preußische Taktik, dem
Gegner gleichzeitig in Flanke und Rücken zu fallen und ihn da. wo er am
schwächsten ist, stets mit Uebermacht anzugreifen, bei jedem, wenn auch noch so
kleinen Gefecht dieses Feldzugs ungehindert durchgeführt werden konnte. Was
vermochte auch die glänzendste Tapferkeit :c. gegen die überlegene Manövrir-
kunst, die bessere Führung und die weit vorzüglichere Schußwaffe auszu¬
richten?"
Die Corps des Prinzen Friedrich Karl waren erst spät aufgebrochen und
erreichten erst nach 5 Uhr die feindlichen Spitzend Um 6 Uhr begann das
Gefecht, das sich von Seiten der Division Tümpling um den Besitz zweier das
Terrain beherrschenden Höhen drehte. Die von den östreichischen Truppen be¬
setzte westliche Höhe ging nach IVs Stunden verloren, während die Sachsen
sich auf ihrem rechten Flügel behaupteten; durch das Zurückweichen der
Oestreicher aber und zumal durch das siegreiche Vordringen der Division Werber
gegen die eine, ganz im Westen stehende Brigade Ringelsheim, wodurch Gitschin
und die Rückzugslinie bedroht ward, wurden auch die Sachsen gezwungen,
zurückzugehen. Der sächsische Bericht sagt, daß noch hinreichend Reserven zur
Hand gewesen seien, daß aber um V»9 Uhr ein Befehl Benedeks eingetroffen
sei, größeren Gefechten auszuweichen und sich auf die Hauptarmee zurückzuziehen.
Wäre das richtig, so hätte das siegreiche Vorgehen des Kronprinzen dem Prin¬
zen Friedrich Karl die Wege geöffnet, während es grade umgekehrt beabsichtigt
war. Die Entscheidung des Gefechts aber hat der Befehl Benedeks keinenfalls
bestimmt, die Preußen drangen auf dem östreichischen linken Flügel so entschieden
vor, daß die Sachsen jedenfalls zurück mußten. Sie vertheidigten ihren Rück¬
zug sehr brav und erreichten ganz geordnet Gitschin. in welches die Division
Tümpling gegen 10 Uhr fechtend eindrang. Es kam in der Dunkelheit hier
noch zu einem mörderischen Straßenkampf, als dessen Resultat dem Sieger eine
große Zahl von Gefangenen zufiel. Die Preußen verloren an diesem Tage
1.276 Mann, machten gegen 2.000 Gefangene und nahmen 12 Geschütze. Aus
dem Gefechte sei noch erwähnt, wie der östreichische Berichterstatter einmal er¬
zählt, daß mehre Bataillone gegen ein preußisches in Compagniecolonnen mit
Tirailleurs entwickeltes Bataillon vorgingen, durch deren Schnellfeuer aber zur
Flucht gezwungen worden seien und daß ein ander Mal der berühmte Reiter¬
general Edelsheim gegen preußische Linien, wie einst gegen die Franzosen bei
Magenta, stürmend vorgegangen sei, dabei aber keinen preußischen Mann
von seinem Fleck getrieben, sondern vor dessen barbarischem Feuer Kehrt ge¬
macht habe.
Die glänzenden Erfolge, welche die Division Tümpling in dem Gefecht
gegen einen übermächtigen Gegner errungen, hatten entschieden ihre Thatkraft
angespornt und sie veranlaßt, noch in der Nacht den Gegner in Gitschin anzu¬
greifen und sich als Lohn der Arbeit ein Unterkommen und etwas zu essen zu
verschaffen. Die Division Werber, welche einen schwächeren Gegner regulär
vor sich her getrieben, machte mit dem Beginne des Abends Halt und fand
höchst überrascht am andern Morgen den Feind nicht mehr, wohl aber den
Freund vor sich. — Am 30. Juni rückte Prinz Friedrich Karl mit der ganzen
ersten Armee durch Gitschin und schob seine Vorposten bis Horie oder Horsitz.
während General v. Herwarth den Befehl erhielt, von Jung-Bunzlau aus nach
Liban wieder auf den rechten Flügel heranzukommen. Am 1. und 2. Juli con-
centrirte der Prinz seine sämmtlichen Truppen in die Linie Horsitz-Smidar und
eröffnete die Verbindung mit dem Kronprinzen, der am 30. Juni sich ebenfalls
Gitschin genähert hatte.
In den Tagen des 30. Juni, 1. und 2. Juli hatte Prinz Friedrich Karl
ungefähr drei Meilen zurückgelegt und dabei seinen Truppen die so nothwendige
Ruhe gegönnt. Die Armee halte vom Ueberschreiten der Grenze an bis Horsitz,
vom 23. Juni bis 2. Juli, also in zehn Tagen zwar nur eine Entfernung von
13 Meilen zurückgelegt, aber sie war doch viel marschirt, war die ganzen Tage
unterwegs gewesen und hatte oft Mangel an Verpflegung gelitten, einmal,
weil nicht die gerade Linie innegehalten war und weil bei der Anhäufung der
Truppen aus derselben Straße diese nicht vorwärts und die Prooiantcolonnen
von hinten nicht vor konnten, die Gegend selbst aber zur Ernährung der Massen
nicht hinreichte. Am 2. Juli traf der König in Horsitz ein und übernahm den
Befehl über die Eid-, erste und zweite Armee.
Im nächsten Aufsatz wollen wir den Kronprinzen auf seinem beschwerlichen,
aber ruhmreichen Wege bis hierher begleiten.
Noch ist es so lange nicht her, daß das Studium der provenzalischen Lite¬
ratur und Sprache mit einigem Erfolg betrieben wird. Nachdem die wenigen
Versuche des sechzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts theils zu keinem
auch nur vorläufigen Abschlüsse geführt hatten, theils unbeachtet geblieben waren,
gelang es im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zuerst der rastlosen
Thätigkeit Naynouards, jenem Studium zur Anerkennung seiner Bedeutung
innerhalb der modernen Wissenschaft zu verhelfen und durch Veröffentlichung
von Quellen und Hilfsmitteln zu deren Verständniß Andere zur Weiterführung
des von ihm Begonnenen zu veranlassen, wenn auch ihre Zahl in Frankreich
immer noch eine verhältnißmäßig geringe geblieben ist. August Wilhelm von
Schlegels Buch führte Naynouards erstes Werk schon zwei Jahre nach dem
Erscheinen des ersten Bandes in Deutschland ein, wo schon im folgenden Jahr¬
zehnt- Friedrich Diez seine zwei die Dichtung und das Leben der Trobadors
behandelnden Werke herausgab und kurz darauf die provenzalische Sprache im
Zusammenhange mit ihren Schwestern so sorgfältig und mit so eindringendem
Verständnisse ihres Baues darstellte, wie es einzig nach seinen umfassenden
Forschungen auf den Gebieten näher und serner verwandter Sprachen und
Mundarten, einzig bei der Unbefangenheit seines durch keine vorgefaßte Mei¬
nung beirrten Urtheils möglich war. Wenige, aber eifrige Forscher haben seit¬
her in Deutschland, vorzugsweise durch Herausgabe von Denkmälern, zur För¬
derung der Kunde Von provenzalischer Literatur und Sprache mitgewirkt; ja
man hat durch metrische Uebersetzungen auch weiteren Kreisen die südfranzösische
Dichtung des Mittelalters nahe zu bringen versucht (Kannegießer, Geibel, Heyse
haben die von Diez gegebenen mustergiltigen Übertragungen um manche schöne
Leistung vermehrt) und in zerstreuten Aufsätzen verschiedener Art jenen Sänger¬
stand behandelt, von welchem man sich denn doch leicht falsche Vorstellungen
machen könnte, wenn man sich denselben aus lauter solchen Leuten bestehend
dächte, wie Uhland in seinem Rudel und Bertram von ^ om sie darstellt. Bei¬
nahe- ausschließlich sind die zuletzt angeführten Arbeiten dem provenzalischen
Minnesang gewidmet, während die erzählenden Dichtungen daneben sehr zurück¬
treten; und es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß diese «Bevorzugung sich
leicht rechtfertigt. Ward doch schon unter dem Publikum, an welches alle pro-
venzalische Dichtung sich wandte, die Lyrik weit höher geschätzt, so zwar, daß /
z. B. der Trobador diesen Namen nur trug insofern er Lyriker war, daß die
zeitgenössischen Nachrichten vom Leben der provenzalischen Dichter nur der
Minnesinger Erwähnung thun und auch nicht eine epische Dichtung nennen,
daß was uns in wenigen Handschriften von erzählenden Dichterwerken erhalten
ist, neben der Fülle der nordfranzöstschen volksthümlichen und höfischen Epik
beinahe verschwindet. Genug Umstände weisen darauf hin, daß manche epische
Werke auch in Südfrankreich entstanden sind, aber die höhern Stände, deren
Theilnahme allein die Erhaltung literarischer Denkmäler durch die Schrift sichert,
müssen dieselben in ihrer Eingenommenheit für den formvollendeten, dagegen
nicht eben gedankenreichen Minnesang unbeachtet gelassen und sich dazu bequemt
haben, die nationale Sage und den ritterlichen Roman, welche beide ihrem In¬
halte nach unzweifelhaft auch im Süden geläufig gewesen sind, in nordfran-
zöstschem Gewände bei sich aufzunehmen. Thut man somit nur, was die Pro-
venzalen selber thaten, wenn man ihrer Lyrik in erster Linie die eigne und
Andrer Aufmerksamkeit zuwendet, so wird man damit zugleich auch dem Stand¬
punkte der allgemeinen Literaturgeschichte gerecht, welche der erzählenden Dich¬
tung der Provenzalen eine ganz untergeordnete Stellung anweisen muß, während
die Lyrik schon wegen ihrer befruchtenden Wirkung auf Spanien, Italien,
Nordfrankreich und Deutschland auf Beachtung Anspruch zu machen hat.
Es sei vergönnt, an dieser Stelle einmal auf ein Denkmal der provenza-
lischen Epik hinzuweisen, das erst in jüngster Zeit der Wissenschaft in relativer
Vollständigkeit zugänglich geworden ist, auf den von Raynouard und von dem
neuen Herausgeber, Herrn Paul Meyer in Paris, nach dem Namen der weib¬
lichen Hauptperson „Flammea" betitelten Roman. Raynouard hat ihn zuerst
durch Angabe seines Inhaltes und Abdruck von etwa einem Achtel des pro-
venzalischen Textes bekannt gemacht, Herr Meyer im Jahre 1865 das ganze
Werk, begleitet von einer französischen abkürzenden Uebersetzung und einem
Glossare herausgegeben. Das ganze Werk, soweit bei der UnVollständigkeit der
einzigen bekannten Handschrift davon die Rede sein kann; dieser in Carcassonne
aufbewahrten Handschrift fehlt nämlich der Anfang, ein wohl nicht sehr umfang¬
reiches Stück, ferner der Schluß, über dessen Ausdehnung sich nichts auch nur
Wahrscheinliches behaupten läßt, und in der Mitte zeigt sie verschiedene Lücken,
von denen indessen nur eine uns einen wesentlichen Theil der Handlung vor¬
enthält. Was man „Rettung" zu nennen pflegt, wird hier nicht beabsichtigt;
es soll nichts gepriesen werden, dessen Werth bisher bestlitten oder bezweifelt
wurde; keinen Dichternamen wollen wir der leicht vergessenden Welt ins Ge¬
dächtniß zurückrufen, schon weil wir nicht wissen, wem wir „Flammea" ver¬
danken; auch dem Werke soll kein Kranz gespendet werden. Wir haben es mit
ihm zu thun als mit einer Erscheinung, welche für die Welt, aus der sie hervor¬
gegangen, in verschiedenster Hinsicht bezeichnend ist, und an welcher sich die
mancherlei Seiten, von denen die Geschichte im weitesten Sinne sich an ihre
Ausbeutung machen kann, mit Leichtigkeit nachweisen lassen.
Graf Guido von Nemours genehmigt, nachdem er sich mit seinen Rittern
und seinem Weibe darüber berathen, die Bewerbung Archimbalds, des Herrn
von Bourbon, um die Hand seiner Tochter Flammea. Archimbald reist, sobald
er es erfährt, zu seiner ihm noch unbekannten Braut und ihren Eltern, und es
wird an dem Hofe von Nemours aus Anlaß der Hochzeit ein glänzendes Fest
gegeben. Darauf eilt er zurück, um seiner Gemahlin würdigen Empfang
zu bereiten. Der König, den er dazu geladen, geleitet Flammea in ihre neue
HeiMth. überhäuft sie apele dermaßen mit Aufmerksamkeiten, daß die Eisersucht
der mit anwesenden Königin rege wird. Sie äußert gegen Archimbald ihre
Muthmaßung eines Einverständnisses zwischen dem König und der Neuver-
mählten, und er, so wenig er es eingestehen will, schenkt ihr Glauben; ja so
fest ist bald seine Ueberzeugung von der Untreue der arglosen Gattin, daß,
nachdem die Festlichkeiten vorüber und die Gäste alle verreist sind, er ein ganz
andrer wird, der frühern frohen Ritterlichkeit des Sinnes und der Lebensweise
vergißt und durch seine offen zur Schau getragene Eifersucht sich zum Gespötts
der Leute macht. Er hält Flammea sammt zweien ihrer dienenden Fräulein
in strengsten Gewahrsam, so zwar, daß er selbst ihnen die nöthige Speise an
ein, Fensterchen des Gefängnißthurmes bringt, in der Kirche, welche er an allen
Sonn- und Feiertagen mit seiner Gemahlin besucht, ihr einen Breterverschlag
mit schmaler Oeffnung als Platz anweist und auch in die berühmten Bäder
des Ortes sie nur zur größten Seltenheit und mit äußerster Vorsicht führt. —
Zwei Jährte dauerte dies qualvolle Leben. Um dieselbe Zeit lebte in Burgund
ein Ritter, den Natur und Erziehung mit allem ausgestaltet hatten, was einem
Mngling Po.» hohem Stande zur Zierde gereicht, und welcher Wilhelm von
Revers hieß. Noch kannte er die Liebe nur vom Lesen der Schriftsteller, die
von ihr handeln; da er aber wohl wußte, daß sie ein Erfordernis) ritter¬
licher Jugend sei, so folgte er der Aufforderung der Frau Minne, sein Herz
der unglücklichen Flammea zu schenken, von deren Lobe jedermann voll war.—>
Er reist nach Bourbon, steigt daselbst in der Herberge des Badewirthes Peter
Guido ab., welchen er durch seine Freigebigkeit bald ganz für sich einnimmt,
unh erchält ein Zimmer angewiesen, von dessen Fenster er den Thurm vor
Augen, Hot, darin der,^ Gegenstand, seines Sehnens weiltj. In der Kirche, welche
er am ersten Sonntag, nqch Ostern, dem Tage nach seiner Ankunft, besucht,
erblickt er Flammea zum ersten Male, ohne jedoch von ihr bemerkt zu werden
oder sie anreden zu können. Er beweist bei diesem Anlaß eine seltene Ver¬
trautheit mit allen kirchlichen Uebungen und ungewöhnliche Geschicklichkeit im
Kirchengesang, welches beides ihm in der Folge sehr zu Statten kommt. Der
Knabe Nikolas, welcher dem Priester in den Verrichtungen seines Amtes bei¬
steht und nach der Messe den Versammelten den Segen giebt, indem er dieselben
eine Stelle seines Psalmbuches küssen läßt, macht unsern Verliebten übergluck-
lich. da er ihm die Stelle zeigt und damit möglich macht, das Blatt, welches
Flamencas Lippen berührt haben, gleichfalls tausendmal an den Murtd zu
drücken. Im Traume der folgenden Nacht erscheint ihm die Geliebte und giebt
ihm, nachdem sein Flehen ihr Herz gewonnen hat, selbst den Rath, der Stell¬
vertreter des jugendlichen Ministranten zu werden, welcher auch ihr in der
Kirche den Segen zu geben Pflegt, weil er so bei jedem Zusammentreffen in
der Kirche wenigstens ein Wort unbemerkt zu ihr sprechen könne, und macht
ihn ferner darauf aufmerksam, daß es ihm ein Leichtes sein werde, zwischen
seiner Kammer und dem Baderaume, den sie in Peter Guidos Hause zu be¬
suchen Pflege, einen unterirdischen Weg herzustellen, auf welchem er zu ihr ge-
langen möge. Wilhelm schreitet zur Ausführung. Der Priester Justin, den
er wie den jungen Kirchendiener durch Einladungen und Geschenke für sich
gewonnen hat. willigt gern in die Entfernung seines Gehilfen, welchen der
freigebige Ritter für zwei Jahre auf die Schule von Paris schickt, und in die
Vertretung desselben durch Wilhelm, der ihn glauben macht, er gehöre bereits
dem geistlichen Stande an und beabsichtige zur Erfüllung seiner lange versäumten
kirchlichen Pflichten zurückzukehren. Nicht minder dienstbeflissen erweist sich der
Wirth; er räumt ihm. damit er ganz ungestört der Pflege seiner Gesundheit
leben könne, willig auf einige Zeit das ganze Haus ein. Wilhelm benutzt diese
Frist, um durch herbestellte Werkleute den unterirdischen Gang graben zu lassen,
und sein geistliches Amt, um sich mit Flammea zu besprechen^ Am Nächsten
Sonntag nämlich flüstert er, während er ihr das Psalmbuch zum Kusse reicht,
ihr zu: Weh mir! Sie vernimmt es wohl, und beim folgenden Zusammen¬
treffen fragt sie, wie sie es inzwischen in langer Berathung mit den treu erge¬
benen Dienerinnen ausgemacht hat, mit nicht geringerer Vorsicht: Was klagst?
Auf diesem Wege kommt im Verlaufe von drei Monaten, da nur Sonn- oder
Feiertage Gelegenheit zum Wiedersehn geben und die Kürze desselben kaum mehr
als zwei Sylben zu sprechen gestattet, folgendes Gespräch zu Stande: Weh
mir! — Was klagst? — Ich sterb. — Vor was? — Vor Lieb. — Für
wen? — Für euch. — Was thun? — Heile mich. — Doch wie? — Mit
List. — Sorg denn. — Gesorgt! — Und wie? — Ihr geht. — Wohin?
— Ins Bad. — Und wann? — Recht bald. — Es sei! —
So kommt es denn endlich zu einer ungestörten Zusammenkunft und, da
Flammea durch Vorgeben einer Krankheit ihren Gatten bestimmt, häufige Gänge
ins Bad zu erlauben, zu mehrern. Und wenn auch Archimbald sie jedesmal
ins Haus Peter Guidos geleitet, so bemerkt er doch von der mit einer Stein¬
platte bedeckten Mündung jenes verborgenen Weges trotz alles Spähens nichts
und läßt die Ungetreue bald mit ihren Dienerinnen allein; diese selbst
werden dann durch zwei Untergebene Wilhelms, welche dieser in sein Geheimniß
gezogen und in die Badestube mitgebracht hat, so angenehm in Anspruch ge-
nommer. daß sie es keineswegs bedauern, wenn ihre Herrin sie allein läßt und
dem Geliebten in seine Kammer folgt. Vier Monate vergehn über diesen Zu¬
sammenkünften. Endlich verlangt Archimbald von Flammea eine Erklärung
ihres so überraschend heiteren Wesens und der immer geringschätziger gewordenen
Behandlung, welche er von ihr erfährt. Sie rügt seine lästige Eifersucht und
schwört ihm zuletzt, sie werde, wofern er ihr volle Freiheit gewähre, ihre Un¬
schuld grade so gut hüten, als er dieselbe bisher gehütet habe. Es
scheint, Archimbald läßt sich durch diesen Eid bestimmen, nunmehr einen ganz
verschiedenen Weg einzuschlagen; wenigstens finden wir ihn. wo die Erzählung
nach einer an dieser Stelle ganz besonders zu bedauernden Lücke der Handschrift
weiter geht, voll Lebenslust und ritterlichen Unternehmungsgeistes und Flammea
in völliger Freiheit. Sie schickt nun auch ihren Freund in das weltliche Treiben
zurück, in welchem sein Stand ihm einen Platz anweist und er um seiner Vor¬
züge willen überall gern gesehn ist. Archimbald macht seine Bekanntschaft,
gewinnt ihn lieb und ladet ihn zu einem großen Turniere ein, das er in
Bourbon veranstaltet. Wilhelm nimmt natürlich an; das Vertrauen seines
Freundes, den er durch Vorgeben einer Neigung für eine andre Dame täuscht,
gestattet ihm den Verkehr mit Flammea ohne alle Einschränkung, und er zeichnet
sich wie vorher überall so auch bei dem Turniere in Bourbon aus. in dessen
Schilderung/ die Handschrift abbricht, während der Roman sich vielleicht noch
weit hin fortgesponnen hat.
Da der Anfang sowohl als der Schluß der Dichtung uns nicht erhalten
sind, an welchen beiden Stellen mittelalterliche Erzähler sonst wohl ihren Namen
anzubringen Pflegen, auch keine anderweitige bezügliche Angabe sich bis heute
gefunden hat, so sind wir über die Person des Verfassers durchaus im Un¬
gewissen. Nicht so ganz über die Zeit, da er geschrieben. Seine beiläufig ein¬
geflochtenen Klagen über den Verfall des glänzenden Hoflebens früherer Zeiten,
seine weitgehende Neigung zu allegorischer Personification, seine Vertrautheit
mit nordfranzösischen geographischen Verhältnissen und mit Romanstvffen. welche
uns nur in nordfranzösischer Bearbeitung bekannt sind, auch seine Sprache, in
welcher mehrfach das Streben nach Durchführung einer unorganischen Analogie
an der Stelle einer organischen Anomalie sich kundgiebt und die Häufung der
Diminutiven so unangenehm wie etwa bei Apulejus auffällt, dies alles spricht
für die Entstehung des Werkes in jener Zeit, wo der Glanz der provenzalischen
Dichtung bei aller Thätigkeit der Theoretiker zu erbleichen begann, während im
Norden Frankreichs höfische Kunst in höchster Blüthe stand, kurz im dreizehnten
Jahrhundert. Raynouaro hat auch darauf aufmerksam gemacht, daß des Fron¬
leichnamsfestes in dem Festkalender, welchen das Gedicht uns darbietet, nicht
gedacht wird, und daraus geschlossen, der Verfasser habe vor 1264. dem Zeit¬
punkte der Einsetzung jenes Festes geschrieben; mir scheint mit Recht; denn
angenommen auch, der Dichter habe die Handlung ins zwölfte Jahrhundert ver¬
setzt, so würde er doch kaum jenes hohe Fest unerwähnt gelassen haben, wenn
es zu seiner Zeit schon bestanden hätte; er würde ohne Zweifel auch diese Ge¬
legenheit benutzt haben, seine Schulbildung und zugleich den Unterschied zwischen
Einst und Jetzt ins gehörige Licht zu stellen.
Gleich sehr wie der Mangel an Angaben über die Person des Verfassers
ist der Mangel jeglichen Zeugnisses über das Werk zu bedauern. Ob Flammea
viel gelesen und wie der Roman von den Gebildeten jener Zeit aufgenommen
wurde, wir wissen es nicht; kein Minnesinger nimmt den Wilhelm als Bild
für seine Liebe, keiner zählt unser Gedicht unter denen auf, deren Kenntniß von
einem tüchtigen Spielmann zu fordern ist.
Suchen wir von uns aus ihm die Stelle anzuweisen, die ihm gebührt.
Unter den uns erhaltenen Resten erzählender provenzalischer Dichtung, unter
welchem Namen die Reimchronik und die Legende hier nicht begriffen sind, steht
Flammea ziemlich vereinzelt. Flammea ist einmal nicht volksthümliche Dich¬
tung, wie die altehrwürdige Chanson de geste von Girard von Roussillon oder
die aus dem Französischen übertragene von Ferabras. aber auch nicht ein Ritter¬
roman voll merkwürdiger Abenteuer, wie der von Jaufre oder der noch wenig
bekannte von dem ritterlichen Freundespaar Blandin und Guillot. Am meisten
Verwandtschaft zeigt unser Gedicht noch mit der Gattung der Novas (Erzäh¬
lungen), obschon sein Umfang, der übrigens weniger von der Fülle der Ereig¬
nisse als von der Weitschweifigkeit der Darstellung herrührt, ihm auch inner¬
halb dieser Anspruch auf besondere Hervorhebung giebt. Die Novas selbst sind
verschiedener Art; denn die Gattungsnamen der provenzalischen Aesthetik be¬
greifen Arten, welche nach unserem Urtheil nur sehr unwesentliche Merkmale
mit einander gemein haben. Einige sind Allegorien in der Form der Erzählung,
wie z. B. die (unvollständig erhaltene) des Peire Guillen. in welcher der Dichter
berichtet, wie er bei einem Ritt im Sommer zwei Paaren, einem Ritter und
einer Dame, einem Knappen und einem Dienstfräulein begegnet, die sich im
Verlaufe des Gespräches als Liebesgott und Gnade. Treue und Schamhaf-
tigkeit zu erkennen geben und ihm auf manche Fragen allgemeiner und persön¬
licher Natur Rede stehen; oder jene andere eines Ungenannten, welcher sein
Werk rowaus nennt und darin eine Schilderung der Residenz des Liebesgottes
auf dem Parnassus giebt und von einer Besprechung desselben mit seinen ver¬
sammelten Untergebnen, Lust. Geselligkeit. Kühnheit u. s. w. Bericht erstattet.
Andere Gedichte der Gattung Novas sind dagegen förmliche Novellen in Versen,
wie die Anekdote, welche Raimon Vidal in seine ihrerseits wieder novellistisch
eingekleidete Darstellung des Verfalls der provenzalischen Dichtkunst eingefügt
hat, oder der Schwank von der Bestrafung des Eifersüchtigen von demselben
Raimon Vidal, das Mährchen vom Papagei und das Minnegericht, welches
letztere übrigens doch auch die Erzählung eines höchst dürftigen Vorganges bei¬
nahe nur als Stütze braucht, die ein Gefüge von Untersuchungen über Liebes-
rccht und von Citaten aus vielen Trobadoren zu tragen bestimmt ist.
Bei der Feststellung des ästhetischen Werthes, welchen Flammea haben
mag, gedenken wir uns nicht lange aufzuhalten; die oben gegebene Uebersicht
über den Inhalt würde auch nicht genügen, den Leser zu einem Urtheil über
unser Urtheil zu befähigen; denn das Gedicht ist durchaus nicht etwa blos eine
in Verse gebrachte Darstellung der dort zusammengestellten Begebenheiten, und
nicht die Erfindung derselben ist das, worauf der Verfasser ohne Zweifel das
meiste Gewicht legte, wodurch er dichterischen Ruhm zu erlangen und seine Leser
zu ergötzen gedachte. Was in seinen eigenen Augen seinem Werke Werth ver¬
lieh, das ist die breite Ausführung des Einzelnen, die Schilderung der Leiden¬
schaften in ihren sichtbaren Wirkungen oder noch lieber in den umfangreichen
Selbstgesprächen der von ihnen Ergriffenen, das Eingehen aus alle Umstände
der Begebenheiten, auf die Details der glänzenden Feste, der Turniere und
der Gastmähler, auf die Bestandtheile des Anzuges der Hauptpersonen, das ist
ferner die breite Vollständigkeit in der Wiedergabe der Formen des geselligen
Verkehres, der bei Begegnung und Abschied üblichen Reden und ähnlicher
Dinge, und endlich noch die Entfaltung einer vielseitigen Gelehrsamkeit,
welche sich bald in Hinweisungen aus Schriften des Alterthums, bald in Auf¬
zählung von Dichterwerken der neuern Zeit, bald in etymologischen Tifte-
leien kundgiebt. Und in der That eine reiche Bildung, sowohl höfische eilf
literarische, im Sinne seiner Zeit läßt sich dem Dichter der Flammea nicht ab¬
sprechen. Was in ritterlicher Gesellschaft der gute Ton erfordert, ist ihm nicht
minder geläufig als die ganze Summe der Gedanken, in welchen sich seine
Collegen vom lyrischen Fache bewegen. Auch ihm erscheint Minne als eine
Lehnsherrin, die von jedem Menschenkinde einen Tribut zu fordern habe und
die Verweigerung desselben ohne Nachsicht ahnde; in Tüchtigkeit steht er eine
sammt ihrem Gefolge durch Schlechtigkeit des Landes verwiesene Fürstin; Klein¬
lichkeit und Habgier besprechen sich an einer Stelle mit einander, so gut wie
anderswo die Augen des Helden mit seinen Ohren, sein Mund mit seinem
Herzen; ja der Thurm, det Wilhelms Geliebte umfängt, wird an «wer Stelle
von dem schmachtenden angeredet: „Herr Thurm, schön seid ihr auswendig;
doch müßt ihr wohl von innen reiner und lichter sein."
Unser Dichter bewegt sich gern in Spitzfindigkeiten, wie sie sense bei Er-
zählertt selten vorzukommen pflegen; zwar daß er die in der Ecke der Kirche ihrer
Andacht hingegebene Flammea eine Sonne nennt, rechnen wir noch nicht da¬
hin; wenn er aber sagt, die wirkliche Sonne yabe zu jener betenden Sonne
einen Strahl gesandt, und wäre das Wölkchen nicht gewesen, das die Stirn¬
binde Flamencas bildete, dann hatte diese zweite Sonne genügt, den dunkeln
Winkel zu erhellen, so überschreitet er denn doch die Grenzen des guten — wir
wollen einstweilen nur sagen Erzählerstiles. Beinahe unverständlich wird er an
einer andern Stelle, wo er die zwei Seiten, die er an der Minne findet, ein¬
ander gegenüberstellt, ohne sich der Anwendung eines und desselben Wortes für
die zwei Gegensätze zu enthalten: „Minne sogar hilft nicht gegen Minne; denn
wenn Minne gegen Minne hülfe, so liebte ja niemand wie ich und Minne
müßte mir wohl helfen und gegen Minne beistehn." und es thut wahrlich
Noth, daß er erklärend fortfährt: „Denn Minne ist das Uebel, daran man
leidet, und Minne ist das. wodurch das Uebel hervorgebracht wird" (etwa:
Liebesschmerz und Liebessehnsucht). Ein ander Mal drückt er den Gedanken,
daß Wilhelm „einsam nicht alleine". dagegen inmitten fröhlicher Geselligkeit
vereinsamt gewesen sei, mit einem ziemlich ausgesponnenen Wortspiel aus. dessen
Elemente 8olg.t2 (Unterhaltung, Gesellschaft) nebst der Ableitung 8olg.88g,t und
andererseits 8o1 (allein) mit der Ableitung asolat sind. Den Archimbald nennt
er irgendwo Altos eng.rrit, den bekümmerten Eifersüchtigen, und fügt bei:
„wenn ihr wollt, so nennt ihn MArit, g-nos, den eifersüchtigen Ehemann;" und
bald darauf spielt er mit dem zweideutigen mal traixe, dessen Sinn das eine
Mal „schlecht schließen", das andere Mal „unglücklich sein" (eigentlich: „Leid
schleppen") ist. Er verbreitet sich mit Gründlichkeit über die Frage, ob es
für Liebende höhere Wonne sei. sich in die Augen zu schauen oder sich zu küssen,
und kommt dabei zum Schlüsse, die Augen seien die treuerer Vermittler beim
Liebesaustausch, da sie nicht wie der Mund etwas von dem Empfangenen für
sich behalten, sondern es ungeschmälert zum Herzen gelangen lassen, wogegen
dem Kusse als der Bestätigung der innerlich gefühlten Liebeslust ebenfalls eine
gewisse Berechtigung zugesprochen wird. Der Liebende, lehrt unser Dichter
anderswo, soll fester sein denn Diamant; das ist schon an den Namen für
beide zu beweisen (airig-u und g^iraarr). ^.siimav ist ein zusammengesetztes Wort;
es ist gleich amair mehr 21; auch das lateinische g.nig.eng.8, aus welchem jenes
entstanden, zerfällt in aä und g-mas. ^eng,n dagegen ist einfach, unzerlegbar.
Nun aber ist alles Zusammengesetzte vergänglich, das Einfache besteht, wie
denn Hinfälligkeit das Loos aller irdischen Dinge ist, während die Elemente,
aus welchen sie gebildet sind, ewig dauern; also ist auch ein Liebender (amten)
fester als ein Diamant (aximan); was zu beweisen war.
Von eigenthümlicher Wirkung sind in dem sonst ernsthaft gehaltenen Ganzen
vereinzelte scherzhafte Ausdrücke und ironische oder satirische Ergüsse. Dahin
gehört z. B. die Redensart van MMr g. tauig, wossa für „sie gehn zu Tische";
WMi- g, tauig, bedeutet nämlich „das Bretspiel spielen", tauig, messn, aber ist
der „gedeckte Tisch". Dahin die drollige Hyperbel, Wilhelm habe seines Glöckner-
antes so trefflich gewartet, daß selbst der Thurm und das Münster sich darob
verwundert hätten. Dahin ferner die Auslassung über die vielberührte Unfähig¬
keit der Frauen, der Schönheit anderer Evastöchter gerecht zu werden. Flamen-
cas Liebreiz erzwingt sich die Bewunderung aller anwesenden Damen; und,
sagt der Dichter.
Es ist wohl auch ein leiser Spott auf fromme Pedanterei, wenn Wilhelm
seinem Vorgänger im Kirchendienste den Spruch: trat pax in virww (Psalm
121. 7) als denjenigen bezeichnet, welcher bei der Ertheilung des Segens den
Besuchern der Kirche zum Kusse hinzuhalten sei, und daran zur Begründung
die gelehrte Notiz knüpft, David habe nach Vollendung des Psalters dem Sa-
lomo anbefohlen, jenen Spruch täglich zu küssen, und so lange Salomo gelebt
habe, sei der Friede in seinem Reiche nie gestört worden.
Haben wir oben ausgesprochen, daß der Verfasser unseres Romans sich
innerhalb der Grenzen der literarischen Bildung seiner Zeitgenossen bewege, und
müssen wir daran das Urtheil schließen, er habe in dieser Richtung den geistigen
Besitz seines Volkes nicht wesentlich geäußert oder doch nur etwa insofern, als
er in einer umfangreichen Leistung statt einer fernen Vergangenheit oder einer
erträumten Wunderwelt das tägliche Leben seiner Zeit dichterisch verklärt habe,
so dürfen wir in Bezug auf den sittlichen Gekalt seines Werkes ein ähnliches
Urtheil fällen, und hier wie dort liegt im Tadel eine Entschuldigung, in der
Entschuldigung ein Tadel: der Dichter steht weder ästhetisch noch sittlich hoch,
aber er steht so hoch als die Gesellschaft, der er angehört; und andererseits:
der Geschmack und die Sittlichkeit der Gesellschaft, in welcher er gelebt hat.
waren krank, aber er hat nichts gethan, ihnen die Gesundheit wieder zu geben.
Worin die Krankheit lag, was die Zerrüttung des Organismus herbei-
geführt hatte, ob die Scheidung des Volkes in einen gering geachteten Pöbel
und eine von ihm abgewandte höfische Gesellschaft, ob der ungelöste Widerspruch
zwischen einer formell nicht angefochtenen Staatsreligion und einer aus ganz
verschiedenen Quellen fließenden Bildung ihre Ursachen oder selbst nur ihre
Erscheinungsformen waren, sind Fragen, an deren Erledigung wir hier nicht
denken dürfen. Dagegen wollen wir uns nicht versagen, auf einige Symptome
des Uebels hinzuweisen, welche dem Leser unseres Gedichtes mit bedenklicher
Klarheit entgegentreten. Wir rechnen dazu namentlich die traurige Rolle, welche
dem ehelichen Verhältniß zugewiesen ist. Archimbald wird der Gemahl einer
Fürstentochter, die er vor seiner Vermählung nie gesehn, die aber gegen die
Verbindung mit ihm nichts eingewendet zu haben scheint (eine Lücke der Hand¬
schrift gestattet nicht, es mit Bestimmtheit auszusprechen), und ist glücklich in
ihrem Besitze. Flammea ist es nicht minder, oder leidet zum mindesten keines¬
wegs unter ihrer neuen Stellung, und in der That, Archimbald. wie der An¬
fang und der Schluß der Dichtung ihn zeigen, ist ein Mann, an dem wir keine
der Eigenschaften vermissen, die den Ritter auszeichnen. Es stört ihr glückliches
Zusammenleben der Anfall grundloser Eifersucht, dem der Gatte erliegt und
der auf einmal ein Zerrbild aus ihm macht, den grausamen, kleinlichen, ruhe¬
losen Wächter eines Weibes, das jetzt erst anfängt ihn gering zu achten und
sich ohne jedes Bedenken dem Manne hingiebt, der sich ihr aus die abenteuer¬
lichste Weise zu nahen gewußt hat, den sie für einen Geistlichen halten muß
und dessen Liebe der Dichter nicht anders zu erklären weiß als mit den Worten:
„Vom Sagen wußte er wohl, was Liebe sei, da er alle Schriftsteller gelesen
hatte, welche von Liebe sprechen und sich den Schein der Liebe geben; er er¬
kannte, daß er nach den Forderungen, die man an die Jugend stellt, es nicht
lange mehr aufschieben könne, sich in Liebe einzulassen; so dachte er denn, er
wolle sein Herz -auf eine solche Liebe wenden. die ihm fromme und daß man
ihn nicht für einen niedrig denkenden Menschen halte; er hörte von der Ge¬
fangenschaft Flamencas'und wie sie besser und schöner und höfischeren Wesens
sei als irgendwer, und es kam ihm der Gedanke, er würde sie lieben, wenn
es möglich wäre mit ihr zu sprechen." So wird denn die Heiligkeit der Ehe
mit Füßen getreten nicht etwa von solchen, denen Zweifel darüber gekommen
wären, die darin eine veraltete Menschensatzung sähen und etwa die freie Liebe
auf den Thron zu setzen gedächten, auch nicht von solchen, die der Wirbelwind
der Leidenschaft erfaßt hätte und die in der Verblendung eine Grenze über¬
schritten, welche sie sonst anerkennten; nein. Ehe und Liebe oder besser Ehe und
Ehebruch sind hier gleichmäßig Sache der Convenienz.
Und das ist nicht alles; auch die plumpste Verletzung von Treu und
Glauben wird von unserm Dichter entschuldigt oder vielmehr er denkt gar nicht
daran, daß darin eine Schuld liege. Flammea erlangt die volle Freiheit des
Verkehrs durch eine Handlung, die schlimmer ist als Meineid, durch einen
Eid nämlich, dessen Wortlaut ihren Gatten über ihr Verhalten gänzlich beruhigt,
während doch jede Untreue von ihrer Seite sich mit der strengsten Heilighaltung
desselben verträgt. Der Eid gilt noch, man würde ihn nicht zu brechen wagen;
aber man macht ihn durch schlaue Künste zu dem Taschenspielerknoten, der trotz
dem Scheine der Unauflösbarkeit oren leisesten Rucke auseinandergeht. Und
Wilhelm, der ein Ritter, nicht ein schwaches Weib ist, wirbt um die Freund¬
schaft und das Vertrauen des Mannes, den er verräth; und dieser Mann ist,
nachdem einmal Flamencas Schwur ihm die Ruhe des Herzens wiedergegeben
und jede Regung der Eifersucht gebannt hat, keineswegs der beschränkte oder
altersschwache oder geizige oder mürrische oder alle diese Eigenschaften in sich
vereinigende Ehemann, welchen manches französische Fabliau. manche italienische
Novelle zum Opfer der List macht, so daß etwa die Lächerlichkeit seiner Ansprüche
das Mitleid nicht auskommen ließe, welches sonst das ihm widerfahrene Un¬
recht einflößen könnte; sondern er ist dem Begünstigten in jeder Hinsicht eben¬
bürtig. Der Dichter hat auch augenscheinlich die Ahnung oder das Bewußt¬
sein von der sittlichen Bedenklichkeit der von ihm erzählten Vorgänge nicht,
welche manche neuere Darsteller ähnlicher Conflicte (wir erinnern an das fran¬
zösische Theater der letzten Jahre) erfüllt und manchmal bei der Wahl ihrer
Vorwürfe gradezu leitet; er weiß sich offenbar in Uebereinstimmung mit der
Anschauungsweise der Gesellschaft, der er angehört; sie ist es daher auch Vor¬
zugsweise, welche wir aus Flammea kennen lernen.
Wir haben damit schon den Uebergang zu der Besprechung des Werthes
gemacht, welchen Flammea als Geschichtsquelle hat. Die Gesichtspunkte, die
man dabei einnehmen kann, sind aber so verschieden und so zahlreich, daß wir
bei Andeutungen werden bleiben müssen.
Zuerst ein Wort über die Bedeutung, welche unser Werk.als Sprachdenk¬
mal hat. Es liegt dieselbe nicht so sehr in dem Reichthum an Eigenthümlich¬
keiten, welche unsere Kenntniß der provenzalischen Sprachformen zu erweitern
geeignet wären (obschon auch in dieser Hinsicht die Ausbeute für die Sprach¬
lehre nicht gering ist), als vielmehr in der Wörterfülle, welche es entfaltet.
Bekanntlich ist die provenzalische Literatur nicht eben der reichsten eine; die
Zahl der gepflegten Gattungen der Dichtung ist zwar ziemlich bedeutend, aber
die Hauptmasse des uns Erhaltenen vertheilt sich denn doch auf wenige und
noch dazu einander ziemlich nahe stehende Gattungen höfischer Lyrik und ist
darum wenig dazu angethan, den ganzen Reichthum der Sprache zur Ver¬
wendung gelangen zu lassen. Um so willkommener sind dem Lexikographen jene
Werke, welche entweder als Encyklopädien wie das Breviari d'Amor ihm die
Bezeichnung für eine beträchtliche Zahl von Dingen und zwar in einer gewissen
Ordnung vorführen, oder als Romane und epische Gedichte durch den Zweck
der Darstellung des gesellschaftlichen Lebens mit seinen Bedürfnissen und Hilfs¬
mitteln, den Gegenständen des täglichen Bedarfs und des Schmuckes u. f. w.
veranlaßt werden, tiefere Griffe in den Sprachschatz zu thun. Zu der Zahl
dieser letzteren nun gehört Flammea, ja es läßt sich diesem Romane als Quelle
für die provenzalische Lexikographie so leicht kein anderes an die Seite stellen.
Freilich sind der Wörter, die wir nur aus ihm kennen, ohne daß der Zusammen¬
hang oder die augenscheinliche Verwandtschaft mit bekannten einen Schluß auf
die Bedeutung gestatten, nicht wenige, und sie lehren uns aufs neue den Werth
der Bibelübersetzungen und des provenzalischen Reimwörterbuchs schätzen, welche
über den Sinn ihrer nana selten einem Zweifel Raum lassen; in der Mehr¬
zahl der Fälle dagegen legt der Zusammenhang oder des Wortes Bildung die
richtige Uebersetzung nahe.
Mehr nur ein glücklicher Einfall des Dichters als das Wesen seiner
Schöpfung macht dieselbe zu einer wichtigen Quelle für die Geschichte der
Literatur des mittelalterlichen Frankreichs. Wir haben hier jene Stelle im
Auge, wo bei Anlaß der Schilderung des Festes, welches Archimbald bei Fla-
mencas Ankunft in ihrer neuen Heimath veranstaltet, der Dichter sehr eingehend
von der Thätigkeit der zahlreichen anwesenden Spielleute spricht. Er nennt die
Instrumente, welche sie zu spielen Pflegten, Harfe, Fiedel, Flöte, Pfeife, Geige,
Zither, Dudelsack und jene vielen andern, von deren Beschaffenheit und Klang
wir kaum mehr etwas wissen; er verzeichnet die Gauklerkünste, womit sie den
Gästen die Zeit vertrieben, das Messerauffangen, das Tanzen, das Springen
durch den Reif, die Purzelbäume u. tgi., und zuletzt zählt er die lange Reihe
der Dichtungen auf, welche man bei solchen Gelegenheiten von ihnen zu hören
bekommen konnte, Dichtungen, deren Titel in solcher Zahl zu uns erhaltenen,
fast ausschließlich jedoch nordfranzösischen Werken passen, daß kein Grund vor¬
handen ist, an dem einstigen Vorhandensein auch der übrigen zu zweifeln. Es
bildet dieses Verzeichniß ein wichtiges Seitenstück zu drei uns anderwärts auf¬
bewahrten und entschädigt uns, mit ihnen zusammengehalten, bis zu einem
gewissen Grade dafür, daß die sonstigen literarhistorischen Aufzeichnungen aus
provenzalischer Feder sich beinahe ausschließlich mit den Minnesingern beschäf¬
tigen. Indessen ist nicht zu läugnen. daß der Verfasser des Romanes von
Flammea, wenn er die Schilderung der Festfreude durch seine Aufzählung unter¬
bricht, eine weniger passende Form gefunden hat, um seine allerdings nicht
geringe Literaturkenntniß «n den Tag zu legen, als Girard von Cabrcira.
welcher seinerseits in einem besonderen Gedichte dem Spielmann Cabra her¬
zählt, was ihm alles an erzählenden und an lyrischen Dichtungen geläufig sein
und welche musikalischen und gymnastischen Künste er erlernt haben sollte, um
seinem Berufe zu genügen, oder als Giraud von Calanson, welcher in der näm¬
lichen Weise sich an den Spielmann Fabel wendet, oder als Bertram de Paris
von Rovergue, welcher in einem „Nügelied" dem Gordon seine Unwissenheit in
Beziehung auf eine Reihe von Sagen und Dichterwerken vorhält, deren Kennt¬
niß ihm Anspruch auf eine Stelle unter den „guten Spielleuten des Landes"
verstatten würde. Es versteht sich, daß diese vier gleichartigen Quellenschriften
einander vielfach wiederholen und bestätigen und daß si,c oft nur die Zahl der
Zeugnisse für das Vorhandensein gewisser Dichtungen vermehren, deren einstige
Existenz schon durch Hinweisungen der Trobadors außer Zweifel gestellt ist.
Dafür hat aber ihrer jede auch des Eigenthümlichen nicht wenig und dann
gebührt ihrer Aussage wenigstens reifliche Erwägung, wenn auch nicht immer
unbedingtes Vertrauen. Schwierig zu entscheiden ist oft namentlich, ob das
provenzalische Zeugniß das Bestehen eines Gedichtes in der Landessprache oder
der französischen über irgendeinen z. B. dem Alterthum angehörenden Helden
verbürge oder blos die unter den Sangeskundigen und einzelnen Gebildeten
Vorhandene Kenntniß seines Namens und einiger Hauptzüge der Sage; sehr oft
gehören mehre gesondert aufgeführte Heldennamen, gesetzt auch, sie seien im
provenzalischen Sänge verherrlicht worden, höchst wahrscheinlich einer und der¬
selben Dichtung an, so z. B. von den in Flammea genannten Priamus, Ulixes,
Hektor und Achilles; Dido, Aeneas und Lavinia. Unter den der alten Litera¬
tur entnommenen Sagengegenständen, deren Bearbeitung durch provenzalische
oder altfranzösische Dichter sonst nicht erwiesen ist, ja auf die sonst nicht ein¬
mal eine Hinweisung bei den Trobadors vorzukommen scheint, nennen wir
beispielsweise: Hero und Leander, die Gründung Thebens durch Kadmus,
die Arbeiten des Hercules, die Verwandlung der Phyllis, Dädalus und
Ikarus u. s. w.
Schließen wir hieran noch die Erwähnung, daß wir aus Flammea von
der Existenz einer beim Volfe beliebten Liederart, genannt calsnÄs, eng-la (Maien¬
anfang) erfahren und daß uns darin selbst eine kleine, aber vielleicht nicht ganz
echte Probe derselben gegeben wird; von der. wie es scheint, damit verwandten
Dichtungsart der äovmots, giebt Flammea leider nur den Namen. Der salut
„Gruß" d. h. die poetische Liebescpistel war schon früher hinlänglich und zwar
aus zahlreichen Beispielen bekannt, dagegen ersehen wir aus Flamencg. daß
und wie ein solches Gedicht bei der Übersendung mit Malereien geziert werden
mochte: „Zur Linken der Verse kniete eine Person derjenigen zugewandt, welche
auf der andern Seite des Gedichtes stand; aus dem Munde der ersteren kam
ein Blüthenzweiglein. dessen Ranken die Versanfänge umspannten; ein zweites
Zweiglcjn faßte die Versenden zusammen und führte zu dem Ohre der
zweiten Person,, welcher Minne in Engelsgestalt zuzuraunen schien, sie solle
quf den Gruß qchten. Flammea erkannte in dem Knieenden den Wilhelm, qls
sähe sie ihn vor sich, und in der zweiten Gestalt ihre eigene, als wäre sie es
selbst." —
Reich ist Flammea ferner besonders .an Angaben, welche unsere Kennt-
niß des mittelalterlichen Privat- und des öffentlichen Lebens vervollständigen.
Was man zu thun Pflegte, sobald es werthe Gäste zu ehren galt, wie zu den
Festen, die man dann veranstaltete, die Vornehmen bis auf acht Tagereisen
weit herbeiströmten, so daß die Stadt die Menge nicht mehr faßte und rings
auf den Wiesen Zelte und Hütten zu einem bunten Lager sich erhoben, wie
alsdann Einer den Andern an Freigebigkeit gegen die Spielleute und die Dürf-
tigen überbot, welche Vorräthe an Wild und Geflügel für solche Anlässe bei¬
geschafft wurden, wie man die Gassen mit wohlduftenden Spezereien durch,
räucherte, wie man an die Jünglinge, die in großer Zahl der Ehre des Ritter¬
schlages theilhaftig wurden. Rosse. Waffen. Gewänder spendete, wie erzählt das
der unbekannte Dichter mit so behaglicher Breite! Wie verweilt er so gern
bei den Genüssen, welche dem Gaumen geboten werden, vom Frühstück, das
nach der Morgenandacht eingenommen wird und bisweilen aus Wein, Braten
und weichem Brod besteht, oft aber auch sich zur Hauptmahlzeit erweitert, und
von dem namentlich im Monat Mai sehr zuträglichen Absinth bis zum Abend¬
brod, zu dem man sich nach angehörter Vesper setzt und das aus Kuchen,
Piment. Gebratenen, Früchten nebst Wein besteht, welchem letztern der Nacht¬
ruhe zu Liebe durch Eis und Schnee das Aufregende benommen wird; und
dabei vergißt er nicht der vor und nach Tische üblichen Waschungen zu gedenken,
der gepolsterten Bänke, der weichen Handquehlen. des Weintrunkes nach auf¬
gehobener Tafel, der Kissen, an die man sich nach Tische lehnt, um an den
Künsten der Spielleute sich in aller Bequemlichkeit zu ergötzen. Er beschreibt
die Kleidung, welche der Ritter trug, wann ihm daran lag. durch sein Auftreten
zu blenden oder zu gewinne», und zählt auf: das Hemd und die kurzen Hosen
aus seiner rheimser Leinwand, den Leibrock aus Seidenstoff, der an einigen
Stellen gefältelt ist, an andern knapp anliegt und mit einem Riemchen angezogen
wird, die wie angeboren sitzenden Beinkleider aus feinem Zeuge mit vielfarbigen
eingewirkten Blumen und die Kopfbedeckung aus gesprenkeltem, mit Seide ge¬
mähtem Linnen. Ein ander Mal finden wir die untere Beinbekleidung ver¬
tauscht mit den spitzen Stiefeln, dazu einen Unterrock. Aermel. die man sich
Morgens mit einer silbernen Nadel selbst näht, und einen wollenen Mantel
mit Kapuze und erfahren, daß man diesen trug, wenn man aus dem Bade kam;
zum nächtlichen Stelldichein dagegen zog man ein Panzerhemd an, das man
unter einem Ueberwurf verbarg. Wie konnte eine Frau dem Ritter widerstehn,
der mit so sorglich gewähltem Anzüge die Wirkung der in ihm vereinigten
körperlichen Vorzüge verstärkte? Hören wir einmal, wie der. Dichter die ideale
Schönheit, die ihm vorschwebt, in ihre Elemente zerlegt. Wilhelm hatte blondes,
krauses, in Wellen fallendes Haar, eine weiße, hohe, glatte und breite Stirn,
schwarze, bogenförmige Brauen, lang und dicht, durch breiten Raum geschieden;
seine Augen waren groß, funkelnd und lachend, die Nase schön und anmuthig.
lang und gerade wie ein Armbrustschaft, das Gesicht voll und farbig, die Ohren
tadellos, groß und hart und roth, der Mund schön und geistreich, die Zähne
weißer als Elfenbein; das Kinn war wohlgeformt, zu größerer Schönheit leicht
gespalten; er hatte einen geraden, großen und dicken Hals, an dem man keinen
Knochen und keine Sehne sah; er war breitschulterig und von starken Muskeln;
seine Hände waren groß, hart und stark, die Finger lang und ihre Gelenke
glatt; die Brust war mächtig, die Weichen schmal, die Hüften stark und eckig;
er hatte runde und innen breite Schenkel, nicht vorstehende Knie, lange, gerade
und glatte Beine, gewölbte und sehnichte Füße. So aufmerksam war man
also schon im dreizehnten Jahrhundert auf jede Einzelheit der leiblichen Er¬
scheinung, so bewußt der Ausdrucksfähigkeit der Augen und des Mundes und
alles dessen, was am Körper des Mannes den Eindruck der Kraft und der Ge¬
wandtheit, des jugendlichen Feuers und der frischen Fülle hervorbringt.
In den höfischen Kreisen, in welche Flammea uns einführt, genügen in¬
dessen hohe Geburt und körperliche Vorzüge nicht, um das höchste Ansehn zu
verschaffen; auch mit werthvollen Geistesgaben, den edeln Neigungen, welche
den Ritter zieren, und der sichern Gewandtheit, die er sich im Verkehre mit
guter Gesellschaft erwirbt und bewährt, hat es sein Bewenden keineswegs. Es
kommt dazu eine gewisse schulmäßig erworbene Bildung. Unser Wilhelm hat
die Schule von Paris in Francien besucht und sich daselbst eine Kenntniß der
sieben Künste erworben, welche ihn befähigen würde, überall selbst Schule zu
halten; zu lesen und zu singen in der Kirche versteht er so gut als irgendein
Kleriker; ein tüchtiger Meister hat ihn in den Künsten des Fechlbodens unter¬
wiesen, und als etwas Besonderes wird noch angeführt, daß er, der sieben Fuß
hoch war, ein zwei Fuß höher an der Wand angebrachtes Lichtstümpfchen mit
dem Fuße erreichen konnte. Ist es ein Wunder, wenn mancherlei Kenntniß
sich auch bei den niedern Ständen verbreitete, wenn eine tüchtige Herbergs¬
mutter z. B. sich mit ihren Gästen aus Burgund, aus Francien, aus Deutsch¬
land und aus der Bretagne in der Sprache dieser Länder zu unterhalten ver¬
mochte, wie Frau Bellapila, die Badewirthin in Bourbon? Für die Schläge
auf den Rücken und das Zusammenpressen der Fingernagel, welches Beides uns
in Flammea als Schulzüchtigung bezeichnet wird, trug man denn doch etwas
davon, was allgemein geschätzt zu werden anfing.
Doch wir wollen die Ausbeutung unseres Romanes für die Kenntniß der
Gesellschaft, aus welcher er hervorgegangen, nicht weiter verfolgen und schweigen
von den Turnierbräuchen, den Tänzen, den Badeeinrichtungen, dem Festkalender,
der Stellung der Frau dem Gatten gegenüber, dem im geselligen Verkehr
herrschenden Tone und zahlreichen andern Dingen, über welche diese einzige
Quelle schon uns Aufschlüsse oder wichtige Bestätigungen für bereits Bekanntes
giebt. Der Erforscher des Alterthums, sei es nun eines nähern oder eines
fernern, steht auf dem aufgerissenen Boden, den früher ein gestaltenreiches Mo-
saikbild bedeckte; noch ist nicht alles zertrümmert; manche Handbreit hat sich
erhalten; fleißige und scharfsinnige Leute haben die zerstreut herumliegenden
bunten Steinchen geprüft und an das Unversehrte gefügt, wie es eine correcte
Zeichnung zu erfordern schien; denn nicht blinde Willkür darf die Hand leiten,
welche an der Herstellung arbeitet; von zwei Seiten sind dem Belieben Schranken
gesetzt und ist Bürgschaft für die Richtigkeit des Geleisteten gegeben: kein
Steinchen darf übrig bleiben, also daß sich keine passende Stelle dafür finden
ließe, und was herauskommt, das müssen menschliche Gestalten, vielleicht in
fremdartiger, seltsamer Gewandung, mit ungewohnter Haltung und Geberde,
aber es müssen Menschen sein wie wir selbst.
Auf neu gewonnenes Material zu jener Arbeit hinzuweisen und anzudeuten,
wo dieses oder jenes Steinchen sich werde einfügen lassen, war die bescheidene
Aufgabe vorstehender Seiten.
Dr. Wilhelm Lübke, Vorschule zum Studium der kirchlichen Kunst des deutschen
Mittelalters. Fünfte Auflage. Leipzig, Seemann. 1866.
I. N. Unserem Jahrhundert war es vorbehalten, das ganze Gebiet der
bildenden Kunst sowohl in seinem eigenen geschichtlichen Zusammenhange als
in seiner tieferen Bedeutung für das geistige Leben überhaupt zu erfassen. Man
mag über den Mangel der Zeit an unbefangener und ursprünglicher Schaffens¬
kraft klagen; dafür hat die kritische und geschichtliche Denkweise das ganze Dasein
durchzogen wie ein klares Wasser, das in seinem ruhigen gleichmäßigen Flusse
die Spiegelbilder der vergegangenen wie der gegenwärtigen Dinge auffängt.
Jetzt freilich scheint diese Arbeit der Gesittung und Bildung einer langen Friedens¬
zeit durch den tiefgreifenden Eintritt der jüngsten geschichtlichen Ereignisse an einen
Abschnitt gelangt, und möglich, daß nun neue Sitten und Anschauungen, damit
neue produktive Kräfte eine eigenthümliche Kunstepoche herausbringen. Immer«
hin wird dann der gründliche und einsichtige Fleiß, der mit den Schätzen der
geschichtlichen Vergangenheit den modernen Geist bereichert hat. den fruchtbaren
Boden für das neue Culturleben bereitet haben. Und so hat er auch, indem
er uns von der künstlerisch en Thätigkeit früherer Zeitalter ein deutliches Bild
entworfen, das eigene Kunstvermögen des Jahrhunderts in doppelter Hinsicht
gefördert. Nicht nur hat er zur Bildung des ästhetischen Sinnes beigetragen,
sondern diesem auch die mustergiltigen Formen früherer Kunstweisen als Grund¬
lage des neuen Schaffens zu freier Verarbeitung überliefert. Er hat das Material
gleichsam zugehauen und geschmeidige, dessen die Kunst bedarf, um den neu¬
gewonnenen Inhalt des Lebens auszuprägen.
Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet werden die kunstgeschichtlichen Werke,
die in dieser bewegten Zeit erschienen sind, dennoch auch für weitere Kreise ihr
Interesse haben. Vorausgesetzt natürlich, daß sie, für diese geschrieben, über die
enge Grenze des Fachwissenschaftlichen hinausgehen. Ebendies aber, die Behand¬
lung der Kunstgeschichte, welche die Kunst als einen wesentlichen Factor des
alle Volksclassen^ umschlingenden Culturlebens, daher als Gemeingut aller Ge¬
bildeten im weitesten Sinne des Wortes betrachtet, grade dies ist nun zum
unumgänglichen Ersvrdermß geworben. Seit mit Lessing und Winckelmann die
kritische und historische Forschung das Wesen der Kunst, seit die Philosophie in
Kant den echten Begriff des Schönen entdeckt und Schiller die ästhetische Stim¬
mung als den vollen Einklang aller Gemüthskräfte bezeichnet hat: seitdem ha<
sich immermehr das Bewußtsein ausgebreitet, daß die Kunst eine bedeutsame
Aeußerung des gesammten Volkslebens ist. Seitdem aber ist auch der Kunst¬
geschichte als Wissenschaft die Einsicht immer mehr aufgegangen, daß sie einer¬
seits die Kunst in ihrer tieferen Beziehung zur Entwickelungsgeschichte des mensch¬
lichen Geistes, ihren Verlauf durch die verschiedenen Perioden in seinem inneren
und geschichtlichen Zusammenhang zu fassen, daß sie andrerseits die so gefaßten
Ergebnisse ihrer Forschung den weitesten Kreisen zu übermitteln hat.
Nach dem Vorgange von Kugler und Schnaase hat sich neuerdings namm¬
lich Lübke durch eine solche Behandlung der Kunstgeschichte entschiedene Ver¬
dienste erworben. Ganz abgesehen von seinem „Grundriß der Kunstgeschichte",
der als selbständiger Nachfolger des kuglerschen Handbuches mit Benutzung der
«euesten Forschungen die gesammte bildende Kunst in ihren großen geschichtlichen
Linien und in ihren Hauptdenkmälern vorführt, haben vorab seine Geschichte
der Architektur und neuerdings die der Plastik sich den weiten Leserkreis,
für den sie bestimmt sind, wirklich gewonnen. Es war ein glücklicher Griff,
nachdem Kugler, und Burkhardt die Geschichte der Malerei in ihrem ganzen
Verlaufe geschildert hatten, nun ebenso die Geschichte der Architektur und die
der Sculptur — welche letztere zudem in zusammenhängender Folge bisher noch
nicht betrachtet war — dem Gebildeten überhaupt mitzutheilen und ihn so durch
die eingehendere Darstellung der einzelnen Kunstgebiete tiefer in das gesammte
Kunstleben einzuführen. Zugleich wurde so jede der drei Künste in den Rahmen
eines geschlossenen abgerundeten Bildes gebracht und dadurch sowohl der Ueber-
blick als das Verständniß für jede derselben und ihre historische Entwickelung
wesentlich erleichtert. Dreierlei freilich war erforderlich, wenn das.schwierige
Unternehmen gelingen sollte. Einmal eine gebildete und freie von keinerlei
Parteiaiisicht voreingenommene Anschauung, welche jede Kunstepoche in ihrer
Eigenthümlichkeit zu fassen und zu würdigen weiß; dann einsichtige Kenntniß zur
treffenden Auswahl des massenhaften Materials; endlich das Talent eleganter
Ausdrucksweise und lebendiger Schilderung. Daß Lübke diese Bedingungen zu
erfüllen Verstanden, ebendies hat seinen Werken ihren verdienten Erfolg verschafft.
Unter diesen Umständen war es ein Kleines, gegen dieselben den Vorwurf
zu erheben, den man ihnen wohl von fachwissenschaftlicher Seite gemacht hat:
daß sie nämlich nur zum geringsten Theile auf eigenen Forschungen beruhten,
auch keine neuen fruchtbaren Anschauungen herzubrächten und lediglich das reich
aufgehäufte Material geschickt zusammentrugen und zu einem ansprechenden Bilde
verarbeiteten. Eine Bemerkung, die um so grundloser ist, als sie das eigentliche
Verdienst dieser Arbeiten ganz übersieht. Der Fortschritt jeder Wissenschaft und
namentlich ihre Ausbreitung ist immer dadurch bedingt, daß zu Zeiten die klare
Summe ihres Besitzstandes gezogen wird. Die neu hinzugekommnen Posten
müssen eingetragen, alte, welche ungiltig geworden, getilgt, die Rechnung von
neuem gemacht und ein neuer Ueberblick über den Bestand des Vermögens
gegeben werden. Eine Arbeit, die nicht blos dem größeren Publikum, sondern
auch dem Fachmann zu gute kommt, der doch nicht in jedem Augenblicke das
Gesammtergcbniß der Untersuchungen zur Hand hat. Und grade jetzt gilt es
ja, die Einsicht und Anschauungsfähigkeit der weiteren Kreise für die verschie¬
denen Kunstweisen der Vergangenheit heranzubilden. Denn inmitten der zer¬
fahrenen Bestrebungen der Gegenwart muß so der künstlerische Sinn geweckt
und gereist, muß ihm andrerseits die historische Kenntniß der gesammten Cultur
als die solide Basis neuer Kunst und Gesittung verschafft werden. Das be-
streiten nun auch die praktischen Naturen nicht mehr, daß unse-r Zeitalter die
neuen und eigenthümlichen Lebensformen, an deren Ausbau es kaum die erste
Hand gelegt hat, nur auf dem Fundament der immer tiefer, immer weiter
gehenden Bildung zu errichten Willens und im Stande ist.
Daher finden wir nun auf fast allen Gebieten des Wissens eine doppelte
Thätigkeit: die der Specialsorschungen und die der zusammenfassenden, die
Wissenschaft mit dem Leben vermittelnden übersichtlichen Darstellung. Es liegt
in der Natur der Sache, daß sich diese zwiefache Arbeit an verschiedene Kräfte
Vertheilt und daß nicht ein und derselbe Geist zu beiden in gleichem Maße be¬
fähigt ist. Wer das Gesammtbild entwirft und die Ergebnisse zieht, wird nicht
jedem einzelnen Zug bis in seine intimsten Fäden, nicht den feineren Detail-
beziehungen nachgehen können. Wer umgekehrt auf einem abgegrenzten Felde
sei es die verhüllten und entstellten Thatsachen, sei es das innere bewegende
Triebwerk aufdeckt, der wird kaum dazu kommen, das Ganze, dessen Theil seine
eigentlich^ Arbeit ist, gleichmäßig zu umspannen. Ein bahnbrechender Geist,
wie Semper z.B., der mit blitzartiger Genialität auf einzelne Hauptpunkte
ein überraschendes Licht wirft, das freilich dann auch in einem weiteren Um¬
kreise Helle verbreitet, ist nicht dazu angethan, vor dem Laien die ganze histo¬
rische Entwickelung eines Kunstzweiges, so weit grade die Untersuchungen vor¬
liegen, in ruhiger leichrfaßiicher Folge auszubreiten; wie andererseits ein wohl
umfassender und klarer, aber im Grunde unproductiver und nicht allzu tief
dringender Blick, wie ihn Kugl er hatte, kaum im Stande ist, ein noch unauf¬
geklärtes Object, gegen die gewohnte Betrachtungsweise, von einer neuen Seite
instinctiv zutreffend in seinem Wesen zu ergreifen. Doch versteht sich, daß sich
jene beiden verschiedenen Kräfte in die Hände arbeiten und sich gegenseitig er¬
gänzen müssen. Das neugewonnene Material muß durch die Gesammtbetrach-
tung in den belebenden Fluß, das organische Gefüge des Ganzen eingereiht
werden; letztere aber jenes als ebenso viele verjüngende Quellen in sich auf¬
nehmen, wenn sie nicht zum seichten Sammelplatz obeiflächlichcr Redensarten
Herabsinken soll. Natürlich wirkt jeder beider Theile um so ausgiebiger für das
Ganze, je mehr er in zweiter Linie wenigstens an der Arbeit des andern
selbstthätig Antheil nimmt. Eben hierin hat Lübke ein weiteres Verdienst. In
seiner Architekturgeschichte hat er namentlich über die westphälischen Bauten
manches Neue, dann aber insbesondere in seinem Werke über die Plastik in die
bisher so fragmentarische Kenntniß der mittelalterlichen Bildnerei durch eigene
schätzenswerthe Beiträge mehr Ordnung und Zusammenhang gebracht. Daß
Lübke andererseits auch mit eigenem feinen und treffenden Blick in das Innere
der Kunstweisen, in ihren Zusammenhang mit dem Geistesleben der Völker ein¬
zudringen vermag, das hat unter anderem seine Würdigung der Gothik (in dem
Aufsatz: „Zwei deutsche Münster", abgedruckt in der-Zeitschrift des Architekten-
und Jngenicurvereins für Hannover 1863, Heft 2 und 3) bewiesen, welche der
blinden und einseitigen Begeisterung für den „deutschen" Stil scharf und schla¬
gend entgegentritt. Endlich kommt dem Verfasser noch eins zu statten, was
grade bei der Beschäftigung mit der bildenden Kunst von der größten Bedeu¬
tung ist: er hat sich mit empfänglichen und geübtem Auge eine gute Anzahl
der besprochenen Kunstwerke selber angesehen und so ihr Bild mit ursprünglicher
Frische aus der eigenen Phantasie zu entwerfen vermocht, ein Moment, das
nicht weniger wichtig ist als die wissenschaftliche Forschung, ja das selbst ab¬
getrennt von dieser seinen Werth behält, während letztere nur in Verbindung
mit jenem wirklich fruchtbar ist.
Eines freilich bleibt der echt populären Darstellung der Kunstgeschichte, wie
sie Lübke vertritt, zu thun noch übrig. Sie will allen Gebildeten Einsicht in
die Bedeutung der Kunst für das ganze Culturleben verschaffen: daher wird sie
auch die inneren Beziehungen derselben zu Religion und Staat, zu Gesittung
und Literatur, zum ganzen geistigen und volkswirtschaftlichen Leben der Völker
und Zeiten wenigstens in ihren Hauptfaden verfolgen müssen. Auch dazu sind
nach Schnaases Vorgang Von Lübke tüchtige Anfänge gemacht; doch ist wohl
nach dieser Seite eine weitere Fortbildung der heutigen Kunstwissenschaft wün-
schenswerth. Erst wenn deutlich vor Augen liegt, wie in dem ganzen Cultur¬
gewebe der glänzende Faden der Kunst fest und eng sich mit den übrigen ver¬
schlingt, wie der ideale Ausdruck, den sich in ihr der nationale Geist oder die
Zeitstimmung giebt, sich zu den Formen derselben auf den übrigen Lebens-
gebietcn verhält: erst dann tritt ihre durchgreifende Bedeutung für das ganze
menschliche Dasein auch den weiteren Kreisen ins Bewußtsein. Auch fällt auf
die künstlerische Thätigkeit selber erst durch diese Beachtung des Gegensatzes,
der Verwandtschaft und der Wechselwirkung mit den übrigen Culturfächern ein
volles Licht. Es wird deutlich, wie sie den Inhalt des allgemeinen Lebens mit
einer gewissen Nothwendigkeit in diese oder jene Formen kleidet, wie endlich die
verschiedenen Kunstperioden, in gleichem Laufe mit der geistigen Entwicklung
der Völker, unter sich in einem inneren Zusammenhange stehen. Allerdings
vermag die moderne Kunstgeschichte nur allmälig und durch das Zusammen¬
wirken mehrer Kräfte diesen culturhistorischen Hintergrund in ihr Gemälde her¬
einzuziehen und bestimmter auszuführen. Zudem wird wohl die für das größere
Publikum bestimmte Darstellung immer auf den Entwurf der Hauptzüge sich
beschränken müssen, wie denn auch Lübke mit einem derartigen Versuch, wenig¬
stens die allgemeinsten Umrisse des Culturlebens zu skizziren, in seiner Architektur¬
geschichte begonnen hat.
Ehe indessen die Kunstwissenschaft auf jenem breiteren Fundament ihr Ge¬
bäude aufrichten kann, kommt es vor allem darauf an, die großen Linien der
kunstgeschichtlichen Entwickelung selber, den Charakter der verschiedenen Kunst¬
zweige in den Verschiedenen Zeiten, also der verschiedenen Stile, und dies alles
an den vorzüglichsten Kunstdenkmälern faßlich, bestimmt und anschaulich zu
schildern, so daß es auch dem Laien sich einprägt. Und hierauf versteht sich
Lübke vortrefflich. Er hat in seltenem Grade die Gabe der lebendigen Dar¬
stellung auch der trockensten Materien. Er weiß die sinnliche Erscheinung seines
Gegenstandes in ein inneres Bild umzusetzen, so daß die Phantasie des Lesers
aus diesem wieder jene zu entbinden vermag, und andererseits die allgemeinen
wesentlichen Momente so treffend zusammenzufassen, daß sie im Geiste haften
bleiben. Nur durch die Herrschaft über den Stoff und durch die Ursprünglich¬
keit der eigenen Anschauung ist dies Resultat möglich; die Sicherheit, mit der
sich der Verfasser sein Object zu eigen gemacht hat, theilt sich dem Leser mit
und verschafft ihm einen festen Grund deutlich ausgeprägter und wohlgefügter
Kenntnisse.
Dieses Geschick bewährt Lübke von neuem in seiner „Vorschule zum Stu¬
dium der kirchlichen Kunst des deutschen Mittelalters", die nun in fünfter Auf¬
lage bedeutend erweitert erschienen ist. Hier war zunächst die Aufgabe, für den
weitesten Laienkreis kurz und verständlich die bestimmenden Züge hervorzuheben,
welche das Gerüste gleichsam der verschiedenen Kirchenstile — der altchnstlichen
Basilika, des byzantinischen, romanischen und gothischen Stiles — ausmachen:
wobei es vor allem darauf ankam, das richtige Maß zwischen dem Zuviel und
Zuwenig zu treffen und immer die wesentlichen Momente in das volle Licht zu
setzen. Diesen Zweck erreicht das kleine gedrängte, mit gewandter und fester
Hand geschriebene Buch vollständig. Selbst wer nur die oberflächliche An¬
schauung, wie sie das tägliche Leben giebt, von der mittelalterlichen Kunst mit¬
bringt, wird aus jener sicheren Zeichnung ihrer Hauptmerkmale ein klares Bild
empfangen. Allerdings mußte bei so knapper Uebersichtlichkeit der Darstellung
auf eine tiefere Entwickelung der Stile sowohl aus dem Wesen der Zeiten als
aus den inhärirenden Gesetzen der Baukunst verzichtet werden. Auch im Ein¬
zelnen wird vielleicht der Fachmann die Entstehung mancher Formen eindringen¬
der erklärt wünschen: so z. B. die des Rundbogenfrieses unter dem Dachgesimse
romanischer Kirchen und die constructive Nothwendigkeit des Spitzbogens aus
dem Bedürfniß nach einer einheitlichen Form für die durch die ungleichen Spann¬
weiten der Innenräume bewirkte Mannigfaltigkeit des Gewölbebaues. Indessen
solche Unterlassungen sind wohl nicht zufällig, da es galt, sich auf das Wesent¬
liche zu beschränken, und an allgemeinen Andeutungen jener Art läßt es auch
Luvte nicht fehlen.
Eine höchst schätzenswerthe Zugabe bildet in der neuen Ausgabe, außer
dem Abschnitt über die Klosteranlagen des Mittelalters, der zweite Theil des
Werkchens: „Die Ausstattung der Kirche", welche alle Geräthschaften und Zu-
behörden des Cultus umfaßt, vom Altar und der Kanzel bis zum Leuchter und
Zum Meßbuch, vom malerischen und plastischen Schmuck bis zu den wenig ge¬
kannten Schallgefäßen und den Kirchhofsleuchtern. Der Leser erhält so ein
belebtes Gesammtbild der christlichen Kirche und mit ihm der christlichen Kunst.
Nicht blos das nackte Mauerwerk baut sich vor seinen Blicken auf; sondern
womit im Laufe der Zeiten der sinnige Fleiß des Handwerkers für frommen
Gebrauch und das Jneinanderwirken von Leben , und Religion die stillen Räume
schmückte und das Gotteshaus für die Gläubigen wohnlich herrichtete, das er¬
hält nun, im Zusammenhang mit der Architektur betrachtet, erhöhte Bedeutung,
wie es umgekehrt das ernste strenge Werk derselben mit vertrauten Zügen belebt.
Dieser Theil wird wohl auch dem Gebildeten, dem der Gegenstand nicht fremd
ist, manches bieten, das seine Beachtung verdient und ihm bisher entging. Er
ist außerdem nicht unwichtig für die Würdigung des Kunsthandwerks, dem man
jetzt wieder größere Aufmerksamkeit zuwendet. Endlich bietet er noch ein be¬
sonderes Interesse für die Stilunterschiede ihrem ornamentalen Werthe nach;
so tritt z.B. auch hier wieder im Gegensatz zur mathematisch spielenden, von
der baulichen Construction gebundenen und daher in sich nüchternen Zierweise
der Gothik die üppige Erfindungskraft und decorative Phantasie der roman¬
tischen Kunstweise schlagend hervor. Auch in diesem Abschnitte, für den von
Vorarbeiten wenig Zusammenhängendes vorlag, bewährt sich wieder die um¬
sichtige und über reiches Material gebietende Erfahrung des Verfassers. — Nicht
unwesentlich wird der Werth des Buches erhöht durch die vielen zum Theil
vortrefflichen Abbildungen, von denen eine Anzahl hier zum ersten Mal über¬
haupt edirt ist. Zur Verbreitung des kunsthistorischen Interesses in weiteren
Kreisen hat nicht wenig beigetragen, daß die neueren Werke das Wort durch das
Bild ergänzen. Lübke war einer der Ersten, der mit aus diesem Gesichtspunkte
seinen Werken eine breitere Anlage gab, und hat dazu an seinem Verleger die
tüchtige mitwirkende Hand gefunden.
Es scheint, daß die neue Umbildung des sächsischen Heeres durch Preußen
zum 13. Bundesarmeecorps grade bei den zunächst Beteiligten, den sächsischen
Offizieren und Soldaten, auf geringe Schwierigkeiten stoßen wird. Denn
Offiziere und Mannschaften haben in Böhmen reichlich Gelegenheit gehabt, die
Uebelstände der östreichischen Kriegskameradschaft zu erfahren. Wir glauben in
der Annahme nicht zu irren, daß der bei weitem größte Theil der sächsischen
Offiziere unbefangen die Vortheile würdigt, welche der unvermeidlich gewordene
Anschluß an ein großes Heer für den einzelnen Offizier und für das sächsische
Land hat. Dagegen fehlen unter dem Civil nicht die trauervollen Gemüther,
welche den Verlust der Militärhoheit für ein unerträgliches Leiden Sachsens
halten, und die Zumuthung Preußens für eine unerhörte, welche gegen Ehre
und Würde eines souveränen Staates ziele und baldige Befreiung von dem
Zwange wünschenswerth mache. Diese Individuen stehen seit dem berliner
Frieden nicht nur in Opposition gegen gesetzlich gewordene Verhältnisse, sondern
sind auch in Wahrheit die gefährlichsten Feinde des sächsischen Königshauses.
Sie haben zudem in ihrem thörichten Groll gegen eine Maßnahme, die im
höchsten Interesse Sachsens und Deutschlands ist, einen für sie unbequemen
Umstand vergessen. Sie selbst, das heißt die specifisch sächsische Partei, haben
vor 18 Jahren gegenüber den thüringischen Staaten genau dasselbe gewollt,
was jetzt Preußen bis zum Main durchgesetzt hat. Im Sommer des Jahres
1848 war die sächsische Negierung bemüht, in kleinerem Kreise dieselbe Militär¬
hoheit zu erlangen, die man, als sie von Preußen in Anspruch genommen wurde,
für gänzlich unvereinbar mit der Idee eines souveränen Staates erklärt hat.
Damals fanden Verhandlungen statt mit Altenburg. Weimar, Koburg-Gotha,
den beiden Schwarzburg und den beiden Neuß-, Meiningen hatte der ergangenen
Aufforderung nicht Folge geleistet. Minister des Auswärtigen war damals
v. d. Pfordten, Kriegsminister v. Buttler. Nachdem die sächsische Negierung sich
mit den betreffenden Staaten wegen dieser Frage in Verbindung gesetzt hatte,
fanden am 6. August 1848 Konferenzen in Leipzig statt, bei denen die thürin¬
gischen Staaten in ihrer damaligen hilflosen Lage im Allgemeinen ihre Geneigt¬
heit zum Anschluß erklärten. Darauf wurde am 28. August das hier folgende
Promemoria im sächsischen Kriegsministerium entworfen. In einer zweiten
Zusammenkunft in Leipzig am 2. und 3. September wurde beschlossen, von
den drei durch Sachsen angebotenen Methoden der Hecrcsvercinigung die erste
— natürlich die lockerste — zu wählen. — Später zerfiel bekanntlich die Sache
ganz, das Königreich Sachsen sollte wenige Monate darauf erfahren, daß das
eigene Heer ihr nicht ausreichend erschien, um die Regierung im Lande zu
behaupten.
Aus den Worten der folgenden Denkschrift: „Drei verschiedene Wege bieten
sich, je nachdem die Vereinigung eine losere oder engere sein soll", darf man
schließen, daß die sächsische Regierung auch den dritten Weg. die völlige Ein¬
verleibung der fremden Contingente in ihre Armee, für ein wünschenswerthes
Ziel hielt und daß sie nicht durch die unnöthigen Scrupel beunruhigt wurde,
ihren Bundesgenossen werde eine solche Einverleibung an Hoheit und Würde
schaden. —
Die sächsischen Vorschläge lauten wortgetreu folgendermaßen:
Bei den Berathungen, welche am 6. d. M. in Leipzig stattfanden, wurde
von Seite der Sachsen-ernestinischcn, schwarzburgischen und reußischen Abgeord¬
neten der Wunsch ausgesprochen, mit dem Königreich Sachsen in eine gemein¬
same Militärverfassung zu treten. Die sächsische Regierung hat zur genauen
Berathung hierüber zu einer Zusammenkunft in Leipzig auf den 2. und 3. k. M.
eingeladen und erachtet es für zweckmäßig, vorerst die Grundgedanken anzudeuten,
von welchen bei dieser Berathung auszugehen sein dürfte, und für deren Durch-
führung die Vor einigen Tagen mitgetheilten Fragen das nöthige Material an
die Hand geben sollen.
Drei verschieden« Wege bieten sich zur Erreichung des vorgestrcbten Zieles
dar, je nachdem die Vereinigung eine losere oder engere sein soll. Bei ihrer
Darstellung ist zunächst von der jetzt in Aussicht stehenden Erhöhung der Con-
tingente abgesehen, weil diese doch nur eine auautitative Veränderung zur Folge
haben würde.
Die thüringischen Staaten formiren zusammen eine Brigade, welche sich
an das Königreich Sachsen anschließt und mit dessen Kontingent vereinigt ein
gemischtes Armeecoips bildet. Dieses steht in allen Commandoangelegenheiten,
auch im Frieden, unter sächsischem Oberbefehle, und nimmt die militärischen
Einrichtungen des Königreiches an. Dagegen behält jene Brigade ihre eigene
Administration und Justizpflege. Die Aufstellung der Reiterei, Artillerie, Pioniere,
Commissariat, Feldhospitäler und Fcldbäckerei übernimmt Sachsen für das ganze
Armeecorps gegen entsprechende Entschädigung durch die übrigen Staaten. Die
Kosten könnten dadurch etwas ermäßigt werden, daß man sich begnügte, die
Schwadron an activer streitender Mannschaft auf 150 Mann zu bringen.
Dabei könnten die herzoglichen und fürstlichen Contingente entweder in
ihrer jetzigen Gestalt als für sich bestehende Bataillone in Regimenter und in
eine Brigade vereinigt, oder zu einem homogenen Ganzen verschmolzen und
aus diesem die erforderlichen taktischen Körper formirt werden, so daß eine
thüringische Brigade entstünde.
Die Jnfanteriecontingente der erwähnten Staaten, welche zusammen sechs
Bataillone Linieninfanterie, ein Bataillon leichte Infanterie und eine Abthei¬
lung Jäger betragen, werden von Sachsen als taktische Körper in seine In¬
fanterie ausgenommen. Die dadurch entstehende Anzahl Von achtzehn Bataillonen
Linieninfanterie wird in sechs Regimenter zu drei Bataillonen eingetheilt, und
zwar so, daß jedes Regiment zwei sächsische und ein fremdes Bataillon enthält.
Ob je zwei oder je drei Regimenter zu einer Brigade zu vereinigen sein wür¬
den, kann weiterer Erörterung vorbehalten bleiben. Das Bataillon leichte
Infanterie sowie die Jäger werden der Halbbrigade leichter Infanterie beige¬
geben.
Die zuwachsenden Bataillone wenden von den ContingentSstaaten auf¬
gestellt, ergänzt, ausgerüstet und verpflegt, jedoch vollständig nach den für die
königlich sächsische Armee bestehenden gesetzlichen und reglcmentarischen Bestim¬
mungen.
Die betheiligten Regierungen ernennen die Offiziere für ihre Contingente,
die jedoch vor ihrer Anstellung das vorschriftsmäßige Examen in der Militär-
bildungsanstalt zu Dresden bestanden haben müssen und avanciren dieselben
auch bei eintretenden Vacanzen. Ueber die Befähigung zum Avancement urtheilt
die königlich sächsische Regierung. Letztere wird diese Offiziere bei Besetzung
von Posten außer der Linie — im Kriegsministerium, in dem Generalcommando,
bei den Brigadestäben :c. —. sowie auch bei höheren Commandostellen ebenso
berücksichtigen, wie die des königlich sächsischen Contingents.
Die einverleibten Bataillone gehören vollständig dem Regimentsverbande
an, sind in jeder Beziehung den sächsischen Militärbehörden untergeben und
haben denselben militärischen Gerichtsstand wie die inländischen Truppen. Alle
dienstliche Communication zwischen ihnen und ihren Regierungen findet durch
das königlich sächsische Kriegsministerium statt.
Ueber die mit Garnison zu belegenden Orte der sämmtlichen verbündeten
Staaten vereinigen sich die Regierungen. Es braucht hierbei keine Rücksicht
darauf genommen zu werden, daß die Contingente in den eigenen Staaten ver¬
bleiben, und es würde solches sogar nicht durchgängig ausführbar sein.
Bezüglich der übrigen Bestandtheile des Armeecorps außer der Infanterie
träten dieselben Verhältnisse ein, wie bei dem ersten Vorschlage.
Die Contingente der gedachten Staaten werden der königlich sächsischen
Armee vollständig einverleibt. Sachsen verstärkt die einzelnen Waffengattungen
und vermehrt die Zahl seiner Regimenter, insoweit es nach den Grundsätzen
der Taktik erforderlich ist. Auf Ernennung und Beförderung zu allen Osfiziers-
stellen haben die Exspectanten aller Vereinsstaaten gleiche Anwartschaft; die
Ernennung selbst erfolgt durch Se. Majestät den König von Sachsen.
Die Recruten hebt jeder Staat der ihn treffenden Quote gemäß aus. Sie
werden an Sachsen abgegeben, welches sie in die Armee einstellt, ausbildet und
später über die während der Dienstzeit statthafte Beurlaubung, sowie über ihre
Entlassung entscheidet.
Während ihrer Dienstzeit in der Armee haben die von den übrigen Staaten
gestellten Mannschaften mit den in Sachsen ausgehobenen ganz gleiche Rechte
und Verpflichtungen. Nur in Bezug auf die Pension haben sie an Sachsen keine
Ansprüche, sondern sind an ihre Regierung gewiesen. Sie stehen unter der säch¬
sischen Militärgerichtsbarkeit und Disciplin.
Sachsen besorgt die gesammt.e Ausrüstung und Verpflegung. Der Kosten¬
betrag wird repartirt. Ebenso der Aufwand für die Beschaffung des Materials
und der Mobilisirung, Anschaffung von Pferden. Dabei wird das Verhältniß
der Contingente zu Grunde gelegt.
Dresden, den 28. August 1848.
Mit Sachsen ist jetzt ganz dasselbe geschehen, was Sachsen im Jahre 1848
mit Thüringen beabsichtigte. Es ist also durch die sächsische Regierung selbst
das Präcedens geschaffen, und Preußen führt nur aus, was Sachsen einst ge¬
wollt. Möge dieser Gedanke den Patrioten trösten und versöhnen.
Bening, Geh. Regierungsrath: Hannover bei seiner Vereinigung mit Preußen.
Hannover, Nümpler. 1866.
Der Verfasser der Schrift gehört zu den leider nicht zahlreichen Männern
hervorragender Lebensstellung, denen bewußt geworden ist, daß seit dem Sommer
1866 gut hannoverisch sein ein höherer Stolz ist als vordem, daß Anerkennung
des neuen Zustandes der Dinge kein Unrecht, und daß es kein Verrath, sondern
patriotische Pflicht ist, sich mit den neuen Lenkern des hannoverischen Staates
in Ruhe und sachlicher Gründlichkeit über die politischen Kontroversen, die der
Regierungswechsel nach sich zieht, zu verständigen. In solcher Gesinnung unter¬
wirft er als praktischer Jurist die politischen Activa und Passiva des weiland
Königreichs einer gründlichen Inventur. Die Absicht ist, an seinem Theile bei¬
zutragen, daß mit dem dehnsamem Worte „Schonung berechtigter Eigenthüm¬
lichkeiten", welche bei der Neugestaltung der nunmehrigen Provinz zugesagt ist,
von Seiten seiner Landsleute statt vager Velleitäten bestimmte Begriffe ver¬
bunden werden, und daß andererseits den Reorganisatoren, entscheidenden und
berathenden, das Soll und Haben übersichtlich vor Augen trete, um dessen Aus¬
gleichung es sich handelt.
Das Recht der Eroberung betrachtet der einsichtige Jurist mit Nichten als
Recht des Unrechtes, sondern erkennt es an als die allerdings besondere Gattung,
in welcher sich Macht und Recht unmittelbar begegnen. Hannover selbst hat —
Wie Herr Bening zur Beruhigung beifügt — dieses geschmähte Recht einmal
für sich in Anspruch genommen, als es die beim Friedensschluß mit Frankreich
vergessene Herrlichkeit Lage dem Besitzer ausdrücklich kraft der oecuMio dvllieg.
Vorenthielt, „bis er es etwa wieder erobere"; heute ein lehrreiches Curiosum.
Mit der landesherrlichen Gewalt fällt auch die Befugniß der Landes¬
vertretung zur Theilnahme an Ausübung derselben. Ob das ein Unglück
sei. entscheidet die Qualität dieser Staatsverfassung. Für den in der Natur
ihrer Zusammensetzung begründeten ewigen Krieg der ersten und zweiten Kam¬
mer Hannovers kann sich füglich kein Mensch begeistern wollen. In dem, was
Hannover für jene eintauscht, im preußischen Herrenhause mit den Verbänden
des alten und befestigten Grundbesitzes scheint allerdings keine Gewähr des
Gewinnes zu liegen. Aber darf nicht von der Rückwirkung des preußischen
Ländererwerbs auf dieses Institut, von dem Zuwachs neuer Elemente Besserung
erwartet werden? Auch hier wird die Größe der Zeit, wenn nicht eigene Um¬
gestaltung der Gesinnungen, wie im Abgeordnetenhause, so doch vielleicht die
königliche Initiative des Eingriffes zeitigen, der möglicherweise sogar ohne
Rechtsverletzung geschehen könnte. Mit Nachdruck empfohlen wird dagegen die
Reconstructivli einer hannoverischen Ständeversammlung nach Analogie der preu¬
ßischen Provinziallandtage,. deren Competenz nach der preußischen Verfassung
womöglich mit berathender Zuziehung von Notabeln unter der Voraussetzung
zu »ormiren wäre, daß die jetzt bestehende bunte und sinnlose Mischung der
Provinziallandschafts- und Landdrosteibezirke rationell vereinfacht werde. — Die
hannoverischen Grundrechte giebt der Verfasser gegen die entsprechenden
freieren und entschiedeneren Bestimmungen der preußischen Verfassungsurkunde
vom 31. Januar 1830, welche vom 1. October 1867 an auch in der Welfenprvvinz
Geltung erhalten, mit-Freuden hin. Ebenso denkt er von den meisten Zweigen
der Staats- und Gemeindeverwaltung, die durch Conformität mit der
preußischen nur gewinnen können. Weder die bisherigen Ministerien*), noch die
Vorerst an ihre Stelle tretenden ähnlichen Behörden können bestehen bleiben,
wohl aber könnten es die 1823 gebildeten Landdrosteicn, welche, durch Zusammen¬
legung arrondirt und vergrößert, den preußischen Regierungen entsprechen wür¬
den. Dabei wird befürwortet, den Provinzen Osnabrück, Ostfriesland und
Bremen, deren Regiminaltörper aus früheren eigenen Regierungen entstanden
sind, den Sitz der Behörden zu belassen.
Ungünstiger zeigt sich das Verhältniß der beiderseitigen unteren Ver¬
waltungsbezirke. Die preußischen Landrathkreisc sind doppelt bis dreifach
so groß wie die hannoverischen Aemter; und in letzteren muß der Amtmann
oder Amtsassessor geprüfter Jurist sei», was beim preußischen Landrath nicht
erfordert wird. Ein weiterer Unterschied ist, daß jenem laut Amtsordnung vom
18. April 1823 die Erwerbung von Grundeigenthum im Amtsbezirke unter¬
sagt ist. während dies umgekehrt bei diesem Bedingung ist. Der Bezirksver¬
größerung widerstreben die hannoverischen Amtscirigesessenen aufs lebhafteste,
wie sich dies 18S9 bereits gezeigt hat; an die Aemter knüpft sich Amtsvertretung,
weltliches Kirchencommissariat, Domänenvcrwaltung; unmöglich fast erscheint das
Erforderniß der Erwerbung von Grundbesitz für den Landrath in einem Lande,
wo die Rittergüter, die in etlichen Provinzen Preußens ein Drittel bis die
Hälfte des Grundeigeythums ausmachen, nur etwa sechs Procent befassen, das
Uebrige aber, meist an Bauernhöfe gebunden, selten käuflich ist. Daß aber die
wenigen Besitzer hannoverischer Ritter- und Landgüter innerhalb eines Kreises
allemal zur Uebernahme des Landrathamtcs geeignet sein sollten, ist nicht an¬
zunehmen; und was soll aus den circa 200 Amtmännern und Amtsassessoren
Hannovers werden? — Der Verfasser resumirt mit folgenden Thesen: 1) Die
Anforderung an die hannoverischen Verwaltungsbeamten (vollständiger Gymna¬
sialunterricht, dreijähriges juristisches Studium, vierjähriges Gerichts- oder Amts-
auditorat mit juristischer Prüfung im Eingange und halbjuristischer im Aus¬
gange, endlich mehrjähriges unbesoldctes Assessorat) ist zu groß; 2) infolge der
Reorganisation der Aemter von 1869 werden häufig sehr tüchtige Verwaltungs-
kräfte zu untergeordneten Dienstleistungen verbraucht; 3) dies steigert die Kosten
der Verwaltung; 4) mit der wünschenswerthen Abschaffung des EinWirkens der
Behörden auf Gewerbesachen, bäuerliche Verhältnisse u. tgi. wird Verminderung
der Beamtenzahl und Bezirksansdehnung ermöglicht. Dies giebt die Cardinal-
punkte für den Ueberleitungsproceß an die Hand, bei welchem befriedigendes
Resultat wohl zu erreichen ist.
Konservativer ist unser Gewährsmann hinsichtlich der Gemeindever¬
fassung. Wenn er auch Aenderungen im Einzelnen der ohnehin in mancher
Beziehung noch in der Befestigung befindlichen Verhältnisse zuläßt, hält er es
doch für sehr bedenklich, sie durch neue Gesetze umzustoßen. Anders bei der
Städteordnung, für die er keinen Nachtheil sieht, wenn sie der Umgestaltung
preisgegeben wird. — Von der Einführung der preußischen Gerichtsverfas¬
sung in Hannover können nur diejenigen fürchten, welche die Thatsache unter¬
schätzen oder ignoriren, daß die Hauptzrundlagen derselben (Trennung von Justiz
und Verwaltung, Aufhebung der Patrimonial- und Gemcindegcrichtsbarkeit,
öffentlich und mündliches Verfahren, Mitwirkung der Geschwornen in Crimincil-
fachen) in beiden Ländern identisch sind. Eingreifende Verschiedenheit liegt
namentlich in der anderen Stellung der hannoverischen Obergerichte und in den
Einzelrichtern. Für beklagenswerth hält der Verfasser, wenn, was nach Art. 92'
und 116 der preußischen Verfassung allerdings schwer zu umgehen sein wird,
das Oberappcllationsgericht in Celle cassirt würde. Denn das müßte ebenso
bedauerliche Aenderungen im gerichtlichen Verfahren, besonders in den Be¬
rufungen herbeiführen. Unbedenklich scheint auch die Mitwirkung von gewählten
nicht rechtskundigen Schöffen bei kleineren an die Untergeriehte gehörigen Straf¬
sachen beibehalten werden zu können; ja diese Einrichtung wird sogar zur An¬
nahme in Preußen empfohlen. — Ueber die N e es t s g ehe tzg eb un g sind die Acten
nicht zu schließen; hier scheint die Alternative, ob das Alte behalten oder das
Neue anzunehmen, falsch; das einzig Nichtige kann nur das Dritte sein, das
Civilgesetzbuch der Zukunft, welches sich nicht an die Mainlinie kehren darf.
Der Verfasser weist hier auf das sächsische als auf eine annehmbare Grundlage
hin. Die Einführung des preußischen Allgemeinen Landrechts sei den Hanno¬
veranern begreiflicherweise keine lockende Aussicht; andrerseits werde die An¬
nahme des preußischen Criminalrechts kein Unglück sein, da das Kriminalrecht
überhaupt weit weniger als das Civilrecht von den besonderen Rechtszuständen
der einzelnen Länder abhängig ist. Für das Polizei- und Forststrafgesetz hegt
unser Verfasser größere Anhänglichkeit, zumal da sie seine Kinder sind.
Die kirchliche Verfassung wird durch den Untergang des Staates Hannover
nicht unmittelbar unberührt, und es ist daher alle Aussicht, daß die Synodal-
und Kirchcuvvrstandsorduung von 1864 nebst dem Consistorium von 1866,
welche befriedigenden Abschluß langer Wirren bezeichnen, unbehelligt bleiben.
Nicht ohne Wirfung wird jedoch die neue Verfassung auf das Schulwesen
sein. In Preußen ist die Anstellung der Lehrer nicht wie in Hannover Sache
der Konsistorien oder andrer kirchlichen Organe, sondern der Provinzialregierungen,
welchen ein Schulrath beigegeben ist. Auf die Dauer wird hierin natürlich
Uebereinstimmung hergestellt werden; die Kirchenverfassung würde dadurch aber
nicht alterirt, denn das hannoverische Oberconsistorium ist beim jetzigen hanno¬
verischen Schulwesen nicht betheiligt. Den höheren Schulen, der Universität
Göttingen und dem Polytechnikum in Hannover scheint würdiger Fortbestand
gesichert, wie er auch in hohem Grade wünschenswert!) ist.
Hinsichtlich des Heerwesens begrüßt unsere Schrift die allgemeine Wehr¬
pflicht mit fast allen ihren Consequenzen als selbstverständliche Forderung. Hier
handelt sichs nur um Zerstreuung von baaren Vorurtheilen, die, freilich wohl
nicht ohne von den Ultraparticularistcn genährt zu werden, die verdiente Po¬
pularität dieser erprobten Einrichtung zur Zeit noch schmälern. „Es hat doch
sein Angenehmes, daß marl keine Franzosen und Russen mehr zu fürchten braucht
und daß man fortan jedem Engländer frei in das freie Gesicht sehen darf."
Von diesem Zeugniß dürfen wir, weil es das eines Hannoveraners ist, mit
doppelter Genugthuung Act nehmen.
Bei dem Worte Staats« bg ab en in der Verbindung mit Preußen Pflegt
bekanntlich Gemüth und Säckel der Kleinstaatsbürger in krampfartigen Zu¬
stand zu gerathen. Ob die Hannoveraner aus der Erklärung unseres Sach-
kundigen, daß die persönlichen directen Steuern Hannovers vor der Wissenschaft
schwer bestehen können, schon einen Trost schöpfen, ist zweifelhaft. Aber die
Höhe der Erträge dieser Steuern in Hannover entlarvt die landläufige Vor¬
stellung vom preußischen Steuerdruck nach dieser Richtung als ein leeres Schreck¬
bild. Aus dem Gesichtspunkt der Billigkeit glaubt unsre Schrift der preußischen
Classensteuer und classificirten Einkommensteuer den Vorzug vor den entsprechen¬
den hannoverischen Modalitäten geben zu müssen, wenn sie andrerseits auch
nicht leugnet, daß die Einführung einer Mahl- und Schlachtsteuer als ein Ruck«
schritt empfunden werden würde. Die Quoten der Grundsteuer, welche in
Hannover aufgebracht werden, sind größer als in Preußen. Ebenso ist die
Preußische Gebäudesteuer richtiger und zugleich niedriger als die han-
noversche. In den Verbrauchsabgaben besteht meist schon Uebereinstimmung,
dank dem seiner Zeit lärmend beklagten und heftig bekämpften Beitritt des
Welfenstaats zum Zollverein, der durch Arrondirung im Norden und Osten —
durch die hoffentlich baldige Hereinziehung von Schleswig-Holstein und Mecklen¬
burg — grade für Hannover immer größern Segen entwickeln muß.
Erwerb und Verlust des Unterthan en r cases (Staatsangehörigkeit und
Staatsbürgerthum) sind in Hannover nur durch die Domicilordnung und zwar
ungenügend geregelt. Diesen Mangel wird das preußische Gesetz selbstverständlich
ohne Weiteres ersetzen, was sachlich heute freilich nicht mehr viel auf sich hat. Zu
wünschen wäre größere Freiheit den übrigen Staaten des norddeutschen Bundes
gegenüber. Ein gemeinsames Staatsbürgerthum nach Analogie des weiland
deutschen Neichsbürgerrechts von 1848 wird sehr empfohlen, ein Vorschlag, dem
wir unsrerseits mit Nachdruck beipflichten.
Ein nicht zu unterschätzender Vorzug preußischer Bestimmungen vor den
hannoverischen liegt ferner in dem Wegfall des obrigkeitlichen Trauscheines,
einem Zwange, der in Hannover auf dem Weg des Ministerialerlasses auf
Wunsch der Stände allgemeine Norm geworden ist. Grade bei einem Volke,
das infolge der Mannigfaltigkeit seiner Beschäftigungsarten auf möglichst aus¬
gedehnte Freizügigkeit angewiesen ist, erscheint jene Bestimmung, die in Preußen
nicht besteht, als lästiges Hinderniß. Befürwortet wird der Trauscheinzwang
durch die heute nicht mehr entschuldbare Täuschung, daß Erschwerung der Ehe
Vor Verarmungen schützt. Das aber ist schlechterdings nicht durch Beschränkung
und Verbot, sondern lediglich durch das Gegentheil zu erreichen, durch Erleichte¬
rung im Gewerbebetrieb und in der Wahl des Wohnortes sowie in allem, was
damit zusammenhängt. Am sichersten zur Armuth führt die Entsittlichung, und
diese wird durch das Erforderniß obrigkeitlichen Consenses zur Verheiratung
gradezu befördert, wie ein Blick auf die Statistik der illegitimen Kinder lehrt.
Hiermit im engsten Zusammenhang steht die Frage der Gewe rb c g esetz-
gebung. Die hannoverische Gewerbeordnung von 1848 ist von allen Coa-
Potenzen als verkehrt verurtheilt. Ihre Aufhebung erfolgte nicht, weil die Re¬
gierung bei ihren konservativen Verfassungsänderungen unter anderen auch die
Zünfte und ihre Gunst zu conserviren für dienlich hielt. Der Rückkehr zur
Gewerbeordnung von 1847 redet unser Gewährsmann das Wort nicht, obgleich
sie sein Werk ist; aber er will auch die preußische Gewerbeordnung nicht ohne
erhebliche Einwände gut heißen. Den Grundsatz der Gewerbefreiheit, den wir
Stein verdanken, fordert er nicht nur als Ausgangspunkt, sondern er will noch
cousequenter damit Ernst gemacht sehen, als es in Preußen thatsächlich und rechtlich
geschieht. Den meisten Anstoß giebt hier das Gesetz vom 9. Februar 1849, das den
Handwerkern in Preußen selbständige» Gewerbebetrieb nur unter der Bedingung
gestattet, daß sie nach beigebrachten Qualificationsbeweis durch Examen vor
einer Prüfungscommission in die Innung aufgenommen worden sind. Dies
setzt voraus, daß der Handwerker als Lehrling die Gesellenprüfung bestanden,
und dies wieder, daß drei J.ihre seit Entlassung aus der Lehre verstrichen sind.
„Deutschland" — sagt Herr Bening — „ist freilich das Land der Prüfungen,
und Zünfte mögen, wo sie noch bestehen, auch prüfen. Daß aber jeder Schuster,
Schneider oder Bürstenbinder, auch wenn er nicht zünftig werden will, auf
bureauttatischem Wege sich prüfen lassen soll, ist selbst für Deutschland zu viel.
Prüfungen rechtfertigen sich nur für Gewerbsbetriebe, bei welchen Unkunde eine
gemeine Gefahr herbeiführen kann, besonders bei Bauhandwerker." Behcr-
zigcnswcrthe Grundsätze für Revision der Gewerbegcsctzgebung enthält trotz der
Mängel in der Ausführung die diesjährige hannoverische Regierungsvorlage.
Sie verlangt Freiheit der Gewerbe und Freiheit für die Zünfte, frei — ohne
Zunfizwang — zu leben oder unterzugehn. Auch in Preußen vollzieht sich
diese Wendung, die Zünfte erstehen als freie Genossenschaften; erweisen sie sich
in dieser Gestalt nicht lebensfähig, so werden sie von selber sterben; das Gesetz
braucht sie dann nicht noch zu tödten.
Sehr schwierig wird die gesetzliche Regulirung der bäuerlichen Ver¬
hältnisse sein; denn hier besteht zwischen Preußen, wo Stein schon 1807
den Grundsatz der Freiheit und Theilbarkeit der Höfe ausgesprochen und dann
zur Norm erhoben hat, und Hannover, das mit Ausnahme seiner früher preu¬
ßischen Länder die Unthcilbarkeit festhält, eine große Kluft. Der hannoversche
Bauernstand widerstrebt der Einführung des preußischen Rechts über die Höfe.
An sich wird das hannoverische Recht über Bauerhöfe durch die Annexion
nicht alterirt; aber da die in mancher Beziehung mangelhafte gesetzliche Fixi-
rung sehr Vonnöthen ist, so ist zu wünschen, daß es mit einer für Hannover
zu errichtenden - Vertretung vereinbart werde. Denn nur dadurch kann die
Gewähr voller Beachtung der heimischen Bedürfnisse bei diesem hochwichtigen
Gegenstande gegeben werden. Sehr tiefgreifende Aenderungen, die namentlich
hier leicht Mißdeutung und Mißtrauen erwecken, widerräth unsere Schrift. Sie
spricht sich zwar entschieden zu Gunsten des freien privatrechtlichen Verfügungs¬
rechtes der Hofeigenthümer aus, ist aber doch für Beibehaltung des Grund¬
satzes der Hofvercrbung auf einen Erben (das Anerbenrecht) als gesetzliche
Erbfolge.
Endlich noch ein Wort über die Gesetzgebung betreffs Ablösung der Grund¬
lasten. Auch hier ist namhafte Differenz zu constatiren. Das Ablösungscapital
beträgt in Hannover das 26 fache der Jahresleistung, in Preußen dagegen das
18fache resp. 20fache, wenn nämlich der Verpflichtete die Ablösung durch Schuld¬
verschreibungen der Rentenbank verlangt. Dort also erhält der Berechtigte für
den Jahresbeitrag von 4 Thaler eine Baarzahlung von 100, hier entweder
72 Thaler oder einen 4proccntigen von seiner Seite unkündbaren Schuldschein
über 80 Thaler. Dies Fünftel, welches der Berechtigte in Preußen weniger
erhält, wird bei Ablösung mittels Ncntenbnefen zur allmäligen Tilgung der
Schuld des Pflichtigen verwendet. Amortisationsverfahren und Einkassirung
der Jahresbeträge, die ganze überaus fördernde Stellung des Staats zur
Rentenbank in Preußen u. s. w. würde den Verpflichteten in Hannover, wenn
sie hier eingeführt würde, zwar außerordentliche Vortheile bringen; die entsprechen¬
den Einrichtungen der hannoverischen Landescreditanstalt jedoch haben den Werth
noch größerer Gerechtigkeit, da die Capitalisirung mit 4 für Hundert dem Be¬
rechtigten eben gemalt die gebührende Entschädigung giebt, wenigstens so lange
4 Procent der normale Zinsfuß bleibt.
In Summa: die Institutionen, für deren Beibehaltung im Obigen ge¬
sprochen wird, sind kostspieliger als die preußischen, die sonst statt ihrer einzu¬
führen wären. Erscheint das unbillig, so darf nicht vergessen werden, daß Han¬
nover mit größerem Einkommen in die Verbindung eintritt. Das Plus resultirt
namentlich aus der Rente der Staatseisenbahnen, der Domänen und Forsten,
aus der Grundsteuer, der nachhaltigen persönlichen Stcuerkraft der Einwohner
und der höchst mäßigen Staatsschuld. — Trauern die Gemüthspatrioten über
den großen Unterschied zwischen den 48er Idolen mit ihrem Kaiser und Neichs-
gepränge und dem, was sich heute'als Entschädigung dafür mehr aufgedrängt
als angeboten hat, so muß immer wieder daran erinnert werden, was dieses
neuen Wesens Kern ist: Macht, staatenbildende Kraft, ein echtes Königthum,
ein deutsches Heer, wie noch keines gewesen, und Siege, deren moralische Wir¬
kung die gefürchtet« Scheidelinie inmitten Deutschlands, deren Beseitigung den
heutigen Gcsinnungsncbcl in Hannover völlig zerstreuen müßte, mit jedem Tage
unschädlicher machen.
Die Bilanz obiger von sachkundiger Hand ohne Scheu und Vorurtheil ge¬
zogenen Parallele zeigt klar, daß die Verschmelzung Hannovers mit Preußen
bezüglich der Staatsverfassung im weitesten Umfange keine Unmöglichkeit, noch
viel weniger ein Unglück für die Hannoveraner ist. Sie wird zum Heile ge«
beiden, wenn alle Notabeln, die es in solchem Sinne sind, wie der Verfasser
dieser Schrift, auf die wir ausführlich einzugehen für Schuldigkeit hielten,
rechtschaffen Hand ans Werk legen.
