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]]> Als das preußische Abgeordnetenhaus im Januar dieses Jahres nach ein¬
jähriger Unterbrechung wieder zusammentrat, fand es eine doppelte Aufgabe
vor, eine alte und eine neue: die Erkämpfung seines von der Krone und dem
Herrenhause bestrittenen Budgetrechts und den Abschluß der Schleswig-hol¬
steinischen Verwicklung im nationalen Sinne. Das Abgeordnetenhaus indessen,
d. h. die in der Fortschrittspartei und im linken Centrum versammelte liberale
Majorität war sich nur der ersten dieser beiden Aufgaben deutlich bewußt.
Beschränktheit des Blickes bei der Masse der Abgeordneten und Mangel an
eigentlich anerkannten, wirklich leitenden Führern verhinderten bis in die aller¬
letzten Wochen einer langen Session hinein sogar jede ausdrückliche Verhandlung
über die brennendste und bedeutungsvollste aller deutschen Tagesfragen. Man
fürchtete schon bei ihrer bloßen Berührung zu zerfallen. Man sah und begriff
nicht, daß in ihr das Mittel lag, um die Regierung zur Anerkennung des
constitutionellen Finanzrechts zu zwingen.
Es wäre irrthümlich, anzunehmen, daß die Mehrheit des Hauses überhaupt
keinen Friedensschluß mit dem gegenwärtigen Ministerium gewollt habe. Bis
weit über die Mitte der Session hinaus war es noch jeden Augenblick möglich,
sie zu einem für die Regierung durchaus annehmbaren Vergleich zu bestimmen.
Mit dem siegreichen Kriege hatte sich der Wille oder die Hoffnung, die Armee¬
reform einfach wieder rückgängig zu machen, bei der großen Mehrzahl verloren;
nur einzelne unbelehrbare Köpfe hielten noch an einer so phantastischen Er¬
wartung fest. Damit war das Abgeordnetenhaus innerlich auf den Punkt vor¬
gerückt, auf welchem der König es haben wollte, als er die Aufrechthaltung
der Armeereform zum Mittelpunkt seiner ganzen politischen Haltung machte,
erst Schwerin, dann v. d. Heydt entließ, eine verfassungswidrige Preßver¬
ordnung sanctionirte und die büreaukratische Disciplinargewalt bis an die
äußerste Grenze gebrauchen ließ. Der König hatte in den Gemüthern der
Opposition den großen Zweck seiner Regierung erreicht: die Reorganisation des
Heeres wurde zwar noch immer nicht als gut, aber doch als nicht länger be¬
streitbar angesehn. Was noch daran bestritten wurde, war einestheils die
Höhe der Ausgaben und die Länge der Präsenzzeit, anderntheils der rechts¬
widrige Bestand. Ersteres ließ sich ermäßigen, ohne den Werth der neuen Ein¬
richtung irgend zu beeinträchtigen, wie der Kriegsminister selber wiederholt
sowohl öffentlich als vertraulich eingestanden hat; und letzterer, der Mangel
der Entstehung, ließ sich ja durch nachträglich eingeholte Zustimmung des Ab-
geordnetenhauses jeden Augenblick gut machen, sobald man einmal in der Sache
einig war. Die Verfassungslücke wurde bekanntlich erst entdeckt, als es galt,
sich gegen die Angriffe des Abgeordnetenhauses auf die Reorganisation aus
Sophismen eine Art scheinrechtlicher Schanze zu bauen. Der lange Kampf
mochte ein gewisses gewohnheitsmäßiges Attachement auch für dieses bloße Ver-
theidigungswerk erzeugt haben, aber besser war es doch, seiner gar nicht zu
bedürfen. Recht behaglich konnte einem ursprünglich biedern und rechtliebenden
Gemüth doch niemals darin werden.
Zu dieser Verbesserung der äußern Lage der Negierung durch den Krieg
kam die andere, ihr gestiegenes europäisches Ansehen. Unter dem Eindruck der
letzten aufregenden Erörterungen in beiden Häusern des Landtags haben Fort¬
schrittsredner und Schriftsteller sichs vergeblich mit dem Nachweis sauer werden
lassen, daß Herr v. Bismarck im Laufe der Schleswig-holsteinischen Verwicklung
doch eigentlich weder Courage noch Consequenz gezeigt habe, so daß man sich
am Ende wohl gar wieder nach den friedlich stillen Tagen des Grafen Bern-
fiorff oder des Baron Schieinitz zurücksehnen sollte, oder aber vorwärts nach
denen des General v. Manteuffel, in welchem dieselben Stimmen uns Herrn
v. Bismarcks präsumtiven Nachfolger vorzustellen lieben. Bis auf Weiteres
steht fest, daß Herrn v. Bismarcks Politik, gleichviel ob mehr durch Glück oder
mehr durch Verdienst, Preußens diplomatischen Credit mindestens ebensosehr
gehoben hat, als die schleswigschen Ereignisse Preußens militärischen Credit.
Diese Politik sieht sich augenblicklich allerdings wieder von wachsenden Schwie¬
rigkeiten umringt, allein sie arbeitet auf jeden Fall rüstig und unausgesetzt
gegen dieselben an. Durch sie sind wir aus der Idylle wieder zum Epos über¬
gegangen. Sie ist nicht unbedingt und einfach national, vielleicht auch nicht
immer gerade sehr loyal, sie leidet an einem noch ungehobener Reste innern
Widerspruchs, ihre Träger sind mitunter mehr als zwiespältig — aber sie streitet
doch für Preußens Machtstellung in einer Richtung, die mit der eigentlich na¬
tionalen der Hauptsache nach zusammenfällt, und sie ist sich ihrer hohen Auf¬
gaben, wie es scheint, ziemlich klar bewußt. Eben deswegen hat sie im Stillen
längst aufgehört, an dem Hader zwischen Krone und Abgeordnetenhaus ihr
Vergnügen zu finden. Sie begreift die darin liegende Schwächung nach außen
hin; und da im Innern dem Wesen nach erreicht ist, worauf es der Krone
und ihren jetzigen Rathgebern bei Eröffnung des Verfassungskampfes ankam,
da Interesse und Energie sich inzwischen nach außen gekehrt haben, so fangen
die Gesichtspunkte der auswärtigen Politik an, die der innern zu beherrschen.
Hierin liegt ein solcher Gegensatz zu der sogenannten Politik Olmütz, daß man
nicht begreift, wie oppositionelle Stimmen selbst in der Leidenschaft des Gefechts
noch von diesem Schreckbild den Mund voll nehmen mögen; hierin lag zugleich
die Handhabe, deren sich die liberale Mehrheit im Abgeordnetenhause zur Er¬
langung aller ihrer Zwecke bemächtigen mußte. Sie mußte eine Stunde ab¬
warten, wo Herrn v. Bismarck an der Unterstützung seiner Schleswig-holsteinischen
Politik durch die Landesvertretung besonders viel liegen mußte, und dann er¬
klären, unter Boraussetzung billiger Zugeständnisse in, der Verfassungsfrage sei
sie bereit, sich gegen Oestreichs Eifersucht und die haßerfüllte Angst des Par-
ticularismus aus seine Seite zu schlage».
Tugendhafte Kreisrichter werden sich vielleicht glücklich preisen, daß sie
vor jeder Versuchung auf solchen „Schacher" einzugehen bewahrt geblieben
sind. Aber der Abgeordnete Prince-Smith wird ihnen, wofern sie es wünschen,
gewiß mit der erschöpfendsten Bündigkeit auseinandersetzen, daß kein Grund
abzusehen sei, warum das volkwirthschaftliche Gesetz von Dienst und Gegen¬
dienst nicht auch in der Politik seine Geltung behaupten solle. Und um zur
Theorie das Exempel zu fügen, laden wir sie zu einem Rückblick auf die Ent¬
stehung der heutigen Versassungskrisis ein. Von Wagener über Wehrenpfennig
bis zu Engels sind heutzutage die Kritiker aller Parteien darüber im Reinen,
daß es die politische Pflicht des Herrn v. Vincke gewesen wäre, ein Tauschge¬
schäft zwischen seiner Partei und der Krone herbeizuführen, wonach diese ihre
Armeerefvnn gleich damals in etwas liberalisirter Form durchgesetzt, dafür aber
Reform des Herrenhauses und andere liberale Maßregeln zugestanden hätte. Das
wäre zwar auch gewissermaßen „Schacher" gewesen, hätte uns aber einen langen
fruchtlosen Verfassungsstreit erspart und die Befreiung Schleswig-Holsteins zum
Ausgangspunkt der deutschen Bundesreform gestempelt.
Ein Compromiß der angedeuteten Art hätte dann von vornherein abge¬
wiesen werden müssen, wenn die Absichten der Regierung mit Schleswig-Holstein
und die des Hauses schlechthin unvereinbar gewesen wären. Allein seit der
Ausstellung der preußischen Forderungen, die officiell, d. h. in Depeschen und
diplomatischen Auslassungen anfangs nicht einmal als ein Minimum auftraten,
läßt sich so etwas unmöglich behaupten. In ihr Detail braucht man sich vor¬
erst keineswegs einzulassen; im Großen und Ganzen entsprechen sie dem bundes¬
staatlichen Standpunkt der Majorität, und nicht an der preußischen Volks¬
vertretung konnte es sein, die Grenzen aufzusuchen, über welche hinaus Preußens
an sich verständige und gerechte, von der Nothwendigkeit eingegebene Forderungen
möglicherweise zu Härten gegen das Brudervolk führen könnten. Das Ab¬
geordnetenhaus konnte mit gutem Gewissen, gleichwie H. v. Sybel gethan,
diese Forderungen einfach unterschreiben. Auch nehmen wir nicht an, daß es
sich in seinem Gewissen davon abgehalten gefühlt hat, als es bei Gelegen¬
heit der Kriegskostenvorlage den noch etwas vageren michaelisschen Antrag ver¬
warf. Oder wenn es durchaus das Gewissen gewesen sein muß, so war es
die liberale, nicht die nationale Hälfte ihres Bewußtseins, was die Mitglieder
der Mehrheit abhielt, sich Herrn v. Bismarck auch nur soweit zu nähern. Nicht
das Selbstbestimmungsrecht Schleswigs-Holsteins, das preußische Verfassungs¬
recht dictirte ihr Nein. Sie verweigerten selbst derbundesstaatlichen
Politik der Regierung ihre Unterstützung aus Haß gegen Herrn
v. Bismarck und dessen College«. Die günstige, zur Versöhnung auf¬
gelegte Disposition, mit welcher sie auch in dieser Beziehung fünf Monate früher
in Berlin eingezogen waren, hatte unter den aufregenden, erbitternder Ein¬
drücken einer verlängerten und doch fruchtlosen Session wiederum ganz dem alten
absoluten Oppositionsgcfühl Platz gemacht, in welchem sie sich 1863 gelobt
hatten, mit diesen Ministern niemals Vertrag und Frieden einzugehen.
Die Session begann im Januar unter Aspecten, welche eine Verständigung
ziemlich leicht erscheinen ließen. Die obersten Interessen beider streitenden Theile
ließen sich gemeinsam wahren; was jedem das Theuerste war, das zu bekämpfen
konnte dem andern nicht langer als eine unabweisbare Nothwendigkeit gelten.
Aber die abstracte Möglichst einer Vereinbarung, welche in den Dingen lag,
wurde aufgewogen durch die Abneigung und Unfähigkeit, welche in den Personen
steckte. Anfangs freilich war man auf beiden Seiten auch dagegen noch auf
seiner Hut. Herr v. Bismarck zügelte die Zunge, die 1863 so schwer ver-
harschende Wunden geschlagen hatte, indem er dem Abgeordnetenhause seine
mehr herausfordernde als behagliche Gegenwart die ersten Monate hindurch
ganz entzog. Die Reden der Majorität verdienten sich von den Repräsentanten
der Regierung das Lob der Objectivitär, und ein vereinzelter Mißion in der
ungewohnten äußeren Harmonie, wie Grabows Aufzählung der Beschwerden
des Landes nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten, erstarb in den Wellen
der allgemeinen Consonanz. Wenn damals auf der Regierungsseite der Trieb,
auf Seite der Opposition das Vermögen zu einem Abschluß stark genug vor¬
handen gewesen wäre, so hätte die Session noch vor Ostern das erwartete große
Ergebniß liefern müssen. Aber beides mangelte.
Daß Herr v. Bismarck nicht auf Rosen gebettet ist, weiß jeder halbwegs
Kundige. In der Partei, welche ihn unterstützt, an dem Hof, welchem er an¬
gehört, und in dem Monarchen, welchem er dient, stößt er tagtäglich auf tausend
Hindernisse. Die Einen — Herr v. Gerlach, v. Kleist, Professor Hengstenberg
und Genossen — wollen gar nicht, daß es ihm mit der auswärtigen Politik
zu wohl gelinge; ihr beschränkter Sinn ist ausschließlich auf die inneren Gegen¬
sätze gerichtet, und sie besorgen nicht mit Unrecht, die nach außen gekehrte
Schneide des „königlichen Regiments" könne nach innen am Ende stumpf werden.
Die Andern gönnen sich oder Preußen zwar alle möglichen moralischen oder
unmoralischen Eroberungen, begreifen aber nicht, daß man dazu des .ohn«
mächtigen" Abgeordnetenhauses bedürfen könne. Dies sind diejenigen Gläubigen,
auf welche Herrn v. Bismarcks frühere Ermuthigungsprebigten, seine syste¬
matische Verhöhnung des Hauses und des ganzen parlamentarischen Wesens
eine zu starke, ihm selber jetzt unbequeme Wirkung gethan haben. Beide Frac-
tionen oder Stimmungen aber vereint haben ihm wiederholt Steine in den
Weg geworfen, wenn er einen ernsthaften Anlauf zur Verständigung mit dem
Abgeordnetenhause nehmen wollte. Zweimal glaubte er und der Kriegsminister
den König soweit zu haben, daß ein der Mehrheit sicherer Militärgcsetzentwurf
dem Hause vorgelegt oder im Hause als annehmbar bezeichnet werden könne,
— und beide Male strauchelten sie über eine Nebensache oder Kleinigkeit. Nur
eine ernstere Verlegenheit des Staates verspricht diese Schwäche des Versöhnungs-
triebeS, die aus dem doppelten Siegesgefühl des Staates und der Partei ent¬
springt, zu heben. Das correcte constitutionelle Mittel, Entlassungsgesuch der
Minister im Falle der Nichtzustimmung zu nothwendigen Maßregeln, liegt theils
der ganzen Anschauungsweise der Herren v. Bismarck und v. Roon zu fern,
theils mangelt ihnen für den Gebrauch desselben auch eine allerdings kaum
entbehrliche Sicherheit, die des Rückzuges an die Spitze einer mächtigen parla¬
mentarischen Opposition.