Mcttlerkamp, der Führer einer am deutschen Freiheitskriege theilnehmenden
Bürgcrwehr. Von Fr. Wille. Hamburg. Otto Meißner. 1866,
Wir erhalten in der Biographie des Patrioten, den man den hamburgischen
Nettelbeck nennen könnte, einen schätzenswerthen Zuwachs unsrer Dctailkuude über
die Vorgänge der Befreiungszeit. David Christian Mcttlerkamp, der aus niederem
Volkskreise emporgekommene Bürger, seines Zeichens Blcidcckcr, ist eine typische nord¬
deutsche Figur voll nüchternen Ernstes und unerbittlicher Zähigkeit. Als einer - der
wenigen beherzter Männer, welche der schmählichen Preisgebung Hamburgs an
Davoust zu widerstehen suchten, verlies) er Haus und Familie, um an der Rück¬
eroberung seiner Vaterstadt mit den Waffen Antheil zu nehmen. Unter dem Schuhe
Bernadottes gründete er die hanseatische Bürgergarde und bekam überdies den Auf¬
trag zur militärischen Organisation der waffenfähigen Männer unter den Umwohnern
Hamburgs, welche infolge der Verthcidigungsmaßrcgln des französischen Marschalls
hatten flüchten müssen. Mit den größten Anstrengungen, im Kampfe mit allen
ungünstigen Elementen sammelte und rüstete der wackere Mann mitten im Winter
sein Rekrutendepot in Segeberg und Oldesloe. Unter dem russischen General Bcn-
ningscn betheiligte sich sein Corps rühmlich an deu Kämpfen um Hamburg. Am
31. Mai 1814 zog Mcttlerkamp mit seiner aus 1262 Mann bestehenden Schaar
vor den Russen her in die befreite Stadt. Allein die Elendigkcit des blos kaufmännisch-
republikanischen Regiments vergällte dem edlen Bürger sein ferneres Wirken und er
hat für antike Tugend antiken Undank geerntet^ Er starb 1850. Wiederholt hat er
theils bei patriotischen Fragen, theils bei Fachangelcgcnheiten in kleinen Schriften
seinen schlagfertigen gereiften Geist bekundet. Von dem organisatorischen Talent für
Militärisches, welches ihn auszeichnete, giebt sein Werk über das „Neue Landwehr-
systcm" ein Zeugniß, dem von namhaften Autoritäten aufrichtiger Beifall gespendet
wird. Sein Schicksal und seine Thätigkeit ist eine lebendige Warnung, Kraft und
Gut in Zeiten einzusetzen zur Abwehr der Fremdherrschaft, damit sie nicht — wie
Hamburgs trauriges Schicksal zeigt — später dem Feinde zehnfach aber unrühmlich
zum Opfer fallen.
Im Verlage von Hermann Costenoble in Jena erschien, und ist in allen Buchhandlungen
bibliotheken zu haben:Zwei Fürstinnen.
Ein Roman
von
Louise Lrnesti
Walvine von Humbracht).
2 Bände. 8. 3 Thlr.
Ein neues Buch der gefeierten Mitarbeiterin der „Gartenlaube" wird vom Publikum seel !
aufgenommen. Die Hau'sblätter urtheilen über die Verfasserin wie folgt: „Sie beherrscht
bleibt maßvoll von Anfang bis zum Ende und versteht es, selbst das Peinliche uns durch ihre j
weniger peinlich zu machen." Ueber die Novellen „Aus alter und neuer Zeit" urtheilen die El
gen: „Dieselben Vorzüge, welche wir schon früher von den Romanen der Verfasserin, z. B. „in^in^in
und Fabrikant" hervorgehoben haben, kennzeichnen auch diese Dichtungen, nämlich eine ungemeine Zartheit
und Adel der Empfindung bei einer markigen Kraft und Anschaulichkeit der Darstellung.
Sein und Nichtsein.
von
Gustav Höcker.
Verfasser von „Kaufmännische Carrieren" und „Dunkles Spiel".
8. vroch. l'/i Thlr.
Der Verfasser der „Kaufmännischer Carrieren" und des „Dunklen Spiels" bestätigt mit
dieser seiner neuesten Gabe nur die früher schon.über ihn gefällten Urtheile der Kritik der bedeutendsten
deutschen Zeitschriften, durch welche er mit seltener Einstimmigkeit mit Charles Dickens gleichgestellt wird.
Höchst originell beruht der Titel dieses Buches auf zwei durch die Erzählung gehenden Gestalten, von
denen, infolge einer ebenso natürlichen, als virtuos behandelten Verkettung von Umständen, die eine derselben
am Schlüsse sich als ein Trugbild, ein Phantom erweist,
GesclltlsM Satan.
Roman in zwölf Büchern
von
Erste Abtheilung 3 starke Bände 3. vroch. 4 Thlr.
Zweite Abtheilung 3 starke Bände 8. vroch. 3'/z Thlr.
Unsere beiden größten Dichter. Schiller und Goethe, haben ein paar Aussprüche gethan, die, betrachtet
man jeden für sich allein, gegen einander zu streiten scheinen. Bei Schiller heißt es: „Das eben ist der
Fluch der bösen That, daß sie fortzeugend immer Böses muß gebären." Goethe dagegen läßt auf die Frage
des Faust an Mephistopheles: „Wer bist du denn?" diesem die merkwürdige und doch so ewig wahre Ant«
wort geben: „Ein Theil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Der Verfasser des Romans „Gesellen des Satan" machte auf seinem ziemlich bewegten Lebensgange
Beobachtungen, welche ihn ebenso oft an den angeführten Ausspruch Schillers wie an das tiefsinnige Wort
Goethe's erinnerten. Es vergeht kaum ein Tag, an welchem nicht „der Fluch der bösen That" seine Früchte
trägt. Und doch, betrachtet der Denker vorurth'eilsfrei das Treiben der rastlos kämpfenden und in diesem
Kampfe immer vorwärts strebenden Menschheit, so wird sich ihm die beruhigende Ueberzeugung aufdrängen,
daß bei allem Schlimmen, welches der Tag hervorbringt, ordnend und bildend über all' dem scheinbar wild
nährenden Chaos die Vorfeld" steht und Alles zu gutem Ende führt.
Nächstens sind es drei Jahre, daß die polnische Frage von der politischen
Bühne abgetreten ist, um der Schleswig-holsteinischen Platz zu machen. Seit dem
Tode Frederiks des Siebenten von Dänemark ist das Interesse der europäischen
Culturwelt so ausschließlich auf Deutschland und Italien concentrirt gewesen,
daß man von dem, was jenseit der Weichsel geschah, nur Notiz nahm, insoweit
es durchaus nothwendig schien. War der polnisch-litthauische Aufstand von
1863 für die Mehrzahl der europäischen Politiker doch im Grunde nur wegen
seines Einflusses auf die Beziehungen zwischen den Großmächten ein Gegen«
stand der Theilnahme gewesen. Ist heute überhaupt noch von den letzten Ver¬
handlungen in Sachen der polnischen Frage die Rede, so begnügt man sich
damit, Von dem glücklichen Umstände Act zu nehmen, daß die zufolge des Noten¬
wechsels vom Juli 1863 eingetretene Verstimmung zwischen Rußland und den
Westmächten der freien Action Deutschlands in Schleswig-Holstein zu Gute ge¬
kommen ist. Im Uebrigen hat man nach dem, was während der drei letzten
Jahre in Rußland und Polen geschehen, wenig gefragt und der ungeheure Ein¬
fluß, den der polnisch-litthauische Aufstand auf die innere Politik des Czaaren-
reichs und die Entwickelung der russischen Gesellschaft ausgeübt hat, ist beinahe
allenthalben ignorirt worden. Man wirb von ihm wahrscheinlich erst Kunde er¬
halten, wenn die Wirkungen dessen, was sich im Osten vollzogen, dem Westen
praktisch zu schaffen machen werden.
In der Niederwerfung Polens und der Russificirung Litthauens und der
Ukraine sieht das westliche Europa einfach den Sieg brutaler, aber leidlich
organisirter Gewalt über die Trümmer eines entsittlichten, in Atome aufgelösten
Culturvolks: ganz anders in Nußland, wo man die Unterwerfung Polens als
Vorspiel des Triumphs ansieht, den das Volk des jungfräulichen Ostens dereinst
über die gesammte Cultur des „überlebten" Westens erfechten wird. Wie die
Russen die Sache ansehen, hat es sich in dem Kampf, aus welchem die Mu-
rawjew und Berg als Sieger hervorgegangen sind, nicht sowohl um nationale
Gegensätze zwischen den beiden großen slawischen Stämmen, als um einen Kampf
der Principien gehandelt. „Das demokratisch-slawische Element hat die aristo¬
kratische Ordnung der Dinge überwunden, in welche die Polen als Vorkämpfer
der occidentalen Cultur den Schwerpunkt ihres staatlichen Lebens gelegt hatten."
Die alte, uns Deutschen von den östreichischen Panslawistcn schon vor zwanzig
Jahren erzählte Fabel von der slawischen Zukunft Europas ist von den Russen
seit dem Jahre 1863 neu formulirt worden. Russischer Anschauung nach hat der
letzte Aufstand in Polen zu zwei großen Resultaten geführt: zu der Nothwendig¬
keit einer stritten Unterordnung aller slawischen Völker und Stämme unter das
Banner Rußlands und zu der Feststellung des Princips, als dessen Vorkämpfer
und Träger die Russen die Weltherrschaft zu erringen berufen sind. Das lang
gesuchte Princip der künftigen slawischen Weltherrschaft, das, so zu sagen, die
geschichtsphilosophische Begründung der slawischen Ansprüche enthalten soll, ist
kein anderes als das des Socialismus. Unter diesem Zeichen hoffen die
Völker des Ostens den Sieg über den Westen davon zu tragen, mit einer
„neuen Formel der Civilisation" wollen sie den Erdkreis überwinden.
Daß es in Rußland Socialisten giebt, ist freilich nichts Neues — von der
Natur und den specifischen Eigenthümlichkeiten des russischen Socialismus hat
man aber kaum etwas bei uns gehört. Versuchen wir es. uns über die Merk¬
male und Eigenthümlichkeiten dieser Erscheinung in Kürze zu orientiren und
zu diesem Behuf über die jüngsten Phasen der Geschichte des russischen Geistes¬
lebens Rückschau zu halten. —
Der blutige Ausgang der Verschwörung vom December 1825 hatte den
zur Zeit der napoleonischen Kriege und der großen europäischen Restauration
aus Frankreich nach Rußland importirten Liberalismus im Keime erstickt. Wäh¬
rend der ersten Jahre der Regierung des Kaisers Nikolaus des Ersten lastete
die Erinnerung an das furchtbare Geschick Pestels und seiner Genossen wie
ein Alp auf denen, die sich während der russischen Invasion im besiegten
Frankreich an den Ideen von 1789 vollgesogen hatten und mit hochfliegenden
Planen für die Umgestaltung ihres Vaterlandes in die unermeßliche Ebene
zurückgekehrt waren „die (wie ein geistreicher Russe sich ausdrückt) hinter Peters¬
burg liegen soll und gewöhnlich das russische Reich genannt wird". Was aus
den Kreisen übrig geblieben war, die sich am Eingang der zwanziger Jahre zu
patriotischen Zwecken zusammengeschlossen hatten, sah sich zeitlebens zu bangem
Schweigen über seine Vergangenheit verurtheilt und die Wenigen, von denen
man wissen wollte, sie seien den Traditionen ihrer Jugend treu geblieben,
wurden polizeilich so genau überwacht, daß sie sich bis an das Ende ihrer
Tage von jeder Betheiligung an dem öffentlichen Leben ausgeschlossen sahen.
Die einzige Stätte, an welcher sich eine Art Unabhängigkeit von der Negierung,
wenn auch innerhalb sehr bescheidener Grenzen erhalten hatte, war damals die
,,
moskauer Universität. Hier gruppirte sich das heranwachsende Geschlecht wäh-
rend der dreißiger Jahre um einige akademische Lehrer, die von den Ideen Hegels
und Schellings eisüllt aus Deutschland zurückgekehrt waren und eine Philo¬
sophie lehrten, welche anscheinend nichts mit dem wirklichen Leben zu thun hatte,
in Wahrheit aber die Quelle von Anschauungen wurde, die nothwendig zu
einem unversöhnlichen Conflict mit der Ordnung der Dinge führten, welche der
Kaiser für die in Rußland allein mögliche hielt. An jeder freien Bewegung im
Leben wie im Studium behindert, von Jnspectoren und Gensdarmen ängstlich
überwacht, flüchtete die Jugend sich in das Reich des freien Denkens, um sich
hier für die Entbehrungen schadlos zu halten, zu denen sie durch das System
der Negierung verurtheilt war. Die eigentlichen Facultätsstudien waren von
vornherein bei ihr discreditirt. weil sie nur nach obrigkeitlich bestätigten Heften
betrieben werden durften und die Facultäten der Juristen, Mediciner, Philologen
und Naturhistoriker in der That wenig mehr als Abrichtungsanstalten für den
Staatsdienst waren. Wer irgend höhere geistige Bedürfnisse fühlte, warf sich
auf die Philosophie, die mit der verhaßten wirklichen Welt nichts gemein hatte.
Innerhalb der angeregteren moskauer Studienkreise bildeten sich da-
mals zwei mit einander rivalisirende Fractionen, die sich scherzweise mit den
Namen der „Franzosen" und der „Deutschen" belegten. Der sogenannte fran¬
zösische Kreis bestand aus Hegelianern von der Linken, die von dem Studium
der deutschen Philosophen allmälig zu dem der französischen Socialisten über¬
gegangen waren und bald vollständig von diesen beherrscht wurden; aus diesem
Kreise entwickelte sich das sogenannte Jungrussenthum, dessen Anschauungen
später von Alexander Herzen, Golowin*) u. a. vertreten wurden. Die „Deutschen"
trieben vorzugsweise schellingsche Naturphilosophie und fühlten sich von der
theosophischen Innerlichkeit jener Lehre ebenso angezogen als von der „Gott¬
losigkeit" und dem Mangel historischen Sinns bei den Franzosen abgestoßen;
die „Rückkehr zum Volksthum" war das Losungswort dieses Kreises, aus dem
sich im Laufe der Zeit die sogenannte Slawophilenschule entwickelte, die das
Heil in der Ausmerzung aller seit Peter dem Großen in das russische Leben
eingedrungenen fremden, zumal deutschen Elemente sah und direct an die vor¬
petrinische Zeit anknüpfen wollte. An der Spitze dieser russischen Romantiker,
die nach dem Muster ihrer deutschen Vorbilder das Leben des Mittelalters studirten,
die byzantinische Kirchlichkeit der alten Zeit wiederbeleben und die angeblich
verloren gegangene nationale Cultur reconstruiren wollten, standen die beiden
Brüder Aksakow, Kirejewski, Chomjakow u. a.. gläubige Schwärmer, die ihrer
Doctrin mit der ganzen Hingebung einer Jugend anhingen, welche sich aus eigener
Kraft von dem leeren, französische Formen nachahmenden Treiben der servilen
Gesellschaft, die sie^vorgefunden, zu einer selbständigen idealen Lebensanschauung
durchgearbeitet hatte, und nichts nach den Idolen des Rangs und der Carriöre
fragte, vor denen ihre entwürdigte Umgebung im Staube kroch. Die Me¬
moirenliteratur jener Zeit hat manchen charakteristischen Zug jenes Jugend¬
treibens aufbewahrt, dem bei aller Lächerlichkeit der äußeren Formen, in welche
es sich barg, ein edler Kern nicht abzusprechen war. Da sehen wir den feurigen
Konstantin Aksakow unbekümmert um das Hohnlächeln ordengeschmückter Be¬
amten und Offiziere in den glänzenden Salons des moskauer Generalgouver-
ncurs in der schlichten russischen Nationaltracht erscheinen, die man sonst nur
an Bauern zu sehen gewohnt war. Peter Kirejewski mischt sich unter die
Sckaaren des gläubigen Volks, das sich am Ostermontag vor der Kathedrale
versammelt, um mit den Sectirern ernste Dispute über den wahren Namen
Jesu oder die ursprüngliche Form des Kreuzschlagens zu führen u. dergl. in. —
Das Mißtrauen der Regierung versprengte die beiden Studentenkreise
nach wenigen Jahren in alle Winde. Die Führer wurden an die sibirische
Grenze geschickt, die gefährlichen Lehrer verseht oder pensionirt, die Philosophie
endlich in aller Form aus den Lectionskatalogen gestrichen und durch „nützlichere"
Disciplinen ersetzt. Doch die einmal in die Erde gesenkten Samenkörner waren
nicht mehr zu ersticken, sie wucherten fort und fort und trieben bald an allen
Ecken und Enden des Reiches Blüthen und Früchte empor. Der Terrorismus, mit
dem man gegen die Anhänger jener Lehren verfuhr, reizte zum Martyrium und
führte ihnen immer neue Schüler zu. Jene beiden einst befreundeten Gruppen
der Franzosen (Jungrusscn) und Deutschen (Slawophilen) gingen fortan ge¬
trennte Wege und waren bereits in den vierziger Jahren bei diametral ver¬
schiedenen Resultaten angelangt. Während die Slawophilen sich mit Eifer auf
russische Archäologie legten, die Nothwendigkeit einer rein nationalen Entwicke¬
lung mit zunehmender Schärfe betonten, ihr Hauptaugenmerk auf die Wieder¬
belebung der griechisch-orthodoxen Kirche richteten und aus der religiösen Un¬
mittelbarkeit und reinen Kirchlichkeit ihres Volkes, das von der Glaubenslosigkeit
des „durch den einseitigen Cultus der Intelligenz paganisirtcn" Westens unbe¬
rührt geblieben war, dessen Anspruch auf die künftige Weltherrschaft dcducirten,
schlössen die Jungrussen sich immer enger der Sache der europäischen Revolu¬
tion an; in Religion wie in Politik den radicalstcn Anschauungen huldigend,
wollten sie von der altrussischen Vergangenheit ebenso wenig etwas wissen, wie
Von der neurussisch-petrinischen Gegenwart. Kirche, Dynastie u. s. w. sollten mit
Stumpf und Stiel ausgerottet werden — um einem Bunde mit den übrigen
frei gewordenen Völkern Europas Platz zu machen, der die Welt dann nach den
Vorschriften Fourriers, Se. Simons u. A. einrichten sollte.
An Berührungspunkten zwischen diesen anscheinend durch eine tiefe Kluft
geschiedenen Gruppen fehlte es indessen nicht so vollständig, als man auf den
ersten Blick glauben sollte. Trotz ihres Kosmopolitismus waren die Jungrussen
mit den Slawophilen vollständig einerstanden, wenn diese als erstes Postulat
ihrer Doctrin die Vernichtung des fremden, ganz besonders des deutschen Ein¬
flusses in Rußland hinstellten. Waren die Deutschen doch von jeher „die Mame¬
lucken" der Regierung, die Hauptpioniere des bureaukratischen Absolutismus ge¬
wesen, der seit Peter dem Großen das alte Bojarenregiment bekämpft, allen
nationalen Bildungen der russischen Entwickelung den Tod geschworen hatte.
Der Haß gegen die Deutschen war der Ausgangspunkt jener hochfliegenden
Pläne eines panslawistischcn Weltreichs, dem die hochmütigen „Culturträger"
zu Füßen gelegt werden sollten, die dem russischen Volksleben und der von den
Vätern ererbten Freiheit die Zwangsjacke einer dem westlichen Europa ent¬
nommenen Staatsform angelegt hatten, welche seit Jahrhunderten jeder freien
volksthümlichen Entwickelung die Adern unterbunden hatte. Einig waren Jung¬
russen und Slawophilen ferner in ihrer Abneigung gegen den Adel, der zuerst
von der Tradition der Väter abgefallen war, und gemeinsam mit den Freunden
die verhaßte bestehende Ordnung der Dinge aufgerichtet hatte; einig war man
in dem Glauben an das -Volk, das sich allein treu geblieben war, das seine
ursprüngliche Kraft und Frische trotz des ehernen Jochs, das auf ihm gelastet,
bewahrt hatte, das allein fähig schien, an dem Aufbau einer besseren Zukunft
Theil zu nehmen. Den dritten und wichtigsten Punkt der Verständigung und
Einigung machte aber der gemeinsame Cultus des altrussischen Instituts des
bäuerlichen Gemeindebesitzes aus, auf dessen Bedeutung die Slawophilen zuerst
durch den bekannten deutschen Reisenden Freiherrn V. Haxthausen aufmerksam
gemacht worden waren und den die jungrussische Schule sodann zur „neuen
Formel der Civilisation" erhoben und für die allein mögliche, von den west¬
europäischen Socialisten vergeblich gesuchte Lösung der socialen Frage aus¬
gegeben hatte. Von diesem Institut müssen wir hier, wenn auch nur in Kürze,
sprechen. —
Innerhalb der russischen Dorfgemeinden giebt es kein persönliches Eigen¬
thum, keinen individuellen Besitz an Grund und Boden. Vor wie nach Auf¬
hebung der Leibeigenschaft zerfallen die Ländereien, welche zu einem russischen
Landgut gehören, in das Hof- und das Bauerland. Das letztere steht in der
erblichen Nutzung der gesanuntcn Gemeinde, welche den nutzbaren Ackerboden
periodisch durch ihre nettesten unter die Glieder der Gemeinde je nach der An¬
zahl der vorhandenen Familien vertheilen läßt. Diese Vertheilungen geschehen
in der Regel alle neun bis zwölf Jahre und kommen sämmtlichen zur Genossen¬
schaft gehörigen Familien zu gut; jedes Ehepaar hat Anspruch auf eine seinem
Bedürfniß, resp, seiner Kopfzahl entsprechende Quote Ackerland; der Wald, die
Weide und die übrigen Nutzungen stehen im ungetrennten. gemeinsamen Besitz
der Gemeinde. Auf die Einzelheiten dieser periodischen Vertheilruigen. die Prin-
cipien, nach welchen bei denselben verfahren wird u. s. w., können wir hier nicht
näher eingehen, — für unseren Zweck genügt es, daß jener Ordnung gemäß
jeder russische Bauer einen Anspruch an den Grund und Boden seiner Gemar¬
kung hat, daß der Unterschied zwischen selbständigen bäuerlichen Wirthschafts¬
unternehmern und Knechten, der sich im gesammten übrigen Europa vorfindet,
in Rußland unbekannt ist und daß es daselbst auf dem flachen Lande in der
That keine „landlosen Leute" (wir führen diesen in Rußland vielbeliebten tech¬
nischen Ausdruck «zxxressis vsrbis an) giebt, ja daß auch der Bauer, der in
die Stadt wandert, um daselbst eine bürgerliche Nahrung zu treiben, von der
Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist. erforderlichen Falls in seine Heimath zurück¬
zukehren und bei der nächsten Landvertheilung ein Grundstück zu verlangen, das
ihm die Möglichkeit bietet, eine ebenso auskömmliche Existenz zu finden, als die
seiner zu Hause gebliebenen Dorfgenossen ist.
An den Eigenthümlichkeiten der russischen Dorfgemeinde ist durch die Auf¬
hebung der Leibeigenschaft nichts geändert worden. Das Emancipationsgesctz
vom 19. Februar 1861 hat es nur mit den Beziehungen der Bauern zum Herrn
zu thun: entweder kauft die Gemeinde dem Herrn das Land zu einem normirten
Preise ab; oder ihre Glieder zahlen ihm Pacht, oder sie leisten ihm ein gesetz¬
lich normirtes Maß von Arbeiten. — In diesem Institut des Gemeindebesitzes,
dem unverkennbaren Ueberbleibsel eines halbnomadischen Culturzustandes, der
im übrigen Europa seit Jahrhunderten überwunden ist und nur unter primären
Verhältnissen und um den Preis einer ewigen Kindheit der Landwirthschaft be¬
stehen kann, sahen Slawophilen und Jungrusscn eine tiefsinnige, vielverheißende
Offenbarung des russischen Volksgeistes, dessen glücklicher Unmittelbarkeit es be-
schieden gewesen sei, die Lösung des großen Problems zu bewahren, nach dem
die Weisen des superkluger Westens vergeblich geforscht und gerungen hatten.
Es versteht sich von selbst, daß die Doctrinen, die an dieses Institut
anknüpften, während der Regierung des Kaisers Nikolaus auf einzelne Kreise
beschränkt blieben und auf alle öffentlichen Kundgebungen Verzicht leisten mühten.
Die Slawophilen besaßen zwar schon in den dreißiger Jahren eigene Organe,
mußten bei Entwickelung ihrer Ideen aber die höchste Vorsicht beobachten und jeden
Schein von Opposition gegen die Regierung vermeiden. Sie deckten sich nach
dieser Seite in der Regel mit allgemeinen patriotischen Phrasen und einem
ostensibeln kirchlichen Eifer, indem sie gleichzeitig ihren Gegensatz gegen den
glaubenslosen westeuropäischen Liberalismus möglichst betonten und nur unter
der Blume andeuteten, daß es auch Berührungspunkte zwischen diesem und den
Forderungen ihrer Partei gebe. Die jungrussische Partei war dagegen zu
Völligem Schweigen verurtheilt. Ihre Forderungen und Wünsche gewannen blos
in einer geheimen, aber ziemlich verbreiteten handschriftlichen Literatur, die bis
zur Mitte der fünfziger Jahre im Schwange war, Gestalt und Ausdruck. An-
Hänger zählte sie freilich in allen Kreisen der Gesellschaft, ganz besonders unter
der Jugend der Petersburger Militärlehranstalten und in den Studentenkreisen
Moskaus.
So blieb es bis gegen das Ende der vorigen Regierung. Der unglück¬
liche Ausgang des orientalischen Krieges, in welchem das alte System einen
Bankerott gemacht hatte, den selbst die officielle Welt nicht läugnen konnte, und
die Thronbesteigung Alexanders des Zweiten brachten aber in der Mitte des
vorigen Jahrzehnts einen plötzlichen Umschwung des russischen Lebens zu Wege,
wie er in der Weltgeschichte kaum dagewesen ist. Kaum daß der Kaiser das
erste Wort von der Nothwendigkeit einer Reform und der Aufhebung der Leib¬
eigenschaft gesprochen hatte, als der lang verhaltene Unwille gegen die gesammte
alte Ordnung der Dinge mit einer Wucht und Leidenschaftlichkeit hervorbrach, die
alles, auch die Regierung mit sich fortriß. „Reform aus allen Lcbensgebieten"
war das Losungswort, das von der Newa bis an die Ufer der Wolga und des
schwarzen Meeres schallte und von Millionen jubelnd wiederholt wurde. Ueber
Nacht war der Geist der Gesellschaft vollständig verändert. Während der Wille
der Negierung bis dahin allein maßgebend, jede Einmischung in ihre Pläne
und Zwecke streng verpönt gewesen war, niemand andere als rein egoistische
Absichten verfolgt hatte, wollte sich jetzt alles an den öffentlichen Angelegen¬
heiten, an der Sache der Emancipation der Leibeigenen, der Volksbildung, der
Umgestaltung der Justiz und der Verwaltung betheiligen. Man glaubte sich am
Eingang einer neuen goldenen Zeit und schwelgte im Vorgefühl der Herrlichkeiten
des neuen freien Rußland,— ein Taumel der Begeisterung, dem sich niemand ent¬
ziehen konnte, ergriff alle Classen des Volks und im Nu waren die Fesseln gesprengt,
an welche man sonst kaum zu rühren gewagt hatte. Binnen wenigen Monaten ent¬
stand eine Presse, die Hunderte von Journalen aller Farben und Richtungen, aller
Formen und Gattungen zählte, — wer irgend zu schreiben gelernt hatte, ergriff die
Feder und wurde Publicist, die Leute der alten Schule, die keinen andern als
den Uetersen kannten, bewarben sich in Masse um die Censorposten, um wenig¬
stens als liberale Wächter der Presse den Interessen dieser und der jungen Frei¬
heit dienen zu können. Während die russischen Zeitungen bis dahin ohne alle
Bedeutung gewesen waren, blos die officiellen Journale politische Artikel ge¬
bracht hatten und das literarische Leben auf Theaterrecensionen und kritische
Fehden zwischen ästhetischen Stümpern beschränkt gewesen war, gab es schon
im Jahre 18S8 kein Journal mehr, das nicht die Arena der Politik beschritten
und alle Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einer rücksichtslosen
Kritik unterzogen hätte. Das alte System war von der Regierung so voll¬
ständig preisgegeben, daß niemand eine Vertheidigung desselben wagte. Anklagen
gegen das Bestehende, gegen Personen und Zustände, die noch zwei Jahre früher
für unantastbar gegolten hatten, regneten von allen Ecken und Enden und auf
der Höhe der Situation stand, wer die keckste und maßloseste Sprache führte.
Die Censur existirte nur dem Namen nach, die Negierung zeigte weder Neigung,
noch.Fähigkeit, die Thätigkeit der Presse einzuengen und wo sie einen Anlauf dazu
nahm, ließen sich die Censoren, die zum Theil den höchsten Schichten der
Bureaukratie angehörten, mit Begeisterung absetzen, um neue, immer liberalere
Nachfolger zu finden. In Hunderttausenden von Exemplaren wurde Herzens in
London gedrucktes Wochenblatt „Kökökök" (die Glocke) eingeschmuggelt und über
das ungeheure Reich verbreitet, vom Kaiser bis zum Militärschreiber herab las jeder
das streng verbotene Blatt, dessen Macht bald schrankenlos wurde, dessen Heraus¬
geber eine absolutere Gewalt ausübte, als sie je einem unbeschränkten Monarchen
zu Gebote gestanden hatte. Der revolutionäre Geist, den die leidenschaftlichen
Auslassungen dieses reichsten publicisUschen Talentes der Zeit athmeten, wurde
in Palästen und Hütten, Gerichtsstubcn und Kasernen mit gleichem Ent¬
zücken geschlürft und die Furcht davor, in den „Kolol'ol" zu kommen und von
diesem gerichtet zu werden, lähmte die Hände der mächtigsten, eigenwilligsten
Staatsmänner, Generale und Beamten, denen sonst jede Rücksicht fremd gewesen
war. Nur in der Form verschieden von dem gefürchteten londoner Blatt war
die Sprache der Petersburger socialistischen Journale, an denen sich damals
Glieder des höchsten Adels beiheiligten, die alle journalistischen Talente durch
riesige Honorare um sich versammelten. — Nicht minder gefährlich waren die
Sonntagsschulen, die seit dem Jahre 1859 in Mode kamen und an denen sich
alles betheiligte, um die Grundsätze der „neuen Aera" auch in den ungebildeten
Schichten zu verbreiten. Im Herbst 1861 brachen die Petersburger Studenten¬
unruhen aus und an beunruhigenden Anzeichen fehlte es auch an anderen
Orten nicht.
Zu einer Charakteristik der einzelnen damals aufgetauchten Richtungen ge¬
bricht es uns hier an Platz. Sie wurzelten eigentlich alle in der Negation des
Bestehenden und der rothe Faden, der durch alle Kundgebungen des Volksgeistes
ging, war ein Haß gegen die alte Ordnung der Dinge, der zu leidenschaftlich
war. um irgend Positives schaffen zu können. Liberale, nationale und kosmo¬
politische Elemente fanden sich in einem bunten Strom zusammen, dem niemand
eine Schranke zu setzen vermochte. Man verlangte Abschaffung des Adels, un-
entgeldliche Vertheilung alles Grund und Bodens, freie Presse, Geschwornen-
gerichte, Ständeversammlungen u. s. w. —, selbst mit der revolutionären Pro¬
paganda in Polen, die den späteren Aufstand vorbereitete, wurde vielfach
sympathisirt. Waren doch auch die Polen Opfer des nikolaitischen Systems
gewesen, machten doch auch sie der Regierung Opposition, standen doch auch sie
unter dem Schutz Alexander Herzens. Das Gefühl, daß man einer Revolution
entgegengehe, daß eine Zersetzung des russischen Staatslebens begonnen
habe, die nicht mehr zu hemmen war. war allenthalben lebendig: Jungrussen
und Slawophilen trugen in gleicher Weise zur Verbreitung desselben bei, jene
indem sie eine Radicalreform im Sinne der rothen Demokratie forderten, diese
indem sie ein zugleich liberales und doch altrussisches Gemeinwesen vom natio¬
nalen Standpunkte aus forderten.
Die Se. Petersburger Feuersbrünste vom Mai 1862 setzten dieser stürmischen,
überstürzenden Bewegung wenigstens für den Augenblick ein Ziel. Die Gesell-
schcift erschrak vor dem Abgrunde, an den ein blinder Taumel sie geführt halte
und der alle Cultur, alle Ordnung und, Sicherheit zu verschlingen drohte, —
eine ziemlich allgemeine Ernüchterung bemächtigte sich der Geister und die Re¬
gierung ging uur der öffentlichen Meinung voran, als sie wenige Wochen später
die Zügel straffer anzog, einige revolutionäre Clubs (namentlich den Petersburger
Schachclub) aufhob, die Sonntagsschulen für einige Zeit schloß und drei der
Vorgeschrittensten Journale (von denen eins den Interessen der Slawophilen
diente» zwei von jungrussische» Socialisten geleitet wurde») suspendirte. Im
Herbst desselben Jahres (1862) suchte der Kaiser dann durch Promulgation von
Entwürfen einer neue» Gerichtsverfassung und einer neuen Provinzialverfassung
den Beweis dafür zu geben, daß die Negierung ihren liberale» Absichten treu
geblieben sei und auch ohne das Drängen des Volkes den Bedürfnissen der
Zeit Rechnung zu tragen wisse.
Nichtsdestoweniger schien die für einen Augenblick beruhigte revolutionäre
Zeitströmung beim Beginne des Winters 1862 — 1863 neue stürmische Wellen
schlagen zu wollen. Noch immer herrschte Herzens „Kökökök" im Reich der
Geister und namentlich von der Wolga her drangen beunruhigende Gerüchte
von demagogischen Umtrieben, socialistischen Verschwörungen, die auf unentgeld-
liche Vertheilung alles Grund und Bodens u. f. w. abzielten, in, die mühsam
beruhigten Hauptstädte. Da brach im Januar 1863 der pol»isch-lilthauische
Aufstand aus und wiederum war die Situation im Handumdrehen unkenntlich
verändert. So lange die revolutionäre Erhebung sich auf das eigentliche König¬
reich (Congreßpolen) beschränkte, kamen auch in Moskau und Petersburg noch
Polenfreundliche Aeußerungen vor, kaum aber hatte der Aufstand nach Lithauen,
Westrußland und in die Ukraine herübergeleckt, als das gesammte russische Volk
sich energisch für die Sache der Regierung aussprach und gemeinsam mit dieser
die Integrität der Neichögrenzen wahren zu wolle» nklärte. Jene einst russisch
gewesenen Theile des alten Polen, in denen Millionen griechisch-orthodoxer,
russisch redender Bauern lebten und von polnischen Edelleuten und katholischen
Priestern seit Jahrhunderten bedrückt worden waren, galten für ein heiliges
Erbe der Väter, das man um jeden Preis retten, von den fremden Elementen
säubern und völlig russisicircn wollte. Die Führung der öffentlichen Meinung über¬
nahm ein bis dahin wenig beachteter Publicist Michael Katkow, früher Professor
der Philosophie in Moskau, jetzt Redacteur der Moskaner Zeitung. Dieser
Mann hatte bereits in den Tagen der stürmischen Erregung des ersten Freiheits¬
taumels eine gewisse Zurückhaltung und Mäßigung bewiesen, die ihm eine Aus¬
nahmsstellung verschaffte; er galt für einen Anhänger des Constitutionalis-
mus und hatte zuerst auf die Vorzüge des englischen Staatswesens und die
Nothwendigkeit der Decentralisation und aristokratischer Selbstverwaltung hin¬
gewiesen, später gegen den Socialismus und gegen die Maßlosigkeiten Herzens
energisch das Wort ergriffen. Kaum hatte dieser letztere sich zu Gunsten der
Polen ausgesprochen und die Sache des Aufstandes moralisch unterstützt, als
Kattow ihn im Namen des Nationalitätsprincips als Verräther an der Sache
Rußlands angriff und binnen wenigen Wochen für immer um allen Einfluß
brachte, ja förmlich proscribirte. Ausgerüstet mit einem publicistischen Talent,
wie es nur selten vorkommt, wußte der Redacteur der Moskaner Zeitung binnen
kurzem ganz Rußland unter seine Fahne zu sammeln und in begeistertem Kampf
gegen Polen anzuführen. Die liberale Strömung schlug mit Blitzesschnelle in
eine exclusiv-nationale um. Aufrechterhaltung der Reichseinheit, Wiedergeburt
im nationalen Sinne, Wiedereroberung des in Litthauen und der Ukraine an
die Polen verlorenen Terrains waren die neuen Stichworte, die allenthalben
widerspruchslos wiederholt wurden. Die Nussisicirung der „westlichen Gouver¬
nements" (so lautet die officielle Bezeichnung für die früher polnischen Reichs¬
theile) wurde eine heilige Nationalsache, für welche sich alle Parteien plötzlich
begeisterten und in schwärmerischem Eifer zu überbieten suchten.
Als die Wcstmächte im Sommer 1863 Miene machten, für die Polen
zu interveniren, erreichte der Haß gegen alles Fremdländische, die Hingabe
an die nationale Sache den höchsten Kulminationspunkt. War früher das
„alte System" der Gegenstand der allgemeinen Abneigung gewesen, hatte man
um jeden Preis demokratisch-liberale Staatsformen angestrebt, so sollte jetzt jede
Rücksicht hinter der auf die Macht und Einheit des Vaterlandes zurückstehen,
so wollte man jetzt alle politisch-liberalen Wünsche bis zu erreichter Nussisication
und Assimilation aller Theile des Reichs vertagen. Als Hauptfehler des alten
Systems wurde jetzt sein Mangel an nationaler Farbe bezeichnet, diesem sollte
zuerst und vor allen übrigen gewünschten Umgestaltungen abgeholfen werden,
und alle Parteien reichten sich zur Erstrebung dieses Ziels brüderlich die Hand.
Es begann eine förmliche Jagd auf Separatismus und Particularismus und
derselbe Publicist, der noch vor sechs Monaten die Principien der Decentrali¬
sation und des Selfgovernments gepredigt, wurde zum Vorkämpfer und Pro¬
pheten straffster Centralisation. Täglich brachten die riesigen Spalten der Mos¬
kaner Zeitung neue geharnischte Artikel gegen den „Polonismus", die Wurzel
aller Uebel in Rußland, den Quell alles revolutionären Treibens, den Todfeind
der nationalen Politik. Bald kamen neben den Polen aber auch andere „Sepa¬
ratisten" auf die moskauer Proscriptionsliste: die Finnländer, denen Schuld
gegeben wurde, die Verbindung ihres Vaterlandes mit dem russischen Reich in
eine bloße Personalunion auflösen zu wollen, die deutschen Patrioten in Liv-,
Esth- und Kurland, die jene Provinzen vollständig zu germanisiren und Nußland
zu entfremden bestrebt seien, endlich auch die Armenier Grusicns und die
„ukrainophilen" Verehrer des Kleinrussenthums. Dieselbe Widerstandslosigkeit
und Unterwerfung unter die Tagesparole, die in den Jahren 18S7—61 Herzen
zur Herrschaft über die öffentliche Meinung erhoben hatte, machte das russische
Volk von nun an zum willenlosen Werkzeug Katkows und seiner fanatischen Ab-
neigung gegen alle nicht specifisch russischen Elemente innerhalb des Reichs¬
verbandes.
Jetzt schlug die entscheidende Stunde für den russischen Socialismus, der
durch die neue nationale Strömung zwar mit fortgerissen, darum aber noch
nicht zum Schweigen gebracht worden war. In Litthauen und Polen gab es
eine nach Millionen zählende bäuerliche Bevölkerung, welche die alleinige Stütze
der Regierung ausmachte und aus Haß gegen seinen Unterdrücker, den Adel, der
neben der Geistlichkeit und einem Theil des Bürgerthums an der Spitze der
Polnischen Bewegung stand, nichts von einer Wiederherstellung der königlichen
Rrpublik und von einer Abreißung von Rußland wissen wollte. Es lag auf
der Hand, daß dieses Verhältniß benutzt und der Bauernstand für immer in
das Interesse Rußlands gezogen werden mußte. Zur Erreichung dieses Zwecks
decretirte die Negierung noch während des Aufstandes für Litthauen und die
Ukraine (einige Zeit später auch für das Königreich Polen) eine plötzliche Auf¬
hebung aller bäuerlichen Lasten, vollkommene Selbständigkeit der Landgemeinden
und zwangsweise Verwandelung der an Bauern verpachteten Höfe in bäuerliches
Eigenthum. Von einer Schadloshaltung des besitzlichen Adels war nur dem
Namen nach die Rede, der materielle Ruin desselben wurde vielmehr systematisch
betrieben. Um die Verwirklichung dieser Neugestaltung der Agrarverhältnisse zu
ermöglichen, konnte man der Unterstützung des russischen Volks nicht entbehren.
Im Namen des Vaterlandes forderte die Moskaner Zeitung zur Unterstützung
des großen Werks der Befreiung der von den Polen unterjochten lithauischen,
klein- und weißrussischen Brüder und des loyal gebliebenen polnischen Bauern¬
standes auf: es gelte die Durchführung des historischen Berufs Rußlands, der
in nichts Anderem als der Emancipation des vierten Standes bestehe. Das
socialistische Jungrussenthum sah jetzt die Zeit gekommen, in der es seine
bei dem russischen Emancipationsgesetz nur zum Theil erfüllten Wünsche ver-
wirklichen konnte. Das Werk der Vernichtung des'Adels, der Beglückung des
Bauernstandes, für den man von jeher geschwärmt hatte, die Möglichkeit einer
Verpflanzung des russischen Gemeindebesitzes aus litthauischen und polnischen
^oden führte der Regierung tausend Hände zu. die bis dahin gegen sie ge¬
stritten hatten, und schaarenweise zog die jungrussische Bureaukratie an die
westliche Grenze des Reichs, um diese von den Ueberbleibseln der westeuropäischen
Aristokratenwirthschaft zu reinigen und ein neues, kräftiges Bauernreich zu be¬
gründen. Auch die Slawophilen boten bereitwillig ihre Dienste an. Was die
Socialisten im Namen ihres Principes unternommen hatten, wurde von ihnen
für die angebliche Wiederherstellung altrussischer Lebensformen, für die Be¬
kämpfung des römisch-katholischen Klerus und zur Befestigung des von den Katho¬
liken verdrängten und bei Seite geschobenen byzantinisch-russischen Kirchenthums
gethan: — der Gog des Liberalismus war durch den Magog des Nationalitäts¬
princips ausgetrieben. An der Spitze dieser Bewegung, die sehr bald über die
ursprünglichen Absichten der Moskauschcn Zeitung und ihres im Grunde aristo¬
kratischen Redacteurs hinausschoß, standen und stehen noch gegenwärtig der
Domäncnminister Selenny, der Kriegsminister Miljutin und dessen Bruder,
der Staatssccretär für Polen, Geheimrath Nikolas Miljutin. Der Kampf
gegen den aristokratischen „Polvniömus" wurde mit dem Fanatismus religiöser
Schwärmerei und einer wahrhaft barbarischen Rücksichtslosigkeit geführt, die vor
keinem Mittel scheute, das zum Zweck führen konnte, und die Vernichtung der
aristokratisch-polnischen Elemente als einen dem Slawengott wohlgefälligen
Opfcrcultus betrieb. —
In Litthauen, Weißrußland und Polen ist das Institut des russischen
Gemeindebesitzes ebenso unbekannt, wie in Finnland, den deutsch-russischen Ost-
seeprovinzen Liv-, Esth-und Kurland und dem übrigen Europa. Die lithauischen,
weißrussischen und polnischen Bauern leben auf großen, geschlossenen Bauern¬
höfen, die sich in den Händen der sogenannten Vaucrwirthe befinden und von
diesen mit Hilfe gemietheter Knechte bearbeitet werden. Zu einer förmlichen
Ausdehnung des Gemeindebesitzes auf die früher polnischen Neichstheile hat die
Regierung sich trotz alles Drängens der socialistischen Partei bis jetzt nicht ent¬
schließen können; man hat sich zur Zeit damit begnügt, auch den bäuerlichen
Knechten Grundstücke zuzutheilen, desgleichen die auf Edelhöfen dienenden
ländlichen Knechte mit den Herren abgenommenen Grundstücken auszurüsten
und den Grundsatz aufzustellen, daß sämmtliche Söhne der Bauerwirthe den
gleichen Anspruch an das väterliche Erbe haben sollen. Aller Wahrscheinlichkeit
Nach wird man an dieser Grenze stehen bleiben, denn die Bauernbcglückung in
Litthauen und Polen, die in jenen Ländern eine schauerliche Demoralisation des
Landvolks und eine vollständige Auflösung aller unter Menschen gangbaren
Rechtsbegriffe herbeigeführt, hat, ist der russischen Regierung nie mehr als zeit¬
weiliges Mittel zum Zweck gewesen.
Ganz anders ist die Sache von der überwiegend großen Mehrheit des'
russischen Volks, insbesondere von der Bureaukratie, dem Gelehrtenstande und
der Presse aufgefaßt worden. Die Dinge, welche die Negierung nur geschehen
ließ, um sich einen gefährlichen Gegner, den polnischen Adel, vom Halse zu
schaffen und den Volksgeist unter ihre Fahnen zu versammeln, drohen ihr über
den Kopf zu wachsen, denn sie sind seit den letzten Jahren in ein förmliches
System gebracht worden, dessen Consequenzen auf nichts Geringeres als eine Um¬
gestaltung der gesammten europäischen Culturwelt abzielen. Das Institut des
Gemeindebesitzes soll der Eck- und Grundstein des gesammten russischen Staats¬
lebens werden, der Bauerstand den Kern desselben bilden, der Grundsatz, daß
das Eigenthum am Grund und Boden nie dem Einzelnen, sondern nur der
Gesammtheit zusteht, auf allen Lebensgebieten und bis in die letzten Consequenzen
durchgeführt werden. Der von den Völkern des europäischen Westens zu ewiger
Sklavenarbeit und vollständiger Besitzlosigkeit verurtheilte vierte Stand soll der
Träger einer russischen Universalmonarchie, der Bauernknecht dem bäuerlichen
Wirthschaftsunternehmer gleichgestellt werden, der städtische Proletarier die Mög¬
lichkeit gewinnen, auf dem flachen Lande eine seinen Ansprüchen entsprechende
Parcelle des immer nur periodisch vertheilten, steter Neuvertheilung unterliegenden
Grund und Bodens zu erhalten. Rußlands historischer Beruf wird in der Be¬
freiung der Unterdrückten, der allmäligen Verbreitung des welterlösenden Prin¬
cips des Gemeindebesitzes gesucht. Die Formen des westeuropäischen Cultur¬
lebens sind morsch und überlebt, weil sie das Elend der Massen zur Voraus¬
setzung haben, der liberale Rechtsstaat mit seiner abstracten Gleichheit vor dem
Gesetz, seiner Vertretung der Besitzlichen ist eine heuchlerische Lüge, die an sich
selbst zu Grunde gehen muß, und Ferdinand Lassalle ist die hervorragendste Er¬
scheinung der Zeit, „der einzige wirkliche, wenn auch auf einer Vorstufe stehen
gebliebene Volksfreund des Jahrhunderts". Bis zu ausgemachter Sache ist der
Absolutismus die in Rußland allein mögliche Staatsform, denn nur sie stützt
sich auf die Massen, kann des Adels entbehren und rücksichtslos gegen die Be¬
sitzenden vorgehen. Zunächst sollen die Principien dieses Agrarsocialismus in
ganz Rusland in Ausführung gebracht und dazu benutzt werden, Finnland und
die Ostseeprovinzen aus den Händen deutscher und schwedischer Zwingherrn zu
retten und Nußland vollständig zu assimiliren. dann kommen die außerrussischen
Slawenländer, die für Rußland zu gewinnende Türkei, am Ende der Tage die
germanischen und romanischen Staaten an die Reihe und über der befreiten
Menschheit flattert dann die Fahne mit dem byzantinischen Kreuz und der zur
Wahrheit gewordenen Inschrift: „In diesem Zeichen wirst Du siegen."
Die hier in Kürze und nur ihren Umrissen nach bezeichneten Grundsätze
werden nicht nur von einzelnen Schwärmern, sie werden von der großen Mehr¬
heit der Gebildeten und Halbgebildeten in Nußland bekannt und mit mehr oder
weniger Offenheit verkündet. Noch neuerdings sind sie bei Gelegenheit der Er¬
nennung Goluchowskis zum galizischen Statthalter in ihrer Anwendung auf
die unterdrückten ruthenischen Brüder ziemlich unverblümt zur Sprache gebracht
worden. In Litthauen und Polen gehen sie einer wenigstens theilweisen Ver-
wirklichung entgegen. Die Moskaner Zeitung, die gern zurückmöchte, kann, bevor
die Russificationsarbeit in den unglücklichen Ländern am Niemen. der Weichsel
und dem Dniestr vollendet ist, ihrer socialistischen Bundesgenossen nicht ent¬
behren, und wenn wir die kleine Adelspartei aufnehmen, die sich vergeblich ab¬
müht, die Macht der socialistischen Bureaukratie zu brechen und den Absolutismus
durch ein aristokratisches Bojarenthum zu beschränken, so giebt es in Rußland
kein Element, das dem seit drei Jahren entfesselten Strom einen Damm ent¬
gegenzusetzen versucht. Wohin jene Principien führen können, wenn sie con-
sequent weiter gehen und sich von allen Rücksichten auf das bestehende Recht
emancipiren, das haben die nihilistischen Verschwörungen gezeigt, die zu dem
Attentat vom 16. (4.) April d. I. führten. Was half es, daß das russische
Volk sich gegen die scheußliche Ausgeburt aussprach, welche das Leben des in
Wahrheit geliebten Herrschers bedrohte, daß die „Liberalen" feierlich jede Ge¬
meinschaft mit Karakosow und dessen Genossen ablehnten. Die Principien,
von denen die Nihilisten der „Organisation" und der „Hölle" (zweier ultra¬
socialistischer Vereine) ausgegangen waren, haben von ihrer Herrschaft über
die Geister nichts verloren, und das „Bauernrußland mit der wechselnden Par-
celle" ist das Ideal geblieben, nach dem man die Arme ausstreckt. Vergebens
hat die Regierung in dem kaiserlichen an den Ministerpräsidenten Fürsten Gagarin
gerichteten Rescript vom 23. Mai erklärt, Recht und Eigenthum seien stets die
Säulen ihres Systems gewesen, der Adel bilde nach wie vor ihre Hauptstütze;
-— mächtiger als all diese Worte wirkt das Beispiel des socialistischen Terrorismus
der Befreier Litthauens und Polens, und die gouvernementale Versicherung,
daß man es hier mit Ausnahmezuständen zu thun habe, die das übrige Reich
nichts angingen und niemals aus dieses bezogen werden dürften, Wird von nie¬
mand geglaubt und beachtet.
Welche die Zukunft dieser Geistesbewcgung ist. die den Socialismus zum
leitenden Princip des russischen Staatslebens zu machen bestrebt ist, ob sie
einem neuen Umschlage entgegengeht oder dazu berufen ist, die slawische Welt
dereinst zum Kampf gegen das romanisch-germanische Culturleben zu führen,
vermag heute niemand zu sagen. An der Zeit aber dürste es sein, daß Europa
von den Thatsachen Act nimmt, die sich in seinem Osten vollzogen haben und
eine Revolution hervorzubringen drohen, im Vergleich zu welcher der pariser
Arbeiteraufstand vom Juni 1849 sich wie ein kindisches Possenspiel ausnimmt.
Zum Anhalt für die Beurtheilung der Thätigkeit der zweiten Armee liegt
ein inzwischen bei Bath in Berlin erschienenes kleines Buch vor „ Die Theil¬
nahme der zweiten Armee u. s. w.", das anscheinend aus officieller oder officiöser
Feder stammt und deshalb für Zeiten, Zahlen und erlassene Befehle uns eine
Autorität gewährt, die leider für die unter dem Prinzen Friedrich Karl aus¬
geführten Thaten noch fehlt.
Der Kronprinz, den wir bei Neisse mit vier Armeecorps aufgestellt wissen,
erhielt am 19. Juni Abends den Befehl, ein Corps an der Neisse zu belassen,
ein Corps nach Landshut an die böhmische Grenze, nördlich der Grafschaft
Glatz, zu dirigiren, und mit den beiden andern Corps eine Aufstellung zwischen
den beiden erstem zu nehmen, um nach der einen oder andern Seite bereit zu
sein. — Wir sehen aus dieser Anordnung, daß man immer noch die Sorge
hatte, Benedek könne durch Oberschlesien vordringen. Aber schon die nächsten
Tage zeigten, daß die Bewegungen des Prinzen Friedrich Karl durch Sachsen
nach Böhmen Benedek'dorthin gezogen hatten, und sollte der Kronprinz seine
Vereinigung mit Prinz Friedrich Karl im feindlichen Lande erreichen, so mußte
die schlesische Armee das Gebirge Passiren, ehe der Gegner sich jenseits ge¬
sammelt hatte. Der Kronprinz erbat sich dazu die Erlaubniß in Berlin und
beantragte gleichzeitig, zur Deckung von Schlesien kein Corps zurücklassen, sondern
diese Deckung in den Erfolgen in Böhmen suchen zu dürfen. Eingehende tele¬
graphische Befehle entsprachen diesen Anträgen, und für drei Corps wurde der
Befehl zum Abmarsch gegeben, während das eine, das sechste, die Anweisung
erhielt, durch einen kurzen Borstoß nach Süden die Seitenbewegung zu ver¬
bergen und dann am andern Tage zu folgen. Demgemäß stand am 23. Juni
das erste Corps auf dem rechten Flügel vorwärts Landshut, das Gardecorps
in der Mitte an dem vorspringenden Winkel der Grenze unweit Braunau, das
fünfte Armeecorps westlich Glans und das sechste hinter dem fünften Corps. Die
letztere Anordnung war getroffen, um den linken Flügel, der sich gegen die von
Süden her, um die Grafschaft Glans herumbe-wegenden Massen Benedeks diri-
girte, zu decken und zu stärken.
Am 26. wurde die Bewegung fortgesetzt, bei welcher die Mitte unweit
Braunau den feindlichen Boden betrat und nur auf Cavalenepatrouillen stieß,
während die beiden Flügel die Grenze östlich Trautenau und Nachod erreichten.
Am 27. waren alle drei Corps auf feindlichem Gebiet und stießen die Flügel¬
corps, welche den großen Straßen folgten, auf feindliche Abtheilungen, indeß
die Garde, der nur Nebenwege zu Gebote standen, es allein mit stärkeren
Cavalerieabtheilungen zu thun hatte, die sie rasch über den Haufen warf.
Das erste Armeecorps, General v. Bonin, fand bei Trautenau den General
Gablenz mit dem zehnten Corps, der mit seiner Avantgarde, einer Brigade,
bei Trautenau ankam, als General v. Boni» mit seinen Spitzen von der andern
Seite eintraf. Die preußische Infanterie drang rasch in die Stadt ein, warf
die dort befindlichen schwachen Jnfanterieabtheilungen in einem Straßen - und
Häusergefecht mit obligaten Scenen aus dem Ort und ließ die Cavalerie der
Avantgarde durchgehen. Diese stieß aber bald auf überlegene Kräfte aller
Waffen und wurde noch rechtzeitig von der eigenen nachfolgenden Infanterie
aufgenommen. Da die Oestreicher vor dem Ort in günstiger Position standen,
die preußische Infanterie aber durch einen drei Meilen langen, seit Morgens
Vier Uhr angetretenen Marsch in unausgesetztem Desilv, bei großer Hitze
selbst lang geworden war, so kam das Gefecht zunächst zum Stehen.
Die Oestreicher wollten diese zeitweilige Ueberlegenheit benutzen, um ihre
Gegner in das Defile zu werfen und griffen stürmisch an, wurden aber
durch das Feuer der preußischen Infanterie blutig zurückgeworfen. General
v. Bonin brachte seine Avantgarde zur vollen Entwickelung und ließ auch
das Gros durch die Stadt vorgehen. General Gablenz aber hatte nach
und nach sein ganzes Corps, 28 Bataillone, herangebracht und gewann gegen
die fünf Bataillone der Avantgarde natürlich rasch die Oberhand. Bonin
dirigirte deshalb das Gros auf den linken Flügel der Avantgarde, blieb aber
mit der Reserve hinter Trautenau stehen; nach den verschiedenen Berichten zu
schließen, so weit, daß er das Gefecht nicht unterstützen und persönlich nicht in
dasselbe eingreifen konnte. Das Gros brachte in einem sehr schwierigen Terrain
nur acht Bataillone und zwei Batterien in die Front, während die Avantgarde
schon Terrain verlor und der Gegner alle seine Truppen und die gesammte
Artillerie, achtzig gezogene Geschütze, ins Gefecht zog. Die preußische Infanterie
war seit früh zwei Uhr in Bewegung und es war Abends sechs Uhr geworden,
ohne daß ein Moment Ruhe eingetreten wäre; sie sing an sich vor dem immer
mehr anstürmenden Feind zurückzuziehen, hielt aber durch ihr Feuer jedes Ein¬
dringen des Gegners zurück. Abends?Vs Uhr traten die letzten Bataillone den
Rückzug an, ohne daß der Feind folgte. Wir lesen nirgends, daß General
v. Bonin mit seinen noch frischen zehn Bataillonen, von denen die Verlust¬
listen wenigstens nicht sprechen, eine Ausnahmestellung genommen hätte.
Der obenerwähnte ofsiciöse Historiker der zweiten Armee sagt: „Da das
Gros des Armeecorps seinen Rückzug fortgesetzt hatte, auch zu erschöpft schien.
um ein neues Gefecht aufnehmen zu können, so wurde die Absicht des comman-
direnden Generals, nördlich Trautcnau Stellung zu nehmen, unausführbar und
ordnete derselbe um 9Vs Uhr Abends an, daß die Truppen die am Morgen des
27. Juni inne gehabten Plätze wieder einnehmen sollten."
Diese Berichterstattung zeigt zunächst, daß General v. Bonin entweder die
Leitung verloren hatte, oder aber an ein Gefecht nicht mehr dachte, denn sonst
konnte das Gros den Rückzug nicht weiter fortsetzen, als er wollte, auch mußten
die Truppen noch Kräfte zu einem Gefecht haben, sonst gebot er ihnen nicht
noch einen Marsch in ihre 3'/s Meilen entfernten Bivouaks zurückzulegen.
Dieser Marsch in der Nacht mußte die noch intacter Bataillone in volle
Auflösung bringen. Viel merkwürdiger aber ist der Befehl dadurch, daß er
das Corps nicht in eine concentrirte Stellung, sondern wieder in zwei durch
hohe Bergrücken getrennte „Plätze" dirigirte. Wir irren wohl kaum, wenn
wir aus den Worten des Historikers schließen, daß General v. Bonin die Lei¬
tung seines Corps beim Rückzüge ausgegeben hatte. — Zeitungsberichte, welche
anscheinend aus dem Corps stammen, bestätigen nicht nur diesen Schluß, son¬
dern geben noch mehr zu verstehen. Doch wollen wir uns damit nicht befassen,
sondern uns auf einfache Thatsachen beschränken.
Nach den Verlustlisten hatten dreizehn Bataillone — nach dem officiösen
Berichterstatter deren fünfzehn nebst vier Batterien — hingereicht, das ganze
östreichische Corps der Art zurückzuweisen, daß der Gegner keinerlei Trophäen
davontrug und auf jede Verfolgung verzichtete. Wenn wir aber in den beider¬
seitigen officiellen Verlustlisten lesen, daß die Preußen 63 Offiziere und 1.360
Mann, die Oestreicher aber 196 Offiziere und S.536 Mann verloren haben, so
muß man sagen, daß, wenn General v. Bonin nur festgehalten und alle seine
Bataillone ins Feuer gebracht hätte, er einen ebenso glorreichen Sieg erfochten
haben würde, wie alle andern preußischen Generale. Das Armeecorps selbst hat
bei Trautenau vollauf seine Schuldigkeit gethan. General Gavlcnz konnte bei
den großen Verlusten nicht an eine Verfolgung seines Gegners denken, er be¬
dürfte dringend der Ruhe, um sein Corps wieder zu formiren. —
Der Kronprinz hatte sich nach demjenigen Flügel seiner Armee begeben,
welcher der gefährdetste sein mußte, da er den feindlichen Hauptkräften am nächsten
war, dem Unken, welchen das fünfte Armeecorps unter General V.Steinmetz
bildete.
Am 26. Juni Abends hatten die Töten des steinmetzschen Corps die öst-
reichische Grenze erreicht und waren, da sie an den nächsten Uebergängen nur
sehr wenig, und in dem nahegelegenen Nachod mit seinem beherrschenden Schloß
gar keine Besatzung fanden, noch in der Dunkelheit über das lange Dcfils bei
diesem Ort hinausgegangen. Am 27. folgte das Corps und die Avantgarde
fing an sich jenseits Nachod zu entwickeln, als die Oestveicher sich vor der Front
derselben zeigten. General v. Namming, der mit dem östreichischen sechsten Corps
bei Opocno 2Vs Meilen südlich Nachod stand, hatte den Auftrag, den Preußen
das Debouchiren über Nachod zu wehren und brach zu diesem Zweck mit grau¬
enden Tage von dort auf. General v. Namming gehört wie General v. Gablenz
zu den anerkanntesten Führern der östreichischen Armee und man hatte wohl
nicht ohne Absicht grade ihnen die ersten Aufgaben zugetheilt.
Namming fand seinen Gegner unmittelbar vor dem Defilv und stellte
es sich zur Aufgabe, sofort mit allen Kräften vorzugehen, um die wenigen preu¬
ßischen Truppen, die bereits debouchirt waren, auf die nachfolgenden Colonnen
zurückzuwerfen. Es gelang ihm, die vordersten Linien überzurennen, aber sein
Erfolg war nicht von Dauer; sobald er auf ganze preußische Bataillone stieß
ward seinem Fortschreiten Halt geboten. Der General ließ deshalb auf seiner
Anmarschlinie in dem drängenden Gefecht nach, hielt es nur hiu und ent¬
wickelte sein Corps unter dem Schutz der Cavaleriedivision des Prinzen von
Holstein auf seinem linken Flügel auf der Straße Josephstadt-Nachod, seiner
spätern Nückzugslinie. Die Kürassierbrigade des Prinzen aber wurde von der
preußischen Brigade Wnuck nach heftigem Handgemenge mit Verlust ihrer zwei
Standarten geworfen, und während auf der Straße Opocno-Nachod die Division
Löwenfeld stand, entwickelte General v. Steinmetz nunmehr auf seinem rechten
Flügel aus der Straße nach Josephstadt die Division Kirchbach und seine Ne-
serveartillerie. Das Gefecht wurde hier sehr heftig, die Oestreicher suchte»
immer mehr den rechten Flügel zu umfassen und griffen immer erneut an, aber
vergebens, die preußischen Reihen standen und schmetterten ihre Gegner in großen
Massen nieder. Um 4 Uhr gab General v. Namming den Angriff auf und zog
sich, wenig verfolgt, auf Skalitz zurück. Die Truppen des General V.Steinmetz
waren durch einen zum Theil vier Meilen langen Marsch und einen harten
Kampf bei glühender Hitze zu müde geworden, um noch erfolgreich vorgehen
zu tonnen; auch hatte der Feind bereits Uebermacht gezeigt und alle Nachrichten
und Combinationen deuteten darauf hin, daß die ganze benedeksche Armee im
Anmarsch war. General v. Steinmetz mußte sein Corps sammeln und zu neuen
Kämpfen bereit machen.
Der Tag kostete den Preußen 69 Offiziere und 1,132 Mann. Die Oest¬
reicher verloren drei Fahnen, sechs Geschütze, 2,600 Gefangene und mindestens
6,000 Todte und Verwundete. General v. Namming berichtete dem Feldzeug-
meister, daß er nicht mehr in der Lage sei, Widerstand zu leisten und bat noch
am Abend zu seiner Deckung um zwei Brigaden. General v. Steinmetz hatte
mit seinen zweiundzwanzig Bataillonen und drei Cavalerieregimentern gegen
achtundzwanzig Bataillone und "vier Cavalerieregimcnter das Debouch6 aus
dem Gebirge gewonnen.
: Vom sechsten Corps, welches dem General v. Steinmetz auf einen Tage-
maisch folgte, beorderte der Kronprinz noch am Abend die vorderste Brigade,
sechs Bataillone, zur Verstärkung auf das Schlachtfeld.
Feldzeugmeister Benedek gab dem Erzherzog Leopold, der am 27. bei Joseph¬
stadt mit dem achten Corps eingetroffen war, den Befehl, auch das Commando
des Corps Ramming zu übernehmen und mit vereinten Kräften am 28. den
General v, Steinmetz von Neuem anzugreifen. Der Erzherzog setzte sich dem¬
gemäß nach Skalitz in Marsch, formirte sein Corps im ersten, das rammingsche
im zweiten Treffen und wollte grade vorgehen, als er den General v. Steinmetz
in voller Front und regulärer Schlachtlinie gegen sich anrücken sah. Der Erz¬
herzog besetzte also Skalitz und die frontal vorbeiführende Eisenbahn und er¬
wartete seinen Gegner. Steinmetz nahm seinen rechten Flügel vor und suchte
zunächst die das Flachland beherrschenden Kuppen, Waldparcellen und Gehöfte
zu gewinnen, was fast im ersten Anlauf gelang, entwickelte dann das Corps
rechts von diesem ersten gewonnenen Abschnitt und ging nunmehr in ganzer
Linie mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel gegen die allseitig gedeckte
feindliche Stellung vor. Es kam zu einem heftigen Ringen, in welchem einzelne
Preußische Bataillone, zumal am Eisenbahndamme bis ein Drittel ihrer Mann¬
schaft verloren, aber nicht wankten. Weder die Defensive und das Zündnadel-
gewehr war es, welche hier siegte, sondern der eiserne Wille eines tüchtigen Ge¬
nerals, die scharfe Disciplin und die kernbrave Truppe schlugen den übermäch¬
tigen Gegner und nahmen ihm fünf Geschütze sowie 2,500 Mann Gefangene ab.
Die Preußen verloren in dieser Schlacht bei Skalitz 69 Offiziere und 1.352
Mann. Der Kronprinz, welcher an demselben Tage Aufstellung zwischen dem
General v. Steinmetz und dem in der Richtung gegen Trautenau vorgehenden
Gardecorps genommen hatte, schickte, als die Fortschritte dieses letztern Corps
sich entschieden hatten und die Cavalerie in dem Gefechtsfelde des letztem keine
Aussicht auf Verwendung finden konnte, die Gardecavaleriebngade dem General
v. Steinmetz zur Verstärkung. Sie wurde aber gleich gegen den feindlichen
rechten Flügel dirigirt und griff schon durch ihr Erscheinen und ihr Artillericfeuer
vorteilhaft in das Gefecht bei Skalitz ein.—
Das Gcudecmps, welches wir am 26. vorwärts Braunau verlassen hatten,
war am 27. in zwei Divisionen auf Nebenwegen zwischen den beiden Schlachten
bei Trautenau und Nachod vorgegangen. Die erste Division Hiller von Gärtringen
war, dem Kanonendonner folgend, in der Nähe von Trautenau angekommen,
erhielt aber von General v. Bonin die Weisung, ihren befohlenen Marsch auf
Eypcl, 1^/2 Meilen von jenem Ort fortzusetzen, da er hinreichende Kräfte zur
Ueberwindung des Gegners habe. General v. Hiller war diesem Befehl gefolgt
und hatte natürlich keine Notiz mehr von dem Gefechte genommen. Stellt sich
schon dieser Verzicht auf Verstärkung vor beendigtem Gefecht als ein großer
Fehler dar, so war es in noch höherem Grade der nordwärts gerichtete Abmarsch
Bonins nach dem Gefecht, wodurch er dem siegreichen Gegner den Zwischenraum
zwischen dem eignen Corps und der Gardedivision zur Handlung frei ließ.
Wenn General Gablenz nicht schon so gut wie geschlagen war, was General
v. Bonin ja aber nicht ahnte, so hatte er sich nun auf General v. Hiller zu
werfen.
Die zweite Gardedivision war nach Hronow und Kosteletz. eine Meile von
Nachod dirigirt und langte dort an, während die Schlacht bei letzterem Ort
ihre Donner am stärksten erschallen ließ. Die Division, bei welcher der Corps¬
commandeur Prinz von Würtemberg zugegen war, folgte diesen Tönen aber
nicht, einmal wegen des eben beendigten beschwerlichen Marsches bei glühender
Hitze und dann weil größere feindliche Cavalerie sich vor der Front zeigte, die
zwar glänzend zurückgeworfen wurde, aber, doch die Sorge erregte, daß sich auch
hier größere Streitkräfte entwickeln könnten. Dies verdient zwar an sich
Tadel, denn der Kanonendonner einer Schlacht ist der kräftigste und einfachste
Marschbefehl, welchen ein General empfangen kann; aber der Fehler schlug
diesmal zum Glück für die Operationen des Kronprinzen aus. Wäre der Prinz
von Würtemberg nach Nachod marschirt, so wäre der dortige Sieg zwar leichter
und vielleicht vollständiger geworden, aber das Gardecorps war dann am 28.
nicht vereint und bereit, die Schlappe des Generals v. Bonin dadurch wieder
gut zu machen, daß es Gablenz bei Trautenau schlug und so das erste Corps
wieder vorwärts brachte. .Der Prinz von Würtemberg erhielt zum 28. den Be¬
fehl, seinen Vormarsch zwischen Nachod und Trautenau fortzusetzen. Dieser
Befehl war unter dem Eindruck des Sieges bei Nachod und in Rücksicht darauf
gegeben, daß vom ersten Corps keine Meldung da war, also angenommen
werden mußte, daß es sein Marschziel Trautenau erreicht hatte.
Der Prinz von Würtemberg concentrirte an diesem Tage sein Corps in
der Gegend von Eypel, die erste Division an der Töte auf der Straße nach
Kälte, Vorposten gegen Trautenau u. f. w. Diese meldeten schon frühzeitig Be¬
wegungen des Feindes auf der Straße Josephstadt - Eypel, welche eine halbe
Meile vor der Front hinlief. General Gablenz hatte von Benedek infolge
seiner bedeutenden Verluste und wegen der gemeldeten Nähe der Gardedivision
bei Eypel die Brigade Fleischacker des vierten Corps Festetics als Verstärkung
erhalten. Diese Brigade war anscheinend in der Nacht in Bewegung gesetzt
worden und hatte deshalb zwischen Prausnitz und Burgersdorf, eine halbe Meile
südlich Ti'autenau, ein Bivouak bezogen. General v. Gablenz dirigirte seine vier
Brigaden am Morgen des 28. ebenfalls nach Prausnitz, aber auf zwei ver¬
schiedenen Straßen und zu verschiedenen Zeiten. Eine dieser Bewegungen wurde
dem Prinzen von Würtemberg gemeldet und er befahl, daß die Avantgarde
auf jene Straße in der Direction von Burgersdorf vorrücken, das Gros folgen
solle. Diese Bewegung stieß auf das Bivouak der müden Brigade Fleischacker
und überraschte diese vollständig; der General mußte sich im Rücken eines
siegreichen Corps für durchaus sicher gehalten haben. Die Brigade wurde im
ersten Anlauf gesprengt. — Nun aber trafen von drei Seiten nach und nach
die Brigaden des gablenzschen Corps ein und die Bataillone des Gardecorps
wurden diesen entgegengeworfen, sobald sie die Höhe erreicht hatten. Es kam
zu einem allseitigen, weit zerstreuten Gefecht, in welchem weder Oestreicher noch
Preußen einen Zusammenhang finden konnten und schließlich diejenigen Truppen
siegten, die den meisten Nerv in sich hatte». Die Berichte erzählen von ver¬
schiedenen gleichzeitigen Gefechten bei Orten, welche eine Meile auseinander¬
liegen und immer sind preußischerseits nur einzelne Bataillone im Kampf. Den
schlimmsten Stand hatten zwei Bataillone des Kaiser-Franz-Regiments. Der
Prinz von Würtemberg nämlich hatte das eine aus der Reserve rechts rückwärts
detachirt, um die Verbindung mit Trauten«» zu eröffnen, wo man das erste
Corps erwartete. Dies zweite Bataillon traf aber auf die vierte Brigade des
Corps Gablenz, das seine Marschrichtung so gerade in die äußerste rechte Flanke
des Gardecorps bekommen hatte. Das Bataillon erkannte die Gefahr und
warf sich allein dem siebenmal stärkeren Feind entgegen; der Major, drei Haupt¬
leute und mehre Lieutenants fielen, die meisten andern und über ein Dritt¬
theil der Mannschaft wurden außer Gefecht gesetzt, aber sie hielten Stand, bis
das erste Bataillon heranrückte, das sogar siegreich vordrang. Die Reserve des
Gardecorps wurde nunmehr auf Trautenau dirigirt und nahm den Ort, Trophäen
und Gefangene unterwegs auflesend. — Es dauerte lange, bis das Gardecorps sich
wieder zusammenfand, dagegen war aber auch der Feind vollständig gesprengt.
Die Preußen verloren in diesem, bei Soor oder Burgersdorf genannten
Gefecht 25 Offiziere und 809 Mann und machten über 4000 Gefangene. Der
östreichische Verlust an Todten und Verwundeten soll mindestens ebenso viel
betragen haben. Die Verfolgung war dem Gardecorps am 28. gar nicht mög¬
lich, aber am andern Tage ging es mit derselben Frische und Energie gegen den
Feind vor, mit dem es am Tage vorher gefochten. Am 29. folgte Prinz von
Würtemberg der vom Kronprinz gegebenen Direction gegen Königinhof, nahm
diesen Ort nach eineM lebhaften Straßengefecht, in welchem zwei Fahnen und
400 unverwundete Gefangene genommen und 1 Offizier 67 Mann verloren
wurden und überschritt mit der Avantgarde die Elbe.
General v. Steinmetz mußte am 29. Juni in drei Tagen die dritte Schlacht
schlagen, um auch seinerseits, wie ihm befohlen, bei Gradlitz. eine halbe Meile
bon Königinhof, die Elbe zu erreichen. — Die in den beiden letzten Tagen ge¬
schlagenen östreichischen Corps (das sechste und achte) waren durch das vierte Corps,
kzel. der oben erwähnten Brigade Fleischacker, aufgenommen worden und
das letztere Corps hatte sich in der Gegend von Schweinschädel, eine Meile
von Josephstadt, aufgestellt. Der Weg des General v. Steinmetz von Skalitz
nach Gradlitz ließ Schweinschädel auf V4 Meile links liegen, durchschnitt aber
die östreichischen Borpostenlinicn. Sollte der Marsch ungehindert stattfinden, so
mußte der Feind aus Schweinschädel geworfen werden. Steinmetz gewährte
seinem Corps am Morgen des 29. Nuhe und brach erst um zwei Uhr Mittags
unter dem Schutze einer auf der Straße nach Josephstadt vorgeschobenen Bri¬
gade auf, die hier bald zum Gefecht kam und gegen sehr bedeutende Uebermacht
nicht recht vordringen konnte. General v. Kirchbach, der die eigentliche Avant¬
garde führte, ging nunmehr seinerseits links schwenkend zum Angriff vor und
nahm im Verein mit jener Brigade Schwcinschcidel und die nächsten Abschnitte
nach kurzem aber blutigem Gefecht, welches 13 Offiziere und 334 Mann kostete,
aber eine Fahne, mehre Geschütze und an 1000 Gefangene einbrachte. —
Unter dem Schutze dieses Gefechts setzte das Corps seinen Marsch fort und in
der bald einbrechenden Dunkelheit folgte General v, Kirchbach mit den andern
Truppen nach. Am 30. mit Tagesgrauen lagerte General v. Steinmetz bei
Gradlitz, seine Vortruppen gegen die Elbe vorgeschoben, deren jenseitige Höhen
der Feind besetzt und mit schwerem Geschütz aus Josephstadt garnirt hatte.
Die den braven Truppen des fünften Corps so nothwendige Nuhe wurde durch
das feindliche Feuer, das auf 5—6000 Schritt die Bivouaks erreichte, gestört,
aber nicht unterbrochen, Steinmetz konnte sich nicht entschließen, auch nur einen
Schritt vor dem Feinde zu weichen, er blieb ruhig liegen, während die östreichi¬
schen Kugeln das Haus neben dem seinigen einäscherten. Er verlor durch dies
Feuer im Bivouak einen Offizier und 21 Mann. Diese zähe Ruhe aber imponirte
dem Gegner, er räumte in der Nacht zum 1. Juni die Höhen, sich selbst hinter
der Elbe nicht sicher fühlend.
General v. Bonin war am 29. Juni durch einen starken Marsch aus seinen
rückwärts genommenen Bivouaks wieder herangeholt und rechts hinter das
Gardecorps geschoben worden, während General v. Mutius mit dem Nest des
sechsten Corps dem fünften wie vorgeschrieben gefolgt war. Am 30. Juni hatte
das erste Corps seinen Marsch fortgesetzt, wen über die Elbe gegen Miletin
gegangen und hatte hier, den rechten Flügel der zweiten Armee bildend, die
Verbindung mit Prinz Friedrich Karl eröffnet, während sechste Corps, Front
gegen Josephstadt, den linken Flügel der zweiten Armee, dicht neben dem fünften
Corps gewonnen und Spitzen über die Elbe geschoben hatte. —
So stand die Armee des Kronprinzen nach einer Reihe schwerer aber glän¬
zender Gefechte, welche ihr über S.000 Mann gekostet hatten, auf beiden Ufern
der Elbe, bereit, nunmehr im Verein mit der ersten Armee weiter in Böhmen
einzudringen. Da aber die Corps bisher ohne jeden Ruhetag marschirt
waren, so mußte der 1. Juli ihnen als solcher gewährt werden. Allein auch
der 2. Juli wurde zum Rasttag, da jetzt der König den Befehl übernahm und
zunächst die erste Armee noch weiter vorwärts concentrirte.
Wenn wir nun noch einmal die beiderseitigen Verhältnisse betrachten, ehe
wir in einem nächsten Aufsatz den Feldzug des Königs näher kennen lernen, so
sehen wir, daß die preußischen Truppen zwar bedeutende Verluste erlitten hatten
— Prinz Friedrich Karl 2.000 und der Kronprinz 5,000 Mann —, daß aber
die Truppen durch anhaltende Erfolge siegessicher, moralisch im höchsten Grade
gehoben Ware»; daß dagegen die Oestreichs von ihren acht Corps bereits sechs
(das erste und die Sachsen gegen Prinz Friedrich Karl, das vierte, sechste, achte
und, zehnte gegen den Kronprinzen) durch sehr bedeutende Verluste, die, nicht
zu hoch angeschlagen, sich auf 30.000 Mann berechne», und dazu infolge des
steten Zurückgehens auf ein sehr geringes Maß moralischer Kraft und bedeutend
an Zahl reducirt hatten.
Der Ausgang des Feldzuges war jetzt zweifellos, deshalb konnte niemand
erwarten, daß die Oestreicher in dieser Lage sofort durch eine allgemeine
Schlacht die volle Entscheidung suchen würden, wie sie dennoch am anderen
Tage thaten, —
.Kein Staat, der gegen Preußen unter Waffen gestanden — so hört man
oft genug behaupten — hat ungünstigere Friedensbedingungen erfahren müssen
als das Großherzogthum Hessen. Es behielt weder seine Integrität, wie Sachsen,
uoch seine Freiheit vom norddeutschen Bund, wie die übrigen süddeutschen
Staaten. Es hat ^.Herrschaft Jeder, das sogenannte Hinterland und noch
nnigc andere Gebietsteile gegen sehr ungenügenden Ersatz an Preußen abge¬
treten und trat mit seinen gesammten rechtsmainischen Landen, der Provinz
Oberhessen, fricdensschlußmäßig jenem Bunde bei. Kriegsentschädigung mußte
es zudem zahlen, wie alle andern. Dabei ist Mainz preußische Festung ge-
worden. Post- und Telegraphenwesc» im ganzen Land an Preußen übergegangen
und bezüglich ihrer sollen die nichtbündischen Provinzen Starkenburg und Rhein-
Hessen in dasselbe Verhältniß treten, welches für Oberhessen auf Grund der im
norddeutschen Bunde geltenden Einrichtungen stattfinden wird.
Man sieht sogleich, welche Fülle neuer staatsrechtlicher Gestaltungen hier
geschaffen ist. Der Gelehrte, der sich daran wagen sollte, ein öffentliches Recht
des gegenwärtigen Deutschlands zu schreiben (und Klüber und Genossen mit
ihren Systemen des deutschen Bundesrechts sind doch wohl auf immer unbrauchbar
geworden), der wird seine großen Schwierigkeiten finden, freilich auch jenen
reichen Genuß, welchen dem deutschen Gelehrten solche Schwierigkeiten bieten,
indem sie seinen Scharfsinn herausfordern, unmögliche Thatsachen in einem
System unterzubringen. Nur zu stark möge man die Auflage dieses neuen
öffentlichen Rechts Deutschlands nicht machen; denn wir fürchten, oder richtiger
wir wünschen, daß es noch kürzer währen wird als das vor sechzig Jahren ge¬
schaffene Recht des rheinischen Bundes. In der That hat niemand das Gefühl,
als handele es sich hier um fertige Zustände. Man konnte das Ziel nicht in
einem Anlauf erreichen, nun bleibt man stehen, athmet auf, ruht und wird zum
geeigneten Zeitpunkt den Weg fortsetzen. Sind aber alle unsere deutschen Zu-
stände eben ein Uebergang, so sind speciell die hessischen — um mich des mystisch¬
lustigen Ordensausdrucks aus Goethes wetzlarer Zeit zu bedienen — des „Ueber¬
ganges Uebergang". und darin, daß sie dies sind, finden wir ihren specifischen
Vorzug.
Es ist noch in frischem Gedächtniß, wie Preußen dem Großherzogthum
Hessen gegenüber anfänglich auf der allerstrictcsten Mainlinie, also auf der Ab¬
tretung ganz Oberhessens bestand, wogegen Entschädigung durch bayerisches Ge¬
biet am Main in Aussicht gestellt war. Dieser Plan gefiel nirgends. Unsere
moderne Auffassung ist solchen Ländertauschen mit Grund entschieden abhold.
Die Bayern mochten nicht hessisch werden und die Odenwaldsberge hätten die
in Aussicht stehenden Neuerwerbungen von dem übrigen Lande mehr getrennt,
als sie damit verbunden. Der Großherzog erklärte denn auch bestimmt, seinen
Neffen nicht berauben zu wollen, und lehnte jede Entschädigung ab. Er soll
bereit gewesen sein, lieber Rheinhessen — die neue Provinz — aufzugeben, als
Oberhessen mit seinen uralten Stammlanden und seinen reichen Domänen. Zu
diesen mehr menschlichen Erwägungen kam erst später der staatsmännische Ge¬
danke, daß es in Deutschlands eigensten Interesse erwünscht, ja nothwendig sei,
daß Oberhessen (wenn auch in gemindertem GebietsbestqHd) beim Großherzog¬
thum bleibe.
Schon längst vor Verwirklichung der Mainlinie würdigte man die Wichtig¬
keit der geographischen Lage Hessens. Vom Neckar, wo die Sprache bereits
schwäbisch anklingt, zog es, allerdings in vielfach wunderlicher Gestaltung,
manchmal nur als schmale Landzunge, hier und da völlig unterbrochen, bis fast
dahin, wo die alten Chanen und die alten Sachsen aneinander grenzten. Es
ist nie ein rein süddeutscher Staat gewesen, wenn auch die Lage der Residenz,
das Vorwiegen der linksmainischen Bevölkerung, sowie Interesse und geschicht¬
liche Tradition der Regierung mehr nach dieser Seite drängten. Für den Zoll-
verein z. B., dessen erste Anfänge es schaffen half, war es fast der wichtigste
Bestandtheil. Dieses Hessen besteht zwar nicht mehr. Von der Provinz Ober¬
hessen, welche früher die Gestalt einer zeigenden Hand hatte, ist durch den Frie¬
densvertrag der gegen Norden weisende Finger abgeschnitten worden und nur
die Faust übrig geblieben. Dennoch ist jene frühere Bedeutung Hessens für
Gesammtdeutschland nicht gemindert, sondern erhöht. Grade weil der Gegen¬
sah zwischen Süd und Nord geschärft ist, haben die Momente der Vereinigung
an Wichtigkeit und Werth gewonnen. Hessen ist die Klammer geworden, welche
die beiden Theile zusammenhält, oder vielleicht besser: die Brücke, die von einem
zum andern hinüberführt. Das Dogma der Mainlinie ist damit durchlöchert
und so von vornherein constatirt, daß ihm weder innere Berechtigung noch
Dauer zukommt. Ja die Mainlinie ist auf Grund des Friedensvertrags schon
lädirt. Mainz, in der laut des Friedensvertrags gleichfalls „südlich des Mains
gelegenen" Provinz Rheinhessen, hat preußische Besatzung, und auch hier wird
wie in den übrigen Landestheilen preußischer Postwagen und preußischer Tele¬
graphendraht die südwärts gerichteten Gedanken der Leute durchkreuzen.
Eine Reihe anderer gemeinsamer Einrichtungen nach preußischem Muster
und unter preußischem Einfluß wird folgen müssen. Das wie? ist freilich zur
Zeit so unklar wie möglich. Doch zunächst und am tiefsten eingreifend ist bei
der jetzigen Veränderung die Einführung der preußischen Wehrverfassung in
Oberhessen. Können hierneben die beiden anderen Provinzen die ihre beibe¬
halten? Dort allgemeine Wehrpflicht, hier Conscription mit Loosziehung und
Stellvertretung? — Man hat auch in andrer Beziehung das Gefühl, daß es
bei dieser Scheidung des Landes nicht bleiben könne. Allerdings sind Erschei¬
nungen, daß ein Fürst nur bezüglich eines Theils seiner Besitzungen einem
Bunde beitritt. nicht neu:. Luxemburg-Limburg, Holstein-Lauenburg, die Beschrän¬
kung Oestreichs und Preußens auf den Zutritt nur einzelner Länder und Pro¬
vinzen zum deutschen Bunde geben scheinbar Prcicedcnzien. Aber Luxemburg
und Holstein-Lauenburg standen mit den Niederlanden und Dänemark nur in
Personalunion; Oestreich und Preußen gestatteten den Bundesbeschlüssen auf
sich ohnedem nur Einwirkung, soweit sie damit einverstanden waren. Dazu
handelte es sich beim deutschen Bund nur um einen Staatenbund, und trotzdem
brachte dies Verhältniß für Limburg, das zugleich integrirender Bestandtheil der
Niederlande war, Unfrieden genug. Wie soll es werden gegenüber der strafferen
und eingreifenderen Gestaltung des Bundesstaats? Die Ständekammern in
Darmstadt, deren Kompetenz sich über das ganze Land erstreckt, werden bezüg¬
lich Oberhessens in all den Punkten beschränkt werden, worüber demnächst
der norddeutsche Reichstag zu verfügen hat. Sollen dann noch die ober¬
hessischen Abgeordneten mit über die diesen entsprechenden Angelegenheiten der
Unksmainischen Provinzen zu beschließen haben? Man steht, es ist hier —
wenigstens für manche Punkte — der Gedanke einer illo in xartes nahe ge¬
rückt; und obgleich des für alle drei Provinzen Gemeinsamen noch genug übrig
bliebe, ist doch jener Gedanke seinen Weg weiter gewandelt und hat — wenn
auch keine förmliche Personalunion Oberhessens mit dem übrigen Lande — doch
eine so selbständige Constituirung jener Provinz in Aussicht genommen, daß
der dadurch geschaffene Zustand nicht allzu weit entfernt sein würde.
Grade dies wäre aber nicht erwünscht. Freilich hätte sichs — rein äußer¬
lich genommen — gar sauber und nett gemacht, wenn durch die Annexion ganz
Oberhessens bei Frankfurt die correcte Mainlinie hergestellt worden wäre; und
in Ermangelung dessen, wenn Oberhessen wenigstens zum übrigen Lande in einen
Zustand gewisser staatlicher Selbständigkeit käme. Allein das nette und Saubere
ist nicht immer das politisch Wünschenswerthe. Uebergangszustände, die blos
als solche Berechtigung haben, sollen sich nicht klar hinstellen und consoli-
diren; sie sollen vielmehr in ihrer Unklarheit und, wie sich vielleicht bald zeigen
wird, Unerträglichkeit einen steten Stachel besitzen, der zum Besseren vorwärts
treibt und die Schwierigkeiten überwinden hilft, an denen der erste Anlauf
innehielt.
Fragt man nun nach den Ansichten und Stimmungen, welche in der Be¬
völkerung leben und auf Erreichung der letzten Ziele fördernd oder hemmend
einwirken mögen, so besteht nur allzu sehr die Neigung, durch die Brille der
eigenen Wünsche zu sehen. Ich will versuchen, mich davon frei zu halten. —
Vor und bei Ausbruch des Krieges war die Stimmung fast durchweg „bundes¬
treu", ja vielfach östreichisch. Sogar entschiedene und hochachtbare Anhänger
Preußens sahen in dessen gewaltthätigen und rechtswidrigem Vorgehen, in
seinem Bündniß mit Italien und in der vermutheten Verbindung mit Frank¬
reich auf Kosten deutschen Gebiets den Abfall vom „deutschen Beruf"; man
mochte nicht wünschen, daß Preußen siege, — und doch, der Gedanke, daß
Preußen zertrümmert werde, war noch viel schrecklicher. Der Tag von Königs-
grätz löste den Bann, der auf diesen Herzen lastete. Hatte die klägliche Cession
Venetiens gezeigt, wie Oestreich, sich selbst getreu, nicht anstand, die deutschen
Angelegenheiten dem Fremden preiszugeben, so that die baare Unfähigkeit der
süddeutschen Kriegsführung das Uebnge, den Umschwung der öffentlichen Mei¬
nung zu zeitigen. Er vollzog sich übrigens nicht blos in Hessen, sondern so
ziemlich allerwärts; und wer nicht freudig, der mußte doch widerwillig bekennen,
daß bei Königsgrätz einem unwürdigen Zustande des Vaterlandes über das
Grab geschossen worden sei. Freilich war damit eine positiv preußenfreundliche
Gesinnung noch keineswegs hervorgerufen. Daß die Masse des Volkes, in
welchem stets nur die einfach menschlichen Empfindungen herrschen, negativ
blieb, war erklärlich. Brüder und Söhne standen gegen Preußen im Feld, mit
ihnen fühlte man die Niederlagen, die sie erlitten, und theilte mit ihnen den
Groll, den der Unterlegene um so mehr hegt, wenn sein Unterliegen nicht Folge
von Mißgeschick, sondern von Ungeschick ist. Indeß, solche Stimmungen sind
vorübergehend; an ihre Stelle treten diejenigen, welche ihre Grundlage in
dauernden Voraussetzungen haben.
Da ist zunächst Oberhessen. Man hat — so lange die Frage noch schwebte —
viel gestritten, ob es für oder gegen Annexen sei, und vielleicht haben beide
Ansichten Neckt gehabt. Die Sache ist: Oberhessen hat eine centnfugale Ge¬
staltung. Sei» Kern ist der Vogelsberg; insofern mit Recht als Berg (und nicht
Gebirge) bezeichnet, als er in einem centralen Höhepunkt besteht, von wo die
sich allmälig senkenden Höhenzüge und die TKäler strahlenförmig nach allen
Weltgegenden auslaufen. Diese Thäler werden dann mehr oder minder ma߬
gebend. Die Südwestseite z. B. mit ihrem Gebiet der Ritter. und die West¬
seite, beide mit der breit sich vorlagernden reichen Wetterau, haben ihren ent¬
schiedenen Zug nach Frankfurt hin, welches commerciell jene ganze Gegend be¬
herrscht. Ost- und Nordostseite sehen ihre Wasser, wie die Schwalm. nach der
Fulda zufließen, ja theilweise durchzieht das Fuldathal dort die Provinz: da
weisen Verkehrswege und Interessen ebenso entschieden nach Norden. Es wird
nicht bestritten werden können, daß in den letztgenannten Gegenden eine sehr
lebhafte Hinneigung zu Preußen bestand und besteht; in der Wetterau weniger.
In Gießen selbst, der Hauptstadt der Provinz, kreuzten sich die Interessen und
die Stimmungen höchst mannigfach; eine nicht zu verachtende Partei wirkte
sehr entschieden für Annexion. Bedeutsam ist. daß Oberhessen mit Ausnahme
eines ganz geringen Procentsatzes protestantisch ist. Die Anhänglichkeit an die
Dynastie sitzt nicht überall tief; ein sehr großer Theil des Gebiets ist erst
1803 und 1806 erworben, und die reichlich vorhandenen Standesherren sind
redende Zeugnisse, daß hier schon einmal legitime Herren ihrer Landeshoheit höchst
illegal verlustig gingen. Es lautet in der That naiv genug, wenn das officiöse
Organ der darmstädter Regierung Von den Thronverlusten dieses Sommers
wie von etwas Unerhörten spricht, da doch auf einen so beträchtlichen Theil
des Landes der Großherzog ursprünglich keinen besseren Rechtstitel aufzuweisen
hatte, als Preußen auf Kurhessen und Nassau; ja der Landgraf von Hessen-
Darmstadt hatte mit den Fürsten und Grafen zu Solms, Stolberg, Usenburg:c.
und mit der freien Reichsstadt Friedberg sich nie in Krieg befunden, als er ihre
Gebiete annectirte. Diese nämlichen Standesherren sind übrigens vielleicht zum
Theil ein sehr erheblicher Factor für die weitere politische Gestaltung des Landes:
die Solms, Stolberg und Graf Görtz haben alle mehr oder minder aus¬
gesprochene Sympathien für Preußen. Theilweise sind sie zugleich in Preußen
begütert. Mitglieder des dortigen Herrenhauses; Fürst Sich ist noch vom ver¬
einigten Landtag vom 1847 her bekannt. Diese Hinneigung zu Preußen bildet
den Gegensatz zu den linksmainischen Standesherren, von denen insbesondere
die Erbach, obgleich protestantisch, in extremster Weise östreichisch sind und immer
und immer wieder ihre Söhne in den Dienst des Kaiserhauses schicken. Eine
indifferentere Stellung nehmen die Mwburg ein, deren Besitzungen auch theil¬
weise sowohl links als rechts des Mains liegen. Erst jüngst ist unter ihnen
eine entschiedene Ueberneignng nach Oestreich eingetreten, indem der katholisch
gewordene Eidprinz von Birstein, Gemahl einer Toscana, seinem Vater succe-
dirte und so diese Linie des altprotestantischen Hauses Uscnburg zu einer katho¬
lischen machte.'
Hiermit betreten wir bereits dasGebiet der Provinz Starkenburg, die das
Gelände rechts des Rheins und links des Mains umfaßt. Geographische Ver¬
hältnisse, welche nach Norden zögen, liegen hier nicht vor. Auch die erst 1803
und 1806 von Kurmainz, Kurpfalz, verschiedenen Reichsgrafen, wie den Er¬
bach u. s. w. erworbenen Gebiete hängen unter der unmittelbaren Einwirkung
der in dieser Provinz gelegenen Residenz dem „angestammten" Herrscherhaus
an, wie die althessischem Gebiete; sie haben durch die Aenderung nur gewon¬
nen. Durch die Massen zieht jener Particularismus. der nicht sowohl einen
positiven Gehalt hat, als vielmehr in der Ablehnung jeder Aenderung besteht,
welche Opfer erfordert. Die Einsicht der Nothwendigkeit des Anschlusses an
Preußen ist fast nur Eigenthum bestimmter Kreise des städtischen Bürgerthums,
insbesondere des Handclsstandcs. Nirgends ist dies so ausgeprägt, wie in
Offenbach. Diese Stadt verdankt ihre Bedeutung der freircichsstädtischen Eng¬
herzigkeit Frankfurts. Ein freidenkender und wohlwollender Graf Uscnburg
nahm die Reformirten in seinem Gebiete auf, die in Frankfurt zurückgewiesen
worden waren, und dies wurde die Grundlage der heutigen Bedeutung Offen¬
bachs. Während in Frankfurt noch vor wenigen Jahren das Zunftwesen in
vollster Blüthe stand, so daß kein Kloben in die Zimmerwand eingeschlagen wer¬
den konnte, ohne drei verschiedene Gewerke in Bewegung zu setzen, während
die Erwerbung des Bürgerrechts den schwierigsten Voraussehungen unterlag,
schritt Offenbach, wenn nicht unter dem rechtlichen Bestand, so doch unter einer
weitgehenden Praxis der Freizügigkeit und Gewerbefreiheit rasch voran. Die
Zunahme der Bevölkerung war hier ebenso überraschend groß*), als dort über¬
raschend klein. Dem Emporkömmling unter den Mainstädten stand keine histo¬
rische Ueberlieferung hemmend im Wege, und es ist wohl begreiflich, daß —
sehr im Gegensatz zur altehrwürdigen Nachbarstadt — Offenbach einen entschie¬
den wahlverwandtschaftlichen Zug zu Preußen fühlt, dem es denn auch stets
unverhohlen Ausdruck verliehen hat.
Am eigenthümlichsten liegen die Verhältnisse in Rheinhessen. Die fran¬
zösische Revolution und die französische Herrschaft haben dort im Großen und
Ganzen die geschichtlichen Traditionen hinweggefegt. Abgesehen von der gro¬
ßen Vergangenheit der Städte Mainz und etwa Worms, wußten diese in der
That nur Unerquickliches zu berichten. Etwa zwei Drittel gehörte, jedoch ohne
Abrundung. zu Kurpfalz und Kurmainz, das Andere mehrern Dutzend Herren,
Fürsten. Grafen, Reichsrittern, vieles zwciherrig. alles aufs bunteste durchein¬
ander gewürfelt; große geschichtliche Erinnerung fehlt. Auch die an die na¬
poleonische Herrschaft, wenigstens die mit Anhänglichkeit und Wunsch der Rück¬
kehr verbundene, ist ein lange überwundener Standpunkt. Aber ebenso klar ist.
daß sich aus all dem der Humus für das Gedeihen einer besondern hessischen
Loyalität nicht hat entwickeln können. Der Staat ist zu klein, um ein selb¬
ständiges kräftiges Staatsbewußtsein in seinen Gliedern zu erzeugen, und so
findet sich leicht Empfänglichkeit für bedeutende von außen kommende Anregun¬
gen. Eine solche kommt aber von dem westlich angrenzenden Preußen. Creuz-
nach ist die nächste bedeutendere Stadt; noch mächtiger wirkt die Verbindung
auf dem Rhein und auf der an ihm hinziehenden Eisenbahn; insbesondere steht
die Grenzstadt Bingen unter dem unmittelbaren Einfluß dieser Umstände. Die
Landbevölkerung dieser reichen Provinz ist aufgeweckten Sinnes, fast städtisch,
Von naher geistiger Verwandtschaft mit den übrigen Rheinländern. Mit Rhein-
Preußen sind ohnedem sehr viele Institutionen (einzelne Theile des Rechts und
des Verfahrens) gemein.
Eine Sonderstellung nimmt dagegen Mainz ein. Es hatte zu viel Be¬
wußtsein seiner Geschichte und Bedeutung, um so ohne Weiteres in den Rang
einer hessischen Provinzialstadt zurückzutreten. Der richtige Mainzer sah mit
einer gewissen Verachtung auf die so viel kleinere Landeshauptstadt mit einer
so kleinen Vergangenheit. Sogar wenn er von der Römerzeit nichts gewußt
hätte, so predigten ihm -doch die üppigen Barockbauten der Kurfürsten von
einer noch nicht lange geschwundenen Zeit, wo Mainz selbst Residenz und Haupt¬
stadt war und sein Fürst der erste des si. römischen Reichs. — etwas ganz
Andres als der damalige kleine Landgraf von Hessen-Darmstadt dort drüben in
seinem sandigen Ländchen. So hatte der Mainzer wenig Hessisches, wenn auch
die Schiffbrücke nach Castel ihm die Landesfarben täglich in bauschigen Flor
zeigte. Er war zunächst Mainzer, ebenso tüchtig in der Arbeit als flott beim
Plaisir, und die Politik hat ihm von jeher weniger Kopfbrechen gemacht als die
Frage, wie der nächste Carneval zu feiern sei. Freilich, als die größere Frage:
Preußen oder Oestreich? an ihn herantrat, hatte er — wenn man die Frage
Persönlich und nicht sachlich nahm — Vorstudien gemacht, wie kein Anderer.
Seit 1816 lag preußische und östreichische Garnison in Mainz, und es ist
kein Geheimniß, daß die Bevölkerung mit letzterer auf besserem Fuß stand, ja
daß zu ersterer zu Zeiten ein sehr entschiedenes Mißverhältniß erwachsen war.
Die Gründe im Einzelnen führen zu weit; es genüge, daß Hr. v. Schmerling
als Ncichsminister 1848 diese Gründe als einen Vorzug der preußischen Sol¬
daten deutete und den Wunsch aussprach, die östreichischen möchten auch noch
einmal so weit kommen.*) Aber die verständige Ueberlegung bannt nicht Jahre
lang eingesogene und angesammelte Stimmungen,und es ist begreiflich, daß man
ungern die gemüthlichen Weißjacken vermißt, die um so weniger je etwas übel
nahmen, als sie — meist „deutsches Bruder" aus den italienischen oder slavi¬
schen Provinzen — das etwa krumm zu nehmende gar nicht verstanden. Preu¬
ßen, dessen stramme Art den leichtlebigen Mainzern ohnedem nicht allzu sym¬
pathisch ist, wird sich in Einigem vielleicht noch ungünstiger stellen als seither.
Früher ging alles Gehässige, was aus den Festungsverhältnissen floß, auf Rech¬
nung des Bundes, jetzt wird es Preußen verantworten müssen; und anderer¬
seits hat doch auch Preußen, weil nicht zugleich Territvrialmacht. keine Veran¬
lassung, mit eigenen Kosten Dinge ins Leben zu rufen, welch« den Mainzern
sehr erwünscht wären, wie etwa Erweiterung des Stadtareals durch Schleifung
und Verlegung einzelner Festungswerke u. a. in. Indessen — Mainz ist zu¬
nächst Handelsplatz und man wird nicht so schnell vergessen, wer den Rhein
von den Zöllen befreite; rheinabwärts, insbesondere nach Köln, weisen die wich¬
tigsten Verbindungen, und dem frischen Zug. der durch ein großes Staatsganze
geht, verschließt sich nicht leicht der Mainzer Handelsgeist, welcher seit einer
Reihe von Jahren so großen Aufschwung genommen hat.
Alle die hier kurz skizzirten Verhältnisse werden gekreuzt und mannigfach
variirt durch die confessionellen Zustände. Es ist bekannt, mit welch glühenden
Sympathien die katholische Partei der Sache Oestreichs zugethan war. In
diesen Kreisen vergißt man nicht so schnell, und das Mainzer Journal mit Bei¬
blättern ist Zeugniß für den innerlich fressenden Groll. Auf diese Leute wird
man nie rechnen dürfen, so behende auch der Bischof von Limburg war, die
neue Ordnung der Dinge in einem Hirtenbrief anzuerkennen. Die neupronon-
cirte Haltung des Ultramontanismus hatte aber eine weitere Wirkung; sie warf
naturgemäß die Protestanten auf die Seite der preußischen Sympathien, wenig¬
stens da. wo nach der Gestaltung der Dinge dieselben am meisten Grund hatten,
Fortschritte des Ultramontanismus zu fürchten. In Oberhessen, wo die Katho¬
liken nur ein verschwindender Bruchtheil, fehlte der Factor völlig; in Starken¬
burg, wo die Protestanten bei weitem überwiegen, kam er nicht zum rechten
Bewußtsein; um so stärker aber wirkte er in Rheinhessen, wo — ebenso wie
in Baden — die so viel schwächeren Protestanten einer wohlorganisirten katho¬
lischen Partei gegenüberstanden und — mit oder ohne Grund — ganz einfach
der Trieb der Selbsterhaltung die politische Ansicht bestimmte. Man erzählt
Aeußerungen, welche zur Zeit, wo noch für Oestreich der Sieg erhofft ward,
von katholischer Seite fielen, und diese lassen begreiflich erscheinen, wie zur Zeit
jener ersten östreichischen Siegesnachrichten mancher protestantische Familienvater
mit den Seinen bange die Nacht durchwachte. Und wenn auch vieles von all
dem übertrieben sein mag, so ist es doch schon an sich ein gewichtiges Zeichen
der herrschenden Stimmung, des Gefühls der Unsicherheit. Grade darin liegt
Wohl auch der Grund, daß, wo in Rheinhessen und Baden preußenfreundliche
Gesinnung besteht, diese viel energischer ist als in der hessischen Provinz
Starkenburg, und daß dort die „Volkspartei" nicht gedeihen kann. Was dahin
neigt, fallt sogleich der kräftigeren Partei des Ultramontanismus anheim, und
nur in dem der Hauptsache nach protestantischen Würtemberg können, unterstützt
durch besondere Stammeseigenthümlichkeiten, die Gesinnungsgenossen der „Neuen
deutschen Zeitung" sich als geschlossene politische Partei constituiren. —
Obige Skizze mag ein übersichtliches Bild der Stimmungen geben, mit
welchen der norddeutsche Bund und Preußen zu rechnen haben wird. Es ist
nicht überall erfreulich. Eine gewisse Unklarheit und Verdrossenheit befängt
überdies die Gemüther. Dennoch läßt sich sagen, daß von den dauernden Partei-
gruvvirungen nur die prcußenfreundliche ein positives Programm hat. Hierin
liegt ihre Stärke gegenüber den Gegnern, die nur einig sind in der Verneinung.
Neben ehrenwerthen Trümmern der altliberalen Partei, die sich in die neuen
Verhältnisse nicht finden können und an den Idealen früherer Jahre hangen,
findet sich der vaterlandslose Ultramontanismus, der abstracte oder sentimentale
Legitimismus und der sich in seinen engen Verhältnissen wohlfühlende Parti-
cularismus; die eigentliche „Volkspartei", deren Stuttgarter Organ bereits be¬
haglich in die Zeiten sieht, wo Frankreich sich mit Oestreich verbindet und die
Frage, ob Süddeutschland dem norddeutschen Bund helfen soll, erst noch zu
einer offenen macht, ist, Gott sei Dank, verschwindend klein.
Von der Partei der Regierung habe ich noch nicht gesprochen; es ist die
Frage, ob — was die äußere Politik betrifft — eine solche besteht, dennnn
dieser Hinsicht sind die Zielpunkte der Regierung selbst unklar. Herr v. Dal-
wigk ist geblieben; Herr v. Reuse, mit dessen Ministerposten der Kaiserstaat
damals schon stark in den Wehen lag, hat ihm Vor einigen Wochen einen Be¬
such gemacht, dessen blos private Natur stark angezweifelt ward. Die Darm¬
städter Zeitung, dies ossiciöse Organ, bringt immer noch mit besonderer Vor¬
liebe legitimistische Artikel und Beispiele specifisch östreichischer Edelherzigkeit;
im Uebrigen schickt sie sich in die Zeit, wohl wissend, daß es eine böse Zeit ist.
Um so gehässiger Hetzen die hessischen Volksblätter, denen Unterstützung Seitens
der Negierung, jedenfalls Seitens der Regierungspartei, nachgesagt wird; man
greift sich beim Lesen manchmal unwillkürlich an die Stirne, ob man denn
wirklich schon dadurch, daß man das Unglück hat, Preuße zu sein, unbedingt
ehrlos wird. Daß der Großherzog persönlich die eingetretene Aenderung nur
schwer erträgt, ist begreiflich. Neben anderem besonders schmerzlich war ihm
der Verlust von Homburg, — doppelt schmerzlich, da dieser Erwerb so lange
auf sich hatte warten lasse», noch so neu war und für manche seiner organi¬
satorischen Liebhabereien ein so gutes Feld bot. Indessen muß anerkannt wer¬
den, daß er bei öffentlichen Kundgebungen sich in würdiger Weise auf den
Boden der neuen Thatsachen stellt. „Wir haben nicht blos (so heißt es in der
Proclamation vom 17. September, womit er wieder das Land betrat) die Wun¬
den zu heilen, welche der Krieg unserem Hessen geschlagen hat, wir haben auch
mit der Neugestaltung unseres gemeinsamen deutschen Vaterlandes in einer die
gerechten nationalen Ansprüche befriedigenden Weise zu beginnen. Der alte
Rechtsboden, auf dem wir hätten fortbauen können, ist zusammengebrochen.
Wir müssen nun die Vervollkommnung des durch die Macht der Thatsachen
geschaffenen neuen Rechtszustandes zum Gegenstande unserer Sorge machen.
Mein eifriger Wunsch war, den Bund, welcher dermalen den Norden Deutsch¬
lands umfaßt, auf das ganze große Vaterland ausgedehnt zu sehen. Rücksichten,
deren Beseitigung nicht in meiner Macht liegt, standen bis jetzt der Erfüllung
meines Wunsches entgegen." Gewiß ist, daß der Eintritt des ganzen Groß-
herzogthums in den norddeutschen Bund in Berlin angeboten, dort aber abge¬
lehnt worden ist. Als bester Beweis des in Darmstadt herrschenden guten
Willens für die Pflege der nun einmal gegebenen Beziehungen zu Preußen
kann die Wahl des seitherigen Geheimen Legationsraths Hofmann zum außer¬
ordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister am berliner Hof scheinen.
Von liberaler Gesinnung und der inneren Mißregierung völlig fremd, hat er
auch in der deutschen Frage nie auf dem bei den mittelstaatlichen Regierungen
landläufigen Standpunkt des östreichisch-klerikalen Particularismus und der
Preußenseindschaft gestanden. Noch in den Dreißiger, (er ist nur durch seine
Tüchtigkeit so rasch heraufgekommen), klaren und unbefangenen Blicks, wird er
— so glaubt man — nicht mit zögernder Hand und halbem Herzen die Ma߬
regeln einleiten, welche von den gegebenen Verhältnissen uns zu einer gedeih¬
lichen Fortentwicklung unsrer nationalen Neugestaltung führe» sollen. Freilich
hat auch hier eine sanfte Pression helfen müssen. Man hat Hofmann in Berlin
bei den Friedensverhandlungen, die er mit Herrn v. Dalwigk führte und ab¬
schloß, schätzen gelernt und als genehme Persönlichkeit bezeichnet; und seine Er¬
nennung zum Gesandten erfolgte erst, nachdem zwei andere von Herrn v. Dal¬
wigk vorgeschlagene Candidatc», Herr v. Wambolt und Herr v. Biegeleben,
beide von ausgeprägtester ultramontaner und östreichischer Gesinnung, als un¬
annehmbar waren bezeichnet worden.
Der andere gesetzliche Factor für jene Fortentwickelung sind die Stände.
Die erste Kammer wird den Regierungsvorlagen, die sich darauf beziehen, keine
Schwierigkeit bereiten, aber auch ihrer ganzen Natur nach keine Initiative er-
greifen, es müßte denn sein (was nicht unwahrscheinlich), daß die oberhessischen
Standesherrn als treibende Kraft auftreten. Die zweite Kammer des nächsten
Landtags ist zur Zeit eine vollständig unbestimmbare Größe. Es wird neu ge¬
wählt, und die besten Kenner unserer '-Verhältnisse wagen nicht zu prophezeihen,
Wie die Wahlen ausfallen werden. Die Fortschrittspartei unter hauptsächlicher
Führung von Metz besteht noch fort; sie ist die einzige bestimmter gegliederte
Partei im Land. Aber sie hat, das tonnen sich auch ihre Freunde nicht ver¬
hehlen, bedeutende Einbuße erlitten, und zwar grade mit Rücksicht auf die na¬
tionale Politik. Die Hochfluth des Antiprcußenthums vor und bei Beginn des
Kriegs hat gar manche Genossen hinweggespült, welche in Fragen der inneren
Politik noch lange mit ihr gegangen wären. Dabei läßt sich nicht lciugnen,
daß diese Partei in eine gewisse Verknöcherung gerathen ist. Ihre Vertreter in
der Kammer laufen Gefahr zu einer Oligarchie von Parteigenossen zu werden,
die sich gegen frische Kräfte abschließt; es droht dann das Reich der Phrase in
seiner vollsten Blüthe. Möge man diese Gefahr rechtzeitig erkennen. Es thuts
nicht allein, daß man äußerlich die Mehrheit hat; die Mehrheit muß auch ihre
innere Berechtigung nachweisen, sie bedarf des Zusammengehens mit den Kräften
im Volk als ihrer Lebensluft. Hiervon hängt ihre moralische Wirkung ab,
sonst könnte sich als praktische Lehre leicht ergeben, daß die seitherige Mehrheit
bei der Wiederwahl zur Minderheit wird. Im Uebrigen muß man zugeben,
daß die Fortschrittspartei und die ihr nahe stehenden milderen Fractionen grade
die positiven Kräfte sind, auf welche für Anschluß an Norddeutschland und die
preußische Führung zu zählen ist. Darum benennt die gegnerische Presse diese
Partei die „preußische" und sich selbst*mit Ostentation die „hessische", neuer¬
dings wohl auch, weil diese Sorte Patriotismus doch nicht mehr recht steckt,
die „deutsche". Diese Partei erklärt, mit der ehrenwerthen, d. h. mit der roth¬
weißen Demokratie, Hand in Hand gehen zu wollen; innere Kämpfe müßten
verstummen gegenüber der brennenden Frage der Abwehr des Prcußenthums.
Vermuthlich entwickelt sich ans all dem eine ministeriell-klerikale Coalition, die
Von oben her ihre Candidaten aufstellt und mit den ihr zustehenden Machtmitteln
diese bei den von ihr abhängigen Leuten und bei der politisch trägen Masse
durchzusetzen sucht.
Das Meiste wird ans die Negierung ankommen, ob der eingeschlagene
Weg glatt oder holperig weiter gegangen werden wird; anders als so liegt die
Alternative nicht. So lange die Träger des alten Systems noch am Nuder
sind, wird erlaubt sein, an der rechten borg, kutes zu zweifeln. „Kann auch
ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Pardel seine Flecken?" In der Be¬
völkerung ist keine Richtung so ausgeprägt, daß sie stark genug wäre, die
Regierung in ihren Entschlüssen zu hemmen oder gegen ihren Willen vorwärts
zu treiben. Darum ist unsere Hoffnung zunächst nicht groß. Man hat zwar,
als die alten Zustände im letzten Sommer zusammenbrachen, allerwärts viel zu
schelten gewußt über mangelhafte Einrichtungen, unfähige Führung u. a. in.
Aber die süddeutsche Gemüthlichkeit liebt es nun einmal nicht, aus den auf¬
gestellten schönklingenden Grundsätzen ihre Consequenzen zu ziehen. Diese sind
häufig unliebsam, stören aus alter Behaglichkeit auf und fordern manches Opfer.
Darum weicht mau aus. wenn man an .diesem Punkt angekommen ist, und
neue schöne Worte finden sich ja immer, um sich und anderen dies zu verbergen.
Da wird denn noch manches Ereigniß eintreten müssen, um uns in die Schule
zu nehmen; wir lernen nicht so leicht.
Wer von unseren Lesern sich noch der kleinen Lesefrüchte aus Dresden er¬
innert, die wir kürzlich mittheilten, und in denen das Sachsenland und das
Sachsenvolk als Quintessenz des Erdballs und der Menschheit durch schlagendes
Rechenexempel erwiesen waren, wird sich mit uns der Wahrnehmung freuen,
daß den Sachsen auch in der schweren Noth der jüngstvergangenen Zeit der
ewige Quellborn des Lebens, die Poesie, nicht erstickt worden ist. Das Friedens¬
instrument, das zwar manchem Hyperloyalen mehr eine Nuthe als die E'süllung
seiner Wünsche schien, hat dennoch wie die Wünschelruthe die goldenen Adern
der Dichterlust springen lassen, und was bedeutsam ist, die Poesien, die sie
ausstreut, haben das charakteristische Zeichen der Kunst, heiter zu sein, während
das Leben ernst ist.
So helltönende Volksfreude, wie sie dem aufrichtig geliebten sächsischen
Landessürste» und seinem braven Heere bei der Rückkehr die Thore der Heimath
öffnete, ist immer lehrreich und rührend zugleich. Denn dem Volke gehts wie
dem Individuum: mehr noch in der Lust als im Leide offenbart es sein Herz;
im Jauchzen des Jubels lockern sich die geheimsten Gedanken und schwirren
keck hinaus, unbekümmert sowohl um die Kritik derer, welche das Urtheil auch
über solche Products des Augenblicks zu ihren Zunftrechten zählen, wie derer,
welche etwa mit Neid auf die Thatsachen schauen, die dadurch poetisch constatirt
werden.
Was das späte Jahr an Blumen versagte, hat die Muse ersetzt durch den
Duft ihrer Spenden, und wie ihr allemal wehgethan wird, wenn ihr Flügelroß
der Schwingen entkleidet und die Schönhcitslinicn seines Flugs in die nüchterne
Straße prosaischer Rede gezwungen werden, so können auch wir über jene Lei¬
stungen nur referiren, indem wir eine Auswahl nach den Hauptgedanken treffen
und Einzelnes wörtlich mittheilen.
Auf schwanker Leiter der Gefühle steigen wir zunächst zum Genius des
Herrn Robert Nitzsche empor, der dem heimkehrenden König und seinen Truppen '
in Weisen, die ein seltsames Gemisch orakelhafter Dunkelheit und schlicht-bürger¬
licher Verständigkeit zeigen, also >entgegenfingt:
Aehnlich, aber schon mit lauter klopfendem Herzen, preist Herr G. Sachse
die gegenseitige Treue von Monarch und Volk:
Schwerer läßt sich ein Cyklus von Hymnen classifiziren, welchen Herr
C. H. Lantzsch darbringt. Sehr richtig hat der Sänger gehandelt, als er dem
Umschlag des in Selbstverlag erschienenen Heftchens eine Warnung gegen Nach¬
druck beisetzte; denn es läßt sich nicht läugnen. daß er von der eignen Popu¬
larität am meisten zu fürchten hat. „Dem Landesfürsten" ist sein erster Gesang
geweiht, dessen Schluß wir geben:
-) Die celtische Bezeichnung für die späteren Barden (Sänger).
Rathlos stehen wir vor der lapidaren Hieroglyphik dieser Strophe und
wenden uns gern den frischen, fröhlichen Kampfliedern desselben Autors' zu, die
auf die vorhergehende schwere Kost die Erfrischung derber sinnlicher Empfindung
reichen. Jeder Truppengattung wird ihr lyrisches Denkmal gesetzt; das flotte
Tempo der Verse hilft die poetischen Licenzen in Behandlung der Thatsachen
entschuldigen. Von der Artillerie z. B. singt der Dichter:
Den Schlußaccord zu den Kampfliedern hat Mars übernommen („Mars,
die Bezeichnung für den Gott des Krieges", wie der Dichter freundlich erläutert):
Mit der Einführung der Diplomatie wird die Wendung politisch. Be¬
geisterung ist ein Jmprovisator, der sich auf seinen eigenen Empfindungen er¬
tappt. Groll und verhaltene Drohung durchherrschen, vielleicht wider die Ab¬
sicht, das folgende Lied:
Wer wollte rechten mit dem Ingrimm einer aufgeregten Poetenseele, der
wahllos in die Saiten reißt! Aber auch zu trösten fühlen wir uns nicht auf¬
gelegt, wo wir solche» Refrains begegnen, wie dem des letzten Verses; den wahren
Werth dessen, was unser Poet verherrlichen will, sehen wir ungern in der Ge¬
fahr, der hergebrachten Tragödie alles historisch Hervorragenden zu Verfallen,
deren Gesetz ist, daß^ was ewig im Gesang soll leben, im Leben untergeben
muß. Denn in solcher Poesie sortexistiren zu sollen, ist kein beneidenswerthes
Loos, und wir haben das feste Zutrauen zu dem Takt und dem Geschmack
derer, die sich so besungen hören, daß ihnen solche Herolde ihrer Thaten, wie
Herr Lantzsch ist, unwillkommen sind.
Zum Schlüsse sei noch eines poetischen Ergusses gedacht, mit welchem wir
einen wohlbekannten Namen im Gedächtniß unserer Leser auffrischen. Denn
öfter schon war uns gegönnt, des würdigen Scholarchen zu erwähnen, dessen
Muse mit der Pünktlichkeit einer Sonnenfinsterniß jede Schicksalswcndung Sach¬
sens rhapsodisch glorisicirt. Leider liebt Herr Robbe in solennen lateinischen
Oden zu schwärmen und so Hie Facctien seines Genius der Masse zu entziehen.
Er verzeihe, wenn wir, um diese Unbill gut zu machen, es versuchen, sein
neuestes Poem wenigstens zum Theil in barbarischem Deutsch wiederzugeben.
Er singt u. c>>:
In uLur» ctolxkiiii geben wir hier das lateinische Original obiger Strophen:
Mit dem Schlußwort, an das wir mit allen seinen Consequenzen zu
glauben das ernsthafte Bedürfniß haben, stimmen wir gern überein, ja vielleicht
hätte es dem Laureaten zum Verdienst gereicht, wenn er die edle Tugend der
Selbstbeherrschung gepflogen hätte, als es ihm noch freistand, seine gelassenen
Worte groß auszusprechen. Aber zu dem Vorausgehenden sei eine Anmerkung
erlaubt. Das jetzt gestiftete Bundesverhältniß zwischen Sachsen und Preußen
ist einer Civilehe nicht unähnlich, welche lediglich auf Contract besteht. NaKt
die Poesie, um dem profanen Bund die höhere Weihe zu geben, so vergesse
sie nicht, daß es sich in einem Hochzeitsgedichte bedenklich ausnimmt, von
Scheidung zu reden. Würden solche Anspielungen landesüblich, so stehen wir
nicht dafür, daß der gelehrte Dichter noch genöthigt wird, das Motiv „Na.ri6in
Lorussi" als Ritornell oder Kehrreim zu behandeln.
Wer länger in Rom gewesen ist und den Zweck seines Aufenthaltes nicht
wie ein Engländer darin gesehen hat, sein Reisehandbuch an Ort und Stelle
zu lesen, der wird sicher aus eigener Erfahrung wissen, was ein römischer Pizzi-
caruolo ist. Andern hält es schwer den richtigen Begriff zu geben. Unser
Wursthändler ist viel einseitiger als dieser, der den Verkauf um Heller und
Pfennige nicht zu gering achtet; schwerlich aber ist er so populär wie sein
römischer Zunftgenosse, bei dem um Ave Maria alle Welt vorspricht, um sich
den Bedarf für die Abendmahlzeit zu holen und dabei ein Stückchen zu plaudern;
und auf keinen Fall ist er so witzig wie dieser. Wer. des Dialektes mächtig,
diese köstlich schlagenden Dialoge mit den bunt wechselnden Gästen belauschen
will, wird sich höchlich darüber vergnügen, welche bedenkliche Hinneigung zu
aristophanischen Freiheiten dieser Volkswitz nimmt, der nicht müde wird, sich
immer zu wiederholen und sich in immer neuen Variationen auszuprägen.
Beachtung verdient indeß auch die Maculatur einer Pizzicaruol, denn noch
immer kommen in alter patriarchalischer Sorglosigkeit ihm Manuscripte aller
Art zu Händen, die oft den Weg alles Fleisches entschieden nicht verdienen. So
hat auf diesem Wege ein langjähriger gründlicher Kenner Roms, der preußische
Major Kühlen, vor Jahren einige interessante Entdeckungen gemacht, welche
Raphael betreffen; und derselbe hat neuerdings auf dem nämlichen Wege ein
kleines diplomatisches Document erhalten, das einer Veröffentlichung wohl werth
ist. Es ist das Concept eines Berichtes, welchen Monsignor Marghinotti-Sora
dem Cardinal Antonelli über eine Audienz bei dem Großherzog von Toscana
Leopold dem Zweiten giebt. Das Schriftstück, welches kein stilistisches Meister¬
stück ist, commentirt sich selbst; es folgt in möglichst treuer Uebersetzung, nur
sind einige Perioden aufgelöst, die wir im Deutschen zu athmen nicht im
Stande wären.
„Am 16. Mai des Jahres 1856 Abends 8°/« Uhr geruhten Se. königliche
Hoheit der Großherzog von Toscana dem Monsignor E. Marghinötti-Svra
eine besondere Audienz zu ertheilen. Gedachter Monsignor gab zuerst dem Ge¬
fühl seiner Ehrerbietung und seiner Freude über das Wohlbefinden Sr. könig¬
lichen Hoheit unterthänigen Ausdruck, und leitete dann das Gespräch über auf
die lebhafte Opposition, welche die Liberalen und die Protestanten gegen die
Regierungen der italienischen Staaten fortwährend anstrengen. Dieselben wie¬
gelten das Volk auf durch trügerische Klagen über die angebliche harte Knecht¬
schaft, in der es unter dem Druck absoluter Regierung und in den Fesseln von
Staatsformen schmachtete, welche nicht nur in sich selbst den Bedürfnissen und
Wünschen der Bevölkerung ungenügend seien, sondern durch den Zwang einer der
Gewissensfreiheit grundsätzlich entgegenarbeitenden Religion unerträglich würden.
Diese große wohlorganisirte Agitation, welche uns schon seit einer Reihe von
Jahren heftig beunruhige, strebe nach nichts Geringerem, als die katholische
Religion aus Italien zu verbannen und die absolute Monarchie zu vernichten,
um dafür eine constitutionelle Regierung und als Nationalreligion die prote¬
stantische einzusetzen."
„Aus dem Gesagten ergaben sich ihm zwei Consequenzen: 1) daß eben
unter diesen Umständen die katholischen Fürsten Italiens sich in inniges Ein¬
vernehmen zu einander setzen sollten. Und da er die Ehre hatte, zu einem so
frommen und gottesfürchtigen Fürsten zu sprechen, so wagt er Se. königliche
Hoheit zu bitten, sich ernstlich mit diesen Gedanken zu beschäftigen, sich enger
an den heiligen Stuhl anzuschließen, und ein Concordat nach Muster des öst¬
reichischen in Ausführung zu bringen, damit den Liberalen und Protestanten
die Hoffnung auf Erfolg ihrer hinterlistigen Pläne abgeschnitten würde."
„2) Zur Erreichung dieses Zweckes, und um zugleich einer andern hohen
Pflicht zu genügen, möchte Se. königliche Hoheit die Gesellschaft der Jesuiten
berufen, daß sie in einem eigens einzurichtenden Centralcollegium alle begabteren
Kleriker des toscanischen Epiecopates in den theologischen und philosophischen
Wissenschaften unterwiesen. Er fügte hinzu, daß dies die beiden hauptsächlichsten
Punkte seien, über die er nun schon dreimal Sr. königlichen Hoheit in Toscana
Vortrag gehalten habe, und die er je^t in Rom Sr. königlichen Hoheit von
NtUcm ans Herz lege, als an deren Erfüllung der Segen des Herrn für
Se. königliche Hoheit und deren Staat geknüpft sei."
„Se. königliche Hoheit geruhten aus Ur. 1) zu erwiedern, daß Hochdieselben
ein dankbarer und gehoisamer Sohn der katholischen Kirche, Freund und An¬
hänger des heiligen Stuhles seien; daß Hochdieselben im Begriff ständen, sich
enger an den heiligen Stuhl anzuschließen, vornehmlich durch ein Concordat,
welches indessen wohl durchdacht werden müsse, um die praktischen Schwierigkeiten
zu vermeiden, welche das östreichische mit sich gebracht habe, welche übrigens
schon vorher von Sachkundigen erkannt worden seien."
„Zu Ur. 2) bemerkte Se. königliche Hoheit, es scheine richtig und dienlich
für diese Absicht, den Orden der Jesuiten für Errichtung eines Centralcvllegiums
zu öffentlichem Unterricht zu berufen; indessen sei dies Sache der Bischöfe, die
darüber unter Seiner und Seiner Regierung Zustimmung zu beschließen hätten."
„Schließlich betonte Se. königliche Hoheit, mit diesem Bescheid keine Ver¬
handlung der Angelegenheit in Rom beabsichtigen zu wollen."
„Darauf erwiederte der erwähnte Marghinvtti, daß das Episcopat nach
voraus eingeholter Erlaubniß Sr. königlichen Hoheit, deren sich Hochdieselben
wohl erinnern werde, schon davon in Kenntniß gehest worden sei, und daß sich
dasselbe, die Genehmigung der beiden Hauptbehördcn vorausgesetzt, mit diesem
Plane völlig einverstanden erklärt habe. Schließlich fragte er an. ob es Sr.
königlichen Hohne genehm erscheine, daß über die ganze Angelegenheit in Tos¬
cana mit reiflicher Ueberlegung weiter verhandelt würde. Se. königliche Hoheit
antwortete bejahend, wiederholte indeß, daß es mit reiflicher Ueberlegung ge¬
schehen müsse, um allen Schwierigkeiten zu begegnen." —
„Die regierende throßherzogin fand er durchaus ungünstig gestimmt, nament¬
lich in Rücksicht »uf die Wiederberufung der Jesuiten; und es bestätigte sich,
was er vorher gehört hatte, daß sie nach Neapel reiste, und daß diese Reise der
guten Sache nicht günstig sei."--
Hier bricht leider das interessante Document ab, das einen hübschen Ein¬
blick in die Bedrängniß und die Schlauheit der römischen Klerikalen gewährt.
Wie anders ist es in diesen zehn Jahren geworden! Der gute Monsignor hatte
richtig prophezeiht; aber hätten alle Jesuiten der Welt dem mächtigen Drang der
Ereignisse Einhalt thun können, in welchem ein wiedererstandenes Volk seine
Ist der Vergleich gestattet, so bat am 4. November 1866 das Haus Nassau
walramscher Linie seine „^rlieux ac ^ontkinedleau" gefeiert. Herzog Adolph
hat sich von dem Reste seiner Armee verabschiedet. Und seine Armee, obgleich
nur sechstausend Mann, lag ihm mekr am Herzen als das ganze übrige Be¬
reich seiner fürstlichen Machtvollkommenheit. In dem Staatshandbuch des
Herzogtdums Nassau, Welches jedes Jahr herausgegeben wurde, handelt das
erste Capitel von dem Hofstaate, das zweite Von dem Militäretat; und letzteres
Capitel begann mit den Worten: „Das Obercommando führen Seine Hoheit
der Herzog Allerhöchstselbst." Auch von dem Truppencommando hieß es:
„Wird, so lange ein Generalcommandant der herzoglichen Truppen nicht ernannt
ist. von Seiner Hoheit dem Herzog Allerhöchstselbst geführt und geht sonach
im Obercommando der Truppen auf. Obgleich hiernach der Herzog Adolph
einen großen Theil der Last des Commandos auf sich genommen hatte, so
existirten doch außer ihm ausweislich der officiellen Angaben des gedachten
„Staatshanbbuchs" nicht weniger als neun Generale, nämlich 1) der General-
lieutenant Prinz August von Sayn-Wittgenstein-Berlcburg, der nebenbei auch
dirigircnder Staatsminister war; 2) der Generallieutenant und Geheime Rath
v. Hadeln, der mit dem Prädicat Excellenz begabt war und die Erziehung des
Herzogs geleitet hatte; 3) der Generalmajor Hieronymus v. Ziemiccki, der vor
zwölf Jahren als fremder — östreichischer oder sächsischer — Oberlieutenant a. D.
in das Land gekommen und schnell bis an die Spitze des Miliicircabinets avan-
cirt war; 4) der Generalmajor Prinz Nikolaus von Nassau, Halbbruder des
Herzogs, Präsident des Herrenhauses; 5) der Generalmajor Freiherr Anton
v. Breidbach, früher Oberstallmeister des Herzogs, bekannt als geschickter Bienen¬
züchter; 6) Generalmajor Weiz; 7) Generallieutenant Hergenhahn; 8) General¬
major Franz v. Holbach, Chef des Kriegsministeriums und persönlich bei dem
Herzog sehr gern gesehen, weil er demselben die trüben Stunden der Herab¬
stimmung, welche mit denen der Aufregung und Erhebung abzuwechseln Pflegten,
durch Anekdoten und Burlesken zu verscheuchen verstand und endlich 9) General¬
major Roth, der direct aus Spanien, wo er an der Spitze der Verpflegungs-
colonne einer Karlistenbande stand, hierher bezogen worden war, um in kürzester
Frist vom Hauptmann zum Generalbrigadier auszurücken, aber 1866 die Feld-
Herrnkünste schuldig zu bleiben, die man sich von dem „iriZemoso KiäalZo" ver¬
sprochen hatte.
Rechnet man nun den Herzog Adolph als zehnten hinzu, so kam auf je
fünfhundert Mann Soldaten ein General. Gab die Kargheit der Landstände
oder die Schranke, welche das (freilich auch oft genug verletzte) Finanzgesetz
zog, keinen Raum für generalsmäßige Dotirung, so legte Herzog Adolph mit
freigebiger Hand aus seiner Civilliste zu. was fehlte. Dasselbe Verfahren
wurde eingehalten bei den oberen dem Herzog persönlich nahe stehenden Civil¬
dienern. Wo man damit nicht ausreichte, da griff man zur Stellencumulation.
Der Chef der gesammten Forstverwaltung deS Staats und der Gemeinden war
auch Oberjägermeister des Herzogs. In ersterer Eigenschaft hatte er die Auf¬
gabe, das von dem Staate, den Gemeinden und den Waldeigenthümern besol¬
dete Forstpersonal zur gehörigen Führung der Verwaltung der Forsten anzu¬
halten und letzteren zu schützen vor den Nachtheilen, welche aus der übermäßigen
Hegung des Wildstanoes erwachsen. In seiner Eigenschaft als Hofoberjäger¬
meister dagegen hatte er die Aufgabe, in dem fürstlichen Leibgehege, das sich
beinahe über das ganze Land erstreckte, Wild aller Art auf Kosten der Wald-
und Landwirthschaft zu hegen und zu Pflegen, damit der nobeln Jagdpassion
der Hofdiener Genüge geleistet werde, und bei den Jagden das Forstpersonal
und die Waldschützen als „herzogliche Jägerei" zu verwenden, obgleich dieselben
dadurch ihrem eigentlichen Beruf, für welchen sie die Steuerpflichtigen und die
Waldeigenthümer bezahlten, entfremdet wurden. Es gehört keine Propheten¬
gabe dazu, zu errathen, wer unterliegen mußte, wenn der Forstverwaltungschef
und der Oberjägermeister, welche als zwei Seelen in dieser einen Brust wohnten,
mit einander in Collision geriethen. Wenn aber die Bauern wegen Devasti-
rung ihrer Aecker und Wiesen und die Gemeinden wegen schlechter Bewirth¬
schaftung ihrer Waldungen und wegen Vernachlässigung des Waldschutzes durch
dje nur der Jagd nachgehenden Forstbedienstcten lebhafte Beschwerden erhoben,
welche auf dem Landtag ihr Echo fanden, dann versicherten die Hofdiener, das
sei eine künstliche Agitation, hervorgerufen durch die Fortschrittsadvocaten; und
das Hofblatt, welches redigirt wurde von einem durch den ausgedehntesten Ge¬
brauch des fürstlichen Begnadigungsrechts gegenüber allen ihm wegen Ehren¬
kränkungen und Verleumdungen zuerkannten und noch in Aussicht stehenden
gerichtlichen Bestrafungen hieb- und stichfest gemachten Literaten von eisernster
Stirne, versicherte, nichts Besseres gebe es für die Landwirthschaft als einen
gehörigen Wildstand, denn die Saaten sproßten viel üppiger, wenn sie das
Wild zuvor einmal bis auf den Stumpf abgefressen habe. Herzog Adolph
glaubte seinem Leibliteraten, den ihm der k. k. Ministerialrath Max v. Gagern
von Wien geschickt hatte, mehr als seinem Land und seinen Landständen —
und dank der Fürsorge des Oberjägermeisters konnte man auf einer Treibjagd
700 Stück Wild erlegen in Gegenden, welche 7,000 Menschen per Quadrat¬
meile durch Landwirthschaft ernähren mußten.
Gleiche Nachtheile wie die Acmtercumulation, namentlich die Vereinigung
von widerstrebenden Hof- und Staatsämtern in einer Person, hatte die Cumu-
lation von Staats- und von Civillistegehalten. Die verhältnißmäßig sehr hohe
Civilliste — sie betrug per Kopf der Bevölkerung mehr als einen Gulden —,
welche, obgleich der Herzog Adolph für seine Person, außer einer feinen Cigarre,
fast kein Luxusbedürfniß hatte, stets in Finanznöthen war infolge der un¬
gemessenen Ansprüche der „Getreuen"*), fühlte das Bedürfniß, auf die Staats¬
kasse abzuwälzen; und so kam es, daß die Negierung immer höhere Gehalte und
immer neue Stellen und Sinecuren bei dem Landtag verlangte, damit sie Leute,
die der Civilliste zur Last sielen, mit ihrem Gehalt von deren Etat ganz oder
theilweise auf denjenigen der Landessteuerkasse transferiren und statt Leute für
Stellen, Stellen für Leute acquiriren könne. Die Landstände aber fingen end¬
lich an, das Manöver zu durchschauen und- setzten solchen Anforderungen den
hartnäckigsten Widerstand entgegen; das machte natürlich sehr böses Blut und
jede derartige Weigerung wurde von den Stellen- und Besoldungsjägern, wel¬
chen dadurch die schon im Sichern geglaubte Beute entging, dem Herzog Adolph
als eine übermüthige Renitenz rebellirender Landstände dargestellt und von ihm
als eine persönliche Beleidigung aufgenommen. Daß infolge dessen Dinge und
Personen auf dem engen Raume eines Ländchens von achtzig Quadratmeilen
hart widereinanderstießen, ist begreiflich. Nirgends sind so zahlreiche und so
kleinliche Mißhandlungen aller derer vorgekommen, welche nicht mit der regie¬
renden Hofdienerschaft in ein Horn bliesen und nicht als Treiber dienen wollten,
um derselben fette Hasen in die Küche zu jagen.
Und doch hatte der Herzog Adolph von Haus aus ein gutes Herz und
einen ritterlichen Charakter. Allein die regierende Hofdienerschaft wußte seines
Herzens Güte, um sie für sich und nur für sich auszubeuten, dem Lande zu
entfremden und dem Herzog einzureden, es sei „ritterlich", wenn man sich mit
den unabänderlichen göttlichen Gesetzen des Fortschrittes der menschlichen Cultur
in einen hartnäckigen und erbitterten Widerspruch setze und es stets bis zum
Biegen oder Brechen treibe.
Wenn einzelne jener verhängnißvollen Männer und Frauen, denen Cha-
toulle, Küche und Keller ihres guten Herrn stets offen standen, ihm in
hoffentlich nicht erheuchelter und nicht auf die Domanialeinkünfte abzielender
Wehmuth nachweinen, so haben sie alle Ursache dazu. Der gutmüthige Herzog
war nur für sie, und für sie nur allzusehr gutmüthig. Er hat nur für sie ge¬
lebt und gelitten. Er hat ihnen viel, er hat ihnen alles geopfert, — seines
Landes Liebe und seine und der Seinigen fürstliche Existenz. Und wie wurde
ihm gedankt? Täglich träufelte man ihm Gift in die Ohren, um ihn in einer
fortwährenden nervösen Aufregung zu erhalten, welche auf die Dauer die körper¬
liche und geistige Gesundheit untergraben mußte, aber den Zwecken seiner Um¬
gebung förderlich war.
Wenn die Landwirthe, die Bergbautreibenden, die Weinproducenten, welche
ihren Absatz nach Preußen haben, für Aufrechterhaltung des Zollvereins durch
Anschluß an die von Preußen vorbereiteten Handelsverträge waren, weil dies die
wirthschaftlichen Interessen des Landes unabweisbar forderten, dann wurde dem
Herzog versichert, die materiellen Interessen seien nur Vorwand, man wolle ihn
unter der Form von Handelsverträgen mediatisuen. Die ganze wirthschaftliche
und freihändlerische Bewegung sei nichts als Hochverrath, sie sei das Werk
eines einzelnen Mannes, dieser habe die productiven Classen, „die ja nicht
studirt hätten" und deshalb ihre eigenen Interessen selbst nicht verständen,
„bethört" und schleppe sie mit sich als „Wahlvieh". So schrieb die Hof-
zeitung.
An den Landtagswahlen nahm der Herzog Adolph infolge der unaus¬
gesetzten Ausstachclungen seiner Umgebung, welche ihm fortwährend das Schaffot
und ähnliche revolutionäre Blut-, Zerr- und Schreckbilder vorspiegelte, die mit
dem gutmüthigen und beinahe etwas zu lebelustig-leichtfertigen Charakter der
Bevölkerung dieses Ländchens in einem wahrhaft lächerlichen Contrast standen,
den erregtesten persönlichen Antheil. Er reiste zu Wahlzwccken auf dem Wester-
Wald herum, tafelte dort mit einigen Localbeamten, die lakaienhaft ihre rechts¬
widrigen Einflüsse und Dienste für die Wahlen anboten, in einer Dorfkneipe,
und stieß mit ihnen auf den gemeinsamen Sieg an, der sich leider in eine
Niederlage verwandelte, die in Königsgrätz ihres Gleichen sucht. Der Herzog
war, als die Wahlen stattfanden, in .dem Landstädtchen Montabaur auf der
Auerhahnjagd. Es wurde ein Liberaler gewählt. Kaum hatte Se. Hoheit dies
erfahren, als er befahl anzuspannen und mit höchstseinem ganzen Gefolge in
großer Eile nach Limburg an der Lahn fuhr; denn in dieser strengkatholischen
Stadt, dem Sitze des Bischofs, konnte doch unmöglich liberal gewählt worden
sein; es lag daher in der höchsten Intention, dort wenigstens zu Mittag zu
speisen. Allein, kaum dort angekommen, erfuhr man, daß auch hier die Kleri¬
kalen unterlegen seien; und so ging es denn, ohne Mittagsessen und ohne
Aufenthalt, ohne Rast und Ruh, nach der Residenz Bibrich, wo indessen die
Wahl leider nicht minder liberal ausgefallen war.
Wenn Herzog Adolph sich zum rückhaltlosen Anschluß an die einheitlich-
nationale Gestaltung der Dinge in Deutschland jemals entschließen und einen
unbefangenen Rückblick aus die traurige Vergangenheit gewinnen könnte, in
welcher er, von bösen Hetzern aufgestachelt, als -«vröv re/^o-^loof sein Land
und noch mehr sich selbst plagte, er würde sich als deutscher Lord erster Classe,
als hochgeehrtes Mitglied eines deutschen Oberhauses ohne Zweifel freuen,
jenem wahrhaft unerträglichen Zustande entronnen zu sein und mit dem Psal-
misten intoniren: „Sei gepriesen, der du mich erlöset hast aus den Schlingen
der Jäger."
Gute Psychologen waren allerdings die Leiter der letzten nassauischen Po¬
litik. Die von Haus aus arglose Seele des Herzogs lag vor ihnen ausgebreitet
wie eine Generalstabskarte. Sie wußten die Pässe zu schließen und die Höhen
zu überwachen. Der verstorbene Herzog Wilhelm war ein geistreicher Mann,
allein zwei Ursachen hatten ihn in eine sehr unglückliche Richtung gedrängt.
Einmal der verhängnißvolle Domänenstreit, in welchem er mit seinem Lande
lag, und der, wie der Hydra statt des abgeschlagenen stets wieder ein neuer
Kopf wächst, wenn man ihn zum fünften und sechsten Male für immer todt-
geschlagen glaubte, sich zum sieben und achten Male wieder erneuerte, — der
selbst jetzt, nachdem die Dynastie aufgehört hat zu regieren, seine finsteren alten
Schatten in die helle neue Zeit hinübcrwirft. Und dann die Erinnerung an den
General Uork, der 181.3 bei der Besetzung Wiesbadens die nassauischen Wachen
entfernte und dem Offizier, der sich auf einen Befehl des Herzogs berief, gries¬
grämig antwortete: „Herzog? — Nheinbundsfürst! — giebts nicht mehr!"
Diese Furcht und jener Groll ließen den Herzog Wilhelm in dem Fürsten
Metternich und seinem Pseudocvnscrvatismus den Ausbund aller Weisheit und
die alleinige Garantie der Zukunft erblicken. Er ließ daher seinen Sohn Adolph
in Wien nach damaliger von den ?ä.trss «x S. -s. approbirter wiener Unterrichts¬
methode erziehen. Die mächtigen Eindrücke, welche die geräuschvolle Kaiserstadt
und ihr glänzender Hof auf seine weiche Seele und seinen receptiven Geist
machten, waren maßgebend für sein ganzes Leben, auch in den Dingen, worin
er selbst einer ganz andern Richtung anzugehören glaubte. So z. B. versicherte
er stets, er sei ein glaubensstarker und eifriger Protestant; und es liegt nicht
der geringste Grund vor, an der Aufrichtigkeit dieser Versicherung zu zweifeln.
Gleichwohl hat kein protestantischer Fürst in einem deutschen Lande die prote¬
stantische Kirche mehr beschädigt als er, indem er sie in dem Zustande der Ab¬
hängigkeit, Rechtlosigkeit und Unfreiheit erhielt während er dem katholischen
Klerus weitgehende Privilegien einräumte, u. a. das Recht der Beaufsichtigung
der Staats- und Communalschulen, die Befugniß, Klöster und sonstige geistliche
Korporationen zu gründen sowie Erbschaften und Grundeigenthum für die
todte Hand zu erwerben, Schulen und Besserungsanstalten ohne Staatsaufsicht
zu stiften und zu leiten u. f. w. Das Verlangen der Protestanten nach einer
repräsentativen Verfassung wies der Landesherr, welcher die an ihn entsandte
Deputation — die dampfende Cigarre im Mund und von einigen Jagdhunden
umgeben — empfing, unter schärfster Betonung seiner Rechte als summus
oxiseoxus ab.
Niemals hat ein Fürst so sehr die Ueberzeugung gehabt, daß er selbst, daß
er allein, und daß er alles regiere; und schwerlich ist einer in einem höheren Grade
und in einem weiteren Umfange von seiner nächsten Umgebung abhängig ge¬
wesen. Herzog Adolph kümmerte sich um alle Personale bis auf die Anstellung
jedes Polizeidieners und Weichenstellers an der Staatsbahn. Selbst auf den
unwirthlichen Höfen des Westerwaldes dürfte ein Wegknccht, welcher im Winter
die Landstraßen durch Schneeschöpfen possirbar zu halten hatte, nicht ohne aller¬
höchste Sanction des Landesherrn angestellt werden. Insofern konnte der Herzog
allerdings sagen: „I/6we, o'est moi!"
Um das, was die Landstände sprachen, kümmerte er sich wenig, und von
allen den Wünschen und Anträgen, welche sie stellten, geschah während der
letzten Jahre nichts, zuweilen auch das Gegentheil. Pflichteifrige Chefs und
Mitglieder der Ccntralstellcn waren der Gegenstand des Gespöttes der Hofbe¬
diensteten. Um mit jenen pflichttreuen Staatsbeamten, jenen sogenannten
„Pedanten des Rechts und der Ordnung" oder „schweinsledernen Corpus Juris"
möglichst wenig in Berührung zu kommen, hatte man gleich einem Puffer, dem
Sicherheitspolster, welches den Zusammenstoß der Eisenbahnwaggons mildert —
einen alten Cavalier zwischen den Hof und den Staatsdienst geschoben. Der mehr
als siebenzigjährige Hessen-darmstädtische Cavaleriegeneral Prinz August von
Wittgenstein war zum alleinigen dirigirenden Staatsminister gemacht und da¬
durch die bisherigen Departementsvorstände zu einfachen Schreibstubenchefs
heruntergedrückt. Der genannte Cavaleriegeneral dirigirte nicht nur die Militari«,
sondern auch die Justiz, die geistlichen, landwirthschaftlichen und Medicinal¬
angelegenheiten, das Innere, den Handel, die Industrie, die Finanzen — kurz
alles. Es darf indeß nicht unbemerkt bleiben, daß dieser Chef der Gesammt-
Verwaltung Nassaus auch längere Zeit in einer diplomatischen Mission an dem
russischen Hofe verweilte und auch unter dem Erzherzog-Reichsverweser in Ge¬
meinschaft mit dem preußischen Appellationsgerichtsrath Grävell und dem tür¬
kischen Pascha Jochmus Reichsminister gewesen ist. Seine Laufbahn schloß er
als nassauischer Gesandter an dem Numpfbundestag zu Augsburg in den „drei
Mohren", also daß er der letzte Minister des Reichs, der letzte Minister des
Heizoglhums und der letzte Gesandte des Bundes in einer Person war.
Uebrigens stand der Prinz auf einer etwas höheren Stufe als die Durch-
schnittsaristokrcitie im Kleinfürstendienst. Er war ein alter Cavalier aus der
Zeit von 1789, im guten wie im bösen Sinne des Wortes. Was ihm an
Geschäftskenntniß fehlte, das wußte er durch kluges Ausweichen, angenehme
Gesellschaftsformen, geistreiche Worte, oder auch durch Frivolität zu ersetzen.
Man erzählt von ihm einen „Reichswitz" und einen „Hcrzoglhumswitz", welche
beide, wenn sie nicht buchstäblich wahr wären (was sie sind), den Anspruch
hätten, für gute Erfindungen zu gelten, so charakteristisch sind sie für ihren
Mann.
Hier der Reichswitz: In den letzten Tagen des frankfurter Parlaments
wurde Prinz Wittgenstein, damals Neichsminister, von der Opposition mit Inter¬
pellationen bombardirt. Er bestieg die Rednerbühne, um sie zu beantworten.
Er sprach etwas leise. „Laut!" — „laut!" — „lauter!", schrie es auf der
Linken. Der Prinz wußte sich zu fassen: „Dieser Raum, die Paulskirche,"
sagte er, „hat eine eigenthümliche Akustik; rücken Sie, meine Herren auf der
Linken, nur herüber nach dieser Seite" — und dabei deutete er mit seinen
langen Armen und seinen kolossalen Händen nach der Rechten — „dann
werden Sie mich gleich besser verstehen!"
Mit dem „Hcrzogthumewitz" verhält es sich so: Ein ausländischer (ich
glaube französischer) Diplomat war bei dem Piinzministcr zu Tisch. Er machte
ihm einige Schmeicheleien darüber, daß der Prinz sich aus seiner militärisch,
diplomatischen Laufbahn so leicht in die administrative Carriöre hinübergefunden,
sich in die ihm völlig fremden Verhältnisse dieses kleinen Landes so schnell ein-
studirt habe und es so musterhaft regiere. „Oh, das ist nicht schwer," ant¬
wortete der Prinz mit einem vollendeten Satyrgesicht, „es sind nur zwei
Maximen, mit welchen ich vollständig auflange!" Darf ich sie erfahren? fragte
der Diplomat. „Warum nicht," erwiderte der Prinz, „die erste Maxime ist:
Als ich in dieses Herzogthum kam. war die Todesstrafe abgeschafft, und ich
werde sie nicht wieder einführen. Die zweite Maxime ist: Als ich in dieses
Herzogthum kam, waren die Spielbanken (in den Bädern) bereits eingeführt,
und ich werde sie nicht wieder abschaffen — voila tout!" So übersetzte er
Oxenstjernas „lÄutiHa saxisutia reZitur rriurräus."
Zur Ehre des Prinzen muß noch erwähnt werden, daß er sich um die
innere Verwaltung während der letzten vier Jahre gar nicht mehr kümmerte,
so daß die unerhörten Praktiken, welche damals Herr Werren verübte, ihm nicht
zur Last fallen. Nur der Vorwurf trifft ihn, daß er alles das geschehn ließ,
ohne den Herzog, welcher in „Höchstseinen Werren" förmlich vernarrt war, über
die Folgen aufzuklären. Indeß mag ihm sein hohes Alter zu einiger Entschul¬
digung gereichen.
Weniger aus blinder Vorliebe für Oestreich, dessen Schwächen er genau
kannte, und dessen SieH er mindestens für zweifelhaft hielt, als vielmehr aus
entschiedener Idiosynkrasie gegen Preußen förderte er die östreichischen Neigungen
des Herzogs, welche mit dessen Vorliebe für militärische und quasi-militärische-
Beschäftigungen Hand in Hares gingen und darin gipfelten, daß Hoheit Höchst¬
selbst mit dem Schneidermaße der Köpfe seines Offiziercorps versehen nach
Wien reiste und dort östreichische Käppis für dasselbe machen ließ. Man nannte
diesen Tag den der militärischen ..Kappenfahrt". Die Kappenfahrt pflegt näm¬
lich in Mainz, Köln u. f. w. einen integrirenden Bestandtheil der Carncvals-
belustigungen zu bilden.
Herzog Adolph hatte Oestreich zu Liebe 1850 seinen Austritt aus der
erfurter Union bewerkstelligt und 1831 an die Stelle seines preußenfreundlichen
Ministers Wintzingerode sein preußenfeindliches Factotum gesetzt. Während des
orientalischen Krieges hatte er Oestreich zu Liebe mobil gemacht und kurz darauf
hatte ihm der Kaiser von Oestreich seinen Prinzen aus der Taufe gehoben, der
die in protestantischen Dynastien nickt grade üblichen Vornamen Franz Joseph
führt. Im Jahre 1839 war der Herzog Adolph Oestreich zu Liebe einer der
Kriegslustigsten gegen das mächtige Frankreich, das so nahe an seiner Grenze
liegt. Seine Negierung zuerst von allen deutschen Staaten verbot damals die
Ausfuhr von Pferden. Dies erregte viel Heiterkeit in Paris. „I.s ano as
Mssau g. ä(!k<znäu 1'öxport Ah son ctikvall" spöttelte der Charivari.
Ob damals ohne den Friedensschluß von Villafranca das nichtpreuszische
Deutschland Oestreich wirklich vasallitische Heeresfolge geleistet haben würde, ist
ungewiß; gewiß aber ist, daß Herzog Adolph dies auf das sehnlichste wünschte
und sich davon die merkwürdigsten Erfolge versprach. Man phantasirte von
siegreichem Einrücken der Bundestruppen in Paris, Erwerbung großer Privat¬
reichthümer durch die Frankreich aufzuerlegenden Kriegscontributionen, Ent¬
thronung der napoleonischen Dynastie, Ersetzung derselben durch die alten Bour-
bons, legitimistische Restauration der staatsrechtlichen Zustände Europas nach
der Schablone Stahl oder Haller, Rückbildung der Bundesverfassung im Sinne
des Mittelalters, Abschaffung aller Repräsentalivverfassungen in Deutschland
und Wiederherstellung aller Feudallasten; vor allem aber von einem generellen
Hofjagdservitut über das ganze Land, welches dem Herzog sehr am Herzen lag
und ihm noch mehr daran gelegt wurde durch seine Jagdfreunde und seine
Jagdbediensteten, welche letztere den klingenden Vortheil davon hatten, während
für den Herrn das bischen noble Passion mit enormen Ausgaben verbunden
war, namentlich durch die von seinem Oberstallmeister v. Breidbach so warm
befürworteten Parforcejagden von Lippspringe.
Im Jahre 1859 war es zwar nicht zum Kriege gekommen, wohl aber zur
Kriegsbereitschaft. Auf Antrag des Abgeordneten Domherrn Rau hatte die
Ständeversammlung das ordentliche Militärbudget ohne Discussion en bloc
votirt. Außerdem hatte sie außerordentliche Mittel im reichsten Maße verwilligt.
Feldmäßige Solderhöhungen und Zulagen, mersch Möusss err eampaZue, und
wie alle jene Ergötzlichkeiten des Krieges heißen, waren für die Truppen ein¬
getreten. Eine Menge Ernennungen und Avancements fanden statt. Die Offi¬
ziere hatten große Summen Geldes erhalten, um sich Pferde anzuschaffen. Es
war ein lustiges militärisches Treiben, wie in Wallensteins Lager. Man lag
wie in Böhmen, pflegte den Lauch und ließ sich nichts grämen, man schmeckte
alle Annehmlichkeiten des Krieges, ohne dessen Bitternisse. „Oxes se Konores,"
Geld und Ehren, — was wollte man mehr?
Auch 1848 und 1849 hatten die nafsauischen Truppen, theilweise unter
Persönlicher Anführung ihres Herzogs, militärische Promenaden in Schleswig-
Holstein gemacht. Die Infanterie war nirgends ins Feuer gekommen. Eine
Batterie hatte einige glückliche Schüsse aus „Christian den Otlenden" abgefeuert.
Man war auf diesen Erfolg so stolz, daß der klerikale Abgeordnete Dr. Gro߬
mann damals in der Ständeversammlung mit Emphase und Salbung von
„unserer berühmten und sieggewohnten Artillerie" sprach.
Als das Wort „Krieg" im Frühjahr 1866 zum ersten Mal ernsthaft aus¬
gesprochen würde, weckte es zunächst die Erinnerung an den sehr leichten Kaufs
errungenen Lorbeer von 1849 und an das unblutige Säbelgerassel von 1859.
Diese Erinnerungen waren nicht unangenehm. Man wußte einfach nicht, was
Krieg war. Daß man dabei auch ungünstige Chancen laufen könne, daran
dachte man überhaupt gar nicht. „Denn," sagte selbst nach Königsgrätz das
einsichtsvollste Mitglied der herzoglichen Familie, „eher hätten wir an des
Himmels Einsturz als an eine Niederlage Oestreichs geglaubt." Der ganze
Hof war für Oestreich, die Herzogin an der Spitze. Letztere ist eine geborene
Prinzessin von Dessau, ihre Mutter geborene Prinzeß von Hessen-Numpenheim.
Sie ist auf dem Schlößchen Rumpcnheim am Main erzogen. In ihrer politischen
Weltanschauung stimmt sie mit dem Chef ihres mütterlichen Hauses, dem Kur¬
fürsten Friedrich Wilhelm, übereui. Bekanntlich ist der Kurfürst von Hessen
durch einen ausgedehnten Gütercomplex in Böhmen an Oestreich gefesselt.
Dasselbe ist bei dem Herzog Adolph der Fall. Er behind das Gut Liblin in
Böhmen und ist der Hauptinteressent des deutsch-ungarischen Bergwerksvereins,
der von dem Engländer Moriarty dirigirt wird, aber bis jetzt nichts als Zubußen
gefördert hat. Die Herzogin Adelheid von Nassau also und ihre Freundjn und
Oberhofmeisterin, die fünfzigjährige Comtesse Bella Felicitas v. Ingelheim,
ledige Schwester des östreichischen Gesandten v. Ingelheim, welcher dem König
Georg von Hannover zur Schlacht bei Langensalza rieth, übten großen Einfluß
auf den Herzog Adolph und verwertheten ihn zu Gunsten Oestreichs.
Schon Mitte März erklärte der Herzog sich auf eine Anfrage Oestreichs
bereit, wenn es zu einem Kriege komme, an seiner Seite zu stehen. Ein
Zweifel über die einzunehmende Stellung hat niemals obgewaltet. Die Hof-
dienerschaft machte gar kein Hehl daraus, daß im Falle des als ausgemachte
Sache betrachteten Sieges Nassau sich auf dem rechten Rheinufer abwärts bis
nach Deutz ausdehnen werde, während das linke Rheinufer mit Einschluß von
Köln dem Großherzog von Hessen-Darmstadt bestimmt sei. Die Soldaten —
von Natur gutes Material, aber mangelhaft in Schule und Zucht — hatte
man in einen eigenthümlichen Fanatismus zu versetzen gewußt. Ihr Hauptzorn
war nicht gegen die Preußen, sondern gegen den „Fortschritt" gerichtet, zu dem
unglücklicherweise ziemlich die ganze intelligente und besitzende Classe zählt.
Zu dieser gehörten nun grade die weiland nassauischen Soldaten nicht. Denn
das System der Stellvertretung herrschte im ausgedehntesten Maße. Für ein
paar hundert Gulden konnte man sich freilaufen, und jedermann, der so viel
aufzubringen wußte, machte Gebrauch davon. Dazu kam, daß eine Rcgierungs-
ordonnanz den Soldaten während ihrer ganzen sechs- bis siebenjährigen Dienst¬
zeit das Recht der Heirath und der bürgerlichen, bäuerlichen oder gewerblichen
Niederlassung absprach, wodurch dieselben zu einer Art von Paria erniedrigt
wurden, die sich gegenüber ihren besser situirter Mitbürgern leicht in einen
gewissen Grad von Haß und Wuth hineinsetzen ließ. Die Offiziere haben, mit
rühmlichen Ausnahmen, die Anschauung der Soldaten nicht nur getheilt, sondern
noch gepflegt. LxsmM sunt ocliosa.
Die aus den Staats- und aus den Gemeindekassen bezahlten Waldwirth¬
schafts- und Waldschutzbeamten behandelte der Herzog Adolph wie seine Be¬
dienten. Er nannte sie „Höchstmeine Jägerei". Seine Offiziere dagegen behan¬
delte er wie Mitglieder seiner Familie. Auf sie und seine Hofdiener concen-
trirte er die ganze Wärme seines Herzens, die er dem Lande und seinen
Unterthanen leider schon lange entzogen hatte. Man sah so recht, wie der von
Natur gut angelegte, aber übel berathene Charakter das Bedürfniß fühlte, zu
lieben und geliebt zu werden. Da man aber ihn seinem Lande und sein Land
ihm entfremdet hatte, so mußte er die Befriedigung seines Wohlwollens an
einem dritten Orte suchen. Und das that er.
Ohne Unterlaß sann Herzog Adolph auf Verbesserungen in der Equipirung
seiner Offiziere. Die Uniformen wechselten fortwährend. Der Helm verdrängte
den Czako, das nassauische Käppi verdrängte den preußischen Helm und das
östreichische Käppi verdrängte das nassauische Käppi. Des Herzogs eigenste
Schöpfung war seine Garde: ein Bataillon Jäger, Friedensstärke etwa drei¬
hundert Mann, für welche er in seiner Sommerresidenz Bibrich, innerhalb des
Schußbereichs der Festung Mainz, eine prachtvolle und kolossale Kaserne erbaute.
Die Kosten dieser Jägerkascrne verschlangen ein Viertel sämmtlicher directer
Steuern eines Jahres. Der Herzog erfand für die Jäger eine originelle Uni¬
form, ebenso unzweckmäßig im Kriege als kleidsam im Frieden. Seine Offiziere
der Leibtruppe gefielen ihm so gut, daß ein jeglicher derselben von vorn und
Von hinten abgezeichnet, durch Lithographie vervielfältigt und colorire wurde;
der Avers und Revers wurde auf Pappdeckel zusammengeklebt, ausgeschnitten
und aufrecht auf ein Stehklötzchen geleimt. Das auf diesem Wege nachgebildete
Offiziercorps mit Porträtähnlichkeit, nebst ditto Soldaten, diente den herzog¬
lichen Prinzen als Spielzeug. Auch der Papa hatte seine Freude daran.
Als der Feldzug von 1866 bereits entschieden und die Entsetzung der
Dynastie Nassau ausgesprochen war, sammelte der Herzog die Photographien
seiner sämmtlichen Offiziere in dem Lager bei Günzburg an der Donau in
Bayern und ließ sie in ein Album binden, das die Devise trägt: „Getreu bis
in den Tod!" Die Mehrzahl dieser Albumsoffiziere hat gegenwärtig die Ehre,
in der Armee Seiner Majestät des Königs von Preußen zu dienen.
Sämmtliche Offiziere, auch die bürgerlichen Offiziere der untersten Chargen,
glänzten auf den Hofhallen. Wer am meisten in großdeutscher (d. h. Preußen-
feindlicher) und konservativer (d.h. klerikaler) Gesinnung machte, hatte sich der
höchsten Gunst zu erfreuen, auch auf den Hofhallen. Die preußischen Offiziere
der Garnisonen in Mainz und Frankfurt leisteten den Einladungen zu den
Hofbällin nicht mehr Folge. Sie waren indignirt über die raffinirten Ziuück-
setzungen, welche ihnen im Vergleich zu den mit einander fraternifirendcn östrei¬
chischen und nassauischen Offizieren zu Theil wurden.
Auf einem solchen Hofbälle des Herzogs gerieth ein in höchster Gunst
stehender Hauptmann Namens Vogler, ein Mann von vierzig Jahren, in Streit
mit einem zwanzigjährigen Lieutenant, den er in Gegenwart von Damen
brüstirte. Es kam zum Duell, ohne daß der Handel, wie dies Vorschrift, zuvor
dem Ehrenrathe zum Zwecke der Beilegung unterbreitet worden war. Der
Hauptmann >— ein rcnvmmirter Pistolenschütze — erschoß das arme junge
Blut. Der letztere war ein sehr braver und tüchtiger junger Mann; er gehörte
einer der angesehensten Adelsfamilien des Landes an. Sein Großvater war
dreißig Jahre lang allmächtiger Minister gewesen und hatte in der Zeit von
1806 bis 1816 das Herzogthum formen und zusammenflicken helfen. Das
Kriegsgericht verurtheilte den Hauptmann Vogler zu drei Jahren Festung.
Kaum hatte er einige Wochen auf derselben zugebracht, so wurde er von dem
Herzog Adolph begnadigt und in seine Hauptmannswürde wieder eingesetzt.
Vogler' gehörte zu den Heißspornen der Reaction und hatte gegen eine Reihe
preußischer Zeitungen Preßprocesse geführt. Letzterer Feldzug war zwar nicht
sehr glücklich ausgefallen, allein er zeugte doch von gutem Willen, von Ergeben¬
heit und Tapferkeit.
Derselbe Hauptmann gab Veranlassung zu einem anderen für die Winkel-
staaterei und Krähwinkelei höchst charakteristischen Conflict, der viel von sich
reden machte. Bei Gelegenheit der Berathung des Militärbudgets hatte ein
Abgeordneter eine Parallele zwischen Ausbildung und Leistungen der nassauischen
Truppen von ehedem und von jetzt gezogen und dabei die Worte gebraucht:
„Ich stelle die Lorbeeren von Waterloo über die von Oberlahi'stein." An der
Schlacht bei Waterloo hatte bekanntlich das nassauische Contingent einen nicht
unrühmlichen Antheil genommen. Mit den Lorbeeren von Oberlahnstein ver¬
hält es sich dagegen so: Am 23. Juli 1865 hatten sich einige Trümmer des
preußischen Abgeordnetenfestes, das bekanntlich in Köln unterdrückt wurde, nach
Oberlahnstein zurückgezogen, um dort unbehelligt einige Stunden in zwangloser
Unterhaltung zubringen zu können. Dies wurde nach Wiesbaden gemeldet.
Der Herzog befiehlt sofortiges militärisches Einschreiten gegen die preußischen
Abgeordneten, besonders deshalb, weil er mit Recht vermuthete, es hätten sich
einige liberale Mitglieder der nassauischen Ständeversammlung jenen angeschlossen.
Der Herzog betrieb in Höchsteigner Person mit großem Eifer die Vollstreckung
des Befehls. Aus der Garnison von Wiesbaden wurden die Unteroffiziere und
Soldaten, welche man für besonders „treu" hielt, einzeln ausgesucht, im Ganzen
etwa zweihundert Mann. An ihre Spitze stellte man den genannten Haupt¬
mann Vogler und gab ihm als Civilcommissär einen Polizeinssessor bei, welcher
sich, bei den Wahlen als brauchbares Werkzeug Werrens empfohlen hatte.
Diese Executionsmannschaft, welche durch einen Extrazug von Wiesbaden
nach Lahnstein befördert wurde, kam indeß trotz alles persönlichen Drängens
und Treibens des Herzogs zu spät. Die Locomotive mußte leider zuvor geheizt
werden; und überdies konnte doch auch ein militärischer Extrazug nicht riskiren,
die gewöhnlichen regelmäßigen bürgerlichen Züge in Grund zu bohren, ohne
sich und sein Militär der äußersten Gefahr zu exponiren. Der Herzog war über
diese Verzögerung wüthend. Aber es half nichts. Die Gesetze der Mechanik
sind stärker als die Befehle eines Fürsten. Als die Expedition endlich gegen
Abend nach Oberlahnstein kam, waren die Abgeordneten bereits fort. Der
Hauptmann Vogler ließ die Truppen scharf laden und hielt ihnen eine napo¬
leonische Ansprache. Die Soldaten waren auch wüthend. Man hatte ihnen
gesagt, die Preußen seien in Lahnstein eingefallen, um dem Herzog sein Land
wegzunehmen. Nun saßen in Lahnstein, einem sehr besuchten Vergnügungsorte,
noch Fremde in den Wirthsgärten. Dem Commissär wollte es bedünken, als
habe dieses Publikum „eine provokante Haltung"; er erklärte dasselbe für auf¬
gelöst, und da das betreffende Local nicht sofort geräumt wurde, so sprach der
Assessor zum Commandanten der Executionsarmee: „Ich hab' das Meinige ge¬
than, thun Sie das Ihrige. Herr Hauptmann." Ein Mainzer Bürger erhielt
einen Bajonnetstich ins Gesicht; ein Kaufmann aus Langenberg und dessen
in London etablirter Sohn wurden durch Kolbenstöße von den Gartenstühlen
heruntergeworfen. Der letztere wurde außerdem durch einen Kolbenschlag aus
den Kopf verwundet, so daß ihm das Blut über das Gesicht strömte. Auch
diese waren wüthend, und schließlich müssen es sogar Flaschen und Gläser eben-
falls gewesen sein — wenn sie nicht etwa auch provokatorische Haltung gezeigt
haben — sonst wären sie von den Soldaten nicht mit solcher Entschlossenheit
zertrümmert worden. Vier Fremde wurden verhaftet und in ein schlechtes Gefängniß
geworfen, aus dem man sie jedoch nach einigen Tagen wieder entlassen mußte,
weil man nicht im Stande war, irgendeine Anklage gegen sie zu begründen.
Die siegreiche Armada kehrte um Mitternacht nach Wiesbaden zurück und ihre
Tambours trommelten bei dem Einmarsch so fürchterlich, daß die Kranken und
Kurfremden erschreckt aus den Betten sprangen und fragten, was los sei?....
Ein Jahr später trommelte es wieder i» Wiesbaden. Aber zwischen dem
dumpfen Tone der Trommeln schallte mit scharfem, spitzem, neckischen Klang
eine lustige Melodie hindurch. Das waren die preußischen Pfeifen: ?mis
Mssoviae!....
Die Finanzverhältnisse des Großherzogthums Mecklenburg-Schwerin. Von Moritz
Wiggers. Berlin, Verlag von F. Duncker. 1806. (VIII. und 232 S. gr, 8.)
Wer sich an concreten Verhältnissen das Wesen des alten mecklenburgischen
Feudalstaats zur Anschauung bringen will, dem können wir nur empfehlen, sich
mit dem Inhalt des oben genannten Werkes bekannt zu machen, welches die
finanziellen Einrichtungen und Zustände des Landes in Verbindung mit den
bedingenden Momenten der feudalen Verfassung und des feudalen Wirthschafts¬
systems darstellt. Was hier vorgeführt wird, erscheint wie ein Bild aus längst
vergangener Zeit und wie ein Hilfsmittel für historische Studien, und doch hat
es sich vor der lebendigen Gegenwart noch nicht zurückgezogen und die Ver¬
fechter des Feudalismus sind weit entfernt, es unter die Todten zu werfen.
Sie legen vielmehr Werth darauf, daß es den Anforderungen der modernen
Welt nicht entspricht und betreiben nichts eifriger, als es gegen alle Anfech¬
tungen in Schutz zu nehmen und es in unveränderter Gestalt für die Nachwelt
aufzubewahren.
Es erklärt sich aus der großen Verschiedenheit des feudalen Staatswesens
und des modernen Staats, wenn sogar in Mecklenburg selbst eine sehr weit
verbreitete Unkenntniß der hier dargestellten Verhältnisse angetroffen wird und
wenn man auf letztere glaubt Anschauungen zur Anwendung bringen zu können,
welche nur im modernen Staatsleben ihre Stelle finden. Man redet häufig
von einem Staatsbudget, von einer Sta a t skasse, von Staatstelegraphen,
von einer Staatseisenbahn, von einer Civilliste des Großherzogs u. s. w.,
und doch existiren alle diese Begriffe für Mecklenburg nicht. Denn was anders¬
wo als Staat, als Einheit vorhanden ist. das liegt hier noch in seinen Be¬
standtheilen starr gesondert. Ein Staatsbudget giebt es hier nur in drei für
sich bestehenden Etats: einem landesherrlichen, einem gemeinsamen landesherr¬
lich-ständischen, und einem rein ständischen. Post, Telegraphen, Eisenbahn sind
nicht Staatseinrichtungen, sondern landesherrliche Unternehmungen. Eine gro߬
herzogliche Civilliste, eine abgesonderte Einnahme zur Bestreitung der Kosten
des großherzoglichen Haus- und Hofhalts, giebt es nicht, sondern was anderswo
den Namen einer Civilliste führt, steht hier mit den Einnahmen für die ge-
sammte Verwaltung des Landes in ununterschiedener Gemeinschaft.
Der Landesherr verfügt über die Einnahmen aus den Domänen. Regalien
und Steuern ganz unumschränkt und ohne alle ständische Controle. Demselben
liegt nur die allgemeine Verpflichtung ob, mit diesen Auskünften die Kosten des
Landesregiments zu bestreiten. Niemand kann darüber Rechenschaft von ihm
Verlangen, in welcher Art und Weise er diese Verpflichtung erfüllt. Der Landes¬
herr hat kein aus der Landeshoheit entspringendes Besteueiungsrccht, und die
Staatsangehörigen haben keine auf der Staatsangehörigkeit basirende Steuer¬
pflicht. Die Principale Verpflichtung zur Bestreitung der Kosten der Regie¬
rung und Verwaltung liegt vielmehr dem Landesherrn ob, und nur subsidiär
haben dazu die Stände und deren Hintersassen insoweit beizutragen, als erstere
sich dazu vertragsmäßig verpflichtet haben. Der Landesherr wird als Eigen¬
thümer der Domänen betrachtet und vertritt als Grundbesitzer die Interessen
der Domanialbevölkerung, welche etwa zwei Fünftheile der Gesammtbevölkerung
des Landes ausmacht. Dem Landesherr» steht das unbeschränkte Gcsejzgcbungs-
und Besteuerungsrecht über die Bewohner der Domänen z». Die Ritterschaft
und die Städte vertreten nur ihre eigenen Rechte und Interessen. Die ver¬
tragsmäßigen Steuern bestimmen sich nicht nach dem jeweiligen Bedarf und
Leistungsvermögen, sondern sind unveränderliche Aversionalsummen, mit deren
Bewilligung und jährlicher Zahlung die Stände sich ein- für allemal abgekauft
haben. Ein Etat über die landesherrlichen Einnahmen und Ausgaben wird
nicht zur öffentlichen Kenntniß gebracht. Die Steuerzahler werden in absoluter
Unkenntniß über die Höhe der von ihnen aufgebrachten Steuern und der sonstigen
landesherrlichen Einnahmen und über die Verwendung derselben gelassen.
Es war unter diesen Umständen keine leichte Aufgabe, den gegenwärtigen
Stand der landesherrlichen Einnahmen und Ausgaben zu ergründen. Einen
Anhaltspunkt gewährten dafür hauptsächlich zwei in der konstitutionellen Zeit
(1848 und 1850) vorgelegte Etats. Die seitdem erfolgten Veränderungen mußten
mühsam aus einzelnen in die Oeffentlichkeit gedrungenen Notizen zusammen¬
getragen, theilweise konnten sie auch nur durch Schlußfolgerungen gefunden
werden. In einzelnen Fällen war freilich selbst eine annähernde Schätzung
unmöglich, doch im großen Ganzen ist es dem Verfasser ohne Zweifel gelungen,
das nöthige Material herbeizuschaffen, um seiner Ausgabe zu genügen.
Nach den gewonnenen Ergebnissen betragen die ordentlichen landesherrlichen
Einnahmen gegenwärtig 5.256,000 Thlr. Davon kommen 3,698,000 Thlr. auf
die Domänen. 856,000 Thlr. auf Steuern und Zölle, 428.000 Thlr. auf das
PostWesen, 208.000 auf die Civilvcrwaltuug. Daneben findet sich noch eine
außerordentliche Einnahme im Betrage von 100,000 Thlr. Die ordentlichen
landesherrlichen Ausgaben belaufen sich auf 4.344.000 Thlr. Davon kommen
auf die Verwaltung der Domänen 1,563,000 Thlr., der Steuern und Zölle
119.000 Thlr., der Post 297.000 Thlr.. auf die Civilverwaltung 600,000 Thlr.,
großherzogliche Chatoulle und Haus 141.000 Thlr,, Hofhaltung 400.000 Thlr.,
Militärwesen 650,000 Thlr., Zinsen und Schuldentilgung 302.000 Thlr.. Pen-
sionen 168.000 Thlr. Der ständische Etat ergiebt 83.000 Thlr., der landes¬
herrlich-ständische Etat 423,000 Thlr. in Einnahme und Ausgabe. Der Ueber¬
schuß der gesammten Einnahme über die Ausgabe berechnet steh hiernach aus
1.012.000 Thlr. Der Schuldenstand beträgt an landesherrlichen Schulden
7.000,000 Thlr.. an ständischen Schulden 156,000 Thlr., an landesherrlich¬
ständischen Schulden 1.460,000 Thlr., Summa 8,616,000 Thlr. Dieser Schuld
steht ein Activum von 90 bis 100 Millionen Thaler an Werth im Domanial-
Vermögen gegenüber.
Ungeachtet dieser günstigen Finanzlage ist, wie der Verfasser, auf seine
vorangehenden Ausführungen gestützt, am Schlüsse seiner Schrift nachweist,
eine gründliche Reform der mecklenburgischen Finanzverhälinisse dringendes Be¬
dürfniß. Die Steuern sind trotz des großen Domanialvermögens sehr hoch
und ungleich vertheilt, sie drücken auf den minder Wohlhabenden und belasten
den reichen Grundbesitzer nur mit einem Minimum. Der separate Grenzzoll
und der Ausschluß von den Zollvereinsstaaten wirken höchst nachtheilig auf den
Wohlstand. Die Domänen erzielen lange nicht die Einnahmen, welche sie bei
rationeller Bewirtschaftung abwerfe» würden, und die Ausgaben für dieselben
erreichen infolge der bureaukratischen Vielregiererci eine unverhältnißmäßige
Höhe. Eben die büreaukratische Einmischung in alles hindert auch die gedeih¬
liche Entwickelung des landwirthschaftlichen Betriebes in den Domänen und
wirkt dadurch unheilvoll auf den Wohlstand des ganzen Landes ein. In dem
landesherrlichen Etat haben die Ausgaben für unproductive Zwecke eine un¬
verhältnißmäßige Höhe, während die Ausgaben für Schulen u. f. w. knapp
bemessen sind. Das Schlimmste aber ist der gänzliche Mangel an einem Budget¬
system und der Mitwirkung des Volks bei der Feststellung und Controlirung
der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben. „Es ist endlich Zeit," bemerkt in
Bezug hierauf der Verfasser, „daß dies veraltete und gegen die ersten Grund¬
sätze der Finanzwirthschaft verstoßende Aversionalsystem, welches dem Volke nur
Pflichten auferlegt und keineRechte zuerkennt, dem rationellen einheitlichen Budget¬
system Platz mache. ... Das mecklenburgische Volk hat ein Recht darauf, daß
der über seine Finanzen ausgebreitete Schleier weggezogen, daß über das vom
Vermögen des Landesherrn zu trennende Staatsvermögen ohne seine Genehmi¬
gung nicht verfügt, daß ohne seine Zustimmung keine Steuern und Abgaben
erhoben und keine Staatsausgaben gemacht und daß die Steuern so geordnet
werden, daß keine Bevorzugung einzelner Stände und Güter stattfindet." Ohne
die Einführung des Budgetsysteins und die Voraussetzung davon, die Trennung
von Staatsgut und großherzoglichen Hausgut, ist auch die Herstellung wirth¬
schaftlicher Freiheit, welche für Mecklenburg eine Existenzfrage ist, eine Unmög¬
lichkeit..
Mecklenburg erfreute sich schon einmal, zu der Zeit, wo es ein constitutio-
neller Staat geworden war, aller jener Einrichtungen, welche es jetzt wieder
mühsam erkämpfen muß. Wäre die weitere Entwickelung derselben nicht durch
den wieder zur Herrschaft vorgedrungenen Feudalismus unterbrochen worden,
so hätte es in den seitdem verflossenen 16 Jahren schon eine weite Strecke auf
der Bahn des politischen und wirthschaftlichen Fortschritts zurücklegen können.
Es hat ihm so gut nicht werden sollen. Aber jetzt hat sich dem Lande in
dem Anschluß an das werdende Deutschland eine neue Aussicht eröffnet, den
Fesseln der mittelalterlichen Staatsform sich zu entwinden und mit den moder¬
nen Einrichtungen eine dauernde Verbindung einzugehen. Wird es, wie man
hoffen darf, mit dem neuen deutschen Bunde Ernst werden, wird derselbe nicht
eine verminderte Ausgabe des alten darstellen, sondern zu einer wahren Einigung
der Glieder in einem Bundesstaate sich gestalten, so hat damit auch die S.Mde
geschlagen, wo der feudale Staat Mecklenburg von der politischen und wirth¬
schaftlichen Schaubühne, auf welcher er zur Belustigung der Auswärtigen und
zum Schaden und zur Demüthigung seiner eigenen Bevölkerung nur zu lange
sich behauptet hat, definitiv verschwinden wird.
Der König war am 30. Juni Abends von Berlin abgereist und in der
Nacht zum 2. Juli in Gitschin, dem Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl
angekommen, um den Oberbefehl über das ganze, jetzt wieder in drei Theile,
die erste, zweite und Elbarmee zerfallende Heer zu übernehmen. Nach den vor¬
liegenden Berichten scheinen bei dem Eintreffen des Königs die Nachrichten vom
Feinde ziemlich gefehlt zu haben. Erklärt wird dies dadurch, daß die beiden
fürstlichen Feldherren nach vorhergehenden heftigen Gefechten ihren Truppen
zwei Ruhetage gegeben hatte», welche natürlich vom Feinde benutzt sein mußten,
um die einzeln geschlagenen Corps zu sammeln und in sich zu reformiren. Ein
östreichischer Berichterstatter sagt, „daß Benedek noch am 30, Juni mit seiner
ganzen Armee den Rückzug nach Königsgrätz antrat" und „daß es ihm mit
Meisterschaft gelungen sei. seine Kräfte eiligst weiter rückwärts zu concentriren."
So standen die beiderseitigen Heere am 1. Juli einen Tagemarsch ausein¬
ander. Das preußische mit einer Front von fünf Meilen von Smidar über
Horziz und Königinhof nach Gradlitz, durch die breite Front befähigt, sich nach
jeder Richtung hin frei zu bewegen und durch einen Marsch sich vor einer Stel¬
lung des Gegners zu concentriren, der durch die vorhergehenden unglücklichen
Gefechte auf die Defensive geworfen war. Das östreichische Heer hatte, wie
gesagt, sich bei Königsgrätz concentrirt und Feldzeugmeister Benedek hatte die
Freiheit, entweder durch eine Aufstellung hinter der von den Festungen Königs¬
grätz und Josephstadt gedeckten Elbe eine Position zu nehmen, oder den Gegner
zu einem Frontalangriff über die Elbe weg, die Festungen in der Flanke zu
nöthigen, oder aber bei einer weiten Umgehung des Gegners die preußischen
Colonnen in der Flanke zu fassen. resp, einzeln zu schlagen. — Nach dem ma¬
teriellen und moralischen Enden, welchen die östreichischen Truppen bereits erlitten,
war es wohl das Richtigste, wenn sie die Position an der Elbe als Arriöre-
gardenstellung gebrauchten, um die dadurch gewonnene Zeit zu einem noch
Weilern, recht geordneten Rückzug zu benutzen und um die Armee dann in eine
zur Schlacht ganz vorbereitete Stellung zu bringen.
Benedek that das gerade Gegentheil. Er wollte die gehabten Verluste nicht
anerkennen, machte ob dem Vergangenen die Augen fest zu und ging dem Feinde
entgegen. Hierbei scheinen politische Einflüsse, Befehle aus Wien u. dergl.
in höherem Grade treibendes Element gewesen zu sein als militärische An¬
schauungen. Das Borgehen war von kurzer Dauer, er rückte dem Feind nicht
kühn auf den Leib und faßte ihn an seiner schwächsten Stelle, sondern ging
nur 1^/2 Meilen vor, verschanzte sich in einer un sich guten, in strategischer
Beziehung jedoch schlechten Position und erwartete den Gegner. So verband
er die befohlene Offensive mit der durch die Verhältnisse gebotenen Defensive
und dies erklärt seinen Untergang.
Schon am 1. Juli rückte Benedek mit einem großen Theil seines Heeres
wieder über die Elbe, nahm Stellung hinter der Bistritz, die Straße von Königs-
grätz über Sadova nach Horziz, die Front senkrecht durchschneidend, und benutzte
den 2. Juli, um sich nach Kräften zu verschanzen. Da dies alles in der Sphäre
der Truppen des Prinzen Friedrich Karl statthatte, so konnte es nicht unbemerkt
bleiben. Die Nachrichten hierüber häuften sich im preußischen Hauptquartier
immer mehr und dadurch wurde diesem das Handeln geboten. Anfangs scheint
man geglaubt zu haben, nur Theile der östreichischen Armee vor sich zu sehen,
nach und nach aber erkannte man die Wahrheit und im königlichen Haupt¬
quartier schwankte man dann nicht, die dargebotene Entscheidungsschlacht anzu¬
nehmen.
Wie verschieden das moralische Element auf beiden Seiten war, zeigt sich
aus den Dispositionen dicht vor der Schlacht. Die Oestreichs concentriren
alle ihre Kräfte in einen großen Haufen hinter der Höhe von China, schieben
fast ihre gesammte Artillerie in die vordere Linie und verschanzen sie nach Mög¬
lichkeit. Punz Friedrich Karl bricht schon in der Nacht auf, um jedenfalls um
.Feinde anzukommen, ehe er seinen Rückzug angetreten haben wird. Der Kron¬
prinz gar hatte für den Z.Juli dem einen seiner Corps, dem sechsten, ausge¬
geben, von der Seite der benedekschen Stellung her eine Demonstration gegen
Josephstadt zu machen, weil er es für möglich hielt, diese Festung einfach durch
Drohung in die Hand zu bekommen. Der König aber richtete seinen Angriff
von vorn herein der Art ein, daß er den Gegner vollständig umfaßte; Prinz
Friedrich Karl sollte in der Front festhalten, während der Kronprinz und General
v. Herwarth gegen die Flanken und die feindlichen Rückzugslünen vordrangen.
Wir lesen nirgends, daß über eine specielle Reserve disponirt worden wäre, um
bei diesen, von Seiten der Flügelarmeen den eigenen Rückzug preisgebenden
Bewegungen stützend oder helfend eingreifen zu können.
Die Oestreicher hatten also an die Ufer der Bistritz von Nechanitz bis
Benatek und von hier über Horonowcs nach Racitz an die Ufer der Trotina
bis zu deren Einmündung in die Elbe beim Ort gleichen Namens in einem
großen Halbkreis, dessen Krümmung an der Trotina schärfer wurde, ihre Vor-
truppen aufgestellt. Von diesen Wässern steigt das Terrain auf durchschnittlich
zweitausend Schritt langen Abhängen sanft an; auf der Höhe der Abhänge
standen die Batterien, mehr oder minder durch Kunst oder Natur gedeckt. Hinter
den Geschützen in einer hier wieder beginnenden Senkung stand das Gros der
Infanterie, ungefähr im Mittelpunkt des Halbkreises bei Wsestar und Sweti
die Reserven.
Die Batterien also bezeichneten einen Höhenrücken, der in der Mitte am
höchsten, in China seine Spitze erreicht, von hier aber einen Zweig nach Nor¬
den sendet, der über Benatek und Horonowes. die Bistritz und Trotina trennend,
über die Linie der Vortruppen hinaus streicht und dort erst abfällt. Dieser
Rücken trennte die Anmarschlinien des Prinzen Friedrich Karl und des Kron¬
prinzen und unterbrach das Gesichtsfeld von der Höhe von China, auf welcher
Benedek seinen Platz genommen hatte. Sadowa liegt ungefähr in der Mitte
des Halbkreises und die dorthin führende Chaussee von Königsgrätz führt auf
tausend Schritt von China in einer kleinen Senkung vorüber. Zwischen China,
Sadowa und Benatek liegen einzelne größere Waldpartien, grade jenen trennen¬
den Höhenzweig bedeckend.
Die Aufstellung der Oestreicher war nun folgende:
Vorwärts China, also in der Mitte gegen Sadowa standen, vom rechten
Flügel angefangen, das vierte, dritte und zehnte Corps, hinter China und
hinter jenen drei Corps das erste und sechste Corps nebst der Cavalerie- und
Artillericreserve. Auf dem linken Flügel gegen Nechanitz das achte Corps, die
Sachsen und die Cavaleriedivision Edelsheim. Auf dem rechten Flügel gegen
die Trotina das zweite Corps und die Cavaleriedivision Taxis.
Wenn wir diese Aufstellung betrachten, so erhellt daraus, daß dem Angriff
des Prinzen Friedrich Karl fünf Armeecorps direct gegenüberstanden und daß
dem Prinzen also, zumal er vier Stunden vor dem Kronprinzen ins Gefecht
ging, die sehr schwere Aufgabe zufiel, gegen eine ungemein vortheilhafte Position
und mit bedeutender Minderzahl den Angriff durchzuführen. Es folgt daraus
ferner, daß dem General v. Herwarth bei Nechanitz mit drei Divisionen in zwei
Corps auch eine Ueberzahl, wenn schon eine geringere gegenüberstand, er im
Ganzen also auch keine glänzenden Fortschritte machen konnte. Der Kronprinz
aber mit vier Corps fand auf seinem Wege nur ein Corps gegenüber; ihm
mußte der Erfolg zufallen, wenn er ankam, ehe Prinz Friedrich Karl über¬
wunden war.
Prinz Friedrich Karl, der 1'/? Meilen vom Schlachtfeld lag, brach schon
Morgens 2 Uhr auf und war um V-8 Uhr vor Sadowa entwickelt, begann das
Gefecht, nahm den Ort und die dahinter liegende Brücke, defilirte gleichzeitig
an mehren Stellen und kam dadurch^in kurzer Zeit mit der Armee vor der
Hauptfront des Gegners an.
General v. Herwarth brach um drei Uhr Morgens von seinem 1^4 Meile
entfernten Hauptquartier auf, erreichte um acht Uhr erst Nechanitz, griff es an,
nahm es, konnte aber nur auf einer einzigen Brücke übergehen, weil ein Brücken¬
schlag durch Versehen mißglückte, und kam nicht vor elf Uhr vor der Front der
feindlichen Stellung an.
Der Kronprinz erhielt erst um vier Morgens den Befehl zur Theilnahme
an der Schlacht, seine Corps standen bis zwei Meilen von seinem Hauptquartier
ab und hatten zwei bis drei Meilen bis zum Schlachtfelde; es kostete also
Stunden, bis die Befehle in den Händen der Truppen und diese zum Aufmarsch
bereit waren. Nur der glückliche Umstand, daß das sechste Armeecorps, wie
oben erwähnt, zu einem Unternehmen gegen Josephstadt bestimmt war, fügte
es. daß der Befehl dies Corps, welches den äußersten linken Flügel bildete
und die für den Feind gefährlichste Richtung zu nehmen hatte, schon im Ab¬
marsch traf. Trotzdem haben die ersten Truppen den Feind erst um V,12 Uhr
erreicht.
Auch diese Zeitverhältnisse Diesen dem Prinzen Friedrich Karl die Aufgabe
zu, Stunden lang ganz allein mit dem großen Kern der östreichischen Armee zu
ringen und es muß ihm und seinen braven Truppen hoch angerechnet werden,
daß er diese Aufgabe ganz erfüllte. Es darf hier aber nicht unerwähnt bleiben,
daß der König durch sein persönliches Eingreifen und Erscheinen mitten in den
bedrohten Truppen den moralischen Elan und damit ihre Widerstandskraft un¬
endlich hob. An dieser Kraft zehrte sich die Hauptmasse des Gegners ab und
der Kronprinz hatte das Glück, auf dem Schlachtfelde beinahe nur einen un¬
ausgesetzten Triumphzug zu halten. Die vorstehend gegebenen Details lassen
die Schlacht in ihrem großen Verlauf und in ihren innern Ursachen schon
erkennen. Bei der Bedeutung dieser Schlacht aber für die historische Entwicke¬
lung Deutschlands erhalten auch die Details einen Werth, der uns nöthigt, hier
wenigstens den bedeutendsten näher zu treten.
Prinz Friedrich Karl hatte grade gegen Sadowa die achte Division Horn,
links gegen Benatek die siebente Division Fransecky. rechts gegen Dohalitz und
Dohalitzka die dritte und Vierte Division entsandt, die fünfte und sechste Divi¬
sion aber in Reserve hinter der Division Horn folgen lassen. Die genannten
Orte wurden in verhältnismäßig kurzer Zeit genommen und die Truppen gingen
nach vollbrachtem Uebergang sofort zum weitern Angriff vor. Derselbe kam
aber auf dem rechten Flügel bei der dritten und vierten Division nicht vor¬
wärts, da gleich hinter den Orten der oben erwähnte ganz freie, von den
östreichischen Batterien voll bestrichene Abhang beginnt und an deren mörderi¬
schen Feuer jedes Vorgehen scheiterte. Die preußische Reserveartillerie dieser
Divisionen kam erst später heran und auch dann wollte es ihr nicht gelingen,
die feindlichen Batterien zum Schweigen zu bringen, da diese an Zahl und an
gezogenen Geschützen überlegen waren und gedeckt auf der Höhe standen, die
preußischen dagegen offen in der Tiefe. Die Oestreicher konnten die Wirkung
ihrer Geschosse genau beobachten, während die Preußen ihre Kugeln nur hinter
der Höhe verschwinden sahen, ihre Richtungen also nicht zu corrigiren ver¬
mochten. Diese Divisionen begnügten sich also, stehen zu bleiben, natürlich im
feindlichen Granatfeuer, daher mit großen Verlusten. Um sich diesen zu ent¬
ziehen, scheint sich der linke Flügel aber immer näher an Sadowa und hinter
das dortige Wäldchen gezogen zu haben. - Folge der reinen Defensive auf
diesem Flügel war. daß die Oestreicher um so mehr Kräfte gegen den andern
Flügel des Prinzen Friedrich Karl verwenden konnten. Als richtig kann diese
passive Tapferkeit schwerlich bezeichnet werden.
Die Division Horn, nachdem sie Sadowa genommen, ging sofort zum An¬
griff gegen das dahinter liegende Wäldchen vor, drang in dasselbe ein. kam
hier zu einem sehr mörderischen Handgemenge, konnte aber nicht darüber hinauf¬
dringen, da das jenseitige freie Terrain ebenso, wie vorhin erwähnt, unter der
vollen Wirkung der feindlichen Geschütze lag, gegen welche nicht einmal preu¬
ßische Batterien direct aufgefahren werden konnten, da der Wald zu dicht war,
um sie durchzulassen. Auch hier kam somit das Gefecht zum Stehen, aber
blieb nicht so duldend, wie das der dritten und vierten Division. — Der Feind
überschüttete den Wald und das dahinterliegende Terrain mit seinen Granaten
und ging dann selbst zum Angriff gegen den Wald mit Infanterie vor, drang'
wohl an einzelnen Stellen in denselben ein, wurde aber im Ganzen durch die
zähe Widerstandskraft der preußischen Infanterie abgehalten, sich dort festzu¬
setzen. — In dem freien Terrain links der sadowa-königsgrätzer Straße hatte
General v. Horn einige Batterien und Infanterie aufgestellt, welche zwar nicht
avancirten'' aber ebenso brav wie ihre Kameraden im Walde die Angriffe der
Oestreicher immer wieder abwiesen. — Den schlimmsten Stand und damit die
größten Verluste aber hatte die Division Fransecki. Nach der Wegnahme von
Benatek war sie, sich rechts haltend, um an die achte Division' anzuschließen,
gegen den Wald am AbHange vorgedrungen, rasch in demselben vorwärts'
und durchgekommen, hatte dabei aber eine Richtung längs der östreichischen
Front eingeschlagen. Die Folge war, daß sie in der linken Flanke genommen
und fast in dem Walde eingeschlossen wurde. Es begann ein Gefecht, das sich
aus den verschiedenen Berichten gar nicht klar legen läßt; nur so viel geht aus
den östreichischen Relationen hervor, daß Benedek das dritte, vierte und Theile
des sechsten Corps verwandte, um Herr des Waldes von Benatek zu werden,
dadurch den Prinzen Friedrich Karl in der Flanke zu fassen und zu vernichten,
ehe der Kronprinz herankommen konnte, oder mindestens beide Armeen von ein¬
ander zu trennen. Die Division Fransecki verlor die Hälfte ihrer Leute, aber
sie hielt aus und hatte schließlich noch die Kraft, dem mit Beginn der Attake
des Kronprinzen endlich nachlassenden Gegner zu folgen. Die Division hoffte
in ihrer Ausdauer auf die Ankunft des Kronprinzen, aber da sie durch den,
oben erwähnten, sich abzweigenden Höhenrücken von ihm gänzlich getrennt war,
fühlte sie diese Ankunft nicht eher, als bis der Feind vor ihr wick. Grade
weil die zweite Armee anrückte, wollte Benedei hier erst siegen, stellte dem
Kronprinzen nur wenige Truppen entgegen und warf alle disponibeln Kräfte
gegen General v. Fransecki, aber vergebens. Es war ein hoher Ehrentag für
diese magdeburgischen Truppen.
Der Kronprinz hatte also um vier Uhr Morgens den Befehl des Königs
erhalten, mit allen Kräften gegen die rechte Flanke des Feindes vorzurücken,
und war um vier Uhr mit zwei Corps, rechts die Garde, links das sechste
Corps a» der Tete, zwei dahinter in dem Bereich des Schlachtfeldes angekom¬
men. Um Uhr begannen die Batterien ihr Feuer und warfen das Alarm¬
zeichen in die Reihen der Gegner. Obgleich die beiden Corps ihren Angriff in
einer Linie begannen, erhielten sie doch sehr bald getrennte Schlachtfelder. Das
sechste Corps nämlich stieß an der Trotina auf das zweite Corps Thun und
mußte sich mit diesem, wenn auch anscheinend nicht schwer, um seinen Fort¬
schritt schlagen, während das Gardecorps zufällig seine Direktion gegen die
Lücke bekommen hatte, die zwischen dem zweiten östreichischen Corps und den¬
jenigen Truppen Benedeks sich gebildet hatte, welche alle ihre Anstrengungen
auf die Ueberwindung der Division Fransecki wandten. So gelang es der
Garde im Rücken derselben im ersten Anlauf Maslowed. China und sogar
Nosbcritz zu nehmen, bei welchem letztern Ort die östreichischen Reserven ge¬
standen hatten. Feldzeugmeister Benedek halte seinen mehrstündigen Aufenthalt
bei China eben aufgegeben, um nach dem vom General Mutius gedrängten
Corps Thun zu sehen. Kaum aber waren die Garden in dieser alles gefähr¬
denden Stellung angekommen, als auch die östreichischen Truppen von allen
Seiten sich gegen sie wandten. Rosberitz ging nach schwerem Kampf wieder
verloren, aber China wurde trotz allem Anstürmen des Gegners behauptet, zu¬
mal als nun auch das erste Corps Bonin ankam und rede» China vordrang.
Nvsberitz wurde wieder genommen und damit den gegen Prinz Friedrich Karl
fechtenden östreichischen Corps der Rückzug aufgenöthigt.
Gleichzeitig mit den Fortschritten der Garde und 'des ersten Corps war
auch das sechste Corps im Avanciren gegen die Rückzugslinie der Oestreicher
geblieben. Graf Thun hatte, als er die Trotina und die nächst dahinter liegen¬
den 'Abschnitte gegen das entschiedene Vorgehen des General v. Mutius nicht
behaupten konnte, seinen Rückzug hinter die Elbe genommen und dadurch den
Weg in den Rücken Benedeks freigegeben. Während nun die Oestreichs vor
der ersten Armee geordnet den Rückzug begannen, stürmten Garde und sechstes
Corps gegen ihre Flanken und lösten ihre Reihen. Immer mehr und mehr
artete der Rückzug zur Flucht aus. Tausende von Gefangenen und über hun¬
dert Geschütze fielen diesen beiden Corps in die Hände, deren unaufhaltsamem
Drängen nur die sinkende Nacht und die eigene Müdigkeit ein Ende machte.
— Das erste und fünfte Corps folgten geschlossen nach, konnten aber trotz
unausgesetzten Marsches den Gegner nicht mehr erreichend Die Cavalerie der
Armee des Kronprinzen scheint an diesem Tage der Führer ermangelt zu haben,
denn von ihren Thaten hören wir nichts, trotzdem grade jetzt ihr der reichste
Lohn einer kühnen Thätigkeit geboten war. — Die Cavalerie des Prinzen
Friedrich Karl hat, vom Könige geleitet, eine Verfolgung begonnen, stieß aber
noch aus zu geordnete Massen, um einen Erfolg von Bedeutung zu erringen.
General Herwarth v. Bitterfeld, der mit den Divisionen Canstcin und
Münster gegen den feindlichen linken Flügel auf Probluö und'Prim vorging,
machte, trotzdem der Gegner in schöner Position und stärkerer Zahl gegenüber¬
stand, unausgesetzt, wenn auch nur langsam Fortschritte, bis er die Höhe ge¬
wonnen hatte. Hier aber war sein Vorgehen zu Ende, da er aus die vom
Kronprinzen und nun auch vom Prinzen Friedrich Karl gedrängten Massen
traf, die sich von ihm nicht die letzte Rückzugslinie abschneiden lassen konnten.
Die Division Etzel, die dritte der Elbarmee, war leider noch nicht heran, sonst
hätten ihre frischen Truppen doch noch reiche Trophäen sammeln können. Der
König gab der Elbarmee den Befehl zur Verfolgung, weil sie derjenigen Ruck«
zugslinie der Oestreicher, welche nicht durch die Festung Königsgrcitz gedeckt war,
der Straße über Pardubitz, am nächsten stand. Der Kampf der Elbarmee war
aber ein so schwerer gewesen, wie aus den oben gegebenen Zahlenverhältnissen
schon erhellt, daß sie zur Verfolgung keine Kraft mehr hatte. Da nun die
andern Armeen den Befehl erhielten, stehen zu bleiben, so unterblieb die Ver¬
folgung ganz. Bei der Auflösung, die in der östreichischen Armee einriß, hätte
sie sonst glänzende Früchte tragen müssen.
Die östreichische Militärzeitschrift spricht von einer Panique, welche in
kurzer Zeit die Ordnung auflöste und die Truppen in Massen verwandelte, welche
sich ungestüm rückwärts wälzten und denen, wie an der Beresina, die Brücken
über die Elbe zum Todeöweg für eine Unzahl Menschen wurde. Die rastlos
nachdrängende Menge stürzte viele der auf der Brücke Befindlichen in das Wasser,
andere nahmen sich nicht die Zeit, den Moment abzuwarten wo sie die Brücke
betreten konnten, sondern sprangen in das Wasser, um durchzuschwimmen, aber
ihre Kräfte reichten nicht dazu. Das Fuhrwerk der Armee war so stürmisch
nach Königsgrcitz geeilt, daß es in den Thoren in einander fuhr und für jeder¬
mann den Weg versperrte. Die Soldaten stürzten sich in die Festungsgräben,
deren Wasser inzwischen aufs Höchste angespannt waren und auch hier fanden
Massen ihren Tod. Das Armeematerial konnte nicht mehr fort, wurde stehen
gelassen und fiel den andern Tag den Preußen in die Hände. Die hübsche
Unternehmung des Lieutenant v. Wrangel vom Gardehusarenrcgiment, der am
4. Juli mit wenigen Husaren nach Königsgrcitz hinein sprengte, den Comman-
danken auf eigne Faust zur Uebergabe aufforderte und Gehör fand, beweist,
daß wenn am 3. nach der Schlacht das sechste Corps seinen Stoß bis zu dem
nur noch eine halbe Stunde entfernten Königsgrätz dreist fortsetzte, die Festung
übergeben worden wäre. Am 4. hinderte nur der durchpassirende General
Gablentz den Commandanten daran, es noch zu thun. — General Gablentz kam,
um einen Waffenstillstand anzubieten, wurde aber vom Könige abgewiesen. Die
Schlacht kostete der preußischen Armee an 9.000 Todte und Verwundete und
brachte ein: 174 Geschütze, 11 Fahnen und 20,000 Gefangene. Die Verluste
der Oestreicher betrugen an Todten und Verwundeten mindestens 20,000 Mann.
Oestreichische Berichte geben den Gesammtverlust nach der Schlacht auf 80—90,000
Mann an. Diese kolossalen Zahlen lassen sich nur der großen Masse zuschreiben,
welche auf dem Rückzug ihre Fahnen verließ und nach Hause lief.
Die östreichische Armee eilte mit sechs Corps. den Sachsen und einer Di¬
vision Cavalerie der Festung Olmütz zu, um dort sich zu retabliren, das zehnte
Corps Gablentz und die andern vier Divisionen Cavalerie nahmen ihre Rich¬
tung über Brunn nach Wien, um hinter den dortigen Verschanzungen von
Fiorisdorf Schutz zu suchen und die Hauptstadt zu decken.
Man hoffte wohl die preußische Armee nach Olmütz nachzuziehen, sie hier
zum Halt zu bringen und unterdessen bei Wien durch die verschiedenen von
rückwärts heranzuholenden Festmigsbesatzungen und durch die zur Zeit in
Italien stehenden Corps eine neue Armee zu bilden, welche alsdann die Offen¬
sive nehmen sollte. Die italienische Armee wollte man freimachen, indem man
Venetien an Napoleon schenkte. Die Combination ergab sich aber bald als
fehlerhaft, einerseits nahm Napoleon zwar Venetien an, gebot aber der Armee
des Königs Victor Emanuel nicht Halt; andererseits ließ König Wilhelm nur
die Armee des Kronprinzen gegen Olmütz folgen, dirigirte aber die Hauptarmee
direct auf Wien. - ,
Ehe wir nun aber diese Operationen näher behandeln, werfen wir noch
einen kritischen Rückblick auf den Verlauf der Schlacht.
Wodurch Feldzeugmeister Beneock bewogen worden sein kann, mit seiner
zum Theil schon demoralisirten Armee vorzugehen und die Schlacht anzubieten,
haben wir oben schon behandelt. Die Stellung nahm er an sich sehr günstig,
wie der Verlauf der Schlacht ergiebt, nur war die Lage vor der Elbe eine ge¬
fährliche wegen des Rückzugs. Diese Gefahr sollte aufgehoben werden durch
die Festung Königsgrätz, unter deren Schutz zehn Brücken geschlagen waren,
Vorkehrungen und Verhältnisse, welche als vollständig hinreichend erachtet werden
müssen. Nur die Paniqne, welche die Oestreicher auf dem Rückzug ergriff, machte
alle Vorsicht zu Schanden und auf solch ein unheilvolles Ereigniß kann kein
Feldherr seine Berechnungen richten. — Die östreichische Führung in der Schlacht
muß ebenfalls anerkannt werden. Eine durchaus concentrirte Aufstellung gewährte
die Möglichkeit, die Truppen reich allen Seiten zu verwenden und die Anspan¬
nung aller Kräfte gegen die zuerst angreifende Armee des Prinzen Friedrich
Karl, um einen Theil nach dem andern vom Gegner zu erdrücken, war durch¬
aus richtig. Daß es Venedek nicht gelang, mit fünf Corps die drei feindlichen
in vier Stunden, die ihm gewährt waren, zu überwinden, war nicht seine und
seiner Generale Schuld, das lag an der Verschiedenheit der Güte der Truppen.
Mit welcher Energie die östreichischen Führer den Angriff betrieben, erhellt allein
daraus, daß vier commandin-nde Generale verwundet wurden. Vorzüglich ge.
schlagen hat sich nach dem Urtheil Aller die östreichische Artillerie, daß sie dabei
fast die Hälfte ihrer Geschütze verlor, fällt den anderen Waffen zur Last,
welche sie schließlich im Stich ließen.
Bei der Einleitung der Schlacht von preußischer Seite muß auffallen, daß
Prinz Friedrich Karl so früh zum Angriff schritt. Der an die zweite Armee
erlassene Befehl des, Königs zur Schlacht, welchen der Berichterstatter der Armee
des Kronprinzen mittheilt, giebt einige Aufklärung. Es heißt darin: „Eure
königliche Hoheit wollen sogleich die nöthigen Anordnungen treffen, um mit
allen Kräften zur Unterstützung der ersten Armee gegen die rechte Flanke des
voraussichtlichen Anmarsches des Feindes vorrücken zu können." — Man er¬
wartete also einen Angriff des Gegners und stellte sich schon mit Tagesanbruch
zum Empfange bereit. Als dieser nun nicht erfolgte, schritt man selber dazu,
wohl erwartend, daß man nicht die ganze feindliche Armee gegen sich habe.
Der oben angeführte Befehl lautet wenigstens in der Einleitung: „ Den ein¬
gegangenen Nachrichten zufolge ist der Feind in der Stärke von etwa drei
Corps, welche jedoch noch verstärkt werden können, über die Bistritz vorgegangen."
Hiernach konnte Prinz Friedrich Karl mit seinen drei Corps erwarten, allein
mit dem Gegner fertig zu werden, zumal er des Eingreifens des neben ihm
vorrückenden General Herwarth mit noch ein und einem halben Corps gewiß
sein konnte. — Wie nun der Angriff keinen Erfolg hatte, wurde das Gefecht
ein hinhaltendes und siedendes, bis der Kronprinz eingreifen konnte. Daß die¬
ser seine Corps ohne Rücksicht auf das Bedrängniß der Hauptarmee nicht dieser
zu Hilfe, sondern fast in den Rücken dirigirte, machte den harten Kampf des
Prinzen Friedrich Karl doppelt wichtig und die Schlacht zu dem welthistori¬
schen Ereigniß der vollen Vernichtung des Gegners. — In diesem kühnen Vor¬
gehen liegt die Ähnlichkeit mit Blüchns Eingreifen in der Schlacht bei Belle-
Alliance.
Am Tage nach der Schlacht, also am 4. Juli ruhte nun die preußische
Armee vo» der schweren Arbeit aus und nur die Cavaleriedivision Hartmann
des Kronprinzen ging nach Pardubitz auf der großen Straße nacb Wien vor,
noch viele Nachzügler zu Gefangenen machend. — Am 5. folgte die ganz«
preußische Armee, der Kronprinz ließ eine Brigade, 7.000 Mann, gegen die
beiden Festungen Königsgrätz und Josephstadt mit einer Gesammtbesatzung von
20,000 Mann stehen und erhielt den linken Flügel mit dem Wege Pardubitz-
Olmütz. während der Prinz Friedrich Karl in der Mitte die Linie Przelaucz-
Brünn als Marschrichtung bekam und auf dem rechten Flügel General v. Her-
warth über Elbetcinitz nach Iglau ging. Das in der früher gegebenen Stärke-
nachwcisuug aufgeführte Reservecorps war unterdessen herangekommen und am
Tage der Schlacke bei Königsgrätz mit einer Division hinter General v. Her-
warth eingetroffen, während die andere Division zur Besetzung von Sachsen
und Einschließung von Theresienstadt verwandt war. Die erstere Division
wurde jetzt direct nach Prag gesandt, das sie am 8. Juli, ohne irgendeinen
Widerstand zu finden, besetzte und wo sie große Kricgsvorräthe aller Art noch
vorfand. Die andere Division wurde später in Sachsen durch Landwehrbataillone
aus den rückwärtigen Festungen ersetzt und dann ebenfalls nach Brünn gezogen,
wo sie bei Beginn des Waffenstillstandes eintraf.
Die von den drei Armeen vorgesandtcn Cavaleneabtheilungen stießen bald
auf die schwachen Arriöregarden des Gegners und trieben diese, unter Zusammen¬
treibung vieler Gefangener, immer wieder vor sich her. Den ersten Halt in
den Bewegungen fand der Kronprinz natürlich vor Olmütz. Er scheint aber
keine Neigung gehabt zu haben, sich vor der Festung festlegen zu lassen, denn
er schritt nicht zur Einschließung, sondern beschloß, mit seiner Armee ohne Rück¬
sicht «uf die eigene Nückzugslinie. wohl aber, wie schon früher, die des Geg¬
ners ins Auge fassend, sich auf der Verbindung von Olmütz nach Wien aufzu¬
stellen. — Von dem Augenblick an aber, wo die Oestreicher die Absichten ihrer
Gegner erkannten, sich zwischen die Hauptkräfte von Olmütz und Wien zu
schieben und rücksichtslos gegen den letzteren Ort vorzugehen, strebten sie auch
die Bereinigung der ganzen Armee bei der Hauptstadt des Reiches an. Olmütz
erhielt nur die nvrmalmaßige Besatzung angewiesen und die mobile Armee
wurde nach Wien in Bewegung gesetzt. Den geraden Weg dorthin und die
Eisenbahn durchschnitt nun aber der Kronprinz, indem er seine Truppen üver
die March vorgehen ließ. Eine am 15. Juli vorgesandte Brigade Infanterie
und die Cavalenedlvisivn Hartmann stieß bei Tovilschau auf die marschirenbcn
Colonnen, warf sie zurück, nahm ihnen, mit einem eigenen Verlust von 234
Mann, 18 Kanonen und 1200 Gefangene und veranlaßte eine solche Sorge
in dem moralisch schon vorweg geschlagenen Gegner, daß der Feldzeugmeister
Bencdek das Erzwingen des Marsches aufgab und nur die Vereinigung auf
dem weite» Umweg hinter den Karpathen durch Ungarn suchte. Zu diesem
Entschluß trug sehr wesentlich bei, daß Prinz Friedrich Karl weiter südlich auch
auf jene direct.' Verbindung dirigirt war und am 16. Juli den Eisenbahnknoten¬
punkt Lundenburg besetzte.
Sobald diese Bewegungen des Gegners im königlichen Hauptquartier er-
kannt wurden, erhielt der Kronprinz den Befehl, nur ein Corps gegen Olmütz
stehen zu lassen, mit den drei andern aber der Hauptarmee auf Wien zu folgen.
Dem Prinzen Friedrich Karl wurde aufgegeben, seine Bewegungen gegen die
feindliche Marschlinie (von Olmütz hinter den Karpathen durch Ungarn nach
Wien) noch weiter fortzusetzen und den Versuch zu machen, durch die Weg¬
nahme von Preßburg diese Linie zu unterbrechen. Gelang es. diesen Ort zu
nehmen, so mußten die drei östreichischen Corps, welche noch zurück waren, ihren
Marsch noch weiter östlich richten und über Komorn die Verbindung suchen;
dadurch hätte man nicht nur freiere Hand bei Wien gewonnen, sondern zugleich
auf die hier aufgestellten Corps den empfindlichsten moralischen Druck ausge'
übt. der in dem Unternehmen lag, bei Preßburg über die Donau zu gehen
und von dort gegen Wien vorzudringen. In Wirklichkeit konnte die preu¬
ßische Armee aber gar nicht- hieran denken, denn die Donau hat bei Pre߬
burg eine so bedeutende Breite und so starke Stromschnelligkeit, daß nicht nur
der Brückenschlag mit dem Brückentrain der Armee sehr schwierig, sondern die
Erhaltung der Brücke bei nur einiger Energie des Gegners fast unmöglich war.
Bei der moralischen Verfassung aber, in welche die bisherigen Mißerfolge die
östreichische Armee gebracht hatten, muß die Bewegung gegen Preßburg -als
durchaus richtig bezeichnet werden. Auffallend aber ist es, daß Prinz Friedlich
Karl den Stoß in die feindliche Marschlinie mehrer Corps hinein und mit
einem einzigen Corps unternahm und diesem einen Corps nicht einmal Truppen
in Reserve folgen ließ.
Das zum Gefecht disponirte vierte Corps unter General v. Fransccki rückte
mit Tagesanbruch aus, drang in den kleinen Karpathen vor, stieß bei Plumenau
auf den Feind und griff ihn in folgender Art an. Die Front wurde beschäftigt,
während Umgehungscolonnen auf beiden Flügeln vorgingen. Auf dem rechten
Flügel nur wenige Bataillone,' auf dem linken Flügel aber zwei Brigaden, also
das halbe Corps; so daß um zwölf Uhr Mittags, als die Nachricht von dem
geschlossenen Waffenstillstand eintraf, sich die eine der Brigaden bereits im Rücken
des feindlichen Corps befand, das fünf Brigaden stark bei Plumenau stand.
So endete das Gefecht. ES waren dies ungemein kühne Unternehmungen des
General v. Fransccki, da er gar keine Ahnung von der Stärke des Gegners
haben konnte, aber bei der sehr geringen Kampflust der Oestreicher trug mög¬
licherweise diese Kühnheit ungeheure Erfolge ein; war jedoch noch eine Spur
Von Energie in den östreichischen Generalen, so mußte schließlich die preußische
Brigade eher gefangen werden, als das feindliche Corps, dessen Verstärkungen
unausgesetzt anrückten. Ob General v. Fransccki Recht hatte, konnte nur der
Erfolg lehren, und dazu kam es nicht mehr. Schon seit längerer Zeit ange¬
knüpfte Verhandlungen hatten zum Abschluß eines Waffenstillstandes geführt,
welcher am 22. Mittags beginnen sollte. Daß man so in letzter Stunde ein
sehr zweifelhaftes Gefecht führte, läßt sich nur dadurch erklären, daß auf die
Friedensverhandlungen noch eine letzte, starke Pression ausgeübt werden sollte;
denn hätte man auch Preßburg genommen, so mußte man es nach der fest¬
gesetzten Demarkationslinie doch räumen. — Die beiderseits angenommenen
Friedenspräliminarien erklärten Oestreichs Austritt aus dem deutschen Bunde
und Preußens unbedingte Herrschaft in Norddeutschland. — Somit hatte König
Wilhelm den Zweck des Krieges erreicht.
Wenn sich der Verfasser obiger Schrift mit dem unerlaubt titelwidrigen
Titel von ihrer Lectüre bei preußischen Politikern und Beamten eine gute Wir¬
kung für sein Heimathland verspräche, wie die Flugschriften Benings und
Grumbrechts. sie verdienen und wie doch auch ohne Zweifel sein Wunsch ist,
dann müßte er ein sonderbarer Rechner sein. Sie ist ein Libell in Zahlen,
eine Schmähschrift im Kanzleistil. Man erhält ungefähr den Eindruck, als wäre
ein gravitätischer bezopfter Gardegrenadier aus der Zeit Friedrich Wilhelms des
Ersten von den Todten erstanden und gäbe Schnellfeuer aus dem Zündnadel¬
gewehr. Der Mann schimpft nicht, das ist wahr, in der Manier süddeutscher
Radicalen und Ultramontanen, aber das ist auch alles, was seine Stellung zum
preußischen Staat von der ihrigen unterscheidet. Fr. Hecker mit aller seiner
natürlichen Antipathie gegen Preußen, den Stein des Anstoßes für sein Ideal,
die deutsche Födcrativrepublik, würdigt die Ereignisse der jüngsten Zeit doch
hundertmal unbefangener, weil er Hundertmal mehr eigentlich politischen und
nationalen Sinn hat als Stüve, — denn dieser und kein anderer ist es, den
wir hier vor uns haben. Auch wenn es die Zeitungen nicht bereits wider¬
spruchslos ausgesagt hätten, würde es, um ihn mit Sicherheit erkennen zu
lassen, nicht erst des Umstandes bedürfen, daß die Broschüre in demselben Ver¬
lag erschienen ist, aus welchem zur Zeit des ersten hannoverischen Vcrfassungs-
bruches Dabimanns und Stüves geharnischte Schuften zur Vertheidig»na, deS
Staatsgrundgesetzes hervorgingen.
Das war unzweifelhaft Stüves beste Zeit. Als er 1848 Minister wurde,
war die rastlose Woge der Geschichte über den Punkt, der seine politische Lei¬
stungsfähigkeit begrenzt, im Grunde schon hinausgerollt. Er arbeitete sich ab
für die Gestaltung eines Kleinstaats, während die Stimmungen sowohl wie die
gegebenen realen Bedingungen immer unverkennbarer nur demjenigen Streben
noch Erfolg versprachen, das sich auf das Ganze der Nation richtete. Im
Jahre 1850 konnte er sich noch mit der selbstgefälligen Einbildung schmeicheln,
sein Werk werde bestehen, auch wenn die Zügel der Regierung in andere Hand
übergingen, dieweil das Werk der Träumer und Theoretiker in der Paulskirche
beim ersten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit zerschellt sei. Im Jahre 1855,
wo der Fußtritt eines ungeduldigen Souveräns die hannoverische Verfassung
von 1848 über den Haufen stieß, mochte ihr bekümmerter Vater sich immerhin
noch mit der gleichen gänzlichen Aussichtslosigkeit der ihm so fatalen nationalen
Idee trösten. Nun aber. 1866, nach dem neuen Anstoß, der 1859 von außen
her gegeben wurde, unaufgehalten selbst durch den bittern Verfassungskampf in
Preußen, der sie für lange Zeit ganz begraben zu sollen schien, fassen diese ver¬
haßten und verachteten Ideen plötzlich festen Fuß auf haltbarem Boden, und in
die Lüfte verliert sich vor ihrem Donnergang das kleine Staatsgebäude, dessen
wohnlichen Ausbau der Landsmann Mösers den sauren, redlichen, unvergoltenen
Fleiß eines langen Lebens gewidmet hat. Man muß die Gemüthsverfassung
bedenken, welcher einer solcher Situation entspricht, um die neueste Denkschrift
Stüves nicht härter zu beurtheilen, als subjectiv gerecht wäre.
Schlimmer als die thatsächlichen Irrthümer, die schon an anderem Orte
nachgewiesen worden, ist die Mißauffassung, welche die ganze Schrift durchzieht,
und die man versucht wäre für Bosheit zu nehmen, wäre sie nicht blind¬
machende Leidenschaft. Um es kurz zu sagen, Stüve gesteht den nationalen
Gesichtspunkten, die für Preußens Politik sprechen, nicht den allergeringsten
Grad von Berechtigung zu. findet alle preußischen Einrichtungen in Bausch und
Bogen schlecht, alle hannoverischen mehr oder weniger mustergiltig, und macht
darauf hin eine Schadensrechnung für die jetzige Provinz, die eine Ver¬
sicherungsgesellschaft zur Verzweiflung bringen müßte, wenn sie nicht völlig
sicher wäre, daß kein Gericht in der Welt sie nur zum zehnten Theile aner¬
kennen werde. Die Köheren Gehalte Kannoverischer Beamten z, B. sind nach
Stüve ein finanzieller Vorzug, denn sie werden im Lande verzehrt, und selbst
daß sie eine verhältnismäßig hohe Steuerquote im Gefolge gehabt haben, ist
kein Unglück, weil das Geld doch immer im Lande blieb. Die preußische
Mehrausgabe für das Heer hingegen sei für den Hannoveraner eine Bedrohung,
mit der der gesteigerte Schutz nach außen keineswegs versöhnen kann.