Der Majorität des Abgeordnetenhauses dagegen fehlt es an jeder wirk¬
samen Organisation. Ihre Scheidung in zwei große Clubs hat keine innere
Bedeutung mehr, da während der ganzen Session wohl nicht eine einzige Ab¬
stimmung vorgekommen ist, in welcher die beiden Fractionen geschlossen gegen
oder neben einander aufgetreten wären, dagegen verschiedene, welche beide
Fractionen in gleicher Auflösung zeigten. In der That halten dieselben nur
noch rein äußerlich zusammen; ihre immer seltener gewordenen Sitzungen haben
im Grunde keinen andern Werth mehr, als daß sie zwanglose Gelegenheiten
sind, um die Tagesordnung des nächsten Plenums einmal unter guten Freunden
bei Bier und Tabak vorher durchzusprechen, oder zu erproben, welcher Chancen
im Hause ein bestimmter Antrag sich zu erfreuen haben werde. Der Unterschied
zwischen der Fortschrittspartei und dem linken Centrum , beschränkt sich etwa
darauf, daß jene dem bureaukratischen Geschäftsbetrieb des Hauses, der alles
Wichtige in die Commissionen verweist und seinen Ruhm im Arbeiten sucht,
anstatt im Erfolg, nicht ganz so maßlos huldigt wie das letztere. Im linken
Centrum hat die Scheu der Herren Gneist und v. Bockum-Dolffs vor der
Oeffentlichkeit es glücklich dahin gebracht, daß alle innern Vorgänge mit einem
dichten Schleier überzogen und dem profanen Auge verdeckt geblieben sind.
Es ist ihnen gelungen, das „Amtsgeheimniß" zur Seele ihrer Parlaments¬
partei zu machen; um diesen Preis haben sie die Ihrigen zusammengehalten,
und verhindert, dah die Sorge um das persönliche Schicksal in so vielen un¬
bemittelten Beamten ansteckend übermächtig werde. Mit Ausnahme dieses
Unterschiedes aber und seiner unvermeidlichen Folgen wird niemand eine wesent¬
liche, charakteristische Differenz zwischen den beiden großen liberalen Clubs an¬
zugeben im Stande sein. Ihre selbständige Bedeutung hat sich während dieser
Session bis auf den letzten Rest verflüchtigt; die politische Anziehungskraft hat
sich in kleinere Kreise verlegt, die zum Theil nicht viel anders entstanden sein
mögen als durch den zufälligen Verkehr am Mittagstisch oder in der Abend¬
kneipe.
Wenn so in den Formen die Anarchie einreiht, ohne daß doch die wesent-
lichen sachlichen Gründe für das Zusammengehen aufgehört hätten zu wirken,
so bedarf es vor allem einer neuen Gruppirung und Organisation. Es muß
eine frische Vertheilung der Massen vorgenommen werden, und eine feste
Führerschaft muß sich bilden. Waldeck und Schulze-Delitzsch, Tochter und
Ziegler, Löwe und Becker gehören vielleicht immer noch in dieselbe allgemeine
Partei, solange die Verfassung nicht in ihre volle Kraft und Geltung wieder¬
eingesetzt worden ist, — aber nicht in denselben parlamentarischen Club. Ihre
Vereinigung zu einem solchen stärkt nicht, sondern schwächt die Gesammtkraft
der Partei, weil es die nothwendige Ausgleichung zwischen den in ihr coope-
rirenden verschiedenen Richtungen in zahllose Einzelkampfe zerreißt, anstatt daß
sie lediglich einmal, von Fraction zu Fraction stattfinden sollte. Es ist mög¬
lich, daß sich die Grundgedanken bisher noch nicht in allen Einzelnen hinläng¬
lich klar herausgebildet hatten. Die Schleswig.holsteinische Krisis mag auch hier
die Entwickelung für eine Weile unterbrochen und abgelenkt haben. Aber jetzt
haben sich die Dinge wieder nach ihrer natürlichen Schwerkraft zurechtgerückt,
das neue Element hat Zeit gehabt auch von einer trägeren Verdauung verar¬
beitet zu werden, und die lange aufgeschobene Auseinandersetzung in der Fort¬
schrittspartei, begleitet und erleichtert durch eine ähnliche im linken Centrum,
wird nun endlich erfolgen müssen. Die radicalen Freihändler Prince-Smith,
Faucher, Michaelis und Genossen sind ja bereits mit gutem Beispiel voran¬
gegangen.
Auf gleiche Art sollten die National gesinnten, d. h. diejenigen,
denen das Vorwärtskommen Preußens in Deutschland und zu¬
nächst in Schleswig-Holstein höher steht als der Ausbau des
preuß isch en Rechtsstaats, ihre Stärke in ein er Absonderung suchen,
die ihnen erlauben würde, die Güte ihrer Sache ungebrochen dar¬
zuthun, bevor sie sich etwa, um praktische Ergebnisse zu ge¬
winnen, mit weniger patriotischen Tendenzen auf Compromisse
einlassen.
Die Gesammtheit aber, die liberale Majorität, sollte neben solchen engern
Verbindungen völlig gleichgesinnt^ Geister nur eine einzige Parteiversammlung
und eine stehende, gegliederte Führerschaft haben, auch über die Landtagszeit
hinaus.
Die Fortschrittspartei ist vor vier Jahren ins Feld gerückt unter der
Führung einiger alten Kämpfer von 1848, Schulze-Delitzsch, Waldeck, v. Unruh,
neben denen die jüngeren Männer Jung > Lithauens damals noch eine ziemlich
bescheidene Rolle spielten. Vier Jahre haben indessen hingereicht zu zeigen,
daß es hierbei sein Bewenden nicht haben kann. Die Generation, welche 1848
auf der Höhe ihres männlichen Alters stand, ist den heutigen politischen Kämpfen
nicht mehr ganz gewachsen. Revolutionsepochen verbrauchen ihre Helden immer
rasch, und die für jene geeignetsten Naturen sind oft nur mäßig brauchbar
für eine Zeit langsamer, mühseliger Reform. Auch waren die dreißiger Jahre
selbst im Gegensatz zu den vierziger Jahren noch eine sehr ungenügende Bildungs¬
schule für Politiker. Schulze-Delitzsch hat sich um die Hebung des deutschen
Handwerker- und Arbeiterstandes unsterbliche Verdienste erworben, aber auf
dem Gebiet der Politik ist er von sehr viel weniger schöpferischer Ader. Bei
Waldeck und v. Kirchmann vollends geht alles Streben auf in einer ehren¬
werthen, aber beschränkten Schwärmerei für bestimmte Verfassungsrechte; darüber
hinaus sind sie banal oder gänzlich unfruchtbar. Wenn die Fortschrittspartei
aus einem losen, zerstreut fechtenden Haufen ein geschlossenes, actionsfäbigcs
Heer werden will, so muß sie damit anfangen, diese würdigen alten Herren
aus dem activen Kriegsrath in eine mehr ornamentale Stellung zu verpflanze»,
ähnlich der, welche früher Lord Lansdowne und bald voraussichtlich Lord Palmer-
ston unter den englischen Whigs einnimmt.
Eigentliche Führcrtalente scheinen unter den jetzigen liberalen Abgeordneten
nur etwa v. Forkenbeck. Gneist und Virchow zu besitzen. Tochter hat sicherlich
den vollen politischen Verstand, und Michaelis außer einer nicht unbedeutenden
Einsicht den Ehrgeiz, der dazu gehört; aber es bedarf außerdem auch einer
mehr äußerlichen, unmittelbar aus die Menschen wirkenden Begabung, und ob
ihnen diese ebenfalls eigen ist. steht wohl noch dahin. Eine wahrhaft herrschende,
überwältigende, hinreißende Persönlichkeit, wie sie sich in Georg v. Vincke leider
mit einer so ganz unberechenbaren Sinnesart, mit einem hartnäckigen Haften
an untergeordneten Gesichtspunkten, geringem Ueberblick und mangelhafter Hin¬
gebung verbindet — eine solche Persönlichkeit ist auf der ganzen liberalen Seite
des Hauses überhaupt nicht zu finden. Höchstens, daß v. Forkenbeck im Laufe
der Jahre zu einer solchen emporwüchse. Er hat auf jeden Fall eine bemerkens¬
werthe Anlage zu gewichtiger, würdevoller, feierlicher Beredsamkeit; und ganz
im Einklang mit dieser Naturgabe schont er seinen Ruf und spart sein öffent¬
liches Hervortreten für besondre außerordentliche Veranlassungen auf. In der
brennenden Frage des Verfassungsl'cunvfes aber, der Frage der Armeereform,
hat er zuerst, wenn damals auch erfolglos und also vielleicht verfrüht, den
allein heilsamen Weg des Compromisses mit sicherem Fuße beschriften. Das
war ohne allen Zweifel eine Führerthat. Er hat sie diesmal nicht wiederholt,
Vorsichtig abgehalten durch den Schatten des ersten Mißerfolgs; aber er wird
sie das nächste Mal wiederholen, wenn wir uns irgend auf ihn verstehen, und
dann mit Erfolg. So stumm-zurückhaltend v. Forkenbeck, so leichtflüssig hat
sich bisher die andere parlamentarische und politische Hoffnung der Fortschritts¬
partei gezeigt: Professor Virchow. Er geht in der Vielseitigkeit und Allbe¬
schlagenheit außerordentlich weit, — so weit, daß ohne ein ernstes dringendes
Motiv des Jmmervoranseins seine Urtheilskraft und Selbstbeherrschung in
Frage gezogen werden müßte. Allein er hat sich dafür doch auch bereits zum
schlagfertigsten Redner des Abgeordnetenhauses gebildet. Wer sich so wie er
in allen bedeutenderen Materien ohne Ausnahme einstudirt, dem kann man doch
nicht wohl Redewuth, nicht gerade unbändige Eitelkeit und am wenigsten viel¬
leicht Dilettantismus mehr vorwerfen, sondern muß annehmen, daß er die
Politik als sein eigentliches Fach ansieht. Natürlich kann auch ein Arbeits¬
genie wie Virchow nicht gleichzeitig in der Medicin und in der Politik allen
Zeitgenossen voranschreiten und wird daher über kurz oder lang eine Wahl treffen
müssen, die, wie wir vermuthen, auf die Politik fallen wird. Für die Medicin
hat er genug gethan, um in ihren Annalen fortzuleben; er wird politischen
Geschmack und Ehrgeiz genug besitzen, um zu wünschen, daß auch die politischen
Jahrbücher Deutschlands Grund erhalten ihn unter ihre bedeutenderen Namen
aufzunehmen. Wir billigen seine Haltung in der Schleswig-holsteinischen Sache
nicht, aber nicht davon ist hier die Rede, wie überhaupt nicht von der Richtung,
der er jetzt zugewendet ist, sondern von seiner Befähigung zur Führung einer
Partei, und da ist anzuerkennen, daß er in seiner Vielgewandheit. Arbeits¬
kraft, Schlagfertigkeit und Ruhe gewiß nicht unbedeutende Gaben besitzt.
Wenn sein College und Nebenbuhler Gneist größeren Scharfsinn, einnehmendere
Beredsamkeit und reicheres politisches Wissen aufzuweisen hat. so mangelt
diesem doch theils Stetigkeit und Einheit des Willens, theils eine gewisse all¬
gemeine Uebereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstande zu sehr, als
daß er Vichow mit Ueberholung bedrohen sollte. Graf Hegnenberg ist dem
Freiherrn v. Lerchenfeld auch an Feinheit des Verstandes und Reichthum des
Geistes bei weitem überlegen, aber doch hat dieser, nicht jener, Jahrzehnte
hindurch die bayerischen Altliberalen geführt.
Nur anerkannte, wirklich leitende Führer von überlegner Energie und Einsicht
können die große Lücke ausfüllen, die in der politischen Ausrüstung des Abge¬
ordnetenhauses augenblicklich noch zu bemerken ist: die Unfähigkeit, sich über
die einzelnen Aufgaben und Sorgen des Tages zur Gcsammtanschauung der
Lage des Vaterlandes und der Partei zu erheben. Bei der Masse der einzelnen
Mitglieder kann dieser Naturzustand politischer Nacktheit und Naivetät niemals
ganz verschwinden, — am wenigsten in unsern deutschen Verhältnissen, die es
so mit sich bringen, daß man heute Rechtsanwalt, Schullehrer oder Arzt ist
und morgen einer der Gesetzgeber der Nation. Darum gerade bedürfen vor-
wärtsstrebende Parteien des Führers, der ihren nothwendig befangenen
und begrenzten Blick auf den großen Zusammenhang der Dinge richtet.
Die technischen Arbeiten der Commissionen zu erledigen mag jedesmal den
sachverständigen und geübten Mitgliedern überlassen bleiben. Der politische
Führer aber muß jeder solchen Thätigkeit den Werth anweisen, welchen sie für
den parlamentarischen Feldzug im Großen und Ganzen besitzt; er muß verknüpfen,
was sich sachlich sondert, sobald die Verknüpfung, die gemeinschaftliche politische
Behandlung zweier oder mehrer Dinge einen praktischen Erfolg verspricht.
Eine Partei, die nicht im höhern Sinn des Worts Führer hat, kommt aller¬
dings nicht so leicht in die Lage, einen Kompromiß einzugehen, weil es ihr an
dazu geschickten und dasür Credit besitzenden Händen fehlt, — und es ist wohl
keine Frage, daß diese Consequenz der Führer!osigkeit der Fortschrittspartei von
ihren Ultras mit Behagen hingenommen wird, weil ein Ultra eben jeden
Kompromiß verabscheut. Indessen eine führerlose Partei ist nicht blos zu Ver¬
gleichen mit dem Gegner, sondern überhaupt zu jeder rechtzeitigen Bewegung
unfähig. Sie vermag ebensowenig siegreichen Krieg zu führen wie zweck¬
mäßigen Frieden zu schließen, es sei denn für die kurze Zeit, wo Stillstehen und
Schießen den Feind hinlänglich in Athem erhält. Die Fortschrittspartei hat
eben jetzt Anlaß, die Richtigkeit dieser Betrachtung praktisch zu erproben: ihre
mangelhafte Organisation hat sie bisher verhindert, ihre Stellung zur Militär¬
frage den Veränderungen in der thatsächlichen Lage und in der öffentlichen
Stimmung entsprechend aufs neue M fixiren, und plötzlich angeordnete Neu¬
wahlen könnten sie daher in arge Verlegenheit setzen. Es ist hohe Zeit, dieses
Versäumniß selbst unter den Erschwerungen der Periode zwischen zwei Landtags¬
sessionen nachzuholen. Es ist Zeit, daß der kämpfende preußische Liberalismus
wieder Führer bekomme und eine ununterbrochen wirksame vielseitige Or¬
ganisation.
Einen der wichtigsten Punkte bei Beurtheilung der Bedeutung der Schwur¬
gerichte bildet die Zusammensetzung, die Besetzung derselben mit Geschwornen,
die Art, wie die Urlisicn aller zum Geschwornendienst fähigen Einwohner eines
bestimmten Bezirkes und die aus jenen gezogenen engeren Listen der Geschwor¬
nen für eine bestimmte Schwurgcrichtsperiode des einzelnen Gerichtsortes ge¬
bildet werden. Hier ist der AnHall für Staatsanwalte, Richter und Laien,
welche fort und fort über den Mangel der zureichenden geistigen Ausbildung,
logischen Schärfe und Consequenz bei den Geschwornen klagen und deshalb
das Institut ganz verwerfen möchten; hier ist der Anhalt für eine feudale Re¬
gierung und ihre Parteimänner, die parteiische Ausübung der hochwichtigen
Geschwornenpflichten, zumal in politischen und Preßvergehen und Verbrechen
zu rügen und deshalb das Institut für jene Fälle zu beschränken und solche
Vorschriften in die Strafproceßordnung einzureihen, welche diese Parteiwirkung
unmöglich machen, vielleicht aber auch der Negierung Mittel an die Hand
geben, ihren eigenen Parteieinfluß bei der Bildung der Schwurgerichte geltend
zu machen.