Einen Staatsmann von Stüves Verdienst und Bedeutung in die abge¬
thanen und handgreiflichen volkswirthschaftlichen Trugschlüsse zurückfallen zu
sehen, ist nicht minder betrübend, als an seinem Beispiel wahrzunehmen, bis
zu welchem Grade selbst in Norddeutschland einzelne Männer von Einsicht und
Gemeinsinn, deren Interessen und Standesgefühl unter dem Umschwung der
Dinge nicht leiden, sich gegen die Wiedergeburt alles deutschen Wesens ver¬
schließen. Die ganze vor uns liegende Schrift, mit der bebenden Hand der
Leidenschaft hastig hingeworfen, enthält nur eine einzige beachtenswerthe Stelle,
auch sie ist schwerlich ganz frei geblieben von dem alles erfüllenden giftigen
Hauche, aber sie erinnert doch an des Verfassers gesundere Tage. Wir wollen
sie daher hier anführen:
„Ein tiefer principieller Unterschied zwischen Preußen und Hannover durch¬
zieht den größten Theil der Verwaltungsgcsetze. In Hannover hat man den
Unterbehörden, den eigentlichen Obrigkeiten in der Verwaltung eine' ungleich
größere Kompetenz gegeben, und ist allmälig der Gedanke mehr und mehr durch¬
gedrungen, daß die Arbeit der Mittelbehörden eine vielfach unfruchtbare sei;
während in Preußen die Competenz der Mittelbehörden ungleich ausgedehnter
ist. und gewissermaßen das Princip herrscht, diese als die eigentlichen Subjecte
der Verwaltung, die Obrigkeiten aber nur als deren Werkzeuge zu betrachten.
Dieser Grundsatz, der allerdings in dem Dvminienwcsen der östlichen Provinzen
seine Stütze und auch Wohl seine Berechtigung findet, kann Wohl auf den noch
tieferen (Unterschied) zurückgeführt werden: daß in Preußen die Spontaneität
des Regierungswesens in der Mittelbebörde. in Hannover dagegen in der Local-
behörde ruht." Andere würden dies vielleicht nur eine Umschreibung nennen,
nickt eine Zmückführung auf eine noch tiefere Auffassungsweise; gleichviel in¬
dessen! „Das preußische Princip," fährt Stüve fort, „hat ol>ne Zweifel einen
formelleren Geschäftsbetrieb zur Folge, woraus den» leicht dasjenige hervorgeht,
was der Freiherr vom Stein als Buchgclebrsamt'eit tadelt. In Hannover ist
der Gang einfacher, natürlicher, bequemt sich mehr der individuellen Sacklage
an, und ist deshalb bei gleich geeigneten Persönlichkeiten auch rascher. Es ist
das auch von preußischen Beamten, namentlich von Technikern, bei Expio-
priationsgeschciften mit Lob anerkannt. Wie lästig das preußische Wohnsche>n-,
Paßmesen und ähnliches in die Regierungen gelegt ist. weiß ein jeder. Noth¬
wendige Folge ist größere Kostbarkeit der Mutelbehörden, bei minderer an¬
scheinender Kostbarkeit der Unterbehörden u, s. w."
Stüve und die jüngst in Hannover zusammengetretenen Ritterschaften be¬
stehen darauf, daß man die Ständeversammlung sammt den Provinzialland-
schaften nicht als in den Sturz des Thrones (den sie doch nicht gehalten haben)
verwickelt ansehe, sondern in ihnen den angekündigten Beirath für die Art
und Weise der Einverleibung suche. Auch Grundrecht — in seiner Schrift
„Ueber' einige Folgen der Einverleibung A." — neigt sich halbwegs dieser
Forderung zu, wohl weil er die Wirkung so langsamer Processe, als die Um-
stimmung großer geschlossener Kreise von Menschen durch unerwartete That¬
sachen ist, zu früh vorwegnimmt und überschätzt. Bening dagegen — dessen
treffliche Schrift kürzlich von uns skizzirt wurde — sieht vollkommen ein, daß
dies die Pferde hinter den Wagen spannen hieße. Wie kann die preußische
Regierung Körperschaften, in denen die wahrlich nicht geringe, noch unthätige
Zahl der unbedingten vorbehaltlosen Anhänger Preußens so gut wie gar nicht
vertreten ist, wohl aber jede Abstufung von leidenschaftlichen und beschränkten
Gegnern der Einverleibung, das moralische Gewicht überliefern, das öffentlich
berufenen Vertrauensmännern zukommt? Den besten Nath werden ihr grade
solche Männer ertheilen, wie sie die früheren ständischen Korporationen entweder
gar nicht oder ganz vereinzelt unter sich zählten: Männer, die Hannover als
ihre Heimath lieben und ihren Landsleuten vor anderen Sterblichen alles Gute
gönnen, die aber zugleich Preußens nationale Politik als die Schlußbürg-
schaft aller öffentlichen Güter mit rücksichtsloser Hingebung zu unterstützen ent¬
schlossen sind.
Bei dem Interesse, welches Ihre grünen Blätter dem Universitätsleben
schenken und bei dem trefflichen Korrespondenten, der Ihnen Ihre Berichte aus
dem Schwabenlande zu senden pflegt, ist es wohl keine unrichtige Boraussetzung,
daß Sie auch der Angelegenheit des Professor der Geschichte Pauli in Tübingen
und dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren Aufmerksamkeit zuwenden. Ich er¬
laube mir dafür einige Notizen zu geben.
Pauli'S Artikel in den preußischen Jahrbüchern (Augustheft) enthielt un¬
zweifelhaft eine Beurtheilung der würtembergischen Minister, weiche dem Ver¬
fasser vor dem Gesetz Blößen gab, und wenn die Minister nach Ermittelung
des Autors gegen denselben crinünaliter vorgehen wollten, so konnte man da¬
gegen nicht viel einwenden. Indessen dann handelte es sich um ein Geschwornen¬
gericht, und das war mißlich. Bei der liebenswürdigen Stimmung und Ein-
sicht der zeitweiligen Staatslenker Würtembergs und bei dem scharfverletzten
Selbstgefühl der Schwaben war am Ende auf eine Verurtheilung Paulis wohl
zu zählen, aber gesetzt auch, Pauli hätte für keine einzige seiner Behauptungen
und Prädicirungen den Beweis beibringen können, so wäre doch im Laufe der
Verhandlungen der Ministerialschmutz so gründlich aufgerührt worden, daß die
Luft den Herren selber schließlich nicht behagt hätte. Ueberdies ist die Beur¬
theilung des Ministeriums wie in Paulis Artikel eine sehr verbreitete, mündlich
von Schwaben oft ausgesprochen mit jenem urbaren Humor, dessen Wörterschatz
die Borsatzsilbe „Sau" besonders liebt; aber freilich ein Fremder dürfte nicht so
sprechen, am wenigsten so drucken lassen, und gar in einem preußischen Blatte!
Daß Pauli als würtembergischer Staatsdiener jenen Artikel drucken ließ,
ist jetzt ein mißlicher Umstand, wo der Staat Würtemberg sowie das Ministerium
Barnbüler sich gerettet und neu bestätigt des Lebens freut. Auch in jenen
großen Wochen des Juli hätte er Einzelnes anders ausdrücken können. Aber
wir Norddeutschen waren in einer gar Übeln Lage, unter dem wüsten Lärm und
Geschimpf der vereinigten Parteien, der Pfaffen, der schwäbischen Föderativ¬
republikaner nach Art des Beobachters und der Conservativen. Ein lebhafter
Geist wie Pauli und die freudige Erregung über die Erfolge des siebentägigen
Krieges in Böhmen gegenüber jenem Lärmen und Hetzen, das die preußisch
Gesinnten öffentlich in der Presse das Land räumen hieß und das mehrmals
Straßenskandale und Fensiereinwerfungen organistrt hatte, die nur noch von
der Polizei rechtzeitig vereitelt wurden — das ist wohl eine Erklärung für
Paulis Handlungsweise.
Der Artikel war im Lande außer in Stuttgart und Tübingen kaum bekannt
geworden, da nur vier Exemplare der verhaßten Jahrbücher in Würtemberg
gehalten werden. Das Ministerium übernahm in seinem blinden Eifer das
Amt, ihn in weitere Kreise zu bringen, indem es die Sache nicht.ruhen ließ.
Der Cultusnunistcr Golther, der College des wegen Nepotismus von Pauli
getadelte» Geßler, ließ durch dessen Bruder, den Universitätskanzler Geßler
Pauli inquinren und dieser gab sich ohne Umschweife als Verfasser an. Das
war persönlich ehrenhaft, aber principiell falsch, besonders hier, wo das Mi¬
nisterium sich früher bereits öfter, von N. Mohl, von Reyscher. in ähnlicher
Lage einen Korb geholt und dann erst recht die Finger verbrannt hatte. Durch
das Rectoramt ward Pauli dann zu einer Erklärung aufgefordert; er gab seine
Uebereilung und manches Ungerechte zu, schilderte aber die Zeit, in der der
Aufsatz geschrieben war, lebhaft und wenig erfreulich für die Negierung. Schlie߬
lich erbot er sich zu einer mit seiner Ehre und seinen politischen Ueberzeugungen
vereinbaren Erklärung; wo nicht, so werde er alle Konsequenzen auf sich nehmen.
In Stuttgart hat man diese Erklärung für „noch gröber" als den Aufsatz er¬
klärt; entschieden falsch; aber unbequem mußte sie nach ihrem ganzen Tenor
dem Ministerium sein. Auf die angebotene Erklärung ging man nicht ein.
Darauf verlangte Golther am 31. October, ehe von Seiten der Negierung
eine Verfügung getroffen würde, vom akademischen Senat eine gutachtliche
Aeußerung, „ob ein akademischer Lehrer, welcher derartige Angriffe gegen das
Staatsoberhaupt, die Regierung und das Volt von Würtemberg sich erlaubt
hat, noch als geeignet betrachtet werden könne, sein Lehramt an der Landes-
Universität zu bekleiden". Sie müssen wissen, daß hier verfassungsmäßig die
Regierung das Recht hat, jede» Beamten unter Belassung gleichen Ranges und
Gehaltet ohne weiteres zu versetzen; daß zur Absetzung eines akademischen
Lehrers eine vorgängige Disciplinaruntersuchung von Seiten des akademischen
Senats und ein entsprechender Antrag desselben erforderlich ist. Letzteren Weg
beschütt Golther nicht, in der richtigen Ueberzeugung, einen entsprechenden An¬
trag vom Senat nicht extradiren zu können; die gutachtliche Aeußerung sollte
einer etwaigen Versetzung oder dergleichen das Odium abnehmen. Der Zweck
ward dann doch erreicht, denn daß Pauli sich nicht an ein Seminar, ans Poly¬
technikum oder — schöne Ironie! — in den Obcrstudienrath versetzen ließ,
sondern in solchem Falle um seinen Abschied einkam, war klar. — Inzwischen
lieferte der allmächtige „Beobachter" in zwei Leitartikeln einen Auszug aus der
„Epistel Pauli", nicht ohne einige bcobachterliche Chikanen; z, B. ward das dem
König gegebene, unverfängliche Prädicat „gutmüthig, wohlwollend, aber schwach"
in „guten., wohlw., aber--" verwandelt.
Zur Beurtheilung des Verhältnisses zwischen dem Minister Golther und
dem Beobachter einen kleinen Zug im Vorbeigehen. Golther veranstaltet all¬
winterlich Vorlesungen in Stuttgart ohne jegliches Ent>6e, wo sich denn ein
wundersames Publikum zusammenfindet. Den Reporters waren in diesem Jahre
eigene Sitze reservirt, zu denen es besondrer Karten bedürfte, welche man auf
dem Ministerium sich nur zu holen brauchte. Das war gewiß zuvorkom¬
mend genug. Statt dessen schimpft der Beobachter in einem maßlosen Artikel
über diesen neuen Beweis unerträglicher Bureaukratie; ein freier königlich wür-
tembergischer Föderativrepublikaner könne sich dem nicht beugen, er — Karl
Mayer — lasse keine Karte holen, werde also auch keine Berichte liefern, was
dem Ministerium unangenehm genug sein werde. Nachschrift. Soeben schicke
das Ministerium die fragliche Karte, da der Beobachter wohl vergessen habe
dieselbe holen zu lassen; trotzdem wolle man den obigen Artikel zur Warnung
doch lieber stehen lassen. — Hübsch für beide Betroffenen.
Jene Beobachterartikel über Pauli machten nun dessen Aufsatz im ganzen
Lande bekannt, erregten freilich viel Aerger bei den beleidigten Schwaben,
machten dieselben aber auch mit der Beurtheilung des Ministeriums bekannt.
Ob das wirklich klug war? Der Beobachter selbst motivirte seine Publication
damit, vom akademischen Senat dürfe man sich gerechter Justiz nicht versehen,
deshalb wolle er eintreten.
Die Verhandlungen im Senat der Universität entziehen sich der Oeffent-
lichkeit. nur was davon extra muros bekannt geworden, bin ich im Stande
mitzutheilen. Dem Vernehmen nach war Referent im Senat Hugo v. Mohl,
der Botaniker, ein geborner Würtenberger von entschieden großdeutscher Ge¬
sinnung, aber ein durchaus selbständiger Charakter. Sein Referat soll meister¬
haft und geistvoll gewesen sein. Er mißbilligte die Abfassung und Publication
des Aufsatzes sehr entschieden, hielt aber Paulis sonstige Wirksamkeit in wahr¬
hafter Schilderung dagegen; es handle sich hier lediglich um eine einmalige
leidenschaftliche Überschreitung, vom Verfasser selber als solche anerkannt, und
genügend erklärt" durch die Zeitverhältnisse. Auf Paulis Lehrkraft fernerhin zu
verzichten liege gar kein Grund vor. — Diese Ausfassung, die einzige, einer großen
akademischen Körperschaft würdige, wurde wie verlautet nach längerer Debatte
angenommen. Wir nehmen an, daß zu diesem Senatsbeschluß, welcher die
Sache niederzuschlagen forderte, auch andere verständige Rücksichten beigetragen
haben, ein vorsichtiger Blick auf sonstige Universitätsmaßregelungen — schon
jetzt hat das falsche Vorgehen des Ministerium? der Schrift erst die Wichtigkeit
beigelegt — dann ein Hinblick auf das überall hervortretende Bestreben, die
Ausschreitungen der jüngsten Vergangenheit zu vergessen. Will denn Würtem-
berg allein hinter Preußen, Oestreich, Italien zurückstehen? —
Allerdings ist dieser Beschluß sehr wenig im Sinn des Ministeriums. Das
Cultusministerium ist mit sehr groben Verwarnungen gegen Geistliche vor¬
gegangen, von denen einer gesagt hatte, er könne nicht außer Augen lassen, daß
der Staat des protestantischen Geistes und Fortschritts nicht Oestreich, sondern
Preußen sei, während der andre darauf aufmerksam gemacht hatte, daß auch die
Preußen bona, nah handelten und von der Rechtmäßigkeit ihres Standpunktes
überzeugt wären. Ein mystisch-muckerischer Professor B. dagegen, der auf der
Kanzel ganz unzweideutig Preußen und seinen König mit der Hölle und Lucifer
vergleicht und im Colleg ähnlich sprechen soll, geht ruhig- einher.
Am 18. November, einem Sonntage, fand in dieser Angelegenheit eine
außerordentliche Sitzung des königl. geheimen Rathes statt, unter Theilnahme
aller Minister, dort wurde Strafversetzung des Professor Pauli beschlossen, am
20. Abends, brachte der Staatsanzeiger unter Datum des 21. die Versetzung
des Dr. Pauli an das niedere Seminar zu Schönthal, unter Vorbehalt
seines Rangs und Gehalts, als amtliche Anzeige. Man hat die möglichst ver¬
letzende Form gewählt, die Nachricht mit ungewöhnlicher Schleunigkcit durch den
Staatsanzeiger verbreiten zu lassen, ehe noch Pauli selbst das betreffende Decret
erhalten hat. Eine solche Versetzung, wenn Rang und Gehalt belassen wird, ist
nach der hiesigen Verfassung dem Ministerium ohne Weiteres freigestellt, wie sie
in den analogen Fällen von R. Mohl und Reyscher früher vorgenommen worden
ist. Daß Pauli auf eine solche Versetzung nicht eingehen konnte, war nicht
zweifelhaft; er hat sofort sein Entlassungsgesuch nach Stuttgart gesandt. Seinen
Freunden liegt der Wunsch nahe, ihm so rasch als möglich einen ehrenvollen
Eintritt an einer andern Universität zu schaffen.
Wir fragen bei diesem Zorn der Negierung gegen preußisch Gesinnte,
wohin ist preußischer Einfluß wenige Monate nach der Schlacht bei Königs-
grätz gekommen? Und wir suchen uns zu erinnern, ob die süddeutschen
Staaten oder Preußen die Friedensverträge von Berlin dictirt haben. So
weit unsere Kenntniß früherer Fälle reicht, ist doch die Folge eines sieg¬
reichen Krieges immer gewesen, daß die Negierung des besiegten Staates sich
der neuen Ordnung der Dinge mit gutem Anstand fügte. Es ist deshalb das
erste Bestreben des Siegers gewesen, den nöthigen Personenwechsel in den
Staaten hervorzubringen, mit denen ein Vertrag abzuschließen war, und sich
eine gewisse wohlgeneigte Gesinnung für Erfüllung des neuen Vertrages und
aufrichtigen politischen Verkehr zu sichern. Dies ist der erste und beste Ge¬
winn jedes siegreichen Kampfes. Aber in Hessen-Darmstadt, in Würtemberg
und Bayern hat grade das Gegentheil stattgefunden. Die alten Menschen sind
geblieben, der Haß ist concentrirter, die militärischen Erfolge der Norddeutschen
sind grade groß genug gewesen, den localen Stolz der Bevölkerung zu verletzen,
nicht groß genug, um auf die Dauer Furcht zu erregen.
Zur Zeit äußert sich der Widerstand der süddeutschen Regierungen nur in
harten Maßregeln gegen Privatpersonen und in den Nadelstichen ihrer Presse,
aber man darf innig überzeugt sein, daß dort alles, was Preußen schädigen
kann, willkommen ist, jede politische Combination und jedes Bündniß. Man l
weiß in Süddeutschland sehr gut, daß ein neuer Krieg in Deutschland nicht !
zwischen Preußen und Oestreich verlaufen wird, sondern unter dem Zwange !
großer europäischer Allianzen; und man fühlt sich trotz staatlicher Ohnmacht !
sehr behaglich, ja freier und sicherer als seit vielen Jahren. Grade die politische >
Selbständigkeit ist dort ein Gewinn des Jahres 1866, die Dauer der Süd- !
Staaten ist fortan ein großes europäisches Interesse, welches Oestreich, Frankreich !
und Rußland gemeinsam haben. Zwar Herr v. Dalwigk ist durch die preußische
Umarmung genirt, aber Würtemberg und Bayern sind durch den nikolsburger
Frieden aus Bundesstaaten zu freien europäischen Reichen befördert, deren !
politische Ohnmacht ihnen selbst, wie die Dinge liegen, ihr bester Schutz
dünkt.
Dennoch irren diese Regierungen, wenn sie glauben, daß die Gro߬
mächte auch ihre Unarten und den feindseligen Trotz haßvoller Beamten gegen¬
über einem ernsten Auftreten Preußens schützen werden. Es ist aber hohe
Zeit, daß die Langmuth Preußens gegen seine deutschen Nachbarn und Vertrags¬
genossen, eine Langmuth, welche wir nach den Siegen dieses Jahres nur ungern
Schwäche nennen, mit entschiedenem Fordern vertauscht werde.
Man wird dadurch Süddeutschland nicht gewinnen, aber man wird wenig¬
stens' die Aeußerungen der Abneigung und geheime Wünsche zu anständiger
Zurückhaltung bändigen.
Eine höchst wichtige Anwendung der Photographie' dieses demokratischesten
aller Neproductionsmittel, vor welchem wenigstens fcicultativ alle Erzeugnisse der
Kunst wie der Natur gleiches Recht haben, ist die Copie von Handzeichnungen.
Keine Frage, daß Kunstbeschreibung und Kunstgeschichte von dieser Vcrvielfäl-
tigungsart in demselben Sinne eine neue Epoche datiren, wie die Historio¬
graphie von der systematischen, diplomatisch genauen Herausgabe der Urkunden.
Mit Dank und Stolz verdienen daher Unternehmungen solcher Art registnrt zu
werden, besonders wenn sie mit so viel Geschmack und Sorgfalt geleitet sind,
wie das vor uns liegende Werk aus dem Verlage von Alphons Dürr in
Leipzig: „Fünfzig Photographien nach Handzeichnungen älterer
Meister aus der Sammlung Sr. k. H. des Großherzogs Karl
Alexander von Sachsen. Herausgegeben von Dr. Hugo v. Ritgen."
Jeder Kunstfreund und Forscher, welcher das treffliche weimarische Cabinet kennt,
wird diese durchweg gelungene Reproduction, die sich dem Jigermeierschcn Unter¬
nehmen der Wiedergabe der wiener Albrecht-Galerie würdig an die Seite stellt,
freudig begrüßen. In den bisher erschienenen fünf Lieferungen zu je fünf
Blatt finden sich namentlich Rafael, Michelangelo, Lionardo und van Dyck ver¬
treten. Wird auch die Stilkntik voraussichtlich das eine oder andere Original
des Nimbus seiner Benennung entkleiden, so darf doch nicht vergessen werden,
daß eben solche Publicationen es sind, welche diesen wichtigen Untersuchungen
das Material liefern, indem sie konstante Beobachtung der Unica dieser Gat¬
tung ermöglichen. —
Aehnliches gilt von dem Unternehmen, einzelne Kostbarkeiten der Kupfer¬
stechkunst, die durch ihre große Seltenheit um die Popularität gekommen sind,
auf photographischem Wege wieder zugänglich zu.machen. Hierzu beizutragen
ist Absicht der Llroix ä'estAmxss rares et preeisusss ac la eolleetiori vru-
Zuliu aus dem nämlichen Verlage, deren sechs erste Blätter u. a. Arbeiten des
Meister L. 3., des Mstr. Von Landshut, M. Schongauers und Marc Antons
bringen. —
Aus dem Atelier von Hans Hanfstängl in Dresden, dessen Erzeug¬
nissen wir schon öfter die Aufmerksamkeit unserer Leser zuzuwenden Veranlassung
hatten, liegen uns zwei neue Blätter vor, die nach Gegenstand und Ausführung
sich den trefflichen bisherigen Kunstleistungen des gleichen Verlags ebenbürtig
anschließen. Es sind photographische Reproductionen des bekannten auf der
dresdener Galerie befindlichen Bildes von Julius Rotcrmund „Klage am
Kreuz" (nach Zeichnung von R. Strauß) und einer großen Komposition des
hochbegabten 1861 im 31. Lebensjahre verstorbenen Bonaventura Euler
aus Wien: „Dantes Holle". Der Künstler hat sich die Aufgabe gestellt, alle
charakteristischen Vorgänge des Inferno in einer Gesammtdarstellung. deren
architektonische Umrahmung die Hauptzüge der übrigen Gesänge vorführt, zu
vereinigen, das Nacheinander der Dichtung im Nebeneinander des Bildes
wiederzugeben, und es läßt sich nicht läugnen, daß er durch Reichthum der
Erfindung und drastische Realität der Formgebung den Intentionen des großen
Florentiners vielfach nahe kommt. Wenn auch das Arrangement nicht alle
ästhetischen Einwendungen besiegt, so verdient doch die Originalität des Pro¬
blems und der ernste künstlerische Drang, der sich in allem kungiebt. Bewunde¬
rung und Antheil. — An beiden Blättern haben wir gleiche Vollendung der
Wiedergabe zu rühmen.
Da die Einberufung der auswärtigen Mitglieder der Commission unter
den Verhältnissen des verflossenen Sommers Schwierigkeiten bot, hatte Se.
Majestät der König von einer Plenarvcrsammlung in diesem Jahre Umgang zu
nehmen befohlen, und an Stelle derselben den hiesigen Localausschuß die noth¬
wendigen und durch frühere Beschlüsse bereits bedingten Geschäfte zu erledigen
beauftragt, was in den Sitzungen am 12. und 27. October in Ausführung ge¬
bracht wurde.
Ueber den Geschäftsgang des abgelaufenen Jahres erstattete der Secretär
den statutenmäßigen Bericht. Aus demselben ergab sich, daß trotz der Ungunst
der Verhältnisse die Arbeiten fast unbehindert ihren Fortgang gehabt haben.
Von den durch die Commission herausgegebenen Schriften sind seit der vor¬
jährigen Plenarsitzung in den Buchhandel gekommen:
1) K. Hegel, Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahr¬
hundert. Bd. IV. 2) Jahrbücher der deutschen Geschichte: g,. Anfänge des
karolingischen Hauses von Ed. Bonn eil; d. Jahrbücher des fränkischen Reiches
unter Karl dem Großen. Bd. I'von Dr. sig. Abel. 3) Forschungen zur
deutschen Geschichte. Bd. VI. 4) Geschichte der Wissenschaften in Deutschland.
Zweite Lieferung, enthaltend: g,) Geschichte der Landbau- und Forstwissenschaft von
C. Fraas. und d) Geschichte der Erdkunde von O. Peschel. 5) R. v. Lilien-
cron, Historische Volkslieder der Deutschen. Bd. I. und II.
Andere Werke sind im Drucke theils vollendet, theils weit vorgeschritten,
so daß auch sie in nächster Zeit dem Publikum zu übergeben sein werden.
Die Berichte, welche im Laufe der Verhandlungen über die einzelnen Unter¬
nehmungen vorgelegt wurden, zeigten, wie sie fast sämmtlich im raschen Fort¬
schritt begriffen sind, und auch in diesem Jahre von den hiesigen und auswär¬
tigen Behörden, wie von den Verwaltungen der Archive und Bibliotheken mit
ausgezeichneter Liberalität und dankenswcrthestcr Zuvorkommenheit unterstützt
wurden.
Von der Geschichte der Wissenschaften sind zwei Bände vollendet, enthal¬
tend die Geschichte der evangelischen Theologie von I. A. Dörner- und die
Geschichte der katholischen Theologie von C. Werner.
Von den deutschen Städtechroniken ist der fünfte Band unter der Presse.
Er liefert die Fortsetzung der augsburger Chroniken, namentlich das vollstän¬
dige. Werk des Burkard Zink, von den Professoren Frensdorff und Lexer bear¬
beitet. Mit einem neuen Bande der nürnberger Chroniken ist Professor v. Kern,
mit der Sammlung der bambcrgcr Geschichtsquellen Dr. Knochenhauer beschäf¬
tigt. Von Dr. K. Schröder ist die Bearbeitung des chronikalischen Stoffes für
München, welche er auf längere Zeit zurücklegen mußte, neuerdings wieder in
Angriff genommen. Professor Hegel, der Leiter des ganzen Unternehmens, hat
inzwischen vorbereitende Schritte gethan, um auch die Chroniken der oberrheini¬
schen Städte bald dem Werke einverleiben zu können. Die Edition der nieder¬
deutschen Städtechroniken, welcher der verstorbene Lappenvcrg sein Interesse zu¬
wandte, ist gleichfalls im Auge behalten. Professor Mantels setzt seine Arbeiten
für die lübecker Chroniken fort, und es haben sich Aussichten eröffnet, daß man
mit einer Ausgabe der wichtigen chronikalischen Aufzeichnungen für Braunschweig
vielleicht schon in nächster Zeit wird hervortreten können, wegen welcher noch
Lappenberg mit dem dortigen Archivar Dr. Hänselmann in Verbindung ge¬
treten war.
Von dem ersten Bande der deutschen Neichstagsacten, deren Herausgabe
unter Oberleitung des Professors v. Sybel durch Professor Weizsäcker erfolgt,
lag die bei weitem größere Hälfte im Drucke vor. Der erste Band wird die
Periode von 1376—1387 umfassen, während der zweite Band die Acten bis
1400 liefern, der dritte sich auf die Regierungsperiode K. Ruprechts erstrecken
wird, und dann zwei Bände der Zeit K. Sigmunds gewidmet werden sollen.
Sehr erfreuliche Ergebnisse haben die Nachforschungen des Bibliothekars
Dr. Kerker auf seinen Reisen durch Schwaben und Franken geliefert. Im hie¬
sigen Reichsarchiv hat or. A. Schäffier die Untersuchungen mit bestem Erfolge
sortgesetzt, aus dem Stadtarchiv,zu Köln der dortige Archivar Dr. Euren höchst
schätzbare Beiträge geliefert.
Die Jahrbücher des deutschen Reichs sind um eine werthvolle Arbeit be¬
reichert worden, die Geschichte Kaiser Heinrichs des Sechsten von Dr. Th. Tveche.
welche im Druck bereits vollendet ist.
Der Druck der historischen Volkslieder der Deutschen wird regelmäßig sort¬
gesetzt und läßt sich im Laufe des nächsten Jahres mit Sicherheit der dritte
Band erwarten. Der Herausgeber Cabinetsrath Dr. v. Liliencron hat sich durch
seine Arbeit die allgemeinste Anerkennung erworben. Ob man mit dem vierten
Bande abschließen oder noch einen fünften hinzufügen solle, blieb weiterer Be¬
schlußnahme vorbehalten.
Von der Sammlung der Weisthümer, welche unter Oberleitung des Staats¬
raths v. Maurer Professor R. Schröder nach I. Grimms Tode fortführt, ist
der fünfte Band im Druck vollendet. Der sechste Band, der außer Zusätzen
das unentbehrliche Sachregister enthalten wird, kann sogleich in Angriff genom¬
men werden.
Ein besonderes Mißgeschick hat bisher über der Herausgabe der hansischen
necesse gewaltet. Das Unternehmen, welches Lappenberg mit großer Liebe
durch eine Reihe von Jahren gepflegt und geleitet hatte, wurde in dem Zeit¬
punkte, wo der Druck bereits beginnen sollte, durch den Tod des Professors
Junghans, des umsichtigen und fleißigen Gehilfen Lappenbergs, gehemmt; der
Verlust dieser frischen Kraft war um so schmerzlicher, als Lappenberg bald
darauf selbst so schwer erkrankte, daß er die Arbeit kaum fortzusetzen vermochte.
Im Laufe des verflossenen Jahres schied leider auch Lappenberg ab, und es
wurde fraglich, ob man das große angesammelte Material überhaupt noch in
der von ihm beabsichtigten Weise werde publiciren können. Zum Glück hat sich
in Professor Frensdorff in Göttingen ein Gelehrter gefunden, der geeignet und
erbötig ist, das von Lappenberg begonnene Unternehmen in seinem Sinne
durchzuführen.
Die unter Redaction von Professor Waitz, Geh. Rath Hauffer und Ober¬
studienrath v. Staelin erscheinende Zeitschrift: Forschungen zur deutschen Ge¬
schichte wird ihren regelmäßigen Fortgang in der bisherigen Weise behalten, da
sie in mehrfacher Beziehung als ein Bedürfniß erscheint. Für den siebenten
Band liegt das Material theils druckfertig vor, theils ist es in nahe Aussicht
gestellt.
Die Arbeiten für die wittelsbachsche Correspondenz im 16. und 17. Jahr¬
hundert haben verhältnißmäßig die größten Störungen erfahren, theils durch
Krankheiten und militärische Verpflichtungen der Hilfsarbeiter, theils durch
Hemmnisse des Druckes. So ist der erste Land der älteren pfälzischen
Abtheilung, welchen Professor Kluckhohn unter Oberleitung des Professors
v. Sybel bearbeitet, nicht im abgelaufenen Jahre vollendet, sondern nur
etwa bis zur Hälfte gedruckt worden. Dieser Land wird die Correspondenz
Kurfürst Friedrich des Dritten von 1559 bis 1567 umfassen und ihm so¬
gleich der zweite Band folgen, mit welchem die Correspondenz Friedrich
des Dritten abschließt. Das Material ist noch mehrfach, theils aus den jetzt
erst verwendbaren tasseler Archivalten, theils aus den Stuttgarter. nürnberger
und hiesigen Acten vervollständigt worden; mit einer nochmaligen sorgsamen
Durchforschung des dresdener Archives ist Professor Kluckhohn augenblicklich be¬
schäftigt. Für 'o:c ältere bayerische Abtheilung, deren Herausgabe RcichSarchivs-
director v. Löser übernommen hat, sind die Arbeiten von dem Hilfsarbeiter
Dr. v. Drussel fortgesetzt worden. Für die jüngere pfälzische Abtheilung hat
wenig geschehen tonnen; für die jüngere bayerische Abtheilung hat Professor
Cornelius selbst die Arbeiten theils hier, theils in Wien fortgesetzt; die Samm¬
lung des Stoffs für den ersten Band, welcher die Jahre 1598 bis 1610 um¬
fassen soll, ist jetzt im Wesentlichen vollendet.
In Betreff der Herausgabe der schmellerschen Nachträge zum bayerischen
Wörterbuch lagen eingehende'Berichte des Professors W. Wackernagel vor. Aus
denselben ergab sich die erfreuliche Gewißheit, daß sich die geeignetste Persönlich¬
keit gesunden habe, um dieses Unternehmen, welches bisher alle Bemühungen
der Commission wenig zu fördern vermochten, endlich in Ausführung zu bringen.
Da inzwischen bekannt wurde, daß die erste Auflage des bayerischen Wörter¬
buchs fast vergriffen sei, traten Bedenken ein, ob eine besondere Veröffentlichung
der Supplemente rathsam sein würde; denn die Verwendung derselben zu einer
neuen Auflage würde nicht nur die Benutzung des Werks erleichtert!, sondern
auch der ursprünglichen Absicht Schmellers mehr entsprechen. I. Grimm, als
er den besonderen Abdruck der Supplemente bei der Commission in Anregung
brachte, that dies nur in der Voraussetzung, daß eine zweite Auslage des Wörter¬
buchs nicht so bald zu ermöglichen sein dürfte. Die Vorzüge einer neuen Aus¬
gabe, bei welcher die Nachträge gleich an Ort und Stelle eingefügt würden, er¬
scheinen in der That so groß, daß der Ausschuß anch einen größern Kostenauf¬
wand nicht scheuen zu dürfe» glaubte, zumal es von Anfang an in der Absicht
I, Grimms und der Commission gelegen hatte, dem großen bayerischen Sprach-
forscher durch die Publication seiner 'hinterlassenen Arbeiten ein würdiges Denk¬
mal zu setzen.
Vielfach machte sich die Abwesenheit der auswärtigen Mitglieder im Laufe
der Verhandlungen dem Ausschusse fühlbar. Die Arbeiten der Commission
gelten dem gesammten deutschen Vaterlande und bedürfen der Mitwirkung aus
allen Theilen desselben. Grade in den politisch gelockerten Verhältnissen der
Nation hat die Stiftung König Maximilians des Zweiten, welcher die historische
Wissenschaft so viel verdankt, s'ur das deutsche Geistesleben noch eine erhöhte Be¬
deutung gewonnen. Möchte der nächste Herbst wieder alle Mitglieder der Com¬
mission in München vereinen, um das gemeinsam begonnene Werk gemeinsam
fortzusetzen!
Bei S. Hirzel in Leipzig erschien soeben-
Ulrich Zunngli
nach den urkundlichen Quellen
von
Z. G. MöriKofer.
Erster Theil.
gr, 8». Preis: IV- Thlr.
Bei S, Hirzel in Leipzig ist soeben erschienen:
Staatengeschichte der neuesten Zeit.
Elfter Sand.
GeschiHte der Türkei
von dem Siege der Reform im Jahre 1826 bis zum Pariser Tractat vom Jahre 1856.
Bon
G. Rosen.
In zwei Theilen.
Erster ^ heil:
Von der Vertilgung der Janirz. u zum Tode Machmuds II.
303 S. in gr. 8. ^ < ^ 1 Thlr.
Die früheren Bände der Staatengeschichte enthalten-
1. 2. Geschichte Frankreichs von 1814 bis 18SL. Von A. L. v. Roch an. 2 Thlr. 1 Thlr. 28 Ngr.
4. S. Geschichte Italiens von Gründung der rcqiereudcu Dynastien bis zur Gegenwart. Bon Hera.
Reuchlin. 2 Theile in 3 Abtheilungen. 2 Thlr. 18 Ngr.
S. Geschichte Oesterreichs seit dem Wiener Frieden 1809. VoilA. Springer. 1. Theil. 1 Thlr. 18 Ngr.
7. Geschichte Rußlands und der europäischen Politik in den Zähren 1814—1831. Von Th. v. Bern-
hardi. 1. Theil. 1 Thlr. 14 Ngr.
8. Geschichte Englands seit den Friedensschlüssen von 1814 und 181S. Von R. Pauli. 1. Theil.
1 Thlr. 15 Ngr.
9. Geschichte Spaniens vom Ausbruch der französischen Reooluüon bis auf unsere Tage. Von
H. Baumgarten. 1. Theil. 1 Thlr. 13 Ngr.
10. Geschichte Oesterreichs seit dem Wiener Frieden 1809. Von A, Springer. 2. Theil. 2 Thlr.
Soeben erschien:Verlag von 5. A Vrockyans in QiWg.
Deutsche Liebe.
Aus den Papieren eines Fremdlings.
Herausgegeben und mit einem Vorwort begleitet
von
Max Müller.
Zweite Auflage. 8. Geh. 24 Ngr. Geb. 1 Thlr.
s Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin.
S Soeben erschien und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Allerlei
SchniK - sah n u K
mit 41 Original-Zeichnungen
von
Oscar Pietsch,
in Holz geschnitten von Prof. H. Sürlmer in Dresden.
S Hoch 4°. Elegant cartonnirt.
W Preis 2 Thlr.
Wenn Victor Emanuel in Venedig, so oft er sich öffentlich blicken ließ,
besonders häusig mit dem Zuruf begrüßt wurde: Es lebe Victor Emanuel auf
dem Capitol! so sprach sich darin auf populäre Weise die allgemeine Ueber¬
zeugung aus, daß nunmehr nach Vereinigung Venetiens mit der „italienischen
Familie" vollends die letzte Frage der Nationaleinheit, die römische, ihre Lösung
verlange. Es ist noch nicht so lange her, so stritten sich die Parteien darüber,
Welches Problem zuerst von der Regierung in Angriff zu nehmen sei, das
venetianische oder das römische. Nun hat die Gunst des Zufalls, eine Gelegen¬
heit, die Italien nicht herbeizuführen, nur zu ergreifen hatte, jenen Streit der
Priorität entschieden, und wiederum ohne die eigentliche Initiative Italiens,
durch den natürlichen Gang der Ereignisse ist sofort die römische Frage auf die
Tagesordnung gesetzt. Eine rasche, unwiderstehlich zwingende Logik scheint das
italienische Einheitswerk zu beherrschen, sehr verschieden von dem langsameren
Gang der Dinge in Deutschland. Was dort im ersten Anlauf, im Rausch der
Begeisterung gelingt, muß hier unter Hemmnissen aller Art mühsam erstritten
werden, unter Hemmnissen, die zumeist von denen selbst geschaffen sind, welche
einst die neue Ordnung am dankbarsten segnen werden. Und dies eben ist
wieder das Tröstliche, denn dort Pflegen sich, wenn der Rausch verflogen ist,
nachträglich die Wehen einzustellen; die autonomistischen Elemente, die sich im
Sturm gefangen gaben, leben wieder aus und rächen sich durch systematische
Opposition gegen die Staatsgewalt, wo nicht durch offenen Aufruhr. Hier,
wenn nur das erste Mißbehagen überwunden, dürfen wir hoffen, daß ohne ernste
Reactionen die zuvor schon trotz allem verwandteren Elemente sich immer inniger
zusammenschließen werden zu unauflöslicher Einheit.
Schwerlich theilen die italienischen Staatsmänner, die sich in erster Linie
für die Consolidirung des Staats verantwortlich fühlen, die Ungeduld der
Nation; schwerlich ist ihnen erwünscht, daß nach knapper Erledigung einer großen
Staatsaetion eine andere an sie herantritt, die in noch ernsterer Weise den
Bestand und die Lebenskraft des jungen Königreichs auf die Probe stellt. Es
ist wahr, die Consolidirung des Reichs ist nicht möglich, ohne das feindliche
Stück Mittelalter zu beseitigen, das noch in der Mitte der Halbinsel als ein
Pfahl im Fleische sitzt. Aber mit jedem Zuwachs von Gebiet häufen sich zu¬
gleich die Schwierigkeiten der politischen Verschmelzung, häufen sich die finan¬
ziellen Opfer. Die Ereignisse dieses Sommers haben Mängel in allen Zweigen
der Verwaltung aufgedeckt und zugleich die Finanzlage des Staats dermaßen
verschlimmert, daß ohne Aufschub alle Kräfte sich diesen inneren Aufgaben zu¬
wenden müßten; durch die verführerische Aussicht auf das Capitol wird das
allgemeine Interesse wie die ungetheilte Sorge der Regierung abermals von
ihnen abgelenkt. Allein es ist keine Wahl. Die Nähe des Termins der Räu¬
mung Roms erlaubt nicht andere günstigere Zeiten abzuwarten. Die römische
Frage ist da — wenn auch vielleicht allen Betheiligten unwillkommen. Daß in den
Jubel über die Befreiung Venetiens das Zucken der Erwartung sich mischte, in
wenig Wochen den letzten Franzosen aus der ewigen Stadt abziehen zu sehen,
hat sie unaufschiebbar gemacht.
Ein seltsames Schauspiel bietet heute die römische Frage dem unbeteiligten
Zuschauer. Niemals ist wohl einer Katastrophe, die so unberechenbare Folgen
in ihrem Schoße birgt, mit solcher anscheinender Ruhe und Kaltblütigkeit ent¬
gegengesehen worden. Die Lamentationen der Bischöfe, bei geringeren Anlässen
in epidemischer Fülle strömend, bleiben vereinzelt, die öffentliche Discussion ist
gemäßigt, selbst in Italien halten die Geister an sich, am meisten Bewegung
ist unter den Schaaren der Reisenden, die nach Rom sich ergießen, um Zeugen
der weltgeschichtlichen Tage zu sein, es fehlte nur noch, daß man sich Sperr¬
sitze bestellte, um das Schauspiel des untersinkenden Papstthums mit Be¬
quemlichkeit zu betrachten. Wer die allgemeine Stille der Erwartung unter¬
bricht, redet in halblauten Andeutungen, die mehr Verlegenheit verrathen, als
bestimmten Plan. Niemand will vorlaut sein letztes Wort sprechen, die letzte
Karte aufdecken. Es ist als ob man allgemein ein Unvorhergesehenes erwarte,
einen vsus ex inaelunÄ, der so gefällig wäre die Verwickelung zu lösen. Ja
wir irren vielleicht nicht, wenn wir annehmen, daß weder Louis Napoleon, noch
der Papst, weder die Römer noch das Cabinet Victor Emanuels in diesem Augen¬
blick genau wissen, was denn nach dem verhängnißvollen Termin eigentlich geschehen
wird und soll. Jeder Mitspieler folgt argwöhnisch den Schritten der anderen
und hofft sie auf einem falschen Zug zu ertappen, um daraus Vortheil zu ziehen,
keiner handelt nach einem feststehenden Plan. Die römische Frage ist eine all¬
gemeine Verlegenheit geworden, und der Ausdruck dieser Verlegenheit war im
Grund schon der Septembervertrag.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal Inhalt und Sinn dieses viel¬
berufenen Staatsacts.
Der Kaiser von Frankreich verpflichtete sich — und dies war freilich die
erste Bedingung, um einen Schritt weiter zu kommen — in einem bestimmten
Termin seine Truppen aus Rom zurückzuziehen; er befreite sich damit aus einer
Position, die auf die Länge ebenso undenkbar als lästig geworden war, er kam
damit einem Wunsch der französischen Nation nach, welche in der gewaltsamen
Niederhaltung des Willens der Römer ebenso wenig ein französisches Interesse
sah wie in der mexikanischen Expedition. Aber Frankreich verlangte, um den
Rückzug mit Anstand zu decken, gewisse Garantien von der italienischen Negie¬
rung, die gleichsam an Frankreichs Stelle künftig den Schutz des Papstthums
übernehmen sollte. Diese Garantien bestanden einmal in der Verlegung der
Hauptstadt Italiens von Turin nach Florenz: damit wurde dem Königreich ein
wirklicher und definitiver Mittelpunkt gegeben, die Geister wurden von Rom
abgelenkt, das cavourische „Roma Capitale" aus dem italienischen Programm ge¬
strichen. Außerdem machte sich die italienische Regierung verbindlich, nicht nur
das gegenwärtige Gebiet des Papstes selbst nicht anzugreifen, sondern auch
einen Einfall, der aus italienischem Gebiet in dasselbe gemacht würde, zu ver¬
hindern. Die weltliche Herrschaft wurde also von Italien soweit garantirt, daß
sie von außen nichts zu befürchten hatte. Der Papst sollte allein seinen Unter¬
thanen gegenüberstehn, niemand sich zwischen ihn und die Römer eindrängen, es
wurde seiner Souveränetät der Versuch angesonnen, sich mit eigenen Mitteln
aufrecht zu erhalten. Gelang nun der Versuch, gut; gelang er nicht — darüber
stand nichts in dem Vertrag zu lesen, und dies war seine beim ersten Blick
erkennbare Zweideutigkeit, um so auffallender, als die zweite Eventualität weitaus
die wahrscheinlichere war.
Der Fall, daß die Römer aus freien Stücken ihren weltlichen Herrn ab¬
schütteln und die Annexion, die sie mit Unterschriften schon im Jahr 1860 voll¬
zogen, verständlicher wiederholen würden, ist also absichtlich nicht vorgesehen
worden. Gleichwohl war es sicher nicht die Meinung des Vertrags, daß die
Dinge sich so einfach und glatt abspielen werden, wie man vielfach in- und
außerhalb Italiens angenommen hat. Die Römer, hieß es, würden sofort nach
dem Abzug der fremden Truppen friedlich sich erheben, eine allgemeine Kund¬
gebung veranstalten, ihren Willen, dem Königreich einverleibt zu werden, pro-
clamiren. Niemand sei im Stande diesen Willen zu unterdrücken; das Papst¬
thum wäre zu schwach dazu, den anderen Mächten verbiete es das neue Völker¬
recht. Der italienischen Negierung bleibe dann nichts übrig, als die Annexion
anzunehmen, und der Papst habe sich in die Zeit zu schicken, sei es, daß er die
neue Ordnung anerkenne und sich damit begnüge seine geistliche Stellung zu
retten, sei es daß er seine Protestationen um eine weitere vermehre. —> Diese
Lösung erscheint einfach, sie ist nur gar zu einfach. So gedeutet und ange¬
wendet wäre der Vertrag allerdings nur eine Komödie, ein Protokoll der
Völliger Preisgebung des Papstes. Louis Napoleon erschiene als der Mit¬
schuldige des Betrugs; kann er zugeben, daß er in solcher Weise vor der katho¬
lischen Welt compromittirt und seine geforderten Garantien einfach mißachtet
werden? — Auch die Absicht der italienischen Negierung kann es nicht sein,
in so brüsker Weise eine immerhin nicht verächtliche Macht zu stürzen, so lange
sie auf weit sichereren Wege unschädlich gemacht werden kann. Jener Weg würde
den völligen Bruch mit dem Papstthum bedeuten, er würde eben damit immer
die Möglichkeit einer künftigen Restauration offen lassen. Den Bruch zu ver¬
hüten, ist aber der eigentliche Zweck des Septembervertrags. Seine Urheber
gehören jener Schule an, welche das Papstthum selbst als ein nationales Institut
betrachten, dessen Erhaltung, nicht Beseitigung die Aufgabe der italienischen
Politik ist. Der Papst soll nicht vertrieben, sondern für die neue Ordnung
gewonnen werden und im Verzicht auf die weltliche Herrschaft nicht einen Ver¬
lust, sondern einen Gewinn des Papstthums erkennen; schließlich könne auch er
der Ueberzeugung sich nicht verschließen, daß wie Italien das Papstthum, so
das Papstthum Italien brauche und daß somit die Interessen beider auf eine
Verständigung angewiesen seien.
Aussöhnung zwischen Italien und dem Papstthum ist in der That der
Grundgedanke des Septembervertrags. Durch die Verlegung der Hauptstadt
sollte sie möglich, durch die Jsolirung der päpstlichen Macht sollte sie nothwendig
gemacht werden. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt erst der Verzicht auf die
Hauptstadt Rom seine -volle Bedeutung. So lange die definitive Constituirung
des Reichs erst auf dem Capitol erwartet wurde, mußte der Papst ein unver¬
söhnlicher Gegner sein; denn als das Haupt der katholischen Christenheit kann
er nicht in einem Unterthanenverhältniß stehen, er kann nicht in derselben
Stadt residiren, in welcher König und Parlament ihren Sitz haben. Ist aber
dieser Sitz definitiv in einem anderen Ort aufgeschlagen, Sö ist dem Papst die
Möglichkeit gegeben, zu verhandeln, es ist ihm eine anständige Stellung ge¬
sichert, auch wenn er seine weltlichen Hoheitsrechte verliert, er kann für seine
Person Souverän bleiben, auch wenn die Römer Unterthanen des Königs wer¬
den. Aber das Aufhören der weltlichen Herrschaft selbst stellte man sich in diesen
Kreisen keineswegs sofort und ohne Uebergänge erfolgend vor. Vielmehr sollte
wirklich mit dem Versuch einer selbständigen, aus eigenen Füßen stehenden Sou°
veränetät Ernst gemacht werden. Nichts sollte die ehrliche Probe stören. Aber
davon war man freilich gleichzeitig überzeugt, daß in kurzer Zeit die Macht des
nationalen Princips und die Noth der päpstlichen Kassen zu einer Annäherung
an das Königreich treiben werde. Auf dem Gebiet des Verkehrslebens konnte
der Vereinigung nichts im Wege stehen; war es doch der Papst selbst, der im
Jahre 1848 den Gedanken eines italienischen Zollvereins angeregt hatte. Eine
militärische Union folgte von selbst, sobald der Papst von der Unbrauchbarkeit
seiner Fremdenlegionen, auch nur zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit,
sich überzeugte. Ein allmäliger Verzicht auf die bürgerliche Negierung der
Provinzen wurde umso leichter, je weniger die Mittel des Kirchenstaats zu
ihrer Unterhaltung ausreichten. Auf diesem Wege näherten sich die Italiener
Roms schrittweise den Italienern der anderen Provinzen, und man sonnte es
ruhig dem Gang der Ereignisse überlassen, bis die Einheit der Interessen die
politische Einigung herbeiführte, die dann umso gewisser ohne gewaltsame Er¬
schütterung erfolgte, je mehr sie allmälig vorbereitet war, und mit der sich das
Papstthum selbst umso eher befreunden konnte, je schonender die Uebergänge zu
dem Unvermeidlichen waren, und je mehr es sich überzeugte, daß seine Ausübung
der geistlichen Gewalt von der italienschen Regierung nicht unterdrückt, sondern
vielmehr beschützt wird.
Man sieht, das Ziel war dasselbe, nur die Form verschieden. Allein das
ganze Problem ist ja heute ein Problem der Form: nicht dies ist die Frage,
ob die kirchliche Regierung über die römischen Provinzen aufhören, sondern
wie das geschehen soll ohne europäischen Skandal und ohne Erschütterung des
Königreichs Italien. Man dachte sich also die Lösung ungefähr in ähnlicher
Weise, wie man vor dem Jahr 1866 in dem Zollverein eine allmälig wirkende
Macht auch zur politischen Einigung Deutschlands erblickte. Hier hat nun frei¬
lich die energische Politik Bismarcks nachhelfen müssen, aber doch nur wegen
des Verhältnisses zu Oestreich, das, nur auf dem Wege der Gewalt geregelt
werden konnte: in Deutschland selbst hat sie ihre Berechtigung eben darin, daß
sie nur demjenigen politische Gestalt gab, was durch die Einigung der Inter¬
essen bereits zusammengefügt war.
Ohne Zweifel ist dies der Gesichtspunkt, aus welchem das Cabinet Ricasvli
noch heute den Septeinbervertrag betrachtet. Er soll die Aussöhnung mit dem
Papstthum herbeiführen, und es wird nicht die Schuld Italiens sein, wenn diese
Aussöhnung scheitert. Die Reformen in der Gesetzgebung stehen nicht im Wege;
ist die Regierung immer weiter von dem Grundsatz der freien Kirche im freien
Staat abgekommen, so war sie eben durch den Widerstand des klerikalen Ele¬
ments im Interesse der Selbsterhaltung dazu genöthigt. Auch in andern Ländern
hat das Papstthum die Aufhebung der Klöster und die Einziehung ihres Ver¬
mögens sich müssen gefallen lassen, und das Concordat, welches Vegezzi seiner
Zeit vermitteln sollte, ließ der Curie größere Rechte, als sie in manchen katho¬
lischen Ländern besitzt. Bis in die neueste Zeit hat die Regierung von der
Versöhnlichkeit ihrer Gesinnungen Beweise gegeben. Sie hat nach langwierigen
Verhandlungen die Uebernahme des auf die annectirten Provinzen entfallenden
Antheils an der römischen Staatsschuld in der lästigeren Ausdehnung zuge¬
standen, wie Frankreich sie beantragte, — sicher nicht aus Nachgiebigkeit gegen
Frankreich, mit welchem die Beziehungen noch immer nicht die besten sind. Sie
hat im Venetianischen ein Entgegenkommen gegen den Klerus gezeigt, das der
Bevölkerung zum Anstoß gereichte. Sie hat den Bischöfen, die während des
Krieges um ihrer staatsfeindlichen Gesinnung willen von ihren Diöcesen ent¬
fernt waren, ausnahmslos die Rückkehr gestattet. Man kann sagen, sie ist bis
an die Grenze des Möglichen gegangen, um ihren Willen zu zeigen, nur in
Uebereinstimmung mit dem Papstthum zu handeln, und es ist unverkennbar, wie
sie dabei von dem Wunsche geleitet wird, endlich der lästigen Vermittelung
des französischen Hoff los zu werden und zur Lösung der rein italienischen
Frage sich mit dem Papstthum direct zu verständigen.
Aber noch in der letzten Stunde besteht der Papst unerbittlich auf seinem
Schein und verschmäht jede Transaction mit dem Königreich. Eine zweijährige
Frist war ihm gegeben, um sich nach moralischen Stützen seiner Herrschaft
umzusehen; er hat nichts gethan, sich auf die Eventualitäten der Räumung
Roms vorzubereiten, nichts, als daß er einige Fremdenbataillone warb, die
heute schon nach allen vier Winden desertiren. Noch am 29. October hält er
im Hinblick auf die bevorstehende Räumung wiederum eine jener nicht mehr
ungewöhnlichen Allocutionen, deren stereotyper Inhalt und Stil kaum beachtet
würde, wenn nicht der Zeitpunkt ihr diesmal Bedeutung gäbe. Wiederum pro-
testirt der Papst gegen das italienische Einheitswerk, lamentire über die Be¬
raubungen der Kirche, fordert die längstabgerissenen Provinzen zurück, erklärt
eine Aussöhnung mit Italien feierlich für eine Unmöglichkeit und läßt schließlich
seine Absicht, ins Exil zu gehen, durchblicken. Wird dadurch nicht die ganze
Disposition der italienischen Negierung, das Unvermeidliche aufs schonendste
einzuleiten, zu nichte gemacht?
Indessen, noch hat der Papst nicht sein letztes Wort gesprochen. Man
scheint in Florenz noch nicht jede Hoffnung aufgegeben zu haben, daß derselbe
den Entschluß, Rom zu verlassen, reiflich überlegen werde. Man spricht davon,
daß die persönliche Ansicht des milden Pius des Neunten, des Reformators
von 1847, insgeheim eine andere sei als die der Jesuitenpartei, die ihm die
Allocution dictirte. Man beruft sich auf einige Anzeichen, die neben und trotz
jenem theoretischen Protest den Gedanken einer Einlenkung verrathen. Am
meisten ist das Verhalten des Klerus im Venetianischen aufgefallen, der genau
in den Tagen der Allocution das Entgegenkommen der Behörden mit Kund¬
gebungen einer überströmenden Loyalität erwiederte, die selbst unter die Cen¬
suren der Allocution fielen. Es heißt, der Papst habe einen Bevollmächtigten
zur definitiven Regelung der Schuldfrage nach Paris gesandt, was allerdings
nichts Anderes wäre, als ein Eingehen in die Consequenzen des September¬
vertrags, und bereits ist die Rede von Wiederaufnahme der directen Unterhand¬
lungen zwischen Rom und Florenz. Demungeachtet muß man sich auf die Even¬
tualität gesaßt machen, daß auch in letzter Stunde die bisherigen Rathgeber,
„die Janitscharen des heiligen Stuhls", das Feld behalten, und das Papstthum
mit dem Abzug der Franzosen sein Bündel schnüre.
Allein was würde der Papst durch die freiwillige Entfernung gewinnen?
Man sieht schwer den Zweck eines so abenteuerlichen Entschlusses ein. Das
Schlimmste, was dem Papstthum Passiren könnte, wäre doch dies, wenn es in
Malta oder in Majorca allmälig in Vergessenheit geriethe, und Italien und
Europa daraus die Moral zögen, daß sich auch ohne dieses Institut existiren
lasse. Keine Hand würde sich regen, um den irrenden Greis zurückzuführen;
selbst die Aureole des Martyrthums bliebe ihm versagt, wenn er freiwillig,
ohne provocirt zu sein, einen Posten aufgäbe, den ihm zu sichern Italien alle
möglichen Bürgschaften bietet. Und wenn er ginge, was wäre dies anders als
das verzweifelte Eingeständnis), daß ohne fremdländische Hilfe sein irdisches
Königthum rettungslos verloren ist, und was bliebe der italienischen Regierung
übrig, als den herrenlos gewordenen Staat wirklich in ihre Verwaltung zu
nehmen? Wer könnte mit Sicherheit voraussehen, ob und wann eine Restau¬
ration möglich wäre? Die Römer könnten nicht mehr gehindert werden, die
Annexion zu proclamiren, und Italien würde im Grunde aller Verbindlichkeiten,
die ihm aus dem Septembcrvcrtrag entspringen, ledig sein; denn es ist doch
nur verpflichtet, ein Regiment zu beschützen, welches besteht, nicht ein solches,
das freiwillig sich entfernt hat. Solche Erwägungen bleiben sicher wenigstens
einem Theil des Cardinalcollegiums nicht fremd. Es handelt sich nicht blos
um die Würde des Papstthums, die sich immerhin in ihr unfruchtbares non
possullms hüllen möchte: es handelt sich zugleich um Interesse und Existenz
der Cardinäle, und dieser Gesichtspunkt dürfte schließlich gleichfalls ins Gewicht
fallen.
Nun ist nicht zu bezweifeln, daß auch im Fall der Abreise des Papstes
die italienische Regierung so viel an ihr liegt mit äußerster Mäßigung zu Werke
gehen würde. Sie würde etwa provisorisch das Protektorat über die verwaisten
Provinzen übernehmen, aber es dem Papste freistellen, dahin zurückzukehren. Sie
würde durch Aufrechthaltung der Ordnung ihm zeigen, daß seine Rückkehr mit
keiner Gefahr für seine Person verbunden wäre. Sie würde nichts von seinen
geistlichen Rechten antasten, vielmehr durch gewissenhafte Erfüllung ihrer Ver¬
bindlichkeiten ihm den handgreiflichen Beweis liefern, daß er seine geistliche Ge¬
walt ausüben könne, ohne im Besitz eines weltlichen Reichs zu sein. Insofern
könnte grade die Entfernung des Papstes eine heilsame Aenderung des Sinns,
der die Encvkiiken inspirirte, bewirken, der Papst könnte, besser informire über
die Absichten des florentiner Cabinets, die Rückreise antreten, oder sein Nach¬
folger unter bescheideneren Verhältnissen daselbst wieder seinen Sitz aufschlagen.
Allein es ist nicht zu verkennen, daß die Versöhnlichkeit der italienischen Ne¬
gierung schließlich doch ihre Grenzen hat. Wollte sie selbst ihre Würde vergessen,
die Stimme der Nation würde sie vernehmlich daran erinnern. Wer dem
Gang der öffentlichen Meinung in Italien mit einiger Aufmerksamkeit gefolgt
ist, wird nicht im Zweifel darüber sein, daß die fortgesetzte Hartnäckigkeit des
Papstthums die Zahl seiner Freunde nicht vermehrt hat. Die Gleichartigkeit
gegen die Kirche ist auf dem Punkt, zur Gleichgiltigkeit gegen die Institution
des Papstthums zu werden. Italien wird schwerlich ein protestantisches Land
werden, «der es ist heute schon von allen katholischen Ländern das am wenigsten
päpstlich gesinnte. Die Ansicht, daß die Aussöhnung zwischen Italien und dem
Papthum die einzig mögliche Lösung der römischen Frage sei, galt noch vor
nicht langer Zeit als ein Dogma der gemäßigten Partei. Aber die Reihen ihrer
Anhänger lichten sich gewaltig. Es ist eine vergangene Generation, die stolz
auf den nationalen Charakter des Papstthums von seinem geistigen Aufschwung
eine Erhöhung des nationalen Glanzes erträumte. Die Mehrzahl wünscht heute
nicht die Aussöhnung mit der Curie, sondern fürchtet sie. Man scheut sich
mehr vor einem Concordat als vor dem offenen Bruch. Als die Allocution
vom 19. October bekannt wurde, ist ihr Eindruck in Italien unverhohlene B>>
sriedigung gewesen. Die Ankündigung, daß der Papst lieber Rom verlassen,
als sich mit der neuen Ordnung aussöhnen werde, ist mit drastischen Aus¬
drücken der Freude aufgenommen worden. Weit fort! und Nimmerwiederkehr!
konnte man in Kreisen vernehmen, die keiner extremen Gesinnungen verdächtig
sind. Man beginnt sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß die Lösung der
Frage schließlich doch nur eine radicale sein könne. Diese Stimmung kann
allerdings im Zaum gehalten werden, wenn das Papstthum sich in seine neue
Lage fügt, sie muß aber übermächtig werden, wenn es in seinem Widerstand
beharrt. Sie könnte im Stande sein, alle Berechnungen und Vorsichtsmaßregeln
der zünftigen Politiker über den Haufen zu werfen.
So..ist denn das zukünftige Schicksal des Papstthums in der That ein Un¬
gewisses, Unberechenbares, das fast mehr die Neugierde als leidenschaftliche
Theilnahme erweckt. Das Papstthum ist nicht mehr Gegenstand des Abscheus
und der Verehrung: es ist interessant geworden; es ist nicht mehr eine Macht,
sondern ein Object des Witzes der Diplomatie, so lange bis der Witz der Welt¬
geschichte sich seiner bemächtigt. Werthlos wäre es, die Reihe der Möglichkeiten,
die sich mit der zweiten Decemberwoche eröffnen, verfolgen und erschöpfen zu
wollen. Genug, daß der Septembervertrag ausgeführt wird; das Weitere muß
der Zukunft überlassen bleiben, vielleicht dem Wunder, auf welches Pius der
Neunte zum Dank für das unbefleckte Dogma allerdings gegründete Ansprüche
besitzt.
Im Grunde hat niemand bezweifelt, daß sowohl Frankreich als Italien
den Bestimmungen des Vertrags pünktlich nachkommen werden. Nur die kleri¬
kale Partei hat es für ihr Interesse gehalten, von Zeit zu Zeit ihren Wunsch
in das Gerücht zu kleiden, die französische Occupation werde über den Termin
hinaus verlängert. Die Franzosen werden am bestimmten Tag abgezogen sein-
und es knüpft sich hieran die weitere stillschweigende Verpflichtung, nicht zu ver¬
statten, daß eine andere Macht ihre Einmischung an die Stelle der französischen
setze. Selbstverständlich giebt Louis Napoleon die Stellung in Rom nicht auf,
um sie einer andern Fremdmacht abzutreten. Schwieriger ist es für die italie¬
nische Regierung, ihren Verbindlichkeiten gerecht zu werden. Von ihr selbst hat
das Papstthum freilich nichts zu befürchten. Aber ernster ist schon ihre Ver-
antwortung. wenn es gilt, eine Expedition, die unter der Firma Garibaldi oder
Mazzini versucht würde, nöthigenfalls gewaltsam zu verhindern. Allein ihre
moralische Verpflichtung reicht noch weiter. Man weiß, daß sie über das so-
genante römische Comite verfügt. Es liegt im Geist des Vertrags, daß sie auch
auf die Römer ihren mäßigenden Einfluß bewähre. Jede vorzeitige Erhebung,
jeder tumultuarische Versuch würde sie selbst compromittiren. Die Erbschaft
wird ihr um so sicherer zufallen, je größere Autorität sie jetzt schon auf die
Römer ausübt. Der Apfel darf nicht muthwillig geschüttelt werden, er muß
ihr als reife Frucht von selbst in den Schoß fallen.
Und eben in diesem Sinn ist es ihr Interesse, daß der Versuch, das
Papstthum so lange es eben geht auf seinen eigenen Füßen stehen zu lassen,
ehrlich angestellt werde. In allen großen Krisen haben die Italiener einen so
gesunden politischen Tact bewiesen, daß man annehmen darf, sie werden auch
bei dieser Probe die Absicht der Regierung verstehen und unterstützen. Diese
Absicht ist keine andere, als die, die weltliche Herrschaft Roms an sich selbst zu
Grunde gehen zu lassen. Eine gewaltsame Katastrophe würde die oben ange¬
deuteten Gefahren in sich schließen. Je langsamer aber der Fall geschieht,
um so sicherer wird er sein. Vollzieht sich die Annäherung der Römer an
Italien schrittweise, in Uebergängen, so wird die Vereinigung um so dauern¬
der sein. Sobald nur erst die fremde Stütze fehlt, kann Italien warten, bis
dem römischen Staat von selbst die Kraft zu leben ausgeht, und stirbt er am
Nachlaß der Natur, so wird zugleich die Wirkung aus die geistliche Gewalt um
so nachdrücklicher sein. Die Welt wird so allerdings um ein effectvolles Schau¬
spiel betrogen sein, aber auch dem Papstthum ist nicht vergönnt, in einem
großen seiner Vergangenheit würdigen Acte aus der Geschichte zu scheiden:
stückweise muß es zerbröckeln — dies ist das nicht minder anziehende
Wir berichteten neulich über eine Reihe von Vorgängen, welche für den
Zustand Nassaus unter weiland Herzog Adolph charakteristisch sind. Zum Schluß
wurde der lcchnsteiner Affaire gedacht. Der Feldzug gegen die preußischen Ab¬
geordneten war es, dessen Lorbeeren der Abgeordnete Dr. sichert unter die von
Waterloo rangirt wissen wollte. Diese Aeußerung that er in öffentlicher Kammer
Sitzung. Niemand fand darin etwas Ungehöriges oder persönlich Verletzendes,
nicht einmal der dabei anwesende und in der Discusston allzeit schlagfertige
Chef des Kriegsdepartemcnts General v. Holbach, dem es doch zunächst und
zumeist oblag, die etwa angetastete militärische Ehre zu wahren. Anderer Mei¬
nung war der Herr Hauptmann Vogler. Er fand darin eine Beleidigung der
Offiziere, weiche in Lahnstein commandirt hatten. Als Cartelträger schickte er
einen Lieutenant, der ebenfalls betheiligt gewesen war, sich ebenso für beleidigt
erklärte und bei dem es daher begreiflich ist, daß er nicht diejenige Gemessenheit
beobachtete, die sein Auftrag erforderte. Der Abgesandte stellte dem Abgeord¬
neten die Alternative: „Abbitte oder Pistolenduell". Zu ersterer hatte er ein
schriftliches Formular bei sich. Im Falle des letzteren sollten eventuell weitere
Duelle mit allen übrigen Offizieren folgen, welche in Lahnstein gewesen waren.
Die Antwort des Dr. sichert konnte nicht zweifelhaft sein; besagtes Formular
möchten der Herr Lieutenant gefälligst in Wohldero Tasche behalten, zur Abbitte
habe er keinen Grund, auf Duell könne er sich schon deshalb nicht einlassen,
weil sonst jeder das Recht erhalte, einen Volksvertreter, der seine Pflicht erfülle,
deshalb zu einem „stillen Mann" zu machen.
Nachdem der bewaffnete Angriff abgeschlagen war» folgte eine juristisch¬
diplomatische Campagne von längrer Dauer. sichert war Mitglied des „Casino",
einer dem geselligen Vergnügen gewidmeten Gesellschaft in Wiesbaden, welche
zu einem Drittel aus Offizieren, zu den andern zwei Dritteln aus Beamten,
Anwälten, Aerzten, Kaufleuten, Rentiers u. s. w. bestand. Aus Befehl des Her¬
zogs stellte eine Anzahl Offiziere den Antrag, den Dr. sichert aus dieser Ge¬
sellschaft auszustoßen, weil er in der Kammer den Hauptmann Vogler beleidigt
und die Duellsorderung desselben zurückgewiesen habe. Der Antrag siel durch,
als statutenwidrig. Darauf folgte ein Ofsiziersantrag auf Statutenänderung
aä toe mit rückwirkender Kraft, welcher mit Beihilfe der terrorisirten niederen
Beamten angenommen und von der Regierung trotz seiner juristischen Unmög-
lichkeit und trotzt des daraus folgenden Eingriffs in wohlerworbene Privat- und
Vermögensrechte des bedroheten Gesellschafters als neues Cvrporationsstatut
mit retrospectiver Gewalt feierlich sanctionirt wurde. Dann abermals ein
Offiziersantrag auf Ausschließung, und so fort mit Grazie in iiröiüwm. Es
wäre zu langweilig, alle die einzelnen Schachzüge und Gegenzüge dieser Kräh«
winkelet zu erzählen. Kurz gesagt, endigte die Sache damit, daß die Offiziere
ihre Absicht der Ausschließung nicht durchsetzten, Dr. sichert in der Gesellschaft
blieb und nun die Offiziere, Hofdiener u. s. w. ihrerseits ip eorxoi-s auftraten.
Die Geschichte hatte drei Vierteljahre lang gespielt.
Bemerkenswert!) ist diese an sich höchst kleinliche Affaire nur dadurch, daß
sämmtliche Ofsiziersanträge, wie versichert wird, theils mit Genehmigung, theils
auf gusdrücklichen Befehl des Herzogs gestellt wurden. Sogar während der
letztere in Gräfenberg war, wo er eine priesnitzsche Kaltwasserkur brauchte, und
während schon die dunkeln Wolken des Kriegs sich immer drohender zusammen¬
ballten, dirigirte er nych in dieser Sache. Von Gräfenberg gelangten auf tele¬
graphischem Wege die zu stellenden Anträge nach Wiesbaden. Sogar die Offi¬
ziere und Militärärzte wurden einzeln und namentlich bezeichnet, welche den
jeweils zu stellenden Antrag zu unterschreiben hatten. Sie waren mit äußerster
Sorgfalt und Umsicht ausgewählt aus den Reihen derjenigen, welche man
Punkto particularistischer, lcgitimistischer, klerikaler, östreichischer Gesinnung.nicht
für völlig correct und capitclfest hielt. Man stellte ihnen die Wahl, entweder
sich zu compromittiren, oder gegenüber dem Hofe sich eine Blöße zu geben.
Sie gehorchten dem Befehle des Herren, machten aber durchaus kein Hehl daraus,
wie sehr sie das Treiben der voglerschen Clique mißbilligten, welche dqs Offi-
ziercorps terrorisirte.
So oft im Casino vosirt wurde, mußten sich die Offiziere in einem beson¬
dern Zimmer sammeln und dann on masss an den Stimmtisch marschiren, wo
die Vertrauensmänner sich zusammendrängten und darüber wachten, daß keine
Stimme verloren ging. Und doch ging der Feldzug verloren! Solche An¬
forderungen waren die mißliche Kehrseite der hohen Gnade, welche den Offizieren
Widerfuhr. Dafür war freilich aber auch der Dienst recht leicht und bequem.
Von der unausgesetzten Arbeit des preußischen Offiziers, von dem zum Avance¬
ment unentbehrlichen Studium, das ihn an sein Zimmer fesselt und ihm Ent¬
behrungen auferlegt, die namentlich in der Jugend nur schwer zu ertragen
wären, wenn nicht das eiserne Pflicht- und Selbstgefühl, der Ehrgeiz und die
Vaterlandsliebe ^ein Gegengewicht böten — davon wußte man in der nassauischen
Armee nicht allzu viel. Hofbälle, Kursaal, Promenaden, Spielsäle und die da«
, Me verbundnen Ergötzlichkeiten der Kurstadt Wiesbaden boten auch gear zu viele
Anziehung«- oder Abziehungspunkte, gegen welche der kategorische Imperativ
der kriegerischen Pflicht schweren Stand hatte. Dabei bildete die prätendirte
militärische Exklusivität manchmal einen äußerst komischen Gegensatz zu „der
Vorliebe für öffentliche Vergnügungslocale aller Art", welche von einem scharfen
Beobachter*) als Eigenthümlichkeit der süddeutschen Offiziere mit Recht geschildert
wird und auch den unsern nicht fremd war. Vergeblich bemühete man sich, die
süße demokratische Gewohnheit der süddeutschen Nachlässigkeit und Gemüthlich¬
keit mit den norddeutschen Allüren eines Would-be-Aristokraten in Einklang zu
bringen.
Ich habe vielleicht bei der Schilderung des nassauischen Militärs zu lange
verweilt. Man wird mir sagen: wozu diese Rückblicke, die für die Gegenwart
und die Zukunft kein Interesse mehr haben? Ich antworte: sie haben aller¬
dings noch Interesse, erstens insofern sie dazu dienen, die Nothwendigkeit der
Centralisation der gesammten deutschen Wehrkraft in Einer Hand darzuthun;
zweitens insofern sie am besten geeignet sind, den Untergang der nassauischen
Negierung zu erläutern.
Der Eindruck, den ein Rückblick auf das Militärwesen in Nassau macht
läßt sich dahin zusammenfassen: Diese Truppen waren wohl dazu angethan, um
sie gegen das eigene Land, aber nicht um sie gegen eine fremde
Kriegsmacht zu gebrauchen. Die Frage, ob dieses Resultat absichtlich an¬
gestrebt worden ist, würde ich noch vor einem halben Jahre einfach mit „Ja"
beantwortet haben. Heute, angesichts der Schonung, weiche das Unglück, auch
das selbstverschuldete, in Anspruch nimmt, mag sie unbeantwortet bleiben.
Gewiß ist, daß in keinem Lande eine solche Entfremdung zwischen dem
Fürsten und Unterthanen herrschte, wie in Nassau. Ich nehme selbst Kurhessen
hierbei nicht aus. Denn dort war das Beamtenthum und der Offiziersstand
intact geblieben. Auch konnte man für die Regierungsweise des Kurfürsten
allerlei anführen: der Mangel an thronfolgeberechtigten Nachkommen; die von
Oestreich genährte Hoffnung, die Descendenz aus der Ehe zur linken Hand
dennoch für successionsfähig erklären zu können; die Meinung, von dem Bundes¬
tag zum Verfassungsumsturz gezwungen und nachher treulos im Stich gelassen
worden zu sein; der preußische Feldjäger; unangenehme häusliche Verhältnisse;
allerlei Familienmalheurs, — dies alles zusammengenommen konnte einen alten
griesgrämiger Herrn wohl zeitweise zur Einstellung der Regierungsthätigkeit
veranlassen. So und nicht anders wird auch durchschnittlich die Sache auf¬
gefaßt von dem loyalen Volke der weiland Kurhessen, die zudem schon seit vier
Generationen nicht viel Gutes gewöhnt sind.
In Nassau aber war das alles anders. Der Herzog, 1840 in sehr jungen
Jahren zum Regiment gelangt, versah es anfangs eavalierement und daraus
soll ihm in Anbetracht seiner Jugend kein Vorwurf gemacht werden. Von 1840
bis 1847 arbeitete die alte büreaukratische Maschine fort. Das Wasser rauschte,
das Rad drehte sich, die Mühle klapperte. Warum sollte nicht ein junger ge¬
schäftsunkundiger Fürst glauben, sie producire auch Mehl?
Plötzlich lieferte das Jahr 1848 den Beweis, daß es nicht gut gehe, daß
gar kein Getreide aufgeschüttet und das ganze Mühlwerk morsch war. Da ging
man an den Neubau. Ende 1849, als es mit der „Revolution" schon vorbei
war, vereinbarte eine liberal-conservative, dem Herzog Adolph aufrichtig ergebene
Kammer eine Verfassung mit ihm, welche auch den Domänenstreit erledigte. Der
Friede war geschlossen. Das Land hielt ihn. Der Herzog nicht.
Diese feierlich pactirte und publicirte Verfassung hob der Herzog Ende
1851 einseitig auf, angeblich wegen der darin enthaltenen Grundrechte, in
Wirklichkeit wohl, um die Staatsdomänen, deren publizistischer Charakter in
jener Verfassung außer Zweifel gestellt war, für fürstliches Privateigenthum zu
erklären. Die einzelnen Hergange von 18S1 bis 1866 haben wir in einer vom
4. Mai 1866 datirten Denkschrift*) erzählt. Sie war ein letzter, freilich mit
nur sehr geringer'Hoffnung auf Erfolg, und in der That auch ohne allen und
jeden Erfolg unternommener Versuch, noch in der elften Stunde Frieden zu
stiften zwischen dem Herzog und dem Lande. Er wurde vereitelt von jenen
Personen, welche sich auf Kosten beider vom Unfrieden ernährten.
Von 1840 bis 1847 Halle den Herzog nichts in seinem subjectiven Belieben
gestört. Sein Minister Herr v, Dungern fragte stets in erster Linie nach dem
wiener Urtheil, in zweiter nach Serenissimi souveränem Gutdünken. Der Landtag
fiel damals nicht lästig. Mit dem Jahr 1848 hatte das ein Ende. Der Land¬
tag war von nun an wachsam und auch das Ministerium Hergenhahn regierte
streng constitutionell, nicht blos dem Lande, sondern auch dem Fürsten gegen¬
über. Als der leßtere diese Bahn verließ, trat es ab.
Diese kurze Periode einer Verfassung und Gesetz heilig achtenden Verwal¬
tung betrachtete der Herzog dank seiner in Wien geholten absolutistisch-Iegitimi-
stischen Erziehung als eine ebenso ordnungswidrige als für ewig überwundene
Episode, auf welche er stets mit einem Gefühl der Demüthigung, des Grimms
und der Bitterkeit zurückblickte. Noch vierzehn Jahre später ließ er dies dem
Minister Hergenhahn fühlen, den er doch 1848 gar nicht genug mit Lobes¬
erhebungen überhäufen konnte. Das absolutistische Regiment von 1840 bis
1847 war ein naiv-Patriarchalisches, das von 1882 bis 1866 ein gereizt-
aggressives.
Die ganze Bevölkerung wurde in zwei Classen getheilt: in solche, welche
ihrer eigenen Meinung und Ueberzeugung folgten, und in solche, welche den
Befehlen der Hofdienerschaft folgten. Die letztgenannten hießen die „Gut¬
gesinnten". Die ersteren nannte der Herzog „die Demokraten". Darunter waren
aber eine Menge Leute, weiche in einem andern Lande als Hochtorys und jeden¬
falls überall als getreue und loyale Unterthanen gegolten hätten. Sogar der
Nechnungskammerdirector und vormalige Hausmarschall der Herzogin Pauline,
Moritz v. Gagern, Bruder Heinrichs v. Gagern, siel in Ungnade und wurde außer
Activität gesetzt, weil er bei einer Landtagswahl zwar für den gouvernemen-
talen, aber nicht auch für den klerikalen Candidaten stimmte. Des Herzogs
geistreiche Schwester, die verwitwete Fürstin von Wied, wurde gefragt, ob sie
denn nichts thun könne, um den Herzog von seiner verderblichen Bahn abzu-
bringen; seufzend antwortete sie: „Wie kann man mit jemandem reden, der
dem andern nicht einmal das Recht einer eigenen Meinung zugesteht?"
Der Herzog stieß also nirgends auf Widerspruch und glaubte infolge dessen
täglich mehr an die Nothwendigkeit und Vortrefflichkeit eines allerpersönlichsten
Regiments. Freilich bestand diese persönliche Regierung im Grunde ge¬
nommen nur darin, daß nicht berechtigte und befähigte, sondern unberechtigte
und unbefähigte Personen, daß nicht die Behörden und die Stände, sondern
die Oberhofmeisterin, der Stallmeister und ein zum geheimen Cabinetssecretär
erhobener k. k. Premierlieutenant den entscheidenden Einfluß übten, und zwar in
einem weit stärkeren Grad, als jene ihn jemals hätten üben können. Beiläufig
bemerkt, hat der letztgenannte östreichische Lieutenant sich auch als origineller
Stilist bewährt. Er ist der Concipieut jenes von dem Herzog Adolph am
6. Juli 1866 an den preußischen Militärgouvcrncur von Rheinland und Wesi-
phalcn. Fürsten von Hohenzollern - Siegmaringen, gerichteten und mit «.nschick-
licher Eile an demselben Tage in der officiellen „Nassauischen Landcszeitung "
veröffentlichten Briefes, in welchem die Rede war von „der Weinrazzia in
Nüdesheim" und der „Entführung mitten im Frieden eines deutschen Fürsten".
Mit letzterem, etwas rätselhaften Ausdruck beabsichtigte der Herr Verfasser zu
behaupten, Preußen habe den Kurfürsten von Hessen ohne vorherige Kriegs¬
erklärung gefangen genommen.
Daß die persönliche Negierung nichts als Mißerfolge auszuweisen hatte, —
Spannung mit anderen deutschen Höfen und Regierungen, Unzufriedenheit der
Bevölkerung, namentlich des besitzenden, intelligenten und productiven Theiles
derselben, permanente Auflösungen des Landtags, bei jeder Neuwahl Wachs¬
thum der Opposition, Finanznöthe, Chatoullendcsicit, Verpfändung der Haus-
geräthe und des Silberzeugs bei M.A.Rothschild in Frankfurt, Zustimmung
nur in Wien, Beifall nur bei den Klerikalen, sonst überall Widerspruch, Mi߬
trauen und Mißbilligung —, alle diese Erfahrungen hätten Anlaß geben sollen
zum Denken, zum Prüfen, ob man denn auch auf richtiger Bahn sei; aber sie
steigerten nur das krankhafte Mißtrauen, welches sich gegen alle und jeden rieb-
tete, nur nicht gegen die, welche es verdienten, und welchen gegenüber der Her¬
zog ebenso übertriebene Güte und Nachsicht zeigte.
Seinem Hofmarschall. einem vormaligen k. k. Major Leo v. Miltitz, hatte
der Herzog eines Tages einige Vorwürfe gemacht. Miltitz schmollte darauf in
ostensibelster Weise und zwar mit einem solchen Erfolg, daß ihn sein Herr schon
nach wenige» Tagen auf die Schulter klopfte mit den Worten: „Lieber Miltitz,
es war neulich nicht so böse gemeint. Seien wir wieder Freunde!"
Das Mißtrauen wurde genährt durch die schon erwähnte permanente Auf¬
hetzerei, welche theils mündlich, theils durch ein zu diesem Zweck gegründetes
Winkelbättchen — sonst las der Herzog nichts — betrieben wurde, den Herzog
zu keiner ruhigen und behaglichen Minute mehr kommen ließ und allmälig so
seine Nerven zerrüttete, daß er schon seit Jahren an Schlaflosigkeit leidet. Cha¬
rakteristisch bleibt es immer für Gemüth und Urtheil des Fürsten, daß es den
Demagogen des Hofes gelingen konnte, ihn dergestalt gegen seine Unterthanen
einzunehmen. Sein gutmüthiges, treuherziges, leichtlebiges Völkchen stellte man
ihm als eine Verschwörerbande dar, geleitet von den Landtagsabgeordneten
Dr. Lang und Braun. Diesen beiden wurde eine geheimnißvolle Allmacht bei¬
gelegt. Sie müßten mehr als Halbgötter sein, wenn sie alles das gemacht
hätten, was man bei dem Herzog auf ihr Conto setzte. Sie conspirirten mit
Mazzini und reisten jeden Augenblick nach Berlin, „um das Land an den
sah 1-1'1'- Preuß*) zu verkaufen" (jxsissimg. perdu); mit dem Grafen Bis-
marck standen sie natürlich auf dem Du-Fuß, obgleich den letzteren Herr Lang
niemals, und Herr Braun, unsres Wissens, das erste und einzige 'Mal am
11. September 1866 gesehen hat.
Braun und Lang Waren die Sündenböcke der Hofpartci. Sie verwandelten
so hieß es bei Hof, durch böse Zauberkünste das gediegene Gold der Weisheit,
welches die östreichische Clique zu produciren behauptete, über Nacht in das
Blech des Unverstandes und in das welke Laub des Mißerfolgs. Deshalb
mußten sie vernichtet werden. Ueber den Feldzug gegen zwei einfache Privat¬
personen im Lande, gegen welche die ganze Staatsmaschine fortwährend mit
dem Druck aller Atmosphären arbeitete, vergaß man die Vorsichtsmaßregeln gegen
den mächtigen Feind außer Landes.
Am 22. April 1852 wurde dem Herzog der älteste Prinz geboren. Die
Stände gratulirten am 25. April zu der Geburt des „Erben des Throns".
Der Herzog unterhielt sich huldreich mit denselben und bemerkte u. a., er werde
nunmehr alles so stabilisiren, daß diesem seinem Sohne dereinst die Herzogs¬
würde leicht sein, und ihm das Regieren nicht so schwer gemacht werde, wie
ihm (Adolph) in den Jahren 1848 und 1849. Nun ist dem Prinzen die
Herzogswürde allerdings leicht gemacht, und das Wort vom 23. April 1852
hat vierzehn Jahre spater eine verhängnißvolle Bedeutung gewonnen. Die
Krone wurde verscherzt ganz allein durch die Mittel, durch welche man sie zu
befestigen trachtete. Weil man Preußen fürchtete und haßte, beleidigte man es
so, daß es moralisch und politisch gezwungen war, zu annectiren. Weil man
das Mediatisirtwerden vor Augen sah, suchte man möglichst viel heimzubringen,
besonders indem man die Staatsdomänen in Privateigenthum zu verwandeln
trachtete; aber bevor dies gelungen war, führte man die Annectirung her¬
bei und zwar grade dadurch, daß sich die Dynastie mit dem Lande in einen
funfzigjährigen erbitterten Streit über Mein und Dein verwickelte und durch
den bösen Geist des Fiscal-, Monopol- und Privilegienwesens in der Domäne¬
verwaltung die wirthschaftlichen Interessen der Bevölkerung fortwährend so ver¬
letzte, daß man meinen konnte, die Negierung habe es darauf abgesehen, dem
Lande einzupredigen, daß sein Wohl und das der Dynastie nicht identisch
seien. Trost im häuslichen Hader wurde bei einem aus der Fremde herbei¬
eilenden fahrenden Adel gesucht, der nur den unseligen Riß zu erweitern wußte
und Stütze hoffte man, indem man alles, was von Besitz und Intelligenz im
Lande war, geflissentlich vor den Kopf stieß, von der bewaffneten Macht, die,
an sich schon vermöge ihrer geringen Zahl unerheblich, im entscheidenden Augen¬
blicke nicht wie ein thönerner Riese, wohl aber wie ein thönerner Zwerg zu¬
sammenbrach. So modern auch sonst das Gebahren war. das Verhängniß
desselben war exemplarisch antik: durch solches Entrinnen eilte man dem Fatum
mit Hast entgegen.
Als der Stich der Kriegstarantel seine Wirkungen zu äußern begann, ließen
die Landstände, welche der irregeleitete Herzog für seine Feinde hielt, ihre war¬
nende Stimme erschallen. Vergebens!" „Die kleinen Regierungen in Deutschland
können sich nicht dadurch erhalten, daß sie der Bevölkerung Ruhmesglanz und
Sicgeslvrbeeren in Aussicht stellen. Militärstaaten oder kriegsfähige Großmächte
werden diese kleinen Länder niemals. Darum sollten sie. statt durch Kriegsruhm
glänzen zu wollen, es vorziehen. Begründer der bürgerlichen und wirthschaft¬
lichen Freiheit. Pfleger der Cultur, der Wohlfahrt, des Friedens zu sein. Wenn
sie dies thun, werden sich die kleinen Regierungen erhalten. Wenn nicht —
nicht!" ......
Während Braun dies im Ständesaal aussprach, saß der Herzog in dem
an denselben anstoßenden Zimmer seines Ministers, des Prinzen Wittgenstein.
Er konnte hören, was dort geredet wurde. Seine Antwort war, daß er noch
an demselben Tage die Ständeversammlung auflöste. Er warf seine Krone mit
eigener Hand in des Krieges gähnenden Schlund, und sie ist verschwunden.
Das Verhältniß der Regierung Seiner Hoheit zu den Landständen charakterisut
sich nicht treffender als^durch die?!Verhandlungen über die'Mittel zur Kriegs¬
bereitschaft. Die Ständeversammlung in ihrer großen Mehrheit war entschieden
für Neutralität, wenn nicht für Anschluß an Preußen, mit welchem das Land
schon seiner wirihschaftlichen Interessen halber solidarisch verbunden ist. Der
Herzog war von dieser Auffassung wohl unterrichtet. Gleichwohl wünschte er
grade von diesen Ständen Geld verwilligt zu erhalten, um dem Bundestag,
wie er sagte, oder Oestreich, wie die Stände sagten, Heeresfolge zu leisten.
Man schlug den heutzutage nicht mehr ungewöhnlichen Weg ein, vollendete
Thatsachen zu schaffen wider den Willen der Volksvertretung und dieser zu über¬
lassen, daß sie registrire, was sie nicht mehr ändern konnte. Aber Eines schickt
sich nicht für alle.
Am 12. Mai 1866 kam von Wien das Ersuchen, sofort mobil zu machen.
Man arbeitete die ganze Nacht vom 12. auf den 13. Mai hindurch bis zum
Tagesanbruch in den Bureaus des Kriegsdepartements. Am 13. Morgens
gingen die Einberufungsordres an die großbeurlaubten Soldaten ins Land.
Am 15. contrcchtrte im speciellen Auftrag des Herzogs der Finanzdirector, welcher
zugleich auch Chef der herzoglichen Domänenverwaltung und landesherrlicher
Commissär bei den Spielbanken von Wiesbaden und Bad Eins war, bei dem
Bankhaus M. A. Rothschild für die Landessteuerkasse ein Knegsanlehn von vor¬
läufig einer halben Million Gulden. Die Stände sahen die Soldaten aus dem
großen Urlaub einrücken. Sie interpellirten am 16. Mai, was das zu bedeuten
habe, ob sich die Negierung vielleicht gegen den Willen des Landes in einen
Krieg stürzen wolle, und woher sie die Mittel zu nehmen gedenke, denn die
Stände würden zu einem solchen Zwecke nichts verwilligen. Darauf antwortete
die Regierung, zu bedeuten habe das alles durchaus gar nichts, es handele sich
weder um Krieg, noch um Kriegsbereitschaft oder Mobilmachung, sondern nur
um die „gewöhnlichen vierwöchigen Feldübungen" — ein Wort, das sich für
den Sprichwörterschatz der Zukunft empfiehlt — welche jedes Jahr stattfanden
und ja auch in dem Budget pro 1866 vorgesehen seien; es werde kein Kreuzer
über das gewöhnliche Ordinarium des Militärbudgets hinaus ausgegeben wer¬
den. Das Knegsanlehn wurde verheimlicht. Kein Mensch, außer den in die
östreichische Politik eingeweihten Herrn und Damen bei Hof, wußte davon, nicht
einmal der Chef der Landesregierung.
Die Stände waren durchaus nicht beruhigt durch jene „beruhigenden" Zu-
sicherungen. Sie hatten allen Grund, argwöhnisch zu sein; allein da sie sich
zu weiteren Interpellationen anschickten, vertagte sie die Regierung vom 16. Mai
bis 5. Juni, indem sie mit patriarchalischen Wohlwollen versicherte, es geschehe
das blos, um den hochgeehrtesten Herrn Ständen Gelegenheit zu geben, die
Pfingstfeiertage im Schoße ihrer Familien zuzubringen. Da die Vertagung
etwa drei Wochen, Pfingsten 1866 aber nur zwei Tage dauerte, so machten die
Stände von ihrer persönlichen Freiheit Gebrauch und glaubten nicht an das
angegebene Motiv. Sie sagten das auch. Dies veranlaßte den Finanzdirector
— denselben, der das heimliche Kriegsanlehn contrahjrt hatte — in der Stände-
Versammlung mit dem Tone äußerster sittlicher Entrüstung und mit der Miene
der gekränkten Unschuld auszurufen: Welche Keckheit, der Regierung nicht zu
glauben!
Während der Vertagung ging die Regierung an die Pferderemonte. Sie
bedürfte zu deren Durchführung der aus freier Wahl hervorgegangenen Bezirks-
vcrtretung. Der Bezirksrath von Wiesbaden weigerte sich, hierzu in Function
zu treten, denn zur Pferdeconscriptivn sei die Proclamation der Kriegsbereit«
schaft erforderlich, diese sei aber noch nicht erfolgt. Das officielle Blatt bedrohete
die Mitglieder des Bezirksraths mit dem Standrecht, S,i.e^ Wen sich, nicht irre
machen. So war denn die . Negierung gezwungen, die Maske fallen zu lassen
und das Wort „Kriegsbereitschaft" endlich auszusprechen, nachdem die Sach.e.
schon da war. Dies geschah am 22. Mai.
Am S.Juni traten die Stände wieder zusammen. Die Regierung gestand
ihnen nun, daß sie am 16. Mai nur vertagt habe, um unbequemen Fragen
aus dem Wege zu gehen; aber sie verheimlichte immer noch das Kriegsanlehn.
Sie forderte eine halbe Million Gulden Kriegsmittel und schlug vor, dieselben
durch Steuerzuschläge aufzubringen. Die verheimlichte halbe Million bei Roth¬
schild dazu gerechnet, hätte man eine Million Gulden gehab, t, und das hätte
für den Anfang gereicht; später glaubte man wohl keines Stände mehr zu
bedürfen.
Die Stände aber wollten, bevor sie Geld verwi.lugten, über die politische
Situation gehört sein. Sie wollten wissen, was man in Bamberg Pactitt hab?
u. s. w. Die zweite Kammer berannte daher eine Sitzung aus den Is, Juni
an, um ihr Votum abzugeben gegen jene Politik, welche am folgenden Tage
in der Bundestagssitzung die Majorität, und namentlich auch die Zustimmung
des nassauischen Gesandten erlangte.
Nun enthielt die parlamentarische Geschäftsordnung der nassauischen Stände-.
Versammlung, welche zur Zeit der Blüthe der Reaction, 1832, zwischen dM.
Ständen und der Regierung vereinbart worden war und ohne Zustimmung.der.
letzteren nicht geändert werden konnte, die seltsame Vorschrift, daß eine land-,
ständische Sitzung in Abwesenheit der Ncgierungsvertr,e,ter nicht stattfinde^ dürfe.
Um die Sitzung vom 13. Juni, in welcher sich die Stände gegen die Buntes.'»
tagspolitik aussprechen wollten, zu verhindern, hätte die Negierung,.Verfassung^,
mäßig entweder auslösen oder vertagen können. Allein damit war ihr y>ich,tij
gedient. Denn sie hoffte immer noch — trotz alledem — unter de,r Wucht der.
vollendeten Thatsachen, der aufgeregten Stimmung und der gouvernementalen
Bedrohungen, selbst von diesen,, bisher so unbeugsamen Ständen eine Geld-
verwilligung zu erwirken. Sie wählte also ein nicht verfassungsmäßiges Mittel,
einen gelinden Staatsstreich, einen sinke: Arbeitseinstellung. Sie verbot ihren
Vertretern in der Sitzung zu erscheinen. Dieselbe konnte also nicht stattfinden;
— und ein 14. Juni stimmte die Regierung, welche die An. und Absichten der
Stände sehr wohl kannte, in Frankfurt für das directe Gegentheil von alle
dem, was die Volksvertretung wollte. Gleichwohl glauben verschiedene Würten-
berger immer noch bis zur heutigen Stunde, gewisse südwestdeutsche Kleinstaaten
seien der gerechte und vollkommene Hort des einzig wahren Constitutionalismus
in Europa. Wenigstens sagen sie so.
Die Negierung frohlockte am 14. Juni. Sie hatte eine vollendete That¬
sache, Ihre voreilige Mobilmachung vom 14. Mai hatte nunmehr am 14. Juni
die höhere Weihe, die nachträgliche Genehmigung des Bundestags erhalten.
Nun konnte man von „Bundesrecht" und „Bundestreue" sprechen und den
Vorwurf des östreichischen Vcisallenthums durch Berufung auf den Beschluß des
„einzigen legalen Organs der gesammten deutschen Nation" gewichtig entkräften.
Auch gab man sich in Bibrich der tröstlichen Hoffnung hin, in Preußen werde
wieder, wie 1850 und 1861, „der Starke muthig einen Schritt zurückweichen".
Noch sicherer zählte man auf eine Creditverwilligung der Stände; „gegen den
Bund rebelliren würden sie doch nicht, sonst werde man garstig mit ihnen um¬
springen."
Allein Man hatte sich in jeder Beziehung getäuscht. Preußen wich nicht
zurück; es ging vor, und zwar mit der ominösen „affenartigen Geschwindigkeit".
Auch die liberalen Stände wichen nicht zurück. Am 27. Juni verweigerten sie
der Regierung alle und jede Mittel zum Krieg. Die Negierung hatte zwar schon
ihre geheime halbe Million. Aber sie wollte mehr. An dem Tage, wo die
östreichischen Und frankfurter Zeitungen die falschen Nachrichten über die Siege
Bcnedets nach Wiesbaden trugen, glaubte sie ihre Zeit gekommen. An diesem
Tage, am 30. Juni, erschien der Chef des Kriegsdepartements, das Schwert an
seiner Linken, in der Ständeversammlung und las mit einer Stimme, die an
das „alles iras" und die Posaune des jüngsten Gerichts mahnte, eine neue
Creditansorderung von höherem Betrag vor, welche sich darauf berief, diese
Regierung, (welche doch die halbe Million heimlich in der Tasche hatte) sei ohne
die geringsten Mittel, sie befinde sich in dem äußersten Nothstand, sie müßte,
wenn die Stände wieder nichts verwilligten, niittelst kriegsrechtlicher Execution
nichtverwilligte Steuern heben, um nicht die braven Soldaten darben zu
lassen" u. s. w.
Am 6. Juli schlugen die immer noch unbeugsamen Stände zum zweiten
Male der Negierung jeden Credit ab. Sie hatten inzwischen, dank dem Scharf¬
sinn ihres Berichterstatters, des Abgeordneten Scholz, den Sachverhalt bezüglich
des geheimen Kriegsanlehens ausgemittelt. Vormittags erfolgte die Abstimmung,
Nachmittags die Auflösung. Am 14. Juli siegten die Preußen bei Aschaffenburg.
Am 18. Juli entfloh der Herzog.
Von allen den im vorigen Aussatz aufgezählten neun, oder wenn man
den Herzog hinzurechnet zehn Generalen—von welchen allerdings einige durch
Alter oder Krankheit verhindert waren, wie z. B. Hergenhahn, der schon die
Kriege von 1810 bis 1815 mitgefochten —, war nur einer im Feld, der
weiland carliflische General Roth. Und ihn traf das Unglück, mitten im Feld-
zug vom Herzog auf Urlaub in die Schweiz geschickt zu werden. Sogar dieses
Muster altcastilischer Ritterschaft und correcter legitimistischer Gesinnung — zu¬
dem ein Schwabe von Geburt! — galt plötzlich als verdächtig. Gewiß mit
Unrecht. Er machte ohne Zweifel die Sache so gut als er konnte; und daß
man ihn an eine Stelle gestellt hatte, wohin er nicht gehörte, daran war er
nicht schuld, sondern die Leute, welche glaubten, daß wirklicher oder simulirter
Parteifanatismus im Stande sei, für den Mangel technischer Erfordernisse aus¬
zukommen.
Ueber den Verlauf des „Feldzugs" will ich schweigen. Als er zu Ende
und das nassauische Contingent gezwungen war, von Günzburg am südlichen
Ufer der Donau, wo es cantonnirte, in die mittlerweile preußisch gewordene
Heimath zurückzukehren, entband der Herzog die Offiziere des Fahneneids. Er
hoffte indeß und sprach auch, wie wir hören, diese Hoffnung aus, es werde
trotzdem keiner seiner Getreuen unter dem König von Preußen fortdienen; denn es
war den Offizieren freigestellt, Pension zu verlangen nach dem bisherigen nassaui¬
schen Pensionsgesetz, das ebenso wie das Besoldungsgesetz sehr freigebig ist,
namentlich für die unteren Chargen. Der Herzog irrte sich; die meisten dienten
fort. Der weiland Kriegsherr stiftete für Offiziere und Mannschaft, für alle, die
mitretinrt waren, eine Erinnerungsmedaille, welche an einem gelben Bande auf
der Brust getragen wird; und da ein erfahrener Offizier versicherte, daß plan¬
lose Bewegungen und forcirte Nückzugsmärsche die Truppen noch weit mehr
strapaziren als ein wirklicher Feldzug mit Bataillen. so war dieses Symbol, das
er mit dem unschönen Namen „Lauf-Orden" belegte, insofern wohlverdient und
mag für manchen braven Burschen in der That ein Ehrenzeichen sein.
Gegenwärtig verweilt der Herzog nebst Gemahlin und Prinzen in dem
schon mehrfach erwähnten Schlößchen Rumpenheim. Am 4. November 1866
verabschiedete er sich dort, wie Eingangs gemeldet, von seinen „treu gebliebenen"
Offizieren, d. h. von denjenigen, welche um die — nach nassauischem Gesetz nahe
an den Activgehalt reichende — Pension nachgesucht haben, weil sie aus Rück¬
sichten auf ihr Alter oder sonstige Umstände sich in die neuen Dienstverhältnisse
nicht schicken können oder wollen. Diese Offiziere, dreizehn an der Zahl, geführt
von dem vormaligen Kriegsminister General v. Holbach, welcher während des
Feldzugs mit dem Depot in der Festung Mainz lag und von dem Tour de
Montalembert auf der Petersau, einer zur Bundesfestung gehörigen Rheininsel,
aus zusah, wie die Bayern Bibrich beschossen, fuhren mit dem Frühzug gen
Frankfurt und dann gen Rumpenheim. Man sagt, der Herzog werde ihnen
aus Privatmitteln zu ihrer preußischen Pension so viel zulegen, daß sie dem
bisherigen nassauischen Activgehalt gleichkommt, bis zu ihres Lebens Ende.
Als sie in den engen Raum eintraten, den jetzt der hohe Herr bewohnt,
war der letztere so ergriffen, daß er nur die Worte sprechen konnte: „Das sind
noch die einzigen Treuen!" Dann lehnte er sich, den Kopf tief aus die Brust
herabgesenkt, mit dem Rücken an einen Consoltisch. und die Thränen rannen
ihm in den seit der letzten Campagne ergrauten Bart. Auch ein Theil der
Offiziere konnte sich des Weinens nicht enthalten. Und es gab so eine lange
bange Stille, die nur durch das Schluchzen eines oder des andern unterbrochen
wurde. Da der Herzog nach Verlauf einer halben Stunde immer noch in
seiner stummen Niedergeschlagenheit verharrte, und die Etikette den Offizieren
verbot, die Initiative des Gesprächs zu ergreifen, entstand nach und nach eine
gewisse Verlegenheit, welche der General v. Holbach mit seiner ihm in solchen
Fällen eigenthümlichen Geistesgegenwart dadurch beseitigte, daß er dem Herzog
sagte, die Offiziere seien gekommen, um auch Ihrer Hoheit der Frau Herzogin
und den durchlauchtigsten Herrn Prinzen ihre allerunterthänigste Aufwartung zu
machen. Infolge dessen rief der Herzog selbst seine hohe Gemahlin und die
beiden Söhne aus dem Nebenzimmer herein. Dann verfiel er wieder in sein
finsteres Schweigen. Die Frau Herzogin führte von nun an allein die Con-
versation mit den dreizehn Getreuen. Sie stellte ihnen die Prinzen vor und
sprach: „Betrachtet euch noch einmal euere beiden jungen Herrn und bewahrt
denselben euere Treue bis zu besseren Zeiten." Dann ergoß sie sich in leb¬
haften Vorwürfen gegen diejenigen vormals nassauischen Offiziere, welche der
angestammten Dynastie die Treue gebrochen und preußische Dienste genommen
hätten. Diesen Vorwürfen stimmten auch diejenigen unter den Offizieren bei,
deren eigene Verwandte sich in dem von der Herzogin getadelten Falle befanden.
General v. Holbach aber, dessen Söhne auch preußische Dienste genommen,
suchte mit gewohntem Geschick die Unterhaltung von diesem, ein wenig epinösen
Thema abzulenken, indem er zu erzählen begann, was jetzt die bösen Fortschritts¬
leute in Wiesbaden für ein grauenhaftes Regiment führten; er, General v. Hol¬
bach, sei dieser Tage einmal zu dem königlichen Civilcommissar vorbeschicden
gewesen und erst nach langem Warten im Vorzimmer vorgelassen worden;
während er mit demselben im Gespräch begriffen gewesen, habe es plötzlich sehr
kräftig an der Thüre geklopft und ohne das Hereinrufen abzuwarten, sei Dr. B.
hereingestürzt mit den Worten: „Ich muß heute noch nach Berlin und kann
deshalb die Sache nicht fertig machen", worauf der königliche Civilcommissar
erwidert habe: Nun gut, dann mag sie Herr Dr. L. machen. (Beiläufig bemerkt
versichern die genannten Herrn, daß diese Erzählung nicht wahr sei.) Diese
und andere Anekdoten Holbachs vermochten indeß den schwülen Horizont nicht
aufzuheitern; und als er endlich, nachdem die Audienz — oder in Anbetracht
der Pausen, aus denen sie wesentlich bestand— die Abschiedsschau drei Stunden
gedauert hatte, dem Herzog zum Schlüsse die Versicherung gab, das ganze Land
sei ihm jetzt immer noch mit der größten Treue und Anhänglichkeit zugethan,
schüttelte der hohe Herr das Haupt und sprach: „Wenn dem so wäre, dann
saß' ich nicht hier!" So wird uns glaubhaft berichtet.
Jene Offiziere aber fuhren hierauf zurück und dinirten zusammen in Frank¬
furt. Worauf sie angestoßen haben, weiß ich nicht. Aber wenn ihr das Gläser-
geklirr einer Wiederherstellung des Alten gegolten hat, aufrichtige Hoffnung oder
gar Zuversicht darauf haben sie schwerlich gehegt. Denn wäre auch die Stern,
kunst wirklich Lüge, die Restauration des Herzogthums Nassau gehört ohne
Zweifel zu den letzten Möglichkeiten. Beim Umsturz dieses Monumentes deut-
scher Kleinfürstlichkeit ist kein Stück Piedestal stehen geblieben, worauf der Torso
neu errichtet werden könnte. Vielmehr, der Sockel war grade das Erste, was
fiel; der Boden glitt dem alten Regime unter den Füßen hinweg. Auch nicht
einmal die elementare Grundlage, die sonst allenthalben die Reste des klein-
staatlichen Wesens noch trägt, jene loyale Treue g. tont prix, die anderwärts
in allen Schichten der Bevölkerung ihre Wurzeln nährt, hat die walramsche
Linie des nassauer Hauses zu erwerben vermocht.
Für den Volkspsychologen ist es lehrreich, die populären Empfindungen
und Urtheile sowie das obligate unartikulirte Geräusch, das den Throncassirungen
dieses großen Sommers gefolgt ist, und seine Objecte zu vergleichen. In Kur¬
hessen trat ein Fürst von der Schaubühne ab, der, wie schon oben besprochen
wurde, auch dem gutherzigsten Volksstamm keine Liebe abgewinnen konnte. Er
fragte nicht darnach; als Karikatur eines Despoten fürchtete oder ignorirte er
auch die loyalsten Regungen politischen Lebens; scheelsüchtiger Egoismus einer
kleinen Seele war ihm einziger Gesichtspunkt bei fürstlichen Entscheidungen, die
das Höchste wie den Plunder den gleichen im niedrigen Sinne persönlichen
Empfindungen unterwarf. Aber es ist zweifelhaft, ob er nicht die dunkle Vor¬
stellung gehabt hat, daß er in diesem System der bloßen Unterlassungen —
wenn anders ihm System überhaupt angesonnen werden kann — seiner Pflicht
folge. Pflicht ist ein formaler Begriff; er wäre nicht das erste CuriosuM in
der Geschichte der Fürsten, welche das „Nein" zum Staatsgrundgesetz erhoben
hat. Seine Antipathie gegen Preußen wird ihm niemand verargen; konnte
doch er, der auf einer der Klammern saß, welche die Theile des norddeutschen
Staates geographisch binden, den Zeitpunkt nach Minuten voraussehn, der ihn
eliminiren mußte; und es hat noch kaum ein Sterblicher seinem leibhaftigen
Fatum mit Grazie den Platz geräumt. Indeß er war, weder auch in jedem
andern Sinne eine absolut ungraziöse, so doch eine hartknochige Natur, in voller
Uebereinstimmung mit sich selbst; wen er schädigte, dem milderte eine gewisse
Komik, die allen solchen Charakterköpfen eigen ist. den Zorn. So geschah es,
daß die Fußspuren seines fürstlichen Daseins mit sonst unertlcnlich mäßigem
Aufwande von sittlicher Entrüstung hinweggeräumt wurden. Freilich sein Ver¬
dienst war es nicht; aber sein Volk war zu gut, um ihm zu fluchen.
Vor der nachhaltigen, unbelehrbarer Selbstwilligkeit, die sich hinter der
sogenannten Treue derjenigen Hannoveraner verbirgt, welche Witz unb Willens-
kraft in sinnloser Opposition gegen die neuen Zustände vergeuden, hat die
Hessen ihre gerade Art trotz der politischen Hungerkur der Jüngstvcrgangcnheit
behütet. Immerhin verlangt auch menschliche Schwäche ihre Gerechtigkeit; in
Hannover insbesondre haben wir es mit der xar exeöllmieö deutschen Schwäche
zu thun, sich Gegenstände der Anbetung und Hingabe zu schaffen, wo keine
sind. Lebten wir im Zeitalter Fichtes, man würde sagen können, König Georg
von Hannover sei nur die fleischgewordene Selbstsetzung seines Volkes gewesen.