Die Systeme über die Besetzung der Schwurgerichte unterscheiden sich
je nach der verschiedenen Auffassung dieser Gerichte, je nachdem man den
Geschwornendienst als staatsbürgerliche Last oder als Urwählerrecht oder als
Ehrenamt ansteht; serner je nachdem die Regierung das Schwurgericht mit Ver-
trauen oder Mißtrauen betrachtet. Letzteres war der Hauptgrund, weshalb man in
Frankreich seit 1796 die Gesetzgebung über die Bildung der Schwurgerichtslisten
elfmal geändert hat. Man unterscheidet aber vornehmlich zwei Grundrichtungen
dieser Bildung. Nach dem ersten System werden schon die Urlisten (d. h.
die Listen aller zum Geschwornendienst in einem bestimmten Landesbezirke
fähigen Einwohner) mit solcher Sorgfalt gebildet, daß in dieselben nur Ge¬
schworne mit voller präsumtiver Intelligenz und Unabhängigkeit aufgenommen
werden, so daß dem Loose überlassen werden kann, hieraus'die Geschwornen der
Dienstliste (d. h. der Liste aller für eine bestimmte Schwurgerichtsperiode eines
Gerichtsorts designirter Geschwornen) zu ziehen. Diesem System folgte die
Strafproceßordnung Nordamerikas und Braunschweigs. Nach dem zweiten
System wird die Urliste auf einer breiten Grundlage entworfen, zur Bildung
der Dienstlisten hieraus muß aber dann eine erhebliche Sorgfalt verwendet
werden. '
Betreffs der Bildung der Urlisten sind in den bestehenden Gesetzen wieder
folgende Richtungen zu unterscheiden. — Die erste: Alle Staatsbürger, welche
ein gewisses Alter haben und sich im Vollgenusse der bürgerlichen
Rechte befinden, kommen in die Urliste. Dies geschah z. B. in Frankreich
seit 1848. — Die zweite: Nur diejenigen Personen, welche gewisse Steuern
zahlen, gehören in die Liste. Hierbei faßt man aber entweder den höheren
Census als Vermuthungsgrund auf. daß die denselben zahlenden Personen die
nöthigen Eigenschaften der Geschwornen besitzen, oder man will nur den ärmeren
Bürger von der Last des Geschwornendienstes befreien. In dem einen Falle
können nur die Höckstbesteuerten Geschworne sein, (so in den Gesetzen von
Hannover, Preußen. Oldenburg), während in dem andern Falle nur ein geringer
Census verlangt wird. — Die dritte: Man verbindet den Maßstab der
Steuern mit dem der geistigen Fähigkeiten, indem man gewisse Per¬
sonen, die nicht die sonst nöthige Steuerhöhe entrichten, doch wegen ihrer
Stellung im Staate auf die Urlisten setzt. So war es in Frankreich von
1827—1848, und so ist es heute in den meisten Staaten Deutschlands. —
Die vierte: Die Wahl aller Bürger oder bestimmter Commissionen derselben
entscheidet in den einzelnen Bezirken über die Füllung der Urlisten. Erstere
Wahl gilt gesetzlich in der Schweiz, letztere speciell in Gens. Ein ganz eigen,
thümliches Gesetz gilt in Frankfurt, wo aus verschiedenen Körperschaften, von
denen jede eine gewisse politische Parteiung vertritt, die Wahlbehörde gebildet
wird.
Betreffs Bildung der Dienstliste aus der Urliste unterscheidet man folgende
Arten der Reduction. Man läßt nur das Loos entscheiden (so in Nordamerika,
in Braunschweiz, vrgl. oben), oder ein Volksbeamter reducirt die Urliste
(so der Sheriff in England), oder man überträgt das Amt einem Collegium
oder einzelnen Vertrauensmännern z. B. den Gemeinderäthen, Land¬
räthen, oder höhere Verwa ltungsb caude üben es aus. indem sie nur die
Fähigsten auf die Dienstliste setzen sollen.
Der heutige Besetzungsmodus in Preußen gründet sich auf die s§ 62 ff.
des Gesetzes vom 3. Januar 1849 und Artikel 53 ff. des Gesetzes vom
3. Mai 1852. Nach diesen Gesetzesstellen muß, wer die Fähigkeit eines Ge¬
schwornen haben soll, ein Preuße und 30 bis 70 Jahre alt sein, die bürger¬
lichen Rechte vollständig genießen, lesen und schreiben können, wenigstens ein
Jahr in der Gemeinde wohnen, in welcher er sich aufhält, und classificirte
Einkommensteuer oder wenigstens 16 Thlr. jährlich an Klassensteuer oder
20 Thlr. an Grundsteuer, ausschließlich der Zuschlage oder 24 Thlr. an Ge-
Werbesteuer zahlen oder zu zahlen haben, falls eine dieser Besteuerungsarten
bestände. Letztere Censusschranke greift jedoch nicht Platz bei Rechtsanwälten,
Notaren, Professoren, approbirten Aerzten und den Beamten, welche entweder
von dem Könige unmittelbar ernannt sind oder ein Einkommen von wenigstens
800 Thlr. jährlich beziehen. — Ausgenommen aber aus der Zahl der hiernach
Fähigen und zu Geschwornen nicht zu berufen sind 1) die Minister und Unter-
staatssecretäre, 2) die richterlichen Beamten, Staatsanwälte, Staatsanwalts¬
gehilfen, 3) die activen Militärpersonen, 4) die Regierungspräsidenten, Provinzial-
steuerdirectoren, Landräthe, Polizeipräsidenten, Polizeidircctvren, 5) die Religions¬
diener aller Konfessionen, 6) die Elementarschullehrer, 7) die Dienstboten,
Aus den hiernach zum Geschwornendienste fähigen Bewohnern der einzelnen
Theile Preußens entwickeln sich nun die Ur- und Dienstlisten der einzelnen
Bezirke folgendermaßen.
Zunächst die Urlisten legt für jeden landräthlichen Kreis jährlich im Sep¬
tember der Landrath an. für jede Stadt, die zu keinem landräthlichen Kreise
gehört, der Magistrat oder, wo kein Magistratscollegium besteht, der Vorstand
der Gemeindeverwaltung. In den Urlisten stehen alphabetisch, in Nummern,
nach Namen, Stand, Alter, Wohnort die Personen, welche in jeder Stadt,
jedem landräthlichen Kreise zu Geschwornen berufen werden können. Diese
Listen müssen an einem öffentlich bekannt zu machenden Orte drei Tage lang
zu jedermanns Einsicht offen 'gelegt werden. Wer mit Unrecht eingetragen
oder übergangen zu sein behauptet, meldet in dieser Frist seine Einwände zu
Protokoll. Ueber dieselben entscheiden die Behörden, welche die Urlisten ab¬
faßten; erachten sie sie als begründet, so berichtigen sie demgemäß die Liste
innerhalb drei Tagen nach obiger Frist. Außerdem müssen die Kreislandräthe
und Vorsteher der Gemeindeverwaltung über die Qualifikation der in die Ur¬
listen aufgenommenen Personen zum Berufe der Geschwornen mit den Directoren
der betreffenden Gerichte erster Instanz Rücksprache nehmen und die von den
Letzteren gemachten Bemerkungen in die Listen eintragen.
Nun die Dienstlisten. Nach Abschluß der Urlisten werden dieselben in
dem Regierungsbezirke dessen Regierungspräsidenten übersendet. Er stellt
sie definitiv fest und fertigt daraus für jeden Schwurgerichtsbezirk seines
Regierungsbezirkes eine besondere Jahresliste, dahinein er alle die Personen
der Urliste auswählt und einträgt, welche er zur Function als Geschworne für
das bevorstehende Geschäftsjahr geeignet erachtet. Daneben stellt er eine Liste
von Ergänzungsgeschwornen zusammen aus denjenigen Personen der Urliste und
zwar für jeden einzelnen Schwurgenchtsbczirk, welche am Sitze des Schwur¬
gerichts oder in dessen nächster Umgebung wohnen, in beliebiger Anzahl.
Vierzehn Tage vor dem Beginn jeder Sitzungsperiode des betreffenden
Schwurgerichts sendet der Regierungspräsident ein Verzeichnis; von 48 aus der
obigen Jahresdienstliste heraufgezogenen Personen an das am Sitze des Schwur¬
gerichts befindliche Gericht. Die Liste der Ergänzungsgeschwornen geht diesem
Gerichte vor dem Anfange des Geschäftsjahres zum Gebrauch während del
Laufes desselben zu. Der designirte Vorsitzende des Schwurgerichts reducirt
die 48 auf 30, und diese 30 Personen sind dann zu Geschwornen bei dem
Schwurgerichte für die bevorstehende Sitzungsperiode berufen und werden auf
den Eröffnungstag der Sitzungen geladen. Wer so als Geschworner an den
Verhandlungen des Schwurgerichts theilgenommen hat, darf ohne seine Ein¬
willigung während eines Jahres nicht wieder einberufen werden. Die Be¬
stimmungen über die Entlassungs- und Beurlaubungsgesuche der Geschwornen
dürfen wir hier übergehen.
Sind beim Beginn der Verhandlungen einer Schwurgerichtssache wegen
des Ausbleibens einzelner Geschwornen oder wegen der ihnen ertheilten Ent¬
lassung oder Beurlaubung weniger als 24 Geschworene vorhanden, so wird
vom Vorsitzenden des Gerichts die Zahl der Geschwornen aus der Er¬
gänzungsliste durch das Loos auf 30 ergänzt. Erscheinen später wieder so viele
der auf der Dienstliste befindlichen Geschwornen, daß mehr als 30 Geschworne
anwesend sind, so treten von den Ergänzungsgeschwornen in umgekehrter Reihen¬
folge, als in der sie gezogen sind, so viele zurück, daß überhaupt nur die
Zahl von 30 Geschwornen übrigbleibt.
Dem verhafteten Angeklagten muß am Tage vor der Verhandlung seiner
Sache die Dienstliste der Geschwornen dieser Sitzungsperiode zugestellt werden.
Der nicht verhaftete Angeklagte, bei welchem dieses nicht geschieht, ist dagegen
berechtigt, am Tage vor der Verhandlung seiner Sache und bis zum Beginn
derselben die Dienstliste beim Gerichte einzusehen oder eine Abschrift derselben
zu empfangen.
Die Bildung des Schwurgerichts für jede Sache erfolgt an dem Tage
chrer Verhandlung in öffentlicher Sitzung, in der der Borsitzende, der Gerichts¬
schreiber und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft zugegen sein müssen. Kommen
an demselben Tage mehre Sachen zur Verhandlung, so kann die Bildung
des Schwurgerichts für alle diese Sachen vor Beginn der Verhandlung der
ersten erfolgen. Das für die erste Sache gebildete Schwurgericht verbleibt auch
für die folgenden Sachen desselben Tages, wenn Staatsanwalt und Angeklagte
es genehmigen. Es muß indeß ein neues Schwurgericht für diejenige Sache
gebildet werden, welche erst am vierten Tage nach dem Tage der Bildung des
vorhergehenden Schwurgerichts beginnt. Streitigkeiten über die Bildung
des Schwurgerichtes entscheiden die Richter des dazu gehörigen Scbwur-
gericktshofs. s ^ /
Die Namen der 30 Geschwornen werden nun in Gegenwart des Staats¬
anwalts und Angeklagten aufgerufen, und die Namen der darauf antwortenden
Geschwornen legt der Gerichtsschreiber in die Loosungsurne. Aus dieser zieht
sie nach Umschüttlung des Gefäßes der Vorsitzende. Sogleich nach der Ziehung
jedes Namens erklären der Staatsanwalt, dann der Angeklagte oder Vertheidiger
ihren Willen durch die Worte „angenommen", oder „abgelehnt". Ablehnung
oder Zurücknahme derselben sind nach Ziehung des folgenden Namens ümm>
lässig. Die Gründe für die Ablehnung sollen nicht angegeben werden. Ab¬
lehnungen sind indeß nur so viele gestattet, als Geschworne über zwölf anwesend
sind; davon dürfen der Staatsanwalt einerseits und der oder die Angeklagten
nach vorhergehender Einigung andrerseits, jeder die Hälfte ablehnen; bei un¬
gerader Zahl darf die Seite des oder der Angeklagten einen Geschwornen
mehr als der Staatsanwalt ablehnen. Einigem sich die mehren Angeklagte
nicht über die Ablehnungen, so wird die Zahl derselben unter sie gleich ver¬
theilt; betreffs der nicht gleich zu theilenden Ablehnungen nennt das Loos den
dazu berechtigten Angeklagten. Die Reihenfolge der Ablehnungen bei den
Angeklagten hängt gleichfalls vom Loose ab. Eine diesem gemäß von einem
der Angeklagten ausgeübte Ablehnung gilt für alle.
Zwölf Geschworne müssen übriggelassen werden, sie bilden das Schwur-
gericht und nehmen bei Beginn der Verhandlung in der durch das Loos be¬
stimmten Ordnung ihre Sitze ein. Indeß kann der Vorsitzende noch vor der
Ziehung bestimmen, daß außer jenen zwölf noch einer oder zwei Ersatzgeschworne
gezogen werden sollen; hier vermindert sich dann die Gesammtzahl der zulässigen
Ablehnungen um die Zahl der Ersatzgeschwornen. Letztere treten in der
Reihenfolge ihrer Ziehung an die Stelle des oder der etwa ausgetretenen
ausfallenden Geschwornen. Daher müssen sie der ganzen Verhandlung, wie die
Geschwornen, nur auf besonderen Sitzen, beiwohnen.
Dieses sind die jetzt geltenden preußischen Vorschriften über die Bildung
des Schwurgerichts, sie gestatten im Vergleich mit den obigen allgemeinen
Grundsätzen der Einleitung einen Einblick, inwieweit das heutige preußische
Strafproceßrecht die geistige Fähigkeit der Geschwornen berücksichtigt und in¬
wieweit es einer Partei im Lande, besonders der Regierungspartei die Mög¬
lichkeit eröffnet, auf die Besetzung und Bildung der Schwurgerichte allgemein,
dann für die einzelne Schwurgerichtsperiode, endlich sogar für die einzelne
Schwurgerichtssache einzuwirken. Hinsichts letzteren Punktes sei nur darauf
verwiesen, daß die Verwaltungsbehörden gerade in den maßgebendsten
Zielpunken die Bildung der Ur- und Dienstlisten leiten, nämlich zunächst die
Landräthe für einen großen Theil der Urlisten, dann die Regierungspräsidenten
für alle Dienstlisten der Geschwornen und Ergänzungsgeschwornen. Wenn die
so präparirten Listen der 48 Geschwornen für die nächste Schwurgerichtsperiode
dem Vorsitzenden des Schwurgerichts, also einem Iustizbeamten, zugehen, kann,
falls zuvor eine parteiische Auswahl geschah, seine Reduction von 48 auf 30
Personen nichts mehr an dem Charakter der Besetzung ändern, — zumal ihm
meistens die Partcistellung der designirter Personen unbekannt ist, der Regieruns¬
präsident dagegen durch die Bemerkungen der Landräthe und Gemeindevorsteher
über die sogenannte „Qualification der Personen zum Berufe der
Geschwornen" in der Urliste vortrefflich unterrichtet wird. Hierzu kommen
dann noch die Ablehnungen durch den Staatsanwalt.