So sehr auch ihre Anerkennung gegen die Natur geht, seine Popularität hat
einerseits, wenn schon in dünnem Aufgusse, dennoch Verwandtschaft mit dem
starren Idealismus Hagens von Tronege; nur fehlt leider seinen nordischen
Nachfahren die ästhetische und zugleich sittliche Weihe des Heroismus.
Ohne Frage hat den blinden Monarchen am meisten unter seinen Schick¬
salsgenossen die harrende Kraft des Formalismus fürstlicher Hoheit getragen
und geschützt. Die christlich-germanische Weihe, die Sucht, alles Große und
Kleine,, was ihn betraf, providentiell zu nehmen, der Pomp und die Munificenz,
mit welcher er auszutreten liebte, die zur Schau getragene Leugnung seines orga¬
nischen^ Gebrechens, dazu die völlig mittelalterliche Auffassung seiner Würde,
die ihn jeden Tag fähig gemacht hätte, im Verdruß über oppositionelle Ten¬
denzen Heinrich den Löwen zu copiren, der Badewiek der Erde gleich machte,
weil es ihm die Thore verschloß, endlich die methodelosen Evolutionen seiner
inneren und äußeren Politik, die. angethan mit dem Zauber des vollkommenen
Widerspruches, so geheimnißvoll wirkten, daß noch heute im Lande unter Weisen
und Thoren die Sage geht von König Georgs staunenswürdiger Konsequenz:
— alle diese Züge haben sich als ebenso viele heldische Symptome erwiesen,
aber, ihre Wirkung auf die Gemüther ist doch überraschend gewesen. Jeder
Epilog aber hat, ausgesprochen oder stillschweigend, zugleich apologetische Ab-
sicht, und so mag zur Ehre der Anhänger der Welscndynastie hier das Zuge-
ständniß nicht unterdrückt werden, daß weiland König Georg an seinen Beruf
wirklich geglaubt habe, sein Land zur patriarchalischen Glückseligkeit zurückzu-
dirigiren. Er war ein lebendiger Anachronismus, dies Prädicat erschöpft sein
ganzes Wesen, aber ein gewisser Stil läßt sich demselben nicht absprechen.
Ein äußerlicher Umstand, der schon in den Tagen seines Glückes peinlichen
Eindruck machte, ist ihm symbolisch geworden: er fühlte sich nicht heimischen
seinem Hause. Das alte Stadtpalais an der Leine, das in der That unwohn¬
lich eingerichtet sein soll und dem ein Flügel fehlt, wurde mit einem Hause am
Friedrichswall vertauscht, in das nachmals der Magistrat der Stadt zog; dann
wechselte die Residenz zwischen der Stadt und dem monotonen Herrenhausen.
Der König, baute gern und beschloß, sich ein stattliches Schloß herzurichten, das
allen Anforderungen seines Monarchenstolzes entsprechen sollte. Ein weitschwei¬
figer kolossaler Bau erwuchs, wo früher das kleine Schloß Mon Brillant stand;
wer die stolze Fa^abe betrachtete, dem mußte auffallen, daß man aus den Fen¬
stern derselben so gut wie gar keine Aussicht hat, wenn nicht ein schönes Stück
der herrlichen nach Herrenhäuser« führenden Allee gefällt würde; in der Wahl
dieses Lokales schien sich der Blinde zu verrathen, und die Lage außerhalb der
Stadt am Wege mahnte an Auszüglergedanken. Die weiten Mauern wuchsen
herauf, aber immer wechselte die Bezeichnung des zukünftigen Schlosses: Mon
Brillant schien zu gering für den Hcrrscherpalast. »Königssitz" sollte er heißen;
aber auch dies wurde aufgegeben, — man neigte sich dem Titel „ Welfenschloß" zu.
Die Kritik des Publikums hatte längst einen bezeichnenderen, wenn auch min¬
der stolzen Namen gesunden: Die „Platt-Menage"; denn wirklich erinnert das
architektonische Arrangement, eine Mischung von romanischen und gothischen
Reminiscenzen, wie sie der König besonders liebte, an jenes bekannte Tischge-
räth, das Pfeffer-, Salz-, Essig- und Oelflasche vereinigt; die schmächtigen
Thürme gaben die Parodie an die Hand. Und wie aus den weiten Sälen,
den endlosen Corridoren, den Höfen und Hallen, welche dem Nitterspiel und
Minnesang und königlichem Prunke jeder Art die Stätte bereiteten, das Heer
der Maurer und Zimmerleute endlich abzog, da zog der König auch von dannen.
Kurz vor dem Kriege ist der Palast vollendet worden, den sein Bauherr nie
bewohnen sollte.
Trotz der barocken apokalyptischen Formen, in welchen König Georg dachte
und sich äußerte, trotz der halsstarrigen Unfehlbarkeit, bei welcher er fortwährend
auf das skandalöseste betrogen wurde, war sein Gemüth edler Regungen fähig;
warme Theilnahme, ja Verständniß für die Künste, die ihm zugänglich waren,
besonders für Musik, ist ihm nicht abzusprechen; — Züge. die. zusammengehalten
mit der Borsteilung von seiner Königsmission und dem daraus erwachsenen
herausfordernden Hochmuthe seines Regiments, dein Schicksal, das ihm geworden
ist. in der That etwas Tragisches geben.
Beiden königlichen Hoheiten von ehedem, sowohl ihm als dem Kurfürsten
von Hessen, der überdies den Vorzug hatte, seine Rechnung glatt abschließen zu
müssen, dient der dritte im Bund, auf dessen Ausgang wir im Obigen zurück¬
geblickt haben, zur vortheilhafter Folie. Alle menschliche Theilnahme entnimmt
ihr Maß instinctiv von der Energie der guten oder schlechten Kräfte, die einem
Gefallenen innewohnte. Sie geht leer aus, wo baare Schwäche und Kleinlich¬
keit den Inhalt bilden. Die Theilnahme für den weiland Herzog von Nassau
ist schwer zu classificiren; kann ein Plaidoyer für Charakter und für dorrn,
nass gelingen? Der Sturz des Welfenthrons hat den Boden stark erschüttert,
er war eine zwar reichlich gezeitigte, aber dennoch unerwartete Katastrophe; die
Entthronung des Kurfürsten hat sich ähnlich einem Naturereignisse vollzogen,
das als Resultat von lauter bestimmbaren Factoren kaum so lange beunruhigt,
bis es vorüber ist; durch das Geräusch des Luftdrucks aber, der den Herzog
Adolph entfernte, tönt wenig mehr als der Refrain der bisherigen nassauischen
Landesfortüne: „1ö jou est. es.it; risn ne va, Ms."
Die am Main fechtenden Armeen haben wir in unserm ersten Artikel in
folgender Stärke kennen gelernt:
General Vogel v. Falkenstein 48,000 Mann Infanterie, 3.300 Pferde.
96 Geschütze in drei Divisionen.
Prinz Karl Von Bayern: 36.000 Mann Infanterie, 7,000 Pferde, 162
Geschütze.
Prinz Alexander von Hessen: Würtenberger, Badenser, Hessen-Darmstädter
und Oestreicher, 32.800 Mann Infanterie, ö.000 Pferde und 130 Geschütze.
Ehe General v. Falkenstein gestattet war, gegen diese Truppen vorzugehen,
war ihm die Aufgabe geworden, Hannover und Hessen zu occupiren und wo
möglich die dortigen Streitkräfte unschädlich zu machen. Die turhcssischen Truppen
hatten sich ohne ihre Kriegsausrüstung abzuwarten und selbst ohne Munition
nach Mainz hingezogen; die Besitznahme des Landes war also leicht und der
dazu bestimmt gewesene General v. Bayer konnte mit seiner Division sofort
gegen Hannover und zwar in der Art verwandt werden, daß er der hannoverschen
Armee den Marsch nach Süden zur Vereinigung mit den Bayern sperrte. Die
letztern fingen Mitte Juni an sich bei Schweinfurt und Bamberg zu sammeln.
Der König von Hannover hatte seine Truppen in der Stärke von 18—19,000
Mann bei Göttingen, dem südlichsten Hauptort seines Staates versammelt und
suchte durch Verhandlungen der preußischen Action auszuweichen oder mindestens
Zeit zur Mobilmachung zu gewinnen.
General v. Manteuffel war nach Ablauf der zur Entscheidung gegebnen
Frist von Holstein her. General v. Goben aus Minden mit je einer Division
am 16. Juni in das Königreich eingerückt und dirigirten sich nach Hannover.
Diesem Stoß beschloß der König sich zu entziehen und nach Bayern zu gehen.
Am 20. Juni waren die hannoverschen Truppen einigermaßen marschbereit und
am 21. drangen sie. General Beyer in Kassel vermeidend, in preußisches Gebiet
ein, besetzten Heiligenstadt, am 22. Mühlhausen, am 23. Langensalza. Von hier
aus .wollte man nach Eisenach Vordringen, stieß aber an der Werra überall
auf Preußen und gab nach kurzem Kampf diese Absicht auf. Am 24. unter¬
nahm man darauf einen Marsch ins Gothaische, begegnete aber auch hier dem
Gegner, dem Regiment des Herzogs von Koburg. An ein wirkliches Erzwingen
des Durchmarsches dachte man nicht, obgleich der Gegner allenthalben nur
schwach war. Der König von Hannover entsandte nun einen Abgeordneten an
das bayerische Hauptquartier in Bamberg, Unterstützung suchend, erhielt aber
den sehr richtigen Bescheid: mit 19,000 Mann könne man sich allein durch¬
schlagen. Der 25. und 26. vergingen in Unterhandlungen mit Preußen, am 27.
wollte man wieder zurückgehen, aber die Preußen hatten unterdessen auch mehr
Truppen herangebracht und General v. Fließ erhielt den Befehl, mit seinen
Truppen, dem 11. Linien-, 20. Landwchrregimcnt und zwei Bataillonen des
25. Regiments, der Landwehr aus den Festungen der Provinz Sachsen, der
Linie von der Division Manteuffel, beide mir der Eisenbahn nach Gotha ge¬
führt, außerdem zwei Schwadronen Landwehr und einer Ausfailbatterie aus
Erfurt und endlich dem Regiment Gotha, den Gegner durch einen Angriff fest¬
zuhalten, um den zur Einschließung der Hannoveraner heranrückenden anderen
Regimentern Zeit zum Anmarsch zu geben.
Am 27. Juni wichen die Hannoveraner dem Anmarsch aus Langensalza
hinter die Unstrut bei Merxleben aus und stellten sich hier sehr vortheilhaft auf.
Die Truppe des General v. Fließ, die circa 8.000 Mann zählte, griff den
Gegner kühn an, wurde jedoch mit blutigen Köpfen abgewiesen. Die Hanno¬
veraner folgten aber nicht, sondern blieben stehen. Dadurch wurde der Zweck
des Angriffs erreicht. General v. Falkenstein brachte seine Truppen heran, schloß
die Hannoveraner von allen Seiten ein und am 29. capitulirte der König.
Nur vollster Mangel an Energie in der hannoverischen Leitung und die Un-
thätigkeit der Bayern von der andern Seite machten es möglich, daß General
v. Falkenstein mit den wenigen Verlusten bei Langensalza s4—-800 Mann) die
19.000 Hannoveraner aus der Zahl seiner Feinde streichen konnte. Wenn die
letzteren am 20. Juni statt nach Heiligenstadt u. s. w. auszuweichen, von Got-
klugen geraden Wegs südlich nach Bayern marschirten, konnten die schwachen
preußischen Bortruppen des Generals v. Beyer gar nicht daran denken, ihnen
mit Erfolg den Weg zu verlegen.
Am Tage der Kapitulation disponirte General v. Falkenstein seine Truppen
bereits für seine Weiteren Unternehmungen und am 1. Juli standen sie bei
Eisenach bereit, um gegen die Bayern vorzugehen, die sich inzwischen zur Unter¬
stützung der Hannoveraner nach Norden in Bewegung gehest hatten.
Während Prinz Alexander von Hessen in der Gegend von Frankfurt seine
Divisionen vereinigte und eine Stellung östlich und nordöstlich zum Schutze der
Bundesstadt bezog, hatte Prinz Karl von Bayern von Bamberg aus langsam
längs der Werra sein Corps in Bewegung gesetzt. Koburg wurde als feind¬
liches Land am 29, Juni besetzt, am 30. wurde das preußische Sust occupirt.
Hier erreichte den bayerischen Feldherrn die Nachricht von der Kapitulation der
Hannoveraner. Er beschloß nunmehr zur Vereinigung mit dem Prinzen von
Hessen, der den Befehl zum Marsch nach Fulda erhalten, sich ebenfalls nach
letzterem Orte zu wenden. Diese Bewegung aber wurde durch den Angriff der
Preußen unterbrochen.
Offenbar konnte General v. Falkenstein nur dann auf Erfolg gegen seine
Gegner rechnen, wenn er beide getrennt erhielt und jeden einzeln schlug. Er
schob also die Diviston Beyer auf der Straße von Eisenach nach Frankfurt
gegen Fulda vor und ging mit den Divisionen Manteuffel und Goben, die
letztere an der Töte, gegen die Bayern. — Am 2. Juli Abends trafen die
ersten Spitzen gegen einander; der bayerische Oberst Aldosser versuchte preußische
Feldwachen in dieser Nacht zu überfallen, wurde aber blutig abgewiesen und
selbst für diesen Krieg unfähig gemacht. Am 3. setzten die Bayern ihren Marsch
fort, stießen bei Dermbach auf die Brigade Kummer der Division Goben,
wichen davor aus und concentrirten sich bei KaUennordheim. Am 4. Juli blieben
die Preußen auf der Straße nach Kaltennordheim im Borgehen, während die
Bayern eine drei Meilen breite Front eingenommen und die Reservecavalerie
noch zwei Meilen weiter auf der fuldaer Straße gegen Hünfeld vorgeschoben
hatten. Die Reservecavalerie, sechs Regimenter, zwei Batterien unter Fürst
Taxis, stieß hier auf die Division Beyer. Ein von den Vortruppen dieser
Division abgegebener Kanonenschuß schlug in das vorderste Cürassierregiment
und brachte ihm einen Verlust von 28 Mann bei, worauf dieses Regiment und
n.ach und nach auch die übrigen Regimenter Kehrt machten. Die ganze Masse
wurde, wie es bei Cavalerie sich so leicht ereignet, sehr rasch von einer Panique
ergriffen und jagte unaufhaltsam zurück. Der erste Theil sammelte sich nach
einem Wege von fünf Meilen, andere sollen sechzehn Meilen gebraucht haben,
um zum Halten zu kommen. Das Schlimmste war, daß infolge dieses energischen
Rennens der größte Theil der Pferde unbrauchbar geworden war.
Die Division Goben also stieß mit ihren Töten bei Roßdorf und Wiesen¬
thal einerseits und bei Dermbach und Diedorf andererseits auf die Bayern,
rannte die vordersten Bataillone rasch über, sah aber nach und nach so bedeu¬
tende Massen vor sich erstehen, daß sie ein weiteres Vorgehen wie bis zum letzt¬
genannten Ort nicht mehr durchsetzen konnte, sondern Halt machte. Trotz dieser
schließlichen Zurückweisung des Gegners hatten die Gefechte doch genügt, um
den Prinzen Karl von Bayern zu veranlassen, den Marsch nach Fulda aufzu¬
geben und weiter südlich die Verbindung mit dem Prinzen von Hessen zu suchen,
der inzwischen drei Meilen westlich von Fulda bei Lauterbach angekommen war.
Die Bayern traten am 3. demnach den Marsch nach Süden an.
General v. Falkenstein glaubte die Bayern abgethan und wandte sich gegen
das Bundescorps. Nun wurde die Division Beyer zur Avantgarde, welcher
die Divisionen Goben und Manteuffel folgten. Der Prinz von Hessen aber
hielt bei der Nachricht von der Ankunft der Preußen bei Fulda für gut, auf
die nur durch Kampf zu erzwingende Verbindung mit den Bayern zu verzichten,
ging wieder nach Frankfurt und besetzte Gelnhausen, ein bedeutendes Defils,
durch welches die fulda-frankfurter Straße führt. Nunmehr hatte General
v. Falkenstein wieder freie Hand zwischen seinen beiden Gegnern und erachtete
es für seine Aufgabe, den nächsten sofort anzugreifen. Dies waren wieder die
Bayern, welche hinter der Saale bei Kissingen und Hammelburg Stellung ge¬
nommen hatten. Sie standen in einer Ausdehnung von 4—5 Meilen, die
Hauptmassen rechts rückwärts Kissingen gegen Münnerstadt. General Falken¬
stein aber griff am 10. mit der Division Beyer den linken Flügel bei Hammel¬
burg an, dirigirte General v. Goben gegen Kissingen, ziemlich das Centrum
des Gegners, demonstrirte mit ein paar Bataillonen der Division Manteuffel
gegen den rechten bayrischen Flügel und ließ den Rest dieser Diviston auf der
Straße nach Kissingen der Division Goben als Reserve folgen.
Bei Hammelburg war General v. Beyer in Ueberzahl und brachte den
Gegner sehr bald zum vollsten Rückzug. Bei Kissingen dagegen stieß General
v. Goben auf stärkere durch das Terrain sehr begünstigte Kräfte, drang aber
doch über den Fluß vor, besetzte das jenseitige User und wollte sich eben dort
häuslich niederlassen, als frische bayrische Truppen eintrafen. Auch diese wurden
geworfen und die Truppen bezogen ein Bivouac. Unterdeß war aber auch die
bayrische Division der Reserve vom rechten Flügel eingetroffen und griff die
Brigade Wrangel im Bivouac an. Die Vorposten wichen auf das Gros und
auch dies war genöthigt, sich weiter rückwärts zu sammeln. Von hier aber
ging es selbst zum Angriff vor und warf den Gegner weit über die frühere
Stellung hinaus.
Infolge dieser unglücklichen Gefechte sammelte Prinz Karl von Bayern sein
Corps bei Schweinfurt. General von Falkenstein ließ nur die Division Man-
teuffel den Bayern folgen; mit den beiden andern Divisionen 'trat er sofort an,
um auch das achte Bundescorps zu schlagen. General v. Manteuffel marschirte
bis 1'/- Meilen vor Schweinfurt, wich — was nach den Vorgängen schwer
zu motiviren war — einem schwachen Vorstoß der Bayern aus und als diese
dann hinter den Main gingen, nahm er seine Direction zur Wiedervereinigung
mit Falkenstein. Dieser hatte die Division Beyer gegen Gelnhausen vorgesandt
und war mit der Division Goben auf dem nächsten Wege über den Spessart
in der Richtung auf Aschaffenburg vorgegangen, wo Prinz Alexander von Hessen
seinen Gegner nicht erwartet und daher keine Vorbereitungen getroffen hatte.
Die Hessen« darmstädtische Division wurde eiligst nach Aschaffenburg gesandt,
mit dem Auftrage, den Gegner beim Dcfiliren des Spessart am 13. Juli anzu¬
greifen. Sie kam jedoch zu spät, denn sie fand General Goben ruhebedürftig
nach glücklich vollzogenen Uebergang. Die Hessen packten, sobald sie den Gegner
fanden, sehr wacker an. General Wrangel aber hielt mit dem Avantgarden-
Bataillon die vereinzelten Angriffe in dem rasch besetzten Frohnhofen so lange
auf, bis er sein Gros aus dem Bivouac heran hatte und widerstand dann leicht
allen fernern Bestrebungen der ganzen hessischen Division. Der Verlust der
letzteren, die immer wieder und wieder anstürmten und sich dem wohlgezielten
und raschen Feuer der gedeckt stehenden Infanterie aussetzten, soll mehr als
das Zehnfache der Gegner. 500 Mann, betragen haben. Ein kurzer, von
General von Goben veranlaßter Nachstoß warf sie schließlich bis hinter Aschaffen¬
burg zurück.
Am 14. Juli ging Goben. die Brigade Wrangel nördlich, die Brigade
Kummer südlich der Eisenbahn und des Laufachbaches gegen Aschaffenburg
selbst vor, das von der östreichischen Division unter General Neipperg besetzt
War. Es gelang dem General Kummer, auf der Südseite ein an der Stadt
gelegenes Wäldchen rasch zu nehmen und hier in die Siade einzudringen, ehe
die an der Nordseite aufgestellten Oestreicher zurück waren. 2000 Mann wurden
gefangen und der Rest in die Flucht geschlagen.
Prinz Alexander von Hessen, der IV- Meilen davon, in Seligenstadt seine
Truppen gesammelt hatte, gab den weitern Kampf auf und marschirte nach
Süden ab. während General v. Falkenstein an der Spitze der Division Goben
am 16. Juli in Frankfurt einrückte. General v. Manteuffel kam an diesem
Tage in Aschaffenburg, General v. Beyer in Gelnhausen an. —
So hatte Falkenstein in vierzehn Tagen die zunächst gestellte Aufgabe, das
nördlich des Main gelegene Deutschland zu erobern, gegen einen übermächtigen
Feind durchgeführt. Er hatte in einer Reibe von Gefechten fast allein mit der
Division Goben und diese wieder größtentheils mit der Brigade Wrangel den
Gegner von Ort zu Ort getrieben und geschlagen. Er konnte stolz auf seine
Leistungen blicken, seine Soldaten hingen mit dem vollsten Vertrauen an ihm
und jeder Preuße nennt seinen Namen mit höchster Anerkennung. Jede Kritik
beugt sich vor seinen Erfolgen. Trotz cilledem wurde er von seiner Feldherrn¬
laufbahn entfernt und auf den für den Gang des Krieges unbedeutenden
Posten eines Gouverneurs von Böhmen berufen. Warum, ist räthselhaft, aber
möglich, daß der alte Falkenstein etwas zu selbständig aufgetreten und daß dem
Könige die Fülle seiner Thaten noch nicht genügend bekannt gewesen ist.
Wie wenig Prinz Karl von Bayern und Prinz Alexander von Hessen ihren
Aufgaben als Heerführer genügt haben, bedarf weiter keiner Auseinandersetzung,
die Ereignisse selbst sprechen da einfach und deutlich genug. Keiner von beiden
hat den Willen und die Kraft gezeigt, durch Handeln seine Zwecke zu erfüllen.
Die lange von ihnen angestrebte Vereinigung fanden sie jetzt, aber nicht vor¬
wärts, sondern rückwärts. Der politisch gebotene Marsch des General v. Falken¬
stein nach Frankfurt gab den Weg frei. — Militärisch wird die Direction nach
Frankfurt aber grade deshalb für falsch angesehen, und man möchte glauben,
daß auch der politische Zweck sich mit den militärischen Erfordernissen hätte in
Einklang bringen lassen. Man brauchte nur die rheinischen Landwehren unter
dem Fürsten von Hohenzollern gegen Frankfurt zu dirigiren; ihnen hätte die Stadt
ohne Frage ihre Thore mit gleicher Behendigkeit geöffent, wie der Division
Goben. Keincnfalls erschien nothwendig, den General v. Manteuffel aus seiner
Stellung bei Schweinfurt den Bayern gegenüber abzuberufen. Noch stehen wir
aber den Ereignissen zu nahe, um schon mit Sicherheit bestimmen zu können,
wen die Schuld der mit der Uebernahme des Commandos der Mainarmee durch
General v. Manteuffel sich verbindenden militärischen Anordnungen trifft. Fast
hat es den Anschein, als ob es nach dem am 22. Juli mit Oestreich ab¬
geschlossenen Waffenstillstand weniger auf große militärische Erfolge als darauf
ankam, daß einerseits Hessen-Darmstadt besetzt und auch Würtemberg und Baden
vom Kriege berührt und deren Truppen, welche bis jetzt die preußische Ueber¬
macht noch nicht thatsächlich gefühlt hatten, getroffen wurden, und andrerseits,
daß die norddeutschen Staaten, welche bis dahin sich der Mitthätigkeit am Kriege
entzogen hatten, dem König Wilhelm thatsächlich Heeresfolge leisteten. —
So sehen wir denn die Mainarmee zu ungewohnter Stärke anwachsen.
Zu General Manteuffel stießen bei Frankfurt 3 Bataillone, 3 Escadrons, 2 Bat¬
terien Oldenburger, 2 Bataillone Hamburger und je 1 Bataillon Lübecker, Wald¬
ecker, Bremer und Schwarzburg-Sondershausener, während der Großherzog von
Mecklenburg-Schwerin die 5 Bataillone, 4 Escadrons, 2 Batterien seiner Trup¬
pen und 2 anhaltische Bataillone nach Leipzig führte. Außerdem wurden noch
6 neuformirte preußische Bataillone, 3 Landwehrcavalerieregimenter nach Frank¬
furt und 11 eben dergleichen Bataillone, 2 Landwehrcavalerieregimenter nebst
8 Batterien nach Leipzig dirigirt. — General Manteuffel hatte in seiner dama¬
ligen Stellung nach Abzug der Besatzung Frankfurts 60,000 Mann, der Groß-
Herzog bei Leipzig? 20,000 vereinigt und fortan operiren die beiden getrennten
Corps gegen die zwischen ihnen stehenden vereinten süddeutschen, ganz entgegen¬
gesetzt dem von Falkenstein innegehaltenen Manöver. Glücklicherweise fehlte
den Bundescorps ungeachtet der Vereinigung die Einheit, denn in den nun
folgenden Gefechten südlich des Main sehen wir heute die badische, morgen
die würtenbergische und übermorgen die bayrische Division geschlagen und dann
Alles vereint den Rückzug antreten.
General v. Manteuffel, dessen Division jetzt General v. Fließ führte, brach
am 21, von Frankfurt auf und ging über den Main durch das Darmstädtische;
er stand am 23. bei Miltenberg der feindlichen Aufstellung an der Tauber
gegenüber. Am 24. wurde die Tauberlinie angegriffen und an drei Orten
genommen. General Goben mit der Brigade Wrangel an der Töte schlug die
Würtenberger bei Bischoffsheim. während die Oldenburger und Bremenser,
unterstützt von Truppen des in Reserve folgenden Generals v. Beyer. die
Badenser bei Wehrbach zurückwarfen. General Fließ hatte auf dem linken
Flügel bei Wertheim das leichteste Gefecht gegen die Hessen-darmstädtische Division.
Die Bayern, welche nördlich standen, blieben unthätig.
Am 25. hatte Prinz Alexander von Hessen das 8. Corps bei Gerchsheim
aufgestellt, während die Bayern zwei Meilen nördlich bei Robbrunn standen.
General Manteuffel disponirte die Division Beyer über Helmstädt gegen die
Bayern und griff mit den beiden andern Divisionen das 8. Bundescvrps an.
Dieser Angriff konnte mit der Avantgarde der Brigade Kummer nicht vor¬
dringen, bei dem Eintreffen der Reserven des Generals v. Goben, der Olden¬
burger und bei einem gleichzeitigen Flankenangriffe des General Wrangel aber
wich der Gegner und zog sich nach dem befestigten Würzburg zurück. General
Goben bivouakirte den Abend vor letzteren Orte. Die Division Beyer traf bei
Helmstädt auf die Bayern und kam hier in einem sehr waldigen Terrain gegen
einen übermächtigen Gegner in ein lange hin- und herschwankendes, sehr weit
ausgedehntes Gefecht, zwang aber schließlich den Prinzen von Bayern zum Rück¬
zug und nahm sein Bivouak beiHelmstädt. — General Fließ traf noch am Abend
zur Unterstützung ein.
Am 26. ging der Prinz zum Angriff vor, wurde aber von den beiden
Divisionen nach einem hartnäckigen Gefecht geworfen, sodaß er sich noch in der
Nacht über den Main zurückzog. Auffallen muß, daß die Diviston Goben,
welche dem feindlichen Rückzug in der Flanke stand, an diesem Tage nicht ins
Gefecht eingriff; sonst wäre der Prinz nicht so einfach weggekommen. Da Ge¬
neral v. Goben bis jetzt nur Beweise der größten Thätigkeit und der entschie-
densten Gefechtslust gezeigt hatte, so wird man zu der Annahme gedrängt, daß
er durch höhere Befehle festgehalten wurde.
Am 27. Juli concentrirte sich die ganze Bundesarmee eine Meile östlich
Würzburg auf dem nördlichen Mainufer, während General v. Manteuffel auf
dem Südufer, den Rücken gegen Würtemberg und Baden, stand. Von Osten
her näherte sich der Großherzog von Mecklenburg und bewegte sich auf der Rück¬
zugslinie der Bayern. Am 28. Juli wurde Würzburg beschossen. Damit endete
auch hier der Krieg.
Die beiden Prinzen hatten sich in der Vereinigung einzeln schlagen lassen
und waren schließlich vom Gegner fast eingeschlossen. Die süddeutschen Truppen
haben fast überall ihre Schuldigkeit gethan, aber in ihren Führern lag keine
Kraft. Die Sorge um gute Positionen und um den Rückzug leitete allein ihre
Befehle und hielt sie ab, einzelne errungene Erfolge auszubeuten. Die Main«
armee hat ihre glänzenden Erfolge gegen einen überlegenen Gegner in einer
großen Zahl kleiner Gefechte mit einem Gesammtverlust von 3,874 Mann
errungen, während der Gegner außer den Gefangenen seinen Verlust mindestens
doppelt so hoch berechnet.
In dem Septemberheft der östreichischen Militärzeitschrift ist der Gesammt¬
verlust der preußischen Armee nach den namentlicher Verlustlisten wie folgt be¬
rechnet:
Gesammtverlust: 21,966 Köpfe; davon todt: 2.860 (162 Offiziere und
2,698 Mann).
Bei den Todten kommt auf 16—17 Mann, beim Gesammtverlust aber auf
27—28 Mann ein Offizier. —
Ein letzter Artikel soll die militärischen Resultate kurz zusammenfassen,
welche aus den Erfahrungen des Krieges folgen, der Deutschland seine jetzige
Gestalt gegeben hat.
Geschichte der französischen Malerei seit 1789 zugleich in ihrem Verhältniß zum
Politischen Leben, zur Gesittung und Literatur. Von Dr. Julius Meyer. I. Abth.
Von David bis zum Ausgange der romantischen Schule. Mit Holzschnitten. Leipzig,
E. A. Seemann. 1866.
Daß eine Nation zu keiner Zeit in einer Art der Culturäußerung sich er¬
schöpft, daß weder die großen politischen Epochen die nicht direct ihren nächsten
Idealen dienstbaren Gattungen der Geistesthätigkeit absorbiren. noch auch ein
blos ästhetischen Interessen hingegebenes Leben bei einer Nation möglich sei. ist
ein Erfahrungssatz, den ebenso wenig einerseits etwa das Cinquecento Italiens
oder die sogenannte Literaturzeit Deutschlands, wie andererseits die Zeit der
französischen Revolution umstößt. Auf geistigem Gebiete herrscht bei allen
Culturvölknn seit weit längerer Zeit als unsere landläufige populäre Geschichts-
betrachtung anerkennt, die Vierfelderwirthschaft; je tiefer wir eindringen lernen
in die unmittelbaren und bewußten Kundgebungen und in die stummen, aber
nicht sprachlosen Denkmale der Vorzeit, desto seltener werden die Brachfelder.
In der Natur alles Menschengeistes liegt ein universales Grundpnncip, und
die gesteigerte Individualität, die eine Nation repräsentirt, trägt, je schärfer wir
sie ins Auge fassen, desto deutlichere Züge des umfassenden, nach allen Rich¬
tungen ausstrahlenden Seelenlebens. Sei es auch, daß die Tendenzen, auf
welchen jeweilig der größere Nachdruck liegt und die höchsten Erfolge erreicht
werden, unter einander alterniren, so darf dabei doch nicht vergessen werden,
daß unsere Sympathie oder Gunst der Ueberlieferung Maß und Verhältniß in
erster Linie bestimmt, nicht die Dinge an sich, denen wir erst auf manchem
Umwege nahe kommen, gefördert bald durch die Coincidenz gleichartiger Inter¬
essen, öfter aber gestört durch die Hülle, welche die zwischenliegende Zeit um
ihre reine Gestalt legt. Aber grade dieser Schleier bringt ähnlich den optischen
Wirkungen der Luft in der Landschaft andererseits ein unersetzlich förderndes
Moment mit sich. Wie erst durch die Abtönungen der Luftreflexe, durch das
atmosphärische Leben die unzähligen Einzelheiten der äußern Welt für unser
Auge zu einem faßbaren Ganzen werden, so macht uns zeitlicher Abstand von
geschichtlichen Vorgängen fähiger, ihren Pragmatismus wahrzunehmen, sie zu
einer lebendigen Welt gleichsam wieder zusammenzuschauen. Je ferner Menschen
und Dinge rücken, desto reiner tritt ihr Jdealgebalt ins Bewußtsein der For¬
schung; denn er läutert sich mehr und mehr vom blos Zufälligen. Nicht jeder
Buckel und jede Unsauberkeit, die erscheint, ist getriebene Arbeit der Seele, aber
grade die Störungen im organischen Leben historischer Gestalten werden von
Zeitgenossen oft mit ungebührlichen Gewicht empfunden.
Unsere Zeit, die man nachmals unter anderm das classische Zeitalter der
Mechanik nennen wird, hat eine Erfindung ans Licht gebracht, die Photoplastik
genannt wird. Von einem Kopfe oder ganzem Körper werden durch in be¬
stimmten Abständen rundum aufgestellte photographische Apparate zu gleicher
Zeit eine Anzahl — 10, 20 — Contourbilder abgenommen. Die Umrisse dieser
silhoueltenartig ausgeschnittenen Bilder legt man sodann, genau in der Reihen¬
folge der Aufnahme und in gleichen Winkelabständen, an einen weichen Thon¬
klumpen, drückt sie in denselben ein, entfernt die Zwischenlager! der Thonschicht
— und das plastische Porträt steht in den Hauptzügen da. Offenbar lassen
sich die Prostlschnitte noch mannigfaltig vervollständigen und die Indiscretion
der Nachahmung so weit steigern, daß kaum eine Linie der Abweichung übrig¬
bleibt, — und dennoch tritt der Künstler den Bewunderern dieser Leistung mit
souveräner Ablehnung entgegen. Was seines Amtes ist, sieht er dadurch kaum
gefördert. Aus dem Vollen muß er schaffen, und man könnte begreifen, wenn
ihm solche Hilfe eher hinderlich wäre.
Anders hat der Historiker derartige Unterstützung mechanischer Mittel zu
schätzen. So wenig ihm die divinatorische Fähigkeit fehlen darf, ihm muß doch
in viel ausgedehnterem Grade das Material erst handwerksmäßig zubereitet sein,
ehe er schöpferisch damit zu walten das Recht und die Macht erhält. Grade
die neuere Geschichtsdarstellung hat eingesehen, daß ihr ein ähnliches Verfahren
ziemt, wie das, was wir an dem Beispiele der Pholoplastik erläuterten: sie
muß Prosilschnitte womöglich vom ganzen Umkreis menschlicher Cu,ltunnteressen
zu Gebote haben, selbst wenn sie nur nach einer Seite hin gerecht urtheilen
will. Denn im Kosmos der geschichtlichen Erscheinung giebt es schlechterdings
nichts, was vereinzelt oder durch sich allein bedingt, wäre. Merkbar oder un¬
merkbar wirken in einem Punkte alle Cultursphären mit.
Jeder neuen Schrift kann es nur zur Auszeichnung gereichen , wenn ihre
Lectüre Gedanken über die Gesetze und Controversen der Aufgabe weckt, die
seine Gattung bezeichnet. Aber acht blos dadurch, daß wir gediegene und ur¬
sprüngliche theoretische Grundanschau-ungen des Verfassers allenthalben wahr¬
nehmen, die sich warm und energisch dem Leser mittheilen, ist das Werk, aus
das oben hingewiesen wird, anregend und lehrreich. In Meyers Geschichte der
modernen Malerei in Frankreich haben wir auf seinem Gebiete zugleich ein
vortreffliches Specimen der allseitigen Orientirung, welche vom Geschichtsdarstellcr
zu verlangen immer mehr Bedürfniß geworden ist. Fein eindringende Beobach¬
tung, durchgebildeter Geschmack und schönes sprachliches Geschick entwerfen hier
vor dem Auge des Lesers ein Gewebe der Schilderung, in welchem die socialen,
literarischen und politischen Züge des nationalen Lehens, dem sein Stoff angehört,
geschmeidig und sich gegenseitig erklärend, vermittelnd oder steigernd ineinander¬
fließen.
Grade gegenüber der französischen Malerei von David bis zu den Roman¬
tikern Pflegen wir uns in Deutschland viel zu sehr bei allgemeinen Beurthei-
lungs-, oder richtiger Verurtheilungsformeln zu beruhigen. Die physiognomische
Mannigfaltigkeit der hierher gehörenden Künstler, die Details ihrer Leistungen,
die Genesis ihrer Entwickelung ist uns über Gebühr aus den Augen gekommen.
Deshalb scheint uns das erste Verdienst des vorliegenden Buches darin zu be-
stehen, daß es. indem es uns der Fülle der Erscheinungen näher führt, die
Verwandtschaften. Verschiedenheiten, Abfolgen erkennbar macht, welche aus der
Ferne gesehen verschwimmen. Die David, Girodet, G6rard. die Gros, Dela-
croix. G6ricault, Robert-Fleury u. s. w. sind in Gefahr, bei dem verhältnißmäßig
geringen Interesse, das gemeinhin auf sie gewendet wird, in eine generelle
Masse zu verschmelzen. Julius Meyer hat ihre Namen, unterstützt durch die
beigegebenen Abbildungen, wieder zu Individualitäten herausgestaltet, denen
seine frische und beredte Darstellungsweise auch beim großen Kunstpublikum neues
Verständniß vermittelt. Und vermöge der geistvollen Beleuchtung mitwirkender
und mitbestimmender Einflüsse und Gleichzeitigkeiten des ganzen Umfanges der
Culturatmosphäre gelingt es ihm andererseits in hohem Grade, das wechselnde
Kommen und Gehen. Erscheinen und Verschwinden, das die Zeitgenossen der
Schaffenden verwirrt, für uns zum genießbaren , antheilheischenden Werden zu
ordnen.
Auf diese Weise trägt das Buch dazu bei, daß Zeitalter mit Zeitalter in
den hier berührten Interessen gleichsam Zwiesprache mit einander führen, sich
gegenseitig verstehen und auseinandersetzen lernen. Wenn der Verfasser durch
seine Rückblicke auf deutsche Kunst ab und zu der französischen zu günstiges
Relief zu geben scheint, so mag das Entschuldigung finden, wenn man sich klar
macht, wie lebhaft grade beim Studium der Franzosen die Mängel empfunden
werden, welche unserer heimischen Kunst den wohlverdienten populären Auf¬
schwung gestört haben. Ueberdies glauben wir die Ansichten des Verfassers
genau genug zu kennen, um ihn von der hieraus etwa zu argwöhnender Ein¬
seitigkeit völlig frei zu sprechen. Sö möge sein Buch, dessen Verbreitung wir
ungern unter der Mißgunst der jüngsten Zeitverhältnisse leiden sahen, aufs neue
Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Sachsen steht bevor. Man
sieht ihr hier mit denselben Stoßseufzern entgegen wie in betr neu annectirten
preußischen Provinzen. Und dennoch wird sie wie für das ganze Land, so für
den Soldatenstand insbesondere sich als die größte Wohlthat erweisen. Man
hat uns berichtet, wie in kleinen Städten Sachsens, nachdem die preußische
Occupation derselben aufgehört, die Rückkehr der braven Landeskinder mit dem
lautesten Jubel begrüßt worden ist; wie man beschlossen, sie doppelt so gut zu
halten, als man die Preußen halten mußte, wie man jedoch in kürzester Zeit
bei allem treuen Wohlwollen für die Seinen doch den Unterschied empfunden,
hier fast nur Leute aus den unteren Classen des Volkes vor sich zu haben,
während das preußische Heer einen so bedeutenden Kern der mittleren und
höheren Stände in sich schloß, dessen überlegene Bildung in der Rückwirkung
auf das ganze Corps wie in dem Verkehr nach außen sich unverkennbar ab¬
zeichnete.
So weit die Eindrücke des Bürgers. Wie aber der sächsische Soldat selbst
fühlt, das soll uns eines seiner Lieder sagen. Das Volk spricht in seinem Ge¬
sänge immer mit Aufrichtigkeit; nun denn, rührender und poetischer ist wohl
das Gefühl eines exclusiver Soldatenstandes von allen den ihm aufgedrungenen
Leiden, das ganz allein nur in dem muthigen Entschlüsse eines wackeren Herzens
seine Linderung findet, nie ausgesprochen worden, als in den folgenden Zeilen:
Das Lied ist nicht völlig neu; in den Dörfern um Leipzig kennt es jeder
Bauerbursche, die Melodie ist eine kräftige Marschweise. Als man mir es
vor drei Jahren vorsang, war ich von der Schönheit des poetischen Ausdrucks
ergriffen; aber es jetzt wieder singen zu hören, geht einem durchs Herz. Bren¬
tanos lustige Musikanten sind Kinderspiel dagegen. Indeß, sind wir Spartaner
geworden, da wir zwei Könige zu haben scheinen, so werden sie und guter Muth
des Volkes dafür sorgen, daß die beiden letzten Zeilen nicht für unsere heim¬
kehrenden Krieger zur Wahrheit werden, und die Heranziehung des ganzen
Volkes zum Waffendienst wird in einem erhöhten, edlen Gemeingefühl bald
durch Lieder freudiger Zuversicht das hier wiedergegebene verdrängen.
Wir erfüllen nur eine Pflicht der Gerechtigkeit, wenn wir, leider besonderer
Umstände halber erst jetzt, auf dieses Werk aufmerksam machen. Die specielle Fach¬
kritik hat zum Theil sehr lebhafte Ausstellungen gegen dasselbe erhoben. Sie hat
auch unsrer Ueberzeugung nach zumeist Recht, aber man wird, um billig zu urtheilen,
beachten müssen, daß hier ein Versuch vorliegt, eine Geschichte der Musik zu geben,
wobei man einzelne Flüchtigkeiten, leider auch zuweilen eine etwas gespreizte Aus¬
drucksweise in den Kauf nehmen muß, wenn nur, wie hier geschehen, mit freiem
Blick, ausgebreiteter Kenntniß und mit Geist die Entwickelung einer Kunst dargestellt
wird, die mehr als irgendeine andere sich den Gesetzen organischer historischer Ent¬
wickelung im Großen zu entziehen scheint, und bei der der centrifugale Charakter so
vieler hervorragender Vertreter das Gesammtbild immer und immer wieder in ein
Mosaik aufzulösen droht. Das Werk ist als einer der hervorragendsten Versuche zu
bezeichnen, welche in neuerer Zeit, nicht eine tendenziöse Zuspitzung auf eine moderne
Coterie oder eine lose Aneinanderreihung einzelner Biographien, sondern eine im
vollen Wortsinne historische Darstellung der Musikentwickelung beabsichtigen.
Buch und Verfasser sind uns beim Lesen und gelegentlichen: Wiederlesen des
Werkes lieb geworden und lieb geblieben, wenn wir auch wenig einverstanden
mit der Wahl des Stoffes und der Art seiner Behandlung sein können. In der
That, wenn dem Musiker Reichardt ein Großoctavband von 662 Seiten gewidmet
wird — zu welchem Umfange soll dann die musikalische Literatur anwachsen, sowie
sie auch nur ihre Ehrenschulden an die hervorragendsten Meister abtragen will!
Grade aus dein Buche selbst, welches mit einer an sich sehr rühmlichen Genauigkeit
und Emsigkeit gearbeitet ist, haben wir lernen müssen, daß seinem Helden mit einer
mäßig kleinen Monographie vollauf genug geschehen wäre. Denn allerdings, die be¬
geisterten Urtheile über den Komponisten Reichardt, die der Verfasser überreich durch
sein Werk ausstreut, müssen wir ihm zu vertreten überlassen, auch zu theilen ver¬
mögen wir sie nicht, nach dem was uns von Reichardts Musik bekannt ist. Grade
bei ihm und der nicht zu verkennenden Vergessenheit, in die der einst Vielberühmte
und Viclgewandte gerathen ist, muß man an Lessings Wort von der Gerechtigkeit
der Nachwelt denken, und selbst der durchaus ehrliche gute Wille des vorliegenden
Werkes wird es nicht vermögen, jenen Schlummer zu stören. Doch sehen wir von
den unläugbare» Mißgriffen des Werk'.s ab, so zeigt es eine so ehrenwerthe tüchtige
und edle Gesir ung, vermag es, was wir unter allen Umständen hoch anschlagen,
sich mit einer aufrichtigen und herzlichen Begeisterung für seinen Stoff zu erfüllen,
daß wir unser Eingangs ausgesprochenes Urtheil über den Verfasser und sein Buch
vornehmlich hierauf stutzen. Außerdem erkennt man überall den technisch durchge¬
bildeten Musiker und einen Schriftsteller, der nach Kräften bemüht gewesen ist, aus
dem Vollen zu arbeiten, das Material in möglichster Vollständigkeit herbeizuschaffen
und zu ordnen. Diesem Streben verdankt man nun auch eine große Anzahl
interessanter durch das Ganze verstreuter Mittheilungen. Zu den anziehendsten der¬
selbe» rechnen wir die Friedrich den Großen, seine Ausübung und Pflege der Musik
betreffenden Abschnitte. — Ein Register oder wenigstens ein Jnhaltsverzeichniß ist
bei der Fülle des in dem Bande zusammengedrängten Stoffes nur ungern zu ent¬
behren. —
Man wird nichts dawider einzuwenden haben, wenn irgendein begeisterter Bun-
desbrüder in dem frohen Bewußtsein, daß auch Mozart Maurer gewesen sei, diese
Seite seines Lebens einer besonderen Darstellung widmet, ovschon dies bereits in
O. Jahns Mozartbiographie Band ?, psx. 398 ff. zur Genüge geschehen ist. Be¬
denklicher ist es, wenn dieser begeisterte Maurer dadurch hofft „etwas dazu beizutragen,
daß die Verehrer Mozarts in ihm nicht nur deu großen Meister der Töne, sondern
anch den großen Mann und edlen Menschen verehren". Am bedenklichsten aber, wenn
der Text der Zauberflöte alles Ernstes ausgelegt wird, wie folgt : „Sarqstro ist der
zu jener Zeit in Wien hochangesehene Bundesmcister Born, die Königin der Nacht
ist Maria Theresia, welche für den Bund wenig eingenommen war. Monostatos ist
die päpstliche Klerisei und deren Anhang, das Mönchthum. Tamino niemand Ge¬
ringeres als Kaiser Joseph der Zweite, seim geliebte Pamina ist das „östreichische
Volk in seinem innersten und edelsten Kern, während Papageno und Papagena dessen
harmlos heitere und genußsüchtige Seite darstellen." Wir wissen nicht, ob diese Art
von Auslegung irgendwie specifisch maurerisch genannt werden kann. Aber den
sicheren Boden einfachen und gesunden Verständnisses würde der Verfasser sich be¬
wahrt haben, wenn er sich mit der Benutzung der Andeutungen bei Jahr 4 va^- 602 ff.
begnügt hätte.
Nach einer kurzen Einleitung, in der die Ausbildung der Sonate als Kunstform
kurz dargestellt wird, betrachtet der Verfasser die einzelnen Sonaten der Opuszahl
folgend, und schließt im letzten Abschnitte (pax. 125) allgemeine Betrachtungen
an. Die Sonaten selbst gliedert er in 5 Gruppen, von denen die erste der frühesten
Jugend Beethovens angehört, die zweite Haydn-Mozartischen Einfluß deutlich erkennen
läßt. Erst mit der dritten beginnt die ausgeprägte Individualität des Meisters, die
sich mit der 4 und 5 immer mehr vervollkommnet. Wir stimmen im Einzelnen
dem Verfasser meist nicht bei und verwahren uns besonders gegen das Hineintragen
poetischer Elemente in die Musikbeteachtung, wie sie besonders durch Marx beliebt
geworden sind, machen aber aufmerksam auf die allgemeinen Gesichtspunkte, welche
der Verfasser für die recht eigentlich vollendeten Sonaten (etwa von Ox. 26 an)
aufstellt, und welche Beachtung verdienen.
Diese kleine Briefsammlung entlehnt ihr Recht, selbständig herausgegeben zu
werden, keineswegs allein dem Vorzuge, überhaupt mit dem Namen des großen
Meisters geschmückt zu sein. Sie ist vielmehr ein überaus liebenswürdiger Beitrag
-zu den Korrespondenzen Beethovens und eine doppelt willkommene Ergänzung, weil
sie Denkmal eines Verhältnisses ist, das dem Wesen des Heroen einen feinen an-
muthig-menschlichen Zug hinzufügt. In der Zeit, da das große Musikpublikum
Wiens, das man sich irrthümlich um Beethoven geschaart denkt, noch am Baraken
hing und in der Bewunderung Rossinis schwelgte, war die schöne und geistreiche
Mark Erdödy, geborne Gräfin Niszky, die Seele des kleinen Kreises Auscrwühltcr,
die dem großen Freunde nicht blos die Lasten des täglichen Lebens durch Rath und
That erleichterten, ihm— wie sich ein Zeitgenosse ausdrückt —> seine Akademie-
billets unterbrachten, Wäsche schenkte» und häusliche Unebenheiten schlichteten, sondern
sie war in weit höheren Sinne die freundliche Nymphe, „hilfreich und tröstlich"
und von tiefem Verständniß für Beethovens Kunst durchdrungen. So spann sich
zwischen ihr und tun Meister ein goldener Faden von Beziehungen, die bald scherz¬
haft-neckisch, bald ernst erscheinend, immer von so schöner Wärme und so umfassen¬
den Antheil zeugen, daß sie nicht unwürdig sind, mit dem Verhältnisse Michelangelos
zur Vittoria Colonna verglichen zu werden. Der Herausgeber hat dem anmuthigen
Kleinod die würdigste Fassung gegeben und mit feinem Tact das Costüm gehütet, ver¬
möge dessen wir lebhaft in die Gegenwart jener Vergangenheit zurückversetzt werden.
!.!<!,.> >''>-' , - - ^ - , ' - ^
Nicht der Ehrgeiz, den trefflichen Biographien Blüchers eine neue hinzuzufügen,
veranlaßt den Verfasser zur Wiederhcrausgabc dieses Tagebuchs der rheinischen Cam¬
pagne von 1793 und 1794, welches der Held „nur für seine Freunde und für
diejenigen abgefaßt, die bei Durchlesung desselben manche angenehme Rückerinnerung
empfinden werden." Die Absicht ist darauf gerichtet, das Gedächtniß an die ersten
größere» Leistungen des Mannes aufzufrischen, die bei dem Glänze der Thaten des
Greises leicht vergessen werden. Dies geschieht auf Grund eines Textes jener Auf¬
zeichnungen, der in mancher Rücksicht eigenthümlichen Werth beanspruchen darf.
Das erste Original haben wir hier allerdings nicht vor-uns; aber dem neuen Ab¬
drucke liegt das Corrccturexcmplar des ersten als Manuscript vertheilten zu Grunde,
den bekanntlich Nivbentrop und v. d. Goltz redigirt haben. Dieses Handexemplar,
wahrscheinlich aus der dcckcrschcn Officin nach Hamburg gelangt, befindet sich in
Herrn Knorrs Besitz. Die Veröffentlichung desselben, die manche hübsche Variante
des ohnehin äußerst seltenen vom Grafen Ahlefcld-Laurvig in Schleswig veranstalteten
zweiten Druckes bringt, ist daher sehr dankenswerth. Die vorausgeschickte kurze
Lebensschilderung ist mit viel Wärme und Kenntniß geschrieben.
Eine höchst interessante Monographie, welche nicht blos eingehendes Zeugen¬
verhör anstellt über die mehr oder minder poetischen Quellen zur Vorgeschichte des
schweizerischen Befreiungskampfes, sondern es hauptsächlich darauf absieht, die ein¬
zelnen hierher gehörigen schriftlichen Denkmäler so zu sagen in ihrer gegenseitigen
Familicnbeziehnng darzustellen. Aus der Urkundensammlung des „Weißen Buches"
(im Archive von Obwalten), dessen Niederschrift in die zweite Hälfte des fünfzehnten
Jahrhunderts zu setzen ist, läßt sich nach des Verfassers Urtheil die Jneinanderfügung
zweier Reihen von Berichten cvnstcttircn, die man trennen kann. Die eine der-
, selben behandelt die Tcllgeschichte, die andere die ursprünglich wohl selbständige, wenig¬
stens in sich völlig geschlossene Sage vom Nütlibund. In der Auffassung des Gc-
heunbnndcs weichen diese Urkunden von der Erzählung des um dieselbe Zeit schreibenden
Chorhcnn Hemmcrlin (Mollcolus) von Zürich dergestalt ab, daß die Annahme nahe
liegt, bei letzterem seien Bruchstücke einer älteren, im weißen Buch dagegen eine
spätere Gestalt der Sage aufbewahrt, die nachmals aufs willkürlichste in Conncx
gebracht und als Ganzes behandelt worden sind. Als historischer Kern werden die
Ereignisse festgehalten, auf welche sich das Breve Innocenz des Vierten bezieht. Ueber«
Haupt platirt der Verfasser gegenüber der neuerdings etwas weit getriebenen Mytholo-
gisirung der betreffenden Sagcnstoffc für Anerkennung zahlreicher geschichtlicher Grund-
züge. — Ein Anhang theilt das älteste Tellcnschauspiel mit, dessen erste Ausgabe (ein
Exemplar befindet sich auf der berliner Bibliothek) wahrscheinlich in die zweite Hälfte
des sechszehnten Jahrhunderts fällt, und hier mit Vergleichung und Benutzung der
neuern Texte reproducirt wird. — Die ganze Arbeit giebt dem Forscher auf gleichem
Gebiete zahlreiche sehr schützcnswcrthe Anhaltepunkte.
Im Vvrl^ nos IZinlinAlitnIlisvUvn Institut« in vnrxkansLn srsvbisn soovsn
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Itg-Iisn von I.. R-z-vonstoin, Stanlstiolt in 4 IZIiMsrn, 20 — ^.ut
I-oinvanü, in Luonkoi'in 1 Ktnlr.
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izs N<zti5 <ier Wx,t>ndg.Krim, mit »»mmtlivlrsn ^.unkltonuniitvn, allo 1?ostlinivn, öl>.mpt- und
1-lsoIlitt'-(Zourso mit s.Avr Se-rtionsn; alis v^iontiZen 1?ouiistvn->V<ZU0 mit c?s»^ ^e^se^Ac?»
^sssK»»es^ WÄMenös». — vis 0»-es,?»Ms^> vis 211 den wiebti^om vöiforn um^vreivlnzud, sin>Z
xolitisvnLr <Zuii.Iität vlassitivirt. — vis Sod^><,sseb'o/i^^s ist eosn so
I>nönÄ !»is Iclar> IZovölKvi unks^^l uncl
DsÄi^Iiob ant toxoA^ax/^'so/es«» Natorial bearvoitst, ist sie -in^Ioieii dis co^eLtes^s AÄ»-es
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^? IZI. ^IpvuI>i^II,insvI. — L IZI. L»IIc^nIu»II>inilvI. —
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Mnisolio NaUiinsvI. -— 3 IZI. KIc^u<Jm».v. IIr.IV-
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Z^Ä Äio norÄÄeutseKkn
16, MS?one t«?^ö A)i>o/»tiAS»
Ein Kaiserreich für ein Programm, d. h. für planvolles Handeln, könnte mah
den östreichischen Staatsmännern zurufen, aber dazu fehlt ihnen vor allem der gute
Wille. Man hatte sich daran gewöhnt diesen Willen bei Herrn v. Schmerling vor-,
auszusetzen, doch die Logik der Thatsachen belehrte jedermann eines Bessern. Der
Reichsrath hatte schon in seinem Entstehen eine blos finanzielle Bedeutung, dem
gesunkenen Staatscredit sollte er aufhelfen und selbst in diesem Punkte war
seine Wirksamkeit illusorisch, man häufte Schulden hinter seinem Rücken. Im
Innern blieb es bei der alten Beamtenwirthschaft, die Reactionäre behielten
ihre einflußreichen Stellen, auf der Presse lastete der Druck von Gesetzen aus
der Reactionszeit, die Abänderung des Concordats sollte dessen Verfasser, Weih«
bischof Fehler, in Rom vermitteln, aber seine Berichte blieben Geheimniß des
Staatsministcrs, der mit dem jesuitischen Cardinal Rauscher unter der Decke
spielte.
In äußeren Angelegenheiten war dem Reichsrath nur ausnahmsweise und
aus besonderem Freimuth ein Wort gegönnt, man bewies ihm aber in der
Schleswig-holsteinschen Frage die Nutzlosigkeit jedes Versuches einer Einsprache.
Es herrschte im Ministerium eine unüberwindliche Furcht vor den demokratischen
Deutschen, von denen man sich energisch lossagte. Was Wunder, wenn dem
Ministerium Schmerling am Ende auch seine treuesten Anhänger Opposition
machten! Die Stunde der alten Feudalen war gekommen. Ungarn, das Land
der Magnaten, durfte, wie sie meinten, nicht länger gehemmt bleiben in der
Ausübung seiner verfassungsmäßigen Rechte. Hinter dem Rücken des Minister-
Präsidenten Erzherzog Rainer und des Staatsministcrs wurde auf Andringen
des Grafen Festetics und Genossen Herr v. Majlath zum ungarischen Hofkanzler
ernannt, Graf Zichy vermittelte j^en beiden die von ihm gemachte Entdeckung,
worauf sie dann noch am selben Abende ihre Demission einstellten. Es galt
noch als staatsmännische Mäßigung, daß man an Schmerlings Stelle den böh¬
mischen Statthalter Graf Belcredi setzte, als ob sein Vorleben, seine Geistes¬
verwandtschaft mit Clam-Martinitz und Leo Thun aller Welt, ein Geheimniß
geblieben. Selbst die Journalisten schrieben sich halb die Finger wund, ihm
eine zeitgemäße Anschauung der Dinge aufzudrängen, ja man erblickte in der
Niederschlagung der noch beHangende» Preßprocesse schon den Morgenstern einer
freisinnigeren Aera, während diese Gunst doch meist den Ultramontanen und
Neactionären zu statten kam.
Die Enttäuschung, wenn es überhaupt für Urtheilsfähige eine gab. ließ
nicht allzulange auf sich warten. Das kaiserliche Manifest vom -20. Sept. 1866
und dessen nachträglich erschienene officielle Erläuterung lüfteten die geheimniß-
volle Decke von den dunklen Plänen, die man fast zwei Monate lang berathen
und ausgearbeitet. Pratobevera hatte schon in der Schlußsitzung des Reichs-
rathcs eine düstere Ahnung davon, indem er sagte: „Ob und in welcher Weise
wir uns in diesem Hause wieder begegnen werden, das ist uns heute wohl noch
ein Räthsel." Er kannte die Atmosphäre aus langjähriger Erfahrung. Von
allen Neichsgrundgesctzen wurde gerade das, welches die constitutionelle Berathung
gemeinsamer Angelegenheiten verbürgte, das Gesetz über die Reichsvertretung,
ja dieses allein Wirt oder richtiger aufgehoben, denn diese sogenannte Sistirung
stützte sich auf den Umstand, daß „die Gesammtheit aller Länder dieses Grund¬
gesetz noch gar nicht als rechtlich giltiges und wirksames Verfassuiigsgesetz an¬
genommen hat." AIs ob das Februarpatcnt, das Octobcrdiplom, die früheren
Verfassungen und deren Widerruf die Giltigkeit ihrer Rechtskraft an die Zu¬
stimmung der Völker geknüpft, als ob der Begriff der Octroyirung diese nicht
selbst ausschlösse! Durch mehr als vier Jahre wurde der Reichsrath vom Kaiser
oder den Erzherzogen an seiner Statt eröffnet und geschlossen, seine Gesetze als
giltig für das ganze Reich veröffentlicht und gehandhabt, die Einsprache der
Ungarn war durch kaiserliches Rescript hintangcwiescn und ihrem Starrsinn
schlechtweg erklärt: „Wir können warten;" nun mit einem Male, als sie all-
mälig mürbe zu werden begannen, lag in dem obligatorisch kundgemachten
Reichsgesetze „eine tiefe Verletzung des legitimen und constitutionellen Rechtes".
Als legitimes Recht galten nunmehr blos die Landesordnungen, als legitime
Vertreter nur die Landtagsabgeordneten. Das bisherige Wirken des Reichs¬
rathes nannte man eine „Nechtsfiction", dem Verfassungsleben fehlte jede „feste
dauernde Grundlage", die Auflassung des Gesetzes über die Reichsvertrctung
galt Ungarn und Kroatien gegenüber als „der allein correcte Standpunkt".
Das klang unverhohlen wie eine Umkehr von der falschen Bahn des Februar¬
patentes, wie eine Sühne für die Mißachtung der „Nechtsbedenken", die einen
großen Theil des Reiches von dem gemeinsamen legislativen Wirken ferne ge-
halten. Die Vorlage des Octoberdiploms und der Februarverfassung an den
ungarischen und kroatischen Landtag war nur Sache der Form, denn von dort
aus ging ja der Widerstand, der Volkswille diente als Hebel. Man versäumte
nicht, schon im voraus zu betonen, daß selbst dem engeren Reichsrath „keine
wie immer geartete Mitwirkung bei der Lösung von Verfassungsfragen zukömmt,"
diese war. wie nachher bekannt wurde, den von den einzelnen Landtagen abzu¬
ordnenden Deputirten zugedacht, wofür trotz aller officiellen Abläugnung eine
neue Octroyirung in Aussicht stand. Ein solcher Generallandtag war nichts
Neues. Hatte doch schon an der Neige des Mittelalters im Jahre 1518 „der
letzte Ritter" die Abgeordneten der altöstreichischen Erdtaube nach Innsbruck be¬
rufen, um seine Schulden zu übernehmen. Der jetzt inaugurirte wird nicht nur
die Erbschaft der Restaurationsepoche, sondern auch jene der allerletzten Posten
aus Belcredis Inventar anzutreten haben. Außerdem da auch „die Nechts-
continuität der Länder diesseits der Leitha nur von den Landesordnungen
ausgehen kann", liegt ihm die Pflicht ob, die alten Postulatenlandtage wieder¬
herzustellen, jene Säulen des Rechts und Goldgruben der Svndergelüste, die
allein noch die Liebe zum Throne und angestammten Herrscherhaus in unver¬
wüstlicher Gluth erhalten. Die Ultramontanen waren außer sich vor Jubel,
denn bei der Zersplitterung aller Theile und Schwüle des Ganzen blühte ihr
Weizen und Belcredi stieg täglich in der Gunst der leitenden Kreise, denen das
Gedeihen der Jesuiten den Segen von oben bringt.
Die Kundgebung des Manifestes glich der Oeffnung von Pandoras Büchse:
Prvvinzialgeist, Nationalilätenhader und Haß gegen die Deutschen entbrannte in
allen Theilen des Reiches. Wo in den cisleithanischen Landtagen irgendein
halbbarbarischer Stamm vertreten war, blies er Sturm gegen die deutsche
Knechtung, die Polen, Czechen und Südslaven bejubelten das Manifest als
Signal zum Kampfe gegen das Fremdlingsjoch der Cultur, allen nickte der
Sistirungsminister ein gnädiges Lächeln zu, nur die Proteste der Deutschen
wurden bei Seite gelegt oder wohl gar zurückgewiesen, wie jener der Vorarl¬
berger. deren Landeshauptmann ihn noch persönlich mit Entlassung aus dem
Staatsdienst und karger Bemessung seines Ruhegehaltes büßte. Doch selbst die
Ungarn, „deren Herzen so warm und patriotisch schlagen", erzeigten sich keines¬
wegs dankbar. Man hatte ihnen zu Liebe die magyarischen Regalisten in
Siebenbürgen wiedereingesetzt, selbst unter den Kroaten für sie geworben, und
dennoch genügte ein volles Halbjahr nicht, die gemeinsam zu berathenden Reichs-
angelegenheiten mit ihnen festzustellen. Da bot denn endlich der preußische
Krieg einen willkommenen Vorwand, die Session zu übertragen.
Alle weiteren Versuche und Verhandlungen dieser Art sollten nur die
Zerfahrenheit der widerstrebenden Elemente noch schärfer ausbilden, die freie
Bahn der Verständigung sollte zum offenen Zwiespalt führen, das war eben das
Ziel, das man anstrebte. Graf Belcredi wird die Genugthuung haben, die
östreichischen Völker belehren zu können, daß der Standpunkt von ehedem der
allein richtige, der Absolutismus die allein mögliche Verfassungsform für
das vielartige Reich im Südosten, daß er allen alles gewährt, Einheit dem
Staate und Freiheit dem Einzelnen, jene Freiheit nämlich, die man ihm schon
als Lohn der Kämpfe gegen Napoleon den Ersten pries, „seine eigenen Ge-
setze zu bewahren".
Das Gelingen dieses Staatsklugen Planes geht mit Riesenschritten seiner
Vollendung entgegen. Selbst die Deutschen sind uneins geworden, gespalten in
Autonomisten und Centralisten. Ebenso wird in Ungarn weder Deal, noch die
Partei des „Hom" (Vaterland) die aufrichtige Versöhnung herbeiführen; Czechien
verlangt nur nach der Wenzelskrone. Polens Wünsche sind gestillt durch den
Grafen Agenor v. Goluchowsky. Dazu kommt, daß auch die Staatsschuld so
schnell reitet wie die Todten, denn sie wuchs mit den letzten Ereignissen um
nahezu 500 Millionen und das neueste Darlehen wurde zur Hälfte des Nenn¬
werthes aufgenommen. Das hält auf die Dauer auch ein Staat mit den
reichsten Hilfsquellen nicht aus, geschweige denn ein solcher, dessen Gewerbsfleiß
so schwer betroffen wurde. Ein herzhafter Schritt könnte diesfalls jede Volks¬
vertretung für lange entbehrlich machen.
Doch der verhängnißvolle Lauf der Dinge ist durch einen neuen Einfall
unterbrochen; Freiherr v. Beust hat sein gewandtes Talent Oestreich zur Verfügung
gestellt. Hand in Hand mit dem Staatsminister. der seinem Traume von der
Wiedererweckung der Gaugrafen entsagt, wird er den Verfassungsbau zum Ab¬
schluß bringen. Vertrauen und Muth werden durch die Verbindung mit den West-
mächtcn wiederkehren. Allen Versicherungen von der Politik des Friedens und
der Versöhnlichkeit ohngeachtet scheint uns hier die Ernennung des Freiherrn
v. Beust zum östreichischen Minister des Auswärtigen mehr Vorliebe für die alte
Bundesacte als Anerkennung der Neugestaltung Deutschlands, mehr Festhalten
am Legitimitätsprincip als Fortschritt auf constitutioneller Bahn anzudeuten.
Möglich, daß wieder einige halbe Zugeständnisse gemacht werden, aber die
Halbheiten waren eben stets das Unglück der östreichischen Regierung. Man
behielt in der Februarverfassung die Landtage bei, stellte ein den alten Ständen
ähnliches Institut her und baute dadurch die Brücke für völlige Rückkehr zum
Absolutismus. Wie dieser das Mark des Staates angefressen und welche Früchte
die Günstlings- und Pfaffenwirthschaft getragen, sagte jedem mit Donnerstimme,
der zwölftägige Feldzug gegen Preußen, und siehe da, die Schwäche des Staats
wird durch Beseitigung einiger Generale geheilt, und die wälschen Jesuiten über¬
ziehen wie Heuschrecken das deutsche Land. Wenn das Ministerium Beust-Belcredi
in diesem Geiste fortfährt, wird es wenigstens die Entdeckung machen, daß infolge
des nächsten Krieges einige Provinzen losgeschält und das Band der übrigen
gelockert wird. Oder soll sie vielleicht der Schutz ihrer materiellen und geistigen
Interessen, jener der Freiheit und Wissenschaft, an die Nachkommen Arpads
fesseln? Wenn Herrn v. Beust überhaupt daran läge, dem alternden Kaiserstaate
neues Leben einzuhauchen, würde er sich trennen müssen von der Gemeinschaft
mit dem Grafen Belcredi, eine der jetzigen schnurstracks entgegengesetzte Bahn
einschlagen. Antipode des starren Absolutismus, des blinden Feudalismus und
des mittelalterlichen Concordats werden. Zu dem Ende würde er den besei¬
tigten Reichsrath neu ins Leben zu rufen und sich mit ihm darüber zu einigen
haben, wie die Landtage, dieser Krebsschaden Oestreichs, auszulassen oder zu be¬
schränken sind, dann würde er die Sorge für den Unterricht denHänden der Bischöfe
und Klöster zu entziehen und in kundigere zu legen streben; endlich würde er ver¬
suchen müssen, diejenigen zur Garantie der Staatsschuld heranzuziehen, die sie
unmittelbar oder mittelbar herbeigeführt. Ob er es können, wollen, dürfen
wird, ist eine andere Frage.
Unterdeß hat der niederöstreichische Landtag der aufgeregten Stimmung
kräftigen Ausdruck gegeben, und seine Sprache findet überall in der Brust der
Deutschen lauten Widerhall. Aber alle feurigen Reden, alle Unzufriedenheit,
aller Patriotismus, ja alles Talent hilft uns wenig. Wenn uns überhaupt zu
helfen ist, so sind noch viele schwere Erfahrungen nöthig, die einen völligen
Wechsel der Ansichten in den höchsten Kreisen herbeiführen müssen. Und er¬
schrocken fragen wir, wenn der bittere Trank, der uns auf den böhmischen
Schlachtfeldern geschenkt winde, nicht geholfen hat, von welcher Art soll die
Arzenei sein, welche dem Staate Rettung bringt?
Unser Leiden aber ist zuerst, daß man an der höchsten Stelle gar keine
Ahnung von der Schwere unsres Siechthums hat. Immer noch meint man
durch einen plötzlichen Einfall, eine unerwartete Wendung, einen Wechsel der
Personen, durch Uebeiraschungen und Cabinctkunststücke aus der Noth des Augen¬
blicks herauszufliegen. Beachten Sie die lange Geschichte unsrer überraschen¬
den Schlauheiten seit 1848 und Sie haben den Schlüssel zu unsrer Regie¬
rungskunst.
Das zweite Leiden Oestreichs, welches beseitigt werden muß. ist die lange
Reihe unsrer vornehmen Beamten aus denen Minister und Rathgeber gewählt
werden, zu denen ich selbst Herrn v. Beust zu rechnen wage, obgleich er ein
einfacher Edelmann ist und dem Stolz unsrer Familien für nichts Besseres als
ein Parvenu gilt. In dem ganzen Kreise dieser Herren ist nicht ein poli¬
tisches Talent, welches das Feuer, den Charakter und die sittliche Größe eines
Reformators hat. Auch die Geschenken und Guten sind weichlich, schlaff, von
dem Wurm der Selbstsucht angefressen. — Begeisterter Patriotismus und kühne
Rücksichtslosigkeit eines Reformers in unsrer Hofburg! — Das ist eine An-
nahme, die jedem, der unsre Verhältnisse kennt, unmöglich erscheint. Bei uns
ist ein kluger Mann mit Einfällen und gewandtem Stil, wie Herr v. Beust,
die äußerste Concession an den Zeitgeist. Allerdings hat man seiner Zeit die
Bach, Brück, Schmerling betitelt, benutzt und verbraucht, aber sie galten sämmt¬
lich, auch als sie im Lande als vielvermögend verehrt und angefeindet wurden,
an maßgebender Stelle für Nothbehelfe, als Seelen von untergeordneter Art,
deren Pfiffigkeit und Popularität man, so lange es nöthig war. mit innerer
Kälte ertrug. Wirklichen Einfluß im Großen haben sie niemals gehabt. Denn
man ist bei uns so vornehm, daß die ganze Auffassung von dem Werth der
Menschen und von den Pflichten und Rechten der Völker eine total andre ist.
als in dem Volke.
Wenn wir Deutschöstreicher jetzt unzufrieden murren, so gilt das zur
Zeit unserer Regierung noch so viel, als ob die schwarzen Vögel auf dem
Stephansthurm schreien. Wir sind nicht gefährlich, man nimmt an, daß das
höchste Interesse unseres Geldbeutels und unsere — bei alledem noch — be-
vorzugte Stellung im Staate uns unauflöslich mit dem Interesse der Dynastie
verbindet, und man behandelt uns jetzt wegwerfend, wie schwache Zugehörige,
die nicht mehr im Stande sind, die Fremden, an deren Beifall und Gehorsam
mehr gelegen ist, in Respect zu halten.
Wir aber zürnen und klagen und wissen keinen Rath. Und doch ist Oest¬
reich zwar arm an politischen Größen, aber es entbehrt nicht ganz der Charaktere,
welche das Zeug hätten, dem Staat aufzuhelfen. Männer wie Herbst und Giskra
wären an der Stelle des Grafen Belcredi für uns ein Trost, vielleicht unsere
Rettung.
Aber so lange unnütz ist, daran zu denken, ist auch unnütz, von einer
Wiederbelebung Oestreichs zu sprechen. Unterdeß arbeiten die Schneider an
neuen Uniformen und die Banknotenpresse verfertigt Banknoten ohne Maß,
wie uns versichert wird, zu größerer Bequemlichkeit der Controle fortan ohne
Nummern.
Ihre grünen Hefte, lieber Freund, begleiten nun schon eine gute Weile die
Geschicke unsrer Nation mit Liebe und Treue im Großen und im Kleinen, die
ernsten Wechselfälle, die den kommenden Geschlechtern vielleicht noch ernster er¬
scheinen werden als uns, die wir sie erleben, und die Launen und Gaben des
Tages, von denen wir selbst im nächsten Jahr kaum noch etwas wissen und die
unsere Kinder vielleicht einmal wieder kennen lernen, wenn künftige „Bilder
aus der Vergangenheit" sie auch in diesem Kleinen und oft Gemeinen das
Große und das Allgemeine sollten kennen lehren. Mit einer solchen ephe-
meren Curiosität komme ich Ihnen heute. Es wird Ihnen recht, sein, wenn
ich in beliebter Kürze über einen der seltenen Fälle berichte, wo römische
Inschriften das Interesse des größeren Publikums auf sich gezogen haben.
Sie wissen, im Allgemeinen erheben sie diesen Anspruch verständigerweise
nicht. Sie haben nicht, wie ihre hieroglyphischen und Keilschwestern, den
Zauber der UnVerständlichkeit für sich und der Dilettant fühlt sich sofort
abgeschreckt, theils durch die Gemeinverständlichkeit ihres Inhalts, der für das
Hineinlegen der eigenen Phantasien doch gar zu wenig Raum bietet, theils
durch das schwer niederzukämpfende Gefühl, daß eine gewisse Kenntniß der
lateinischen Declinationen in diesem Falle wünschenswert!) ist — mit den
Conjugationen, wissen Sie, nehmen wir es selbst nicht so genau und ich könnte
Ihnen mehre Coliegennamen ins Ohr flüstern, die sich hinsichtlich der verba
irregularia hauptsächlich darauf verlassen, daß diese auf Steinen nicht oft vor¬
kommen. So warten wir denn unsres Amtes in den Trümmern der classischen
Friedhöfe in aller Stille; und wie denn der Gelehrte boshaft wird, wenn sich
niemand um ihn kümmert, ist der lateinische Epigraphiker wohl schlecht genug,
sich daran zu ergötzen, daß, wo einmal eine wirklich interessante und wirklich
gefühlvolle Inschrift dem Publikum durch Bädeker oder sonst zur Kenntniß ge¬
bracht und dankbar von ihm genossen wird, sie in der lliegel falsch ist. Sie
besinnen sich auf Byrons Stanze:
ihr Herz aber ihrem Vater, dem von Tacitus genannten Julius Alpinus:
wozu der Poet bewegt in Prosa hinzusetzt, daß er kein gleich rührendes Erzeugniß
des menschlichen Geistes kenne wie dies Epitaphium der Julia Alpinula aus
Avenches. Vielleicht wissen Sie aber nicht, daß Sie diesen denkwürdigen Stein
in meiner Sammlung der schweizer Inschriften als Ur. Is der falschen nachlesen
können und daß der Verfertiger desselben Paul van Merle hieß und dasselbe Hand¬
werk im sechzehnten Jahrhundert trieb, von dessen heutigen Vertretern — denen
übrigens Merles Latein zu wünschen wäre — ich Ihnen noch zu sprechen
haben werde. — Und noch ein anderes, wenn auch nicht ganz gleichartiges Seiten¬
stück. Haben Sie je einmal das schöne kärntner Land durchzogen, so sind Sie
gewiß auch vor dem alten ehrwürdigen Herzogsstuhl auf dem Zollfelde bei
Klagenfurt stillgestanden, wo einst, als es noch Herzöge von Kärnten gab, dit
nicht in der Hofburg residirten, diese auf freiem Felde erst den Backenstreich
und sodann die Huldigung von dem Bauer entgegennahmen. Unserem Jahr¬
hundert war es vorbehalten zu entdecken, daß an diesem Hcrzogssiuhl eine In¬
schrift steht, die den doppelten Vorzug hat sowohl gottselig als slavisch zu sein;
sie lautet „ins, Snell vsri" und, sagt Bädeker und sagte vor ihm Herr Davon»
Terstenjock in Laibach und andere große und kleine Propheten dieses jüngsten
Culturvolkes, es beißt dies in irgendeinem (oder auch keinem) slavischen Dialekt
„er hat den heiligen Glauben"; was gewiß sehr passend als Etikette auf der
Stuhllehne der neuen Hoheit vermerkt wurde. Leider ist diese slavische Kaaba-
inschrift nicht einmal falsch, wie die gefeierten Palladien des czechischen Sla¬
vismus, sondern die, auf gut slowakisch dem rechtmäßigen Eigenthümer ent¬
fremdete, sehr unbedeutende, aber ganz ehrliche und einfältige lateinische Grabschrift
des Virunensers Uasuetius Verus; welcher Inschrift selbst die kürzlich vorge¬
nommene, von dem Alterthumsverein zu Klagenfurt nach Verdienst öffentlich
gebrandmarkte, slavische Uebermeißelung den schönen Schriftcharalter der guten
Kaiserzeit nicht hat rauben, obwohl allerdings den Stein mit dem hinter um
mangelnden Punkte nachträglich versehen können. — Dies, lieber Freund, sind
einige der kleinen Genüsse, die unsere einsamen Pfade erheitern. Was man
wohl von guten Geschichten zu sagen Pflegt, sie seien zu schön, um wahr zu
sein, das ist leider bei den Inschriften buchstäblich richtig; wenn Ihnen eine
besonders gefällt, dann seien Sie vorsichtig: die echte Inschrift ist langweilig
und macht kein Glück.
Aber ich wollte Ihnen ja getreu berichten über die Inschriften von Nennig,
die allerdings, wenigstens in ihrer nächsten Heimath, Glück gemacht haben und die
denn freilich auch falsch sind. Die öffentlichen Blätter haben in der letzten Zeit
oft genug davon gesprochen, so daß Ihren Lesern damit gedient sein mag. den
Thatbestand im Zusammenhang zu erfahren. Die schönen Zeiten, wo der denk,
sche Gelehrte an seine Brust schlug und dem heiligen Mercurius dafür dankte,
daß in seiner Heimath nicht, wie von den spanischen und neapolitanischen Lotter-
buben, Inschriften fabricirt würden, sind bekanntlich vorbei; Salzburg und
Rottenburg, Aachen und Trier lassen in dieser Beziehung durchaus nichts zu
wünschen übrig und die sämmtlichen Werke der mannigfaltigen deutschen Jn-
schriftensälscher des neunzehnten Jahrhunderts würden ein ziemliches Heftchen
füllen. Es ist der neueste Beitrag zu diesem Fascikel, der hier erörtert werden soll.
Ungefähr sieben Stunden südlich von Trier an der Mosel liegt ein Dorf
Nennig. wo seit 1852 die Ueberreste einer ansehnlichen römischen Villa, lange
Zeit von den Landleuten der Umgegend als Steinbruch benutzt, durch die eifrige
Thätigkeit des verdienten Domcapitulars v. Wilmowsky aufgedeckt worden sind.
In den Fußboden des großen Gartensaals war ein Mosaik von ungewöhnlicher
Größe — 30 Fuß lang, 33 Fuß breit — und ungewöhnlicher Farbenpracht
eingelassen; dasselbe stellt in reichem und schönem Ornamentenkranz eine Reihe
von Scenen aus dem Amphitheater vor'. Löwen, Tiger, Bären, Gladiatoren, und
ist in den Jahren 1864 und 1865 auf Kosten theils der Regierung, theils des
Vereins der rheinischen Alterthumsfreunde von Herrn v. Wilmowsky in schönem
Farbendruck herausgegeben worden. Der Zeit nach setzte der Herausgeber die
Erbauung und Einrichtung der Villa unter Traian oder Hadrian. — Die Auf¬
merksamkeit der Alterthumsforscher ward hierdurch in weiteren Kreisen auf die
nenniger Villa gelenkt und es wurden Ausgrabungen dort unternommen, die
die preußische Regierung unterstützte und die unter anderm auch Reste eines römi¬
schen Bades zu Tage förderten. Noch war keine Inschrift aus diesen Trümmern zum
Vorschein gekommen, wie dies bei Privatanlagen, auch ausgedehnten, häufig ist.
Im September dieses Jahres aber fanden sich auf einmal die folgenden vier,
sämmtlich nicht in Stein gehauen, sondern mit schwarzer Farbe auf den rothen
Stuck der Wände gemalt. Ich lasse dieselben folgen, wie sie in den amtlichen
an das königliche Ministerium für Cultus und Unterricht erstatteten Berichten
mir vorgelegen haben; nur löse ich die zahlreich darin vorkommenden ver¬
schlungenen Buchstaben auf. um Ihre Setzer nicht allzusehr zu erschrecken. Die
in kleiner Schrift beigefügten Ergänzungen fanden sich auf einem dem amt¬
lichen Bericht beiliegenden nicht unterzeichneten Blatte und stammen ebenfalls
aus Trier.
1) L^LS ar N »rous V IMs Ma.Ja.NVS
VONVN LWXit 8L
LDLVRO
eoto IRLV irorum VON o VLV it
'2) V^DS ars ano ^xHIIll eatrum atum
OMVitum ^ Laeoio NOVL
310 8 eormäirms urus salus 0 olovias U8tas I
N eutia v As8»ris IK^I ani ?R i Nam VDN
^.lionem VLVit
3)^.VLNIM
l RIL . . I
L^^LV
4) NI
V^8^K L
^ VVMVS
Li^vri
Diese Inschriften wurden in den Rheinischen Blättern abgedruckt und er¬
regten vielfache Erörterungen. Nachträglich kam in der Kölner Zeitung vom
7. November die folgende fünfte Inschrift hinzu, diesmal auf Stein und mit¬
getheilt ohne Ergänzung und Erklärung:
0^K8. N. V. r____
. V0NV____
. . . .
____
. v. ^.V____
V0U0......
Als in der Sitzung der Akademie der Wissenschaften vom 1. November d. I.
und bald darauf am 6. d. M. in der archäologischen Gesellschaft mit dem Be¬
richt über die nenniger Ausgrabungen auch die dazu gehörigen Pläne und
Zeichnungen vorgelegt wurden, erklärte ich, und natürlich ich nicht allein, son¬
dern sämmtliche sachkundige Mitglieder beider Gesellschaften, dieselben für un¬
zweifelhaft und evident falsch und es wurde dieses Urtheil in dem Sitzungs¬
bericht der letzteren, der in der Kreuzzeitung vom Is. November und anderswo
abgedruckt ist, kurz motivirt. Ich wiederhole hier, was damals darüber gesagt
wurde, so weit es erforderlich scheint; denn selbst Laien gegenüber dürfte es
kaum nöthig sein, weitläufig die Gründe dieses Urtheils darzulegen und die
darauf erfolgten Repliken zu analysiren.
1) Es ist selbst dem Kaiser Traianus, obwohl er der Epigraphik mehr
Stoff als billig geliefert hat und bei den Alten der „Mauerpfeffer" hieß, nie¬
mals eingefallen, dergleichen mit Farbe auf den Stuck schreiben zu lassen; wenn er
dem Bürgermeister von Trier diese Villa geschenkt hat, so hat er ihm doch diese
Schenkung ebenso wenig neben die Hausthür zu malen befohlen, wie Se. Majestät
König Wilhelm, wenn er etwa dem General v. Steinmetz ein Haus zum Geschenk
machen sollte, sich auf dessen Fciczade vom Wandmaler wird verewigen oder viel¬
mehr nicht verewigen lassen. Dies allein ist so absurd, daß es vollständig ge¬
nügt; und die werkthätige Reumüthigkeit des Fälschers, der den Stein allerdings
hinterher nachgeliefert hat, macht die Sache nicht wieder gut. Uebrigens ist
aus der früher erwähnten Hypothese des Herrn v. Wilmowsky über die Ent¬
stehungszeit der nenniger Villa es leicht erklärlich, wie der Fälscher grade auf
Traian kam.
2) Es giebt keine echte Inschrift Traians, in welcher derselbe M. Ulpius
oder auch nur Ulpius genannt wird. Daß der Stein der orellischen Samm¬
lung Ur. 278, der dem widerspricht und auf den man sich beruft, interpvlirt
ist, habe ich bereits in den schweizer Inschriften Ur. 321 gezeigt. „Wie hieß
denn," fragt freilich der Vertreter der Inschriften, Herr Professor Leonardi in
Trier, in der trierer Volkszeitung vom 20. November d. I., „ Traianus
eigentlich, ehe er adoptirt und Cäsar war? woher kennen wir denn seine
Namen, wenn er sie nie geführt hat? woher denn die vielen Narni
^.uAusti liberti, wenn Traian nie N. vlpius hieß?" Wie Traian hieß, ehe
er Cäsar war, kommt hier nicht in Betracht, da er auf den nenniger Inschriften
eben Vaesar heißt; nachher hat er die Namen M. Ulpius zwar gehabt, aber nie
geführt. Es ist eine zuerst bei Augustus vorkommende, sodann bei mehreren
Kaisern und namentlich auch bei Nerv« und Traian sich wiederholende Er-
scheinung, daß sie von dem Augenblick an, wo sie auf den Thron gelangen, den
Privatvornamen mit dem praenoinen imxsratoris vertauschen und den Ge¬
schlechtsnamen abwerfen; nicht etwa blos derKürze wegen beide weglassend, sondern
sie, gleichsam als unter der kaiserlichen Würde, lediglich in Ableitungen, in den
von ihnen benannten Personen und Orten, aber nie in unmittelbarem Gebrauche
verwendend. Das ist den Männern vom Fach wohl bekannt; es sollte auch
denen bekannt sein, die falsche Inschriften machen oder vertheidigen.
3) Daß der Name Nerva auf dieser Inschrift fehlt, ist ein nicht geringerer
Schnitzer, als daß ihr Verfertiger die Namen M. Ulpius aufnahm. Herr Professor
Leonardi führt allerdings mehre unzweifelhaft echte Inschriften an, in denen der
Name des Kaisers Traianus ohne den Adoptionsveinamen erscheint; aber auch hier
ist er noch schlimmer als unwissend, nämlich Halbwisser. Wo Traian genannt
wird als Herr oder Patron von Sklaven und Freigelassenen, als Verleiher
von Aemtern und Geschenken, als Consul in der Datirung. überhaupt wo er
nur erwähnt wird, ist es correct und ganz gewöhnlich, ihn blos als imxerator
Iraianus Augustus oder Iraisnus Vaesar oder ähnlich zu bezeichnen; aber
wo der Name in der Titulatur steht, sei es, daß ihm ein Denkmal gesetzt
wird oder er selbst ein Gebäude errichtet, erfordert der römische Gebrauch den
Adoptivbeinamen. Mit diesem Faden in der Hand wird Herr Leonardi, wenn er
seine epigraphischen Studien fortsetzt, sich in den echten Inschriften Traians
sehr leicht zurecht finden und sich zugleich überzeugen, daß grade die Curiatier
dieses Kaisers voll von Fußangeln stecken und der Fälscher besser thut, sich an
einfachere Titulaturen, zum Beispiel an Pius zu halten. Antoninische Zeit ist
«und schon recht hübsch für eine Villa an der Mosel; warum immer gleich nach
dem Höchsten greifen?
4) Die Bezeichnung Imperator durfte auch nicht fehlen. Die Interpreten
der nenniger Inschriften erklären sie als errichtet vom Cäsar Traianus, ehe er
Kaiser war; sie hätten besser gethan, dies schwierige Gebiet nicht zu betreten.
Bis jetzt kennen wir von Trajan als Cäsar weder echte Inschriften noch echte
Münzen; solche aus Nennig zu erhalten, ist, um nicht mehr zu sagen, beinahe
zu schön, um glaublich zu sein.
6) Daß die drei auf den fünf nenniger Inschriften vorkommenden Personen¬
namen, als Leculläinius Leeurus, LeeunäiniuL ^.ventinus, 1^. Vaceius Noae»
sens sämmtlich auf dem einen Monument von Igel wiederkehren, das vielleicht
das bekannteste des ganzen Rheinlandes ist und an dem der Weg von Trier nach
Nennig vorbeiführt, zeigt allein schon, daß die neuen Inschriften über jene
allbekannten gefälscht sind. Der Ausdehnung des Quellenstudiums, die sich
hier offenbart, ist es angemessen, daß der Verfertiger der Steine, indem er aus
dem Genitiv Leounämi des igeler Steins seinen Dativ LeeuruZmo bildete,
gleich dem seligen Lersch es übersah, daß Lscunclmi hier nicht von Leeulläiuus,
sondern von Leermämius herkommt, also im Dativ Lecimäivio lauten müßte.
Auch das Decliniren hat auf den Inschriften seine Haken.
6) Ueber das, was die Inschriften eigentlich besagen sollen, bin ich den
trierer Herren dankbar, mich belehrt zu haben; wie es denn für den Fern¬
stehenden immer schwierig ist. sich in den confusen Jdeenkreis eines solchen
Fälschers vollständig hineinzudenken. Gewiß sollen die Inschriften sagen,
erstlich, daß Kaiser Traian dem Bürgermeister von Trier ein Haus — nach
der zweiten verbesserten und (etwa infolge der inzwischen aufgedeckten Bad¬
trümmer?) vermehrten Auflage auf Stein, auch noch ein Bad — geschenkt habe;
zweitens, daß unter Trajan das trierer Amphitheater gebaut worden ist und daß
der Besitzer der Villa die Ehre und das Vergnügen gehabt hat, in demselben in
Gegenwart des Kaisers die erste Thierhetze zu geben. Alles das ist ja recht
wünschenswerth zu erfahren und stimmt auch wiederum beinahe zu gut zu dem
Mosaik der Villa mit den Amphitheaterscenen; aber daß das Tertianervorstellungen
sind, aus einem Kopfe entsprungen, der von römischem Municipalwesen und
allem, was hierher gehört, gar keine Anschauung hat, ist evident»
7) Das Klosterlatein avoua erexit, kuväatum et eoväituw, in xrae»
seutia, og-esaris ist von der Art, daß Paul van Merle sich im Grabe um¬
drehen wird, wenn er erfährt, wie tief sein Geschäft zur Zeit herabge¬
kommen ist. Was „stammelndes Provinziallatein" ist. weiß ich auch; dies mit
seinen abscheulichen Germanismen ist es nicht, sondern der reine unverfälschte
Franziskaner.
Nun, lieber Freund, wenn Ihre Geduld noch- aushalten sollte, die meinige
ist zu Ende; wir wollen den Rest uns erlassen, zumal da doch einige andere
Dinge noch gesagt werden müssen.
Warum werden dergleichen pinselhafte Prellereien überhaupt hier erörtert?
Nach römischem Ritual soll man die Monstra schleunigst ersäufen; über doch
nur, wenn sie nicht todtgeboren sind, und wenn das von einem gilt, so gilt es
hier. Dergleichen plumpe Fälschungen aus aller Herren Ländern körinen Sie.
wenn Sie ja Lust haben sollten, in meinem epigraphischen Papierkorb zu Hun¬
derten finden, bestimmt, seiner Zeit unter den Msae vt suspeetae ohne Sang
und Klang eingescharrt zu werden. Mit Fälschern haben wir Männer vom
Fach auch zu thun, allerdings nicht mit solchen; edleren Wildes gewohnt entschließt
man sich ungern, gegen einen Stümper wie diesen öffentlich auszutreten. Aber Sie
werden zugeben, daß dieser Fall nicht blos seine lächerliche Seite hat. Ernste Be¬
strebungen eines verdienten Alterthumsforschers, Unterstützungen aus Staatsmitteln
werden durch diese Betrügereien beschmutzt und gefährdet; sie erscheinen in den offi-
ciellen Eingaben der betreffenden Behörden an die Regierung. Der Verdacht liegt
nur zu nahe, daß, wer diese Inschriften auf den Stuck malen konnte, auch an¬
deres, Wandgemälde zum Beispiel, anzufertigen sich herausnimmt; man wird in
Zukunft bei jedem Stück, das diese nenniger Ausgrabungen zu Tage förderten,
sich die Frage vorzulegen haben, ob es gefälscht sein kann. Diese Gründe haben
mich bestimmt, in diesem Falle nicht zu schweigen, sondern das Meinige zu
thun — nicht um die Gelehrten vom Fach zu überzeugen, was sehr überflüssig
sein würde, sondern wo möglich vor den Behörden und vor allen Dingen vor
der öffentlichen Meinung die Fälschung zu entlarven.
Auch die Entlarvung des Fälschers selbst ist wünschenswerth. Für die
Wissenschaft ist daran im Ganzen wenig gelegen. Sie erinnern sich an Sum-
locenna, das uns so manche heitere Stunde verschafft hat; was liegt an den
Namen der strebenden Jünglinge, die den ehrlichen Jaumann so unbarmherzig
äfften? Den nennigcr Namen dagegen und den Zusammenhang dieses ganzen
Handels zu wissen, wäre doch zu manchen Dingen gut. Herr Heinrich Schäffer, der
die Ausgrabungen daselbst zu leiten scheint und sich bei der Einsendung der fünften
Inschrift an die Kölner Zeitung genannt hat, giebt auf meine öffentlich an ihn
gerichtete Aufforderung in der Kreuzzeitung Ur. 272 einen Bericht über den That-
bestand der Ausgrabung der Inschriften, der an sich vollkommen unverdächtig
lautet, aber natürlich, wie Herr Schäffer auch selbst zugiebt, das Factum nicht
ausschließt, daß dieselben bedeutend nach der Zeit des Kaisers Trajan eben dort
eingegraben worden sind. Daß der materielle Thatbestand der Ausgrabung jeden
Gedanken eines Betrugs ausschließt; daß jeder Betheiligte ein unzweifelhafter
— freilich in diesem Falle wenigstens der eine derselben ein bereits erheblich
angezweifelter") — Ehrenmann ist, das alles versteht sich von selbst. Diese Be-
"
hauptungen, größtenteils natürlich im besten Glauben vorgebracht, wiederholen
sich bei jedem derartigen Betrug ebenso sicher, wie vor dem Criminalgericht die
Versicherung der Angeschuldigten und ihrer Freunde, daß sie unschuldig sind und
sein müßten. Sehr bestimmt wird behauptet, daß die Fälschungen mindestens nicht
aus dem Jahre 1866 herrühren; Herr Schäffer erwähnt ältere Grabungen aus den
Jahren 1800—1820 und scheint den geäußerten Verdacht mit diesen in Verbindung
zu bringen. Letztere Annahme ist leider unzulässig, da die Fälschungen erst statt¬
gefunden haben nach dem Jahre 1853, in welchem das ncninger Mosaik zum
Vorschein kam, das sie commentiren; ja sogar erst nach dem Jahre 1839, in
welchem ein anderes Mosaik mit dem Namen eines Prätorianertribuns Victo-
rinus in Trier aufgedeckt ward; denn die dritte der falschen Inschriften ist ein
Bastard von dem igeler Denkmal und diesem Mosaik und der Fälscher bleibt auch
hier seiner guten Gewohnheit treu, daß alles bei ihm nicht weit her ist. Die
Fälschungen sind also zwischen 1839 und 1866 gemacht. Im Uebrigen entzieht
sich diese chronologische Frage meiner Competenz,' ebenso wie die ganze archi¬
tektonische und baupolizeiliche Feststellung des Thatbestandes. Ob diese über-
Haupt ein Ergebniß liefern wird, steht dahin; sollten aber auch alle Architekten
der Welt erklären, daß der Stuck und was darauf gemalt ist, antik seien, so
wird dies für jeden Epigraphiker vom Fach nur beweisen, daß der Fälscher mit
Pinsel und Meißel besser umzugehen wußte als mit dem Orelli. Ueberhaupt
ist damit, daß der Dieb nicht entdeckt wird, der Thatbestand des Diebstahls noch
nicht widerlegt.
Es giebt indeß noch einen anderen sowohl kürzeren als auch sichreren Weg,
den Fälscher zu ermitteln, als die Abhörung derjenigen Arbeitsleute, die die
fragliche Wand bloßgelegt haben. Unter den Absurditäten, von denen die In¬
schriften wimmeln, nimmt das unsinnige Abkürzungssystem eine der ersten
Stellen ein, insbesondere die Abkürzung der Geschlechts- und Beinamen —
Kaiser Trajan mit N. II. bezeichnet ist für uns Epigraphiker grade so komisch,
wie wenn Ihre Stadt Leipzig „Seiner Majestät dem König I." eine Bildsäule
setzen würde. Diese Abkürzungen sind der Art, daß sie bei der zweiten Inschrift
jeder rationellen Auflösung spotten, und daß wir deren Sinn nur durch die
dankenswerthe Fürsorge des Fälschers erfahren, die Auflösung ebenfalls mit zu
den Acten gelangen zu lassen, oder vielmehr das Concept, aus dem der Fälscher
willkürlich seinen Stucktext zusammengeschrieben hat. Meine öffentlich an Herrn
Schäffer gerichtete Frage, von wem diese „treffende" Erklärung herrühre, ist
ohne Antwort geblieben; nur ergiebt sich aus dem ganzen Inhalt der Erwiede¬
rung, daß Herr Schäffer als völliger Laie auf diesem Gebiete die Autorschaft
von sich ablehnt. Herr Professor Leonardi, der sonst diese Inschriften vertritt
und auf den Herr Schäffer wegen des weiteren verweist, schweigt über diesen
Punkt ebenfalls oder cippellirt vielmehr an die Möglichkeit glücklicher Divination.
Wie weit diese sich vernünftigerweise erstrecken lasse, mag jeder, den es angeht,
erwägen; zunächst wünsche ich zu wissen, welchem Kollegen diese Divination
geglückt ist, was doch wohl kein Geheimniß zu bleiben braucht. Die Frage, wer
die oben mitgetheilte Auflösung zuerst aufgestellt hat, ist noch unbeantwortet;
sie wird hiermit wiederholt.
Es bleibt mir noch übrig hinzuzufügen, daß ich auf die Priorität der
Entlarvung dieses Betrugs keinen Anspruch habe und keinen Anspruch mache.
Von Herrn Brambachs Artikeln über diese Angelegenheit habe ich noch heute
keinen gelesen; der „ trierer Philolog" irrt, wenn er mein vorschnelles Ab-
urtheilen seltsamerweise damit entschuldigt, daß ich mich durch das Urtheil
Herrn Brambachs als der Specialität für rheinische Inschriften habe hinreißen
lassen; nicht minder, wenn er zu verstehen giebt, daß, da meine und Herrn Bram¬
bachs Gründe wesentlich dieselben seien, ich wohl Herrn Brambach ausgeschrieben
haben werde. Diese Freundlichkeiten zeigen nur, wie wenig den Herren in
Trier das ABC der Epigraphik geläufig ist. Die Correctur eines solchen Exer¬
citiums voll von schülerhaften Schnitzern muß Von jedem Fachmann in gleicher
Weise erfolgen; ich könnte Herrn Professor Leonardi auf der Stelle sechs bis
acht hiesige junge Doctoren und Studenten namhaft machen, die sie grade ebenso
gut angestellt und die alle dasselbe gesagt haben würden. Daß ich, als die
Inschriften in Gesellschaften, deren Mitglied ich bin, vorgelegt wurden, zwar
auf die schon von andrer Seite erhobene Verdächtigung hinwies, aber vor allen
Dingen meine Ansicht aussprach, war, sollte ich meinen, in der Ordnung; um
jene Auseinandersetzungen Herrn Brambachs mich weiter zu kümmern hatte ich
keine Veranlassung. Wenn dieselben mir zu Gesicht kommen, werde ich daraus
vielleicht anderes lernen; für die nenniger Inschriften brauchte und brauche ich
sie nicht. Indeß die „Priorität" dieser Enthüllung mit allem Zubehör räumte
und räume ich Herrn Brambach von Rechtswegen und mit Vergnügen ein.
In Deutschland sind frische Fische auf den Tafeln durchschnittlich eine so
seltene Erscheinung als etwa Feldhühner und Krammetsvögel. Betaue man
sie nicht in Gasthäusern oder bei Festmahlen zu schmecken, wo das Bedürfniß
der Mannigfaltigkeit und Abwechselung die Schwierigkeiten des Bezugs zu über¬
winden nöthigt, so würden selbst die Angehörigen der wohlhabenden Classen im
tieferen Binnenlande die Bekanntschaft frischen Seefisches kaum je machen. Den
ärmeren Ständen vollends kommen die eßbaren Schätze des Meeres nur in ver¬
arbeiteter Gestalt vor die Augen, als getrockneter Stockfisch in den westlichen,
als gesalzener Häring in den östlichen Strichen. Wir haben daher auch keine
Vorstellung von der Ausdehnbarkeit, welche der Genuß dieser Sorte Fleisch
neuerdings durch einige ineinandergreifende Verbesserungen im Betriebe des
Fischfanges und in der Fortschaffung seiner Ergebnisse erlangt hat. Um unsere
Begriffe der thatsächlichen Wahrheit nahe zu bringen, müssen wir nach England
hinüberblicken, das in dieser wie in so mancher anderen wirthschaftlichen Be¬
ziehung einen Vorsprung von Jahrzehnten vor uns voraus hat.
Man schätzt den jährlichen Verbrauch Londons an Rindfleisch auf 300.000
Stück fetten Viehs. Giebt man diesen ein durchschnittliches Gewicht von sechs
Centnern das Stück, so kommen 90.000 Tons Fleisch heraus. Fischende Schiffe
sind gegenwärtig, so rechnet man, 8—900 für den londoner Markt beschäftigt, wenn
man sich auf die mit dem Grundnetz (trank) fischenden, die große Masse der
Fische liefernden Fahrzeuge beschränkt. Jedes mag im Jahr durchschnittlich
90 Tons zu Markte bringen. Das gäbe ungefähr 85.000 Tons. Berücksichtigt
man also die anderen Lieferungsquellen für frischen Fisch ebenfalls, angelnde
Boote u. s. w., so stellt sich heraus, daß in London ungefähr ebenso viel Fisch¬
fleisch zu Markte kommt wie Rindfleisch.
Es ist indessen noch nicht so lange Zeit, daß der Fischverbrauch in Eng¬
land die hiernach zu bemessenden Dimensionen angenommen hat. Der londoner
Fischmarkt Billingsgate, dessen Heißhunger jetzt 8—900 beständig arbeitende
Grundnetze kaum zufriedenstellen, hatte vor vierzig Jahren genug an dem Er¬
trage von 40—60. Vor zwanzig Jahren liefen zwei oder drei Trawler aus
dem Humber in See: gegenwärtig gehören dreihundert von der doppelten
Größe in Hull und Grimsby zu Hause. In Scarborough ist die Zahl während
der letzten dreißig Jahre von zwei auf fünfunddreißig gestiegen, in Plvmouth
von dreißig auf sechzig. Die gesammte Trawlcrflotte Englands beträgt heute
mindestens tausend Segel, bemannt mit mehr als fünftausend Leuten und ein
Capital von weit über einer Million Pfund Sterling repräsentirend. Eine ein¬
zelne dem Fischfang gewidmete Actiengesellschaft in London hat während der
Jahre 1864 und 1865 ihre Segelflotte um zehn Schiffe vermehrt, zwei neue
Dampfschiffe zur Sammlung der Fische von den Segelschiffen in Fahrt gesetzt
und weitere zwei Dampfer sofort in Bau gegeben. Das stetige und rasche
Wachsthum des Fischverbrauchs in England deuten die Mengen an. welche von
den Eisenbahnen befördert worden sind, die die Küstenplätze mit dem Innern
verbinden. Zwischen 1856 und 1864 hat sich das Gewicht beförderter Fische
auf vier dieser Bahnen von 11,714 Tons auf 40,337 Tons gehoben; zwischen
1862 und 1864 auf zwölf Bahnen von 99.724 Tons auf 122 381 Tons.
Die Tonne Fische (2000 Pfund) wird dem Fischer im Massenpreise mit
durchschnittlich sieben Pfund Sterling abgenommen; für die Tonne Rindfleisch
erhält der Viehzüchter im Durchschnitt willig 60 Pfund. Dieser ungeheuere
Unterschied ist natürlich weit entfernt, dem Vergleichungsweisen Nahrungswerth
der beiden Gattungen von Fleisch zu entsprechen. Im Einzelverkauf gleicht er
sich denn auch schon bedeutend aus. Wenn das Rindfleisch in England bei
weitem mehr verschiedene Preisclassen hat als in Deutschland, so wird es darin
vom Fisch, die einzelnen Arten nicht getrennt betrachtet, noch vielmals über¬
troffen. Im londoner Westend kostet das Pfund Zunge oder Steinbutt mehr
als das dort gewöhnlich genommene Rindfleisch oder Hammelfleisch. Die
Zwischenstufen der Vermittelung verschlingen im Fischhandel eben ungleich mehr
als im Fleischhandel. Ob dies das dauernde Verhältniß bleiben oder ob es
mit der zunehmenden Entwickelung des augenblicklich noch so jungen Verkehrs¬
zweigs, mit der Befestigung des allgemeinen Geschmacks, mit der Verwendung
von mehr Capital und Unternehmungsgeist auf diesen Theil des Lebensmittel¬
handels sich allmälig ausgleichen wird, muß man abwarten. Zunächst steht so
viel fest, daß Fischfleisch im Großen 8—9 mal so wohlfeil zu haben ist als
Rindfleisch. Und während alles Fleisch von Vieh mit jedem Jahre theurer
wird, hat eine in Manchester angestellte Untersuchung ergeben, daß dort der
Preis der gewöhnlichsten, billigsten, in den größten Massen verzehrten Fische
während der letzten zehn Jahre kaum gestiegen ist. Zungen kosteten im Januar
1865 doppelt so viel als im Januar 1856. aber Schellfische nicht mehr und
Schollen eher weniger. Bedeutende Preissteigerungen am Fisch hat man nur
in den Seestädten erlebt, die seit der Ausdehnung des Eisenbahnnetzes ihr altes
Monopol auf den Genuß von frischem Fisch immer mehr schwinden sehen. In
Newcastle am Tyne z. B. kosten beinahe alle Arten von Fisch heute doppelt das
Geld wie vor zehn Jahren. Man darf sich dort aber damit trösten, daß der
höchste je erlebte Preis in Newcastle immer noch niedriger ist als der feststehende
Preis in Manchester, der sich gleich geblieben ist, weil der zunehmende Geschmack
am Fisch durch eine entsprechend zunehmende Versorgung des Marktes befriedigt
wurde, während die Fischliebhaber Newcastles nicht diejenigen von Manchester
allein, sondern von vielen anderen volkreichen Städten in die Bewerbung um
den Fang an ihren Küsten miteintreten sahen.
Die Frage, ob es mit dieser Heranziehung der Meeresbewohner für die
Nahrungsbedürfnisse des Menschen in den bisherigen Progressionen fortgehen
oder ob etwa der befürchteten Erschöpfung des zum Ackerbau oder zur Vieh¬
zucht geeigneten Bodens in altcivilisirten Ländern, der thatsächlich eingetretenen
Verminderung des Fischreichthums der Flüsse eine Abnahme des Fisches in den
vom Lande aus zugänglichen Gewässern an die Seite treten werde, hat die
letzten Jahre über in England durch eine aus Sachverständigen zusammen¬
gesetzte königliche Commission die gründlichste Untersuchung erfahren. Dieselbe
hat die ganze Küste des Jnselkönigreichs bereist, an siebzig bis achtzig für den
Fischfang oder Fischhandel wichtigen Orten vermöge der ihr verliehenen amt¬
lichen Autorität Verhör mit geeigneten Zeugen angestellt. Die von ihr erhobenen
Antworten füllen mit den dazu gehörigen Fragen einen der stärksten Bände der
englischen Revortsliteratur. Das Ergebniß war, daß nicht entfernt an eine Ab-
nähme der Menge des erreichbaren Fisches zu denken sei. Fischgründe, die seit
unvordenklicher Zeit mit tiesreichenden Netzen ohne Unterlaß abgestreift worden,
wie z. B. die Bucht von Nye im Kanal, sind heute noch so ergiebig oder er¬
giebiger als je. Auch uus^e deutschen Fischer wissen, daß man sich in der
Ausbeutung eines einmal gefundenen guten Grundes keinen Zwang aufzuerlegen
braucht: sie sind gewohnt, sobald einer von ihnen aus ein solches fruchtbares
Feld gestoßen ist, hinter ihm drein dieselbe Stelle wieder und wieder abzu¬
ernten. „Der Ertrag der See rund um unsere Küsten," sagt die erwähnte
englische Untersuchungscommisston, „steht in einem viel höheren Verhält¬
niß zu dem Ertrage des Landes, als gemeinhin angenommen wird. Die
besuchtesten Fischgründe sind noch immer weit ergiebiger als dieselbe Ausdehnung
des fruchtbarsten Bodens am Lande. Ein Acker guten Bodens trägt, sorgfältig
bearbeitet, einmal im Jahre eine Tonne Korn, oder zwei bis drei Centner
Fleisch oder Käse. Von derselben Fläche Meeresboden auf guten Fischgründen
birgt der ausdauernde Fischer ein größeres Gewicht guter Nahrung als dieses
jede Woche im Jahr. Fünf Schiffe des Herrn Krott in Grimsby singen in
einer einzigen Nacht siebzehn Tonnen Fisch, oder gesunde Nahrung im Gewicht
gleich derjenigen von fünfzig Rindern oder dreihundert Schafen. Die Fläche,
Welche diese fünf Schiffe während der fraglichen Nacht abweideten, kann fünfzig
Acker nicht überstiegen haben. So wohlbekannt die Fischgründe der Nordsee
auch sind, so werden sie trotz der ungeheuern Nachfrage doch immer nur erst
zum Theil benutzt. Die Doggerbank (zwischen dem nördlichen England und
Dänemark gelegen), welche mehre hundert englische Geviertmeilen des reich¬
haltigsten Fischgrundes enthält, ist großentheils noch von keinem Trawler
bearbeitet worden. Zwischen England und dem Festlande ist das deutsche Meer
durchschnittlich 90 Fuß tief; ein Fünftel desselben, so groß wie die Oberfläche
von Irland, besteht aus Bänken, die durch die Schlammniedcrschläge der hier
mündenden Ströme noch beständig wachsen; auf ihnen vorzugsweise halten sich
die Thiere des Oceans auf, und wer nur will, mag sich dort reichlich lohnenden
Antheil holen."
Das thun denn auch mehr oder weniger alle in der Nähe wohnenden see¬
fahrenden Nationen, mit alleiniger Ausnahme der Deutschen. Die Norweger
liefern den größten Theil der überhaupt in den Welthandel kommenden Hcuinge
und einen beträchtlichen Theil des Stockfisches, obendrein seit 1860 eine jährlich
wachsende Menge frischen Fisches in Eis verpackt für den englischen Markt.
Die Franzosen sind sowohl an der bei Neufundland betriebenen großartigen
Stockfischbereitung als an dem Häringssang längs der schottisch-englischen Küste
betheiligt; die großen Trawler von Boulogne u. s. w. fischen auch regelmäßig
auf der Doggerbank. Die Holländer haben zwar den größten Theil der Ver¬
sorgung Europas mit gesalzenen und geräucherten Hcinngen (Bücklingen), die
sie früher ausschließlich innehalten, an Norweger und Schotten abgeben müssen,
behaupten aber immer noch den Ruhm der besten Zubereitung in diesem Artikel,
und geben außerdem zusehends mehr frischen Fisch an Deutschland ab. Aber
nicht allein von Scheveningen, auch von dem Mittelpunkt des belgischen Fisch¬
fangs, Ostende, wird der bedeutendste deutsche Fischmarkt, der in Köln, regel¬
mäßig versehen. Die Dänen, welche sich lange gleich den deutschen Handels¬
plätzen Stettin, Danzig, Königsberg und Harburg mit der bloßen Spedition
norwegischen und schottischen Fanges begnügt hatten, sind im vorigen Jahre
durch eine Actiengesellschaft. deren Director der bekannte unternehmende Ca-
pitän Hammer ist, in die Reihe der den Seefischfang im Großen betreibenden
Völker mit eingetreten.
Nur wir Deutsche haben diesen Geschäftszweig bisher unbcgr5if>icherweise
vernachlässigt. Es scheint, als hätte der Untergang des von Emden aus be¬
triebenen Häringsfangs und der von Bremen aus betriebenen Walsischjagd, die
beide einst blühende Erwerbszweige waren, die deutschen Kaufleute, Rheder und
Seefahrer abgeschreckt, auf den nassen Jagdgründen pirschen zu gehn. Als Emden
das erste Mal zu Preußen gehörte, nahm es einen kräftigen Anlauf, den Hol¬
ländern ihr Hänngsmonopol für den deutschen Markt wenigstens zu entreißen.
Es war sechs Jahre nach dem Ende des siebenjährigen Krieges, als es Friedrich
dem Großen gelang, in Ostfriesland eine Companie für den-Häringssang auf
die Beine zu bringen. Sie wuchs, wie O. Klopp, sonst bekanntlich der syste¬
matische Verkleinerer des großen Königs, sich ausdrückt, „zu einem ergiebigen
Baume des Lebens für viele Menschen heran". Klopp schildert die Blüthe des
ostfriesischen Häringsfangs von 1770 bis 1806 nicht übel folgendermaßen: „Der
Tag. an welchem die Busen ausführen, war ein Fest- und Freudentag für Jung
und Alt. Wenn die volle Pracht der Juniussonne niederstrahlte, eilten auch
die Landleute von rings umher zur Stadt, um dichtgeschaart vom Strohdeich,
vom Schweinshuk und von der langen Brücke Herab den Festzug der Schiffe zu
sehen, die weiß besegelt, bunt beflaggt, unter dem hoch flatternden Adler langsam
eins dem andern durch das Fahrwasser folgten. Wie die Predigt, welche die
Seeleute vorher angehört, den Segen von oben für das begonnene Werk erfleht
hatte: so begleiteten unter dem lauten Jubel nicht minder eifrige stille Wünsche
und Gebete die Hinwegziehenden, von deren Glück, Thätigkeit und Geschick die
Existenz so mancher Familien abhing. Jede voll ausgerüstete Buse bedürfte
dreizehn Mann, also vierzig Busen 320 Seeleute, die zur Zeit des Fanges, vom
Juni bis September, ein reichliches Brod fanden; und die Zahl derer, welche
mit den vielfachen Arbeiten zu Lande beschäftigt wurden, war vielleicht doppelt
so groß." Indessen meint Klopp, daß die Kompanie sich ohne den Zvllschutz
und die unmittelbaren Zuschüsse des Staats, entnommen eben aus dem Ertrag
des Eingangszolls auf holländische Häringe, schwerlich hätte behaupten können.
Diese Ansicht wird bestätigt durch den späteren Verfall, wenn an diesem auch
das allgemeine Zurückkommen Enders von der Katastrophe des furchtbaren
Jahres 1806 an die Mitschuld tragen mag. Man hat später versucht, diesen
verdorrten Zweig des ostfriesischen Handels neu zu beleben, indessen ohne nach¬
haltigen Erfolg, und die letzte darin arbeitende Gesellschaft, „Harmonie" genannt,
ist vor ungefähr einem halb Dutzend Jahren zu Grunde gegangen, indem
ihre Magazine abbrannten, während über die Erneuerung der abgelaufenen Ver¬
sicherungspolice grade die Verhandlungen schwebten.
Ganz ähnlich ist es dem deutschen Walfischfang ergangen, der von Bremen,
in geringerem Maße auch von Hamburg aus betrieben wurde. Bis in die
dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts hinein behauptete er sich leidlich, wenn
auch nicht grade blühend und stark; von da an aber schrumpfte er auf immer
kärglichere Neste zusammen. Für völlig ausgestorben darf man ihn nicht an¬
sehen, da ein unternehmender Schiffsbauer in Bremerhaven im laufenden Jahre
wieder ein Schiff, und zwar ein Segelschiff mit Hilfsschraube, auf die Jagd, im
Eismeer auszusenden begonnen hat. Allein als eigentlicher Geschäftszweig ist
auch dieser Betrieb bis auf weiteres so gut wie erloschen.
Der Walfischfang wie der Häringsfang kämpfen mit dem Nachtheil bedeu¬
tender Schwankungen des Ertrags bei einem verhältnißmäßig hohen Betriebs¬
capital. Wenn daher einmal mehre Jahre hinter einander keinen Reingewinn
abwerfen, so verliert der Einzelne oder die Gesellschaft, welche sich dem Geschäft
mit nicht ganz unerschöpflichen Fonds gewidmet haben, leicht den Muth, und
man läßt sich durch Einstellung des Betriebs die Gelegenheit entgehen, wieder
zu seinem Schaden zu kommen, welche spätere einträgliche Jahre bieten mögen.
Ermüdet der Unternehmer nicht, so ermüdet doch die Mannschaft, deren Lohn
ebenfalls nach dem Umfang der Beute, bemessen zu werden Pflegt; und zum
Seefischfang kann man nur die Elite des Matrosenvolks, lange nicht die ersten
besten gebrauchen. Diese Erfahrungen weisen darauf hin. daß man für die
kostspieligeren und zugleich unregelmäßiger lohnenden Arten des Seesischfangs
eine feste Grundlage suchen sollte in dem Massenfang eßbaren frischen Fisches
mit dem Grundnetz, der nicht nur weil er sicheren und reichlichen Gewinn ab¬
wirft, sondern auch weil er für die Besatzung der Schiffe eine Schule bildet,
die sie der gewissen Prämie halber nicht so leicht verlaufen, bei einigermaßen
ausgedehnter Betreibung den Fang von Häringen, Dorschen (Stockfisch) und
Walen zuverlässig zu tragen verspricht; Ähnlich wie ein Weinbergbesitzer die
Schwankungen des Herbstes eher überwindet, wenn er daneben noch Ackerbau
oder Viehzucht zu treiben vermag.
Dem Fange frischen Seefisches hat sich in Deutschland das große Capital
und die höhere Intelligenz bis jetzt noch nirgends zugewendet. Er ist der
Fischerbevölkerung der Küsten und Inseln überlassen geblieben, die ihn im trägsten
Schlendrian und großentheils als bloßes Nebengewerbe betreibt. Die Schiffe,
zu deren Anschaffung die Mittel dieser Leute hinreichen und ihre Begriffe sich
erheben, vermögen nur bei glatter See und ruhiger Luft ihrem Handwerk nach¬
zugehen. Sie werden aber oft noch lieber, als zum Fischen, zum Bergen von
Strandgut verwendet, wenn irgendwo auf einer Plate ein Wrack sitzt. Auf
mehrern der Nordseeinseln wie Norderney, Helgoland u. s. w. übt der bequeme
Gewinn von den Seebadegästen seine verweichlichende Wirkung; man bleibt bei
schlechtem Wetter lieber hinterm Ofen, nicht blos weil die Schaluppe nicht see¬
fest, sondern auch weil der eigne Sinn dem Kampfe mit Sturm und Wogen
allmälig abgewandt worden ist. Von Norderney aus wird der Schellfischfang
noch immer mit der Angel betrieben, an die man eine im Wattsande gefundene
Art Regenwurm als Köder steckt. Es geht aber aus den in England ange¬
stellten vergleichenden Untersuchungen aufs deutlichste hervor, daß die Angel
nicht allein einen wohl zehnfach geringeren Ertrag liefert als das Grundnetz,
sondern auch um die Hälfte theurer zu bedienen ist. Wenn z. B. ein mit dem
Grundnetz fischendes Schiff von 80—100 Tons für II Pfund Sterling wöchent¬
lichen Lohn zu bemannen ist, kostet ein gleichgroßes Schiff-zum Angeln 16 Pfund.
So sagte einer-der ersten Fischhändler Londons, James T. Morgan, der selbst
früher Fischer gewesen ist und nun 36 Trawler besitzt, vor dem königlichen
Untersuchungsausschuß im Jahre 1864 aus. Auf Antheile gesetzt, würde die
Mannschaft eines Trawlers natürlich entsprechend mehr verdienen; in London
aber muß man sie wohl auch für feste Heuer gut genug haben können, und
dann ist sie billiger, als die Mannschaft eines Anglers, weil sie eben aus weit
wenigeren Köpfen besteht. In dieser Ersparnis; an Händen liegt neben der
ungleich größeren Menge des Fangs der entscheidende Vorzug des Grundnetzes.
Alle sich selbst überlassene, von dem Capital und der Technik noch nicht auf«
gesuchte Seefischerei treibt Verschwendung mit der Arbeitskraft und beeinträchtigt
dadurch ihren Reingewinn. Von Boulogne z. B. laufen hundert Trawler von
durchschnittlich vierzig Tons in die Nordsee aus, mit durchschnittlich siebzehn
Manu besetzt, während eine huller Snack, auch wenn sie zehn oder zwanzig
Tons mehr hält, an fünf Mann genug hat, dem Capitän, zwei Vollmatrosen
und zwei Lehrlingen. Dafür aber fischen die englischen Schiffe auch regelmäßig
in kleinen Flotten vereinigt, mögen sie nun zu mehrern einen und denselben
Eigenthümer haben oder jedes für sich sein; d. h. sie brauchen nicht mit Fischen
aufzuhören, wenn sie eine Ladung beisammen haben, und dann mit der Rück¬
kehr nach dem Hasen ihre Zeit zu verlieren, sondern können die Ablieferung
der Beute einem Schnellsegler oder Dampfer übertragen, während sie selbst ohne
Unterbrechung das Netz auswerfen. Die Fischer von Blankenese und Finken¬
werder an der untern Elbe bedienen sich allerdings des Grundnetzes, oder wie
sie es nennen, der Kurre; aber ihre Ewer sind auch nicht seefest, und die ge¬
fangenen Fische werden nicht in Eis gelegt, sondern in die Bülte oder Bunge,
einen vom Wasser der See oder des Stromes durchspülten abgesonderten Theil
des Schiffsraums, in dem sie lebendig bleiben sollen. In Deutschland, wo
man gleichwie auf dem Kontinent überhaupt kaum angefangen hat zur Con-
servirung des Fisches Eis zu verwenden, gilt der lebendig erhaltene Fisch be¬
greiflicherweise für besser als der rechtzeitig getödtete. In England aber ist
man von diesem Vorurtheil schon lange zurückgekommen, und weiß, daß der
Fisch auch in der Bunge nicht bleibt, was er im freien Wasser war, zumal
wenn das Schiff aus dem Salzwasser in Süßwasser übergeht, geschweige denn
nachher in dem unbewegten Wasser eines Kastens oder einer Tonne. Der
zwischen Eis gelegte Fisch wird daher auf den englischen Märkten lieber ge¬
nommen und höher bezahlt, als der lebendig erhaltene, der immer schon für
etwas verdächtig gilt, wie in Deutschland bisher umgekehrt der todte, freilich
nicht in Eis conservirte Fisch. Im Eis hält der Fisch sich wochenlang genießbar.
Das geht schon aus der Entwickelung des norwegischen Handels mit frischem
Fisch nach England hervor, der, 1860 begonnen. 1863 bereits 260,000 Thaler
ertrug. So umfänglich ist in England der Verbrauch von Eis zu diesem Be¬
huf, daß eine einzige londoner Fischhandlung im Jahre 2—30.00 Pfund Ster¬
ling für Eis ausgiebt, und eine andere es sogar vortheilhafter findet, ihr Eis
auf künstlichem Wege durch eine kostspielige Maschine herzustellen, als es zu
Schiffe aus Norwegen zu beziehen.—
Wir haben nun die Elemente sämmtlich beisammen, die dem Seefischfang
in der Gegenwart eine so hohe und täglich wachsende volkswirthschaftliche Be¬
deutung geben: die Kurre (Trawl), das seefeste Schiff (Snack oder Lugger),
die Vereinigung der fischenden Schiffe zu gemeinschaftlichem Transport, das Eis.
die Eisenbahnen. Die Kurre, ein siebzig Fuß langes und vierzig Fuß breites
Netz, mit einem schweren Baum an der Mündung, um dieselbe offen zu halten,
und mit langen engen Taschen der unteren Spitze zu, fährt langsam über den
Meeresboden, stöbert alles dort schwimmende Gethier aus seiner freien Ruhe
und hält es in Massen fest. Zungen und Schollen, von denen die ersteren in
London die beliebtesten aller Seefische find, lassen sich kaum anders als durch
die Kurre fangen. Die Snack sodann, welche das Netz gelassen treibend hinter
sich her schleppt, hält mehr oder weniger das ganze Jahr die See, während
unsere deutschen Ewer und' Schaluppen oft sogar im Sommer wochenlang im
Hafen bleiben müssen, weil ein etwas frischerer Wind bläst. Um die kostbare
Fähigkeit unausgesetzten Betriebes völlig auszunutzen, überlassen die Smacks
das Geschäft, ihren Fang an den Markt zu bringen und ihre erschöpften Eis'
Vorräthe zu ergänzen, einem eigens dafür gebauten und eingerichteten Trans¬
portschiff, Schnellsegler (Jäger) oder Dampfer. Das Eis steigert die Haltbarkeit
des Fisches ums Zehnfache oder mehr, während endlich die Eisenbahnen ihn
rasch über das ganze Land hin befördern. So oft in England eine neue
Schienenverbindung zwischen einem Küstenpunkte und dem Innern eröffnet
wird, spüren es zunächst die Fischmärkte der großen Städte durch vermehrte
Zufuhr; und wenn das schottische Hochland demnächst aller Terrainschwierigkeiten
ungeachtet seine Bahn erhalten wird, so ist es der Häringsfang von Wink, die
Spekulation auf frische, nicht auf gesalzene (weiße) »'der geräucherte (rothe).
Häringe hauptsächlich, was dazu treibt. Auch in Deutschland haben wir Aehn-
liches schon erlebt, wenn auch dem kleinen Maßstab unseres Seefischereibetriebes
entsprechend. Der blühende Schellsischhandel der Inseln Norderney und Bor.
tun ist ein Kind der in Emden mündenden hannoverischen Westbahn und würde
seine Dimensionen verdoppeln und verdreifachen, sobald die Bahn über Norden
bis Norddeich, Norderney gegenüber, weitergeführt würde.
Die Mitte der von Fischen wimmelnden Doggerbank ist von Emden nicht
viel weiter entfernt als von Hull, und von Brem^erhaven nicht einmal ganz so
weit wie von London, während Boulogne dorthin noch etwas weiter hat als
die englische Hauptstadt. Allein auch diesseits der Doggerbank, ja unmittelbar
jenseits der dem nordwestdeutschen Ufer vorgeschobenen Inselkette liegen Fisch¬
gründe, die so reichlich lohnen, daß englische Trawler die weite Fahrt von
Grimsby oder Aarmoutl^ nicht scheuen, um hier zu Hunderten ihre Beute zu
holen. Eine hier fischende deutsche Trawler- oder Kurrerflotte (wenn man nach
englischer Analogie für den neuen Begriff ein neues Wort bilden darf), die
von Bremerhaven oder Emden ausführe, würde dreimal so rasch ihren Fang auf
den nächstgelegenen Bahnhof liefern und dreimal so rasch ihre Vorräthe an Eis
oder Lebensmitteln erneuern können, d. h. dreimal so wenig an Transportkosten
aufzuwenden brauchen. Auch hinsichtlich des Eises für die Conservirung der
Fische sind wir vor England begünstigt. Der strenge norddeutsche Winter liefert
sicherer und mehr Eis als der mildere englische; stellt sich dort also schon die
Eismaschine vortheilhaft heraus im Vergleich zu der Beziehung von norwegi¬
schen naturels, so wird sie es um so eher hier thun, wo sie in so viel ge¬
ringerem Maße ergänzend einzutreten hat, vorausgesetzt nur, daß die erste Aus¬
lage sich durch einen hinlänglich großen Betrieb bezahlt macht. Sollte man
aber die fremde Aushilfe nicht entbehren können, so ist Norwegen den deutschen
Nordseehäfen gleich nahe wie den englischen.
Die wichtigsten Bedingungen, um frischen Seefisch zu einem allgemeinen
Volksnahrungsmittel zu machen, sind also auch in Deutschland gegeben. Er
kann voraussichtlich in demselben Maße billiger geliefert werden, als in Eng¬
land, wie die englischen Preise gegenwärtig noch überhaupt höher sind als die
deutschen. Die Engländer holen uns unser Mastvieh in immer zunehmenden
Massen weg; es ist Zeit, daß wir in den Thieren des Meeres, die kein Futter
kosten und folglich gegen die Fang- und Beförderungskosten allein zu haben
sind, eine Ausgleichung suchen, anstatt ihnen auch diese Weide ausschließlich zu
überlassen, sogar angesichts unserer eigenen Küsten. An Empfänglichkeit wird
es dem Gaumen und Magen des deutschen Publikums im Allgemeinen sicherlich
nicht fehlen. Die katholische Hälfte der Nation ist schon durch kirchliche Gebote
auf einen regelmäßigen Genuß von Fisch hingewiesen, und wird die trockene
Eintönigkeit des Stockfisches gewiß gern durch Schollen, Schellfische und Zungen
unterbrochen sehen. Aber auch die Andersgläubigen sind keine Fischverächter,
wie der fortwährend zunehmende Verbrauch gesalzener und geräucherter Häringe
zeigt. In den sieben Jahren 1837—1864 hat die Einfuhr von Häringen in
deutsche Häfen um ungefähr drei Viertel zugenommen, und wenn auch die
östlichen Binnenländer, Nußland (nebst Polen) und Oestreich daran ihren An¬
theil haben, so bleibt doch das Meiste in Deutschland selbst. Der Häring aber
ist gleich dem Stockfisch nur ein Surrogat für frischen Fisch. In England, wo
man ihn schon seit langer Zeit frisch haben konnte, weil er dort in dichten
Zügen an die Küsten kommt, wird seit der Ausbildung des Eisenbahnnetzes
mehr frischer Häring genossen als gesalzener oder geräucherter. Man nimmt
eben den conservirten Fisch gleich wie das conservirte Fleisch und das conser-
virte Gemüse nur, wo das frische mangelt. Insofern kann man den Verbrauch
von Häringen und Stockfisch als ein untrügliches Zeichen ansehen, daß der
öffentliche Geschmack in Deutschland den frischen Seefisch so wenig verschmähen
wird, wie das irgendwo geschehen ist, wohin er sich in wirklich gutem und
gesundem Zustande bringen ließ. Aber freilich, um unter die regelmäßigen Be¬
standtheile unserer Mahlzeiten, auf den Speisezettel der gewöhnlichen bürger¬
lichen Haushaltung aufgenommen zu werden, muß er so reichlich und ununter-
brechen auf den Markt kommen, wie irgendeine andere Gattung Fleisch. Je
umfänglicher daher der neue Betrieb in Gang gesetzt werden kann, desto eher
wird ihm in einem gesicherten Absatz seiner Ergebnisse die feste finanzielle Basis
gewonnen werden. Eine große Gesellschaft wird besser sein als eine kleine, und
mehre gleichzeitig auftretende besser als eine einzige.
Angesehener unter den Feinschmeckern und höher geschätzt von der die
Nahrungsmittel würdigenden Wissenschaft als irgendein Fisch, ist das bekannteste
unter den Schalthieren des Meeres, die Auster. Von ihrem Fang aber gilt,
was von dem des Härings, des Dorsches und der thrangebenden großen See-
thiere: es ist ein Geschäft von zu schwankendem Ertrag, um ohne ein das Aus¬
harren ermöglichendes großes Capital mit hinlänglich sicherer Aussicht auf
Erfolg betrieben werden zu können. Mehre Jahre hinter einander fehlt oft in
einem weiten Umkreis der Nachwuchs. Die Forschungen der mehrerwähnten
englischen Untersuchungscommission haben ergeben, daß an der neuerdings ein-
getretenen Seltenheit der Austern keineswegs eine übermäßige Leerung der Ge¬
wässer durch die Fischer Schuld ist, sondern lediglich jenes Naturereignis;, dessen
Gründe man noch nicht kennt und dessen unerfreuliche Wirkungen man noch
nicht einzuschränken weiß. Die Gesellschaft der Austernfischer von Whitstable an
der Mündung der Themse hat sich wenigstens zum Theil gegen die üblen wirth¬
schaftlichen Folgen der Calamität geschützt, indem sie rechtzeitig anderswoher
junge Austern gekauft und in ihrem Park zur Mästung eingesetzt hat. Die
Austerngilde von Colchester, welche geringere Voraussicht bewährt hat. mußte
ihr Geschäft zeitweilig ganz einstellen. Die Austernfischerei bei der Insel Jersey
kam von 30—40,000 Pfund Sterling Jahresertrag auf 3—4.000 Pfund herab.
Die alten Praktiker der Austernzucht verlieren darüber jedoch den Muth nicht,
Weil sie sich früherer gleicher Perioden mit schließlicher Wiederkehr der Frucht¬
barkeit erinnern. Ob die seinen englischen Natives an unseren Küsten und
Inseln mit Erfolg zu züchten sein werden, wird bezweifelt; für gewiß hingegen
hält man es von der großen texeler Kor-Auster. Holländische Kurrer, die in
ihrem Grundnetz neben den Fischen stets auch eine gewisse Menge Austern ans
Tageslicht ziehen, legen dieselben schon seit längeren Jahren bei der deutschen
Insel Wangerooge in einer Art abgegrenzten Bettes nieder, lassen sie dort die
schwächende Zeit des Laichens überstehen, und bringen sie vom September an
nach Hamburg, Bremen und Amsterdam zu Markte. Ein Fingerzeig, daß auch
deutsche Betriebsamkeit hier noch neben den bekannten Schleswig-holsteinischen
Bänken ein lohnendes Feld hat.
Wenn wir uns zu lange die volkswirthschaftlichen Vortheile des Seefisch¬
fangs haben entgehen lassen, die Bereicherung unseres Fleischmarktes um eine
gesunde, schmackhafte und billige Speise, den erhöhten, besser gesicherten und
alle männlichen Eigenschaften mehr entwickelnden Erwerb für die Küsten- und
Jnselbevölkerung, — so hat sich dafür der Staat dieses. Thätigkeitsgebiets auch
nicht mit störender Einmischung angenommen, und die nun einsetzenden Be¬
strebungen brauchen nicht erst künstliche Schranken zu überspringen. Es ist das
Verdienst der letzten englischen Untersuchungscommission, die alleinige Heilsam-
keit der Freiheit im Fischereiwesen durch eine Fülle zuverlässig ermittelter That¬
sachen sowohl, wie durch einleuchtende Ableitung von Schlüssen aus denselben
ins Licht gesetzt zu haben. Sie erklärt sich gegen die gesetzliche Durchführung
einer geschlossenen Zeit für die Austernfischerei (1. Mai bis 31. August), wie sie
in England merkwürdigerweise grade für die minder bedeutenden Anlagen "be¬
steht, nicht aber für dle großartige Fischerei der Südostküste, bei Colchester,
Whiistable, Faversham u. s. w.; serner gegen die gleiche Maßregel in Bezug
aus den Häringsfang an der schottischen Westküste nicht nur, sondern auch gegen
die Beschränkung der fremden Häringsfänger an der schottischen Ostküste aus
die hohe See jenseits eines drei Meilen breiten Wassergürtels längs der Küste,
und gegen das Verbot für dieselben, sich anders als aus Noth der dortigen
Häfen u. s. w. zu bedienen; auch gegen jedes Verbot der Einfuhr von Fischen
irgendeiner Art auf fremden Schiffen, und gegen verbotähnlich hohe Zölle; am
entschiedensten aber, mit immer neuem Nachdruck gegen die geringste Beschrän¬
kung der Grunbnetzsischerei. sei es unter dem Vorwande der Beeinträchtigung
anderer Arten der Fischerei oder unter dem der Erschöpfung des Meeres. Die
allgemeine und unbedingte Forderung der Freiheit, die in diesem werthvollen
Bericht auf Grund der ausgedehntesten und mannigfachsten Erfahrung der Welt
erhoben wird, ist für uns in Deutschland der Regel nach der ohne weiteres
gegebene Ausgangspunkt. Wir haben daher nur Sorge zu tragen, 'daß sie uns
nicht erst noch nachträglich verkümmert werde. Wir wollen auch den englischen
und holländischen Kurrern nicht mißgönnen, was sie unmittelbar vor unseren
Häfen und Strömen wegholen, sondern nur in friedlichem Wetteifer die natür¬
liche Überlegenheit der Nähe, die wesentliche Gleichheit aller übrigen Be¬
dingungen für unsere heimischen Bedürfnisse geltendzumachen suchen.
Damit wird nicht allein den beiden schon berührten volkswirthschaftlichen
Interessen gedient, der allgemeinen Ernährung und dem Erwerbe der Küsten-
und Jnselbevölkerung, sondern auch einem dritten, das noch directer in die
Sphäre nationaler Würdigkeit aufsteigt: der Herstellung einer Schule für voll¬
endete Seeleute, welche die Handelsmarine Deutschlands sehr gut vertragen und
die künftige preußisch-deutsche Kriegsmarine kaum entbehren kann. Wie der
Fischfang bisher von deutschen Küstenortcn aus betrieben wurde, verdarb er
freilich eher, was sich ihm widmete. Aber wie er zukünftig mit der Kurre hinter
dem beständig scehaltenden Schooner oder Kutter betrieben wetten wird, lehrt
er die Besatzung, die keinen entbehrlichen Mann an Bord hat, alle ihre Kräfte
aufbieten, und das Meer wie ihre Tasche, t>le Luft zu jeder Jahreszeit kennen.
Mit dem so betriebenen Fischfang kann kaum die lange Fahrt den Vergleich
aushalten, denn alle Frachtschiffahrt hat den Hafen zum Ziel und betrachtet
Stürme als Gefahren, die man füglicher meidet als aufsucht; während der
Fischfang auf hoher See grade darin sein Verdienst zu suchen hat, daß er vor
keinem Wind und Wellengang womöglich den bergenden Hafen sucht. Es
kommt noch hinzu, daß der Fischfang den kraftentbindenden Reiz des Antheils
am Gewinn statt festen Lohnes, den die Frachtschiffahrt bis jetzt noch durchweg
ausschließt, nicht allein zuläßt, sondern gradezu fordert. Die bildende und
Stadtende Kraft, die in dieser Art der Aufgabe sowohl als der Belohnung liegt,
ist von anderen Nationen längst nach Gebühr gewürdigt worden. Sie haben
es sich daher viel Geld und gesetzgeberisches Nachdenken kosten lasse», um die
der See zugewandten Theile des Volkes zur Betheiligung an der Fischerei zu
drängen. Prämien und Schutz- oder Prohibitivzölle mußten diesem Zwecke
dienen. Allein so wichtig der Zweck, so verfehlt waren derartige Mittel, wie
man sich wenigstens in England, wo sie zu Anfang der dreißiger Jahre, und
in Holland, wo sie gegen Ende der fünfziger Jahre abgeschafft wurden, allgemein
überzeugt hat. In Frankreich hingegen besteht noch heute ein kostspieliges und
Verwickeltes System officieller Begünstigung des Seefischfangs, und ist erst im
Jahre 1861 wieder bis 1871 erneuert worden, wiewohl es auch dort an mi߬
billigenden Urtheilen über seinen Werth und seine Wirkungen nicht fehlt.
Bis vor. wenigen Jahren war die gesammte französische Fischerei sehr wirk¬
sam, durch einen aus iM Ergebnissen fremden Fischfangs liegenden Einfuhrzoll
geschützt, der in allen Häfen 40 Franken für 100 Kilogramm betrug. Jetzt ist
derselbe auf zehn umd elf Franken nebst doppelter Zuschlagsdecime ermäßigt,
Mb zu diesem Satze kann der großartige Fischfang der Engländer immerhin
schon etwaH auf de,n pariser Markt liefern. Die völlige Abschaffung würde
freilich der Volksernährung in Frankreich einen noch viel handgreiflicheren Dienst
leisten. Nicht blos insofern sie weit größere Massen englischen, holländischen,
belgischen und demnächst vielleicht ques deutschen Seefisches ins Land ziehen,
sondern indem sie den Kurrern von Boulogne, Fecamp und Dieppe zum wirk-
samsten Anstoß werden würde, sich mit Eis zu versehen und zum Behuf der
Anwendung eines gemeinsamen Transportschiffs in Flottillen zusammenzuthun.
Schwerer aber als der Schutzzoll lastet auf der Entwickelung des französischen,
Seefischfangs das Prämienwesen. Es ist jetzt grade hundert Jahre alt. Ab¬
wechselnd hat man die Sätze hinaus- und hinuntergesetzt, — das letztere, wenn
der Gedanke der Abschaffung einmal obenauf kam und die Anhänger des Be¬
stehenden zu Kompromissen nöthigte, das erstere, wenn man sich wieder in den
Politischen Zweck der Institution verliebte und die Mittel nur nach ihrer Wirk¬
samkeit bemaß- Die Prämien sind ausgeworfen für den Stocksischsang und den
Walfischfang. Der Fang frischen Fisches wird nicht weiter als durch den Ein-
gangSzoll für fremden Fisch unterstützt, obgleich er, auf großen seehaltenden
Schiffen betrieben, die seemännischen Tugenden mindestens ebenso sehr zu ent-
wickeln dienen möchte wie der Stocksischsang von Se. Pierre und Miquelon (Neu¬
fundland), bei'dem die Mehrzahl der Leute mehr am festen Lande arbeitet als
im Wogenbraus. Der Härings- und Makrelenfang empfängt nur die mittelbare
Begünstigung zoll- und steuerfreien Salzes. Jene anderen beiden Arten des
Secfischfangs aber werden in zwiefacher Weise unterstützt, theils durch eine
Prämie für jeden Mann der Besatzung — 15—50 Franken je nach dem Fang¬
ort u. s. w. beim Stocksischsang, 72—120 Franken je nach dem rein französischen
oder gemischten Ursprung der Mannschaft beim Walfischfang — theils durch
eine Prämie für jeden Centner der Beute, die sich nach dem Bestimmungsort
abstuft. Das heutige Frankreich steht in diesem Stück noch völlig auf dem
patriarchalischen Standpunkt Friedrichs des Großen, der den ostfricstschen Hä-
ringsfang auch nur dadurch in Schwung zu bringen wußte, daß er ihm in der
Form von Prämien die beträchtlichsten baaren Zuschüsse machte. Zum Danke
für die Unterstützung des Staats muß sich der französische Seefischfang eine
Bevormundung gefallen lassen, die in Deutschland allgemeines Murren, in Eng¬
land oder Nordamerika offenen Widerstand hervorrufen würde. Die Zeit des
Segelns und Ausbleibens, die geringste Zahl der Mannschaft, die Ausrüstung
des Schiffes bis ins Kleinste ist gesetzlich vorgeschrieben, und verpönt nicht nur,
wie selbstverständlich wäre, die Erschleichung der Prämie durch verläugnete
Einführung fremden gekauften Fisches, sondern auch der geringste Verstoß gegen
jene moderne Kleider- und Speisenordnung. Mindestens in demselben Maße
wie die Gewöhnung der Mannschaft an Seegefahren sie Physisch fähiger machen
mag, auf der Kriegsmarine ihres Landes mit Nutzen verwandt zu werden, muß
die Gewöhnung sämmtlicher beim Seesischfang betheiligter Bevölkerungsclafsen
an eine so weitgehende und so tiefeingreifende Vormundschaft der Behörden sie
moralisch unfähiger machen, ihr Gewerbe fortschreitend zu entwickeln. Das
Prämienwesen ist ein Lotterbett, das doppelt erschlafft: durch den Lohn, den es
auch der ausgemachtesten Trägheit schon spendet, und durch die Erstickung jedes
Gefühls persönlicher Verantwortlichkeit in der zwangsmäßigen Durchführung
allumfassender, haargenauer Vorschriften. Es ist aber zugleich eine so verfüh¬
rerische Versuchung zur Betrügerei, daß z. B. die französischen Kriegsschiffe,
welche überall den Fischerflotten ihrer Nation als Polizeiwache beigegeben sind,
als ihre Hauptaufgabe zu betrachten haben, dafür zu sorgen, daß nicht fremder
Fisch eine französische Prämie davonträgt. Bis zum Jahre 1871 ist noch voll¬
auf Frist, die öffentliche Meinung über die Naturwidrigkeit des Prämienwesens
aufzuklären und gegen dessen dann fällige Erneuerung unüberwindlich einzu¬
nehmen: möge sie von den wirthschaftskundigen Männern unseres großen Nachbar¬
landes nicht versäumt werden!
In unserem Vaterlande wird es mit der Einführung eines so schlecht-
empfohlenen Systems keinerlei Gefahr haben. Wenn der Staat sich aufgelegt ->
fühlen sollte, die durch entstehende größere Seefischfanggesellschaften sich bietende
Gelegenheit zur regelmäßigen Heranbildung vollendeter Seeleute seinerseits zu
ergreifen, der Seefahrerbevölkerung der Küsten und Inseln einen Sporn zur
Benutzung dieser Gelegenheit in immer steigendem Grade zu geben, so bieten
sich ihm dafür bessere Mittel und Wege dar. Er kann z. B. feststellen, daß der
Dienst auf der Fischerflotte den Seemann etwa auf dieselbe Weise rascher aus¬
bilde für den Dienst auf Kriegsschiffen, wie die Absolvirung gewisser Schulen
oder Schulclassen den künftigen Soldaten, dem dann freisteht, sich von einer
dreijährigen Präsenzzett mit einem einzigen Freiwilligenjahr loszukaufen. Eine
derartige Einrichtung würde allerdings für die Fischereigesellschaften voraussicht¬
lich die angenehme Folge haben, ihnen die Mannschaft reichlicher zuströmen zu
lassen. Aber nicht deswegen natürlich würde der Staat es thun, sondern nur
dann, wenn er sich überzeugt, daß er vor allem seinen eigenem militärischen
Interesse so am besten dienen werde, und daß es gerecht sei. den Fischern
weniger von ihrer Zeit zu nehmen, als den im Durchschnitt nicht so trefflich
vorgebildeten Matrosen der Handelsflotte.
Zur Ergänzung der sehr zutreffenden Schilderung der politischen Zustände
in dem Großherzogthum Hessen, welche ich in einem der letzten Hefte der
„Grenzboten" las. theile ich Ihnen hier ein rheinhessisches Wahlmanifest mit.
Es ist — so scheint es — veranlaßt durch den in Rheinhessen (und
namentlich in der Stadt Mainz, in welcher Preußen die Festung, der Gro߬
herzog Ludwig und sein Freiherr v. Dalwig? das Land, der Bischof Freiherr
v. Ketteler und seine Jesuiten die Seelen zu regieren berufen sind) eingeleiteten
Versuch, durch eine Coalition der Schwarzen und Rothen, der Klerikalen und
der Radicalen. der particularistischen Legitimitätsritter und der föderativem Re¬
publikaner, — die Fortschrittspartei, welche für den Anschluß an Preußen und
an den norddeutschen Bund wirkt, aus dem Felde zu schlagen.
Wir glauben nicht, daß jener Versuch gelingt.
Denn wenn die geistig und wirthschaftlich hochcultivirte, seit länger als
einem halben Jahrhundert von allen culturfcindlichen Ueberresten des Mittel¬
alters gründlich gesäuberte Provinz Rheinhessen, und wenn gar die Stadt
Mainz vergessen könnten, daß sie ihre g-anze Blüthe Preußen und nur Preußen
zu verdanken haben. — dem Preußen, welches den Zollverein gegründet, — dem
Preußen, welches die linksrheinische Eisenbahn zu Stande gebracht, während der
directe und ununterbrochene Schienenstrang auf dem rechten Ufer durch den
nassauisch-frankfurtischen Particularismus bisher unmöglich gemacht worden ist.
— dem Preußen, das seit Jahren bemüht war. die Rheinzölle zu beseitigen,
und , nachdem es zu diesem Zwecke Jahrzehnte lang mit dem Großherzogthum
Hessen und dem Herzogthum Nassau in endlosen diplomatischen Verhandlungen
vergeblich gerungen, die kriegerischen Erfolge von 1866 zu einem Werke des
Friedens und des wirthschaftlichen Fortschritts benutzte, indem es mit seinem
scharfen Schwerte die Fesseln zerschlug, welche die Kleinstaaterei dem Schiff'
sahrtsverkehre des mächtigsten und schönsten deutschen Stromes angelegt hatte.
— jenes Stromes, von welchem schon Max v. Schenkendorf sang: „Frei kommt
er von den Alpen her; er walte frei vom Fels zum Meer!" — wenn Rhein¬
hessen und Mainz alles das vergessen haben sollten, so verdienten sie in der
That kein besseres Schicksal, als aller dieser Wohlthaten auf so lange wieder
verlustig zu gehen, bis sie durch Schaden klug geworden sind.
Jedenfalls danken wir jenem Versuch, von welchem wir glauben und hoffen,
daß er erfolglos bleibt, das Eingangs erwähnte Wahlmanifest; — und das ist
nicht wenig.
Sein Verfasser ist Ludwig Bamberger, — gleich Friedrich Hecker, Arnold
Rüge und Gottfried Kinkel, ein eifriger und hervorragender Demokrat von
1848 und gleich ihnen ein ebenso eifriger und ebenso hervorragender Unitarier
von 1866.
Die Strahlen der aufgehenden Einheitssonne erleuchteten schon die Spitzen
der wahren und ehrlichen Demokratie. Die ungesunden Thäler der particula-
ristischen Winkeldemokratie liegen noch im tiefsten Schatten. Die deutsche
Demokratie in der amerikanischen Union, in England, in Frankreich, in der
Schweiz jubelt dem Siege der Einheit zu; die frankfurter Localdemokratie
schmollt, weil einige ihrer monopolistischen Kirchthurmsinteressen gekränkt worden
und ihre todesmuthigen Jünglinge, die so lange und so oft „Feigheit und
Verrath" geschrieen haben und vor Thatendurst schier verschmachtet sind, nun
nähere Bekanntschaft mit dem Zündnadelgewehr machen und Beweise ihres
Muthes und ihrer Thatkraft liefern sollen.
Ludwig Bamberger ist ein echter Sohn des „goldenen Mainz", — voll des
rheinländischen Esprit und Humor, aber zugleich ein Mann von starrer Ueber¬
zeugungstreue und eiserner Konsequenz.
Im Jahre 1848 Redacteur der „Mainzer Zeitung", deren Leitartikel selbst
der. welcher ihre Tendenz nicht billigte, wegen ihres kräftigen Ungestüms, ihrer
geistreichen Schärfe und ihrer eindringenden Gewalt bewundern mußte, im Jahre
184V in das in Trümmer fallende deutsche Parlament gewählt, — dieses Par¬
lament, welches über der Theorie die Praxis, über dem formellen Recht die
materielle Möcht, über der scheinbaren Freiheit die reale Einheit vergessen zu
haben scheint —, mußte er später nach Paris flüchten, um dem Rachedurst des
kleinlichsten kleinstaatlichen Neactiönchens zu entfliehen.
Aber er blieb auf französischer Erde ein treuer Sohn des deutschen Wate»
landes. Kein neues oder großes Ereigniß tauchte auf, ohne daß er seine Stimme
darüber abgab. Im Jahre 1859 verspottete er in seinem „Juchheh, nach Italia!"
den östreichisch-legitimistischen Fanatismus, welcher einen Theil von Süd- und
Mitteldeutschland ergriffen hatte; im Jahre 1865 bekämpfte er die „Trias" der
Herren Oesterlen, Trabert und Eckardt; im Jahre 1866 focht er für die Devise:
„Durch Einheit zur Freiheit!" und ließ seine glänzenden Ausführungen grade
in der düsseldorfer „Rheinischen Zeitung" drucken, in welcher sich einige nieder-
rheinische Radicale für den umgekehrten Weg capricirt zu haben scheinen.
Doch genug der Vorrede. Das Werk muß sich selbst loben. Das Wahl-
manifest Nambergers an die Wähler Rheinhessens lautet, wie folgt:
,„Die Wahl der Abgeordneten für die hessische Kammer hat dieses Mal
eine Bedeutung, welche weit über die Grenzen des Landes Kinausreicht. Sie
kann von unabsehbarer Folge für das gesammte Deutschland sein. In der
entsPeldungsschwangeren Wichtigkeit solchen Momentes schöpft ein altes Mit¬
glied der demokratischen Partei den Muth, auf-den Wunsch einiger Gleichge-
sinnten nach langjähriger Trennung in den vorbereitenden Kampf der Mei¬
nungen miteinzutreten.
Und obwohl es sich um einen Kampf handelt, so sollte dennoch Eines
nicht vergessen werden. Es sind nicht blos Bürger derselben Stadt zunächst,
sondern auch Männer derselben freisinnigen Grundsätze, die einander gegenüber¬
stehen. Daß ihre Ansichten von einander abweichen, scheint unvermeidlich; daß
jeder der seinigen zum Sieg verhelfe, ist Gewissenspflicht; aber mitten in diesem
Widerstreit möge keine von beiden Seiten außer Acht lassen, daß beide dem
guten Geist dienen, daß jede Verunglimpfung, Verhöhnung des Gegners nur
dem gemeinsamen Feind, dem Rückschritt, Vorschub leisten würde.
Im Namen dieses guten Geistes und unter seinem versöhnenden Einfluß
möge es mir vergönnt sein, zu untersuchen, wo die Wahrheit und wo der Irr¬
thum waltet.
Von allen Uebeln, unter denen Deutschland seufzte, war anerkanntermaßen
das Bestehen der kleinen selbständigen Landcshcrrschasten, welche der westfälische
und der wiener Kongreß verewigt hatten, das größte. Alle Versuche diesen
Fluch zu bannen, hatten fehlgeschlagen, seitdem Deutschland zur Erkenntniß
seiner Noth erwacht war. Da kommt ein Sturm und fegt die drei schlimmsten
dieser Herrschaften von der deutschen Erde für immer hinweg. Es war ein
großer Tag, als dies Ereigniß in das Buch der Weltgeschichte eingetragen wurde.
Die fluch- und thränenbeladenen Throne von Hannover, von Kurhessen und
Nassau sind nicht mehr; dieser Schandfleck ist für immer getilgt aus dem Leben
der Nation; ein Tag der Gerechtigkeit ist herangebrochen über die, welchen der
Weheruf und der Herzenswunsch der Völker ein Gegenstand des Hohnes und
des Uebermuthes gewesen! Gleichzeitig mit diesem trostreichen Ereigniß traten
andere Umgestaltungen ein. welche mit einer Gruppe andrer Staaten zwar nicht
ebenmäßig ein Ende machten, allein doch die Kraft ihrer widernatürlichen Selb¬
ständigkeit gebrochen und ihre künftige Auflösung vorbereitet haben. Und ohne
Zweifel wäre die Vereinigung des gesam indem Deutschlands in ihren ersten
aber wichtigsten Umrissen bereits zu Stande gekommen, wenn nicht das eifer¬
süchtige Ausland — dermalen noch dem entzweiten Vaterlande gegenüber mächtig
— drohend Halt geboten hätte.
Unter solchen Umständen treten diese unsere Wahlen heran, und die Frage,
welche es zu beantworten gilt, lautet einfach: Sollen die Bürger dieser Provinz
nach Kräften dazu beitragen, daß das lang ersehnte, endlich begonnene Wert
auf dem Wege, den die Ereignisse angebahnt, vollendet werde, wie unsere Partei
es will? Oder aber sollen sie Herz und Sinn und Mühe daran setzen, das
Gelungene wieder zu zerstören? Sollen sie dahin wirken, daß derjenige Theil
von Deutschland, der wegen der Drohungen des Auslandes hat abgesondert
bleiben müssen, in möglichst schroffer Trennung erhalten werde, wie die andere
Partei es verlangt?
Dies, wie man immer die Sache beschönige, ist die wahre Frage, und sie
stellen, heißt sie lösen.
In einem Wahlerlaß, den die Bürger Äleiter, Barthel und Genossen unter¬
schrieben haben, finden sich eine Menge guter Grundsätze und frommer Wünsche
ausgesprochen, die ein jeglicher auch auf unserer Seite unterschreiben möchte.
Aber wenn es nur darauf ankäme, fromme Wünsche und schöne Grundsätze auf¬
zustellen, so wäre Deutschland seit Jahren das glücklichste Land der Erde.
Daraus kommt es aber nicht an, und besonders heute nicht. Alle wollen
ja das Gute, und deshalb handelt es sich nur um eine Frage der Ausführung,
um das, was man im gemeinen Leben eine praktische Frage nennt. Auf
der einen Seite steht ein deutscher Bund, dessen erstes Erwachen die drei unver¬
besserlichen Regentenhäuser in Deutschland gestürzt, dreißig Millionen Landsleute
in ein Band vereinigt hat; ein Bund, der, wenn wir uns nicht starrsinnig
unserm eigenen Wachsthum widersetzen, in Bälde das ganze Deutschland um¬
fassen muß.
Was aber steht auf der andern Seite? Etwas unendlich schwächeres. Un¬
vollkommeneres, Geringeres als selbst der vielgeschmähte deutsche Bund je ge¬
wesen. Drei bis vier kleine Staaten ohne jeden gesetzlichen oder übereinkunfts-
mäßigen Zusammenhang, ohne die Kraft, welche zu selbständiger Entwicklung
unentbehrlich ist, und ohne jeden Anfang künftiger Verschmelzung. Wohl hört
man von einem freien einigen Südbunde reden, allein auf was stützt man sich,
um ihn ans Tageslicht zu rufen? Auf die Einsicht, den guten Willen der Re¬
gierungen?' Wo ist die geringste Bürgschaft für dergleichen Bestrebungen nach
oben? und wo ist in Ermangelung dieser Einsicht und Bereitwilligkeit die Bürg-
schaft, daß der Wunsch der Regierten genügen werde, einen solchen Bund ihren
Herrschern aufzunöihigen? Und gar einen Bund, wie man uns ihn ausmalt, mit
allen Farben der Phantasie, voll Freiheit, Gleichheit und Brüderschaft? Aber
um Gottes Willen, aus welchem Lande kommen denn die Leute, welche uns
diesen goldenen Südbund versprechen und aus welche Erfahrungen hin verheißen
sie uns südlich des Mains diesen gesegneten Garten, drinnen Milch und Honig
fließen soll?
Statt eines Bundes, der bereits Dreivieltheile von Deutschland umfaßt,
schlagen sie einen vor, der kaum ein Viertheil einschließen soll; statt eines Bun¬
des, dessen Kräfte eben die Probe einer wunderbaren Lebensfähigkeit abgelegt
haben, suchen sie einen Bund aus Bestandtheilen, welche mit ihrer Kopflosigkeit
die Welt in Staunen setzten; .statt eines Bundes, der ist, suchen sie einen Bund,
der nicht ist".
Und wenn wir fragen, warum das Alles? warum, da endlich nach einem
halben Jahrhundert Deutschland eine Gestalt annimmt, warum klammert Ihr
Euch verzweifelt an den tausendjährigen Fluch des Zwiespalts und der Ver¬
wirrung? Wenn wir so fragen, so wird uns die Antwort: weil in Preußen
die Freiheit nicht herrscht.
Wahrlich, wenn die Frage nach der Freiheit auftaucht, ob diesseits oder
jenseits des Mains, so möchte man doch seine Rede anfangen, wie jener Pre¬
diger: „Hier ist nichts und da ist nichts, aus Nichts hat Gott die Welt er¬
schaffen!«
Nirgends noch heute verdient das erhabene Wort der Freiheit auf deutsche
Unterthanen angewandt zu werden. Frei sind nur die Bürger, vor deren Kraft
und Ansehen die eigene Regierung demüthig das Haupt beugt, frei ist nicht
etwa ein Ländchen, dem hie und da ein gutmüthiger Regent in menschenfreund¬
licher Anwandlung den Zügel auf den Hals legt.
Wer uns heute nicht mit faßlichen Worten, sondern nur mit allgemeinen
Betheuerungen nachweisen kann, wieso er der Freiheit eine Gasse machen wolle,
der störe und verwirre uns nicht in dem großen elementaren Werk der eben zu
gründenden Einheit. Das ist unser tiefberechtigtes lautes und lauteres Verlangen!
Und ist denn die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit? Warum hat
denn Deutschland seit fünfzig Jahren um Einheit gerufen? warum nach einem
Vaterlande vom Rhein bis zum Ozean? Ist denn die Freiheit blos ein ge¬
malter Götze, den man nur anbetet, weil er von außen mit Schwarz, Roth
und Gold angestrichen ist? Oder hat sie Leben im Leibe, beseelenden Odem
und heilvolle Kraft? Wenn die Einheit nichts ist als ein hölzerner Götze, so
sind die'Italiener Narren, die sich selig preisen in ihrem Besitz; — so sind die
Amerikaner Narren, welche eine halbe Million Menschen und zehntausend Mil¬
lionen Gulden daran gesetzt haben, ihre Einheit zu erhalten; so waren die
großen Helden der französischen Revolution Narren, welche auf ihre Fahne
schrieben: Einheit und Unteilbarkeit oder den Tod!
Die Einheit ist aber keine Narrethei! Sie ist das Dasein, das Wesen,
das Fundament eines Volks, das Zusammenwirken seiner Kräfte und der Strom
seines Lebens, das Ineinandergreifen seiner Glieder und das Zusammenfließen
seiner Säfte; die Verbindung zwischen Kopf und Leib, zwischen Arm und Ge¬
hirn. Sagt man: ein Mensch ist gelähmt, so heißt das nichts anders: als die
Einheit ist aufgehoben in seinem Körper. Was der Kopf will, das führt der
Arm nicht aus, und wohin die Augen sehen, da trägt der Fuß nicht hin. Ein
Volk, das nicht eins ist, ist ein lahmes Volk, und ein Volk, das an Arm und
Bein gelähmt ist, wird nimmer ein freies Volk. Seit fünfzig Jahren war
Deutschland lahm. Kein Gliid folgte dem andern, kein Wille galt für die
Glieder. Und jetzt, da endlich über Dreivierthcilc der Nation in die Möglichkeit
gebracht worden sind, bald einen Willen und eine Kraft zu haben, jetzt sollen
wir uns mit dem letzten lahmen Arm wehren, daß nicht die Einheit zum Ziele
gedeihe?
Und warum denn? Weil Preußen der Staat ist. unter dessen Bei- und
Vorstand die Einheit erworben werden soll! Und weil Euch Preußen nicht frei
genug ist! Sieh da! Sollte man nicht meinen, Ihr seiet auf Rosen gebettet?
Wenn man hört, wie die Leute vom Sonderbund in ihren Manifesten die Kost¬
verächter spielen, über die Lage des preußischen Volkes mitleidig die Achsel
zucken, so möchte man wahrhaftig denken, sie hätten bis jetzt im Lande-der
ewigen Seligkeit gelebt. Sie hätten nur brauchen zu commandiren, so wären
flugs der Großherzog und der Herr v. Dalwigk bereit gewesen, ihnen Alles an
den Augen abzusehen.
Wie stand es denn aber in Wirklichkeit? Ist vielleicht die hessische Ver-
fassung besser als die preußische? oder ist sie strenger beobachtet worden? Ist
die Kammer der Standesherrn in Darmstadt liberaler als das Herrenhaus in
Berlin? Sind die Herren Fürst von Menburg und Bcuon v. Riedesel bessere
Demokraten als die Herren v. Kleist-Retzow und v. Senfft-Pilsach? Nach dem
Buchstaben der preußischen Verfassung wenigstens kann ohne Zustimmung der
zweiten Kammer sein Gesetz zu Stande kommen, und die zweite Kammer wird
ausschließlich vom Volke gewählt. In der hessischen Kammer aber sitzen sechs
Mitglieder, welche nicht vom Volke ernannt sind, und bei Uneinigkeit mit den
Standesherren werden die zwei Kammern in einen Topf geworfen, in welchem
die Vertreter des Volkes unfehlbar ersaufen. Möchte doch der bisherige Ab¬
geordnete für Mainz nicht verlangen, daß wir uns den Lehren seiner eigenen
jüngsten Erfahrung verschließen! Als vor sechs Monaten der Krieg vor der
Thüre stand, als Herr v. Dalwigk. wie es stets in Zeiten der Noth zu geschehen
pflegt, die Kammer beschwor, Gut und Blut für den Landesherrn zu opfern,
da bot Herr Dumont alles an. alles, was Herr v. Dalwigk nur begehrte, wenn
die Regierung dem Lande seine lang ersehnten heißen Wünsche nach etwas Frei¬
heit und Selbständigkeit erfüllen wollte. Aber die Reaction strich kein I-Pünkt-
chen aus ihrem Programm. Selbst als ihr das Wasser an den Hals ging,
blieb sie unbeugsam und Herr Dumont mußte nachgeben, ohne irgendetwas
erlangt zu haben. Und jetzt spricht er von der Freiheit und dem Recht und
den demokratischen Einrichtungen, die er braucht, um glücklich zu sein, als hätte
er nur zu sagen: Tischchen deck dich! so stund auch alles da und Herr v. Dal¬
wigk werde ihn bedienen, wie eine gütige Fee! Nichts ist ihm gut genug für
unsern verwöhnten Magen. Damit der Nordbund von ihm auf gleichem Fuß
zugelassen werde, wie ein süddeutscher Kleinstaat, muß er erst fix und fertig sein,
ausgeschmückt mit allen Reizen der Schönheit und der Liebe: sonst kann ihn
das freie, das glückliche, das musterhaft regierte Hessen-Darmstadt nicht gut¬
heißen. Und schließlich wird aus unserem dereinstigen Füllhorn des Ueber¬
flusses dem Nordbund eine künftige Ausstattung mit allen Gütern des Lebens
verheißen! Redet man so im Lande der Wirklichkeit oder sind wir im Lande der
Träume?
Aber — sagt man Euch — es ist männlicher Bürger unwürdig, den Ein¬
tritt in einen Bund zu begehren, der gar nicht einmal Verlangen nach ihnen
an den Tag legt!
So lasse man uns denn doch fragen: wer verlangt nicht nach Euch? Alle
guten Bürger des norddeutschen Bundes verlangen grade so sehnlichst nach Euch,
wie Ihr nach ihnen die Hand ausstreckt; und es kommen diesseits des Mains
grade so viel brave Leute aufs Dutzend, wie jenseits. Ob Euch der Herr
v. Kleist-Retzow oder v. Senfft-Pilsach will oder nicht will, darauf kommt es
grade so wenig an, als ob Euch der Fürst von Meriburg und der Herr
V. Riedesel wollen ziehen lassen oder nicht. Welch zimperliches Wesen! und
wie übel angebracht! Hört man diese sonderbündlerischen Hessen so stolz von
ihrer Würde und Selbständigkeit reden, so sollte man doch wirklich glauben, es
sei die Feder des Herrn v. Dalwigk oder das Schwert des Prinzen Alexander,
welches die Preußen am Main zum Stehen gebracht. Nun weiß aber jedes
Kind, daß niemand anders es war. als die Kaiser von Rußland und von
Frankreich. Zur Zeit als die grohherzogliche Regierung Darmstadt verließ,
stellte sie — wird behauptet — die Kostbarkeiten unter den Schutz des russischen
Gesandten, und es wird sogar vermuthet, der russische Kaiser habe sich auch bei
den Friedensverhandlungen große Verdienste um die Erhaltung der hessischen
Selbständigkeit erworben. Ein jeder sucht halt seine Rettung wo er kann und
es kommt uns nicht bei. einem Souverän zu verargen, daß er da Hilfe sucht,
wo er Beistand und Kraft zum Schutz dessen findet, was er als sein erbeigen¬
thümliches Recht werthschätzt. Aber einen solchen Staat thatsächlich selbständig
heißen, das ist doch wie ein Blinder von der Farbe reden; und ehe der Bürger
Weiter sich so in die Brust wirft, an.ß'te er doch fragen, wo der Bürger Barthel
den gährenden Most der souveränen hessischen Staatswürde herholt? Bei
Frankreich und Rußland! Nirgends sonst in der Welt. Nur Dank ihnen blieb
Preußen am Main stehen, nur Dank ihnen müssen wir heute noch unsere Zeit
damit verlieren, zu hadern, ob Deutschland Eins sein soll oder nicht?
In Deutschland giebt es Heuer nur eine Macht, und diese eine Macht ist
Preußen. Man muß die Augen schließen, um das nicht zu sehen, und nicht zu
sehen, daß Preußen gezwungen ist, auf dem betretenen Wege fortzuschreiten.
Von Preußens Aufgabe in Deutschland kann gelten, was einst der erste Consul
zum englischen Gesandten sprach, als dieser sich weigerte, die französische Republik
anzuerkennen: „Anerkennen oder nicht. Sie ist wie die Sonne. Blind der,
welcher sie nicht sieht!" Preußen ist berufen, Deutschland in sich zu einigen,
wie Piemont dazu berufen war für Italien. Wie dann schließlich der Name
lauten wird, das lassen wir einstweilen nicht unsere größte Sorge sein. Wenn
Ihr nichts braucht, als daß der König von Preußen sich deutscher Kaiser nennen
lasse — nun es sind größere Wunder geschehen in unserer Zeit, das ist aber
auch lange nicht unser heißester Wunsch.
Als Preußen noch achtzehn Millionen Menschen hatte und das übrige
Deutschland ebenso viel, da konnte dennoch in Deutschland kein Land sich frei
machen, ohne Preußens Erlaubniß. Im Jahre 1849 hatten Baden. Rheinbayern
und Sachsen ihre Regierungen vertrieben und sich auf eigene Faust nach ihrem
freien Sinne einzurichten Anstalt getroffen. Aber Preußen schickte seine Sol¬
daten, warf die Freiheit nieder, setzte Militärgerichte ein. verurtheilte zu Pulver
und Blei, und verfuhr ohne Federlesen wie der Herr im Hause und wie ein
erbarmungsloser Herr.
Glaubt Ihr, das sei aus Liebe zum König von Sachsen oder zum König
von Bayern geschehen? Da war von Liebe nicht mehr die Rede als heute. Es '
War Preußens Wille, daß in Deutschland kein Freistaat aufkomme, und dieser
Wille war leider unwiderstehlich. Das war damals. Und wie erst heute?
Nachdem Preußen so unbändig an Menschen. Gewalt, Zuversicht, Ansehen und
Erfahrung gewachsen ist. Nachdem das Häufchen nichtpreußischer Deutschen so
zusammengeschmolzen, so entwaffnet und zerklüftet ist? Und da giebt es Leute,
die wollen träumen, sie könnten die Freiheit bei sich am Rhein und Main grün,
den. wenn in Berlin der Despotismus herrsche? Heißt man solche bodenlose
Verheißungen auch noch Politik machen?
Ja, es giebt Leute, die sogar meinen, sie könnten — vielleicht nach Louis
Napoleons Tod — in Süddeutschland eine Republik gründen, ohne in die
Alternative zwischen französischer Bevormundung oder preußischer Einmischung
zu gerathen. Wie es nach Louis Napoleons Tod gehen wird, der vielleicht nicht
so nahe ist. als man aufs Geradewohl annimmt, das wollen wir setzt dahin
gestellt sein lassen.
Ich kenne manchen guten Republikaner, der ist seiner Sache noch lange
nicht sicher. Ich kenne auch manchen guten Republikaner, der wird den Tag
als den schönsten seines Lebens begrüßen, da diesseits des Meeres für sein
Vaterland ein Freistaat erstünde wie Amerika. Aber daß er deshalb glaubt, so
etwas könne jemals in Deutschland geschehen, ohne daß das ganze Land
auch nördlich vom Main die höchste Stufe der Freiheit erklommen habe, so
leichtgläubig ist er nicht.
Da hilft kein Fluchen und kein Protestiren: das Schicksal Deutschlands ist
tausendfach festgeschmiedet an das Schicksal Preußens, obs uns gefalle oder
nicht. Wollt Ihr frei werden, so helft Preußen frei machen. Alles Andre ist
verlorene Mühe. Und um an Preußens Befreiung mitzuarbeiten, dazu müsset
Ihr in die Gemeinschaft des Bundes mit ihm eintreten und die Hand ans ge-
meinsame Werk mit anlegen. Statt all der schönen sieben Sachen, die ihm
der Süden verehren will, dereinst, wenn er seinen demokratischen Bund im
Lande der Hoffnung wird gegründet haben, statt dessen reichet jetzt den andern
Deutschen Eure Hand, Eure Kraft und Euren Willen und Vermehrt ihren Wi¬
derstand gegen den einzig und allein mächtigen Absolutismus, gegen den, welcher
auf Preußen lastet!
Da ist der Punkt, !wo der Hebel muß angesetzt werden und alles Andere
ist verlorene Mühe. Ein Zuwachs wie der Eurige ist nicht gleichgiltig für
Norddeutschland. Zur Zeit, als Deutschland noch nicht einmal in der Gestalt
eines Wunsches existirte. vor 75 Jahren, habt Ihr das Glück gehabt, ein Stück
republikanischer Entwickelung mit zu machen. Das hat Euch damals und für
immer das Land von Adels- und Kasten- und anderem Spinngewebe gereinigt,
und Eure Köpfe sind von damals an frei geblieben von niederträchtigen Respect,
von kriechenden Herrendienst und von kindischen Anhänglichkeiten. (Es ist nicht
Eure Schuld, wenn Ihr nicht auch von damals frei geblieben seid von Pfaffe»'
Klöstern und Jesuiten!) Den Geist der Freiheit und Gleichheit, den Ihr von
jener Zeit geerbt, das ist die Mitgift, die Ihr dem norddeutschen Bunde bringen
sollt und dieses Geschenf, Ihr habt es bereit. Ihr braucht es von keiner trüge¬
rischen Zukunft zu erwarten. Der Norden wird Euch dankbarer dafür sein, als
für alle die sieben Sachen, welche ihm ins Blaue hinein verheißen werden auf
entfernte, unmögliche Tage hin.
Lasset Euch nicht irre machen durch das Geschrei: weil dies und das mi߬
fällig sei an Preußen, so müßtet Ihr mit ihm schmollen, wie Weiber oder Kin¬
der, zu Eurem eigenen Schabernack. Wenn man solchen thörichten Eingebungen
das Ohr öffnet, so kommt man am Ende dahin, wie die guten Hanauer, dem
entthronten Kurfürsten noch Vivats zu bringen. War das nicht jämmerlich?
Nach hundert Jahren erhört das Schicksal den Weheruf der unglücklichen Hessen;
nicht segen-, aber goldbeladen verläßt der letzte dieser Dränger den Schauplatz
seine» Herrschaft, da findet er Gimpel auf den Straßen der Turnerstadt, welche
ihm beinahe die Pferde ausspannen, — blos weil sie die Preußen nicht leiden
können. Welche Schande vor Europa und vor den Fürsten selbst, die solche
Thorheit tief verachten müssen!
Das haben die Hanauer vergessen, daß nicht der Preuß allein zur Hand
sein kann, wenn es gilt, einem Voll sein Recht zu nehmen. Was war doch im
Jahre fünfzig geschehen? Als die braven Kurhessen unbeugsam standen, als die
Offiziere ihrer Armee — ewiger Ruhm sei ihnen, diesen herrlichen Offizieren!
— sich weigerten, gegen die Bürger und die Verfassung den Degen zu ziehen,
wer kam ins Quartier, um ein Ende zu machen? Der bayrische Soldat, und
lange noch ehe der Strafpreuße, war der Strafbayer erfunden; ehe die Requi-
sitionscigarren entdeckt waren, hat der Bayer die Requisitionsknödel in Hessen
eingeführt und mehr als einer — heißt es — habe sich an Ort und Stelle zu
Tode gefressen. Der preußische Soldat ist nicht schlimmer als der bayrische, und
der bayrische ist nicht schlimmer als der preußische. Es kommt nur daraus an,
wohin man sie stellt, und wer ihnen befiehlt.
Nicht nach solchen Launen und Vorurtheilen ziemt es sich zu handeln, wenn
die ewigen Geschicke des Vaterlandes zur Entscheidung kommen. Niemand aber
ist mehr berufen, in diesem schweren Augenblick seinen Ausspruch zu bedenken
als die Hessen, Niemandem ist es leichter gemacht, die Wahrheit zu erkennen
als ihnen.
Denn, wenn man ihnen zumuthet, gegen Preußen Front zu machen, so
frage man doch erst einmal, ob sie auch noch die Wahl haben? Ist denn Mainz
noch Hessen-darmstädtisch? Wenn es heut dem preußischen Gouverneur gefällt,
den Belagerungszustand zu verhängen, so steht die ganze darmstädter Maschine
still und die Mainzer sind thatsächlich Preußen. — Preußen in allem, was ihnen
schaden kann, nur in dem, was ihnen nützen sollte, bleiben sie Hessen und von
ihren preußischen Herren zurückgesetzt, mit Gleichgiltigkeit behandelt.
Damit ist aber die Sache noch nicht zu Ende. Eine andere Provinz des
Großherzogthums ist bereits dem preußischen Bunde einverleibt. Und so giebt
es unter den 800,000 Hessen dreierlei Sorten: Halb-Hessen, Viertels-Hessen und
Ganz-Hessen; Hessen mit der Aussicht auf den norddeutschen Bund, Hessen mit
der Aussicht auf die preußische Citadelle und Hessen mit der Aussicht in eine
Sackgasse, welche letztere man auch Blinddarmhessen nennen könnte, denn der
Blinddarm ist ein Eingeweide, das in einem Sack endet.
Schreit ein solcher Wirrwarr nicht zum Himmel auf, und soll Rheinhessen
die traurige Rolle übernehmen, vor der Welt zu documentiren, daß ihm das
Elend und der Plunder des alten deutschen Reichs-Krähwinkels lieber ist. als
die Einheit der Nation?
So klein das hessische Völkchen ist. so hat es vielleicht jetzt die Geschicke
Deutschlands in seiner Hand. Darum bedenke jeder, was er thut. Hessen
steht auf der Grenze zwischen Nord und Süd wie ein geborener Vermittler,
Versöhner, Friedens- und Einheitsstifter. Mit einem Fuß nördlich vom Main^
mit dem andern südlich, mit seiner Confession, seiner Industrie, seiner Sinnes-
weise ebenso sehr nach der einen Seite gehörig wie nach der andern, hat es als
Centrum jetzt den Ausschlag zu geben. Schon ist Baden bereit einzutreten.
Bekenne sich Hessen zur selben Wahl, so folgt Bayern nach, und dann muß sich
Schwaben, der talentvolle Trotzkopf, in das Unvermeidliche finden. Vernunft
anzunehmen. So stehen die Sachen. Hebt Ihr die Hand auf und stimmet für
Männer, welche einen süddeutschen Sonderbund wollen, so habt Ihr die Ver¬
antwortlichkeit auf Euch genommen, in der entscheidenden Stunde das Werk des
Friedens, der Eintracht und der Gestaltung der Nation für lange, vielleicht für
immer zu vernichten. Kommen schwere Verhängnisse über Europa und finden
Deutschland unfertig, zerklüftet, den Süden kopflos wie eben noch und im Haber
mit dem Norden, so könnt Ihr an Eure Brust klopfen und Euch sagen: „wir
haben es so gewollt, wir haben es so verdient. Wir haben darauf bestanden,
den Fluch des Wiener Congresses aufrecht und den Segen der Einheit von
Deutschland fern zu halten. Vergebens sind die Zwingherren von Hannover,
von Kassel, von Nassau dem Geist der Zeit und dem bessern Loos der Nation
gewichen. Wir klammern uns an jeden Perückenstock, den man uns läßt. Das
Blut, das geflossen, ist nicht für uns geflossen. Die Lehren der Geschichte, die
ergangen sind, sind nicht für uns ergangen. Alle Opfer waren vergebens, wir
bleiben stehen, wo wir gestanden; denn wir wollen nichts wissen von Preußen
und seinem Regiment und wenn wieder einmal das Schicksal über uns herein¬
bricht, so werden wir wieder an die Bcnedeks, Alexander und Karl glauben und
wieder an die hilflosen Programme, die wir drucken lassen."
Denkt Ihr aber anders, sehet Ihr, daß es mit diesen Opfern und mit die
sen Lehren genug war, und daß es Zeit ist. für die Einheit Deutschlands zu
stimmen, gleichviel unter welcher Fahne; fällt Eure Wahl aus solche Männer^
welche zur Verschmelzung mit dem norddeutschen Bunde drängen, dann gebt Ihr
vielleicht den Ausschlag für das große Werk, um welches Deutschland seit einem
halben Jahrhundert vergeblich gerungen hat; dann werft Ihr wohl das ent¬
scheidende Gewicht in die Wage; dann ist die Einigung Deutschlands um ein
Großes näher gerückt; dann hat das einige Deutschland keine Ausgabe mehr,
als sich frei zu machen, dann habt Ihr Alle nur einen gemeinsamen Feind;
dann streitet Ihr nicht für die letzten Reste einer unseligen Vergangenheit, son¬
dern für den höchsten Preis einer großen Zukunft.
Und so sei denn Eure Losung: .
Durch Einheit zur Freiheit!
Professor Pauli in Tübingen hat, von der würtembergischen Regierung
seiner Stelle an der Universität entsetzt, die Zumuthung, unter Beibehaltung
seiner Besoldung in einem würtembergischen Flecken als Seminarlehrer zu fun-
giren. entschlossen zurückgewiesen und mit seinem Entlassungsgesuche beantwortet.
Er hat sich hierdurch um die Ehre unseres Standes ein hoch anzuschlagendes
Verdienst erworben, dabei aber, wenigstens zunächst, seine materielle Existenz auf
das Spiel gesetzt.
Unter diesen Umständen glauben die Unterzeichneten nur eine Ehrenpflicht
zu erfüllen, indem sie zur Erneuerung einer Maßregel auffordern, welche schon
Wiederholt, so in den Jahren 1837 und 1852 zu Gunsten entlassener Professoren
von Seiten der Nation ergriffen wurde.
Sie wenden sich demgemäß zunächst an ihre Herren College», sodann aber
an jeden gebildeten Mann dieser Stadt, welcher für die Würde und Unabhängig¬
keit des gelehrten Standes ein Herz hat, mit der Bitte, zu einem Fond beizu¬
steuern, welcher dem Genannten bis zu seiner sicherlich nicht lange ausbleibenden
Berufung an eine andere Universität ersetzen soll, was er in Tübingen ein¬
gebüßt hat.
Dieselben sind zur Empfangnahme der eingehenden Gelder bereit und werden
über dieselben öffentlich quittiren. Sie bitten die Organe der unabhängigen
Presse, diesem Ausrufe ihre Spalten zu öffnen und sprechen die Hoffnung aus,
daß die Collegen an anderen Universitäten ihrem Beispiele folgen und sich über
das Resultat ihrer Bemühungen mit ihnen ins Vernehmen setzen werden.
*
Es war natürlich, daß nach einer Zeit gewaltiger Erfolge, in denen
zunächst der künftige Segen des neugewonnenen froh geahnt wurde, eine Zeit
der Ernüchterung eintrat, in welcher die Schwierigkeiten der politischen Neu¬
bildungen im Vordergrunde stehen und von den Deutschen, je nach ihrem
Standpunkt, sorgenvoll oder schadenfroh erwogen werden. Den Preußen blieb
nicht erspart, bei ihrer Festsetzung in den annectirten Ländern Fehlgriffe zu
thun, schnell änderten sich unter den Erfolgen die Gesichtspunkte der Negierung,
und es war nicht zu verwundern, daß häufiger Wechsel der Administrativbeamtcn
und der militärischen Befehlshaber diese Aenderungen in Politik und Tendenz
darstellte. Dergleichen Schwankungen sind aber bei jeder großen Wandlung
unvermeidlich, sie sind am allerwenigsten ein Vorwurf für die dadurch compro-
mittirten Persönlichkeiten. Im Allgemeinen vermochte die preußische Verwaltung
bis jetzt der Ungeduld der Freunde nicht Genüge zu thun, dem Haß der Gegner
nicht gebührend zu imponiren. Nur die militärische Organisation, von König
Wilhelm selbst geleitet, greift energisch durch, mit bewundernswerther Schnellig¬
keit wurden alle vorbereitenden Schritte gethan, und die Bildung dreier Armee¬
corps, eine Vermehrung der preußischen Heeresmacht um den vierten Theil, geht
in aller Stille unaufhaltsam vorwärts. Aber auch auf jedem andern Gebiete wird
die Einverleibung der annectirten Länder schneller erfolgen, als die Feinde
Preußens hoffen, trotz der ungeheuerlichen Behauptung eines preußischen
Ministers, seine Negierung könne in dem alten Preußen das sein, was er con-
servativ nennt, in dem übrigen Deutschland mit revolutionärer Freiheit walten.
Nicht in den annectirten Landestheilen liegen die größten Schwierigkeiten der
gegenwärtigen Lage, obwohl auch für sie dringend wünschenswerth ist, daß ein
Ministerwechscl in Berlin eine stärkere Kraft an die Spitzen der Verwaltung
stelle, als den Grafen Eulenburg und von der Lippe und dem Herrn v. Muster
zu Gebote, steht.
Größere Hemmnisse bereiten die Friedensverträge mit den im Sommer
feindlichen Regierungen, welche jetzt Mitglieder des norddeutschen Bundes ge¬
worden sind, mit Hessen-Darmstadt und Sachsen. Der erstere Vertrag hat in
dem Großherzogthum Hessen so verworrene und unhaltbare Zustände hinter¬
lassen, daß ein Bestand derselben unmöglich erscheint. Man thut dem aus¬
wärtigen Amte Preußens Unrecht, wenn man behauptet, daß dies Unhaltbare
in geheimer Absicht pactirt sei, als neue Handhabe für ein Eingreifen Preußens.
Denn es ist selbstverständlich, daß im Sommer dieses Jahres unter dem Zauber
der preußischen Siege immerhin mehr zu erreichen war, als in Zeiten der Ruhe
nach einem Friedensschluß. Und kein Staatsmann von Urtheil wird, wenn er
die Wahl hat. nach den unermeßlichen Opfern und nach großen Siegen eines
Krieges etwas schaffen, wovon er selbst weiß, daß es eine unversiechbare Quelle
von Verlegenheiten, für die Gegner seines Staats eine willkommene Handhabe
zu neuen Einmischungen sein wird. Der Friede mit Sachsen und Darmstadt
ist vielmehr unter dem Zwange sehr realer Verhältnisse geschlossen. Darüber,
ob er so nöthig wurde, wird sich die Zukunft des Urtheils nicht begeben; uns ist
zur Zeit versagt, abzuschätzen, ob dieser Preußen aufgelegte Zwang unwider¬
stehlich war, und ob ein größeres Wollen Höheres für Preußen und Deutsch¬
land hätte erreichen könne». Zur Zeit merken wir nur Eins. In jenen Tagen,
wo im preußischen Hauptquartier zu Nikolsburg Plötzlich Entschluß gefaßt wer¬
den mußte über Frieden oder Fortsetzung des Krieges, hatte man Veranlassung,
dort auch eine andere Möglichkeit der Lösung ins Auge zu fassen: man konnte
eine zweite Schlacht bei Wien wagen, dadurch die östreichische Armee nach
Ungarn werfen, den kleineren Theil des Heeres an der Grenze zurücklassen, mit
dem größeren Theil in Gewaltmärschen nach München und Stuttgart ziehen und
das Heer dadurch in die Nähe des Rheins bringen, dann annectiren lassen, was
für Preußen im Norden nöthig war, den Südstaaten aber günstige Bedingungen
stellen, vor allem die deutsche Bundespflicht derselben für fortbestehend erklären,
und nach Ausschluß Oestreichs den Bund selbst in preußischem Sinne refor-
miren. Bayern und Würtemberg wären gänzlich niedergeworfen, froh gewesen,
sich im Bunde zu conserviren, die Schnelligkeit der Erfolge, die Nähe des preu¬
ßischen Heeres an der französischen Grenze würde wahrscheinlich dem Kaiser von
Frankreich nicht weniger Zurückhaltung auferlegt haben, die Umarmung des ge-
sammten Deutschlands hätte mit einem Schlage die deutsche Frage zur Ent¬
scheidung gebracht, die ganze Bewegung hätte einen vorwiegend nationalen
Charakter angenommen, allerdings auch das Schicksal Oestreichs schneller Ent¬
scheidung zugeführt, und es ist Wohl möglich, daß solche kühne Politik uns
weiter gebracht hätte, als wir jetzt sind, und die inneren Schwierigkeiten der
Neugestaltung beträchtlich verringert. Aber dieser Weg barg für Preußen eine
große Gefahr. Nicht den augenblicklichen Krieg mit Frankreich. Wohl aber legte
er dem preußischen Heere die Pflicht auf, für eine Reihe von Jahren auch das
südliche Terrain bis zu den Alpen zu beschützen und die nöthige Neubildung
eines deutschen Heeres nicht, wie jetzt geschieht, auf drei bis vier Armeecorps,
sondern auf eine Truppenmafse auszudehnen, welche im Ganzen fast ebenso
groß war als die preußische, und zwar zum großen Theil unter abgeneigter
Bevölkerung. Es ist wohl möglich, daß solche massenhafte Neubildungen die
innere Kraft und Festigkeit des preußischen Heeres auf viele Jahre nicht Ver¬
größert, sondern in ähnlicher Weise verringert hätten, wie die des piemontesischen
Heeres nach dem Erwerb von Italien. Wenn man aus dieser Rücksicht die
neue exponirte Stellung preußischer Macht scheute, so sind wir nicht in der
Lage, solche Vorsicht tadeln zu können.
Der Frieden, wie er einmal geschlossen wurde, hatte den Vertrag mit
Sachsen zur Folge. Man sieht diesem Actenstück an, wie schwierig die Ver¬
söhnung war, es ist in allen Hauptpunkten von einer auffallenden Unbestimmt¬
heit und droht eine Quelle von langwierigen Differenzen der Regierungen zu
werden. Dieses Blatt hat vermieden, über die Zustände, welche dadurch in
Sachsen eingeleitet wurden, sich des Weiteren zu äußern; Thatsache ist aber,
daß durch diesen Vertrag, welcher die sächsische Regierung mit engem Bündniß
an Preußen schließt, die nationale Partei Sachsens die Partei geworden ist.
welche die vertragsmäßigen und legalen Interessen Sachsens und des restau-
rirten Könighauses vertritt. Und es ist nicht unnütz, die specifisch sächsische
Fronde daran zu erinnern, daß ihre Agitation und ihre Abneigung gegen Preu¬
ßen nicht nur die eigene Negierung compromittirt, sondern ihr und dem Lande
auch ernste Gefahren bereiten kann. Nach Abschluß des Friedensvertrages ist
diese Partei thatsächlich die oppositionelle gegen den Bund und gegen die Ver¬
pflichtungen der sächsischen Negierung geworden, und die kleinen Mittel, durch
welche man den Gegensatz zu Preußen und einen specifischen Patriotismus
lebendig erhalten will, haben in der Hauptsache keine andere Wirkung, als dem
König und Ministerium von Sachsen das unvermeidlich gewordene freundliche
Verhältniß zu Preußen zu erschweren.
Aber nicht nur in Sachsen, in ganz Deutschland steht die Empfindung
obenan, daß wir in einem großen Jnterimisticum leben, und im Beginn
politischer Neubildungen, deren definitiver Abschluß noch in weiter Ferne liegen
mag. Gedanke und Wunsch hängen unablässig an der Zukunft, und nur den
Besseren wird durch die Unsicherheit der politischen Gegenwart die Thatkraft
gesteigert, mit der sie für eine gute Zukunft in ihrem Kreise zu arbeiten suchen.
Die nächste Frage aber, welche jetzt alle Seelen erregt, ist Verfassung und
Parlament des neuen Bundesstaates. In acht Wochen soll der Reichstag zu-
sammentreten, welcher drei Viertheile der deutschen Nation in einem großen
Hause vereinigt, und noch ist alles unsicher, was Grundlage für sein Wirken
werden soll: Umfang seiner Competenz, Stellung der Centralgewalt, mit
der er verhandeln soll und die Einordnung der einzelnen Bundesregierungen
in den neuen Organismus. — Wird die preußische Negierung mit dem Parlament
gewählter Volksvertreter ohne jede Assistenz der Bundesregierungen verhandeln?
Oder werden diese Regierungen ihre Gesandten in eine Art Staatenhaus oder
Bundesversammlung dazu senden? und wenn dies geschieht, wie ist es möglich,
in solcher Dclegirtenvcrsammlung der Regierungen, die ohnehin an Jnstructionen
gebunden wäre, einen Abstimmungsmodus zu finden, der in irgendeiner Art
dem Machtvcrhciltniß zwischen Preußen und den kleinen Staaten entspräche?
Nach gemeinem Urtheil ist seit der Vergrößerung Preußens bei dem beherrschenden
Uebergewicht dieses Staates ein Delegirtenhaus der Regierungen überhaupt eine
irrationale Größe. Und doch, wenn dies ganz wegbleibt, wie wird man mit
dem Widerstand der Bundesregierungen, welche sich bei solcher Weglassung für
mediatisirt halten werden, in den kurzen Wochen bis zum Februar fertig werden?
Für diese unabweisbaren Fragen werden wir ungeduldig die Antwort abwarten,
welche man in Berlin finden, vielleicht im Drange der Stunde mit kurzem
Entschluß improvistren wird. Das Jahr hat uns größere Überraschungen
gebracht als diese Antwort, und wir müssen wie gute Kinder zur Weihnachts¬
zeit hoffen und das Vertrauen auf unser Christkind mit Sack und Ruthe zu
erhalten suchen.
Vielleicht ist möglich, daß es dem Ministerpräsidenten gelingen wird, sich für
diesen ersten Reichstag eine Vollmacht von den Bundesregierungen durch¬
zusetzen, etwa mit der Modification, daß die Beschlüsse des Reichstags einem
zusammentretender Gesandtencollegium zur formellen Bestätigung vorgelegt
werden. Dagegen halten wir für wichtig, daß die Staatsminister der einzelnen
Bundesregierungen dem Vernehmen nach selbst eine Wahl in das Parlament-
erstreben. Diese Taktik könnte uns allerdings die Minister der beiden Mecklen¬
burgs, und sogar Herrn v. Dalwigk in die Reihen der Gegner führen, sie
würde aber aus Thüringen, Oldenburg, Braunschweig eine Anzahl angesehener
und geschäftskundiger Männer dem Reichstag verbinden.
Wer sonst die Bänke des Parlaments besetzen wird, auch das ist noch eine
Frage, auf welche nach achtzehn Jahren zahlloser Landtage und Parlaments¬
reden keine befriedigende Antwort zu finden ist. Das allgemeine Wahlrecht,
welches der Entwurf vom 10. Juni keck in das deutsche Volk geschleudert hat,
macht in vielen Landschaften die Berechnung unsicher. Auch in dieser Hinsicht
sind uns Überraschungen und unerwartete Neubildungen vorbehalten, bei denen
ihr Urheber Veranlassung haben wird, seinem Glück nicht weniger zu vertrauen
als seinem Talent. Nur zweierlei läßt sich voraussagen: Die Wähler werden
sehr viele neue Männer in den Reichstag senden, und die gegenwärtige Stellung
der Parteien wird durch das Parlament wesentlich geändert werden. In dem
östlichen Theile Preuße.us wird die Mehrzahl der Wahlen von den Landleuten
und deshalb nach den Ereignissen dieses Jahres von Landräthen und Guts¬
herren abhängen, und wohl ein Drittheil des Parlaments wird ans sehr con-
servativen Preußen bestehen; in Posen und am Rhein wird die katholische
Geistlichkeit allgemeine Wahlen stark beeinflussen, in den annecttrten Provinzen
wird wohl die größere Hälfte der Gewählten aus Separatisten bestehen, in den
übrigen Bundesstaaten, Sachsen eingeschlossen, im Ganzen genommen ebenfalls
die Hälfte aus Particularisten. Eine Minorität der Preußen und die kleinere
Hälfte der NichtPreußen werden die liberal- und nationalgesinnte Partei bilden.
Es ist also möglich, daß wir unter 300 Abgeordneten drei ziemlich gleich starke
Parteien erhalten, wenn wir voraussetzen, daß Ultramontane, Großdeutsche und
die übrigen Separatisten in wichtigen Fragen zusammengehen. Dies Verhältniß
erscheint ungünstiger, als es in Wirklichkeit ist. Wenn unsere näheren Freunde
auch nur ein Drittheil der Abgeordneten darstellen sollten, sie werden als ein
Keil zwischen den preußischen Conservativen und den Gegnern eingeschoben, in
allen großen Fragen den Ausschlag geben und dem Interesse der preußischen
Regierung eine Zweidrittelmajorität sichern. In dieser liberalen Partei selbst
aber wird sich eine Neubildung der Fraktionen vollziehen; die Führer der alten
preußischen Opposition werden mit Bennigsen, Braun, Fries, Oetker, Wiggers
und vielen andern guten Namen gesellt, die frische Unbefangenheit und die
Wärme der preußisch Gesinnten, welche außerhalb der alten Fehden mit der
Preußischen Negierung gestandest haben, in sich ausnehmen. Bei solcher Zu¬
sammensetzung darf man auch hoffen, daß der Reichstag eine Schule für
die preußischen Conservativen sein wird; sie müssen manche ihrer Junker-
velleitäten dort zurücklassen. Endlich die Zahl der geheimen Gegner des
Preußischen Bundesstaates wird kein schwerwiegendes Leiden sein, denn diese
Unberechenbaren haben kein anderes Band als ihr Mißbehagen an der neuen
Zeit, und die Bundesgenossenschaft von Socialdemokraten, Großdeutschen,
Ultramontanen, eifrigen Saxonen, mecklenburgischen Junkern und Polen ist
nicht dauerhaft.
Wie sich aber auch der Reichstag im Einzelnen zusammensetze, an ihm
wird es nicht liegen, wenn der Plan des norddeutschen Staates vereitelt werden
sollte. Daß die Deutschen nicht mit hochgespannter Begeisterung zu der neuen
Versammlung sich rüsten, ist kein Schaden, sie werden doch wacker und in gutem
Vertrauen ihre Pflicht thun. Manchen werthen Mann werden wir in der
großen Versammlung missen und manchen unbehilflichen Thoren zu ertragen
haben, aber darüber kann man sicher sein, sie wird dem Auslande zeigen, daß
wir in den letzten achtzehn Jahren gelernt haben, und daß unser Land sehr
reich an Talent und an wohlgemessener Kraft ist. Heftig arbeiten die Gegen¬
sätze und stark ist die Spannung, aber der Reichstag findet seinen Weg durch
formulirte Vorlagen gebahnt und hat die Regierung eines Reiches hinter sich,
welche durch große Erfolge gehoben, der aufsteigenden Lebenskraft ihres Staats-
körpers sich stolz bewußt ist. Die Deutschen werden auch die größte Tugend
einer parlamentarischen Körperschaft zu üben wissen: kluge Resignation, und die
preußische Regierung wird jetzt erfahren, daß, wenn man ein Volk groß be¬
handelt, man auch große Antwort erhält.
In der That ist schon jetzt die Stellung der neu Annectirten und selbst
die der kleinstaatlichen mit eigenen Regierungen klarer zu der deutschen Frage,
als die der Preußen selbst. Denn die Preußen haben bereits eine Vertretung
in dem Landtag eines großen Staates, und der gesetzliche Zustand, für welchen
dort die Parteien so scharf gegen einander gekämpft haben, der durch achtzehn
freudenarme Jahre mühsam eingebürgert ist, droht jetzt durch den neuen Bund
in Verwirrung zu gerathen. Daß der preußische Landtag in seiner bisherigen
Kompetenz nicht neben einem deutschen Reichstage bestehen kann, ist unzweifel¬
haft: ihn aufzugeben für eine kaum ausgesonnene, nicht bewährte Neubildung,
ist unmöglich. Zur Zeit weiß niemand in Preußen, auch die Leiter des Staates
nicht, wohin der Schwerpunkt preußischer Macht gravitiren wird, ob nach dem
alten Landtag, ob in die neue Versammlung des Reichs. Wie die officiöse
Presse verrieth, hat der Ministerpräsident im vorigen Frühjahr die stille Absicht
gehabt, den unsühnbaren Gegensatz zwischen Herrenhaus und Abgeordnetenhaus,
zwischen Ministerium und Opposition dadurch zu überwinden, daß er eine Volks¬
vertretung der Deutschen schuf, bei welcher ein"Theil des Budgets, zunächst das
Militärbudget, durch die Zollintraden und andere Steuern eisern fundirt werden
und das Parlament für die Verkehrsinteressen allmälig die Thätigkeit der alten
berliner Häuser an sich ziehen sollte. Dieser Plan ist durch die Ausnahme von
Sachsen und Darmstadt in den Bund vorläufig gestört worden. Graf Bismarck
selbst kann immer noch in die Lage kommen, den preußischen Landtag als Ver-
theidigungsmittel gegen den neuen Reichstag zu gebrauchen. Das preußische
Volk aber hat sich ebenfalls gewöhnt, seine Verfassung als letzte Bürgschaft
eines gesetzlichen Zustandes zu betrachten. Und das thun nicht nur die Libe¬
ralen, auch die conservativen Gutsherren werden von dem Augenblick, wo der
deutsche Reichstag ihre Parteiinteressen schädigt, sich um die sichere Burg des
preußischen Herrenhauses schaaren. Deshalb ist zur Zeit noch sehr fraglich, ob
man in Berlin den Wunsch und ob man die Kraft haben wird, die Vertretung
eines deutschen Reiches an Stelle der preußischen Landesvertretung zu setzen.
Und grade vor dieser Cardinalsrage unserer Zukunft wird uns am meisten fühl¬
bar, daß wir in einem Jntenmisticum leben, dessen glückliche Bewältigung wir
hoffen, zur Zeit nicht absehen.
Diese Unsicherheit verhindert in Berlin auch die Veränderung, welche in
anderer Rücksicht nöthig geworden ist, eine Modifikation des preußischen Mini¬
steriums. Die letzten Debatten im preußischen Abgeordnetenhause haben aufs
neue erwiesen, was längst kein Geheimniß war, daß der Minister des Innern,
der Justiz und des Cultus ihrer Persönlichkeit und Vergangenheit nach nicht
gemacht sind, die nothwendigen großen Organisationen im alten und neuen
Lande durchzuführen. Es gab eine kurze Zeit, in welcher diesen Ministerien ein
Wechsel nach liberaler Seite in Aussicht stand. Jetzt ist davon alles still, und
mit gutem Grunde. Auch wenn der Ministerpräsident die Nothwendigkeit eines
Personenwechsels ebenso beurtheilt, wie ein großer Theil der Nation, und wenn
er, was keineswegs sicher ist, den Einfluß hätte, ihn durchzusetzen, so hat er
sich grade durch die am meisten demokratische Handlung seines Lebens in diesem
Augenblick sehr schwer gemacht, seine conservativen College» aus den Minister¬
stühlen zu entfernen. Denn grade das allgemeine Wahlrecht wird aus den
alten Provinzen Preußens ein großes Contingent von Junkern und Hochcon-
servativen in das Parlament senden, treue Anhänger von patriarchaler Tyrannei
der Landräthe, von Strafversetzung der Kreisrichter, von Confiscation der libe¬
ralen Blätter und Lobredner der stiehlschen Regulative, so daß eine Vertauschung
der treuesten Parteigenossen im Ministerium mit liberalen Namen den Grafen
Bismarck in Gefahr setzen würde, vielleicht hundert unzufriedene und wider¬
setzliche Konservative in einem Reichstag zu finden, in dem er die sicheren
Stimmen der Altpreußen gar nicht entbehren kann. So hat, wenn wir nicht
irren, das allgemeine Stimmrecht grade den preußischen Ministern, welche am
freiesten von dem Verdacht sind, demokratische Passionen zu haben, ihr Porte¬
feuille auf einige Monate gesichert, und man wird zu erwarten haben, ob der
Reichstag gegen ihre Amtsthätigkeit neue Steine ins Gewicht legt. Unterdeß
erschwert dieser Umstand die Anfügung der annectirten Länder in lästiger Weise.
Aber trotz aller Unsicherheit und manchem Aerger schwebt der alte Aar des
deutschen Reiches, welcher jetzt der preußische heißt, in sicherer Höhe über dem
Gedränge, und der Zollverein bildet einen unsichtbaren und doch sehr festen
Grenzwall, der noch weiteres Gebiet an Preußen schließt, als jetzt im Reichstage
Vertreten wird. Das norddeutsche Parlament wird auch den Völkern in Süd¬
deutschland neue Eindrücke über die Unsicherheit ihrer Lage geben.
Drei Jahre etwa bedarf Preußen, um die wichtigsten neuen Organisationen
in dem norddeutschen Bundesstaat durchzuführen. Ob uns so lange der Friede
erhalten bleibt? Die Stellung Preußens zum Ausland ist eine exponirte, aber es
steht unter dem Schutz seiner Erfolge und der hohen Achtung, welche sich das
Preußische Heer erkämpft hat. Grade was als Symptom einer künftigen Ge¬
fahr erscheint, daß die großen Staaten des Festlandes ihre Armeen der preußischen
Bewaffnung und Organisation zu nähern suchen, ist eine, wenn auch ungern-
gente Bürgschaft, daß uns der Friede erhalten bleibt. Denn die großen Um¬
wandlungen, welche jetzt Frankreich und nach mancher Richtung Oestreich vorbereiten,
sind nicht in einem, ja nicht in drei Jahren zu beenden, sie versetzen während
ihrer Durchführung das beste Heer in einen Zustand der Unfertigkeit und machen
dem Staate, der sie unternimmt, eine Friedensperiode wünschenswerth. Preußen
aber ist in der Lage, jeder einzelnen der großen Continentalmächte gewachsen
zu - sein ; die Aufgabe preußischer Staatskunst ist, eine Liga mehrer gegen
Preußen zu hindern.
Und dafür ist unsere Lage nicht ungünstig; wir begehren nichts von fremdem
Land, und nichts, was nach gerechtem Urtheil fremde Lebensinteressen stört, die
Wünsche der leidenschaftlichsten Patrioten gehen nur dahin, das gesammte außer¬
östreichische Deutschland in einen Staatskörper zu vereinigen, und diese Ver¬
einigung, auf dem Gebiet realer Interessen in Süden bereits vollzogen, kann
nur erfolgen, wenn die Völker Süddeutschlands sich dieselbe fordern. Wir
fürchten keinen süddeutschen Bund, denn wir sind der tapfern Regierung Badens
sicher, und wir fürchten keinen festen politischen Anschluß an Oestreich, denn
unser Silber wiegt schwerer, als die unsichern Banknoten, die preußische Re¬
gierung ist zwar in Bayern nicht geliebt, aber die östreichische gehaßt, und kein
süddeutscher Politiker, wie sehr ihn verletzter Stolz und dynastisches Interesse
verblende., würde ungestraft wagen, das Leben seines Staates an das Schicksal
zu fesseln, welches sich im östreichischen Kaiserstaat vollzieht.
Wir meinen nicht, daß Herr v. Beust sich selbst der Täuschung hingiebt, er
vermöge dort gründlich aufzubessern. Was seine Stärke ist, die kleinen diplo¬
matischen Virtuositäten, kann dort höchstens seine Person eine Zeit lang halten.
Niemand besitzt weniger die Eigenschaften eines Reformators, als er, heißen
Patriotismus, leidenschaftliche Hingabe an eine große Idee und den gestählten
Charakter, welcher unwiderstehlich die Hindernisse niedertritt. Ein kleiner un¬
verächtlicher Vortheil kommt ihm zu seiner Gescheidtheit und einer unheimlichen
Unbefangenheit, der ihn unsrer Presse collegialisch nähert; er hat von Haus aus
Anlage zu einem Journalisten, und er wäre, wenn ihm sein Leben die natur¬
gemäße Entwickelung gestattet hätte, wahrscheinlich ein guter Leitartikelschreiber
geworden, auch seine Noten sind Artikel. Als Minister vermochte er dies Talent
nur unvollkommen zu entwickeln. Er war fleißig in der sächsischen Presse, aber
seine Artikel waren zu lang, zu viel kleines Geplänkel darin und etwas Selbst¬
gefälligkeit. Man darf doch zweifeln, ob solche Technik in Reden, Noten und
der Presse dein Getümmel der Nationalitäten im Kaiserstaat auf die Dauer im-
poniren wird. Preußen gegenüber aber trauen wir ihm die gewandte Klugheit
zu, daß grade er die Welt durch unbefangene Würdigung eines guten Einver¬
nehmens mit diesem Nachbarstaat überraschen wird.
Wenn wir, absehend von den einfachen Erfolgen des Krieges, wie sie die
Friedenstractate festsetzen und auch jede allgemeine politische Betrachtung bei
Seite setzend, uns auf den militärischen Standpunkt beschränken, so erscheint als
nächstes Resultat, daß die Macht, welche dem Staate die allgemeine Dienstpflicht
verschafft, auf der Höhe militärischer Bedeutung steht. Die vorzügliche Bewaff¬
nung der preußischen Armee hat auch ihren Werth documentirt, aber die Leistungs¬
fähigkeit des Zündnadelgewehrs war ja längst bekannt; man legte der Güte der
Waffe keinen ausschlaggebenden Werth für den kriegerischen Erfolg bei. Die
französische Armee, welche vermöge ihrer Leistungen die tonangebende in Europa
war, verwarf das Zündnadelgewehr grade um seiner bedeutendsten Eigenschaften
willen und aus dem Hauptgründe, weil zur erfolgreichen Verwendung desselben
ein Soldat erforderlich sei, wie ihn nur die Theorie, nicht die Wirklichkeit er¬
zeuge. Der diesjährige Krieg bewies nun aber, daß die preußische Armee diesen
Soldaten, der selbst in der Gefahr gut schießt, der seinen Schuß im großen
Ganzen nur abgiebt, wenn er Aussicht hat zu treffen, und der endlich noch dem
anstürmenden Gegner sicher treffendes Schnellfeuer entgegenschleudert, selbst wenn
er ihm Auge in Auge blickt, in ganzer Wirklichkeit besitzt. — So sehen wir
denn auch die Franzosen in voller Erkenntniß der gemachten Erfahrungen nicht
nur beschäftigt, Hinterladungsgcwehre zu beschaffen, sondern auch ihre ganze
Heeresvrganisation in Frage stellen, um die Intelligenz in die Reihen ihrer
Truppen einzuführen, welche dem Gewehr allein Werth verleiht.
Die allgemeine Dienstpflicht ist einzig im Stande, diese Bedingung zu er¬
füllen. Nur die Pflicht, keinerlei anderes Mittel kann die gebildeten und be¬
sitzenden Classen zum gemeinen Soldaten machen. Darüber bedarf es der Aus¬
einandersetzungen nicht, das sprechen auch die jetzt zur Berathung der Organi¬
sation berufenen militärischen Autoritäten Oestreichs und Frankreichs aus.
Sind aber die großen Staaten Europas im Stande die allgemeine Dienst¬
pflicht bei sich einzuführen? Das ist eine Frage, deren Beantwortung die
künftige Machtstellung Preußens bestimmen wird und die wir darum hier ver¬
suchen wollen.
Preußen legte diese Pflicht seinem Volke in einer schweren Zeit auf, in
welcher in jedem Manne die Ueberzeugung der Nothwendigkeit derselben lebte.
Die französische Unterjochung seit dem Jahre 1807 hatte nicht nur in jedem
Preußen den Willen wachgerufen, mit Daransetzung des eigenen Guts und
Bluts die Befreiung des Vaterlands zu erstreiten, sondern auch die allgemeine
Stimme, die verschiedenen Vereine und alle hervorragenden Männer hatten die
Erhebung des ganzen Volks als einziges Mittel erkannt, den übermächtigen
Gegner zu vertreiben. Wer zuerst diesen Gedanken gehabt hat. ist vielfach be¬
stritten worden, grade darum, weil der Gedanke ein allgemeiner war und überall
zum Vorschein kam. Als die Jahre 1813 und 14 die Richtigkeit desselben be-
wiesen und als das Jahr 1815 zeigte, daß Preußen zur Behauptung seiner
Machtstellung auch ferner der Bewaffnung des ganzen Volks bedürfe, da erst
wurde die allgemeine Wehrpflicht ein lebensfähiges Staatsgesetz und bürgerte
sich ein in der Zeit normaler Lebenszustände, welche dem Kriege folgten.
Je höher aber die Cultur stieg und je mehr der Werth des intelligenten
und gebildeten Mannes, ja selbst der einfachen Arbeitskraft im täglichen Leben
wog, je mehr wurde auch die Last dieser Pflicht empfunden. Die Dienstzeit
wurde von drei auf zwei Jahre vermindert, die Zahl der einjährigen Frei¬
willigen mehrte sich von Jahr zu Jahr, die Zahl der mehr wie die andern in
Anspruch genommenen Landwehrosfiziere dagegen minderte sich, und die summa¬
rische Dienstpflicht nahm ab, weil die Bevölkerung stieg, die Stärke des Heeres
aber dieselbe blieb. — Da traten die Ereignisse des Jahres 1848 ein. Europa
sah wieder größere Kriege, die staatlichen Machtverhältnisse kamen zu neuer
Geltung. Wollte Preußen seine Stellung behaupten, so mußte es seine mili¬
tärischen Organisationen neu beleben. Der jetzige König brachte deshalb das
alte Gesetz wieder zur vollen Geltung. Die Folge war ein großer Conflict
zwischen König und Land, in welchem, wie bekannt, zeitweise sogar innerhalb
der Negierung der Rath laut wurde, die Stellvertretung einzuführen. Daß dies
nicht durchdrang, lag einerseits darin, daß in der Armee der Werth der allge¬
meinen Dienstpflicht für ihre Tüchtigkeit nicht unterschätzt wurde, und daß an¬
drerseits bei der demokratischen Richtung unsrer Zeit das Volk selbst dem
widerstrebte. Die allgemeine Dienstpflicht liegt wieder voll auf dem Lande und
wird auch wieder voll empfunden; der Kampf um Erleichterung dieser Last ist
noch nicht beendet.
In dem Lande also, in welchem diese Pflicht seit fünfzig Jahren, mithin
in der ganzen lebenden Generation besteht, wo sie sich mit allen Verhältnissen
verbunden hat und mit der ganzen Existenz verwachsen ist, wird unaus¬
gesetzt mit ihr gerungen; darf man daher erwarten, daß ihre Einführung in
andern Ländern, wo nur die Nützlichkeit, nicht unmittelbare Nöthigung vorliegt,
ohne innere Kämpfe erfolgen kann? Man muß es bezweifeln. Der ganze be¬
sitzende und deshalb doch mehr oder minder herrschende Theil des Volkes wird
sich gegen das Soldatwerden, was in seinen Augen weit furchtbarer ist als in
den unsern, welche auch die stolze Seite der Institution kennen, mit allen mög¬
lichen Mitteln sträuben. Nur Herrscher von großer Kraft und mit dem Volke
fest verwebten Elementen werden im Stande sein aus diesen Kämpfen siegreich
hervorzugehen, wenn ihnen äußere Feinde nicht dadurch beistehen, daß sie ihnen
wirkliche Gefahren schaffen.
Diese Schwierigkeiten sind es aber nicht allein, welche sich der Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht in andern Ländern entgegenstellen. Auch die Natur
des Heeres, welches aus der Allgemeinheit hervorgeht, ist nicht in allen Reichen
lebensfähig. Die nahe Verbindung, welche bei solchem Heer zwischen dem ein¬
zelnen Soldaten und seiner Heimath herrscht, zwingt dazu, in der Truppe auf
private Verhältnisse des Einzelnen Rücksicht zu nehmen. Der Soldat muß
seiner Pflicht im heimischen Bezirk genügen, muß sozusagen zu jeder Zeit nach
seinem Eigenthum sehen können. In Ländern also, wo zur Beherrschung des
einen Theils Truppen andrer Theile nothwendig sind, wo die Stimmung des
einen Stammes die Bildung von ganzen Truppentheilen aus ihm unzulässig
macht, wo die Heerestheile also keinenfalls in ihrer Heimath bleiben können,
würde die allgemeine Wehrpflicht so tief in die Privatverhältnisse eingreifen,
daß ihre Durchführung mindestens äußerst gewagt und schwierig wäre.
In Ländern, wo dir Beherrschung fremder Territorien und Colonien dazu
zwingt, Truppen auf längere Zeit weit weg oder gar über das Meer zu dis-
lociren, würde nicht allen Soldaten die gleiche Last auferlegt werden dürfen.
England, das nur den kleinsten Theil seiner Landmacht zu Hause hat, kann gar
nicht an. das preußische Wchrsystem denken. Frankreich würde sich dazu ent¬
schließen müssen, zwei Arten von Truppen zu haben, heimische und solche, welche
in Cochinchina u. s. w. verwandt werden könnten. So lesen wir denn auch,
baß die Neorganisationscommission in Paris vorgeschlagen hat, die Ersatz¬
pflichtigen in drei Classen zu theilen. In solche, welche ihrer vollen Dienst-
Pflicht genügen und also überall verwendet werden können, und in solche, welche
nur zwei bis drei Jahre dienen und in Frankreich verbleiben, und endlich in
solche, welche nur einige Monate jährlich bei der Fahne dienen und ihre Zeit
nur in den heimathlichen Bezirken absolviren. Der Unterschied in dieser Pflicht
hängt von der Summe des Geldes ab, mit welcher der Einzelne sich loskaufen
kann. Für den Fall des Krieges wären also alle Classen in der Armee, aber
es wäre keine Gleichheit unter den Soldaten, und der besitzende, der intelligentere
Theil würde an soldatischem Werth zurückstehen. Dem französischen Heere würde
damit die innere Einheit und vor allen Dingen der innere Werth des preu¬
ßischen fehlen. —
Nicht nur diese Uebelstände allein werden sich der mit Preußen gleichen
militärischen Machtentfalt'ung Frankreichs bei jener Art der Heeresbildung ent¬
gegenstellen, es ist noch ein sehr bedeutender zu erwähnen. Der gebildete
gemeine Soldat fordert auch ein gebildetes Offiziercorps, was die französische
Armee bei ihrem jetzigen Ergänzungsmodus der Offiziere nicht entwickeln kann.
Wenn der Berufssoldat, also derjenige, dem die Mittel zur Reduction seiner
Dienstzeit durch Loskauf fehlen, die Offizierscharge durch einfache militärische
Leistung erreichen kann; wenn grade jener Theil des Heeres, welcher infolge
seiner längern Dienstzeit sich in den Colonien und auf den gefährlichen Posten
aufhält, am meisten Gelegenheit hat, sich hervorzuthun und also die obern
Stellen in der Armee zu gewinnen, so kann der Offizierstand nicht den Grad
geistiger Bildung enthalten, welcher ihn allein befähigt, die Leitung aller Classen
des Volks zu übernehmen und zu behaupten. Die Art des Avancements zu
ändern ist der demokratischen Grundanschauungen wegen in Frankreich wohl
kaum möglich. Den Offizieren Gelegenheit zu geben, oder ihnen zur Pflicht zu
machen, sich militärische Bildung anzueignen, würde nicht zum Ziele führen, da
zum Herrschen anerzogene Bildung und Routine, eine gewisse aristokratische
Sicherheit noch in höherem Grade gehört, als Kenntnisse. — Kurz, von den
am Beginn dieser Aufsätze erwähnten drei entscheidenden Eigenthümlichkeiten
des preußischen Heeres, dem Zündnadelgewehr, der allgemeinen Dienstpflicht
und dem Offiziercorps, würde Frankreich im Stande sein, die erstere auch an¬
zunehmen, die zweite unvollständig und die dritte vorläufig nicht.
Rußlands einfache innern Verhältnisse, sein concentrirtes Staatsgebiet und
seine im Ganzen nicht zu disparate Bevölkerung würden noch am ersten die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mit einem aristokratischen Offiziercorps
gestatten, aber dort ist das allgemeine Bildungsniveau noch auf so niedriger
Stufe, daß das Product an Güte zurückstehen müßte.
Oestreich entbehrt der innern Einheit und der consolidirtcn Machtverhält¬
nisse, um das Volk in Waffen aufstellen zu können; aber selbst wenn es das-
könnte, würde auch hier der Bildungsgrad der Masse nicht hinreichen, um seiner
Armee die nothwendige innere Kraft zu geben.
Von allen Continentalmächten würde also Frankreich allein mittelst der
allgemeinen Wehrpflicht ein in Betracht kommendes Heer ausstellen können,
wenn auch nicht von der innern Güte des preußischen. Da nun ferner in der
Bevölkerungszahl der Unterschied zwischen Frankreich u.,d Preußen mit den nord¬
deutschen Bundesstaaten nicht mehr so bedeutend ist, u.u die Zahl aufzuwiegen.
röelche Frankreich in seinen Kolonien u. s. w. bei einem europäischen Kriege ver¬
wenden muß, so hört auch in dieser Beziehung das französische Uebergewicht
auf. Ist aber Frankreich bis dahin anerkannt die erste Militärmacht Europas
gewesen, so kann nach den Erfahrungen des letzten Krieges jetzt diese Stellung
Preußen zugesprochen werden, sobald man annimmt, daß die Führung der Heere
bei beiden gleich gut ist. Wir haben bei Trautenau den Einfluß der Führung,
ob Sieg, ob Niederlage noch kennen gelernt.