Die Motive des Gesetzes vom 3. Januar 1849, welche unsre Frage aus¬
drücklich die wesentlichste in Betreff der Schwurgerichte nennen, weisen zunächst
den Vorschlag ab, durch die politischen Urwähler die Geschwornen wählen zu
lassen. Das sei nicht eine Ausgabe der Urwähler, die nöthigen Rücksichten des
Schwurgerichts könnten dadurch zu sehr gefährdet werden. Durchaus erforderlich
sei. zu Geschwornen nur Personen zu berufen, die voraussichtlich ihre schweren
Pflichten mit Festigkeit und Umsicht erfüllen würden. Man weist dann auf die
großherzoglich hessische und bayrische Gesetzgebung, doch sei Preußen dadurch
besonders begünstigt, daß es die hierüber in den längst bestehenden Schwur¬
gerichten der Rheinprovinz gemachten Erfahrungen auf die andern Provinzen
anwenden könne. So habe man die rheinischen Borschriften über die Be¬
fähigung zum Geschwornen und über die Bildung der Geschwornenlistencherüber-
genommen. Aus die Vermögensverhältnisse der Personen müsse betreffs des ersteren
Punktes deshalb Rücksicht genommen werden, weil der Besitz größere Un¬
abhängigkeit und Festigkeit gegen alle Einflüsse von oben und unten gebe (?).
„Erst die Zukunft kann lehren, inwiefern bei der Berufung der Geschwornen
eine andre Grundlage sich annehmen läßt, ob namentlich die Geschwornen
aus der Gemeindevertretung hervorgehn oder gleich dieser von
den Gemeindewählern gewählt werden können. Dies wird aber
"se nach Einführung einer neuen Gemeindeordnung der weiteren Erwägung
unterliegen können."
Aus den Verhandlungen der Commission des Abgeordnetenhauses von
1861 — i8g2 über die hier besprochenen Gesctzesstellen erwähnen wir nur
Folgendes. Betreffs der oben besonders hervorgehobenen Vormerke, welche
von den Kreislandräthen und Gerichtsdirectoren über die Qualification der
Personen der Urliste zum Geschwornendienste in die Urliste gesetzt werden sollen,
Verweise die Commission darauf, daß die Kreisgcrichtsdirectoren die Qualification
chrer Gerichtseingesessenen für die Geschwornensunction besser kennen und be¬
urtheilen können als die Verwaltungsbeamten. Dann fügt sie sehr gravirend
für obige Vorschrift hinzu: Gerade das Urtheil der Gerichtsdirectoren
sei um so mehr zu berücksichtigen, als ihre richterliche Stellung dafür
bürge, daß sie dabei unbefangen und parteilos zu Werke gehn würden.
Auch dre Reduction der Geschwornen von 48 auf 30 durch den Vorsitzenden
des Schwurgerichts hält die Commission nicht für die Unabhängigkeit der
Stellung des Vorsitzenden gefährdend, aber gerade diese Reduction halte die
Garantie aufrecht, welche die öffentliche Meinung darin finde, daß die Fest.
Geltung der Dienstliste nicht ganz in die Hand der Verwaltungs-
beamten gelegt sei. Also selbst die oben für unbedeutend und gegenüber
der etwa parteiisch gebildeten Geschwornendienstliste für wirkungslos erklärte
Reduction gilt hier noch als Sicherung gegen den geradezu befürchteten Partei¬
einfluh der Negierung auf die Besetzung der Schwurgerichte.
Die Debatten des Abgeordnetenhauses über das Gesetz vom 3. Mai 1852
lassen uns nur vereinzelt noch klarer in die Bedeutung der hier ventilirten
Bestimmungen blicken. Der oben aufgeführte Steuersatz, welcher eine der
Grenzen der Fähigkeit zum Geschwvrncndienste bildet, wird hier ganz
besonders befürwortet. Möglichst niedrig und zwar innerhalb der obigen An¬
sätze müsse er gegriffen werden, damit man eine genügende Anzahl von fähigen
Personen und darunter besonders die Grundbesitzer erhalte; denn der Grund¬
besitz gewährleistet ein bedeutendes Interesse für die öffentlichen Angelegenheiten,
für die öffentliche Ordnung und Handhabung der Gesetze, zumal die Landleute
thäten sich durch gesundes Urtheil und Charakterfestigkeit hervor. Die Männer
des Volkes, der Praxis traten hier also dem obigen Motive der Regierung für
diese Gesetzesstelle geradezu entgegen und mit Recht.
Desto mehr Interesse und Belehrung in heiterm und ernstem, politischem und
unpolitischen Sinne bieten die Verhandlungen der ersten Kammer über unsre Frage.
Man verlangte: baß auch die praktischen Aerzte und Geburtshelfer wegen ihrer noth¬
wendigen und oft unvertretbaren Assistenz in Krankheitsfällen vom Geschwornendicnst
ausgeschlossen würden, begnügte sich indeß mit dem nicht parlamentarisch formulirten
Wunsche. Ebenso wies man darauf hin, daß eine Menge „sehr geeigneter und
wackerer Männer" durch den Steuercensus vom Geschwvrnenamte ausgeschlossen
seien. Man mußte indeß selbst hinzufügen, daß das Wie der Abhilfe eine
andre Frage sei. «.Ein Theil der im Census liegenden offenbar ungerechtfertigten
Schranke wird übrigens, wie oben gezeigt, durch die gesetzlichen Ausnahmen
von diesem Census auf geeignete Weise vermieden.) Ja der Freiherr v^ Herte-
feld ging so weit, trotz der bereits dreifach vorgesehenen Prüfung der Quali-
fication der designirter Personen noch statt des „lesen und schreiben können"
zu beantragen: Die betreffenden Personen müßten „die zur Geschwornenfunction
erforderlichen intellectuellen Fähigkeiten nachweisen", indem er sich klug und
feudal durch den Zusatz aus der Schlinge zog: Wie der Nachweis geführt
werden soll, bestimmt der Justizminister (!!). Solch ein Nachweis sei nöthig,
um §, 90 der preußischen Verfassung zu genügen, der die gesetzliche Qualification
der berufenen Richter verlangt. Geschworne seien zwar keine Richter, aber mit
diesen so eng verbunden, daß sie in den Folgen nicht getrennt werden könnten (?).
Sollte der Antrag nicht angenommen werden, so stellte er einen zweiten dahin:
— zu dem politischen Rechte, als Geschworner zu fungiren, kann niemand ge-
zwungen werden. Sollten in einem Schwurgerichtsbezirk von den zu diesem
Rechte berufenen so Viele dessen Ausübung verweigern, daß kein Schwurgericht
gemäß §. 82. gebildet werden kann, so erläßt der Ge.ichtshof das Urtheil ohne
Mitwirkung der Geschwornen. Unsre politischen Rechte seien nämlich allgemein
freiwillige. Er kenne „im Staatsorganismus nur drei Funktionen, denen die
Sicherheit der Person, materielles und geistiges Wohl ihrer Mitbürger anver¬
traut ist, ohne daß sie dazu ihre Qualification nachzuweisen verpflichtet sind,
nämlich die Geschwornen, Kammerdeputirten und Postillone."
Allein die letzteren zwei übernahmen freiwillig, die Geschwornen gezwungen ihr
Amt. Der Berichterstatter der Commission erwiderte hierauf sehr richtig und
maßvoll, der Antragsteller solle doch lieber sogleich direct die Aufhebung der
Schwurgerichte beantragen. Diese seltsamen Anträge des Freiherrn sielen mit
3 gegen 97 Stimmen.
Die Auswahl der Geschwornen aus der Urliste für die Dienstliste durch
die Regierungspräsidenten wurde selbst in diesem Hause angegriffen. Freiherr
v. Forstner wünschte eine Auswahl aus der Urliste für jede Sitzungsperiode
durch das Loos; denn eine einzelne Person werde bei einer so wichtigen Func-
tion immer mehr oder weniger befangen sein. —
Die neuentworfene preußische Strafproceßordnung hält —
freilich in der Absicht einer neuen Systemlostgkeit bei Auswahl der Geschwornen,
wovon unten gesprochen wird — im Wesentlichen die heutigen Vorschriften
über die Bedingungen zur Berufung als Geschworner in nur ver¬
änderter Ordnung aufrecht. Das Lesen- und Schreibenkönnen fällt bei ihr
hinsichts „der intellectuellen.Fähigkeiten" der Geschwornen aus. (Vergl. unten.)
Dieses dürfte gerechtfertigt sein; denn ein Maß intellectueller Fähigkeiten
liegt in dem Lesen- und Schreibenkönnen nicht. Andre Vorschriften der Regierung
ferner, deren Resultate freilich allmälig erst zu Tage treten, sichern die allge¬
meinste Verbreitung jenes Könnens; endlich dürfte der Census, wenn auch un¬
beabsichtigt, wie unten gezeigt wird, schon gegen Geschworne sichern, welche
dieser elementaren Kenntniß entbehren. — Den Census beschränkt der neue
Entwurf auf die obigen Sätze der Einkommen- und Classensteuer und deren
analog auf die Fälle, wo keine Classensteuer gezahlt wird, ausgedehnten Ma߬
stab. Denn nur diese Steuern geben einen sichern Anhalt für das reine Ein¬
kommen einer Person; Gewerbesteuer, Grundsteuer und> Gebäudesteuer ent¬
scheiden hierüber nicht. Sollte, sagen die Motive richtig, infolge dieser
Neuerung für einzelne Bezirke die Zahl der zu Geschwornen zu berufenden
Personen allzusehr beschränkt erscheinen, so würde eine Herabsetzung des Classen¬
steuersatzes in Frage kommen müssen. — Von den Ausnahmen dieses Census
im heutigen Strafprocesse (Rechtsanwälte, Notare, Professoren, Aerzte) ist in
dem neuen Entwürfe nach Vorgang des für Hohenzollern erlassenen Gesetzes
vom 30. April 1861 mit Recht Abstand'genommen. Die genannten Personen
sind meistens wegen ihrer Steuersätze dennoch als Geschworne wählbar; auch
müssen sie. was theilweise schon in den oben angeführten Verhandlungen betont
wurde, wegen ihres Berufes eher vom Geschwornendienste möglichst befreit
als besonders zu ihm herangezogen werden. Auch die neuen Motive weisen
hierauf hin. Betreffs der Beamten aber, die nach heutigem Rechte noch unter
die Ausnahme in oben angegebener Weise fallen, verändert der neue Entwurf
die Ausnahme dahin: Alle öffentliche Beamte sind von obigem Census ausge¬
nommen, wenn sie mit wenigstens 600 Thlr. besoldet werden. Die neuen
Motive halten es, namentlich mit Rücksicht aus die Städte, in denen keine
Classensteuer besteht, wünschenswert!), an der Besoldung der Beamten eine feste
Norm für ihre Wählbarkeit zu gewinnen. Die heutige Unterscheidung, je nach¬
dem die Beamten vom Könige unmittelbar' ernannt sind, oder nicht, ist glück¬
lich beseitigt; aber warum griff man den verhältnißmäßig hohen Maßstab der
600 Thlr. heraus? Er schließt eine Reihe von Beamten, welche nicht den ge¬
setzlichen Census erreichen und deren Gehalt leider unter 600 Thlr. beträgt,
vom Geschwornendienste völlig aus, während ihre in Amtssunctionen erheblich
ausgebildeten geistigen Fähigkeiten den Schwurgerichten vortreffliche Dienste
leisten, zur allmäligen Herausbildung Mitgeschworner für die tüchtige Erfüllung
ihrer Pflichten sich vorzüglich eignen und endlich den vielgehörten Klagen über
die Unbildung der Schwurgerichte unmittelbar abhelfen könnten. Dieser Mi߬
stand bleibt offenbar bestehen, selbst wenn man den Census hier auch gar nicht
als Maßstab der Fähigkeiten brauchte (s. unten). Es ist überflüssig, alle die hierher
gehörigen Beamtenklassen aufzuführen. Doch mag zum Ueberfluß darauf
verwiesen werden, daß selbst ein Haupttheil der außerordentlichen Professoren
der Universitäten, wenn überhaupt, so nur mit 400 Thlr. fest besoldet wird,
während sie meistens dem Census nach ebenfalls nicht zu Geschwornen wähl¬
bar sind und doch immer noch mehr Zeit und auch oft mehr Lust und Geschick,
als die älteren ordentlichen Professoren haben, ihren Pflichten als Geschworne
allseitig in dem eben angegebenen Sinne zu genügen.
Die erforderliche Eigenschaft, welche das heutige Recht in dem Ausdruck
„Vollgenuß der bürgerlichen Rechte" zusammenfaßt, zertheilt der neue Entwurf
in drei Momente: die Person muß 1) nicht infolge strafgerichtlicher Verurtheilung
die Befähigung, Geschworner zu sein, entbehren, 2) nicht der selbständigen Ver¬
waltung ihres Vermögens durch gerichtliches Erkenntniß entsetzt sein (wegen
Verschwendung, Wahn- oder Blödsinn). 3) nicht als Handelsmann. Schiffsrheder
oder Fabrikbesitzer in Concurs oder Fallimentszustand verfallen sein, ohne bis¬
her die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erlangt zu haben. Betreffs
des dritten Punktes erklären die Motive auch den gemeinen Concurs ganz
richtig als Grund. Personen vom Geschwornendienste auszuschließen. Diesen
Grund aber, wie ihm ähnliche, dz. B. criminelle Verurtheilung (ohne Ehrenstrafe)
wegen eines die allgemeine Achtung beeinträchtigenden Vergehens, sollen die
zuständigen Beamten bei Aufstellung der Dienstliste berücksichtigen, da daS
Gesetz sie nicht erschöpfen könne. Das Gesetz könne hier nur!die Mängel hervorheben,
welche die bürgerlichen Rechte schmälern, z. B. den kaufmännischen Concurs
gemäß §. 310 der Concurs-Ordnung vom 8. Mai 1855.
Endlich erklärt der Entwurf für vom Geschwornendienste befreit 1) die Mit-
glieder der beiden Häuser des Landtages für die Dauer der Sitzungsperioden
desselben; 2) die einmal mitwirkenden Geschwornen bis zum Schlüsse des nächst,
folgenden Geschäftsjahres. Im zweiten Falle wird also die Wiedereinberusung
des Geschwornen während dieser Zeit auch nicht mehr mit dessen Einwilligung,
wie im heutigen Rechte, zugelassen.
Ueber die allgemeine Qualification zum Geschwornen sprechen die
Motive sich dahin aus, daß der neue Entwurf dieselbe nicht nach gewissen
Kategorien ein für allemal festsetzen könne, noch wolle, daß sie vielmehr aus
individuellen Eigenschaften beruhe, welche bei jeder einzelnen zu wählenden
Person geprüft werden müßten. Dieses System (vielmehr diese Systemlosigkeit)
liege im Wesentlichen schon dem heute geltenden preußischen Gesetz vom
3. Januar 1849, so wie dem Frankreichs vom 4. Juni 1853 zu Grunde; nach
ihm beschränke sich die Gesetzgebung darauf, einmal die absolut unfähigen
Personen von vornherein auszuschließen und die wahlfähigen Classen der Gesell-
schaft zu begrenzen, sodann die zur Auswahl berufenen Behörden zu nennen.
Daß diese Sätze sowohl allgemein betreffs der Systemlosigkeit, welche hier
vielleicht reactionär-parteiischen Intentionen entspricht, als mit Rücksicht
auf das preußische Gesetz vom 3. Januar 1849, das gerade die Systeme
des Census und der geistigen Fähigkeiten vereinigt, nur theilweise richtig
sind, zeigen die vorausgeschickten Erörterungen; diese halbe Unrichtigkeit hat
indeß bei den Bestimmungen über die Qualifikation zum Geschwornendienste im
neuen EntWurfe deshalb nicht wichtige Folgen, weil er in diesen einzelnen Vor¬
schriften wesentlich die heute geltenden gesetzlichen Bestimmungen aufrecht hält.
Dies gilt selbst für den beibehaltenen Steuersatz der Wahlfähigen. Hier sagten
Zwar die neuen Motive, er solle keine Bürgschaft für die persönliche Be¬
fähigung gewähren, sondern nur bezwecken, die Personen vom Geschwornen-
dienst zu befreien, deren Heranziehung in Anbetracht ihrer Vermögens¬
verhältnisse eine Unbilligkeit sein würde. Allein die Feststellung desselben
Satzes in dem Gesetz vom 3. Januar 1849 erfolgte, Wie die darüber ge¬
pflogenen Debatten der Volksvertreter und vor allem die Motive der Negierung
zu jenem Gesetze lehren, gerade mit Rücksicht auf die darin ungefähr zu
messende und zu treffende geistige Fähigkeit und Unabhängigkeit. Erscheint dies
als eine vage. Vermuthung und Messung. so ist doch ebenso vage die neue
Motivirung, daß gerade dieser Steuersatz die Grenze zwischen unbilliger und
billiger Belastung der einzelnen Geschwornen bilde (eine Belastung im allge-
meinen Sinne ist es für jeden). Und eben weil — mit Ausnahme des Lesen-
und Schreibenkönnens — die Fähigkeitsbestimmungen des Gesetzes von 3. Ja¬
nuar 1849 beibehalten werden, offenbart sich auch die Inkonsequenz in dieser
Stelle des neuen Entwurfs. Denn, wenn einmal blos jeder einzelne Fall
systemlos in seiner Fähigkeit zu prüfen sein soll, wenn der Census nur der
unbilligen Belastung wehren soll, warum werden dann doch zwei Grenzen für
das nöthige Alter, drei Grenzen für die nöthige Ehrenhaftigkeit und Rechts¬
fähigkeit aufgestellt, und warum nimmt der neue Entwurf dann doch von dem
Census die Beamten mit 600 Thlrn. Gehalt aus und erklärt sie auch ohne
Census für wählbar zum Gcschwornendienst? Daß endlich bei Durchführung
des Census nur als angeblicher Grenze der billigen Belastung die Urlisten in
ihrem Kerne, geistig fähige und charakterfeste Personen zu bieten,
beeinträchtigt werden, liegt auf der Hand, wenn wir der bekannten socialen
Mißverhältnisse zwischen durchgängiger Vertheilung der geistigen Bildung und
des materiellen Besitzes gedenken. Ein Beispiel aus der Reihe der Beamten
ist oben schon angeführt. Also beeinträchtigt der neue Entwurf geradezu die
geistige Emporbildung der Schwurgerichte, die doch, wenn dieses wichtige In¬
stitut einmal beibehalten werden soll, allseitig gewünscht wird und dringend
nöthig scheint. — Näher auf den wichtigen Punkt einzugehen, verbietet der
Ort dieses Aufsatzes.
Auch hinsichts der Bildung der Urlisten bleibt der neue Entwurf, ab¬
gesehen von einigen unbedeutenden Aenderungen, bei den heutigen Vorschriften des
Strafprocesses. Nur eine Neuerung ist wesentlich. Nicht mehr mit dem Ge-
richtsdirector erster Instanz bespricht der Landrath oder Magistrat die Qualification
der einzelnen Personen der Urliste, sondern der Landrath, in den Städten der
Magistrat, soll allein handeln. Wir verweisen darauf, wie wichtig den Be¬
rathern unsrer heutigen Strafproceßordnung gerade die Zuziehung der richter¬
lichen Person hierbei erschien, und wie man in ihr eine Schranke gegen politische
Beeinflussung der Schwurgerichtsbesetzung durch die Regierung und ihre Ver¬
waltungsbeamten sah. Wenn das im Jahre 1851 der Fall war, so dürfen wir
heute, wo der Parteieifer viel höher fluthet, .nimmermehr diese Stütze der
inneren Freiheit und Gerechtigkeit opfern. In dem neuen Entwurf ist dieser
Punkt gerade umgekehrt, wie im geltenden Strafproceß vorgeschrieben. Denn
heute muß der Landrath nach Besprechung mit dem Gerichtsdirector lediglich
„die von dem Letzteren gemachten Bemerkungen in die Liste eintragen" (Art. 67
des Geh. v. 3. Mai 1862), nach dem neuen Entwurf soll der Landrath
ohne solche Rücksprache nur seine eigenen Bemerkungen darin verzeichnen.
Für die Dienstlisten aber soll eine wesentliche Neuerung eintreten. Der
Regierungspräsident stellt die Urlisten für jeden Schwurgerichtsbezirk fest
und sendet sie nebst den Bemerkungen des Landraths oder Magistrats sogleich
an den ersten Präsidenten des Appellationsgerichts, und dieser ent¬
wirft daraus die Jahresdienstliste der Geschwornen. In derselben Weise wird
von ihm aus Personen, welche am Sitzungsortc des Schwurgerichtshofs oder
in dessen nächster Umgebung wohnen, eine Liste der Ergänzungsgeschwornen
zusammengestellt. In jeder Liste müssen doppelt so viele Personen, als das
Bedürfniß erfordert, stehn. Beide Listen überschickt derselbe darauf dem Ober¬
staatsanwalt und für den Sprengel eines jeden Collegialgerichts erster In¬
stanz dem Präsidenten oder Director desselben. Diese Beamten haben
sich in 14 Tagen über die Qualification der aufgeführten Personen zum Ge-
schwornendienstc schriftlich zu äußern. „Die Wahl der Mittel, um sich die
hierzu erforderliche Kenntniß zu verschaffen. ist ihrem pflichtmäßigen Ermessen
überlassen." Nach Eingang dieser Aeußerungen reducirt der erste Präsident
des Appcllationsgerichts die Listen auf das vorhandne Bedürfniß und stellt
sie damit fest. Im Weiteren soll dann unser heutiges Verfahren wieder Platz
greifen.
Die Motive zu dieser Neuerung fordern. daß. wer die Dienstliste feststellt,
möglichst den Wünschen der in die Urliste eingetragenen Personen fern stehe;
von letzteren begehrten meist die Fähigen eine Befreiung vom Dienste, die
Unfähigen eine Berufung. Da nun für den allerdings personenkundigeren
Regierungspräsidenten doch die Bemerkungen des Landrat.hö allein maßgebend
sein würden, müsse ihm der Chefpräsident des Appellationsgerichts vorgezogen
werden, für den jene Bemerkungen auch nutzbar gemacht werden konnten.
Denn durch diese Neuerung erst werde die Feststellung der Dienstliste in den
Mittelpunkt der schwurgerichtlichen Rechtspflege verpflanzt und den richterlichen
Beamten anvertraut, der das unmittelbarste Interesse dabei habe, daß jene Rechts¬
pflege in seinem Departement sachgemäß gehandhabt werde, und der zugleich
in der Lage sei. bei der Aufstellung der einzelnen Sessionsverzeichnisse auf die
Eigenthümlichkeit der anstehenden Sachen Rücksicht zu nehmen. Nun müsse
seine Information über die einregistrirteü Personen möglichst vollständig ge¬
macht werden: daher die eben erwähnte mehrfache Begutachtung der Gerichts-
ldirectoren und selbst des Oberstaatsanwalts. Die proccssualische Stellung des
Letzteren könne kein Hinderungsgrund sein, seine Personcnkenntniß zu verwerthen,
zumal ja hier das Gutachten über bestimmte Personen der Liste erfolge und die
Schätzung des Gutachtens allein beim Chefpräsidenten stehe, „-welches durch
die Vergleichung mit den gutachtlichen Aeußerungen der andern zur Mitwirkung
berufenen Beamten geleitet werden kann/
Da liegt des Pudels Kern. Wozu noch die vielen beschwichtigenden Mo¬
tive? Sie verrathen den Punkt nur deutlicher. Zwar der richterliche Beamte
steht jetzt an Stelle der Verwaltungsbehörde (des Regierungspräsidenten). Aber
dieser letztere hat noch die Hand im Spiele, er stellt noch die einlaufenden Ur-
iisdem für die Schwurgerichtsbezirke fest, und zwar auf Grund seiner eigenen Personal¬
kenntniß und der Vormerke des Landraths, also wieder eines Verwaltungs-
beamten, oder des Magistrats. Der Chefpräsident des Appellationsgerichts ist
allerdings Richter, doch bekanntlich heute mit sehr wenigen Ausnahmen hochcon-
servativ. Derselbe wird allerdings die Personen der Urliste zum kleinsten Theile
kennen, dafür liegen dann die Vormerke des Landraths vor ihm. Nun erhält
er dazu noch die des betreffenden Gerichtsdirectors oder Präsidenten und die
des Oberstaatsanwalts; die des ersteren stehen keineswegs, wie die neuen Motive
uns weiß machen wollen, denen des oben erwähnten heutigen Gesetzes gleich.
Denn heute bestehen daneben, wie gezeigt, keine Bemerkungen eines Landraths
oder sonst einer Verwaltungsbehörde, im neuen Entwürfe aber gesellen sich dazu
außer den Notizen des Landraths noch die des Oberstaatsanwalts; nach heutigem
Rechte ferner giebt das Gericht seine Bemerkungen zur vollen Urliste, und daraus
entwickelt sich dann die Dienstliste, nach dem Entwurf aber wird die schon
fertige Dienstliste erst den Gerichtsdirectoren übersandt. Und nun die Be¬
merkungen des Oberstaatsanwalts. Er ist recht eigentlich Partei in den Processen,
zu denen er sich jetzt das Schwurgericht selbst aussuchen soll; er hat die An¬
klagen gefertigt, er weiß, welche Sachen vorkommen, welche Gesichtspunkte,
welche Parteistellungen dabei maßgebend sein werden, seine Beamten erster
Instanz, ja wohl gar er selbst fungiren vor dem von ihm ausgesuchten Schwur¬
gerichte als Ankläger, endlich — er ist Verwaltungsbeamter und steht unmittel¬
bar unter dem Justizminister, „dessen Anweisungen er nachzukommen hat", und
ihm. der an sich schon die ganze Legion der ländlichen und städtischen Polizei-
und Verwaltungsbeamten an der Leine hat, giebt hier das Gesetz noch unbe¬
schränkt die Wahl der Mittel anheim, sich die erforderliche Kenntniß von der
Qualifikation der eingelisteten Personen zu verschaffen. Müssen nicht seine
und des Landraths voraussichtlich übereinstimmende Vormerke (der Oberstaats¬
anwalt wird oft den Landrath selbst wieder über die Qualification befragen,
dessen Vormerke doch selbständig gelten sollen) als diejenigen einer gleichgeord¬
neten Behörde weitaus die Notizen der dem Appellationsgerichte untergebenen
Gerichtsdirectoren und Präsidenten erster Instanz an Wirkung übertreffen? Nein!
Wir danken für das auffallend liberale Geschenk des feudalen Herrn Justiz-
ministers und seines streng conservativen Herrn v. Schilling, wir behalten
lieber trotz aller gerügten Mängel unsere heutigen Vorschriften von der Bildung
der Schwurgerichte, mögen darin Landrath und Regierungspräsident auch noch
so sehr für die Partei der Regierung wirken. Zumal so lange unser A und O
nicht existirt, so lange die Schwurgerichte nicht über die politischen Preßver¬
gehen und Verbrechen richten, wird der Einfluß jener Behörden nicht zu schädlich
wirken.
Der neue Entwurf beeinträchtigt, wie gezeigt, gerade die beiden an die Spitze
dieses Aufsatzes gestellten Hauptrücksichten für die Bildung der Schwurgerichte:
er vernachlässigt ihre geistige Qualifikation und Entwicklung, und er untergräbt
ihre Unabhängigkeit.
Selten wohl ist ein General Gegenstand eines so allgemeinen Hasses ge.
worden, als seinerzeit der östreichische Feldzeugmeister v. Haynau, „dieHyäne
Von Brescia". der Henker Bathyanys und der arader Generale. Selten aber
auch ist ein hervorragender Feldherr von den Geschichtschreibern der nächsten
Jahre nach seinen Leistungen so wenig mehr erwähnt worden. Eine eigene
Scheu vor dem Ruf, mit ihm in näherer Verbindung gestanden zu haben,
schien selbst unter seinen früheren Anhängern zu herrschen, und so erklärt sichs.
daß er lange Zeit keinen Biographen fand, während viele andere nach Rang.
Befähigung und Leistung weit unter ihm stehende östreichische Generale den
Federn unsrer Lobschreiber ausgiebige Beschäftigung gaben.-
Ein ziemlich renommirter Militärschriftsteller, der vor zwei Jahren ver
storbene General Heller, unterzog sich dieser Aufgabe endlich, kurz nach dem
Tode Hayncms. Das Werk, welches seinerzeit von der östreichischen Censur
unterdrückt wurde,>) nun aber im Ausland für den Druck vorbereitet wird, ist
Zwar keine eigentliche Biographie, sondern eine ziemlich lose aneinandergereihte
Sammlung von Anekdoten und Charakterzügen, verdient aber doch Beachtung,
weil der Verfasser den Charakter und die Handlungsweise des Generals von
einem ganz neuen und, wie uns scheint, ziemlich richtigen Standpunkte beurtheilt.
Unsre Schrift bemerkt ganz richtig, daß Haynau nicht nur von der aus.
ländischen Presse auf das heftigste angegriffen werden durfte, sondern daß man
auch den östreichischen Blättern durch die Finger sah, wenn es sich um den
Feldzeugmeister handelte, während sonst die geringfügigste Aeußerung, durch
welche der Respect gegen einen k. k. General verletzt wurde, mit unnachsicht-
licher Strenge bestraft zu werden pflegte. Haynau mußte also gewissermaßen
als Prügelknabe herhalten, um die Sünden anderer Generale vergessen zu
machen. Warum man gerade ihn dazu erwählte, ist unschwer zu errathen.
Er war zunächst Ausländer und dann besaß er wirkliche Befähigung, zwei
Eigenschaften, die ihn dem Hasse der Untergebenen und dem Mißtrauen der
Großen aussetzen mußten. Allerdings nur in ihrer Verbindung; denn Aus¬
länder von geringer oder mittelmäßiger Begabung finden, wie manches Beispiel
zeigt, in der östreichischen Armee gewöhnlich das beste Fortkommen.