An Kenntniß und Bildung übertreffen die preußischen Generale die fran¬
zösischen vielleicht mit wenig Ausnahmen, ob an Charakter, was in jedem Kampf,
im Leben wie auf dem Schlachtfelde die Hauptsache ist. das steht dahin. Die
Reibung, welche der Avancementsmodus in der französischen Armee unausgesetzt
hervorruft, muß den Charakter stählen, der lange Frieden und das Princip der
Gnade im preußischen Beförderungssystem können gleiche Wirkung kaum her¬
verrufen. Erzieht Preußen künftig charakterstarke Generale, so braucht es keinen
Feind zu fürchten.
Wenn man sich erinnert, daß der süddeutsche Liberalismus viele Jahre
davon leben mußte, gegen die Bevormundung durch die beiden Großmächte an¬
zukämpfen, und die Regierungen selbst die liberalen Forderungen nicht selten
mit der Berufung auf die Polizei des Bundes ablehnten, so sollte man denken,
es sei jetzt eine Periode paradiesischer Glückseligkeit für die süddeutschen Staaten
eingetreten. Der Alp des Bundes ist weg. jeder Staat erfreut sich so voll¬
kommener Selbständigkeit, wie nur jemals die Republik Krakau oder die von
San Marino. Mit einigem Nachdruck, meint man, müßten jetzt die Völker im
Stande sein, alle ihre politischen Ideale den Regierungen abzuringen, und diese
selbst, des ewigen Hemmschuhs ledig, müßten sich beeilen, ihren oft betheuerte»
ausgezeichneten Willen jetzt zu bethätigen und aus dem Füllhorn ihrer voll¬
souveränen Macht die Segnungen verschwenderisch auszustreuen. Kein finsterer
Schatten drängt sich mehr zwischen Negierende und Negierte. Für die kühnsten
Rcformentwürfe ist die Bahn geebnet, und so scheint es ja endlich wahr zu
werden, daß hier, wo das deutsche Volksthum sich allein in unbefleckter Rein¬
heit, frei von sarmatischer und obotritischer Mischung erhalten hat, auch der
deutsche Musterstaat sich erheben wird, eine Stätte urgermanischer Freiheit, be¬
neidenswert!) für Freund und Feind, und der feste Kern, um den sich einst alle
deutschen Stämme, bekehrt von den Irrwegen des Machtschwindels, sehnsuchts¬
voll schaaren werden.
So lauteten ja wörtlich die Redewendungen, mit denen man hier zu Lande
in die neue durch den nikolsburger Frieden geschaffene Aera eintrat. Vielleicht
ist es niemand damit Ernst gewesen. Wer aber wirklich solche Phantasien
hegte, mag jetzt schon erheblich ernüchtert sein. Nirgends die freudige Be¬
friedigung, mit der man an ein ehrliches Tagewerk geht, nirgends Lust zu
schaffen und die Früchte der über Nacht gewonnenen Selbständigkeit zu pflücken.
Verstimmt bleibt der Blick an der nächsten Vergangenheit hängen, die Litaneien
über Verrath unter den Bundesgenossen von gestern sind immer noch nicht zu
Ende, und die Selbständigkeit selbst droht eine unbequeme Last, eine Verlegen¬
heit zu werden. Es geht den Schwaben wie dem Armen, der plötzlich in den
Besitz eines glänzenden Palastes sich gezaubert findet: er steht verlegen unter
den Schätzen und weiß nichts mit ihnen anzufangen. Da ist z. B. die weiland
Bundeösestung Ulm, die während des Kriegs so manche Kleinodien beherbergen
durfte. Kaum ist sie dem würtembergischen Staat als freies Eigenthum zu¬
gesprochen, so entsteht ein Jammern, als stünde das trojanische Pferd Verderben-
schwanger auf der k. würtembergischen Gemarkung und von allen Seiten erhebt
sich der Ruf, das ebenso kostspielige als gefährliche Bauwesen schleunigst einzu¬
reihen. Diese Forderung wird mit einer für patriotische Gemüther zwischen
Tuttlingen und Bopfingen unangreifbaren Logik begründet: die Festung ist
gegen eine Aggression Frankreichs gebaut, sie soll französische Heere im Laus
gegen Osten aufhalten; was ist die Folge? was anders, als daß diese, im
Drang nach den bayerischen Gefilden aufgehalten, sich im würtemberger Land
einrichten und es nach Herzenslust aussaugen; die Feste ist also eine Gefahr,
nicht ein Schutz für diejenigen, so innerhalb der schwarzrothen Pfähle leben.
Vielleicht daß diese Logik noch durch einen Hintergedanken unterstützt wird.
Wiederholt ist das Gerücht aufgetaucht, es sei bereits über die Aufnahme preu¬
ßischer Besatzung nach Ulm verhandelt worden. Das Dementi, das erfolgte,
hat nicht ganz beruhigen können, zumal da Herr v. Varnbühler, von Hölder
über diesen Punkt interpellirt, jede Auskunft verweigerte. Später hat freilich
der Minister, als ihn eine durch denselben Gegenstand aufgeregte Deputation
von Abgeordneten aufsuchte, die befriedigendsten Zusicherungen ertheilt.. Immer¬
hin schwebt über den Ulmern zu dem Unglücke, von Wall und Graben umgeben
zu sein, die bedrohliche Eventualität, am Ende gar noch Preußen in ihre
Mauern aufnehmen zu müssen. Hinc illae laorimasl Ist es nicht besser,
durch Niederreißen der Werke diesen Schrecken ein für allemal abzuwenden, als
eines Tages von Preußen in das gemeinsame Netz der Vertheidigung von ganz
Deutschland gezogen zu werden?
Wozu auch bedarf Würtemberg künstlicher Festungen? Ihm genügt die
zermalmende Kraft seiner streitbaren Bürger. Ist es nicht die beliebteste Be¬
schäftigung der Gelehrten der particularistischen Partei, auszurechnen, welche
überwältigende Macht es im Verein mit den süddeutschen Staaten auf die
Beine bringen könne, wenn es entschlossen den Krebsschaden der stehenden
Heere beseitigen und die schweizerische Milizverfassung annehmen würde? Bis
zu den kühnsten Zahlen versteigen sich ihre Phantasien, um darzuthun, wie die
Macht der süddeutschen Legionen allen Feinden in Ost und West, in Nord und
Süd die Spitze zu bieten im Stande sei. Seltsamerweise wechseln dann mit
solchen Ergüssen prahlerischer Zuversicht wieder Aeußerungen ganz anderer Art.
So ganz geheuer scheint es den Helden der süddeutschen Freiheit in ihren vier
Wänden doch nicht zu sein. Sie haben Momente, in denen sie sich sehr ver¬
lassen fühlen. Dieselben, die den Anschluß an Preußen als schnöden Verrath
brandmarken, schleudern in demselben Athem heftige Vorwürfe gegen Preußen,
daß es durch die Mainlinie Süddeutschland schutzlos preisgegeben habe. Es ist
unschwer zu sehen, was aufrichtiger gemeint ist, jene Ueberhebung oder dieser
Ausdruck der Hilflosigkeit. Der nikolsburger Vertrag hat den süddeutschen
Staaten die Freiheit gegeben, aber mit der Freiheit auch das Gefühl der Grenzen
ihrer Macht, und wenn jene Stipulationen vielleicht auch den Zweck hatten, die
süddeutschen Staaten mit dem Bewußtsein ihrer Unmacht zu strafen, so ist dieser
Zweck jetzt schon ausreichend erfüllt.
Das Bedürfniß irgendeiner Anlehnung ist also vorhanden, wo soll sie ge-
sucht werden? Es wäre schwer zu sagen, welche Wege die Regierung zu gehen
gedenkt, eine bestimmte Richtung ist in der That nicht zu entdecken. Gleich
nach der Rückkehr des Herrn v. Varnbühler aus Berlin hieß es mit großer
Bestimmtheit, der gewandte Staatsmann sei mit beiden Füßen ins preußische
Lager gesprungen. Die günstigen Friedensbedingungen schienen dieses Gerücht
zu bestätigen. Daß der Minister seinen Schwiegersohn als Gesandten nach
Berlin schickte, ward in demselben Sinne gedeutet. Ueber die bundestreue Ge¬
sinnung Oestreichs, hieß es, sowie über dessen inneren Ruin seien ihm die
Augen vollständig aufgegangen, und die Enthüllung, wie Oestreich zu Nikols-
burg den bayerischen Staat rücklings um eine Provinz zu bringen gedachte,
war allerdings für alle süddeutschen Staaten lehrreich genug. Noch heute gilt
Herr v. Varnbühler. zumal in Hofkreisen, für preußisch gesinnt. Damit scheinen
nun freilich andere Thatsachen wenig zu stimmen. Daß Herr v. Varnbühler
während der Adreßdebatten im October sich aufs zurückhaltendste aussprach,
war erklärlich; die Kammermehrheit wäre im Stande gewesen, ihm den Hoch-
verrathsproceß zu machen, wenn er etwas wie Sympathie mit dem Feind von
Tauberbischofsheim hätte blicken lassen. Auffallender jedoch war, daß alle die¬
jenigen Abgeordneten, von welchen man annimmt, daß sie ihre politische Mei¬
nung mit der des Ministeriums in Uebereinstimmung zu halten bemüht sind,
den Chorus der fanatischen Preußenfeinde verstärkten und mit diesen jene
Fassung der Adresse durchsetzten, in welcher der schwäbische Separatismus einen
absichtlich schroffen Ausdruck gefunden hat. Mag sein, daß die Regierung vom
unvermeidlichen Anschluß an Preußen überzeugt ist. Aber dann hütet sie sich
jedenfalls, ihre Ueberzeugung kund werden, zu lassen. Vielmehr scheint es ihr
bis jetzt Vergnügen zu machen, den particularistischcn Elementen wie bisher ihre
Gunst, den nationalen ihre Ungunst fühlen zu lassen. Der Staatsanzeiger ist
freilich, gewitzigt, wieder zu seiner früheren harmlosen Objcctivirät zurückgekehrt,
er hat sogar Anwandlungen einer unbestreitbaren Unparteilichkeit. Aber es
giebt Nebenwege, auf welchen eine Negierung auf angenehmere Weise, weil durch
keine Verantwortlichkeit gedeckt, und ebendarum wirksamer ihre Meinung unter
die Leute bringen kann. Es blüht am Nescnbach eine Anzahl publicistischer
Talente, nicht vom besten Ruf, die für einige Localblätter thätig sind, auch
gelegentlich in gewissen auswärtigen großen Organen ihr Wesen treiben. Man
will wissen, daß diese Leute nicht unzugänglich seien sür Inspiration aus
höheren Kreisen. Nun wird grade von dieser Sudelpresse, die glücklicherweise
auswärts unbekannt ist, ein nichtswürdiger Kleinkrieg gegen die preußische
Partei unterhalten, ein Krieg, der kein Mittel der Verdächtigung scheut und
jene Verhetzung, die aus den Kriegszeiten datirt, fortwährend zu unterhalten
beflissen ist. Man würde Unrecht thun, für diese Aeußerungen schwäbischer Eigen¬
thümlichkeit die Regierung verantwortlich zu machen. Aber man scheint doch auch
kein Arg daran zu haben, daß dieselben Federn, die dem Ausdruck der höchsten
Loyalität zur Verfügung stehen, zugleich einer Freiheit der Polemik sich be¬
dienen, die schon mit den Strafgesetzen in Conflict gerathen ist. An authen¬
tischen Aeußerungen der Negierung über ihre Stellung zu den deutschen Fragen
fehlt es, wie gesagt, durchaus. Die Bedrohungen preußenfreundlicher Beamten
gehören einer früheren Zeit an. Vielleicht darf man auch die Paulische An¬
gelegenheit nicht eigentlich hierher rechnen. Denn das schwer zu quallficirende
Vorgehen der Negierung trug in allen Theilen den Stempel der Genugthuung
für per'sorties empfundene Beleidigung auf der Stirne; so handelt nicht
politische Ueberlegung, sondern persönliche Leidenschaft. Immerhin aber hat die
Negierung wenigstens den Verdacht nicht vermieden, als ergreife sie den will¬
kommenen Anlaß, sich eines politischen Gegners zu entledigen. Im Uebrigen
scheint sie ohne viele Sorgen abzuwarten und den Eieignissen das Wort zu
lassen; in abenteuerliche Unternehmungen wird sie sich sicher nicht stürzen, auch
der süddeutsche Bund wird von Stuttgart aus so wenig betrieben werden als
von anderen Orten. steuerlos dahin treibend und keinen Nordwind mehr
spürend lenkt das Staatsschisfchcn wieder in die alten Bahnen zurück. Gleich
nach geschlossenem Frieden rieben sich die würtembergischen Schreiber vergnügt
die Hände, daß alles noch so glücklich abgelaufen sei und daß sich nun gemüth¬
lich weiter wirthschaften lasse, als wäre nichts geschehen.
Wirklich scheint auch in der innern Politik die Regierung nicht gewillt,
von der gewonnenen Freiheit der Bewegung einen allzukühnen Gebrauch zu
machen. Schon lange stehen die Fragen der Heeresorganisation, der Ver¬
fassungsreform, der Vereinfachung der Verwaltung, der Justizreform auf der
Tagesordnung. An Vorschlägen, Entwürfen, Verheißungen hat es nicht gefehlt.
Jetzt aber scheint der Moment gekommen, wo keinerlei Rücksichten mehr die
Verschiebung dieser Aufgaben rechtfertigen können. Was zunächst die Armee-
reform betrifft, so verlautet "bis jetzt so viel, daß man mit Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht, mit Einführung irgendeines Hinterladungsgewehres
(das, wie überall die Phrase lautet, „die Mängel des preußischen beseitigen" soll)
beschäftigt ist, und daß die neuen Einrichtungen möglichst in Uebereinstimmung
mit Bayern getroffen werden sollen. Ein Entwurf zur Einführung der all«
gemeinen Wehrpflicht ist auch bereits ausgearbeitet. Aber es haben sich nach¬
träglich Bedenken gegen ein rasches Vorgehen erhoben. Die Sache, hieß es,
greise zu tief in alle Verhältnisse ein, man möge vorher noch eine genauere
Prüfung der verschiedenen Systeme anstellen u. s. w. Vermag man nicht schlüssig
zu werden, so soll dem nächsten Landtag wenigstens ein Gesetz über Aufhebung
der Stellvertretung als eine Abschlagszahlung vorgelegt werden. Dies zur
Charakterisirung des Tempo, in welchem die dringendsten Reformen sich bewegen.
Weiterhin hat die Negierung den Kammern den Entwurf einer neuen Gerichts¬
verfassung, und neuerdings der Oeffentlichkeit die Grundzüge einer neuen Or¬
ganisation der Verwaltung vorgelegt. Aber beide Entwürfe haben die offene- ^
liebe Meinung wenig befriedigt. Diese dringt hauptsächlich auf Vereinfachung
des öffentlichen Dienstes, wie sie dem kleinen Gemeinwesen entspricht, das des
großstaatlichen prätentiösen Apparates sich endlich entschlagen soll, und grade in
dieser Beziehung lassen sie viel zu wünschen übrig. Noch mehr verstimmt es,
daß diese secundären Arbeiten zuvor erledigt sein sollen, bevor Hand an die
Verfassung selbst gelegt wird, während umgekehrt nach der allgemeinen Stimme
die Reform bei der Wurzel hätte beginnen sollen. In der That ist an durch¬
greifende Besserungen gar nicht zu denken, ehe unsere mittelalterliche Stände-
Versammlung von ihren Adels- und Ständepriviiegien gereinigt und vor allem
die zweite Kammer zu einer wirklichen Vertretung des Volkes umgestaltet ist.
Es taucht deshalb der Gedanke auf, zu einer verfassungsrevibirenden Versamm¬
lung nach dem Gesetz vom 1. Juli 1849 als zu einem Rechte zurückzugreifen,
das nach dreimal gescheiterten Versuch willkürlich von der Reaction zurück¬
genommen worden ist. Es ist die Rede davon, eine allgemeine Agitation zur
Zurücksorderung dieses Rechts einzuleiten, wobei freilich zweifelhaft bleibt, ob
dieselbe den gewünschten Anklang und Nachdruck im Volke findet. Denn bis
jetzt wenigstens verhält sich die öffentliche Meinung ziemlich lau zu diesen inneren
Angelegenheiten; es ist, als ob sie es kaum der Mühe werth fände, an den
Formen des Particularstaats herumzuflicken, und auch dies ist bezeichnend in
einem Moment, in welchem die Regierung ohne sichtbaren anderweitigen Ruck«
halt allein dem Vol/e mit seinen Forderungen gegenüberstände.
Um so lebhafter ist noch immer der Karteikampf in den Fragen, die sich
auf die Folgen des Krieges und die Zukunft Deutschlands beziehen. Ich komme
nicht auf die Adreßdebatten und ihr beschämendes Resultat zurück. Bekanntlich
wurde zu drei Vierteln die preußenfeindliche Adresse von der Abgeordnetenkammer
angenommen, ein Viertel sprach sich für den Anschluß an Preußen aus. Viel¬
leicht entsprach dies Zahlenverhältniß genau der damaligen Stimmung im
Lande, ein Plebiscit hätte ohne Zweifel dasselbe Verhältniß gegeben; man war
berechtigt, die Adresse als die Stimme des schwäbischen Volkes in seiner großen
Mehrzahl zu betrachten. Allein jene Minderheit war eine wirkliche Partei mit
einem positiven Programm, die Mehrheit wurde durch eine Coalition gebildet,
die nur in der Negation, höchstens in phantastischen Zielen zusammenstimmte.
Die Mehrheit war nur stark in ihrem Hasse, die Minderheit wußte sich eins
mit dem Genius der Nation, jene stritt für die Vergangenheit, diese für die
Zukunft: die Folgen dieser Stellung können nicht ausbleiben.
Die Bestandtheile dieser Koalition lassen sich nicht leicht sondern, da sie
vielfach ineinander übergreifen und einzelne Persönlichkeiten es trefflich ver¬
stehen, heute in dieser, morgen in jener Farbe zu schillern, heute für den Con-
cordatsstaat, morgen für die freie Schweiz zu schwärmen. Hier der Ultramon¬
tane — und dieser weiß am sichersten, wohin er steuert —, dort der ehrliche
Großdeutsche, dem die Phrase vom Ausschluß der Brüder in Oestreich noch
immer nicht langweilig geworden ist; hier der Schutzzöllner, der noch krankt
an seiner Niederlage im Zvllvereinskrieg, dort der Gefühlspolitiker, der durch
den Sieg der brutalen Gewalt über den Augusienburger und den Kurfürsten
von Hessen an der Vorsehung irre geworden ist; hier der alte Freiheilsmann,
der, in der Schule Nottccks erzogen, diese Welt nicht mehr versteht, dort der
Doctnnär des Föderalismus, der am meisten Lärm zu machen weiß, was seinem
Häuflein an Zahl abgeht, durch Energie der Redeweise und stramme Partei¬
organisation erhebt und sich die vornehme Miene giebt, als beherrsche er durch
diese die ganze Gesellschaft. Diese bunten Elemente sind kaum durch etwas
Anderes zusammengehalten als durch die Opposition gegen den preußischen
Staat, es ist eine Coalition aä Koe. Jedes Mittel ist recht, was diesem Zweck
zu dienen scheint. Bald wird der Anschluß an das demnächst wieder gesammelte
und rachebereite Oestreich gepredigt, dessen Bevölkerung trotz allem unendlich
viel deutscher und liberaler empfindet, als der sarmatische und knechtische Norden.
Oder die Blicke richten sich nach der Schweiz; man verlangt zuerst Adoption
ihrer inneren Einrichtungen und läßt eine politische Angliederung durchblicken,
wie denn schon in den Zeiten des Bauernkrieges die Freiheitsmänner Schwabens
der Gedanke kitzelte, sich mit der Schweiz zu vereinigen und ihr den Abfall
vom Reich nachzuthun. Aber auch von dem mächtigen Nationalitätenfreund im
Westen darf man, seitdem der Staat die internationale Selbständigkeit erlangt
und folglich die freie Wahl der Allianzen hat, ungescheuter reden. Im Grunde
ist er.ja doch der letzte Hort dieser Art von deutscher Freiheit. Gleich, nach dem
Frieden wurde in Volksvereinen mit Wichtigkeit die Frage erörtert, ob man im
Fall eines Kriegs zwischen Frankreich und Preußen auf die Seite des letzteren
treten dürfe, und ein Verein wenigstens beantwortete die Frage frischweg mit
Nein. Seitdem ist sie vielfach, auch in der Kammer erörtert worden; bekannt¬
lich ist auch in diesem Punkt die Minderheit unterlegen. In der Regel ist man
freilich klüger als jene ehrlichen Bürger in Eßlingen. Man vermeidet, in
öffentlichen Kundgebungen auszuposaunen, was sich im Bierhaus unbedenklich
sagen läßt. Es genügt, mit verhaltener Freude und mit Prophetenmiene auf
die Zeit zu verweisen, da Frankreichs Heere den wider die deutsche Nation ver¬
übten Frevel an Preußen rächen werden. Indessen, dies sind alles Phantasien,
vage Hoffnungen; man mußte, wo nicht ein Programm, doch den Schein eines
Programms haben, das minder anrüchig für das nationale Gewissen, verlockend
durch liberalen Schimmer, schmeichelhaft für das süddeutsche Selbstgefühl, ent¬
schieden dem Hegemoniestaat die Spitze bot. Man brauchte nicht lange zu suchen.
Glücklicherweise hatte Louis Napoleon für ein Programm gesorgt, das alle
diese schmackhaften Ingredienzien vereinigte: die Conföderation der Südstaaten,
dieser correcteste Ausdruck des Antipreußenthums. schon durch den Namen an
eine, wenn auch erfolglose. so doch glorreiche Unternehmung der centrifugalen
Tendenzen in dem Staatswesen jenseits des Oceans erinnernd, wurde das
Banner, um das sich die Coalition schaarte. Klugen Sinnes erkannten die
Leiter, daß sie hier ein überaus haltbares Banner, ein niemals veraltendes
Feldgeschrei gefunden. „ Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein
veraltet nie." Man konnte diese Südconföderation um so gemüthlicher fort
und fort verlangen, je gewisser jedermann überzeugt war, daß sie niemals ins
Leben treten werde.
Man kann nicht sagen, daß die Coalition mit diesem Programm Glück
gemacht hat. Zwar darauf, daß die Cabinete es ernstlich in die Hand nehmen
würden, war gar nicht gerechnet; aber es wurde nicht einmal populär. Dies
war doch dem gesunden Sinn auch des schwäbischen Volks, das auf so und so
viel Turm-und Schützenfesten für das einige Vaterland sich begeistert hatte, ein¬
leuchtend, daß die politische Aufgabe die Vereinigung, nicht die Trennung
Deutschlands sein müsse, die Beseitigung der Mainlinie, nicht deren Verfestigung.
Die Agitation gegen die Mainlinie war die Geburtsstätte der preußischen Partei
in Schwaben, oder wie sie sich hier genannt hat, der deutschen Partei. Man ließ
sich dadurch nicht irre machen, daß die erste Form der Agitation von Nord-
deutschland aus desavouirt, zuweilen sogar verspottet wurde. Es galt nach der
Katastrophe dieses Jahres das Bewußtsein der Zusammengehörigfeit, die Ueber«
zeugung, daß die neue Gestaltung Deutschlands nur ein Provisorium sein
könne, wieder zu befestigen. Dies war das Erste. Dabei sah man freilich ein,
daß die kraftvolle Aufrichtung und Ausgestaltung des norddeutschen Bundes
mit vorläufiger Ausschließung des Südens im Interesse des Ganzen liege.
Aber nachdrücklich mußte man es sogleich betonen, daß der Ausschluß nur vor¬
läufig sein dürfe; der Geist trotziger Absonderung durfte daraus nicht neue
Nahrung ziehen, es durften im Süden nicht Institutionen geschaffen werden,
welche das Provisorium verfestigend, den künftigen Anschluß erschwerend eine
Handhabe für auswärtige Intriguen boten. Man konnte sich nicht verhehlen,
daß an der Beschränkung des Bundes auf die Mainlinie niemand anders die
Schuld trug als der Süden selbst, der auf das Angebot des für das ganze
außeröstreichische Deutschland berechneten preußischen Reformprojects vom 10. Juni
mit Krieg geantwortet hatte; eben deswegen war es jetzt am Süden, es auszu¬
sprechen, daß das politische Ziel kein anderes sein könne als die Vereinigung
mit dem Norden mit allen ihren Consequen z en, Damit war der deut¬
schen Partei eine feste Richtung gegeben, und sie konnte immerhin abwarten, ob
die wirkliche Vereinigung bei der nächsten europäischen Krisis erfolgen oder ob
die preußische Negierung das Mittel der Zollvereinskündigung zur geeigneten
Zeit in Anwendung bringen würde.
Man müßte sich die Augen absichtlich verschließen, wenn man verkennen
wollte, daß die preußische Partei in Schwaben, so zäh der Boden ist, in den
letzten Monaten bedeutend an Terrain gewonnen hat. Es hat nie an Preußen¬
freunden gefehlt, aber so offen sind niemals früher die Sympathien für den
norddeutschen Großstaat ausgesprochen worden, so nüchtern hat man niemals
die letzten Konsequenzen gezogen, und niemals früher hat diese Richtung Gegen¬
stand der populären Agitation sein können. Am meisten hat freilich der Erfolg
für sie gewirkt. Es mag übertrieben sein, was sich hier die Sperlinge auf den
Dächern erzählen, daß das ganze Offiziercorps preußisch gesinnt aus dem Felde
zurückgekommen sei und die Stunde herbeisehne, da es einer wirklichen Armee
angehören werde, unter einer Führung, welche die Möglichkeit des Sieges ge¬
währt. Es mag auch dies übertrieben sein, was, wohlgemerkt, noch während
des Kriegs und vor der Entscheidung von officieller wie radicaler Seite be¬
hauptet wurde, daß die ganze Beamtenwelt mit ihren Sympathien auf preußi¬
scher Seite stehe. Aber Thatsache ist. daß der denunciatorische Terrorismus,
der von Seite der tollgewordenen Particularistcn ausgeübt wurde, mehr und
mehr seine Wirkung verliert, und daß die gebildete Gesellschaft, über die Mehr¬
zahl der ehemaligen politischen Führer hinweg, mit verschwindenden Ausnahmen
einer friedlichen — man erschrecke nicht vor dem Wort! — einer friedlichen
Verschwörung gleicht, deren Verbündete bis in sehr hohe Regionen hinaufreichen;
es ist ein unausgesprochenes Credo aller, ein stilles EinVerständniß, daß alle Wege
nach Berlin führen, und daß es so gut sei; eine gesicherte Ueberzeugung, die
eben, weil sie ihrer Sache gewiß ist, mit humoristischer Beschaulichkeit dem
Thun und Treiben des Particularismus folgt und gelassen der letzten Kraft¬
anstrengungen der Demagogie spottet.
So steht denn hinter den wenigen, welche sich die Organisation und Lei¬
tung dieser Richtung angelegen sein lassen, eine recht respectable Armee, und
es geht schon aus den Klagen über den massenhaften „Abfall", aus der Polemik
gegen die „Anbeter des Erfolgs" hervor, daß man gegenwärtig in Schwaben
die Preußenfreunde nicht erst mit der Laterne suchen muß. Ein östreichischer
Offizier, der einer hiesigen Adelsfamilie angehört, vor dem Kriege hier war
und kürzlich wieder hierher gekommen ist, sah sich zu dem erstaunten Ausruf
veranlaßt: „Als ich ging, war alles für Oestreich; nun ich wiederkomme, finde
ich alles preußisch gesinnt!" Aber auch in- den bürgerlichen Kreisen ist die
Stimmung doch nicht so einfarbig orthodox-particularistisch, wie man zuweilen
noch in Norddeutschland anzunehmen scheint. Ich will nicht übertreiben. Hätten
wir jetzt allgemeine Wahlen, zumal mit geheimem Stimmrecht vorzunehmen,
so würde vielleicht das bescheidene Häuflein unsrer Freunde in der Kammer
kaum einen Zuwachs erhalten, aber es würde doch in fast allen Bezirken eine
recht anständige Minderheit auf die Candidaten dieser Richtung fallen. Am
meisten bemerkbar sind die Sympathien für Preußen in demjenigen Landestheil,
der während der vierwöchentlichen Occupation Gelegenheit hatte, die persönliche
Bekanntschaft des gefürchteten Landesfeindes zu machen. Es ist doch eine des
Nachdenkens werthe Thatsache, daß das Verhältniß der preußischen Soldaten
zu der schwäbischen Bevölkerung überall das beste, ja herzlichste gewesen ist.
und daß in der ganzen Zeit nur einmal, in einer demokratisch versetzten Stadt,
ein Exceß vorgekommen ist. Dies will etwas sagen, wenn man bedenkt, wie
unmittelbar zuvor das Hetzgeschäft betrieben worden ist, wie man die albernsten
Mährchen über die barbarische Aufführung dieser modernen Hunnen verbreitet
hatte. Als sie wirklich kamen, stellten sie sich so ganz anders dar. als die
Schilderung gelautet hatte. Rasch wußten sie die Neigung der Bevölkerung
zu gewinnen. Ihre Sitten — und es waren zum Theil polnische Regimenter —
stachen merklich ab von den Sitten, die man an den einheimischen Kriegern
gewöhnt war. Mit Verwunderung wurde man gewahr, daß z. B. Fluchen und
Renommiren nicht nothwendig zum Handwerk eines Knegsmanns gehöre. Wie
sie sich dann rasch in den Familien einbürgerten — (für manchen Ehemann
vielleicht gar zu rasch), wie sie das Zutrauen der Kinder gewannen, wie sie den
Leuten bei der täglichen Arbeit halfen, wie sie, ohne commandirt zu sein, den
Gottesdienst besuchten, dies alles ist heute noch in jenen Gegenden in frischer
Erinnerung. Reichliche Thränen sind beim Abschied geflossen, und manche em-
pfindsame Correspondenz spielt heute noch zwischen Westfalen und Fränkisch-
Schwaben, welche die damals geknüpften Freundeshände zusammenhält. Man
muß solche Briefe gelesen haben und an Ort und Stelle auf die Spuren dieser
Erinnerung gestoßen sein, um den vollen Ekel an der Stammeshetze unsrer
Demagogie zu empfinden.
Vielleicht noch wichtiger aber als solche Sympathien, die mit der Zeit immer¬
hin wieder verblassen mögen, ist die größere Bestimmtheit und Consequenz,
welche jetzt die Ansichten der Preußischgesinnten gewonnen haben. Wer früher
nach dieser Seite neigte, that es schüchtern, mit zweideutigen Wendungen, mit
Vorbehalten aller Art. Die Programme waren mit Wenn und Aber gespickt.
Allmälig erst stieg das Bewußtsein davon auf, daß das Deutschland, das sich
in Preußen verjüngt hat, und das Deutschland der Volksversammlungen nun
einmal schlechterdings unvereinbare Größen sind. Vielfach spukte die Idee in
den Köpfen, als ob wir mit dem nordmainischen Deutschland auf dem Fuß der
Parität stünden und es ein Pacisciren zwischen zwei gleichberechtigten Gebieten
gelte. Es ist noch nicht so lange her, so konnte man aus dem Mund von
Politikern, die im Süden unsern Ansichten am nächsten standen, verwirrende
Phrasen vernehmen, wie die: Preußen muß in Deutschland aufgehen, nicht
Deutschland in Preußen, oder: ich gehe mit Bismarck. wenn er die Reichsver¬
fassung proclamirt, oder: unter der Bedingung, daß Frankfurt die Hauptstadt
werde, nicht Berlin u. tgi. Die Fortschrittspartei hatte sich immer noch Hinter¬
thüren offen gehalten, durch welche sie gleichzeitig dem particularistischen Theil
der Demokratie die Hand drückte. Dies alles ist jetzt anders geworden. Der
Bruch ist jetzt endlich vollständig. Der Wegfall dieser Rücksichten hat die preu¬
ßische Partei entschieden gekräftigt und ihr zugleich einen Nachwuchs junger
Kräfte gesichert, die jetzt erst, bei unverschleierten politischen Zielen, sich ihr an¬
schließen mochten. Die Zweideutigkeiten haben ein Ende, und die Sprache der
„Schwäbischen Volkszeitung", des Organs der Partei, läßt an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig. Wenn man den Eintritt in den norddeutschen Bund an¬
strebt, so ist man sich vollkommen der Konsequenzen dieses Eintritts bewußt,
und dies scheint mir, wie gesagt, das Wichtigste.
Beschämt und trauernd sehen wir die Anstalten zu einem deutschen Par¬
lament treffen, in welchem die südlichen Provinzen nicht vertreten sind. Ist es
erst ins Leben getreten, so wird hüben und drüben die Empfindung noch leb¬
hafter hervortreten, daß dies nur ein provisorischer Zustand sein darf, und die
Resultate des Kriegs nur ein Pfand sind für die Vollendung der Arbeit. Die
Deutschen sind nicht das Volk, einen Vertrag so unbefangen und respectwidrig
zu überspringen, wie die Italiener es mit dem züncher Frieden gethan haben.
Aber zwischen ihm und dem Contract, auf welchem wir jetzt mehr schweben als
stehen, ist die Analogie unläugbar, daß beide überwundene Postulate stellen.
Ist der norddeutsche Bund einmal constituirt und gesichert, so wird es Zeit
sein, sich wenigstens der „nationalen Verbindungen" zu erinnern, aus welche
s
Die „Betrachtungen über die Staatseinnahmen und Ausgaben in Preußen
und Hannover und über einen für Hannover zu bildenden Provinzialfonds",
welche der vormalige Finanzminister Erxleben unlängst hat erscheinen lassen,
nähern sich der Objektivität etwas mehr als Stüves leidenschaftliche und sophi¬
stische Parteischrist, aber lange nicht in demselben Maße wie die vortreffliche
Schristj Benings. Ihr Verfasser hat den Kummer über den Untergang des
selbständigen Staats Hannover noch durchaus nicht überwunden, und dieses
Schmerzgefühl färbt seine Aeußerungen, trübt seinen Blick. Aehnlich wie Stüve,
ist er im Augenblick geneigt, Hannover als das verwirklichte Muster eines Staats
anzusehen; wogegen Preußen nur seine Kritik herausfordert. Dabei fehlt es
ihm in einem Grade, welcher überrascht, an jeder Würdigung der allgemeinen
nationalen Interessen. Wenn dieser an und für sich wohlgesinnte, redliche, ge¬
mäßigte und einsichtsvolle Mann ein getreuer Typus des höheren hannoverschen
Beamtenstandes ist, wie man allen Grund hat anzunehmen, so muß man ernst¬
licher als jemals wünschen, daß die preußische Regierung Mittel finde, die aus¬
schlaggebende Betheiligung dieser Classe an der Reorganisation des Landes als
einer preußischen Provinz auf ein Minimum herabzudrücken — denn sie sind
eingefleischte Pcnticularisten, deren tiefe Verbitterung gegen Preußen weder von
lebendiger Vaterlandsliebe noch von einer höheren staatsmännischen Auffassung
gemildert wird. Sollte es unvermeidlich sein, daß ein paar Exemplare dieser
Gattung im norddeutschen Reichstag und im preußischen Landtag erscheinen, so
wollen wir uns einen Erxleben immer noch lieber gefallen lassen als einen
Stüve. Besser aber werden die Hannoveraner für sich selbst und für das All¬
gemeine sorgen, wenn sie einen Mann.wie.^ Bening unter Seinesgleichen den
Vorzug geben. Nur ein solcher wird durch moralische Autorität dem Mangel
juristischer Schranken gegen das pac piceis — falls es jemals drohen sollte —
abhelfen können.
Der Hauptzweck der erzieherischen Schrift, vom Staate Hannover so viel
als möglich zu retten, wird auf keinen Fall erreicht werden. Ein solches Maß
von innerer Selbständigkeit oder noch eine Kleinigkeit mehr, ließ sich als defini¬
tives Ziel ins Auge fassen solange das Welfenhaus den Thron noch nicht
verwirkt hatte. Aber da man zu jener Zeit in Hannover, unter Mitschuld des
Herrn Erxleben, von dergleichen vernünftiger und patriotischer Selbstbescheidung
weit entfernt war, so heißt es nun sich in den Nahmen einer preußischen Pro¬
vinz schmiegen. Daß dieser nicht einerseits die Einnahmen aus den Gerichts¬
gebühren, den Forsten und den Domänen, andrerseits die Ausgaben für Aemter
und Amtsgerichte zu gesonderter Finanzverwaltung überlassen werden können,
wird kein Unbefangener nur einen Augenblick bezweifeln. Herr Erxleben frei¬
lich scheint sich schon nicht ohne Mühe zu der Einsicht zu erheben, daß der preu¬
ßische Staatshaushalt im Uebrigen und Allgemeinen den hannoverschen verschlingen
muß. Die Ausscheidung eines Proviuzialfonds von mehr als zwei Millionen
Thaler jährlicher Einnahme und Ausgabe däucht ihm eine Forderung klarer
Gerechtigkeit. Dabei sind seine Motive häusig ganz particulanstisch-sentimental.
Die Gerichtsgebühren z. B. will er nicht nach Berlin abfließen, sondern sich in
Hannover sammeln sehen, um desto sichrer zu sein, daß die preußische Taxe nicht
aus Hannover Anwendung finde. Nun kann man die preußische Taxe über¬
trieben und die hannoversche hinlänglich hoch finden, und muß doch lächeln,
wenn Herr Erxleben in seinem Eifer die Einführung der preußischen Taxe in
seinem Heimathlande als ein „namenloses Unglück" perhorrescirt. Unwillkürlich
fühlt man sich vor solchen declamatorischcn Uebertreibungen zu dem Wunsche
aufgelegt, der Versuch möge gemacht und der Unglücksprophet durch die Erfah¬
rung am eigenen Leibe beruhigt werden. Mit gleichem Lächeln werten ver¬
muthlich selbst die gelasseneren unter den hannoverschen Lesern der Schrift ge-
lesen haben, wie „die wirthschaftlichen Zustände des Landes schon dadurch unter¬
graben werden müssen, daß sein entthrontes Herrscherhaus nach fast tausend¬
jähriger Verbindung mit dem größten Thei-le des Landes nun genöthigt ist, die
ihm aus seinem reichen Domanio gebührenden Einnahmen nach dem Auslande
hinüberzuziehen, und dem Lande gar keine Garantie dafür gegeben ist, daß die
bewährte Ordnung seiner Verwaltung und Rechtspflege nicht geändert, sein
ausgezeichneter Beamten- und Richterstand in auskömmlicher Lage erhalten und
dadurch in seiner Unabhängigkeit und Zuverlässigkeit gesichert, endlich aber alle
die andern Anstalten und Einrichtungen, die das Land durch eigne Kraft und
Tüchtigkeit geschaffen, mit Liebe gepflegt und gefördert hat, ihm erhalten, den
Bedürfnissen und Besonderheiten entsprechend weiter entwickelt oder doch mit
schonender Hand umgebildet werden." Wie kann der bloße Mangel einer
Garantie sür diese Postulate dazu beitragen, daß die wirthschaftlichen Zustände
des Landes „untergraben werden?" Und wie kann die so begonnene „Unter-
grabung" dadurch vollständig werden, daß eine halbe Million Thaler von den
im Lande gewonnenen Einkünften fortan, statt an die Hofouvners der Stadt
Hannover, an die Läden und Magazine Wiens oder Londons abfließen? Ohnehin
thut ja König Georg das Seinige, den augenblicklichen materiellen Verlust
seiner früheren Residenzstadt wieder groß ausfallen zu lassen, indem er dort
Schriftsteller und Druckereien füttert, die in seinem Sinn und Interesse den
kleinen Krieg gegen Preußen fortsetzen. Das Körnchen Wirklichkeit aber, das
in jener aufregenden Tirade steckt, wird mehr als aufgewogen durch die heil¬
samen wirthschaftlichen Folgen der Annexion, die Entfesselung des Unternehm-
ungsgeistes und der Arbeit auf allen Gebieten. Von den Kier nachzuholenden
schweren und zahlreichen Unterlassungssünden scheint dem ehemaligen Minister
Georgs des Fünften weniger bewußt zu sein, als wir von seiner sonstigen
Einsicht erwarteten. Hat der Duft einer so kurz zurückliegenden Vergangenheit
ihm das alte Hannover bereits ganz idealisirt? Die Einseitigkeit des Partei¬
geistes begleitet ihn freilich auch durch seine Zifferaufstellungen, wo er der
Tendenz, Hannovers Finanzlage möglichst günstig zu schildern, die objective
Gerechtigkeit nicht selten opfert, auf der hannoverschen Seite z. B. alle voraus¬
zusehenden Mehrerträge über den Etatssat) hinaus genau berücksichtigt, auf
der preußischen Seite aber nicht dergleichen. Seine Schrift ist eben durchaus
ein Plaideyer, keine objective Vergleichung.
Wir wollen uns ihr Ergebniß aber gefallen lassen. Es soll so sein, daß
Hannover bisher für Zwecke der innern Verwaltung, für Besoldungen, Ruhe¬
gehalte u. s. f. mehr thun konnte als Preußen. Wir fragen nur: weshalb?
War es nicht einfach deshalb, weil Preußen zu Lande und zur See seit Jahr¬
zehnten den militärischen Schutz Hannovers in der Weise mitübernommen hat,
daß dieses weniger als seine rechtmäßige Quote zu leisten braucht? Diese Mehr¬
leistung Preußens beträgt im Armeebudget allein verhältnißmäßig die Hälfte
dessen, was Hannover bisher ausgegeben, 1'/« bis 1'/-- Millionen Thaler jährlich;
das Marinebudget, die Ausgaben der Kreise für Militärzwecke, die Opfer der
Einzelnen bei allgemeiner Wehrpflicht und viel längerer Dienstzeit sind dabei
noch gar nicht angeschlagen. Ist nun die bisher bestehende allgemein anerkannte
Ueberbürdung Preußens zu Gunsten des übrigen Deutschland oder mindestens
Norddeutschland in aller Welt ein Grund, die altpreußischen Provinzen auch
ferner zu überbürden? sie, wenn auch nicht mehr direct bei Militär und Flotte,
doch dadurch indirect in Nachtheil zu stellen, daß die Früchte jener langjährigen
Ersparnis; der neuen Provinzen, die werthvolleren gemeinnützigen Anlagen oder
Einrichtungen, welche mehr laufende Kosten bedingen, um jeden Preis ihnen
nach wie vor allein zu Gute kommen sollen und dieser Rücksicht jede andere der
Rechtsgleichheit wie der Staatseinheit geopfert wird, während die Früchte der
Mehrleistung des bisherigen Preußen, d. h. die Wiedergeburt des leidenden
Vaterlandes, doch allen gleichmäßig zu Gute kommen? Dies muß der leitende
Gesichtspunkt jeder Untersuchung sein, welche Ausgleichung zwischen den Finanz¬
verhältnissen der neuen und der alten preußischen Landestheile zum Gegenstande
hat. Mit ihm gelangt man nicht zu so ungeheuerlichen Forderungen, wie sie
Herr Erxleben stellt, der einen Staat im Staate begründen möchte; aber die
rechtmäßigen und wohlverstandenen Interessen Hannovers zu wahren schneidet
auch er keineswegs ab. wie wir gleich darthun wollen.
Zu diesen Interessen gehört es nicht, daß die Gerichtsgebühren in eine zu
Hannover aufgestellte Kasse fließen, statt in die berliner Centralkasse, sondern
lediglich, daß die bewährten Formen der Rechtspflege erhalten werden; und
dagegen hat niemand in Berlin etwas einzuwenden, selbst der jetzige Justiz¬
minister nicht. Zu den rechtmäßigen und wohlverstandenen Interessen Hanno¬
vers gehört ferner nicht ein Provinzialbudget von so unerhörtem Umfang, wie
die Eifersucht des vormaligen Finanzministers es vorschlägt. Es gehört auch
nicht dazu, daß die Ausgaben zur Beförderung der Landwirthschaft und Vieh¬
zucht genau so fortgezahlt werden wie bisher, denn in Hannover selbst sind die
Sachverständigen z. B. höchlich zweifelhaft, ob die 40—45,000 Thlr., welche
auf das Landgestüt in Celle verwendet werden, der einheimischen Pferdezucht
nachgrade nicht mehr Fluch als Segen bringen. Herr Erxleben ist in dieser
Beziehung aufsälligerweise ebenso naiv-gläubig, wie sein Gesinnungsgenosse und
Vorgänger Stüve an die Wunderkraft von Staatsausgaben zur Beförderung
des Handels glaubt. Dagegen gehört es auch unserer Meinung nach zu den
berechtigten Wünschen der Provinz Hannover, daß ihr Steuerwesen nicht ohne
weiteres gegen das nur wenig bessere preußische ausgetauscht werde. Vielmehr
müßte einer solchen Verschmelzung die Reform des preußischen Steuerwesens
jedenfalls vorausgehen, und diese nimmt man füglich erst vor — wird auch
früher gar keine Zeit dafür haben —, wenn die Vertreter Hannovers im preu¬
ßischen Landtag sitzen, und wenn der Reichstag mit den Regierungen die Finanz¬
verfassung des Bundes festgestellt hat. Der danach dann eintretenden Mehr¬
besteuerung der Hannoveraner im Ganzen oder im Einzelnen aber wird die
preußische Negierung nicht besser den Stachel ausziehen können, als wenn sie
sich gewisse Pläne zur Hebung der materiellen Interessen aneignet, die zur Zeit
des erxlebenschen Ministeriums zwischen diesem und den.ständischen Führern,
R. v. Bennigsen, Miquöl, Grumvrecht u. s. w., festgestellt oder vorbereitet
wurden, insbesondere einen Plan zur Beschleunigung der Ablösung aller noch
übrigen feudalen Dienste, und den Plan, binnen zehn Jahre.» das Landstraßen¬
netz der Provinz durch fast 300 Meilen neuer Kunststraßen auf den höchsten
Punkt verkehrentbindender Dichtigkeit zu bringen. Wir wollten, Herr Erxleben
hätte in die Uebertragung dieser wahrhaft werthvollen, wenn auch zunächst zu
Leistungen verpflichtenden Erbschaft auf Preußen, den Schwerpunkt seiner
Schrift gelegt; er würde damit selbst seinem Heimathlande, das ihm anscheinend
allein am Herzen liegt, einen wirksameren Dienst geleistet haben als indem er
sich unter die Anwälte des verlorenen Particularismus gesellte.
Der Landkartenverkauf tritt in friedlichen Zeiten gegenüber den andern
Zweigen buchhändlerischer Thätigkeit stark in den Hintergrund. Der Verlag
sorgt für den regelmäßigen Bedarf der Schulen und Reisenden; auch wid¬
met er sich dann der ruhig fortschreitenden Ausnahme des Vaterlands und
fremder Gebiete. Wenn aber der Sturm über die Länder fährt und die übrigen
Zweige des Buchhandels gelähmt daniederliegen, entwirft der Kartenzeichner
seine Kriegskarten. Kiepert brachte eine neue historische Karte von Preußen,
eine neue Karte von Deutschland und eine Uebersichtskarte von Mitteleuropa
mit neuem Colorit. Dann erschien, um nur noch wenige zu nennen, eine
größere „ Organisationskarte" von Deutschland in München und als charto-
graphisch officielles Organ die „Karte vom preußischen Staate in zwölf Blättern"
(vierte Auflage), herausgegeben vom Ministerium für Handel, Gewerbe und
öffentliche Arbeiten. Sie enthält in genauester Ausführung die politischen Ver¬
änderungen, die der Sommer 1866 Deutschland brachte. Nur als Curiositcit sei hier
noch erwähnt „Das Europa des Friedens" (in Neu--N»rk erschienen) und „Neueste
Karte von Deutschland mit sonderbaren Ncmdzeichnungen" von F. Mäusle.— Und
als mit den nach Süden ziehenden Schwalben auch der freiaufathmende Deutsche
wieder an die alten Geschäftsreisen oder an einen kleineren Ausflug zur Erholung
dachte, da kamen die Post- und Reisekarten wieder aus ihrem Versteck und erlitten,
soweit sie die politischen Grenzen verzeichnen, manche eingreifende Veränderung.
Jetzt sind wir wieder in dieser Hinsicht im alten Geleise und nur kurzer Zeit
bedarf es, so haben auch die Geographen in ihren Büchern anerkannt, was
die Kartenzeichner im Augenblick seines Entstehens zu Papier brachten. Nur
zeitweise wird man noch durch das Erscheinen von Plänen der einzelnen
Schlachtfelder — ich nenne z. B. die petermannsche Karte von Königsgrätz, die
Karte des Schlachtfeldes bei Königsgrätz. (Wien, Gerold) und den Plan des
Schlachtfeldes von Langensalza — daran erinnert, daß kaum erst die Diplomaten
die Friedenspfeife zusammen rauchten.
Mit der Brochurenliteratur verhält es sich ähnlich wie mit den Karten.
Man darf wohl annehmen, daß die Anzahl der erscheinenden politischen Brochüren
im geraden Verhältnisse stehe zu der Aufregung, in welcher die Staaten leben.
Je t>oder die Wogen um das Staatsschiff gehen, desto größer ist die Menge
des literarischen Schaums, der lustig auf ihnen herumschwimmt. Nur dann
Verliert die politische Brochure von ihrer Bedeutung, wenn die Völker im blu¬
tigen Kampfe ringen und wenn der Kartenverleger ruhig abwartet, wessen
Schädel der härteste sei. Während aber der Musikalienverleger wie in diesem
Jahr schon mit Fug und Recht seinen „Siegesmarsch", seine „Zündnadelpolka",
seinen „heroischen Trauermarsch", den „Königsgrätzer Preußensturmgalopp", den
„Parlamentsmarsch" oder den „Siegesfreudenwalzer" und den „Friedensmarsch"
in die Welt sendet, bekämpft man sich wieder heftig mit Feder und Papier und
findet sich nur schwer in die neuen Verhältnisse. So ist denn auch dieser denk¬
würdige Sommer für solche literarische Gewächse sehr fruchtbar gewesen. Der
Stein, den Bismarck mit kühner Hand in die verwässerten deutschen Verhält¬
nisse warf, griff gewaltig in die einzelne Familie, in die kleineren Gemeinwesen
und in das Leben der Staaten ein. Jeder schüttete Wohl dem andern das
Herz aus, viele stritten eifrig in den Leitartikeln und Korrespondenzen der Zei¬
tungen, andere wieder sagten sich in offenen Briefen die Meinung und die
Brochüren wurden nicht nur gekauft, sondern auch mit Eifer gelesen. Es hieße
die Grenzen des gebotenen Raums überschreiten, wenn ich alles mir auf dem
Gebiet bekannt Gewordene aufführen wollte. Aber es ist immerhin interessant,
in einzelnen Gruppen das Bedeutendere zusammenzustellen, was in der Brochuren-
literatur seit den letzten zwei Monaten geleistet wurde.
Der Friede mit Oestreich und den meisten deutschen Staaten war geschlossen.
Was sollte nun werden? Der Möglichkeiten gab es so viele, daß in der Be¬
antwortung der einen schon wieder eine Frage verborgen war. Viele Brochüren
beschäftigten sich daher im Allgemeinen mehr mit Deutschland und der Frage,
ob Preußen die „Spitze" gebühre oder nicht. So schrieb L. K. Aegidi in
Hamburg „Woher und wohin? Ein Versuch, die Geschichte Deutschlands zu
verstehen", Heinrich v. Treitschke „die Zukunft der norddeutschen Mittelstaatcn".
H. Schulze „die Friedensbestimmungen in ihrem Verhältniß zur Neugestaltung
Deutschlands". Damit beschäftigten sich ferner die Brochüren. „Die Annexionen
und der norddeutsche Bund, vom Versasser der Rundschauen", „Offener Brief
an Johann Jakoby", Heinrich v. Sybels „Das neue Deutschland und Frankreich,
Sendschreiben an Herrn Foryade in Paris", „Karl der Große und die natür¬
lichen Grenzen Frankreichs" von Hilgers, „Preußen und Schwaben, von einem
Annectirten", „Politische Betrachtungen für die Gegenwart und nächste Zukunft,
von einem alten Liberalen", I. Oppermanns „Freiherr Karl vom Stein und
das Kleinstaatenthum", „Ueber Preußens Bestimmung und Aufgabe" von
C, L. Michelet. „Stein-Kochberg, Preußens Politik und die Kleinstaaten" „Frie-
densgedanken, Aufruf zur nationalen Einigung". „Worauf es ankommt. Ein
Wort zur Verständigung", beide von Kreyssig. „das Ende der Kleinstaaterei.
Ein Capitel aus Deutschlands neuester Geschichte" von R. Köpke,- „Bundesstaat
und Einheitsstaat" von P.W. Forchhammer, „der norddeutsche Bund und die
Verfassung des deutschen Reichs", „F. v. Raumer an Rudolph Köpke. Ein histo¬
risch-politischer Brief" und „Ueber den norddeutschen Bund" von Brücken. Mäh-
rend wohl die meisten dieser Schriften ein Zusammengehen Deutschlands mit
Preußen verfechten, haben auch die Gegner nicht geschwiegen und namentlich
war ein Mannheimer Verlag sehr thätig auf diesem Gebiete. Ich nenne u. a.
„In Sachen Deutschlands gegen Preußen", Professor Eckardts politische Flug¬
blätter, „Blut und Eisen, die Grundfarben der neuen Karte Europas" von
C. Homburg, „Preußisch oder Deutsch" von Becker, „Jacob Venedey an Professor
H. v. Treitschke".
Seit sich diese große Frage in verschiedene kleine zerlegte, gab es auch
wieder Brochüren, die Einzelheiten behandelten. Was sollte aus Hannover
werden, aus Sachsen, Kurhessen, Nassau und Frankfurt? Wohl war von allen
diesen Fragen die in Betreff der drei letzten Staaten nicht nur ihrer Kleinheit
wegen die unbedeutendste. In Kurhessen und Nassau tauschte man gegen eine
schlechte Regierung eine gute ein, und der Schmerz der Frankfurter ward
durch das feste Auftreten der Regierung wenigstens gebändigt. Man fragte sich
mit Recht, was heutzutage noch eine Stadt als Staat wolle, und eine Brochure
giebt darauf wenigstens für die Hansestadt an der Elbe die Antwort „Selb¬
ständigkeit und Hoheitsrecht der freien Stadt Hamburg sind ein Anachronismus
geworden". So haben sich denn diese Staaten mit ziemlichem Gleichmuth in
ihr Schicksal gegeben und ich finde nur drei bemerkenswerthe Brochüren „Deutsche
Antwort auf eine nassauische Frage" von A. Velde, „Was soll aus Kurhessen
werden? Zur Verständigung an alle Kurhessen" von Endemann und „Kurhessen
und seine Dynastie. Ein politischer Entscheidungsproceß".
In Hannover dagegen legte sich die Aufregung nicht so bald. Eine ganze
Fluth von Flugschriften behandelte die Verhältnisse dieses Staates. Ich er¬
wähne: „Trostbriefe für Hannover, von einem Althannoveraner". „Vergleichende
Zusammenstellung der hannoverschen und preußischen Verfassung", „Welsisch oder
Deutsch", „die Einverleibung Hannovers in Preußen. Von einem gebornen
Hannoveraner", „Preußen und Hannover", „Hannover unter eigenen Königen".
„Die Einverleibung Hannovers in Preußen", „Nun sind wir Preußen. Ein
hannöverscher Stoßseufzer von einem Hannoveraner" und „Ueber einige Folgen
der Einverleibung Hannovers in den preußischen Staatsverband" von A. Grun-
drecht.
In Sachsen war mittlerweile die Frage eine sehr brennende geworden.
Noch schmachteten Handel und Gewerbe unter der Ungewißheit des Kriegszustandes
und die Gesammtbevölkerung unter bedeutender Kriegssteuer und Einquartie¬
rungslast. Kein Wunder, daß die Schmerzensschreie sich mehrten und selbst
Gutgesinnte einzusehen anfingen, daß im Geldpunkte die Gemüthlichkeit aufhöre.
Man fragte sich „Was wird aus Sachsen?" „Wer leidet, der König oder das
Land?" Dasselbe Thema in mehr oder minder energischem Tone behandelten
die Flugschriften „Sachsen und der norddeutsche Bund". „ Ein Hilferuf aus
Sachsen". „Sachsens Gegenwart und Zukunft. Ein Mahnruf an das sächsische
Volk", „Die albertinische Dynastie und Norddeutschland. Ein deutsches Wort
zu den deutschen Parlamentswahlen Sachsens". „Sachsen und die königlich
sächsische Landescommission", „Von Dresden nach Paris oder Sachsens Ver-
hängniß", „Sachsens Vergangenheit und Zukunft. Von einem Sachsen" und „An
die Sachsen beim Friedensschluß".
Auch mit dem Süden und besonders Oestreich beschäftigten sich einige
Stimmen, so die Brochure „Bayern. Preußen und Deutschland. Votum eines
Süddeutschen". „Offenes Sendschreiben an die Staatsmänner in Wien und
München von Siegfried am Lechrain", „ Dcutschöstreichs Gegenwart und Zu¬
kunft". „Zur Reorganisation Oestreichs. Von C. v. K.". „Der Ausschluß Oest-
reichs aus Deutschland ist eine politische Widersinnigkeit" von Marr, „Oest¬
reich, Venetien und Deutschland", von Wollheim de Fonseca, „In der zwölften
Stunde. Aus und an Oestreich", „Oestreich nach der Schlacht bei Königsgrätz"
von B. Carreri und „Ein Blick auf Oestreichs Lage", von A. Fischhof.
Auch im Ausland wurden wir Deutschen im verflossenen Sommer der
Gegenstand respectvoller Aufmerksamkeit. Auch dort schenkte man uns die Ehre,
uns in Flugschriften zu begutachten. Ich erwähne nur das in Zürich erschienene
Schriftchen „Die Neugestaltung von Deutschland und die Schweiz". Verfasser
soll Bluntschli sein.
So kämen wir zu den Brochüren. die sich mit den wenig erbaulichen Er¬
eignissen auf den süddeutschen und östreichischen Kriegsschauplätzen beschäftigen.
Während Graf Wartensleben-Schwiersen als preußischer Laie Bcnedek gegen
die östreichische Presse vertheidigt, sehen wir im Südwesten Deutschlands das
widrige Schauspiel mit an, wie sich die Staaten, nachdem sie sich von Preußen
haben schlagen lassen, unter einander noch mit Koth beWerfen. Von Würtemberg
gingen „Actenmäßige Enthüllungen" aus, die einen Verrath des Prinzen Wilhelm
von Baden an der Sache der Bundestruppen darthun sollten. Darauf erfolgten
mehre Gegenschriften, z. B. „Mittheilung von Thatsachen", „Zur Beurtheilung
der actenmäßigen interessanten Enthüllungen über den badischen Verrath". „Zur
Beurtheilung des Verhaltens der badischen Felddivision", und eine „Badische
Antwort auf das Pamphlet". Aber jener Pamphletschreiber ließ sich nicht
schrecken. Er antwortete mit „Nochmals der badische Verrath. Weitere Ent-
hüllungen, sowie Zurückweisung der wider die bekannte Brockure erschienenen
officiellen und officiösen Angriffe." Gleichzeitig zog man auch in Bayern
gegen das eigene Heer und seine Führer literarisch zu Felde. Es erschien „Die
bayerische Heerführung und der Chef des Generalstabs, Generallieutenant Frei¬
herr v. d. Tann vor den Geschworenen", „Aphorismen über das bayerische Heer¬
wesen", „Ursachen und Wirkungen der bayerischen Kriegführung im Feldzug
1866" und „Prinz Karl und die bayerische Kriegführung. Von G —r."
Und so mögen uns denn die zwei letzten von mir aufgezeichneten Flug-
schriften „ Bismarck und zwei unheimliche Damen" und die zum 60. Male er-
scheinenden Prophezeiungen des unsterblichen Schäfers Thomas auf erheiternde
Weise in das Gebiet der Geschichte führen.
Schon in einem früheren Aufsatz wurde erzählt, wie der-Krieg dem deut¬
schen Buchhandel schwere Wunden schlug, die selbst jetzt noch nicht geheilt sind
und wieder aufs neue bluten werden, wenn die Ostermesse des nächsten JahreS
herankommt. Alle Zweige des Buchhandels, soweit sie nicht Landkarten oder
Flugschriften politischen Inhaltes lieferten, lagen darnieder. Was der Verleger
gedruckt hatte, versandte er nicht; so weit es erste Hefte waren, die er als
Neuigkeiten verschickt, holte er sie zurück; was er vorbereitet, aber noch nicht in
die Druckerei gegeben, ließ er nicht drucken, bis die Taube mit dem Oelzweig
in die Arche zurückkehrte. Ich habe nach mir vorliegenden Aufstellungen zu berech¬
nen versucht, was dem Gewichte nach weniger als in den verflossenen Jahren
an Literatur über Leipzig in der Zeit vor und während dem Krieg versandt
ward. Es mag hier seine Stelle finden, weil es zugleich zeigt, wie bedeutend
der leipziger Verkehr ist.
Man darf hiernach annehmen, daß im Jahre
versandt wurden.
Vom Januar bis März 1865 waren es 20,720 Centner, während es in
demselben Zeitraum 1866 24,000 Centner waren, die über Leipzig zur Ver¬
sendung kamen. Ein Beweis, wie sehr man glaubte, gesicherten Zeiten ent¬
gegenzugehen. Im zweiten Vierteljahr des verflossenen Jahres waren es
26.880 Centner, während in demselben Zeitraum dieses Jahres nur 23.780
Centner, also über 3,000 Centner weniger zur Versendung kamen. In diese
Zeit fällt der erste Anfang des Krieges und doch schon ein solch großer Aus¬
fall in der Production! Vom Juni bis September 1865 kamen 22,670 Cent-
ner, in demselben Zeitraume dieses Jahres nur 17,700 Center, demnach fast
6,000 Centner weniger als im verflossenen Jahre zur Versendung, trotzdem die
Hälfte dieses Zeitraums schon friedliche Zustände sah. Der Gesammtaussall in
dem buchhändlerischen Verkehre über Leipzig betrug bis zum 1. October fast
6.000 Centner gegen denselben Zeitraum des Vorjahres. Jetzt allerdings
scheint das eingeholt werden zu sollen, was auf unfreiwillige Weise versäumt
warb. Berge von Büchern häufen sich bei den Cvmnnssionciren, und man möchte
fast glauben, jetzt erst habe Bürger den Vers geschrieben:
Zu dem Umstand, daß unsere Gegenwart wieder eine leidlich normale und
die Zukunft grade keine trübe ist, kommt als weiterer, dem Buchhandel günsti¬
ger Factor der Winter. Wenn es gälte, einen Kalender mit den bibliopolischen
Jahreszeiten anzulegen, so hätte der Buchhändler die Erntemonate in den Zeiten
der kürzesten Tage, und Winter dann, wenn der gewöhnliche Mensch ins Bad
oder in die Schweiz reist. Dann tritt vielfach Dürre im Geschäft ein; der
Sortimenter hat dann mehr überflüssige Zeit als ihm lieb, und seine Haupt¬
beschäftigung besteht zu jener Zeit häusig nur in der Führung der lakonischer
Korrespondenz mit dem Verleger und in der Schlichtung der Differenzen, die
sich in den Geschäftsbüchern eingeschlichen haben. Im Herbst beginnt jedoch
das Geschäft wieder und der Engländer hat recht, der sagte: „LuortörunZ et^s
ars not irwr« esrtirili iiMeatioirs ok dirs approacli ok virrter, etiam etat
rustr ok xudlislrers anvouneementZ." Dann schwillt das Börsenblatt von
Anzeigen und die buchhändlerischen Circulare wandern in Massen hin und her
in den Buchhändlerballen oder gar mit direkter Post.
So ist denn die Anzahl der neuen Werke, wenn sie alle verzeichnet werden
sollten, auch auf den Gebieten, deren Production bisher unter unsicheren Ver¬
hältnissen gelitten hatte, jetzt wieder bedeutend genug. Viele kleinere Kriegs¬
berichte kamen auf den Büchermarkt. Ich erwähne „Von Berlin nach Nikols-
burg." Von I. Horwitz. „Der deutsche Krieg", „Deutschland, im Jahr 1866
durch Preußen neu gestaltet", die Berichte des Timescorrespondenten in ver¬
schiedenen Uebersetzungen, „Zwei Monate Preußisch. Ein Gedenkbuch der preu¬
ßischen Invasion in Mähren", „Preußens Krieg gegen Oestreich und seine Ver¬
bündete", von W. Petsch, K. v. Kessels. „Der Krieg Preußens gegen Oestreich
und seine Veibündete und der Krieg in Italien", ferner ein ähnliches Buch von
Winterfeld. Das Erscheinen von Werken Theodor Fontanes und Dr. W. Zimmer¬
manns über diesen Gegenstand wird angekündigt und die ersten Hefte von I. I.
Webers „Illustrirter Knegschronik" werden ausgegeben. Auch von W. Nüstow
erscheint ein Buch in Lieferungen „Der Krieg von 1866 in Deutschland und
Italien". Der Thätigkeit einzelner Heerestheile während des letzten Krieges sind
Monographien gewidmet, z.B. „Der Antheil der badischen Felddivision an dem
Kriege des Jahres 1866", „Die Bayern im deutschen Krieg 1866, von A. v. Z."
„Der Feldzug der (östreichischen) Nordarmee und ihre Kämpfe vom 23. Juni bis
27. Juli 1866", „Die Hannoveraner in Thüringen und in der Schlacht bei
Langensalza", und „Die Theilnahme der zweiten (preußischen) Armee unter dem
Obercommando des Kronprinzen", neben weiteren Arbeiten von Zychlinski und
Helmuth über die Thätigkeit preußischer Heeresabtheilungen. Auch die sächsische
Armee hat einen Spccialgeschichtsschreibcr gefunden in dem Werk „Die könig¬
lich sächsische Armee im deutschen Feldzug 1866".
Zu Versen hat der Krieg insofern Anlaß gegeben, als er den Landwehr¬
mann Th. Strande „Kriegsbilder und Scenen aus dem Feldzug gegen die
Hannoveraner" in poetischer Form darzustellen veranlaßte, während M. Blanckarts
„Kriegsgedichte" und Heinrich Pröhle zum Besten der Verwundeten „Der Krieg
1866. Ein Gedicht" schrieb.
Aber gehen wir von der Zeitgeschichte ab. die noch allzu sehr unter dem
Druck von der Parteien Gunst und Haß geschrieben wird, und wenden wir uns
zu Werken über länger vergangene Zeiten. „Kaiser Heinrich der Sechste." Von
Theodor Töche bildet den neuesten Band der von der historischen Commission
in München herausgegebenen „Jahrbücher der deutschen Geschichte". Ferner
erschien „ Westpreußen unter Friedrich dem Großen. Nach urkundlichen Quellen
bearbeitet von E. Lippe-Weißenfeld". „Die Kurfürstinnen und Königinnen auf
dem Throne der Hohenzollern von E. D. M. Kirchner." I.Theil. „Blüchers
Campagnejournal der Jahre 1793 und 1794", von Knorr, „Das Testament
des großen Kurfürsten", von I. G. Droysen, der bis zum Ende der Karolinger-
zeit reichende erste Band der „Geschichte des deutschen Volks und seiner. Cultur
von den ersten Anfängen historischer Kunde bis zur Gegenwart", von S, Sugcn-
heim, „Aus dem Mittelalter", von G. Freytag, „Agrippina. die Mutter Neros",
von A, Stahr, „Ostpreußen unter dem Doppelaar. Historische Skizze der rus¬
sischen Invasion in den Tagen des siebenjährigen Kriegs", von X, v. Hasenkamp.
„Kampf und Untergang des Melanchthonismus in Kursachsen" von Calinich.
„Fünfundzwanzig Jahre aus der Geschichte Ungarns von 1823 — 1848" von
M. Horv6,es. übersetzt von Novelli. 2 Bde., „Englische Geschichte, vornehmlich
des 16. und 17. Jahrhunderts" von L. Ranke, 6. Bd. und „Die Kämpfe
der Helvetier. Suchen und Belgier gegen Cäsar. Neue Schlaglichter auf alte
Geschichten" von M. Einssein. — I. G. Kohl gab ein Buch heraus, „Der
Rathsweinkeller in Bremen. Mit zwei Stahlstichen, das Innere des bremer
Rathskellers darstellend". Dabei sei hier erwähnt, daß gleichzeitig eine Aus¬
gabe der hauffschen „Phantasien" mit hübschen Holzschnitten erschienen ist.
F. Siebigk hat „Das Herzogthum Anhalt historisch, geographisch und stati¬
stisch" darzustellen angefangen. Aus Kunst- und Literaturgeschichte ist zu erwähnen
„H. Taine, Philosophie der Kunst. Autvristrte deutsche Uebersetzung", Franz
Kuglers „Geschichte der Baukunst". 4. Band, der von Burckhardt und Lübke
ausgearbeitet wurde, der Anfang des dritten Bandes von H. Weiß' bekanntem
„Handbuch der Kostümkunde". F. v. Raumers „Handbuch zur Geschichte der
Literatur" 3., 4. Bd., „Geschichte der nordamerikanischen Literatur, eine literar¬
historische Studie" von K. Brunnemann. „Johann Schefflers Cherubinischer
Wandersmann. Eine literarhistorische Untersuchung" von F. Kern, „Die be- "
deutendsten deutschen Romane des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte
der deutschen Literatur" von L. Cholevius. „Die deutschen Volksbücher. Gesam¬
melt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt" von K. Simrock,
13. Bd., „Deutsche Dichter des 16. Jahrhunderts" herausgegeben v. Goedeke
und Tittmann, 1. Bd. („Liederbuch aus dem 16. Jahrhundert") und der zweite
Band von „ Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahr¬
hundert gesammelt von R. v. Liliencron". Dann mag noch hier eines größeren
geographischen Unternehmens gedacht sein, das E. Bahn bei I. Perthes unter
dem Titel „Geographisches Jahrbuch" herausgiebt.
Aus den ziemlich zahlreichen Monographien und Biographien hebe ich her¬
vor: „Geschichte derer von Meding" von L. v. Meding, 1. Band, „Carl Maria
v. Weber. Ein Lebensbild von M. M. V. Weber", 3. Band, welcher als
Schluß des ganzen Werth die hinterlassenen Schriften des Componisten enthält,
„Friedrich Rückerts Leben und Dichtungen" von Dr. C. Beyer, „Abraham a
Santa Clara. Biographie" von Th. Karajan. Mit Porträt in Stahlstich,
„Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sein Leben und seine Werke." Von August
Reißmann, „Selbstbiographie von Dr. K. E. V. Baer", „Zur Erinnerung an
F. L. Mallet", von W. H. Meurer, „ C. G. Carus Lebenserinnerungen und
Denkwürdigkeiten", 3. und 4. Theil, „Heinrich Zschokke. Ein biographischer
Umriß" von E. Zschokke (aus Virchows und Holtzendorffs Sammlung von Vor¬
trägen), „Cornelius, der Meister der Malerei", von H. Riegel, „Zwölf Streiter
der Revolution", von Rasch und Struve, „Johann Karl August Musäus. Ein
Lebens- und Schriftstellercharakterbild" von M.Müller, „Diderots Leben und
Werke", von Karl Rosenkranz, zwei Bände. „Biographische Aufsätze" von Otto
Jahr. „Ludwig van Beethovens Leben" von A. W. Thayer. 1. Band, „Nico-
laus von Basel Leben und ausgewählte Schriften" von K. Schmidt, „F. Thierschs
Leben", von H. W. I. Thiersch. 2. Band, „Der General Franz Lefort. Sein
Leben und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte Peters des Großen", von
Dr. M. Posselt. 2 Bände, „Johann Adam Möhler. Ein Lebensbild" von
B. Wörner. mit Briefen und kleineren Schriften herausgegeben von P. B. Gans.
„Christian Gottlob Barth, Dr. der Theologie, nach seinem Leben und Wirken
gezeichnet" von K. Werner, 2. Bd., „Des russischen Reichskanzlers Grafen Nessel¬
rode Selbstbiographie." Deutsch von K. Klcvesahl, „Joh. Karl Passavant. Ein
christliches Charakterbild", „or. Karl Ullmann. Blätter der Erinnerung" von
W. Beyschlag, „Uz und Cronegk. Zwei .fränkische Dichter aus dem vorigen
Jahrhundert. Ein biographischer Versuch" von H. Feuerbach, „Denkwürdigkeiten
des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel. Von ihm selbst dictirt. Aus dem Fran-
zösischen übersetzt. Mit einer Einleitung" von K. Bernhardt, „Ulrich Zwingli,
nach den urkundlichen Quellen" von I. C. Mörikofer, 1. Thl. und „Winckel-
mann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen", von Carl Justi.
1. Band.
Zur Memoirenliteratur ist wohl am besten zu zählen: „Erinnerungen seit
mehr als sechzig Jahren", von Escher.
Einiger „Gesammelter Schriften", die theils zum ersten Mal, theils in
neuen Ausgaben erscheinen, möchte ich noch kurz gedenken. Es sind: „Glaub¬
rechts ausgewählte Schriften". ,. Friccius hinterlassene Schriften nebst einer
Lebensskizze desselben". Von H. Beitzke, „Gesammte Schriften von I. K. A. Mu-
säus. Herausgegeben und mit Einleitung versehen " von Dr. M. Müller, und
„Auswahl dramatischer Werke" von Kotzebue.
Nach mag hier der „Briefwechsel zwischen Goethe und Kaspar Graf von
Sternberg", herausgegeben von F. Th. Bratranek eine Stelle finden. Nicht nur
für Musiker interessant sind auch „Musikerbriefe von L. Rost. Eine Sammlung
Briefe Von C. W. v. Gluck, PH. E. Bach. I. Havdn, C. M. v. Weber und
F. Mendelssohn-Bartholdy" und „Gesammelte Aufsätze über Musik" von Otto
Jahr.
- Wer übergeht auf das heitere Gebiet der Belletristik, der thue das mit
einem gewissen Zagen.
Wie viele Dichter in Sedez oder Duodez schmachten auf den Hauptlagern
der Verleger dem Tag des Makulirtwerdens und der Papiermühle entgegen
und wie mancher Verleger könnte, allerdings in anderm Sinne, sagen: „Gott,
warum gabst du mir Lieder?" Immer wird sich aber der anständige Buchhändler
vor Verlag von sogenannter Belletristik wahren, wie sie höchstens durch Colpor¬
tage an den Mann zu bringe» ist. -Futter für Leihbibliotheken, wie es in Berlin
am üppigsten gedeiht. Derartige Belletristik aufzuführen kann ich wenigstens
hier sparen.
Von deutschen Originalromanen nenne ich u. a.: „In Reih und Glied",
von F. Spielhagen, ö Bde., „Aus Andalusien. Erzählungen von P. Stein".
2 Bde., „Elise" und Hedwig", von der Verfasserin von „Stolz und Still",
„C. von Bolanden, historische Novellen über Friedrich den Zweiten und seine
Zeit", 4. Band. „Novellen" von L. Rosen, „Schloß Ehrenstein und seine Be¬
wohner". Eine Erzählung aus unserer Zeit von L. v. Cornitz. „Ein Verlornes
Glück" Von Stephan Milow, „Drei Weihnachtsabende". Eine Erzählung von
der Verfasserin des Pfarrhauses im Harz, „Fritz Werner. Historischer Roman
aus den Jahren 1800—1816" von Th. Willborn. 3 Bde., „Der Himmelsring"
von B. Salzbrunner, „Eine Mutter" von F. Gerstäcker. 3 Bde., „Luerfritz. Een
spaaßi Verteiln" von Th. Piening, „Neue Novellen" von A. E. Brachvogel,
„Die geraubte Schatulle. Eine Erzählung aus dem wirklichen Leben" von
E. D. Mund. „Unterwegs. Reisebilder" von Alfred Meißner, „Erlebnisse eines
Arztes" von E. D. Mund, 2. Abth., „Künstlerroman" von Hackländer, „Ge¬
heimnisse des Glücks". Roman von Gustav vom See. 4 Bde.. Ernst Willkomm.
„Gesellen des Satans" 2.Abthlg., „Verlorne Seelen", Roman von Leo Wolfram,
3 Bde., Herzberg-Fränkels „Polnische Juden. Geschichten und Bilder", „der
Hof von Dalwitz und seine Leute" von H. v. Maltitz, 4 Bde., Becker, „des
Rabbi Vermächtniß", 2. und F. Abth.. 4 Bde.. „Still und bewegt. Ein Lebens-
bild" von A. v. Klausberg. L. Schücking. „Verschlungene Wege". 3 Bde.. „Mo¬
derne Familiengeschichten" von A. Lewald, 3 Bde., A. Steffens (Grunow). „Der
Brandstifter". Novelle, „Mit der Feder für das Schwert", Novellen und Erzäh.
lungen, A. Diezmann, „Frauenschuld", 2 Bde., „Emilie. Eine Erzählung" von
A. Katsch, Armand, „Saat und Ernte", 6 Bde. Dann mag hier noch Holteis
„Charpie", obgleich eigentlich nicht hierher gehörig, und ein neuer Roman der
L. Mühlbach, „Deutschland im Sturm und Drang", dessen erste Abtheilung
allein wieder vier Bände füllt, erwähnt werden.
Ich hätte noch mehr Erzeugnisse unserer dichtenden Prosaiker aufführen
können, aber dies mag genügen. Nur noch einen derselben möchte ich erwähnen,
ehe ich zum Roman des Auslands und zu den oft sehr prosaischen Dichtern
der neuesten Zeit übergehe. Es ist Fritz Reuter.
Der Verleger darf von ungewöhnlichem Glück sagen, wenn er einen Autor
hat, dessen Schriften er nirgends anzupreisen braucht. Eine einfache Anzeige
genügt, um den Sortimenter in Allarm zu bringen, während bei nicht wenigen
Schriftstellern, trotzdem der Verleger sie mit der großen Trommel und mit
Pauken aufschreit, das Publikum kühl vorübergeht. Einer von der ersten Art
ist Fritz Reuter. Nach dem ersten Kriegsgetümmel kam die kurze Anzeige von
dem baldigen Erscheinen des „Dörchläuchting". Kaum war der Friede von
Nckolsburg geschlossen, so war die erste, bald darauf die zweite Auflage ver¬
griffen. Gelobt wird da wenig, aber gelesen desto mehr und wo sich zwei über
Fritz Reuter unterhalten, da glänzen die Gesichter vor innerem Wohlbehagen.
Schade nur, daß ein Glossar immer noch auf sich warten läßt. Schon vor fast
drei Jahren stand ein solches in Aussicht. Gar manche Worte sind, die selbst
Eingeweihtere nicht verstehen und die nur ein auf die Eigenthümlichkeiten des
mecklenburgische» Lebens eingehendes Wörterbuch zu erklären vermag. Hier wäre,
um ein vielfach gemißbrauchies Wort einmal richtig anzuwenden, einem dringen¬
den literarischen Bedürfniß leicht abzuhelfen.
Von nichtdeutschen Romanen will ich nur folgende erwähnen: „Onkel
sitas von Bartram-Haugh", von I. S. le Faun, 3 Bände, „Ein Sünder
wider Willen", Roman von L. Enault. 2 Bände, „Jacobaea von Bayern.
Historisch-romantische Erzählung von I. van Lennep. Im Versmaß des Originals
aus dem Holländischen übersetzt von Dr. E. Wegener". „Meine Lebensschicksale".
Erzählung von M. S. Schwach, 2 Bände, „David Waldner", Roman von der.
selben, 3 Bände, „Hand und Handschuh" von A. B. Edwards, 2 Bde., „Ein
edles Leben, aus dem Englischen" von S. Verena, 2 Bde., „Armadale" von
Wiikie Collins und „Strathmvre, Roman" von Ouida, aus dem Englischen
von Eltze, 4 Bde.
Von epischen Dichtungen mögen hier zwei stehen: „Das friedliche Thal im
Kriege 1813", ein Epos, von Kaiser - Langerhannß, „Dichtungen" von
H. Simon, 6, Bändchen (enthält Hermann und Freia. Gedicht in sechzehn
Gesängen).
Ich komme nun zu den dramatischen Werken, die in großer Fülle vor¬
liegen. Dramen und Komödien schreiben ist ein sehr undankbares Geschäft.
Der Verfasser nimmt alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz, der
(Commissions-) Verleger läßt das Werk hübsch drucken, aber die Welt hat auch
ein steinern Herz, wie jener uhlandsche König und die ausgesandten Exemplare
kommen häufig mit erschreckender Genauigkeit zur Ostermesse zurück, wenn es
nicht der Buchbinder verstanden hat, sie durch einen geschmackvollen Einband
salonfähig und für den Weihnachtstisch passend zu machen. Das ist die alte
Geschichte, die den meisten Dichtern passirt und die heutigen mögen sich darüber
mit denen früherer Generationen trösten.
Ich nenne: „Das Haus Cenci", Preisgekrönte Tragödie von A. Freese.
„Liebe im Mai oder Calandrino im Fegefeuer", Komödie von Hans Köster,
„Ein Habcrfeldtreiben". Volksschauspiel von A. Müller. „Dramatische Schriften",
von H. Baumgärtner, 3, Bändchen, „dramatische Werke" von Winterfeld und Wol¬
zogen, 3. Bändchen, N. Gottschall, „dramatische Werke", S. u, 6. Bändchen, „Hein¬
rich der Fünfte", Trauerspiel von Stern, „Dramatische Kleinigkeiten", von Marie
Mindermann, „Die Steriler", Drama von C. Preser, „Achilles, Trauerspiel" von
A. Gerhard, „Sophonisbe. Ein Trauerspiel aus dem Alterthum" und „Serveto,
Trauerspiel von A. Hesse. Auch erwähne ich die vortreffliche Uebersetzung von
Molisres Lustspielen, 3. Band. Das Werk ist damit vollständig.
Besser ist jedenfalls die Lyrik dran. Sie ist noch salonfähiger als drama¬
tische Werke. Diese gehört immerhin schon mehr zu der schweren geistigen Kost,
während Verse, wenn sie noch so schlecht sind, auf ungebildete Gemüther einen
gewissen Reiz ausüben. Von solcher Waare wird gar vieles gekauft und man¬
cher, der plötzlich ein Geburtstag- oder Weihnachtsgeschenk zu machen hat und
„Blumenlese»" nicht mag, greift kühn nach dem ersten besten eleganten Einband.
Enthält er Verse eines und desselben Dichters, so kauft er sie. Er mag dies
ruhig thun, denn gelesen werden sie dock, kaum.
Und wenn ich nun ausgehe, um in der angenehmen Zeit des Buchhändler¬
frühlings — Nichtbuchhändler nennen ihn Herbst — noch zum Schlüsse einige
lyrische Veilchen zu Pflücken, so mag man mir es nicht verargen, wenn ich
etliche Hundsveilchen unwissentlich mit darunter bringe. Es gehörte in der That
sehr viel Zeit und ein vortrefflicher Magen dazu, um von allem zu kosten, was
uns heutzutage geboten wird. Man erwarte deshalb keine Aufzählung des
Besten, sondern eine Uebersicht des Erschienenen, und sehe selber zu. wie man
aus den bunten Steinen, Kies und Sand die echten Perlen herausfindet.
I. Schmiern veröffentlichte Lieder und Gedichte unter dem Titel „Stunden
meiner Muse". E. v. Lewitzka „Gedichte". — Ferner erschien die zweite Sammlung
von Gedichten von Meta Heußer-Schweizer, Müller von der Werra, „Buch der
Lieder", „Zwölf Zeitgedichte", von K. Kirdorf, „Geharnischte Sonette aus Nord¬
deutschland, zweiter Cyklus", „Der Herr ist mein Heil", von G. F. Jäger,
„Gedichte", von R, G. H. Conz. „Für Haus und Herz. Letzte Klänge von Leo¬
pold Schefer". Herausgegeben von N. Gottschall, „Gedichte" von L.Mayer,
„Lieder und Sprüche von F. Rückert. Aus dem lyrischen Nachlasse des Verfassers"
und Weyde-Eimkes „des Königs Ahnen. Welsenlieder", die mehr als je ein
Werk zu spät gekommen sind.
So haben wir uns durchgearbeitet durch eine Masse von Titeln und viel¬
leicht ist gar mancher Leser unterwegs stecken geblieben. Aber so gleichgiltig
wir auch jetzt darüber hinaus lesen, auf jedes Buch hat ein Auge mit Liebe
gesehen. Es war das des Schreibers, der es vielleicht mit banger Sorge als
Erstlingswerk hinaussandte. Auch der Verleger sah ihm nach, aber mehr mit der
Ruhe des Geschäftsmanns, der hofft, daß sein Erzeugter nie wiederkehren möge
als verlorener Sohn mit verstoßenen Ecken und abgeriebenen Goldschnitt. Wer
doch so glücklich wäre , ein Mittel zu entdecken, unter den angebotenen Manu¬
skripten die herauszufinden, die stets „gehen" und den Verleger zum reichen
Manne machen. Aber der Werke sind wenige, und diejenigen gehören zu den
Juwelen des Verlagsgeschäfts, die bei alljährlicher Wiederkehr gierige Käufer
finden.
Während ich dies schreibe, steigt am buchhändlerischen Himmel ein Ge¬
stirn der Art auf. Es ist der gothaer genealogische Kalender in seinen drei
Ausgaben. Mit der Regelmäßigkeit eines Planeten geht er im December
auf und der Sortimenter erwartet ihn mit Schmerzen. Denn die fürstlichen,
gräflichen und freiherrlichen Kunden können ihn nie früh genug haben. Man
könnte da eigenthümliche Betrachtungen anstellen. Der Sturm des Jahres 1866
hat manche Krone von hohe» Häuptern gefegt und mancher Thron ist mit Mühe
wieder geleimt worden. Und wenn wieder der December herankommt, wer weiß,
ob nicht der Redacteur des fürstlichen Taschenkalenders wieder Veranlassung
hatte, mit der. Hand Don Philipps einige gekrönte Häupter zu den Todten zu
werfen, während die Geschichte unbarmherzig über ein ganzes gestürztes Ge¬
schlecht hinwegschreitet? Dann kommt auch vielleicht bald eine Zeit, wo der
Verleger von Brochüren kein Material mehr für seine Unternehmungen aus der
politischen Zweitheilung Deutschlands zieht und wo der Musikalienhändler in
einem Jubelhymnus das endliche Erreichen eines Zieles feiert, dem wir im
verflossenen Sommer ein gewaltig Stück näher rückten.
Zusammengestellt sind hier folgende Karten: Mark Brandenburg von 1170 bis
1440; der Staat des großen Kurfürsten, des großen Friedrich, Friedrich Wilhelm
des Zweiten, der preußische Staat von 1803, von 1806, von 1807 bis 1813;
die Configuration desselben, wie sie aus den wiener Verträgen hervorging; ferner die
Provinzialeintheilung von 1815 bis aus König Wilhelm den Ersten; endlich die aus
die preußische Geschichte bezüglichen historischen Orte jenseits des Rhein. Die Karten
sind zwar klein und entbehren der Details, was namentlich bei der letzten zu be¬
dauern ist; wünschenswerth ist daher eine große Ausgabe dieser Zusammenstellung,
der dann ein Bild des preußischen Staates von 18K6 nicht fehlen dürfte, was wir
allerdings schon hier ungern vermissen. Indeß für den Zweck, zu dem sie bestimmt
sind, leisten sie trefflichen Dienst. Aus den Stadien des krystallinischen Processes,
der das Wachsthum der norddeutschen Monarchie bezeichnet, ist das Instructive überall
richtig herausgegriffen und so ein lehrreiches figürliches Bild der Mission Preußens
gegeben. Wir möchten die Sammlung namentlich zur Anschaffung in den außer-
prcußischen Schulen des Nordbundgebietes empfehlen, wo solche Demonstration aä
ooulos wohl noth thut. Der äußerst mäßige Preis (24 Groschen) begünstigt wei¬
teste Verbreitung, was mit Anerkennung constatirt werden muß.
Eine recht gut orientirende Schilderung von Land und Leuten, ihren socialen
Idiotismen sowie der häuslichen und landschaftlichen Scenerie, in der sie sich be¬
wegen. Ueberall liegt, besonders bei letzteren Gegenstande, gute und gebildete Be¬
obachtung zu Grunde, und wenn der Verfasser auch in seinen sprachlichen Excursen
sich etwas zu weit gehen läßt, hat doch das Büchelchen schon darum Anspruch auf
freundliche Aufnahme, daß es mit Geschmack und in lebendigem Tone geschrieben ist.
Der Verfasser ist Verehrer der hcrbartschcn Philosophie und hat gleichmäßig
die Mängel wie die Lichtseiten dieser Richtung auszuweisen. Während das Buch in
Bezug aus tiefere organische Durchdringung des Stoffes manches zu wünschen übrig
läßt, zeigt es andrerseits verständige Sichtung des Details, sowie geschickte und an¬
ziehende Aneinanderreihung desselben. Für Höhere Töchterschulen scheint es vermöge
seiner durchgängig faßlichen, nie mit beschwerlichem Notizcnkrcnn oder trockenem
Schematismus belasteten Darstellung, mit seinen eleganten und bündigen Inhalts¬
angaben wichtiger Schriften und der stets zarten und tactvollen Behandlung be¬
denklicher Materialien, ganz besonders geeignet. Die Mosaik fremder Urtheile,
die uns neuerlich kein Literarhistoriker mehr erspart, ist hier wenigstens mit Ge¬
schick zusammengesetzt und mit ihren Namen belegt; vorzüglich sind die Selbstbe¬
kenntnisse unserer großen Autoren über ihre Werke und die zeitgenössischen Urtheile
über deren Aufnahme, endlich die Ehrenzeugnisse aus dem Munde des Gegners (wie
das eines katholischen Literaturhistorikers über die Sprache der lutherischen Bibel¬
übersetzung) von guter Wirkung. Das eigene Urtheil des Verfassers ist fast durch¬
gängig besonnen und maßvoll; vereinzelte Schroffheiten ausgenommen, wie die
schlegelisirendc Ansicht über mehre Dramen Schillers und der bittre Ausfall wider
die"„an Phrasen und Floskeln überreiche Impotenz" Hebbels. Sehr anerkennens-
wcrth ist noch, daß das Buch auch der neuesten Literatur eingehende Aufmerksamkeit
zuwendet; es wird in der That Zeit, daß unsere Jugend nicht mehr blos dem
Schatten vergangener Tage nachhängt, joudcrn auch die Signatur des gegenwär¬
tigen geistigen Lebens zu erkennen lernt. — Die schwächste Partie ist die durchaus
flach und dürftig gehaltene Darstellung der Philosophie, namentlich werden die
Schriften Schillings in keiner Weise gewürdigt, die neuesten Geistesarbeiten, nament¬
lich zur Herstellung einer theistischer Philosophie, gänzlich ignorirt. Unter der Rubrik
„Geschichtsschreibung" tadeln wir die Uebergehung von Karl Adolph Menzels deutscher
Geschichte, ein Vorwurf, der auch den sonst so brauchbaren weberschcn Grundriß
der Literatur trifft. Je entschiedener unsere Richtung zu der des genannten Histo¬
rikers im Gegensatz steht, um so mehr erachten wir es für Ehrenpflicht, darauf zu
dringen, daß ein auf so soliden Studien beruhendes noch jetzt an tüchtigen Fer¬
menten reichhaltiges Wert nicht systematisch todtgeschwiegen werde.
Mit Ur. K beginnt diese Zeitschrift den sechsundzwanzigsten
Jahrgang, Bestellungen daraus nehmen alle Buchhandlungen
und Postämter an.
Leipzig, im December 1866.Die Vevlagshandlnng.
Die mecklenburgische Verfassung ist selbst dem Minimum berechtigter An¬
forderungen so wenig entsprechend, alle Einrichtungen sind so veraltet und dem
Gedeihen hinderlich, die Zustände nach allen Richtungen hin so über jedes Maß
kläglich, daß man denken sollte, darüber wäre nur eine Stimme möglich, daß das
Land der Obotriten bei jeder politischen Umgestaltung Deutschlands nur ge¬
winnen könne. Die Vertretung theils durch ererbten oder käuflich erworbenen
Grundbesitz, theils durch ein obrigkeitliches von großherzoglicher Verleihung oder
Bestätigung abhängiges Amt bestimmt, mehr als zwei Fünftheile der Bevölke¬
rung überhaupt ohne Vertretung, keine Staatskasse, kein Staatsbudget, keine
ständische Controle von Staatseinnahmen und -Ausgaben, die Steuern irrationell,
ungleich vertheilt und überaus drückend, dazu die Patrimonialgerichtsbarkeit, die
während der ersten zehn Jahre ihrer Amtsführung auf Kündigung stehenden
Patrimonialrichter, die von den Gutsherren auf Kündigung angestellten Schul¬
lehrer, zur Hälfte mit geringeren Einkünften als ein Tagelöhner, das Staats¬
kirchenregiment, der feudale und der büreaukratische Despotismus im Polizei¬
wesen und in der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten, die vollendetste
politische und wirthschaftliche Unfreiheit, die übermäßige Zahl unehelicher Ge¬
burten (1 uneheliches Kind auf 3V» eheliche), das ungerechte Conscriptions-
sysiem — alle diese und viele andere Züge gleicher Art vereinigen sich zu einem
poliiischen Nachtstück, welches in Deutschland schwerlich irgendwo seines Gleichen
hat. Und wenn die Mißgestalt dieser Einrichtungen und Zustände vor dem
Jahre 1848 durch eine gewisse Humanität des patriarchalis.chen Regiments zwar
nicht ausgeglichen wurde, aber doch in einem etwas milderen Lichte erschien, so
hat die seit der Restauration im Jahre 1830 die Herrschaft führende Partei
dafür gesorgt, daß auch diese Hülle jetzt verschwunden ist und der nackteste
Absolutismus an höchster Stelle strahlt. Nur an zwei Begebenheiten aus neuester
Zeit möge hier, zum Beweise dessen, erinnert sein.
Die „Rostocker Zeitung" erhielt von Herrn v. Oertzen als Minister des
Innern eine Verwarnung, weil sie über den Zeitpunkt der Vermählung des
Großherzogs einige Tage vor dessen amtlicher Ankündigung angeblich eine Notiz
gebracht. Es war aber zufällig eine andere Zeitung gewesen, welche diese un¬
schuldige Nachricht in ihre Spalten aufgenommen hatte. Die „Rostocker Zei¬
tung" wies nach, daß der ihr gemachte Vorwurf gänzlich des Thatbestandes
entbehre. Herr v. Oertzen mußte gestehen, daß er sich eine kleine Verwechselung
habe zu Schulden kommen lassen; er bemerkte, dies sei „im Drange der Ge¬
schäfte" geschehen, auf die beantragte Zurücknahme der Verwarnung aber könne
er dennoch nicht eingehen, weil die „Rostocker Zeitung" im Allgemeinen eine
schlechte politische Richtung verfolge.
Ein zweites Stück: im Verfahren erster Instanz waren 40 bis 60 Rostocker
wegen Theilnahme am deutschen Nationalverein verurtheilt worden. In zweiter
Instanz wurden dieselben freigesprochen. Herr V. Oertzen als Minister des Innern
aber behauptete, daß der Rath zu Rostock, welcher die Spruchbehörde zweiter
Instanz bildete, „sich erdreistet" habe, dabei von einer unrichtigen Ansicht aus¬
zugehen. Er cassirte nicht nur durch Cabinetsmachtspruch das freisprechende
Erkenntniß, sondern erklärte zugleich auch die Verurtheilung erster Instanz für
richtig, und wies den Rath zu Rostock an, für dessen Ausführung zu sorgen.
Ais dieser sich weigerte, die Männer in Strafe zu nehmen, welche er freige¬
sprochen hatte, erschienen auf Befehl des Ministers v. Oertzen fünfundzwanzig
Mann vom großherzoglichen Gardebataillon aus Schwerin und besetzten als
Executionstruppe das Haus des Bürgermeisters Dr. Zastrow. Der Rath ward
gezwungen, an Männern, die er durch ausführlich motivirtes Erkenntniß für
schuldlos erklärt hatte, Strafen zu vollziehen. Die Sache wurde sowohl vom
Rath als von den durch Herrn v. Oertzen verurtheilten Nationalvereinsmit¬
gliedern vor den Bundestag gebracht, und es hatte allen Anschein, als wenn
selbst diese Versammlung dem Verfahren der mecklenburgischen Negierung keine
Seite abgewinnen konnte, welche es ihr ermöglichte, darin etwas Anderes zu
entdecke» als Cabinctsjustiz. Nur der schleunige Untergang des Bundestages
brachte die Beschwerdeführer um ihren voraussichtlichen Sieg und den Bundes¬
tag selbst um die Gelegenheit, sich wenigstens in dieser Sache ein ehrenvolles An¬
denken zu sichern.
Bei dem Allen giebt es doch zahlreiche Personen in Mecklenburg, welche
die alte Landesverfassung und die damit in Verbindung stehenden Einrichtungen
erhalten zu sehen wünschen und welche daher den Eintritt Mecklenburgs in den
norddeutschen Bundesstaat fürchten. Das ist die Phalanx derer, welchen ihre
Privilegien höher stehen als das Wohl des Ganzen und welche nicht gern auf
den politischen Einfluß und die mit ihrer bisherigen Stellung verbundenen
materiellen Vortheile verzichten.
Sie haben darin vollkommen Recht, daß sie eine Fortdauer der alten mecklen¬
burgischen Landesverfassung innerhalb des zu begründenden Bundesstaates nicht
für denkbar halten. Mag der Bundesstaat auch nur in den allgemeinsten Um¬
rissen und den bescheidensten Grenzen zur Verwirklichung gelangen: schon seine
bloße Existenz wird genügen, um den mecklenburgischen Feudalismus über den
Haufen zu werfen. Legt man auch auf alles Uebrige, was der jeßigen feudalen
Landesvertretung Mecklenburgs bei dessen Eintritt in den Bundesstaat ihre
bisherige Grundlage zu entziehen droht, kein entscheidendes Gewicht, jedenfalls
enthalt die dermalige mecklenburgische Verfassung einen Punkt, welcher nicht
mit dem Bundesstaat vereinbar ist, dessen Reform aber mit Nothwendigkeit den
Fall des ganzen feudalen Apparats nach sich zieht: die Finanzverfassung. Diese
muß, wenn sie sich den neuen Verhältnissen anschmiegen soll, eine vollständige
Umgestaltung erfahren. Das mecklenburgische Finanzsystem ruht — wie neulich in
d. Bl. näher beleuchtet wurde — auf der Anschauung, daß zur Bestreitung
der Bedürfnisse der Landesverwaltung principaliter die landesherrlichen Ein¬
nahmen aus den Domänen und Regalien zu dienen bestimmt sind, während die
im Wege des Vertrages zwischen Landesherrn und Ständen festgestellten Steuern
nur den Charakter von aversionellen Hilfsbeiträgen zur Bestreitung der Kosten
des Landesregiments haben. Ein solches Verhältniß, verbunden mit dem Mangel
eines Budgets und einer Controle der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben,
erscheint der neuen Bundesverfassung gegenüber schon deshalb unhaltbar, weil
es widersinnig wäre, dem Bundesreichstage das Recht einzuräumen, über die
Einkünfte des Großherzogs direct oder indireet zu verfügen, bestehende Steuern
und Zölle an sich zu ziehen, deren Ertrag bisher in die großherzogliche Kasse
floß oder neue Abgaben einzuführen, welche die bisherigen Zuflüsse zu dieser
Kasse möglicherweise erheblich verändern könnten. Die bevorstehenden Bundcs-
einrichtungen werden daher die Wiedereinführung einer Scheidung zwischen
großherzoglicher Kasse und Staatskasse erfordern, wie dieselbe schon einmal als
Consequenz der konstitutionellen Staatsordnung in Mecklenburg bestand. Diese
Scheidung aber führt dann weiter: sie erfordert eine gänzlich veränderte Basis
der Landesvertretung. Die Einheitlichkeit der Finanzverwaltung setzt den ein¬
heitlichen Staat und die Einheitlichkeit der Landesvertretung voraus. Mit Son¬
derung der Einkünfte des Staats von denen des Großherzogs fällt der Feu¬
dalismus.
Diese mit Sicherheit vorauszusehenden Consequenzen erklären hinlänglich
das Widerstreben, mit welchem die Anhänger des Feudalismus, Regierung so¬
wohl als Stände, an die Gründung des neuen Bundesstaats hinantreten. Sie
fürchten dessen verjüngende Rückwirkung auf das alte Mecklenburg.
Viel Macht nach außen hat freilich der Fürst eines Kleinstaates nicht zu
verlieren. Es ist aber auch schon ein Opfer, auf den Schein der-Selbständig¬
keit zu verzichten. Schwerer noch fällt jedenfalls die veränderte Stellung dem
Lande gegenüber ins Gewicht. Der Großherzog soll auf denjenigen Theil seiner
Rechte im Innern verzichten, welcher auf die neue Bundesgewalt übergeht. Er
soll sich seiner Kriegsherrlichkeit über die Landcstruppen begeben, sein Gesetz-
gebungs- und Besteuerungsrecht, welches beides er in seinen Domänen sogar
ohne alle, ständische Mitwirkung übt, schmälern, seine Einnahme auf ein be¬
stimmtes Maß zurückführen lassen. Er soll auf die freie und gänzlich uncon-
trolirte Verwendung von Einkünften verzichten, welche jährlich einen reinen
Ueberschuß von mehr als einer Million Thaler liefern, und auf den Einfluß,
welchen er als Grundherr von 200,000 Seelen und einem Areal von hundert
Millionen Thaler an Werth in der mannigfaltigsten Weise übt.
Noch empfindlicher trifft die Veränderung die Mitglieder der feudalen
Landesvertretung, der Ritter- und Landschaft. Sie sollen ihre politischen Rechte
nicht nur beschränken lassen, sondern ganz verlieren. Für die Ritterschaft,
namentlich für die adelige, droht außerdem mancherlei Verlust an Sinecuren
und den damit zusammenhängenden Emolumenten. Eine Menge von Stellen,
welche theils ausschließlich, theils vorzugsweise aus der Mitte der Adelsfamilien
besetzt werden, wird bei veränderten Staatseinrichtungen, bei Einführung des
Princips der Selbstverwaltung, als überflüssig eingehen. Das Hofleben, an
dessen uneingeschränkten Fortbestand der Adel ein so großes Interesse hat, wird
sich offenbar einfacher und der neuen Stellung des Fürsten im Bunde ent¬
sprechender gestalten. Von besonderem Gewicht ist auch die Einnahme aus dem
Vermögen der drei Landesklöster. Dasselbe beträgt circa sechs Millionen Thaler
und die davon aufkommenden Erträge nach einer Berechnung von Pogge-
Pölitz jährlich circa eine viertel Million. Diese Einkünfte hat der sogenannte
eingeborene und recipirte Adel, welcher sich an die Ritterschaft anlehnt und in
den Vorständen derselben zugleich seine eigene Organisation besitzt, fast aus¬
schließlich für seine unverheiratheten Töchter in Beschlag genommen. Nebenbei
werfen diese Stiftungen, welche bei der Säkularisation der Kirchen- und
Klostergüter im Reformationszeitalter den Ständen für Unterrichtszwecke über¬
wiesen wurden, auch für einzelne Mitglieder der adeligen Ritterschaft, die als
Klosterhauptleute, Provisoren, Deputirte die Klosterangelegenheiten leiten, nicht
unbeträchtliche Einnahmen ab, an denen auch die Mitglieder der Landschaft
einigen Theil haben. Ferner giebt es eine Menge von sonstigen ständischen
Aemtern, welche der Adel in Besitz hat. Die Mitglieder des engeren Aus-
schusses von Ritter- und Landschaft, des Landtagsdirectoriums, der ständischen
Deputationen u. s. w. beziehen stattliche Einkünfte in Form von Gehalten,
Diäten, Reisegeldern, Besoldungen für verschiedene mit ihrem Amt verbundene
Nebengeschäfte. Das Aufhören der Gerichts- und Polizeiherrlichkeit, die Gleich¬
stellung in Bezug auf die militärische Dienstpflicht und manches Andere bildet
eine weitere, bei den bisher Privilegien sehr unbeliebte Seite des Rechts¬
staates. Auch die Bürgermeister sind Gegner einer Aenderung der Landesver¬
fassung, welche sie aus ihrer hochgebietenden Stellung in der Gemeinde heraus-
zusetzen droht und ihre Einkünfte mit ihren Leistungen in das richtige Verhältniß
zu bringen verspricht.
Aus dieser Sachlage erklärt sich der Widerwille Alt-Mecklenburgs gegen den
Bundesstaat. Dieser Widerwille leuchtet aus allen bisherigen öffentlichen Acten
hervor, welche auf das zu begründende Bundesverhältniß Bezug Habens Die
Regierung hat kein Hehl daraus gemacht, daß sie nur gezwungen und nur zur Ver-
meidung noch schlimmerer Ungelegenheit auf dem von Preußen vorgezeichneten
Wege gefolgt ist. Die Stände sind von dem gleichen Gesichtspunkt ausgegangen
und haben alles gethan, was an ihnen lag, um das von Preußen begonnene
Wer? für Alt-Mecklenburg so unschädlich als möglich zu machen, und um für
spätere günstigere Zeiten die Rückkehr zu den bestehenden Verhältnissen offen zu
erhalten. Unsere frühere Darstellung der Verhandlungen des außerordentlichen
Landtags läßt darüber keinen Zweifel. —
Seitdem ist nun das Wahlgesetz für das Parlament verkündigt worden,
ganz in jener, über wesentliche Bestimmungen des Neichswcihlgesetzes. welches
vertragsmäßig die Grundlage bilden sollte, mit wohlerwogener Absicht sich hin¬
wegsetzenden Gestalt, wie die Negierung es den Ständen vorgelegt und diese
es genehmigt hatten. Ohne solche Ausbiegung vor den unbequemen Paragra¬
phen wäre ja Moritz Wiggers. der Präsident der mecklenburgischen Abgeordneten¬
kammer von 1848 und 1830, der Mann, welchen der Feudalismus am meisten
haßt und fürchtet und vor welchem er doch das Auge nicht aufzuschlagen wagt
aus Scham über die gebrochene Treue, dieser Moritz Wiggers wäre ja sonst
als mecklenburgischer Abgeordneter auf den Reichstag gezogen und als Ankläger
des Wortbruchs und der Mißregierung aufgetreten, unter welcher sein Heimaths-
land seit sechzehn Jahren leidet. Das sollte um jeden Preis vermieden werden
und nichts könnte daher den mecklenburgischen Feudalismus empfindlicher treffen,
als wenn ein auswärtiger Wahlkreis ihn um die Früchte der hierauf gerichteten
Anstrengungen brächte. In der mit dem Wahlgesetz publicirten Ausführungs¬
verordnung hat die Regierung aber ihre früheren Leistungen auf demselben Ge¬
biet fast noch überboten und ihrem feudalen Widerwillen gegen den Bundes¬
staat einen an Hohn streifenden Ausdruck gegeben. Die Wahlkreise sind keine
Kreise im bisher geläufigen Sinne des Wortes, sondern Classificirungen der
Wähler nach den Bevölkcrungskasten des feudalen Mecklenburg. Wie dieses in
Domanium, Ritterschaft und Städte zerfällt, so soll dasselbe Eintheilungsprincip
auch für die Wahlen gelten. Jeder dieser drei Theile soll zwei Wahlkreise
bilden und jeder Wahlkreis einen Abgeordneten wählen. Nur weil ein Ueber-
schuß der Domanialbevöikerung gegen die ritterschaftliche vorlag, welcher aus-
geglichen werden mußte, hat man sich genöthigt gesehen, den einen der beiden
ritterschaftlichen Wahlkreise mit jenem Überschuß aus der Domanialbevölkerung
zu verbinden. Jede Ortschaft bildet einen Wahlbezirk und jede Ortsobrigkeit
leitet an ihrem Orte die Wahlen. Das Recht, Wahlvereine zu bilden, ist nicht
gewahrt. Der Minister wird es voraussichtlich nur den ihn darum angehenden
Particularisten als besondere Vergünstigung gewähren, nimmermehr aber der
nationalen Partei. Das Recht zu öffentlichen Wahlversammlungen wird gleich¬
falls den Wahlberechtigten vorenthalten. Statt dessen wird nur den Orts¬
obrigkeiten die Befugniß ertheilt, für einen kurzen Zeitraum, von der Aus¬
schreibung des Wahltermins bis zur Vollziehung der Wahlen, auf geschehenen
Antrag dergleichen Versammlungen zu gestatten, eine Befugniß, welche in ge¬
wöhnlichen Zeiten ausschließlich der Minister des Innern hat. Die Liberalität
der Regierung rücksichtlich der Gewährung öffentlicher Wahlversammlungen be¬
steht also darin, daß sie für einige Wochen deren Gestattung gestattet.
In welcher Weise die Ortsobrigkeiten dieses Recht üben werden, bedarf kaum
einer Andeutung. In ihren Händen liegt es, die Petenten abschlägig zu be¬
scheiden, ihnen Bedingungen zu stellen, sie mit der Antwort bis zu einem Zeit¬
punkt hinzuhalten, wo es zu spät ist, die Einladung zu erlassen. Dazu kommt,
daß die Ausführungsverordnung die Sonn- und Festtage als Versammlungs¬
tage ausscheidet, wodurch den Arbeitern die Theilnahme an Wahlversammlungen
aufs äußerste erschwert und auf den ritterschaftlichen Gütern ohne Zustimmung
der Gutsherrschaft, da sie an Werktagen ihre Arbeit nicht versäumen dürfen,
überhaupt unmöglich gemacht wird. Endlich W auch noch durch die Bestim¬
mung, daß die Versammlungen der Wahlberechtigten mit sonstigen, der bevor¬
stehenden Wahl fremden politischen Zwecken sich nicht beschäftigen sollen, widrigen-
falls sie als unerlaubte Versammlungen gelten und gegen die Theilnehmer nach
den bestehenden Gesetzen eingeschritten wird, für einen Fallstrick gesorgt, mit
dessen Hilfe jede Versammlung gesprengt und jede Aeußerung in derselben mit
Strafe belegt werden kann.
Nach dem Allen ist kein Zweifel darüber möglich, wie Regierung und
Stände über das Unternehmen denken, an welchem mitzuwirken sie sich haben
entschließen müssen. Auch das Verhalten des Großherzogs Friedrich Franz bietet
kein Merkmal dar, daß er für seine Person den preußischen Absichten näher
stände als seine Minister. Wenn er an dem Feldzuge Preußens gegen die süd¬
deutschen Staaten sich activ, als Führer eines preußischen Armeecorps, betheiligt
hat, so lag der Beweggrund nicht in Begeisterung für die preußische Politik.