Ferner aber wurde Haynau trotz seiner Abkunft von den Hocharistokraten
im Heere doch nur als ein Emporkömmling, als ein Plebejer besserer Sorte
betrachtet und zwar vielfach benutzt und gesucht, aber in geselliger Beziehung
nur geduldet. Man mochte ihm wohl einen reichlichen Lohn für seine Leistungen
gönnen, aber nimmer konnte man ihm verzeihen, daß er. ohne Graf oder
Fürst zu sein, Bedeutendes leistete, und daß er andrerseits die Vorzüge der
Geburt so wenig zu achten wußte. Ihm fehlte die Gewandtheit Benedels,
welcher unter dem Deckmantel einer auf die Spitze getriebenen militärischen
Barschheit und Aufrichtigkeit die feinsten Komplimente anzubringen und die
geheimsten Wünsche seiner Oberen zu erspähen versteht, und darum mußte er
auch überall anstoßen.
Dies bewährte sich schon zu der Zeit, als Haynau sich noch in unter¬
geordneter Stellung befand. Raub und rücksichtslos, nur selten den Befehlen
weniger befähigter Obern ohne Murren sich fügend, lebte er fast stets im Con¬
flicte mit seiner Umgebung. Nur einem Einzigen gehorchte er damals wie in
späterer Zeit mit blindem Gehorsam — dem alten Radetzky. für welchen er
eine fast unbegrenzte Verehrung hegte. Indessen half ihm in früherer Zeit die
Protection seines Vaters über alle Schwierigkeiten hinweg, und später, als man
seine Brauchbarkeit erkannt hatte, ließ man sich von ihm nothgedrungen Manches
gefallen. Als er (noch vor 1848) FeldmarschaMicutenant wurde, besaß er in
der Armee bereits einen gewissen Ruf, den er freilich mehr seinen Bizarrerien
als bedeutenden Leistungen, von welchen in der damaligen Fricdensepoche auch
nicht die Rede sein konnte, zu verdanken hatte. Gerade damals trat ein Wende¬
punkt in seinem Schicksal ein, und es fehlte wenig daran, daß er seinen Abschied
begehrt hätte. Er fühlte sich dazu sowohl durch ein länger 'dauerndes Magen¬
leiden als durch seine 1847 verfügte Versetzung nach Temesvar veranlaßt. In
dieser Festung- kam es zwischen ihm und den andern Generalen zu ziemlich argen
Streitigkeiten. Noch peinlicher wurde seine Stellung nach den Märztagen.
Doch war es wohl weniger sein Verdruß über das neue System, als seine
Unzufriedenheit mit den dasselbe vertretenden Personen, was ihm den Aufenthalt
in Ungarn verleidete. Er war ein echter Lohnsoldat, der sich nicht aus Gefühl
oder Ueberzeugung einer Partei anschloß, sondern dreinschlug. wo er eben stand,
und wenn sein Brodgeber es befahl. Wäre er auf der Seite der Magyaren
gewesen, er würde die kaiserlichen Generale mit derselben Gelassenheit haben
aufhängen lassen, wie später die ungarischen. Jedenfalls aber würde er der
ungarischen Armee bessere Dienste als Vetter. Perczel. Dembinsky und Meßaros
geleistet haben, da er größere Energie besaß und eine strengere Disciplin
erhalten haben würde.
Bald nach den Märztagen, als die Nationalgarten und die ersten Honved-
bataillone errichtet wurden und die Wirren mit den Südslaven begannen, hatte
Haynau eine längere Unterredung mit einer hervorragenden Persönlichkeit der
ungarischen Partei, mit dem nachmaligen Kriegsminister Unlieb. „Ich sehe recht
gut. wohin die Geschichte hinausläuft." soll er sich geäußert haben, „aber eS
wird schief gehen, wenn Ihr es nicht besser anpackt. Unter Euch sind keine
Männer, wie sie dazu gehören. Keine Energie, kein Plan, kein Zusammen-
seifen. Schade um jede Mühe, die sich Eure Patrioten geben, es müßten
denn die Unsern ganz kopflos werden. Schaut nach Italien, die stellen es
dort besser an. und am Ende — werden sie auch nichts ausrichten. Ich möchte
nicht hier sein, wüßte aber, was zu thun. — Nun vielleicht sehen wir uns
wieder."
In Italien war Haynau an seinem Platze; denn hier brauchte er alles
nur vom militärischen Standpunkte aus zu behandeln. Radetzkys Milde übte
auch auf ihn einen gewissen wohlthätigen Einfluß und hielt ihn wenigstens in
dem ersten Feldzuge von gar zu argen Ausschreitungen zurück.
Seine militärischen Leistungen in diesem Feldzuge waren wirklich ausge-
zeichnet und sein zu Gunsten des stark bedrängten Radetzky aus eigenem An-
triebe ganz überraschend ausgeführter Ausfall aus Verona, dessen feindlich ge-
sinnte Bevölkerung er nur von einigen Bataillonen bewachen ließ, war ein eben¬
so glücklicher als verwegener Zug. Darum mochte ihn auch Radetzky ausge-
wählt haben, als er sich zu dem Angriff auf Karl Albert rüstete und eines
verläßlichen Rückhalts bedürfte.
Wie würde wohl der Tag von Varese im Jahre 1869 geendet haben,
wenn sich an der Stelle des Generals Urban ein Mann von Haynaus Schlage
befunden hätte.
Nun beaann die eigentliche selbständige militärische Thätigkeit HaynauS.
Die erste Probe davon war die Bezwingung des empörten Brescia. Haynau
that hier kaum mehr, als was d'Aspre. Melden oder Benedek an seiner Stelle
gethan haben würden, und was Pelissier, Se, Arnaud, Cialdini, Bazaine.
und so viele andere französische, englische und italienische Generale der neusten
Zeit in ähnlichen Fällen wirtlich gethan haben. Er vollführte den ihm gewor¬
denen Auftrag und kümmerte sich wenig darum, ob von den ihm fremden
Italienern einige Hundert mehr oder weniger auf dem Platze blieben. Der
einzige Unterschied war der, daß er Thaten dieser Art nicht zu lciugnen oder
zu beschönigen suchte, wie es seinerzeit mit den von den Polacken des Grafen
Auersberg und den Kroaten des Barus Jellachich verübten Grausamkeiten
geschah. Wenn er sich damit zum „Wauwau" der Völker machen wollte, so
gelang ihm dieses vollkommen. Nach der Wiederbesetzung Ofens erließ er
bekanntlich an die Bewohner der Schwesterstädte eine in dem drohendsten
Tone abgefaßte Proclamation mit dem Schlußsatz: „Denkt an Brescia!"
Und später, als er sich schon im Ruhestand befand, zeigte er den ihn Be¬
suchenden einige mit silbernen und goldenen Armbändern, Ohrringen, Uhr¬
gehäusen, Tafelgeschirr und ähnlichen Dingen gefüllte Koffer als „aus Brescia
herrührend". Der Verfasser unsrer Schrift glaubt. Haynau sei nur gegen die
Italiener und Ungarn so hart gewesen, und würde gegen Deutsche und ins¬
besondere gegen Oestreicher sich nicht haben gebrauchen lassen! Wir bezweifeln
die Richtigkeit dieser Meinung. Gerade weil er ein Lohnsvldat war, kannte er
keine Vorliebe für eine bestimmte Nationalität, einen Staat oder eine besondere
Provinz. Seine Grausamkeit war kosmopolitischer Natur und in der Regel
ohne Leidenschaft. Nur Trotz oder Feigheit des Gegners und Energielosigkeit
seiner Untergebenen konnten ihn zu wirklicher Erbitterung bringen, und dann
war ihm keine Strafe zu grausam, während er sonst vielleicht kaum ahnte, daß
seine Strenge das Maß überschritt. Wenn die Brescianer in dem Momente,
wo sie die Nutzlosigkeit weiteren Kampfes erkennen mußten, sich ihm ergeben
und zugleich seiner Eitelkeit ein wenig geschmeichelt hätten, sie wären jedenfalls
besser davon gekommen. Der Besatzung von Komorn. die bei aller Tapferkeit
und trotz der Stärke der Festung endlich doch hätte capitulircn müssen, bewilligte
er weit günstigere Bedingungen, als der Feldmarschall Nugent hatte zugestehen
wollen, blos weil er es war, dem sich die bisher jungfräuliche Festung ergab.
Einen Spion-, welcher sich durch die Angabe seiner Mitgenossen zu retten suchte,
ließ er aufhängen, die Andern aber, als sie sich schon auf das Aergste gefaßt
gemacht hatten, ohne weitere Strafe laufen. Einst bezeichnete er einem
Offizier mehre Personen, welche im Fall einer Annäherung des Feindes so¬
fort erschossen werden sollten, um die Bewohner eines gewissen Ortes von
einer etwaigen Erhebung abzuhalten. Der Offizier ließ diesen schrecklichen Auf¬
trag unausgeführt, wußte aber durch sein ebenso entschlossenes als cinsichsvolles
Verfahren jedem Aufstand vorzubeugen und erklärte dem ihn später zur Rede
stellenden General, daß er die Vollziehung eines solchen Befehles für eine zweck-
lose Grausamkeit angesehen und auch ohne dieselbe die Ruhe aufrecht zu erhalten
verstanden habe. Und Haynau schwieg, wiewohl er kurz vorher einen jungen
Lieutenant, welcher in einem italienischen Gebirgsdorfe aus eigener Machtvoll¬
kommenheit das Standrecht verkündet und acht bis zehn ihm bedenklich er¬
scheinende Individuen hatte erschießen lassen, für das Vorbild aller Offiziere
erklärt hatte.
Indessen hob die Bezwingung Brescias den General in der Meinung der
meisten Generale noch höher, wenn auch Radetzl'y die dabei vorgefallenen
Greuel unverhohlen mißbilligte. Die Ausgabe, das seit so vielen Monaten allen
Anstrengungen der Oestreicher trotzende Venedig zu unterwerfen, glaubte man
keinem Andern als Haynau anvertrauen zu dürfen. Und er bewirktes auch
in wenigen Tagen. was Andere in mehren Monaten nicht hatten zu Stande
bringen können. Mit den größten Anstrengungen und Geldopfern wurde ein
imposanter Belagerungspark zusammengestellt, und damit das Fort Malghera
durch ein nur zweitägiges, aber fast beispiellos heftiges Feuer zum Falle gebracht.
Haynau bewies hier, sowie bei mehren späteren Gelegenheiten, daß er, obgleich
kein Artillerist von Fach, die Verwendung der Geschütze besser verstand, als die
meisten andern Generale, z. B. der von Schmeichlern so hoch gepriesene
Melden, welcher die vortrefflich armirte Festung Palmanuova durch das Feuer
eines einzigen Mörsers bezwingen zu können glaubte und vor Komorn die in
nncr Schanze aufgestellten schweren Bombenmörser wie leichte Feldgeschütze
üegen die feindlichen Truppen vorrücken lassen wollte.
Der Erfolg vermehrte Haynaus Ansehen bedeutend. Die Unterwerfung
der Magyaren war. wie man nun erkannte, nur durch die Aufbietung einer un¬
geheuern Uebermacht und die Anwendung der äußersten Mittel möglich, und
zu den äußersten Mitteln gehörte in erster Reihe die Ernennung Haynaus
zum Feldzeugmeister und Oberbefehlshaber der östreichischen Truppen in
Ungarn. Die ihm ertheilte Vollmacht war groß, aber man bereute auch
sehr bald, daß man ihm so viel gegeben, und die Anwesenheit des Kaisers bei
der Armee hatte den Zweck, die Thätigkeit Haynaus zu überwachen und zu
beschränken. Dieser war jedoch nicht der Mann. Rücksichten zu nehmen, und
sehr bald hatte er die ihn beengenden Fesseln abgeschüttelt. Bei dem Einzuge
in Raab erblickte der Feldzeugmeister ein Mädchen aus achtbarer Familie,
welches eine tricolore Schleife auf der Brust trug. Er ließ sie ohne weiteres
durch seine Büttel ergreifen und aus öffentlichem Platze mit Ruthen streichen!
Eine dem Kaiser sehr nahe stehende Person hatte sich dringend für die Aermste
verwendet, und der Monarch selbst hatte Haynau kurz vorher fast ersucht, hier
nur im Falle offenen Widerstandes zu Gewaltmaßregeln zu greifen. Die Ver¬
muthung des Verfassers, daß Haynau gerade wegen dieser Verwendung so
brutal verfuhr, bat einiges für sich; denn man weiß, daß er auch später mehre
Häupter des Aufstandes entschlüpfen ließ oder begnadigte, andere aber trotz
der Fürsprache der höchsten Würdenträger an den Galgen oder auf den Sand¬
haufen schickte. Ließ er doch sogar Personen hinrichten, welche von andern
Befehlshabern bereits begnadigt worden waren. Ein gewisser Ruby, früher
östreichischer Offizier, war von dem Kriegsgerichte in Temeswar zum Tode ver¬
urtheilt, aber von dem dortigen Festungscommandanten, General Rutavina
pardonirt worden und begegnete, als er eben einen Paß zur Reise in seine
Heimat lösen wollte, dem Feldzeugmeister, welcher ihn fragte, was er im Haupt¬
quartier wolle. „Sie find begnadigt worden," rief Haynau, als jener sein
Geschick erzählt, „hier aber hat niemand etwas zu begnadigen." „Lassen Sie
den Menschen da augenblicklich wieder hinausführen", sagte er zu einem Ad¬
jutanten, indem er nach der Gegend hindeutete, wo gewöhnlich die Füsiiaden
vorgenommen wurden. Alles Bitten war erfolglos, bis endlich ein Offizier
bemerkte, daß Haynau als Theresiensordensritter doch das von einem andern
Theresiensordensritter gegebene Wort achten müsse. Wie er die warme Für¬
sprache der russischen Generale für die ungarischen Offiziere, welche sich ihnen
ergeben, berücksichtigte, ist bekannt. Indessen darf man nicht vergessen, daß
Haynau auch bei mehren andern Gelegenheiten achtbare Frauen und Mädchen
auf empörende Weise züchtigen ließ, und daß später auch untergeordnete Befehls¬
haber das von ihrem Feldherrn gegebene Beispiel nachahmten.*)
Wäre übrigens der Feldzeugmeister auch zur Milde geneigt gewesen,
so hätten sicherlich einige Personen aus seiner Umgebung seinen Sinn umge¬
stimmt. Zu diesen gehörte vorzüglich ein Auditor, welcher von den Ungarn
mit jenen^ Blutrichtern aus der Zeit der General« Caraffa, Spankau und Heister
verglichen wurde und einem Fouquier Tinville zur Seite gestellt werden konnte.
Er wurde später in Lemberg aus offener Straße erdolcht. Wer in die Hände
dieses Mannes siel, war als verurtheilt anzusehn. Auch der General, welcher
als Personalchef des Hauptquartiers fungirte, war von mehr als gewöhnlicher
Strenge und Energie. Er ließ einst achtzig Bauern, welche mit ihren Borspann¬
wagen den ihnen angewiesenen Warteplatz verlassen und durch die ihnen nach¬
geschickte Cavallerie zurückgebracht worden, der Reihe nach' mit vierzig bis
fünfzig Stockprügeln bctheilen. Diese Execution, wobei immer zehn bis zwölf
Delinquenten zugleich abgefertigt wurden, dauerte über zwei Stunden und
wurde in Gegenwart einer Menge Militärs aller Grade und während auf der
andern Seite' des Platzes eine Musikbande spielte, ausgeführt. Untergeordnete-
ahmten die Härte der Obern vielfach nach. So konnte bei einem Kriegsgericht,
welches über einen der Verbreitung kossuthischer Proclamationen nur ver¬
dächtigen Gutsbesitzer abzuurtheilen hatte, der Auditor mit dem Vorsitzenden,
einem alten Kroatenmajor, nicht Übereinkommen. Ersterer wollte den Gefangenen
lossprechen, letzterer drang auf Verurtheilung. Haynau, hiervon benachrichtigt,
fragte den Auditor, warum er den Gefangenen nicht habe verurtheilen wollen.
..Excellenz." entgegnete derselbe, „es liegen keine genügenden Beweise vor. und
selbst wenn es ihm bewiesen werden könnte, würde sein Vergehen nach den
Kriegsartikeln nicht mit dem Tode zu bestrafen sein." Nun enthielten aber
die damalige» Kriegsartikel fast nur „Strang", „Pulver und Bin" und „Strang"
in lieblichster Abwechslung. Demungeachtet rief Haynau: „Was sollen die
Kriegsartikel, die jetzt viel zu mild sind. Richten Sie sich nur nach meiner
Proclamation, und wenn Sie auch dann nicht den Kerl aufhängen können, so
wird es schon ein anderer Auditor thun."
Gleichwohl pardonnirte er den von einem neu zusammenberufenen Kriegs¬
gerichte wirklich zum Tode Verurtheilten, weil „die Sache denn doch zweifel¬
haft sein könne". Ueberhaupt besaß er mehr Gerechtigkeitsliebe, als man nach
dem Gesagten erwarten möchte, und besonders ließ er sich durch Rang und
Vermögen des Betreffenden nicht im mindesten beeinflussen. Er war gleich
hart gegen alle, aber gegen die Vornehmen fast noch mehr als gegen die Ge-
nügen. Jede Eigenmächtigkeit, welche sich seine Soldaten zu Schulden kommen
Aeßen. wurde unnachsichtlich mit der äußersten Strenge bestraft, da er aber
zugleich aufs Beste für alle Bedürfnisse der Mannschaften sorgte und überdies
stets eine außerordentliche Unerschrockenheit zeigte, so war er trotzdem beim
gemeinen Manne beliebt, obgleich er nie um dessen Gunst sich bewarb.
Dafür konnte der hohe Adel ihm niemals verzeihen, daß er auch gar keinen
Unterschied in der Behandlung der Schuldigen machte und auf den aus den
vornehmen Kreisen ihm ertheilten Rath oder Einspruch durchaus nicht achtete.
Ein Offizier wurde ihm von mehren Cavalieren zur besonderen Berücksichtigung
anempfohlen, und man hob dabei hervor, daß es in seiner Macht gewesen sei,
den Ungarn große Dienste zu leisten, er es aber unterlassen habe. „Dahaben
S'e sehr klug gehandelt; denn sonst hätte ich Sie hängen lassen!" Mit diesen
Worten war die Sache erledigt. Man erzählt sogar, daß. als einst von einer
sehr hohen Persönlichkeit (welche durch ihre zweideutige Haltung zur Entwicklung
der Revolution sehr viel beigetragen und eben darum es mit beiden Parteien
verdorben) die Rede war. Haynau bemerkt habe: „Nun Er verließ das Land
gerade noch im letzten Momente, und ich habe mir schon oft Glück gewünscht,
daß das alles sich noch vor meiner Ankunft abgewickelt hat." Aus die Frage,
wie er dieses verstehe, entgegnete er: „Nun, es wäre doch sehr unangenehm
für mich gewesen, wenn er zufällig in meine Hände gefallen wäre und ich
dann mit ihm so wie mit den Uebrigen hätte verfahren müssen." Diese Aeu¬
ßerung — wenn er sie überhaupt gethan hat — mußte allein hinreichen, um
Haynau in Ungnade zu bringen.
Seit dem Beginn des ungarischen Feldzuges befand er sich unaufhörlich
im Zwiespalt mit dem Marschall Paskiewitsch, und einmal ließ er sich von
seinem Zorne so weit hinreißen, daß er, als wegen der Uebergabe der Festung
Arad einige Schwierigkeiten entstanden, dem mit einem Armeecorps dort be¬
findlichen Grafen Schlick befahl, die Nüssen ohne weiteres mit den Waffen
zu vertreiben — ein Auftrag, den der tingere Schlick wohlweislich uner¬
füllt ließ.
Ueber die Leistungen Haynaus in diesem Feldzuge sind sehr abweichende
Urtheile gefällt worden. Wahr ist es, daß sein Vorrücken von Pesth abwärts
mehr ein wildes Drauflosgehcn mit den Truppen, die eben nachkommen konnten,
als eine nach den Regeln der Kunst ausgeführte Operation war. Die ungarische
Armee mußte wirklich schon in einer üblen Verfassung sein, wenn sie die sich
mehrmals bietende Gelegenheit nicht besser benutzte und unvermuthet über ihren
Verfolger herfiel, statt denselben in weitläufigen Defensivstellungen zu erwarten
und ihm dadurch erst Zeit zum Sammeln zu geben. Die Sache hätte dann
sehr übet für die östreichischen Truppen enden können. Aber Haynau mochte
seine Gegner kennen, und daß seine Operationen doch nicht ohne allen Plan
waren, wie einige Verehrer der methodischen Kriegführung behauptet haben,
geht daraus hervor, daß in den drei Schlachten .bei Szcgedin, Szörcg und
Temeswar so ziemlich alles zusammenklappte, und daß namentlich die Ver¬
pflegung sehr gut geregelt war und trotz aller Gewaltmärsche aus Erschöpfung
niedersinkende Leute nur selten zu sehen waren, was der östreichischen Armee
im Feldzuge 1869, wo jene Methodiker an der Spitze standen, nicht nachge¬
rühmt werden kann, obgleich die meisten-Verhältnisse günstiger als zehn Jahre
früher in Ungarn waren. Zudem aber that ein rasches Vorrücken Noth.
Paskiewitsch, der sich zu jener Zeit bereits ganz überlebt hatte, ließ sich un¬
nötigerweise fünf Tage an der Theiß festhalten und ging überhaupt nur zögernd
vor, weil er seine Russen schonen wollte. Wäre nun Haynau nicht so blitzschnell
vorgedrungen, so hätte sich Temesvar ergeben müssen, die auf diesen Platz
dirigirten Heerestheile der Ungarn hätten sich vereinigt und zwischen dieser
Festung und Arad Stellung genommen, und Bein hätte zuerst Haynau erdrückt
und sich dann auf Paskiewitsch geworfen. Die weiteren Folgen wären ganz
unberechenbar gewesen.
Nachdem die Krieger ihre Arbeit beendet, kam der Henker an die Reihe.
Obgleich sich Haynau hier in seiner ganzen Furchtbarkeit zeigte, herrschte in den
Massen der Bevölkerung keineswegs jene Erbitterung gegen ihn, wie man außer-
halb Ungarn anzunehmen pflegt. Verschiedene kleine Charakterzüge. welche von
ihm besanne wurden, versöhnten den Bauer und Bürger mit manchen Härten
des Generals. Haynau war. wie sich ein russischer General ganz treffend aus¬
drückte, ein fertiger rother Demokrat in der Generalsuniform eines absoluten
Monarchen und'wußte ganz gut die unteren Volksclassen auf seine Seite zu
bringen. Wäre er länger auf seinem Posten geblieben, so hätte er sich unter
diesen vielleicht selbst eine gewisse Popularität erworben. Aber seine Stellung
wurde immer schwieriger gegenüber dem höheren Adel, den Prälaten, endlich
auch der Regierung. Die Klagen der ihm unterstehenden Beamten, welche durch
ihn aus ihrem Schlendrian gerüttelt und den Offizieren bei jeder Gelegenheit
nachgesetzt wurden, andrerseits seine Unbotmäßigkeit gegen die von Wien
kommenden Befehle vermehrten die Zahl seiner Feinde und brachten zuletzt auch
diejenigen, welche ihn wegen seiner militärischen Befähigung und seines Ein¬
flusses' auf die Truppen für unersetzlich hielten, von ihm ab. Gerade dieses
Ansehen, das er bei der Mannschaft genoß und den unbedingten Gehorsam,
den seine Anordnungen fanden. brachte man unter den gegen ihn erhobenen
Anklagen vor. und er scheint im vollen Ernste als ein gefährlicher Mann, bei
dem man auf Alles gefaßt sein müsse, geschildert worden zu sein. Sein Sturz
kam also wenigstens für die Mitglieder des Hofstaates nicht ganz unerwartet.
Er selbst erfuhr seine Absetzung nur einen Tag vor der officiellen Bekannt¬
gebung derselben, und er handelte sofort auf eine seinem Charakter ganz ange¬
messene Weise. Er ließ sich die Acten über alle noch in der Verhandlung be¬
findlichen Processe und alle noch nicht bestätigten Urtheile vorlegen und begnadigte
die Mehrzahl der Angeklagten, wobei er die Gravirtcstcn zuerst hervorsuchte.
Er wollte dabei nicht etwa zum Schlüsse seiner Amtsthätigkeit ein gute Handlung
verrichten und eine Anzahl von Unglücklichen aus ihrer traurigen Lage befreien,
sondern nur im letzten Augenblicke seine Machtvollkommenheit aus eine seinen
Gegnern recht unangenehme Weise benutzen und die Pläne jener, welche zu
seiner Absetzung das Meiste beigetragen hatten, vereiteln. Das aber zog ihm
w der angedeuteten Sphäre weit mehr Haß zu als alle seine Bluturtheile.
Wäre die Affaire in der barklayschen Bierbrauerei einem Grünne. Gyulay.
"der Clam widerfahren, die östreichische Negierung hätte mindestens sofort allen
diplomatischen Verkehr mit England abgebrochen. Da es Haynau war, be¬
gnügte man sich mit einer ziemlich bescheiden abgefaßten Anfrage und der auf
dieselbe erhaltenen nichts weniger als befriedigenden Antwort.
Mit seinem Austritt aus dem activen Dienst schien bei dem General in
vielen Dingen eine vollständige Umwandlung vor sich gegangen zu sein. War
es. daß er, von seiner Thätigkeit und seiner gewohnten Umgebung losgerissen,
zu anderen Anschauungen sich neigte, oder hatte er nur im Auftrage und aus
übertriebenen Diensteifer gehandelt, und glaubte er sich nun der bisherigen
Verbindlichkeiten enthoben, fühlte er, daß er das Maß überschritten habe und
wollte er dieses nun in Vergessenheit bringen, — oder war es bloße Opposition
und wollte er jenen, die ihn gestürzt hatten, neuen Verdruß bereiten —
genug, er trug die größte Heiterkeit zur Schau, suchte die verschiedenartigsten
Vergnügungen auf, war herablassend und ziemlich gesprächig, äußerte bei ver¬
schiedenen Gelegenheiten seinen Zweifel, daß das in Oestreich eingeführte System
der Strenge und der Ueberwachung zu einem guten Ende führen könne und
schien sich überhaupt zu ziemlich liberalen Anschauungen bekehrt zu haben. Er
kaufte in Ungarn weitausgedehnte Besitzungen an und würde sich daselbst, wenn
er länger gelebt hätte, vielleicht vollständig nationalisirt haben. Er hatte, was
den übrigen militärischen Machthabern jener Zeit nicht nachgerühmt werden
kann, auf die Beschränkung der Presse niemals großes Gewicht gelegt, nun
aber schien er für die unbedingteste Preßfreiheit gesinnt zu sein. Es geschah
nicht selten, daß er in einer Gesellschaft die auf ihn gemachten Witze wieder¬
erzählte oder lachend die in verschiedenen illustrirten Blättern erschienenen Cari-
caturen seiner Person herumzeigte. Die dieses Genre besonders eifrig pflegen¬
den „Leuchtkugeln" versetzten ihn stets in die beste Laune. Doch wäre es nicht
unmöglich, daß er sich über diese Angriffe nur darum so wenig ereiferte, weil es
ihm in seiner unfreiwilligen Zurückgezogenheit doch noch lieber war, daß übel,
als daß gar nicht von ihm gesprochen wurde.
Hatte er schon früher im Umgange mit Höheren und Gleichgestellten eine
auf die Forderungen der Höflichkeit nur geringe Rücksicht nehmende Derb¬
heit gezeigt, so kannte jetzt, da er nichts zu hoffen oder zu fürchten, wohl aber
an Manchem sein Müthchen zu kühlen hatte, seine Grobheit oft keine Grenzen.
Der Graf Grünne und andere Höflinge mußten sich von ihm bei mehren Ge¬
legenheiten schlimme Dinge sagen lassen. Ein mit Haynau befreundeter Prinz,
welcher seinen hohen militärischen Nang jedenfalls mehr seiner Geburt als
seinen militärischen Leistungen zu verdanken hatte, kam einst zu dem General,
um ihm mitzutheilen, daß man ihn bei der Besetzung eines wichtigen Postens
übergangen habe. „Wir Ausländer." klagte der Prinz, „werden jetzt überall
zurückgesetzt. Das sehen Sie an sich, und ich habe es nun auch erfahren.
Denken Sie nur, da haben die in Wien dem General C. ein Corpscommando
gegeben." — „Was. dem C.?" — rief Haynau überrascht. „Nicht wahr", sagte
der durch diesen zustimmenden Ausruf erfreute Prinz, „Sie finden es auch
absurd, daß man einem solchen Manne diesen Posten giebt." — „Das ist ge¬
rade so absurd." antwortete Haynau, „wie wenn man Ihnen diesen Posten gegeben
hätte." Ein ungarischer Kavalier, dessen Sohn wegen Betheiligung an dem
Aufstande verurtheilt, von Haynaus Nachfolger aber begnadigt worden und
dann durch Protektion sehr schnell zum Rittmeister avancirt war, stellte den-
selben dem Feldzeugmeister vor. „Ganz recht," rief der Letztere nach kurzem
Nachsinnen, „kenne den jungen Herrn schon, Herr Graf, und hätte ihm vor drei
Jahren statt der goldenen Schnüre, die er da trägt, eine Schnur von Hanf zu¬
kommen lassen, wenn er ein gescheidterer Kopf und Sie nicht sein Papa gewesen
wären." Daß Haynau demungeachtet aus seine Wiederanstellung gehofft, ja
sich heimlicher Weise darum beworben habe, scheint nach dem Angeführten
unwahrscheinlich, wird aber mehrfach behauptet und er soll sogar den Tag
Vor seinem Tode die bündigsten Zusagen einer baldigen Berufung auf einen
ebenso einflußreichen, als seinen Wünschen entsprechenden Posten erhalten
haben.