Vielfache Zeichen lassen darüber keine Ungewißheit bestehen, daß er in diese
Politik keineswegs mit Freudigkeit eingegangen ist, und daß der Begriff des
Müssens bei seinen Entschließungen sehr stark mitgewirkt hat. Die Uebernahme
eines preußischen Commandos Seitens des Großherzogs Friedrich Franz bezeugt
nichts weiter als seinen sehr ausgeprägten Sinn für praktische Strategie und
kriegerische Ehren, welcher freilich infolge der Ungunst der Verhältnisse in dem
ihm und seinem Armeecorps zugefallenen Antheil an den Thaten dieses Som¬
mers nur eine mäßige Befriedigung gefunden haben kann.
Ihre weitere Stütze findet die particularistische Richtung der Regierung
und der Stände in dem Beamtenthum, in der Geistlichkeit und dem zünftlerisch
gesinnten Theile des Handwerkerstandes. Die Beamten und die Geistlichen aus
der Schule Kliesoths haben überhaupt eine Abneigung gegen den Rechtsstaat
und besonders die letzteren laboriren an einem überaus großen Mangel an
Klarheit über politische Dinge. Den Zünftlern aber kommt es auf die Politik
nur so weit an, als sich dieselbe um die Erhaltung ihrer Zunftordnung dreht.
Mehr als daß er sie hierbei schütze, verlangen sie vom Staate nicht.
Diesen verschiedenen Classen von Particularisten steht diejenige Partei
gegenüber, welche die Einheit und Freiheit Deutschlands will und in dem
norddeutschen Bunde den Anfang einer Verwirklichung derselben erkennt, welche
auch dem politischen und wirthschaftlichen Elend Mecklenburgs das ersehnte
Ende bereiten wird. Zwar fehlt es auch unter den mecklenburgischen Liberalen
nicht an einzelnen Elementen, welche zu dem norddeutschen Bunde kein Ver¬
trauen haben und von der Preußischen Initiative und Hegemonie sich für
Deutschland nichts Gutes versprechen. Indessen bilden diese, vereinzelt wie sie
ohnehin sind, kaum eine entgegenwirkende Kraft; in der Bekämpfung des feu¬
dalen Particularismus mit den Anhängern des Bundesstaats unter preußischer
Führung einig, begnügen sie sich mit der Rolle neutraler Zuschauer oder mür¬
rischer Unglückspropheten.
Die bundesstaatliche Partei hat ihre Hauptstärke in den Städten und ihren
Centralpunkt in Rostock. Außer einer großen Anzahl von Bürgern aller Stände
zählt sie zu ihren Genossen einzelne bürgerliche Mitglieder der Ritterschaft und,
so weit in diesen Kreisen überhaupt unter dem vieljährigen Drucke noch ein
Sinn für öffentliche Angelegenheiten sich erhalten hat, die Hauptmasse der
mittleren und niederen Landbevölkerung, Erbpächter, Bauern, Büdner, Tage¬
löhner u. s. w. Es ist freilich nicht zu läugnen, daß das Verständniß für die
Aufgabe und das Ziel, eben infolge des über unserem politischen Leben seit
langer Zeit lastenden polizeilichen Druckes und der mangelnden Gelegenheit zur
Belehrung, in einem nicht unbedeutenden Theile der Bevölkerung noch wenig
vorgeschritten, in einem andern erst zu wecken ist. Dazu kommt, daß es in der
ganzen Landbevölkerung außer den Rittergütern keinen freien Grundbesitz giebt
und daß die Lage des Bauern und des Tagelöhners eine in hohem Grade ab¬
hängige ist. Auf den Rittergütern hat der Gutsherr, im Domanium der gro߬
herzogliche Beamte eine weitreichende Macht, mit welcher keiner, dem dieselbe
Schaden zufügen kann, gern in Conflict geräth. Diese Abhängigkeit ist selbst
in den Städten, namentlich in den kleineren zu finden. Kaufleute und Gewerb-
treibende glauben die Gunst der benachbarten Landschaft nicht entbehren zu
können, und allerdings vermögen die Besitzer der umliegenden Güter durch
Entziehung der Kundschaft denselben vielen Schaden zuzufügen, ja es fehlt nicht
an Beispielen in der neueren Geschichte Mecklenburgs, daß die Nachbarschaft
förmliche Bündnisse abgeschlossen hat, um eine Stadt für die freisinnige Haltung
ihrer Bürger durch Abschneidung des Verkehrs zu strafen.
Wer alle Schwierigkeiten erwägt, welche in den Verhältnissen wie in den
Personen der Heilung Mecklenburgs von seinen kranken Zuständen sich entgegen¬
stellen, der wird den Wunsch begreiflich finden, welchen man in der Zeit der
Krisis dieses Jahres nicht selten hören konnte: möchten doch auch die Lenker
unserer Geschicke sich gegen Preußen recht rennend erweisen! Der fromme
Wunsch wiederholte sich noch zur Zeit des außerordentlichen Landtags, als die
Entscheidung Mecklenburgs für oder gegen den Bündnißvertrcig in den Händen
der mecklenburgischen Ritterschaft lag. Der hier vorschwebende Weg der Ge¬
nesung hatte allerdings den Vorzug, rascher und gründlicher zum Ziele zu sühren.
Aber bei nicht erfüllten Wünschen lohnt es nicht zu verweilen.
Die liberal-nationale Partei in Mecklenburg wird vor dem Kampf mit den
entgegenstehenden Schwierigkeiten nicht zurückschrecken und zunächst alles thun,
was möglich ist, um die Wahlen der sechs Mecklenburg-schwerinschen und des
strelitzschen Abgeordneten zum Reichstage des norddeutschen Bundes zu einem
guten Ziele zu führen. Nachdem schon im Juli d. I. ein Anfang zur Samm¬
lung der Kräfte gemacht war, ist eine festere Einigung für die bevorstehenden
Wahlen durch eine Versammlung angebahnt worden, welche am 1. December in
Rostock abgehalten und von mehr als hundert Männern aus allen Theilen des
Landes besucht war. Man einigte sich hier über ein den preußischen Inten¬
tionen zustimmendes und sie nach der Seite der freiheitlichen Entwicke¬
lung ergänzendes Programm, sowie über eine Anzahl von Candidaten für
die Parlamentswahlen, welche unter der Voraussetzung ihrer Zustimmung
zum Programm zur Auswahl vorgeschlagen wurden. Weitere Schritte, so
weit sie innerhalb der eng gezogenen Grenzen der Gesetze möglich sind, werden
folgen.
Inzwischen hat nun auch die Regierungspartei eine Wahlagitation vor¬
bereitet. Sie schickt sich auch ihrerseits zur Aufstellung einer Kandidatenliste
an, bei welcher, wie das ministerielle Blatt verkündigt, das Hauptaugenmerk
darauf gerichtet werden soll, daß eine Billigung der Vorschläge von Seiten des
'Großherzogs gehofft werden könne, indem von fast allen treuen Mecklenburgern
die Nothwendigkeit empfunden werde, in „Angelegenheiten der deutschen Politik
der Führung unsers verehrten und geliebten Großherzogs vertrauensvoll zu
folgen". Noch einfacher wäre dieses Ziel wohl durch großherzogliche Ernennung
der Abgeordneten zu erreichen, wenn nicht unglücklicherweise das Gesetz die
Wahl vorschriebe.
Mag nun in den nächsten Wahlen die Partei siegen, welche über alle
äußeren Mittel verfügt, oder diejenige, welche nur in ihrer sittlichen Macht eine
Stütze hat: dem künftigen Parlamente bleibt das Recht der Wahlprüfungen.
Wie sich die Resultate in zweiter Instanz auch gestalten, warten haben wir
gelernt, und daß dem in Preußens Hand ruhenden nationalen Werke der Sieg
zufalle und seine Früchte auch für Mecklenburg nicht verloren gehen, bleibt allen
etwaigen einzelnen Enttäuschungen zum Trotz unsere unerschütterliche Zuversicht.
Der große Krieg dieses Jahres liegt abgeschlossen hinter uns. Die nächsten
Resultate, welche er für das Vaterland gebracht hat, lassen sich übersehen. Was
wir durch ihn gewonnen und was verloren, können wir gegen einander abwägen.
In allen öffentlichen Verhältnissen ist wohl wenig, woraus er nicht erkennbar,
vorübergehend oder dauernd und tief umgestaltend eingewirkt hätte. Wie er
in die Privatverhältnisse eingegriffen, wie viel an Wohl und Weh wir Deutschen
durch ihn empfangen, wissen die Einzelnen, deren keiner von seiner Macht un¬
berührt geblieben ist im Vaterlande, zu sagen und zu würdigen.
Zunächst drohte auch dieser Krieg aller friedlichen Thätigkeit, aller Arbeit des
Schaffens und Erwerbens Verderben und Untergang. Er entzieht ihr die
Hände und gleichzeitig den Markt. Kein Wunder, wenn die Angst vor dem
unvermeidlich hereindrohenden Unheil auch ohne die Mitwirkung der politischen
Ueberzeugung und des „deutschen" Vaterlandsgesühls in den Vertretern und
Angehörigen der vorzugsweis erwerbenden Bürgcrclassen jenen Fanatismus des
Friedens erzeugte, dessen Leistungen wir im Frühling dieses Jahres zu be¬
wundern so reiche Gelegenheit fanden. Dieser Fanatismus ist ein Bruder des
passiven Widerstandes: er setzt sich für seine Sache aufs äußerste zur Wehr,
aber immer „innerhalb der gesetzlichen Schranken". Und bleiben seine An¬
strengungen erfolglos, so schwindet seine Kraft und Hitze schnell genug. Man
arrangirt sich mit dem nicht zu Aendernden, so gut es eben gehen will, schickt
sich in die Zeit, hält die Wuth des Wetters aus und wenn man es überhaupt
übersteht, so sieht man zu, ob sich nicht auch dem gefürchteten, nun wirklich
gewordnen Zustand der Dinge eine brauchbare Seite, eine Möglichkeit der fried¬
lichen Ausnutzung seiner abgewinnen lasse, ob er nicht grade den Boden um¬
wühlend bereitet habe für eine künftige Ernte von Friedensfrüchten, doppelt so
reich, wie die sonst auf ihm gesammelten.
Am schlimmsten und verhängnißvollsten scheint der Ausbruch jedes Krieges
den schönen Künsten und unter diesen wieder den bildenden zu werden. Zwar
vom Verlust, oder der zeitweiligen Entziehung der in ihnen thätigen „Arme"
wird sie weit weniger betroffen als Gewerbe, Handel und Ackerbau, selbst im
Lande der allgemeinen Wehrpflicht. In der Kunst sind es immer nur die
Wenigen und ist es nicht die Masse, welche das Bedeutende ins Leben ruft;
und die Wenigsten dieser Wenigen — so war es diesmal in Preußen — auf
welchen die Würde unserer Kunst ruht, Pflegen eine solche Stellung bereits in
einem Alter erreicht zu haben, welches ihnen die kriegerische Dienstpflicht unab-
weislich macht. Abe? der Lärm der großen und blutigen Ereignisse zerstört
gründlich die Ruhe und Sammlung des schaffenden Künstlergeistes, das Inter¬
esse des Beschauers an dem, was er bieten kann, und am gründlichsten das
Verlangen und Streben nach dem Besitz des von ihm Erzeugten. Der Verkauf
von Gemälden und Sculpturen hört vor dem Grollen des ersten Schusses schon
auf. Sie erscheinen sofort als diejenigen unter den sonst gewohnten Lebens¬
annehmlichkeiten, auf welche auch der Reichste am leichtesten und schmerzlosesten
verzichtet. Der Staat geht den privaten Liebhabern darin mit gutem Beispiel
voran: öffentliche Aufträge werden rückgängig gemacht, oder ist das nicht mehr
möglich, sisiirt; anch er hat dann all seine Mittel und sein Interesse auf andre
ernste und reale Dinge zu concentriren. An die Kunst und die Künstler tritt
immer mehr die bedenkliche Frage: Was nun? ,
Die Antwort dürste nicht grade trostreich gelautet haben, wenn der so über¬
raschend und überwältigend schnelle Gang der Dinge diesmal nicht jene Frage
so schnell wieder abgeschnitten hätte, nachdem sie kaum aufgestiegen war. Nur
ein kurzes Bangen hatten die Künstler zu überdauern. Wenige Monate genügten,
und die Welt ist zu ihren alten friedlichen Beschäftigungen und Neigungen
zurückgekehrt. Aber ohne Spur konnte das, was jene Monate erfüllte, das ge¬
waltige geschichtliche Drama, das sich im Vaterlande mit dieser wirbelnden
Schnelligkeit abrollte, auch auf die bildende Kunst nicht bleiben. Auch sie hat
sich zum Kriege in ein gewisses Verhältniß setzen müssen; er, der ihr Verderben
drohte, ist vielfach belebend für sie geworden; und die neuen Segnungen, welche
in ihm für das Vaterland errungen sind, werden auch für sie nicht verloren sein.
Mehr als drei Jahrzehnte waren seit den Freiheitskriegen dahingegangen,
während welcher das wirkliche geschichtliche Leben Deutschlands seinen Malern
zu einem Werk ihrer Kunst „auch nicht den mindesten Stoff", nicht die geringste
Anregung gab. Sie mußten von der Vergangenheit zehren, was die Gegen¬
stände anbetrifft, wenn ihre Neigung und Absicht auf diese Darstellungskreise
gerichtet war; und für die Form sahen sie sich in Ermangelung der selbst zu
beobachtenden Wirklichkeit auf das Beispiel ihrer aus der Gegenwart heraus
malenden französischen Genossen gewiesen, wo es sich um Bilder der realen
Erscheinung solcher Vorgänge und nicht um willkürliche Phantasiegebilde der¬
selben handelte. Die Ereignisse des Jahres 1848, speciell des damaligen schleswig¬
holsteinischen Krieges änderten zum ersten Mal einigermaßen diese Lage der
Dinge. Unsere bildende Kunst aber stand ihnen damals noch zu unbeholfen
gegenüber, sie hat nichts Rechtes daraus zu machen gewußt. Zu bedeutenderen
künstlerischen Leistungen begeisterte sich nur des jugendlichen Georg Bleibtreu
Talent an jenen fruchtlosen Kämpfen um die deutschen Nordmarken. Die revo¬
lutionären Ereignisse und Thaten in Jnnerdeutschland aber wurden zu schnell
zu sehr unliebsamen Erinnerungen. Kein Maler mochte sich viel mit ihrer
Belebung im Bilde zu thun machen: nicht einer der anfangs entstandnen Ent¬
würfe zu Ncvolutionsgemälden, so wenig als zu Revolutionsdenkmalen, ist je
zur wirklichen Ausführung gekommen.
Erst sechszehn Jahre später sollte es der zeitgeschichtlichen, specieller der
kriegerischen Malerei in Deutschland besser werden. Der neue Krieg um
Schleswig-Holstein, der die ganze Nation im Tiefsten erregte, führte jener die
so lange mangelnden echt volkstümlichen Gegenstände zu und bot zum ersten
Mal den Künstlern volle Gelegenheit, derartige Ereignisse vor der Wirklichkeit
selbst zu studiren. Ich habe damals in diesen Blättern erzählt, wie sich zunächst
die Illustration der Vortheile zu bemächtigen bestrebt war, welche so günstige
Umstände der zeichnenden Kunst boten. Diese leichte künstlerische Truppe be¬
reitete nur die Wege für die schwerer bewegliche große Malerei. Aber auch sie
sollte keineswegs leer ausgehen. Die neuen kriegerischen Thaten und Siege der
preußischen Heeresmacht hatten den königlichen Gebieter derselben — dessen
Sinnesart von der zärtlichen Neigung für die bildende Kunst sehr weit entfernt
ist, welche seinen verewigten Bruder beseelte — mit einer stolzen Freude erfüllt,
die sich nicht genug thun konnte in ehrenvollen Dankesbezeigungen gegen seine
Truppen, in der Anerkennung und Verherrlichung ihrer Leistungen. Die zahl¬
reichen neuen Ordens-, Kreuz-, Medaillenstiftungen waren der nächste Ausdruck
dafür; die Aufträge zu Bildern der vollbrachten Thaten und zu großartigen
Plastischen Monumenten für diese und ihre Helden entsprangen derselben Em¬
pfindung. Alle unsere kriegerischen Geschichtsmaler wurden zur Bewerbung um
die Ausführung jener malerischen Aufgaben aufgerufen, alle hervorragenderen
Bildhauer brüteten über Projekten zu Düppel- und Alsendenkmalen. Den Archi¬
tekten machte man es am bequemsten: man taufte bereits fertige Schöpfungen
ihrer Kunst, welche weder innerlich noch formal eine Beziehung zu den Ereig¬
nissen hatten, Brücken, Quais ze., mit den beiden schwer wiegenden Namen.
Aber die Kunst ist lang und die Geschichte geht schnell. Nur die ersten Sturm¬
und Kampfbilder kleineren Maßstabs von Camphausen, Hunden, Kretschmer :e.
waren erschienen. Der erstgenannte und Vleibtreu hatten nur eben erst die
für die Nationalgalerie auszuführenden, ihnen als Siegern in der Preis¬
bewerbung zuertheilten untermalt; der Grundstein des kolossalen Düppeldenk-
mals in Berlin war nur erst gelegt und über F. Drakes Entwurf zu demselben
noch keine Einigung erzielt, — als bereits jene Ereignisse über Deutschland
hereinbrachen, welche die des Jahres 1864 völlig in Schatten stellend, der poli¬
tischen Weiterentwickelung und der historischen Kunst neue und großartigere Per-
spectiven eröffnen sollten. Während die Herzen der friedlichen Künstler von
Zagen und Bangen ergriffen wurden, begann für die kriegsbereiten eine Zeit
des kühnen freudigen Hoffens. Nun endlich schienen die großen Geschicke sich
entscheiden und erfüllen, gewaltige geschichtliche Thaten sich vollziehen, der
Kampf „um der Menschheit große Gegenstände" durchgefochten werden zu sollen
und vor den Augen der Künstler selbst! Denn es zeigte sich bald genug, daß
jene altgebräuchliche zugeknöpfte und abweisende Manier, welche sonst preußi¬
schen Militärbehörden gegen jeden Civilmenschen charakteristisch war, welche den
Zeichnern so gut wie den Zeitungscorrespondenten jede Vergünstigung, ja selbst
Duldung versagt hatte, diesmal abgethan sein sollte, wie so manches alte Uebel.
Berichterstatter und Specialartisten attachirten sich ungehindert den Hauptquar¬
tieren der verschiedenen großen preußischen Armeen; einige auf diesem Felde
ruhmvoll bewährte Maler wurden sogar direct vom Prinzen Friedrich Karl,
vom Kronprinzen und von General Vogel v. Falkenstein eingeladen, sich ihren
Heeren anzuschließen, um deren Thaten als Zeugen derselben unmittelbar in der
eigenen Anschauung und Beobachtung der Wirklichkeit behufs späterer künst¬
lerischer Darstellung zu studiren. Man kann sich denken, mit wie freudiger
Bereitwilligkeit die Betreffenden einer derartigen Einladung Folge leisteten.
Camphausen ging ins Lager des Kronprinzen, später folgte ihm Professor Otto
Heyden; Bleibtreu und Ludwig Burger zum Hauptquartier der ersten Armee,
letzterer, nach der Entscheidung in Böhmen, noch nachträglich zur Mainarmee.
Kaiser durfte sich dem königlichen Hauptquartier anschließen. Die verschiedenen
illustrirten Zeitungen schickten Zeichner zu allen kämpfenden Parteien; denn der
deutsche Verleger hatte seine Abonnenten bei Wels wie bei Waldungen und für
beide mußte gesorgt werden. Der vortreffliche, in Italien wie in Schleswig
erprobte Beck ging für die Webersche Jllustrirte Leipziger Zeitung ins östreichisch¬
sächsische Lager. Fickentscher war für Hallbergers „Ueber Land und Meer" so
vielseitig thätig, daß man glauben könnte, er sei einfach in Stuttgart oder
Düsseldorf geblieben. Als Landwehrmänner einberufen zogen von letzterem Ort
und seiner Künstlerschaft die bekannten Schlachtenmaler Hunden, Sell, Nilo«
towski, von Berlin Lüders mit zu Felde, Auf eigene Faust und Gefahr suchten
A.v.Heyden, Günther, Jenny, F. Schulz und wohl noch manche andere den Heeren
zu folgen. — So vielwirkliche Anschauung solcher Ereignisse und Vorgänge den
Malern nutzen kaun, so wenig vermag der Bildhauer davon zu Prositiren. Die¬
jenigen von dieser Genossenschaft, welche desselben Wegs gezogen sind, thaten
es daher keineswegs freiwillig von künstlerischen Antrieben dazu bestimmt, son¬
dern dem ehrenvollen Zwange der Landwehrpflicht folgend. Auch ihrer waren,
wie der Maler in gleicher Lage nur wenige. Grade eine der größten und
originellsten Kräfte in der modernen Sculptur mußte sich wunderlicherweise unter
diesen Wenigen befinden: Reinhold Begas. Es schien an entscheidender höch¬
ster Stelle indeß bald genug der gerechte Zweifel darüber aufzutauchen, ob
es wirklich ganz billig wäre, ein in dieser Zeit und in unserm Volk so hervor¬
ragendes Talent die Schuld ans Vaterland nur mit den sechs Fuß Länge
seines Trägers zahlen zu lassen. Genug, nachdem er acht Tage in Magdeburg
Rekruten einzukleiden gehabt hatte, entließ man ihn zu seiner Werkstatt und
den Marmorblöcken, aus welchen er Berlins Schillermonument herauszumeißeln
hat. Zwei andere junge und noch unbekannte Bildhauer, Dahn und Genutat,
haben dagegen bei Königsgrätz Blut und Leben dargebracht. Ein vierter Bild--
Häuser A. Gnu war künstlerisch in der Herstellung der Todtenmasken hervor¬
ragender Gefallener thätig.
Nun gingen aber bekanntlich die Ereignisse mit so gewaltiger Schnelle,
nahmen so riesige Dimensionen an, dehnten sich über ein so weites Feld von
der Elbe bis zum Rhein aus, traten gleichzeitig in solcher Massenhaftigkeit auf,
daß die armen Künstler in Gefahr geriethen, in dem <zmda,i-rag 6s riclrWses
um das Ziel ihrer Erwartungen zu kommen. Die Erzählungen Burgers und
Bleibtreus geben ein sehr ergötzliches Bild davon, wie ihnen bei dieser erdrückenden
Fülle des Sehens-, Lernens-, Bewahrens- und Zeichnenswerthesten zu Muthe
war, welche sich vor ihren Augen in der Zeit von wenigen Wochen zusammen¬
drängte, trotzdem diese Augen doch nur immer einen sehr geringen Ausschnitt
aus dem eingehenden Kriegsgebict beherrschten und auch dieser ihnen noch
während der eigentlichen Gefechte vom Pulverdampf und vom täglich strömenden
Regen großentheils verhüllt oder beschränkt wurde. Ein solcher Kriegszug
stellt die Nerven, die Ertragungsfähigkeit und Kaltblütigkeit auch der Künstler auf
harte Proben. Camphausen, trotz seiner Uebung darin, bekennt, daß er sie nicht
bestanden habe, daß sein preußisches und auch sein menschliches Herz nicht die
Fähigkeit fand, von der furchtbaren Aufregung des Antheils an den Thaten
und den entsetzlichen Leiden derer, die er begleitete, sich soweit frei zu halte»,
um in dem, was um ihn vorging, einzig den Gegenstand seines künstlerischen
Studiums zu sehn und in dem ungeheuren Tumult und Jammer unbeirrt nur
auf sein eignes Ziel gerichtet zu bleiben. Er fühlte sich außer Stande zu zeichnen,
und verlieh Böhmen nach den ersten Gefechten. Die anderen hielten länger
aus, bis Pardubitz und Prag, unter Entbehrungen und Fährlichkeiten oft genug
tragikomischer, oft auch ganz ernstlicher Art. Bei Königsgrätz wurden sie von
einer durch einschlagende Granaten erschreckten Traincolonne in den Wirbel ihrer
kurzen Flucht mit hineingerissen, und die Bistritz verschlang bei dieser Gelegenheit
Bleibtreus Skizzenbuch mit allen bisher nach Todten und Lebenden gezeichneten
Studien. Aber sie hatten doch den Krieg gesehen, wie seine Leidenschaft und
Gewalt die Lebendigen bewegt und hinreißt und die Gefallenen auf blutgetränkter
Erde hinbettet, halten die tausendfach wechselnden Scenen der Märsche, der
Lager, des stürmenden Angriffs, der ausdauernden Vertheidigung, der Verband¬
plätze, der Gefangenentransporte, in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit, hatten
den todesfreudigen Mannesmuth, den Schmerz der Wunden und des Sterbens,
die Begeisterung, den trunkenen Jubel des Sieges, und dazu jene Höhen, Wälder,
Schluchten, Dörfer, jene Schauplätze der gewaltigsten Thaten und Entscheidungen
mit eigenen Augen gesehn, und somit Eindrücke in sich aufgenommen, welche
sich der Phantasie wohl tief und unverlöschlich einprägen müssen, auch wo ihr
nicht das sichtbare äußerlich fixirte Erinnerungszeichen zu Hilfe kommt. Aber
L. Burger hat dafür gesorgt, daß es auch an diesem nicht fehle. Er ist für die
Aufgabe, welche ihm hier zufiel, berufen und auserwählt wie kaum ein zweiter
unter den Lebenden. Der unbedingten Sicherheit des Auges und der zeich¬
nenden Hand kommt bei ihm die kaltblütige Ruhe gleich, welche ihn unter den
unbequemste» wie unter den grauenvollsten, ja persönlich gefährlichsten Umständen
nicht verläßt. Jene Sicherheit der Zeichnung ist bei ihm nicht blos Folge eines
freilich außerordentlichen Talents, sondern ebenso der großen Uebung und der
Menge des positiven ganz genauen Wissens von der Natur und besonders von
allem militärischen Wesen. Ich zweifle selbst, ob Menzel das moderne preußische
Heer so völlig künstlerisch „ auswendig " weiß, wie Burger. Er mag seine
Soldatengestalten, Pferde, Gcschützwagen ze. noch so frei und lebendig bewegen
— nie wird ihm der strengste militärische Kamaschcnpcdaiit einen falsch sitzenden
Knopf, Litze, Schnalle, Riemen, ein unverstandenes oder falsches Gewehrschloß,
Porte6p6, ja selbst — Ordenszeichen auch im kleinsten Bildchen nachzuweisen
vermögen. Für eine genaue künstlerische Chronik der Thaten eines Heeres ist
eine so gründliche absolute Kenntniß seiner Erscheinung immer wichtig. Die¬
selbe, ich möchte sagen, photographische Präcision ist Burgers Tcrrainzeichnungen,
den größeren Totalansichten wie den Detailbildern bestimmter Oertlichkeiten
eigen. Die flüchtigst im drängenden Moment hingeworfene Skizze zeichnet bei
ihm dergleichen Dinge doch immer ganz genau, klar, zuverlässig, überzeugend
und, das Seltsamste, immer elegant und sauber. Diese unverlierbaren Eigen¬
schaften seiner Zeichnung überraschen in seinen Studien vom Kriege doppelt,
wenn man sich in die äußerlichen Bedingungen hineinversetzt, unter denen sie
entstanden, in die während der Arbeit auf des Künstlers Gefühl und Sinne
(den Geruch nicht ausgenommen!) einwirkenden Eindrücke. Und nicht minder
überraschend, kaum begreiflich ist das von ihm Geleistete durch seine Menge.
Nachdem er den Siegeszug der Preußen bis südlich von Pardubitz begleitet,
folgte er Falkensteins Einladung zur Mainarmee, zeichnete dort wieder die wich¬
tigsten Punkte, Schlachtfelder. Ortschaften, bereiste dann nachträglich die ganze
Straße, auf welcher die Armee des Kronprinzen bis Königsgrätz vorgedrungen
war. und machte schließlich noch eine Excursion nach dem großen Gefangenenlager
bei Cöslin, wo einige Tage der Anwesenheit für ihn hinreichten, die unabseh¬
bare Folge seiner Studienblätter aus dem Kriege noch um ein paar Dutzend
der meisterhaftesten Aquarellen, vollendeter Charakterbilder der Haupttypen des
östreichischen Heeres zu bereichern.
Die nächste Verwerthung dieser Arbeiten wird Burger in dem großen Werk
über den böhmischen Feldzug, mit dessen Text Fontane von officieller Seite her
beauftragt ist, geboten sein. Einiges, aber verhältnißmäßig nur wenig, hat
er inzwischen schon für verschiedene illustrirte Blätter zu Darstellungen ver¬
arbeitet.
In diesen hatte das nach einer Anschauung jener Vorgänge leidenschaftlich
begierige Publikum während der Kriegswochen und unmittelbar nach denselben
die ersten Bilder der Gefechte zu suchen, deren täglich vom Telegraphen ver¬
breitete kurze Schilderung Phantasie und Gemüth der ganzen Bevölkerung aufs
tiefste erregte und in leidenschaftliche Spannung versetzte. Aber wie schnell
Zeichner und Holzschneider auch arbeiten mochten, um jenem natürlichen Ver¬
langen zu genügen — für die Stärke des letztern und die Raschheit der Ent¬
wickelung der Ereignisse war es noch immer zu langsam. In diese Lücke trat
sofort, schlagfertig und lieferungsbereit wie immer, der Bilderbogen von Neu-
Ruppin. Der reine Idealismus, das ewig Typische in dieser merkwürdigen Kunst¬
form befreite ihre Künstler von der ängstlichen und zeitraubenden Sorge um
locale Bestimmtheit der Gegenden, um Wirllichleitsähnlichleit der Kampfschil-
derungen. Mit geringen Veränderungen der dänischen Uniform konnten die
Vertheidiger Düppels auf den noch von 1864 her vorhandnen Lithographie¬
steinen mit den Bildern des schleswigschen Kriegs in Oestreicher, mit etwas
grüner Farbe die Schneefelder in böhmische Wiesen umgewandelt werden. Man
benutzte diese natürlichen Vortheile in großem Maßstab und 5er ruppiner Bilder¬
bogen war somit in den Stand gesetzt, allem Volk zuerst im Bilde zu zeigen,
Wie es seinen Brüdern in Böhmen, Hessen, Nassau und Bayern erging. Wer
diese Schöpfungen in jenen Tagen an unsern Schaufenstern sah und die dichten
Menschengruppen, welche sie begierig umstanden, konnte leicht verzweifeln an
dem künstlerischen und kritischen Bildungsgrad unsers Volks, wenn nicht die
überwältigende Komik dieser Gebilde jedes trübere Gefühl bei ihrem Anblick
bald genug verscheucht hätte.
Die leipziger Jllustrirte hielt wie immer ihren alten ehrenvollen Ruf in
diesen Dingen aufrecht. Die Bilder kamen so schnell wie irgend möglich den
Ereignissen nachgeeilt; ob auch oft genug weit vom Schuß und „aus der Tiefe
des Gemüthes" concipnt, waren die Darstellungen, welche sie gab, doch meist
charakteristisch, den Schilderungen entsprechend, künstlerisch wirksam, in den Lo¬
kalitäten getreu, Menschen und Pferde Menschen und Pferden auch wirklich
ähnlich, die Typen der verschieden Nationalitäten und Armeegenossen, so wie
die Porträts, wohlgctroffen. Daß der begabteste Kriegs- und Feldzeichner, A. Beck,
grade zu den Oestreichern geschickt war, hatte die natürliche Folge, daß man
von den Niederlagen derselben aus den Bildern der Jllustrirten Zeitung wenig
spüren konnte. Sie und ihre Bundesbrüder, die braven Sachsen, spielten in
seinen Zeichnungen so sehr „die erste Geige", hieben die unglücklichen Preußen
fast immer so erbärmlich in die Pfanne, waren künstlerisch so geistreich und
bestechend in Scene gesetzt, daß jedem, welcher die Geschichte des Krieges nur
aus dieser Bilderchronik kennen gelernt hätte, der schließliche vollständige Triumph
Preußens fast als Unbegreiflichkeit erscheinen mußte.
Die schwäbische Concurrentin der leipziger Jllustrirten, Hallbergers „Ueber
Land und Meer", übertraf sich dagegen selbst in kläglichen Holzschnitten, was
viel sagen will bei diesem, darin schon in friedlichen Zeiten unerreichbaren
Blatt. Selten nur blitzte Fikentschers sonstige frische, kecke, charakteristische
Zeichnung durch all die kindische, öde, langweilige und triviale Nichtigkeit dieser
Schlacht- und Lagerbilber hindurch. — Das leipziger „Daheim", das seine
eignen Korrespondenten im Felde hatte, ließ von Bleibtreu eine ganze Reihe
kleinerer Gcfechtsscenen, Hauptactionen und kleinern Episoden des großen Dra¬
mas zeichnen. Sie zeigen sämmtlich dieses begeisterten Künstlers schwungvolle
und kühne Darstellungsmanier solcher Vorwürfe; — was sie vermissen lassen,
ist die individuellere Bestimmtheit des Wesens grade dieser besondern Truppen,
und dieser Terrains und Localitäten. Daß hier ein Augenzeuge zeichnete, macht
der Anblick der Bilder uns nicht eigentlich bewußt.
Die französischen und englischen illustrirten Journale zeigten den preußischen
Thaten gegenüber ein eigenthümlich tendenziöses Verhalten. IIIusti-ateÄ liOväon
5im8 brachte zwar einige ganz vortreffliche Landschaft- und Städteansichten
vom Kriegsschauplatz mit ebenso meisterhaft gezeichneter militärisch-kriegerischer
Staffage, auch ein. paar größere Blätter vom Schlachtfeld von Sadowa, mit
besondrer loyaler Berücksichtigung des kronprinzlichen Gatten „ok elf ?r!neess
roMö". Im Allgemeinen aber behandelte sie das alles nur so oben hin,
stellte es. so gut ose die pariser Illustration es that, gänzlich in den Schatten
gegen die großartigen Heldenkämpfe — der Italiener, der zumal Freiwilligen!
Unerschöpflich waren beide i» den effektvollsten, brillantesten Bildern von deren
kühnen, gefahrvollen Märschen über unwegsame Gebirge, von den verwegnen
Stürmen gegen Felsboden und toddräuende Schanzen, von den Feldwächter,
den Lagern in herrlichster Landschaft, den Flußübergängen, den ciberteuerlichen
Handstreichen, den wilden Scharmützeln, den gewaltigen Feldschlachten. Die
Phantasie dieser Zeichner nahm es mit der j.'tes officiellen östreichischen Tele¬
graphisten Von der Nordarmee auf an Reichthum der Erfindungskraft. Aber
die Bilder waren prächtig, wie es bei dem Geschick der Künstler, der Meister¬
schaft der Holzschneider, den pitoresk'en Trachten und der Größe und Schönheit
des landschaftlichen Charakters von Welschtirol und dem angrenzenden Ober-
italien kein Wunder ist.
Spät noch, nachdem bereits über den Waffenstillstand verhandelt wurde,
entschloß sich Adolph Menzel den Heeren zu folgen und wenigstens die Spuren
zu studire», welche der Krieg in den Gegenden, die er durchzogen, hinterlassen
hatte. Für einen Charaktenstiker dieses Schlages, für einen so gründlichen
Kenner der Wnklichkeit. dessen scharfem Blick keine Erscheinung derselben ent¬
geht, keine unwesentlich oder der künstlerischen Darstellung unwerth ist, war
noch immer genügend ausreichende Beute zu finden. In wenigen Wochen
und mit FälnlichkeiKu aller Art kämpfend, ha! er, was eben noch zu finden
war, auch wirklich gefunden und gezeichnet. Eine durch Menge und Gehalt
gleich erstaunliche Sammlung von Studien hat er als Frucht seiner Expedition,
als unschätzbares Material späterer künstlerischer Verarbeitung zu größern Zwecken
mit heim gebracht. Die von den Ereignissen geweihten Terrains, die zerstampften
Felder, die halbzerstörten Dörfer und Gehöfte, und dazu die Lazarethe mit ihrem
grausigen Inhalt, mit ihren Scenen des Jammers und der erhebenden Menschen¬
liebe waren die Hauptgegenstände für seine Zeichnung; und was er davon sehn
läßt, beweist wieder, wie dieses Meisters Blick in der Wesen Tiefe zu dringen
und den Kern der Erscheinungen zu elfassen versteht.
Professor Otto Heyden fand die Armee des Kronprinzen unmittelbar nach
dem Tage von Königsgrätz und begleitete ihr Hauptquartier bis zum Marchfclde.
In einem, bei dem Künstler von dem hohen Führer selbst bestellten größeren Bilde,
welches dessen Zusammentreffen mit seinem Vetter Friedrich Karl schildern soll,
werden wir demnächst erkennen können, von welchem Einfluß die Anschauung
so großer Dinge auf des Malers Phantasie und Darstellungsvermögen ge¬
wesen sei.
Man kann nicht grade behaupten, daß die daheim gebliebenen bedeuten¬
deren Künstler sich während der Dauer des Kriegs sehr beeifert und beeilt
hätten, des Publikums Schaubegicide durch erträgliche Phantasieschilderungen zu
befriedigen. Sie schienen leider jenen ruppiner Bilderbogen und den illustnrten
Blättern völlig das Feld zu überlassen. Und, nicht zu vergessen, — den Pho-
tographcn. Für diese begann die goldene Zeit des Portraitfabricirens.und
-Verlaufene. Wie die Landschaften und gemüthlichen Genrebilder den Land¬
karten, so machten alle Dichter-, Künstler--, Sänger-, Schauspieler- und Tänzer¬
innen-Bildnisse an den Schaufenstern denen der Prinzen und Generale, der
preußischen und feindlichen. Platz. Die Roon-, Moltke-, Falkenstein-, Voigts-,
Rheetz-, Mulde-, Goben-Köpfe überschwemmten die Welt. Die nachhinkende
Lithographie, welche alle diese Feldherrngesichter durch sinnbildliche, mehr oder
weniger geschmackvolle und passende Arabesken und Umrahmungen zu „Kunst-
dlättern" verband, konnte gegen die im Sturmschritt vorgehende allmächtige
Concurrentin nicht mehr auskommen.
Lag aber eine würdige künstlerische Schilderung, eine dauernde monumentale
Verherrlichung der geschehenen Thaten auch noch fern im Schooß der Zukunft,
so sah sich die frühere bildende Kunst doch bald genug genöthigt, aus der bis¬
herigen Zurückhaltung herauszutreten, als die Aufgabe an sie erging, die
Sieges- und Einzugsfeste zu schmücken, an dem festlich prangenden Gewände
mitzuarbeiten, in welchem die Hauptstadt des neuen Deutschlands die Sieger zu
empfangen sich bereitete. Eine solche Mitwirkung war unter den bildenden
Künsten freilich ausschließlich der Architektur und der Plastik zugewiesen. Die
Malerei hatte nichts oder doch nur sehr wenig dabei und damit zu thun. Es
ist nichl zu läugnen, daß diese ganze Dccvrirung Berlins, so gut wie die Fest¬
lichkeiten in ihrer Gesammtheit, in wirklich großem Stil unternommen und aus¬
geführt war. Die knapp zugemessene Zeit und das nur Gelegentliche, aus
keine lange und bleibende Dauer Berechnete, in dem Ganzen ließ als Material
des zu Schaffenden die leichteren Surrogate mit Recht den gediegeneren Stoffen
vorziehen: Gips, Stuck, Holz und Steifleinen dem Marmor, Erz und Sand¬
stein. Römische Triumphbögen, für Jahrtausende gegründet, passen nicht für
unsere Triumphzüge. Man muß alles nach drei Tagen wieder hinwegräumen
tonnen, und das gewöhnliche Leben und Treiben darf dann durch keine Spur
des Außerordentlichen mehr beirrt werden.
Die ganze „Siegesstraße", in welche die Lindenpromenade verwandelt
wurde, war als Decoration vorzüglich und zweckentsprechend gedacht. Am Ein¬
gang vom pariser Platz her die von Strack errichteten mächtigen Trophäensäulen,
welche auf ihrem Zinnenkranz die Gestalten rauchscher Bictorien trugen, waren
höchst imponirend und von der glücklichsten Composition. Nicht minder die
daraus folgende Zusammenstellung von eroberten Geschützen, reichen Candelabern,
den von Bictorien getragenen Namensschildern der Schlachttage und den Stelen
mit den an ihrer Vorderseite eingelassenen Siegesbüilelins. Die beiden zehn
Fuß hohen Siegesgöttinnen, welche die Einziehende» draußen vor dem branden-
burger Thor empfingen, waren dagegen recht hölzern zusammengeleimt. Karl
Müller, ihr Autor, besitzt nicht das Geheimniß grandioser, erhaben schöner und
monumental wirksamer Gestaltung, wie sie hier — Detaildurchführung war
überflüssig und nicht zu verlangen — am Platze gewesen wäre. Architekten und
Bildhauer hatten sich vereinigt, den Lustgarten festgemäß umzuschaffen, Bau¬
meister Adler hatte den Plan gemacht, welchen er, Gropius, Strack, Bläser und
eine Anzahl meist jüngerer Bildhauer verwirklichten. Die Grundzüge desselben
sind Wohl allgemein bekannt und die Erscheinung dieses ganzen reichen Auf¬
baus noch in frischer Erinnerung. An jener Stelle sollte am zweiten Einzugs¬
tage das feierliche ?s venin, das eigentlich kirchlich-religiöse Dankfest abgehalten
werden. Zum Aufenthalt während desselben hatte Strack für den König und
die königliche Familie, den Pavillon errichtet, dessen Zeltdach von reichornamen-
tirlen vergoldeten Säulen getragen war, ein für die kolossalen Dimensionen des
Platzes und seiner Gebäude, wie sür den Charakter des Festes etwas zu zier¬
lich und niedlich gerathenes Arrangement. Vor ihm nach dem Schloß hin er¬
hob sich der von Gropius entworfene Hochaltar, mit seinem Unterbau, den
Candelabern und den (meist rauchschen) Victoriengestalten auf demselben, viel
stilvoller, großartiger und entsprechender als jener Pavillon. Ueber alles reckte
die ungeheuere Borussia segnend ihre Rechte. Gustav Bläser hatte diesen Ko¬
loß, der mit seiner Basis über fünfzig Fuß Höhe bis zur Spitze des Helens
erreichte, aus Stuck und Steifleinen in einer Zeit von acht Tagen aufzubauen
gehabt. Wie sie dastand, imponirte sie wohl durch die Masse und die Maße,
aber die Verhältnisse der Gestalt in sich, besonders die des Kopfes zum Körper
erschienen eigenthümlich fehlgegriffen und schwachem die Wirkung. Es war
etwas Lahmes in der Stellung. Dürftiges in den Formen des Leibes und der
Draperie. Die Schuld soll nicht direct des Bildhauers gewesen sein. Es
heißt, daß die mit der Ausführung an Ort und Stelle betrauten obscurer Ge¬
hilfen, weil die Leinwand für die Draperie nicht in der Länge ausreichte, von
dem gipsernen Kern der Figur selbst zwei bis drei Fuß herausgenommen und
sie dann in solcher Verkürzung höchst ungenirt auf die Füße gestellt hätten. Da
war es denn freilich kein Wunder, wenn der Kopf nicht zur Gestalt stimmen wollte.
Daß man für eine solche Aufgabe nicht Begas berufen hat, ist ein Verlust
für die ganze Erscheinung dieses Festplatzes. Nur er hat den großen monu-
mental-decorativer Sinn, das starke Gefühl des auch in weite Ferne Wirksamen,
nur er die nöthige Kühnheit, so in Stellungen und Bewegungen herauszugehn
und mächtig und schwungvoll in den Formen auszuladen, wie es hier erforder¬
lich gewesen wäre. — Für diese Borussia bildete die Front des Schlosses den
schönen Hintergrund. Auch sie hatte noch ihren besonderen künstlerischen Fest¬
schmuck erhalten: auf der Balustrade um die Terrasse des Palastes hatten in
bestimmten Zwischenräumen die Statuen der Vorfahren unseres Königshauses
Aufstellung erhalten. Als eilige Gelegcnheitswerke aus vergänglichen Material
hergerichtet, konnten sie nicht den Anspruch erheben, als Kunstwerke im höhern
Sinn, oder als wirklich erschöpfende monumentale Darstellungen der betreffenden
Herrschergestalten zu gelten. Es gab in der Reihe mannen recht wackligen
und zweifelhaften Herrn, einige der daran arbeitenden Bildhauer hatten sich die
Sache möglichst leicht gemacht, Vorhandenes copirt, auf drapirte Leiber be¬
kannter Feldherrnstatuen hohenzollersche Königsköpfe gesetzt u> tgi. Aber ein
paar recht charaktervolle und tüchtige Werke fanden sich doch mit darunter, um
welche es schabe ist, daß sie nur zu so vorübergehender Existenz geschaffen
waren und nicht zu längerem, dauerndem Leben. — Eine der glücklichsten und
geistreichsten architektonischen Schöpfungen jener Tage war die Umwandelung
der Turnhalle in der Prinzenstraße zu dem weiten Festsaal, in welchem die
städtischen Behörden den König und die Deputationen der Armee bewirtheten.
Was Professor Lucä hier innerhalb acht Tagen aus dem Nichts hervorgerufen,
erschien wie einer wahrhaft poetischen Phantasie erblüht. Besonders die Ein-
trittshalle, die er im Hof des Gebäudes errichtet hatte, mit den luftigen Kreuz¬
gewölben ihrer Decke aus goldenem Netzwerk mit Gurten von Blumenguirlanden
gebildet, war das Originellste und Anmuthigste. was diese Veranlassung über¬
haupt von künstlerischen Dingen entstehen ließ. Zum Schmuck dieses glänzenden
Raumes trug übrigens ein über dem Thürbogen in einem Halbrund gemaltes
Wandbild von A. v. Heyden nicht wenig bei : eine „Berolinia", auf der Qua¬
driga von Bären gezogen, die von Genien gelenkt werden. Die Vereinigung
von bedeutsamer Wirkung, festlicher Würde und heiterem phantasiereichen Spiel,
welche den Bau charakterisirte, war auch diesem originellen Bilde in vollem
Maße eigen. — Von den Transparentgemäldcn, welche der Festilluminalions-
abend erzeugte, von den kühnen Zeichnungen, welche tausend Gasröhren und
Flämmchen in feurigen Zügen über die Front großer Gebäude hinwarfen,
schweige ich.
Diese Tage liegen nun seit bald drei Monaten hinter uns. Man kann
nicht sagen, daß die bildende Kunst seitdem müßig darin gewesen ist, die aus
der eignen Anschauung oder der Schilderung anderer gewonnenen Eindrücke
von den historischen Thaten dieses großen Sommers zu verarbeiten. Von Seiten
der Regierung sind die Preisbewegungen um die gi oßen Aufträge von Bildern
derselben bereits ausgeschrieben. Durch welche Künstler und wie dieser Ein¬
ladung entsprochen werden wird, läßt sich noch nicht feststellen. Jedenfalls
arbeitet man in mancher Werkstatt bereits an den Skizzen dazu. Die Zeichner
haben inzwischen fortgefahren, ihre kürzer gefaßten Schilderungen frischweg in
die Welt zu senden. Freilich kann ich bei der besten Absicht und Aufmerksamkeit
auf das in dieser Art Erschienene nichts darunter finden, welches dem, was die
französischen Zeichner bei ähnlichen Veranlassungen in Massen zu Tage fördern,
auch nur entfernt gleich käme, oder gar der wirklichen Größe der zu schildernden
Ereignisse einigermaßen entspräche. Es scheint, daß die besten Kräfte für solche
Zwecke durch die illustrirten Zeitungen absorbirt würden. Was als einzelnes
Kunstblatt bis lang erschien, hat nur sehr mittelmäßigen Werth. Am leben¬
digsten sind noch immer die von Löscher und Petsch in Berlin photographirten
Schlacht- und Gefechtbilder von O. Günther (Berlin bei Linde). Viel gemachter
und unwahrer gezeichnet die photolithographisch von Korn reproducirten Blätter
von Jenny, die „böhmischen Marodeurs auf dem Schlachtfeld von Gitschin" an
der Spitze. Lüders fängt eben an, seine als Landwehrjäger bei Königgrätz
u. s. w. gemachten Erfahrungen in lithographirten Bildern zur allgemeinen
Anschauung zu bringen. Aber wenn man an die Mappen Burgers und Men-
zels denkt, so will das alles noch wenig sagen und bedeuten. Wir müssen die
Zeit abwarten, wo auch diese Schätze flüssig werden und die, wo die eigentliche
Kunst sich der großen Gegenstände bemächtigten wird, die lang ersehnt, ihr nun
in so überschwenglicher Fülle zugebracht sind. Das Material, dessen sie bedarf,
ist in hinreichender Menge für sie gesammelt. Daran haben sich seltsamer¬
weise die Photographen nicht, so wie man erwartet hätte, betheiligt. Auf¬
nahmen vom Schlachtfelde, vom Lager und Marsch, wie sie die Amerikaner
während ihres Bürgerkrieges in so großer Zahl, in so bewunderungswerther
und lehrreicher Weise geliefert haben, suchte ich bisher vergeblich. An Spe-
culationsgeist fehlt es doch diesen Herren Industriellen sonst nicht; man möchte
fast auf einen Mangel an Muth schließen, um dies Unterlassen zu erklären.
Gegenwärtig erst erscheint eine große Sammlung prächtiger photographischer
Blätter von Stichme in Berlin, Ansichten vom böhmischen Kriegsschauplatz.
Aber auch dieser Photograph ist viel zu spät gekommen, als die Spuren der
Kämpfe schon viel zu sehr verwischt waren, und zudem ist seine Auswahl gar
zu wenig von künstlerischem Geschmack und rechtem Tact für das Geeignete
geleitet gewesen, was die Objecte und besonders was die Standpunkte der Auf¬
nahme betrifft. Daß in der Masse nicht auch unbedingt vorzügliche Blätter
vorkämen, schließt das allgemeine Urtheil nicht aus. Ein Bild des Marsches
mit der „Evacuationscolonne" mit dem Lazareth-Hilfscorps der brcslauer
Studenten in weiter Gebirgs- und Waldlandschaft fiel mir unter den bisher
erschienenen durch eine seltne künstlerisch-Photographische allseitige Schönheit und
Vollendung auf. —
Aber nicht nur die Maler sind es, welche den Thaten des Heeres zu danken
haben werden. Auch die Bildhauer mögen sich bereiten: die nahe Zukunft
wird manche neue Heldenstatue, manches Denkmal jener Tage entstehen lassen,
und darin auch den jungen Talenten die künstlerischen „großen Zwecke" geben,
an denen ihre Kraft wachsen kann, wie die ihrer Meister sich an den noch von
den Freiheitskriegen in der Verherrlichung von Männern und Thaten gebotenen
so kräftig entfaltet hat.
Für unsere gesammte Kunst, auch wo ihre Richtung nicht so unmittelbar
von den geschichtlichen Ereignissen berührt wird, sonnen wir zuversichtlich von
letztern nur gedeihliche Folgen erwarten. Es geht ein frischerer Zug durch das
geistige Leben der Nation, es weht eine kräftigere Luft durch das deutsche Land,
welche auch auf sie und ihr ganzes Schaffen neubelebend wirken muß. Ob auch
jetzt schon manch kleines Hofpatronat und Mäcenatenthum, in dessen Schatten
oder an dessen Sonne Kleinkünstlerschaft behaglich gedieh, mit jenen Herrscher¬
sitzen von der deutschen Erde hinweggeweht ward, so ist der Verlust für die
rechte Kunst nur ein eingebildeter. Auch sie kann von der Concentration der
nationalen Kräfte in einem großen starken mächtigen Staatswesen durch das
gesteigerte Selbstgefühl, welches ein solches seinen Bürgern mittheilt, durch das
Zusammenfassen und die Bereicherung der künstlerischen Bildungsmittel in einem
Centralpunkt der nationalen Cultur, an Gesundheit, Tüchtigkeit und Großartigkeit
ihrer Entwicklung nur gewinnen. Welche Wunden auch der Krieg der Kunst
und den Künstlern geschlagen haben sollte — die Folgen des Krieges
werden sie heilen und reichlich auch an ihnen vergüten.
Diderots Leben und Werke. Von Karl Rosenkranz. Zwei Bände. Leipzig, Brock¬
haus. 1866.
In dem Impuls, den es zur Förderung wahrhaft freier Wissenschaft dar¬
bietet, scheint uns das Hauptverdienst dieses nach vielen Richtungen hin bedeut¬
samen Buches zu liegen. Der ganze Muth eines freien Mannes und die ruhige
Besonnenheit des Philosophen gehört dazu, das Gemüth eines notorischen
Atheisten ohne Haß zu durchforschen und mit Klarheit Anderen zu erschließen.
Da aber das Interesse an der Lösung einer solchen Aufgabe ein so hohes und
allgemein menschliches ist, wissen wir es Herrn Rosenkranz aufrichtig Dank, daß
er sein Werk nicht zur blos cholerisch philosophischen Studie, sondern zu einer
im edelsten Sinne populären Monographie gestaltet hat, die bald als eine Zierde
unserer Nationalliteratur erkannt werden wird.
In der That, wenn nach Lichtenbergs treffendem Ausspruch es einem
eminent guten Buche immer so zu gehen pflegt, daß es die Guten besser, die
Schlechten schlechter macht und die Uebrigen läßt wie sie sind, so ist das vor-
liegende Werk ganz besonders dazu angethan, diese dreifache Wirkung zu be¬
währen. Wem daran gelegen ist. in die tiefsten Abgründe der Menschenseele
ernsten und milde» Sinnes hinabzusteigen, wer die Zeichen einer Zeit, die mit
der denkwürdigsten aller Revolutionen schwanger ging, in ihrem vorbildlichen
Charakter für alle späteren Zeiten klarer deuten zu lernen wünscht, der wird
hier reiche Nahrung finden. Aber freilich auch der bornirte Fanatiker wird
reiches Material zur Bestärkung seiner Verdammungssucht, der Libertiner die
Vertheidigung der unsittlichsten Verhältnisse, sofern dieselbe der Entfaltung eines
bedeutenden Geistes zur Folie gedient, aus dem Buche herauslesen. Und die
stumpfe Masse wild an der seinen Darstellung innerer Kämpfe und Entwicke¬
lungen im Einzelnen wie in der großen Culturgeschichte gefühllos vorübergehen
und sich höchstens nach handfesten Excerptvren des dicken Buches umsehen, die
denn auch nicht auf sich warten lassen werden.
Wie Treffliches Rosenkranz geleistet, kann nur der völlig ermessen, der in
die bunte ungeordnete Masse des Materials, das vielfach noch kritischen Be¬
denken unterliegt, selbst einzudringen versucht hat. Und nun liegt es in der
Natur einer so proteusartigen Erscheinung, wie sie jener merkwürdige Franzose
darbietet, daß man ihr eigenstes Wesen oft nicht erfassen, sondern nur um¬
schreiben kann. Wenn das selbst der verwandte Genius eines Goethe mit in¬
stinktiver Intuition empfand, mit welchen Schwierigkeiten mußte der Philosoph,
der eindringende Analyse dieses Charakters unternahm, zu ringen haben! Aber
Rosenkranz hat seine Absicht, uns ein volles, deutliches Brlb zu geben, wirklich
erreicht und jede neue Darstellung Diderots wird von dieser ausgehen, jede
Geschichte seiner Zeit ans diese zurückgreife» müssen. Die Fülle der nun end¬
lich festgestellten Thatsachen, der neuen Combinationen und Resultate, die das
Buch darbietet, auch nur in gedrängtester Uebersicht zu registriren, würde den
Raum dieser Blätter weit überschreiten. Begnügen wir uns, auf einige derselben
hinzuweisen.
Der Vers, zeigt uns zunächst den ehrwürdigen Stamm, dem dieser wilde,
aber kraftvolle Zweig entsprossen war. Der Vater Diderots, so mannhaft, ver¬
ständig und bieder, daß ma» „überall wo er uns in der Geschichte des Sohnes
begegnet, ihm um den Hals fallen möchte"; der Bruder, ein Pciester, der sein
ganzes Herz der Kirche, sein ganzes Gut den Armen widmet; eine Schwester,
die in treuester Aufopferung die Liebe zu beiden, durch ihre verschiedenen Rich¬
tungen getrennten Brüder festhält, lauter charaktervolle Menschen voll edler Be¬
geisterung für das Gute und klarer Einsicht für alles, was sie thun, — aus
dieser Familie erwuchs Diderot, und wjF er das Gefühl der Pietät für sie nie
verloren hat, so ziehen sich die sittlichen Grundsätze, die er in derselben ein¬
gesogen, immer erkennbar durch sein Leben, als eine Macht, die bald in
naiver, bald in bewußter Weise gegen die Extreme reagirt, zu denen die maßlose
Gewalt seiner Leidenschaften und die kritisch-materialistische Richtung seines Den¬
kens ihn fortriß. Sogleich nachdem er das Jesuitencolleg, das ihn vergeblich
für den geistlichen Stand zu gewinnen suchte, verlassen, zeigt er seine volle
Selbständigkeit, einen unbeugsamen Willen für die Betreibung der Arbei¬
ten, die ihm am Herzen liegen, aber auch für die Befriedigung aller anderen
Leidenschaften, die ihn beseelen. Er verweigert, sich einen bestimmten Stand
zu wählen, weil er vielmehr die Eigenthümlichkeit eines jeden geistig zu erfassen
strebt und ganz in diesen desultorischer. aber stets mit Energie verfolgten Studien
aufgeht. Er ertrotzt sich eine Heirath, durch die er sich eine Fessel schmiedet,
die er dann in seinen verschiedenen Liebesverhältnissen mit demselben Ungestüm
durchbricht, als er sie selbst erkoren, während er doch wiederum später für die
gute Erziehung und Versorgung seiner heißgeliebten Tochter ängstlich bemüht
ist und die größten Opfer dafür nicht scheut, unter die namentlich der Entschluß
zum Verkauf seiner Bibliothek zu rechnen ist. In seinen ersten schriftstellerischen
Versuchen, die seit seiner Verheiratung 1743 beginnen, wendet er sich der
englischen Literatur zu, welche die moralisirende Tendenz, zu der er von Hause
aus hinneigt, für immer in ihm befestigt, so daß er auch durch die schneidendsten
Widersprüche, in die er dadurch mit seiner sich immer schärfer ausbildenden,
vom Sensualismus zum Materialismus und Atheismus fortschreitenden Welt-
anschauung gerieth, nicht bewegt werden kann, sie aufzugeben. — Diese natura¬
listische Hauptnchtung seines Denkens aber, begründet durch seinen skeptischen,
die ganze Welt viel weniger in ihrer organischen Einheit zusammenfassenden
als in ihrer Breite und Fülle durchforschender Gcistestrieb, der gleichsam jedes
Schubfach des Universums eröffnen, alle Schätze desselben auffinden und genießen
möchte, wird bestärkt und formirt durch den engen geselligen und wissenschaft¬
lichen Verkehr mit allen jenen bedeutenden Geistern, die diesem Zeitalter ihren
Stempel aufgedrückt haben, einem Rousseau, Voltaire, d'Alembert,Helvetius, Grimm,
Holbach:c., deren verschiedenartige Tendenzen, wie Rosenkranz nachweist, sich sämmt¬
lich in Diderot concentrilt finden; einer Republik von Geistern, die in der Ency¬
klopädie ihr allseitiges literarisches Organ gewinnt. Die Geschichte der Ency¬
klopädie ist eine der herrlichsten Partien des Wertes. Das Bild dieser ernsten
Arbeit, das hier vor unsern Augen entsteht, tilgt jede Voreingenommenheit gegen
die verrufenen Genossen, welche dieser Name umfaßt, und lehrt uns den He¬
roismus Diderots würdigen, der allein im Stande war, dieses unter so unend¬
lichen Mühseligkeiten und Verfolgungen erwachsende Werk zusammenzuhalten
und zu vollenden; wir vergegenwärtigen uns weiterhin die ganze Bedeutung
dieses in seinem Einflüsse auf die Zeitgenossen und in seiner Fortentwickelung
bis zu dem sich stets neu verjüngenden brockhausschen Universalbildungscompcn-
dium so wichtig gewordenen Wertes. Hier zuerst tritt uns in klaren Umrissen ent¬
gegen, was ein Hauptaugenmerk in der Darstellung des Verf. ist: daß nämlich
Diderot, wie der Mittelpunkt der zeitgenössischen Tendenzen, so zugleich der Pro¬
phet und Vermittler aller modernen Ideen ist; hier sehen wir, wie er, der Sohn
des Messerschmieds in seinem wachsamen Interesse für alle Zweige des Lebens
dazu berufen war, in seinen trefflichen technischen Artikeln und Zeichnungen
die Poesie der Arbeit, die Ehre des Handwerks zum Bewußtsein zu bringen;
während er wiederum in seinen philosophischen Abhandlungen für Staat und
Kirche, für Kunst und Wissenschaft Probleme aufstellte und Gedanken aussprach,
die theils zu brennenden Fragen unserer Tage geworden sind, theils in der
Originalgestalt, die man zu ihrer Zeit paradox und anstößig fand, bereits all-
gemeine Anerkennung erworben haben. Die größte Bedeutung vindicirt ihm
Rosenkranz auf dem Gebiete der Aesthetik, wo er nicht etwa, wie man ihm fälschlich
nachgeredet, die sklavische Copirung der Natur empfohlen hat, sondern vielmehr als
Kämpe für die Natur wider die Unnatur eintretend zu einem objectiven Begriffe
der Schönheit vordrang und in den Urtheilen über die pariser'Kunstausstellungen
(los Lalous) die treffendsten künstlerischen Beobachtungen und Winke hinterließ,
von denen der Biograph mit Recht eine reiche Auswahl (namentlich auch aus
dem ungedruckten Petersburger Nachlaß) seinem Werke einverleibt hat. Diderot
darf in dieser Hinsicht den Vergleich mit Lessing nicht scheuen, da er eigenthüm¬
liche Vorzüge besitzt, durch welche die Mängel, die uns an ihm angesichts unseres
großen Landsmanns in die Augen springen, nahezu aufgewogen werden. Als
Dramatiker mittelmäßig, ist Diderot hingegen als Dramaturg voll der frucht¬
barsten Ideen für Schauspiel und Schauspieler; er fixirte den Standpunkt der
Indifferenz des Tragischen und Komischen, indem er für das soeben erstandene
bürgerliche Drama den entsprechenden dialektischen Ausdruck fand. Auf diesem
Wege konnte er. getragen von seiner Begeisterung für Naturwahrheit und Stärke
der Leidenschaft, allerdings zu mannigfachen Reformen des französischen Theaters
Anlaß geben, aber freilich nicht bis zur Würdigung Shakespeares gelangen.
Im Metaphysischen gilt Diderot dem Verf. als „der Verlorne Sohn der
Spekulation", der in mächtigen Geistesblitzen bis an die Grenze der von Kant
entdeckten neuen Welt vordringt, aber auf seinem Freiheit und Tugend postu-
lirenden Moralstandpunkte dem System seines consequent deterministischen Ma¬
terialismus die Spitze abbricht, andererseits wieder durch die unentfliehbaren
Folgerungen dieses atheistischen Systems seine Moral aufs bedenklichste ver¬
dirbt und statt die Natur, wie dies überall sein Bestreben, in ihre Rechte ein¬
zusetzen, in die widrigste Unnatur verfällt, die, wo er ihre Verwirklichung dem
Kreise seiner nächsten Lieben drohen sieht, mit Schauder von ihm zurück¬
gewiesen wird.
Hier aber ist in seinem Denken wie in seinem Leben der große Riß. der
ihn nie zu voller Harmonie und Einheit des Daseins und Schaffens gelangen
läßt. Er ist der Mann, der seinen Trieben nicht nur mit vollem Bewußtsein
nachgiebt, sondern ihnen auch in jedem einzelnen Falle Recht geben will. Er
stellt seine Intelligenz in die unumschränkte Dienstbarkeit seiner jedesmaligen
Leidenschaft, so daß es ihm möglich ist, seiner ersten Maitresse Frau v. Puisieux
zu Gefallen sich in den Schmuz der bi^oux irräiserets gleiten zu lassen; aber dann
wieder ein späteres Verhältniß, das er hinter dem Rücken seiner Frau unter¬
hielt (ohne ein solches konnte er nie sein), in unzähligen Briefen als einen
Jdealbund von Tugend und Edelsinn speculativ aufzulösen, da er hier aller¬
dings einen zart weiblichen Sinn fand, dem er kein evrrumpirtes Herz zeigen
durste. Wenn er nun dieses unmoralische Verhältniß mit endlosen Moralflittern
zu verbrämen sucht und in einigen Schriften unter dem unwillkürlichen Bedürf¬
niß der Selbstapologie sogar dem Ehebruch im Allgemeinen die Unsittlichkeit
völlig abspricht, so wird jedem dieser Atheismus mit dem Heiligenschein in sei¬
ner Unaufrichtigkeit niedriger gelten als die atheistische Jmmoralität sairs
xlrrass. Ueberhaupt ist das Moralisiren an vielen Orten für Diderot nur
Mittel zum Zweck, da er sehr wohl weiß, daß Ueberzeugungen nicht blos das
Wahre, sondern auch das Gute zur Basis erfordern. Es versteckt sich hinter
seinen rührenden Gefühlsergüssen meist eine recht nüchterne, selbstische Absicht,
die von derber realistischen Beurtheilern, als Herr Rosenkranz ist, weit schärfer
hervorgehoben werden wird. Namentlich wird auch der gerühmte Wvhlthätig-
keitssinn Diderots manches von seinem Glänze verlieren. Man muß nur lesen,
wie gut Diderot seine Wohlthaten selbst zu erzählen weiß, und wie er stellen¬
weise mit seinen Gefühlen für die Menschheit prunkt, um in dieser Hinsicht
etwas bedenklich zu werden. Die Gleichgiltigkeit, mit der er sein Geld an
Fremde weggab, und die selbstbewußte Geschäftigkeit, womit er seinen Freunden
diente, kann ihm nicht überall unbedingt zur Tugend angerechnet werden. Uns
erscheint Diderot als der wahre „Mann von Eisen", den sein Kopf bei keiner
Handlung im Stiche ließ. Darum haben wir uns auch hinsichtlich der Ver¬
feindung Rousseaus mit Diderot, für welche Herr Rosenkranz mit neuem, licht¬
voll combinirten Material die Hauptschuld nicht, wie noch jetzt die herrschende
Meinung in Frankreich ist, auf Seiten Diderots, sondern auf Seiten Rousseaus
nachgewiesen — eine der interessantesten Rettungen, die unsere neuere Literatur
aufzuweisen hat —, von der völligen Unschuld des Ersteren nicht überzeugen
können. Rousseau mit allen seinen abscheulichen Schwächen und Lastern war
doch eine feinfühlende, leicht verletzbare Natur, die sich^ wie auch Herr Rosen¬
kranz zugiebt, fast beständig über sich selbst täuschte; das Letztere war aber bei
Diderot nicht der Fall; dieser kannte sich selbst, gleichwie Rousseau von ihm
erkannt war; er war der stärkere Charakter von dulden, aber es ist nicht zu er¬
sehen, daß er alles gethan habe, um den Bruch zu verhüten. Mancher Vor-
Wurf von Dingen, die Rousseau in seiner zartesten Eigenthümlichkeit wirklich
verwunden konnten, ist unwiderlegt geblieben, und die maßlose Invective, die
sich Diderot gegen den Todten nach Erscheinen der „Confessioiis" erlaubte, zeigt,
daß'er sich in dieser Sache nicht völlig rein fühlte. Rosenkranz ist hier wie
an einzelnen anderen Stellen merklich zum übereifriger Advocaten Diderots
geworden; aber welchem Biographen, der in die Seele eines bedeutenden
Mannes mit liebevollem Verständniß einzudringen sucht, sollte es nicht hin und
wieder so gehen? Und wenn unsere Ansicht über Diderot in dieser und in
manchen anderen Fragen abweicht, so haben wir es meist eben Rosenkranz zu
danken, daß er uns durch reichste Mittheilung des Thatbestandes ermöglicht hat,
unsere Rüstung aus seinem eigenen Arsenal zu vervollständigen. Denn im
Gegensatz zu der übertrieben zarten Sorge für das populäre Urtheil, das neu¬
lich einen hochgeschätzten Historiker bestimmte, von Veröffentlichung der ihm zur
Durchsicht vorgelegten Briefe einer geschichtlichen Persönlichkeit mit den Worten
abzurathen: „Sie passen nicht zu unserem Bilde des Mannes", — hat uns
Rosenkranz auch die widerwärtigsten Flecken im Leben, die schmuzigen Conse-
quenzen im System seines Helden ohne Scheu aufgedeckt und blendende, gesät)»
liebe Sophismen desselben sofort mit dem Geschick und der Klarheit eines ge¬
wiegten Philosophen auf Schritt und .Tritt entlarvt. Aufs glücklichste hat er
übrigens den öffentlichen Diderot mit dem privaten, der uns theils in ver¬
traulicher Correspondenz. theils in Schriften, die er nicht für den Druck, sondern
nur für sich, höchstens für die nächsten Freunde schrieb, jetzt vorliegt, in gene¬
tischer Darstellung zu einem übersichtlichen Ganzen geordnet.
Die Blüthe des Werks aber ist das erschütternde Culturbild, das uns von
den socialen Zuständen der französischen Hauptstadt aufgerollt wird. Aus¬
genommen aus dem schärfsten Focus, dem Gesellschafts- und Familienleben der be¬
deutendsten Männer, wird uns ein Kreis vor Augen geführt, innerhalb dessen die
Frauen für und wider den Atheismus debattiren und eine wundersame Moral
des Lasters, die unverbrüchliche Treue des Ehebrechers zur wahlverwandten
Ehebrecherin sich festgesetzt hat; ein irdisches PseudoHimmelreich mitten unter den
Vorboten der großen herannahenden Umwälzung, die freilich nicht freundlich
und beseligend, wie jene Geister sie erwarteten, sondern mit blutigen Schrecken
ihre Bahn brechen sollte. —
Dem weitern äußern Lebensgange Diderots, von dem wir hier absehen
müssen, hat Rosenkranz größte Sorgfalt und Genauigkeit gewidmet. Wie viel¬
fach in dieser Beziehung selbst unsere besten Aushilfswerke noch Mängel zeigen,
möge das eine Beispiel erläutern, daß in Brockhaus Konversationslexikon die
Kaufsumme der Bibliothek Diderots auf 'so0,000 Livres. bei Pierer auf 50,000
Livres und 3,000 Livres Rente angegeben wird, während Rosenkranz uns
lehrt. daß Diderot 16.000 Livres für die Bibliothek und als Bibliothekar eine
Rente von 1,000 Livres, die man ihm auf fünfzig Jahre vorausbezahlte, er¬
halten hat.
Ueber eine beachtenswerthe Notiz bei Brockhaus, nach der Diderot bei sei.
ner Anwesenheit in Petersburg infolge eines zweideutigen Quatrains mißfallen
habe, sodaß er dann bald diese Stadt verlassen, würde eine Auskunft durch
Herrn Rosenkranz erwünscht sein; es wäre, wenn das Factum feststände. hier
doch ein charakteristischer Zug nachzutragen. Doch möchte ich vermuthen, daß
es sich dabei um eine Verwechselung mit den bei der Fürstin Galizyn vorgelese¬
nen Versen (II, 350) handelt.
Ungern vermissen wir bei einem Werke, das so den ganzen Menschen
umsaßt, ein Porträt Diderots; vielleicht würde man am besten eine Abbildung
des Monumentes gewählt haben, das ihm seine Vaterstadt Langres setzte. Das
Gelfiesbild freilich, das unser deutscher Philosoph zum ersten Mal deutlich ent¬
Vor einiger Zeit pilgerte ein junger Musikgelehrter — er hätte Rost heißen
können, trug aber zufällig einen anderen Namen — den Rhein entlang. Wie
gebräuchlich begrüßte er überall das Handwerk und führte diesen löblichen Vor¬
satz auch in Bonn aus, wo er gleich nach seiner Ankunft eilte, sich Otto Jahr
vorstellen zu lassen. Eine Entdeckung in Köln, nach seinem Berichte der Fund
eines musikalischen Codex „vom zwölften bis zum sechzehnten Jahrhundert",
hatte den Jüngling für fremden Ruhm tolerant gemacht und so fehlten denn
in seiner Begrüßung, nachdem er den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, die
Worte: „Großer Mann, längst gehegte Sehnsucht. Begeisterung für den Bio¬
graphen Mozarts" u. f. w., nicht. Und um zu zeigen, wie tief sein Interesse
für Jahr wurzele, erbat er sich die Erlaubniß zum Hospitiren und lispelte die
Frage, ob Jahr über Beethoven oder Bach lese? „Ich interpretire diesmal
Ciceros oratio pro Nilone". lautete die Antwort. Aus allen seinen Himmeln
sah sich der Enthusiast gestürzt. Welche Professur konnte Jahr bekleiden, wenn
nicht jene der Musik, und nun entpuppte sich vor ihm ein zünftiger Philologe!
„Entschuldigen Sie." brach er endlich das Schweigen, „ich habe mich wohl ge¬
irrt." Dabei blickte er im Kreise forschend herum, um den andern, den musi¬
kalischen Jahr zu entdecken. Vielleicht glaubt er noch bis zu dieser Stunde an
einen doppelten Otto Jahr und genießt dabei die Beruhigung, daß noch manche
mit ihm den Irrthum theilen, denn Jahr hat stets sorgfältig die verschiedenen
Seiten seines Wirkens auseinandergehalten, immer Talar und leicht ge¬
schürzten Rock gesondert gelegt. Er ist berechtigt, ja verpflichtet zu solcher
Scheidung und dennoch glauben wir nicht zu irren, wenn wir in dem Umstände,
daß Otto Jahr gleichmäßig über die Gelehrsamkeit vom schwersten Kaliber, über
die strengste wissenschaftliche Zucht seines Geistes und über die feinste Kunst¬
bildung, die reiche Empfänglichkeit für weite Interessen gebietet, des Mannes
eigenthümliche Bedeutung erkennen, aus der Bereinigung gewöhnlich disparater
Eigenschaften den Hauptreiz seiner Schriften erklären. Es gehört nicht hierher,
Zahns Stellung in der Alterthumswissenschaft zu schildern. Daß er aber mit
gleichem Eifer, mit derselben Liebe Philologie und Kunstgeschichte treibt, ist nicht
dem bloßen Zufall zuzuschreiben. Für ihm klebt an der Kunstbetrachtung ein
häßlicher Dilettantenzug, wenn sie sich nicht auf ein gründliches philologisches
Studium stützt, ihm dünkt aber auch die blos formelle Behandlung der alten
Autoren unzureichend, um die Antike voll zu erfassen. Ihm ist die Antike eine
Welt der tiefsten Gedanken und der schönsten Formen, er trennt aber nicht die
einen von den anderen; dort vernimmt er auch den Flügelschlag einer idealen
Phantasie, hier vergißt er nicht auf die verständige, gesetzmäßige Entwickelung
zu merken. Zahns Verdienste als Biograph und musikalischer Schriftsteller ent¬
stammen dem gleichen Grunde.
Das „Leben Mozarts" ist nicht allein durch seinen Inhalt bedeutsam, son¬
dern auch durch seine Schicksale für uns anziehend geworden. Ein muster-
giltiges Buch, dessen Einfluß sich niemand entziehen kann, der in diesem Kreise
der Literatur arbeitet, und welches bereits der Nachbildungen und Nachäffungen
gar viele anführen kann, hat uns Jahr in seinem Mozart geliefert, gleichzeitig
aber auch ein überall gern gelesenes, in den weitesten Kreisen gekanntes und
geschätztes Buch. Und doch hat der Verfasser dem Leser keineswegs leicht gemacht,
zum Kern des Werkes durchzudringen. Diesen schreckt schon der stattliche Um¬
fang der Biographie ab, ihn verblüfft die an ihn gestellte Forderung, einzu¬
dringen in die Geheimnisse der musikalischen Composition und an der Hand des
Verfassers die genaueste Analyse der einzelnen Musikstücke Vorzunehmen. Was
läßt nun den Leser diese Schwierigkeiten überwinden und macht ihn geneigt,
der Schilderung eines Musikkünstlers die gleiche intensive Aufmerksamkeit zuzu¬
wenden, die er sonst nur einem Dichter entgegenträgt? Ihn begleitet während
der'Lectüre durchweg das wohlthuende Gefühl der Sicherheit. Von jedem
Sahe weiß er, daß seiner Aufstellung eine gründliche Untersuchung voranging,
bei jedem Urtheile empfängt er die Gewißheit, daß es sich auf die sorgfältigste
Erwägung stützt. Das Wort flüchtig kennt das Lexikon des Autors nicht, der
Begriff „unbedeutend" in dem Sinne, als ob dabei minder gewissenhaft verfahren
werden könne, ist ihm fremd. Man sieht es jeder Zeile an, daß der Verfasser
das ganze Material sowohl der Masse wie dem kritischen Verständnisse nach
beherrscht, und daß, wenn er eine Sache für abgeschlossen'erklärt, diese es in
der That auch ist. Von einem so ehrlichen und festen Führer läßt man sich
gern geleiten, die unbedingte Hingabe des ganzen Mannes an sein Werkimponirt
und fesselt zugleich.
Im kleinen Nahmen wiederholen die biographischen und musikalischen Auf¬
sätze, mit welchen Jahr in diesem Jahre seine zahlreichen Freunde erfreut hat,
die Vorzüge seines großen Mozartbuches. Wir beobachten auch hier wieder
den sorgsamen Fleiß, der auch das Kleinste nicht vergißt, die strenge Methode
in der Sichtung des Stoffes, den gründlichen, sicheren Aufbau der einzelnen
wohlgeprüften Werkstücke zum geschlossenen Ganzen und neben diesen philolo¬
gischen Kerneigenschaften die gediegene künstlerische Anschauung, die ernste Be¬
geisterung und feine Empfindung für die idealen Schöpfungen der Phantasie.
Die beiden uns vorliegenden Bände kleiner Schriften umfassen einen
mannigfachen Inhalt. Winckelmaim und Goethe in Leipzig schreiten an uns
vorüber, wir lernen des Autors Fachgenossen Gottfried Hermann und Ludwig
Roß. seinen Landsmann, den kieler Musikdirector Apel und seinen leipziger
Freund Danzcl kennen, wir werden in die Werkstätte Ludwig Richters einge¬
führt, wohnen den Musikaufführungen in Leipzig und Düsseldorf bei, werden
über Mendelssohns Oratorien auf die liebenswürdigste, über Berlioz und Richard
Wagners musikalisches Treiben auf die ergötzlichste Weise unterrichtet und zum
Schluß (in dem Aufsatze: Beethoven und die Ausgabe seiner Werke) mit einer
Fülle treffender Apercus über Beethovens Werke beschenkt. Ueber die musikalischen
Aufsätze Jahns hat die Kritik kein Wort übrig. Er ist im Fache der musika¬
lischen Wissenschaft eine so allgemein anerkannte Autorität, daß man ihm im¬
mer nur als Lernender und Empfangender gegenübersteht. Läßt sich demnach
eine Prüfung seiner Abhandlungen auf ihre Nichtigkeit hin kaum vornehmen,
so gewinnt man dagegen durch ihre erneuerte Lectüre die Einsicht, wie Jahr
allmälig zu einer unerschütterlichen Autorität in der musikalischen Kritik empor¬
stieg. Ueberaus lehrreich sind in dieser Hinsicht die Aufsätze über Wagners
Tannhäuser und Lohengrin. Als Jahr dieselben (1863 und 1854) schrieb,
stand er in starkem Widerspruche mit dem in den Tagesblättern gepredigten
Evangelium. Daß ihn die wagnersche Clique mit Schmähungen überhäuft,
,se selbstverständlich. Aber auch dem Parteitreiben fern Stehende fanden doch Zahns
Kritik allzu rigoros, sein Urtheil durch übertriebene Verehrung drr alten Clas-
siker einseitig gefärbt. Und jetzt? Was Jahr am Schluß seiner vernichtenden
Kritik über Wagner sagt, ist das landläufige Urtheil aller Gebildeten geworden.
„Von einem Stile der wagnerschen Musik kann nicht die Rede sein. Die erste
Bedingung des Stiles ist Eigenthümlichkeit der Productionskraft, welche man
einem Manne nicht zuschreiben kann, bei dem man nicht nur die Einflüsse
Webers. Marschners, Mendelssohns, Meyerbeers u. a. im Ganzen und Ein¬
zelnen nachweisen kann, sondern dessen künstlerische Eigenthümlichkeit wesentlich
darin besteht, daß eine Anzahl heterogener Bildungselemente unserer Zeit bei
ihm in bedenklichste Confusion gerathen sind. Eine aus Mißverständniß und
Uebertreibung hervorgegangene willkürliche Theorie bei mangelndem Sinn für
Motivirung und Gestaltung aus dem Ganzen, und eine einseitige Virtuosität,
die nur äußerliche Mittel für äußerliche Zwecke zu verwenden geschickt ist, führen
nothwendig zur Manier, die deshalb allein eine Zeitlang täuschen und blenden
kann, weil sie den Fehlern und Schwächen ihrer Zeit entgegenkommt." Jahr
ließ sich aber nicht blenden und täuschen und wartete ruhig, bis auch den An¬
dern die Schuppen von den Augen sielen. Sein Scharfblick bewährte sich in
der vernichtenden Kritik Wagners ebenso sehr, wie in der mitgetheilten Anerkennung,
die er Stockhauscn (34. niederrheinisches Musikfest) zollte. Nicht daß er Stock-
Hausen lobt, sondern wie er das Lob motivirt, macht Jahns Urtheil so schätzbar.
Durch eine überaus feine Analyse der Eigenschaften des Sängers, der stets nur
das zur Geltung zu bringen weiß, was in den vorgetragenen Stellen liegt,
durch eine gründliche Erörterung, wie dieselben sich zu den allgemeinen künst¬
lerischen Gesetzen verhalten, bereitet er sein Urtheil vor, so daß dasselbe eine
zwingende Kraft erhält. Nie betont der Autor seine persönliche Meinung, stets
läßt er sachliche Gründe ausschließlich reden; nie ist sein Standpunkt willkürlich,
stets wird seine völlige Hingabe an den Gegenstand bemerkt, seine reine Ge¬
sinnung, seine objective Haltung offenbar. Kein Wunder, daß Jahns Kritiken
als mustergiltig angesehen werden.
Auch in seinen biographischen Aufsätzen beweist Jahr die vollkommene
Herrschaft über das Material, den beharrlichen Fleiß des gediegenen Gelehrten,
der auch das Entlegenste für seine Zwecke zu verwerthen weiß und auch das
Kleine und Unscheinbare auszufeilen nicht verschmäht, endlich durchdringendes
Verständniß der Gegenstände, über welche er schreibt. Daß es Jahr möglich
wurde, selbst in ganz engem Rahmen ein deutliches Bild von Winckelmanns
großer Statur zu entwerfen, kann nicht Staunen erregen. Hat er doch dem
Winkelmanncultus sein ganzes Leben gewidmet und wie Wenige der Mitleben¬
den des genialen Mannes Ziele und Aufgaben sich klar gemacht. Daß der längst
in unserer Literatur eingebürgerte Aufsatz über Goethes Jugend in Leipzig viel
des Anziehenden enthält, ist auch begreiflich. Nicht weil sich über Goethe nicht
langweilig schreiben läßt — das haben unsere Literatoren glücklich erlernt —
aber Jahr steht unter den Go-ethekennern in erster Reihe. Den Sammlern und
Scholiasten will er in seiner Zuschrift an Freund Hirzel nur beigezählt
werden, aber die „stille Gemeinde" weiß längst, daß Jahr seinen redlichen Theil
dazu beigetragen hat, daß wir durch klare Einsicht in das Factische auch die
Kunst des Dichters, den übeilieferten Stoff zu einem Kunstwerke zu gestalten,
immer mehr, bewundern lernen.
Durch die gesammelten biographischen Aufsätze werden auch die Schilderungen
L. Richters und Danzels in weiteren Kreisen, als es bis jetzt der Fall war,
bekannt werde». Das freut uns aus einem doppelten Grunde. Die eingehende
Erzählung von Richters Leben und Wirken zeigt uns einen kerngesunden Punkt
in unserem modernen Kunstleben, hilft mannigfache Vorurtheile zerstreuen und
die richtige Einsicht, was den bildenden Künsten in der Gegenwart Noth thut,
verbreiten. Und daß die Erinnerung an Danzels Dasein in freundlichen Zügen
festgehalten wird, gönnen wir dem armen, vorzeitig gestorbenen Mann von
Herzen. — Aber beide Aufsätze eignen sich auch vortrefflich, um unsern Autor
lieben zu lernen. Wer das rechte Verständniß und den scharfen Blick für Richters
anspruchslose Gestalten sich bewahrt hat, wer so inniglich „Heimchen weine nicht"
zu interpretiren versteht, wer die sittliche Bedeutung der. Richterschen Kunst so
genau erfaßt hat und wer so theilnehmend und herzlich über den beklagens-
werthen leipziger Gelehrten schreiben kann, ohne der Wahrheit zu nahe zu treten,
ohne durch Sentimentalität zu reizen, das Gefühl der Leser für Danzels Schicksal
erwärmt, der ist nicht blos ein tüchtiger Gelehrter und scharfer Denker, sondern
auch ein trefflicher Mensch, den achten wir nicht allein, sondern lernen ihn
auch lieben.
Den Schluß der musikalischen Aufsätze hat Jahr Beethovens Werken ge.
widmet. Wer den Aufsatz liest, wird gewiß sehnsüchtiges Verlangen haben nach
dem lange vorbereiteten großen Werke über Beethoven, sich selbst aber corrigiren,
oder wenn er es nicht thut, von einem andern Freunde Jahns corrigirt werden.
Auch die längst versprochene Geschichte der antiken Kunst wird mit der gleichen
Sehnsucht erwartet. Diese beiden Bücher ist Otto Jahr sich selbst und der
Welt noch schuldig.
Gestatten Sie, Herr Redacteur, in Ihrem Blatt eine Frage zu berühren,
für welche man in den jetzt laufenden Conferenzen zu Berlin eine vorläufige
Antwort sucht, deren definitive Regelung aber wahrscheinlich erst nach längern
parlamentarischen und diplomatischen Verhandlungen stattfinden wird.
Welches soll in dem Bundesstaat die verfassungsmäßige Stellung der Re¬
gierungen zum Bundesoberhaupt einerseits und zum Reichstag andrerseits werden?
Da die Sorge darum die Fürsten des norddeutschen Bundes und ihre Minister
nicht weniger beschäftigt, als 'das deutsche Volk, so möge hier eine Ansicht
zu Worte kommen, welche das Interesse der regierenden Fürsten des Bundes zu
wahren sucht. Wenn dieselbe mit der Auffassung der preußischen Regierung
und mancher nationalgesinnter Männer nicht übereinstimmen sollte, so wird
man ihr doch den Vorwurf nicht machen können, daß sie unberechtigte An¬
sprüche vertrete.
Die regierenden Fürsten der meisten Staaten, welche jetzt dem norddeutschen
Bunde angehören sollen, hatten schon vor dem Sommer dieses Jahres das leb¬
hafte Bewußtsein, daß ihr Verhältniß zur deutschen Nation ein zweifelhaftes
und ihre Stellung im alten Bunde unhaltbar geworden sei. Grade die Re-
genten kleinerer Staaten waren sich wohl bewußt, daß in der Hauptsache nicht
sie selbst regierten, sondern ihre Beamten. Die kunstvolle und complicirte Re¬
gierungsmaschinerie, welche mehre Generationen der Vorfahren eingerichtet,
hat in den kleineren Ländern einen Umfang und eine Bedeutung gewonnen,
welcher der Regent selbst nur schwer widerstehen kann. Alle Reformen sind nur
dadurch zu bewirken, daß die Zahl der Beamten vermehrt wird, zu den vor¬
handenen Rädern werden unablässig neue eingerichtet, das minutiöse Vielregieren
ist im Ganzen gewissenhaft, es ist auch in den meisten Staaten wohlmeinend
für das Volk, aber es ist unläugbar eine große Vormundschaft über Fürst und
Volk geworden. Diese Vormundschaft wird durch einige Hunderte gebildete
Beamtenfamilien ausgeübt, in denen das Privilegium der Aemter fast erblich
geworden ist. Der gesetzliche Sinn dieser Beamten vermag einmal den per¬
sönlichen Willen des Fürsten zum Vortheil für das Land zu beschränken, er wird
vielleicht ebenso oft einschneidende Reformen und eine Verringerung der Bevor¬
mundung aller Unterthanen erschweren. In den kleinen Ländern ist die Volks¬
vertretung, wie umfangreich sie eingerichtet sei, immer ein Kors ä'osuvi'k, der
Grundcharakter des Kleinstaates ist der einer Beamtenaristokratie, welche in dem
Regenten ihren höchsten Repräsentanten sieht, von dem sie Patent, Beförderung
und Auszeichnung beansprucht, unter dem sie aber als wirklicher Machthaber
über die Bevölkerung herrscht.
So lange der Regent durch den alten Bund in innern Angelegenheiten
nur wenig beeinflußt wurde, konnte sein Selbstgefühl sich mit dem befriedigen, was
ihm außer den unbezweifelten Hoheitsrechten an Einfluß auf seine Beamten
geblieben war. Die Gründung des norddeutschen Bundes aber droht auch die
Stellung des Landesherrn zu seinen Beamten zu ändern. Denn ob man die
neue Schöpfung Bundesstaat oder Einheitsstaat nenne, ein Theil seiner Beamten
wird fortan der Bundesgewalt untergeordnet sein, auch Administration und
Justiz werden unvermeidlich in größere Abhängigkeit von der Centralregierung,
also von Berlin kommen, und die Beamten jedes Landes werden sehr bald
durch persönliches und sachliches Interesse stärker von der Centralgewalt, als
von ihrem alten Landesherrn angezogen werden.
Die Stellung, in welche die Landesherrn dadurch versetzt werden, ist nicht
beneidenswerth. Selbst wenn ihnen in einer neuen Bundesversammlung gestattet
wird, durch Gesandte, denen ihre Minister Instruktionen geben, einen gewissen
Einfluß auf die Gesetzgebung des Bundesstaats zu üben, dieser Einfluß wird
in der Regel kein persönlicher sein, sondern eine Einwirkung ihrer ersten Beamten,
also der Anschauungen und Urtheile, welche sich in diesen privilegirten Kreisen
festgesetzt haben.
Jedoch diese Gesandtenversammlung, an Jnstructionen gebunden, von denen
''jede, wie erwähnt, erst wieder durch einen Kompromiß zwischen dem Landes¬
herrn und seinen Beamten zu Stande kommt, ist ein schwerfälliger Körper und
wird sich, mit Ausnahme einzelner technischer Fragen, als ein Hemmrad der
Bundesregierung ohne praktischen Nutzen erweisen. Sie ist ihrem ganzen Wesen
nach unvereinbar mit kräftigem Versassungsleben.
Die regierenden Fürsten des norddeutschen Bundes aber sind, wenigstens
seit der Aufnahme des königlichen Hauses von Sachsen in den Bund, ein Factor
geworden, dem die preußische Negierung auch aus anderen Motiven, als dem
geschlossener Verträge, Berücksichtigung nicht versagen kann. Sie sind die großen
Grundbesitzer ihrer Landschaft, durch tausend Fäden mit den Interessen ihrer
Bevölkerung und mit dem Gemüthsleben derselben verbunden, und grade dieses
Jahr hat bewiesen, daß die Neigungen der Deutschen weit mehr auf Seite der
regierenden Häuser sind, als man anzunehmen geneigt war, sie sind endlich die
gebornen Repräsentanten ihrer Landschaft, der hohe Adel deutscher Nation. Es
empfiehlt sich also, ihnen in dem neuen Bundesstaat eine Stellung zu geben,
welche der Bedeutung entspricht, die sie zur Zeit in der Nation besitzen und die
ihnen durch neue Verträge mit Preußen gesichert ist. Man mache sie politisch
zu dem, was sie bereits der Sache nach sind, zu den großen Pairs des denk-
schen Reichs. Es sei erlaubt, einige der Bedingungen hier anzuführen, unter
denen eine persönliche Betheiligung der deutschen Souveräne am Bundesstaat
ausführbar sein dürfte.
Die erste Bedingung müßte sein, daß sie als wirkliche Pairs des deutschen
Reiches und des erlauchten Hauses der Hohenzollern fungiren, selbstthätig, ohne
Stellvertreter, außer in gewissen, genau bestimmten Fällen der Minderjährigkeit
und weiblicher Regentschaft, Fälle, in denen die Übertragung der eigenen Stimme
an einen andern Pair gestattet wäre.
Sie würden ihre parlamentarische Thätigkeit im gesonderten Fürstenhaus
ausüben, als Commissär und Secretär der Centralgewalt würden Beamte fun¬
giren, die aus den Ministern der Centralgewalt gewählt, selbstverständlich nicht
das Recht hätten, sich an den Abstimmungen zu betheiligen. Die Abstimmungen
würden durch Majorität entschieden.
Diese Versammlung müßte mit aller äußern Ehre umgeben werden, welche
die hohe Stellung der darin Functionirenden beanspruchen darf.
An diesem Fürstenhaus darf niemand Theil haben, als die wirklich
regierenden Herren des Bundes und ihre Erbprinzen, außerdem die königlichen
Prinzen der Hohenzollern und ein Vertreter des fürstlichen Hauses Hohenzollern.
endlich die Bürgermeister der drei freien Städte. Dagegen kein Unterhalt, weder
Preußens, noch eines andern Staates, weder Häupter noch Mitglieder der
mediatisirten Familien vom hohen Adel, noch durch Preußen oder einen andern
Staat gefürstete Herren des niedern Adels. Will man wirklich ein Pairhaus
im deutschen Reiche schaffen, so darf man nicht von vorn herein dem Fürsten¬
stolz eines Souveräns Unmögliches zumuthen. Es ist nicht^indenkbar. daß ein
König von Sachsen, von Bayern und Würtemberg zum Reichstag fährt, in
welchem er nur mit den Häuptern wirklich regierender Familien tagt, aber es
ist nach gegenwärtiger Sachlage vergeblich, ihnen zuzumuthen, daß sie politisch
mit solchen Herren vom hohen Adel zusammen berathen, welche ihnen zwar
durch Familienbande und persönliche Verhältnisse nahe stehen, aber der Souve-
ränetätsrechte durch die wiener Verträge u. s. w. entkleidet sind.
Die Verhandlungen des Fürstentages können deshalb nicht in derselben
Weise öffentlich sein, als die des Reichstags, und die unverzügliche Publication
seiner Sitzungsprotokolle wäre der einzige Weg, auf welchem die Verhandlungen
desselben regelmäßig der Nation mitgetheilt würden.
Eine solche Fürstenversammlung würde als ein Factor der Gesetzgebung im
Bundesstaat von Nutzen sein können, denn sie würde der Berathung des Volkes
ein entsprechendes mündliches Verhandeln der Fürsten zur Seite stellen. Sie
würde bei der erwähnten Zusammensetzung patriotischen Fürsten die Befriedigung
gewähren, daß sie durch ihre Persönlichkeit einen ihrer Stellung entsprechenden
Einfluß aus die Geschäfte des Reiches ausüben könnten; sie würde einem that-
kräftigen Herrn angemessene Gelegenheit geben, sich in dem neuen Staat zum
Nutzen für das Ganze geltend zu machen, und würde die Schwierigkeiten, welche
die Existenz zahlreicher Staatsoberhäupter darbietet, dadurch überwinden, daß
sie dieselben nicht herabdrückte, sondern heraufhöbe.
Drei Bedenken stehen der Realisirung dieses Projectes zunächst entgegen:
Erstens die Geneigtheit der Mehrzahl unserer Souveräne ist zur Zeit unbe¬
kannt, der gute Wille mehrer thüringischer Fürsten ist sicher. Doch ein entschie¬
dener Wille Preußens könnte hierin viel durchsetzen, denn in Wahrheit stehen
die Fürsten jetzt in der Gefahr, durch ihre eigenen Beamten und Stände all-
mälig mediatisirt, d. h. zunächst zu politischer Bedeutungslosigkeit herabgedrückt
zu werden.
Schwieriger ist der Umstand, daß diese Vertretung von vornherein sehr
ungleichmäßig auf die deutschen Länder sich vertheilt, und daß grade Preußen
dabei sehr ungenügende Stimmenzahl erhält. Die Versammlung wird selten in
Gefahr kommen, sich in ihrer Majorität für das Interesse einzelner Landestheile
zum Schaden des Ganzen zu entscheiden, häufiger in die Gefahr, ein dynastisches
oder Familieninteresse gegenüber den Forderungen der Centralgewalt und dem
Reichstage der Abgeordneten zu vertreten. Es ist deshalb ihre Competenz aus
die Punkte zu dirigiren, bei denen die Centralgewalt eine Vereinbarung mit
den einzelnen Bundesregierungen nöthig hat. Für diese Fälle aber würde
mündliche Verhandlung und persönlicher Austausch der Ansichten sich weit för¬
derlicher beweisen, als der schriftliche Verkehr der Ministerien.
Es ist endlich unmöglich, die hohe Versammlung regierender Herren während
der voraussichtlich langen Sitzungen des deutschen Reichstages fungiren zu lassen,
und daher entsteht die Frage, ob man ihr vor dem Reichstag die Vorlagen zur
Genehmigung unterbreiten und nach dem Reichstag die Bestätigung derselben
xer einholen will, oder ob man derselben das Bestätigungs-, resp. Ver¬
werfungsrecht der von dem Reichstage angenommenen Gesetzentwürfe und An¬
träge zutheilen will, welche der Competenz des höchsten Hauses unterliegen sollen.
Im erster» Falle würde der Fürstentag vor und nach dem Reichstag, im zweiten
Fall nur nach dem Reichstag zusammentreten.
Diese Andeutungen haben nur den Zweck, einzelne Bedenken und die ent¬
sprechenden Vortheile eines Fürstencollegiums in dem neuen Bundesstaat her¬
vorzuheben. Denjenigen, welche im Princip gegen das ganze Institut sind,
weil sie darin eine Erschwerung einheitlicher Organisation erblicken, diene zur
Antwort, daß hier erwogen werden sollte, was auf Grund der neuen mit Preußen
geschlossenen Verträge dem neuen Bundesstaat heilsamer sei, ob ein Fürstentag.
ob ein Kollegium von Gesandten, die in der Weise des alten Bundesstaats an
Instruktionen gebunden sind.
Da nach unserm Ermessen in der neuen Bundesverfassung die Frage nach
der Stellung der einzelnen Regierungen am schwersten die richtige Antwort
finden wird, so sei gestattet, in diesem Blatte zu weiterer Erörterung und Be¬
lehrung darüber aufzufordern.
Unter den neuen illustrirten Werken zeigen die der unermüdlichen Verlagshand¬
lung O. Spamer nicht nur eine große Bändezahl, auch in ihrer Einrichtung we¬
sentlichen Fortschritt, die sonst zuweilen bemerkbare Wiederbenutzung alter Holzstöcke
wird seltener, aus den Text größere Sorgfalt gewandt, rastlos ist der geschickte Ver¬
leger bemüht, dem Interesse der Zeit zu dienen, an die Unterhaltung Belehrung zu
knüpfen. Und rühmend darf hervorgehoben werden, daß die Auswahl mit Respect
vor deutschem Sinn, vor guter Zucht und Sitte bewirkt wird. Wir bemerken von
neuen Werken oder deren Auflagen unter Vielem: Lesestunden, Schilderungen und
Erzählungen aus Natur und Leben; der erste und älteste Robinson Crusoe;
Deutsche Geschichten für die Kinderstube; Wohlthäter der Menschheit;
Feierabende; Krieg und Frieden, Bilder ze.; das Amurgebiet und seine
Bedeutung; Kane, der Nordpolfahrer; Hellas, das Land und Volk
der alten Griechen; Göll, Jllustrirte Mythologie; und von belehrenden
Werken mit höheren Ansprüchen: Das Buch der Erfindungen, 5 Bände.
Die belehrende und nationale Richtung im Verlage verspricht denselben gedeihlichen
Fortgang.
Unter den lieben Gästen, welche gleich dem Mädchen aus der Fremde mit treuer
Gewissenhaftigkeit auf den Weihnachtstisch jedes Jahres holde Gaben legen, ist dem
deutschen Volke Ludwig Richter der liebste geworden. Auch diesmal hat er seine
Spende nicht vergessen. Das kleine Heft, betitelt: Unser tägliches Brod in
Bildern von L. Richter (Dresden, Verlag von I. Heinrich Richter) giebt in fünfzehn
trefflichen Holzschnitten die Glossen des unerschöpflichen Künstlergemüthes zu dem
Worte wieder, das des Menschenlebens Glück und Elend, Arbeit und Begehr in der
einfachsten sinnlichsten Gestalt in sich schließt. Hoffnung der Aussaat, Wonne er¬
füllter Erwartungen, segensreiche Mühe der Ernte, Almosen Gottes und beglückter
Menschen bei der Aehrenlese, Lust und Dank nach Einheimsung des Segen«, Zube¬
reitung der Frucht zum Nahrungsgebrauche, Müllers Amt und Bäckers Geschäft,
Genuß der Gottesgabe in Zufriedenheit und in Trübsal und endlich in Hinweis
darauf, wie alles Vergängliche nur Gleichniß des Ueberirdischen ist, das erzählen
diese Schilderungen deutschen Kleinlebens mit unwiderstehlichem Reiz. Was in Rich¬
ters Arbeiten den wahrhaften Künstler am besten offenbart, ist, daß seine Gebilde,
seien sie cyklisch oder einzeln erfunden und gedacht, nie Episoden sind, sondern
immer eine ganze Welt schildern. Immer dieselbe Welt und doch wenn nicht stets
von neuer Seite, so doch in andrer Gestalt und mit neuem Inhalt. Wieder ziehen
auch in diesem Büchlein die holdseligen Kindergestalten am meisten an; aber wie die
Schönheit und Grazie jugendlichen Daseins den schmückenden Nahmen der freien
Natur oder des Hcimwesens bekommt, wie ihr in den reifen Gestalten und im Ernste
des Schaffens der Männer und Frauen, endlich im lebenden Gedankenstrich, dem
deutschen Philister, die Folie gegeben wird, darin zeigt sich immer die nämliche Wärme
des Antheils, dieselbe Frische der Beobachtung, und als gestaltende formgebende Ge¬
walt die ewige Idealistin: Liebe. Immerhin mag in dem einen oder andern Zuge
ein wenig zu viel gethan sein; vielleicht braucht es mancher der kleinen Engel¬
gestalten nicht, um uns zu erinnern, daß der Himmel in dieses Leben hereinschaut,
auch die Erinnerungen an katholischen Brauch könnten wir missen; aber dennoch
herrscht allenthalben reinster Geschmack, durchleuchteter Sinn.
Als jüngerer Genosse Richters — Nachfolger möchte man nicht sagen um der
Vorbedeutung willen, und Schüler ist nicht richtig, wenigstens nur im Sinne ge¬
meinsamer Geschmacksrichtung — bewährt sich Oskar Pietsch, der uns diesmal
Allerlei Schriek-Schnack mit 4l Originalzeichnungen (in Holz geschnitten von
Bürkner, Verlag der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin) vorlegt. Kinderleben
in den vier Wänden, in Haus, Hof und Garten ist auch sein Bereich; aber was
von Anfang an seine Bilder wesentlich von denen Richters unterscheidet, ist ein
moderner Zug, ein munterer Realismus, der seine Stoffe mehr im Fluge zu er¬
tappen als still sinnig auszugestalten liebt. Flotte Frische zeichnet auch seine Dar¬
stellung aus. Bei der Anschauung der Gegenstände verweilt er nicht mit der Absicht,
sie zum künstlerischen Ganzen, zum abgeschlossenen Bilde durchzuarbeiten, wie es
Richters Art ist, sondern er giebt bildliche Apercus, kleine Scenen und Situationen,
die ihren Reiz mehr im Augenblicklichen als im Zustande haben. Innerhalb seiner
eigenthümlichen Aufgabe aber entwickelt er Productivität und Geschick wie kaum ein
anderer. Richters Figuren und Composttionen zeigen durchweg den Drang, stilvoll
zu bilden, ihr Familienleben ist ländlich, idyllisch abgeschlossen; wo er Bürger zeich¬
net, braucht er meist besonderen Humor, sie sich anzueignen ; eigentliche Stadtkinder
sehen wir sast nie bei ihm, wie ja auch das Kostüm im weiteren Sinne nie das
wirkliche des heutigen Lebens ist. Dagegen ist Pietsch eine echte Genrenatur. Vivs
ig, daZatellö ist sein Motto und in raschem Tempo, mit unerschöpflicher Laune,
selten versagender Hand weiß er seine lustigen, schalkhaften Weisen aufzuspielen.
Gesund und lebendig und lauter Gesichter von heute sind seine Gestalten, aufgefaßt
in der ganzen Unmittelbarkeit ihres Treibens; jeden Augenblick kann aus den Thüren,
hinter welchen sie spielen oder hocken, zanken oder lachen, unsere eigene Figur leib¬
haftig heraustreten, so völlig ist es unser Haus, sind es unsere Kinder, unsere
Beobachtungen, die er wiedergiebt. Und das Haus steht in der Stadt, gehört der
wohlhabenden Bürgerfamilie, die sich in vollkommener Uebereinstimmung fühlt mit
dem modernen Dasein, in ihm lebt und webt; das ist auch den Kleinen an der
Nase anzusehen. Ihre Gesichter führen auf ihre Art den Beweis, daß unser Leben,
grade so wie es ist, der Poesie keineswegs entbehrt. Freilich ist es gewissermaßen
eine Poesie der Prosa, was uns hier begegnet, aber herzerquickende Munterkeit und
Unbefangenheit, Frische und Freimuth ergötzen und erheben uns — nicht in eine
andere Welt, sondern zu der, die wir als Heimath unserer Heimath im Herzen
tragen. —
Vergessen wir nicht über der Freude an diesen liebenswürdigen Werken die
braven Hände, die sie durch den Holzschnitt zum Volksgut gemacht haben. Beide
sind fast von den nämlichen ausgeführt. Ganz besonders scheinen uns, abgesehen von
Bürkners eigenen Leistungen, die Blätter, welche Günthers und Ocrtcls Namen
tragen, Handwcise und Intention am besten zu treffen und dem Material am ent¬
sprechendsten wiederzugeben. —
Uns zweigetheilten Deutschen wird diesmal nicht auf gleichem Tische beschert.
Unwillkürlich treten wir vor jede Gabe dieses Jahres mit der Frage: gehört das
uns oder Euch? In unserem Falle ist die Antwort erspart; jeder Weihnachtstisch hat
ein neutrales Plätzchen, aus welchem, nicht allemal zur Zufriedenheit der Erwartenden,
gemeinschaftliches Eigenthum liegt; und die Spenden unserer Künstler gehören an
diese Stelle. Aber eine Anmerkung sei. dazu erlaubt. Richters Werke, so sehr sie
auch besonders süddeutsches Volksthum darstellen, sind weit mehr im Norden ver¬
breitet, wo er schafft; und in noch höherem Grade gilt das von Pietsch. Im Süden
wird äußerst wenig hervorgebracht, was in dieser Richtung als Tauschobject dienen
könnte. Das ist nicht erfreulich; denn grade der Verkehr mit solchen Schätzen des
Geschmackes und Herzens spinnt die festesten Fäden. Die schmollenden Brüder, die
jetzt von einander abgewandt je ihr eigenes Leben führen, würden in solcher Gegen¬
seitigkeit der Leistungen wie in einem Spiegel sich wieder in die Augen sehen lernen.
Im Norden fehlt es dazu weder am guten Willen, noch an entsprechenden Leistungen.
Süddeutsche Literatur und Kunst ist so willkommen und so populär bei uns wie
die eigene, und jeder Markt und jeder Leserkreis bei uns straft die abgeschmackte
Redensart Lügen, daß wir nicht in gleicher Weise gemüthvoll producirten oder daß
wir die Ablehnenden wären.
Eine mehr mit Pracht als mit durchgehenden Geschmack ausgestattete Samm¬
lung frommer Sprüche und Lieder, der Bibel und der deutschen Literatur von
Luthers Zeit bis auf die Gegenwart entnommen, Pendant zu dem im gleichen Ver¬
lag erschienenen Werke: Deutsches Leben in Liedern. Jedem Capitel sind Farbendruck¬
blätter vorgesetzt, welche meist mendelssvhnsche Compositionen geistlicher Gesänge in
den Noten geben, umrahmt mit sinnvollen Arabesken. In diesen künstlerischen Bei¬
gaben» welche das Originelle des Buches sind, bemerken wir leider ein unerquickliches
Gemisch schwächlicher moderner Zeichnungen mit Ornamentmotiven, bei welchen
sehr gute Vorbilder zu erkennen sind. Das Ganze trägt alle Vorzüge aber auch
alle Mängel von absichtlichen Festgaben. Das Buch wird auf manchem Weihnachts¬
tische und in manches Konfirmanden Hand zu finden sein; indeß der künstlerische
Eindruck ist dem des Wohlthätigkeitsconccrtes sehr verwandt. Den Schluß bilden
Trostworte und Gebete, denen der Titel „Nach dem Kriege von 1866" gegeben ist.
Ursprünglich zum Privatgebrauche des unbekannten Verfassers zusammengestellt,
versuchen diese Notizen aus dem Gebiete der philosophischen, naturwissenschaftlichen
und allgemeinen Literatur aus 260 Duodezseiten ommis, et «zMöSaill alis, der moder¬
nen Weltweisheit zu geben, ein Unternehmen, das nur bei strenger Einhaltung einer
ausgeprägten Anschauungswelt Ersprießliches leisten könnte. Obgleich sich jedoch der,
Verfasser als Verehrer Schopenhauers bekennt, ist doch seine Absicht rein eklektisch.
Wir halten solche literarische Trüffelpastcten nicht eben für wünschenswerth. Sie
müssen in gewissem Sinne pädagogisch beurtheilt werden und verstoßen gegen einen
Hauptsatz, daß jeder außerordentliche Geist das Recht beansprucht, als ganze Persön¬
lichkeit dem Volke vorgeführt zu werden, nicht mit hundert anderen in einer Art
Photographiealbum zusammen, wo auf jeden nur ein winziger und momentaner
Schattenriß kommt. Belesenheit und Sinn für das Originelle zeigt das Büchelchen
allenthalben.
Die neuesten Lieferungen dieses von uns schon wiederholt rühmlich hervor¬
gehobenen Unternehmens setzen die Beschreibung der kleinen Bewohner des Waldes,
der Jnsecten und ihrer nützlichen und schädlichen Genossen fort und zeigen fast durch¬
weg die gleiche liebevolle Beobachtung und populär-wissenschaftliche Darstellung wie
die bekannten früheren Partien dieses praktisch angelegten Werkes, dessen Illustrationen
Mit größtem Fleiß und trefflicher Anschaulichkeit ausgeführt sind. —
Mit Ur. K beginnt diese Zeitschrift den sechsundzwanzigsten
Jahrgang, Bestellungen daraus nehmen alle Buchhandlungen
und Postämter an.
Leipzig, im December 1866.Die Verlagshandlung.