So wie man ihn im Leben nur in der äußersten Noth verwendet und
seine Leistungen nur widerstrebend anerkannt hatte, that man auch nach seinem
Tode nur so viel, als man unumgänglich thun mußte. Sein Leichenbegäng-
niß wurde mit dem genau seinem Range, nicht aber seinen Verdiensten um
das Haus Habsburg entsprechenden Pompe abgehalten und sein Regiment noch
vor Ablauf der gewöhnlichen Trauerfrist dem Fürsten Jablonowstt) verliehen,
während sogar das Regiment des Baums Jellachich, welcher bekanntlich ein
ebenso geschickter Agitator als unglücklicher Feldherr war, diesen Namen „auf
immerwährende Zeiten" zu führen hat. Daß später ein Standbild des Feld-
z-ugmcisters zu den Statuen Radetzkys, Windischgrätz' und Jellachichs, welche
die sogenannte Nuhmesballe des Artilleriearsenals zieren, hinzugefügt wurde,
geschah eben nur, weil man eine bemerkbare Lücke auszufüllen hatte, etwa wie
Passionirte Whistspieler bei der Annahme eines „Vierten" manche Bedenklichkeit
fallen lassen, die sie unter andern Umständen gegen den Betreffenden erheben
würden. Dieses Standbild ist aber auch fast das einzige Zeichen der Erinnerung,
welches von denen, welchen Haynau Dienste geleistet, gestiftet wurde. Kein
Schiff, keine Festung, keine Kaserne oder Brücke führen den Namen des ge-
fürchteten Besiegers der Ungarn.
So wurde dieser Mann — wenn nicht der gänzlichen Vergessenheit —
Wenigstens dem Stillschweigen überliefert. Und er verdiente dies Schicksal,
wenn man in ihm nur den Menschen und Staatsmann betrachtete, nicht aber,
wenn man ihn mit so manchen Generalen, denen man in Oestreich die Unsterb¬
lichkeit zuzusprechen suchte, etwa mit Größen wie Gablcnz und Gondrccourt,
in Vergleich bringt. Als Staatsmann unpolitisch und eigensinnig, als Feldherr
oft zu viel seinem Glücke vertrauend, als Befehlshaber zwar das materielle
Wohl seiner Untergebenen befördernd, aber sie auch rücksichtslos seinen Zwecken
aufopfernd, als Untergebener unbotmäßig und erlittene Zurücksetzung nie ver¬
gessend, mit Gleichgestellten sich nur schwer vertragend, die Gegner schonungs'
los verfolgend, war Haynau gleichwohl besser als manche unter denen, welche
ihn stürzten oder an seine Stelle traten, da er bei allen Schattenseiten
militärische Befähigung, Energie und den mit dem Bewußtsein der Kraft ge¬
paarten physischen Muth besaß und sich nie zu höfischer Wohldienerei her¬
beiließ.
Die vorhergehenden Bände von Hirzels „ Staate «geschieh te der neuesten
Zeit", roclcher dieses Werk angehört, beginnen mit dem Abschnitt, welchen der
wiener Kongreß in der Entwickelung der europäischen Verhältnisse bildet. Bnum-
gartcn hat nothwendig weiter ausholen müssen, und zwar mußte er mit der Thron¬
besteigung Karls des Vierten anfangen, unter dessen Regierung sich die Wolken des
großen Gewitters concentrirten, welches das alte Spanien zertrümmerte und mit dem auch
für dieses Land und Volk die neueste Zeit, das constitutionelle Leben anbrach. Die
Kämpfe von 1808 bis 1814 hatten zum Resultat die Verfassung von 1812, und diese
Verfassung bestimmt die politische Entwickelung Spaniens bis in die vierziger Jahre.
Die Parteiführer in den Cortes von Cndiz spielen in der Revolution von 1820
die Hauptrollen und wirken zum Theil noch nach 1830 als Minister und Ver-
fassungsgeber. Die Verhältnisse endlich, welche zu der Erhebung von 1808 führten
und derselben ihren eigenthümlichen Charakter gaben, bestimmten bis auf den heutigen
Tag vielfach das politische Leben Spaniens. Diese ganze Zeit aber und namentlich
die Jahre von 1788 bis 1808 bedeckte bisher völlige Dunkelheit, und so ist ein
Werk, welches auf Grund der vorhandnen reichen Quellen hier Licht verbreitet, schon
an sich freudig zu begrüßen. Der Verfasser, vielleicht der beste Kenner der neuern
spanischen Geschichte, brachte aber zu seiner Arbeit nicht nur gründliche Kenntniß
des Materials, sondern auch ein schönes Talent der Darstellung, eine glückliche Hand
in der Gruppirung der einzelnen Thatsachen und die Gabe, treffend zu Porträtiren
mit, und so haben wir die Freude, in seinem Werke, welches die Negcncralions-
cpochc Spaniens in diesem Bande bis zur Rückkehr Ferdinands in sei» Land schildert,
eine Arbeit zu begrüßen, die mit ihrer lichtvollen Darstellung, ihrer lebendigen und
anschaulichen Vorführung der betreffend Zustände. Ereignisse und Personen ein
wahres historisches Kunstwerk ist und sieh in dieser Eigenschaft würdig den besten
Arbeiten der hirzclschen Sammlung anreiht. Wir behalten uns vor, in einer der
nächsten Um. d. Bl. ans das Werk zurückzukommen und dann ein charakteristisches
Anspiel von den Funden des Verfassers mitzutheilen. Für setzt nur diese kurze
Anzeige und warme Empfehlung.
Eine sehr willkommne Gabe für den Freund der Literaturgeschichte. ni der sie
eine bis auf die neueste Zeit halbmythisch gebliebene Stelle in vollkommen befriedigender
Weise zu historischer Gewißheit erhebt. Wir wissen jetzt aus sicheren Quellen, daß
die Dramen Shakespeares bereits im letzten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts in
Deutschland bekannt gewesen und gespielt worden und daß die sogenannten „englischen
Komödianten", welche in dieser Zeit und später noch in Deutschland auftraten,
wirklich, wie bisher nur vermuthet und vielfach bestritten wurde. englische Schau¬
spieler gewesen sind. Im Folgenden ein Ueberblick über die Resultat- der Forschungen
des Verfassers. Durch deutsche Reisende, welche den Hof der Königin Elisabeth be¬
sucht, war namentlich an den Höfen und in den Kreisen des Adels in Deutschland
in den letzten Jahrzehnten des sechzehnten Jahrhunderts die Kunde von den Vor.
»ügcn der lvndcner Bühne verbreitet worden. Als sich in England die Zahl der
Schauspieler mehrte, trat Ueberfüllung der Bühnen mit Beschäftigung und Verdienst
suchenden Mimen ein. und so sah man sie!, genöthigt, sein Brod auswärts zu
suchen. Der Umstand, daß englische Musiker, Kunstreiter und Seiltänzer schon kurz
nach der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in den Niederlanden und Deutschland
gern gesehen worden waren und guten Verdienst gefunden hatten, lenkte die Blicke
hierher, und als im Jahre 1586 eine londoner Schauspielcrgcscllschaft. zu welcher
Thomas Pope, ein Freund Shakespeares, gehörte, in Dresden am Hofe Kurfürst
Christians des Ersten befriedigende Geschäfte gemacht, gingen verschiedene Truppen
von englischen Musikanten und Komödianten nach Deutschland, um ihre Künste zu
zeigen. Die erste scheint die gewesen zu sein, deren wichtigste Mitglieder Robert
Browne, John Broadstrcct. Thomas Sackville oder Saxsield und Richard Jones
waren, und welche nach einem von Cohn mitgetheilten französischen Passe im Jahre
1591 die Reise nach Deutschland antrat, um dort „ä'exerczr laurs qualite?
co. tale-t <Ze musiyue, agilite-! (Luftspringcr- und Seiltänzerkünste) et Meux as
oommeclies, tragoclies ot rustoirss." Diese Truppe blieb, wenigstens in einzelnen
ihrer Mitglieder, längere Zeit in Dentschland. Sackville war noch zwanzig Jahre
später hier und zwar am herzoglichen Hofe zu Wolfenbüttel, Browne begegnet uns
einige Zeit nach dem ersten Auftreten der Gesellschaft, deren Führer er war, bei
Landgraf Moritz von Hessen in Kassel wieder. Von Kassel und Wolfenbüttel wird
sich der Ruf dieser fremden Schauspieler zunächst an andere Fürstensitze und dann
weiter verbreitet haben. Zu gleicher Zeit lockte aber auch der Erfolg, den sie hatten,
andere englische Komödianten nach Dentschland, und bald wird keine größere deutsche
Stadt gewesen sein, die nicht ihre Bekanntschaft gemacht hätte. Urkundlich zu be¬
weisen ist jedenfalls, daß sie in Frankfurt a. M. und in Hildesheim. also im Norden
und Südwesten aufgetreten sind, und zwar in den Jahren 1507 und 1599, Im
nächsten Jahrhundert wuchs die Zahl solcher englischer Wandertruppen noch mehr,
und wir begegnen ihnen setzt nicht mehr vorwiegend an den Höfen. 160V spielten
sie inMcmmingcn, 1602 in Ulm, das Jahr darauf in Stuttgart, 1605 im Haag,
1606 in Rostock, 1609 und 1610 in Dresden. Selbst in den fernen ostpreußischen
Städten Elbing und Königsberg traten sie in den Jahren 1605 bis 1611, dann
wieder 1618 auf. In Köln erschien 1615 eine solche Truppe, die unter der Direc-
tion eines gewissen John Spencer stand und vierundzwanzig Mitglieder zählte, unter
denen sich nur zwei Nichtcngländcr, ein Deutscher und ein Holländer, befanden.
Eine andre Gesellschaft unter Hans v. Stockfisch spielte 1617 und 1618 in Berlin,
dann in Ostpreußen, Polen, Schlesien und Mähren, hier vor Kaiser Ferdinand.
Erst durch den dreißigjährigen Krieg wurden diese fremden Jünger Thalias aus
Deutschland verscheucht, aber noch bis zum Jahre 1629 reichen die von Cohn ent¬
deckten Beweise für die Thatsache, daß englische Stücke von englischen Schauspielern
in Deutschland aufgeführt worden sind. Auch in den letzten achtzehn Jahren des
großen Krieges und später bis 1683 tauchen noch ziemlich häufig in Süd- wie in
Norddeutschland „englische Komödianten" aus, aber jetzt bestanden die Banden der¬
selben nur noch aus Deutschen, die in der Weise der Engländer spielten und die
Bezeichnung „englisch" als Lockmittel gebrauchen, ein Beweis, wie populär die
Fremden gewesen.
Was für Stücke die „englischen Komödianten" spielten, sehen wir aus einem
Verzeichnis; der 45 Dramen, welche 1626 in Dresden von ihnen aufgeführt wurden.
Wir finden darunter von Shakespeares Tragödien „Romeo und Julie", „Julius
Cäsar", „Hamlet" und „Lear". Daß auch andere Stücke des Dichters, z. B. „Der
Widerspenstigen Zähmung" und „Der Kaufmann von Venedig" im ersten Viertel
des siebzehnten Jahrhunderts bereits den Deutschen bekannt waren, beweisen aus
dieser Zeit stammende deutsche Bearbeitungen. Später wurden auch der „Sturm",
„Die beiden Veroneser", „Viel Lärmen um nichts" und „Titus Andronicus" für
das deutsche Publicum zurecht gemacht, aber in einer Weise, die von dem Original
wenig Gutes übrigließ und nur den Verfall der Sitten und des Geschmacks docu-
mentirt, welchen der dreißigjährige Krieg herbeigeführt hatte. Die „englischen Komödi¬
anten" bedienten sich anfangs, wie Cohn mit Sicherheit nachweist, ihrer Muttersprache,
nur der Hanswurst (VIonn), der die Zeit zwischen den Acten mit seinen Possen
auszufüllen hatte, sprach deutsch, später scheint das anders geworden zu sein.
Die Engländer lernten bei längerem Aufenthalt die Sprache des Landes (Broadstrcct
verdeutschte sogar, als er sich in ein Stammbuch schrieb, seinen Namen in Breit¬
straß), die englischen Stücke wurden übertragen, und so genoß das deutsche Publi¬
cum ziemlich vollständig und jedenfalls eher als andre Nationen des Continents die
Schönheiten der shakespearischer Muse. Die meisten dieser Uebersetzungen aber blieben in
den Händen der englischen Truppen, und verschwanden mit ihnen; was davon durch den
Druck in weitere Kreise drang, war von geringem Werth wie (mit Ausnahme einer
von N. Köhler im vorigen Jahre veröffentlichten Nachdichtung von „IIis raminZ
ok tuo 8Iir6n") die erwähnten Bearbeitungen, die alle Vorzüge des Originals
in Schmutz und Greuel ersticken ließen, und so erklärt sichs zum Theil, daß
Shakespeare, als feinere Sitte allmälig aufkam, in Deutschland völlig in Vergessen¬
heit gerieth und für uns erst von neuem entdeckt werden mußte. Daß sein erstes
Erscheinen in Deutschland bereits Einfluß auf die deutsche Bühnendichtung geübt
hat, ist bekannt.
Ein interessanter Beitrag zur Geschichte der Tage, wo Dänemark noch erobernd
und herrschend in den norddeutsche» Küstenländern auftrat, und speziell zur Geschichte
Stralsunds, damals einer der mächtigsten Städte des Hansabundes, ans gute Studien
gegründet und wohlgcschriebcn. Der Verfasser, bekannt durch seine „Schleswig-
Holsteinischen Erinnerungen" und zwei Bände „Rügmsch-Pommersche Geschichten",
denen sich obiges Buch als dritter anschließt, schildert hier vorzüglich zwei Kriege
Deutscher mit Dänemark, den, welchen König Erich Mnvtd verbunden mit dem
Fürsten von Rügen und andern kleinen Herren im Jahre 13 l 6 gegen das mit dem
Markgrafen Waldemar von Brandenburg alliirte Stralsund begann, und den, welchen
die deutschen Hansestädte von 1361 an neun Jahr mit Dänemark führten. Beide
endigten unglücklich für Dänemark. Der erste ist insofern von besonderer Bedeutung,
als Brandenburg hier zum ersten Mal in nähere Beziehung zu Stralsund und
Rügen trat, ein Verhältniß, das sich damals allerdings wieder löste, aber doch schon
andeutete, was in späteren Jahrhunderten zum Segen Norddeutschlands sich voll¬
ziehen sollte. Außer diesen Kämpfen behandelt das Buch in einem besondern
Kapitel die innern Zustände der Städte des damaligen Rügen und Pommern,
und vorzugsweise die Stralsunds, der größten unter denselben. Unter den an¬
gehängten Stücken ist namentlich das von allgemeinerem Interesse, welches sich
mit den damaligen Kriegsschiffen der nördlichen Völker Europas beschäftigt.
Die Bedeutung des hier behandelten Ordens für Norddeutschland liegt vorzüg¬
lich darin, daß derselbe für die Christianisirung und Germanisirung der slavischen
Stämme thätig war, die hier als Nachbarn der Sachsen wohnten. Diese Thätig¬
keit, die im Erzbisthum Magdeburg begann, sich aber bald bis nach dem Lauenburgischen
und bis nach Usedom in Pommern erstreckte, wird von dem Verfasser nach Chroniken
und Urkunden, die er mit kritischem Blick benutzt und deren Inhalt er geschickt zu
gruppiren weiß, in einem lebensvollen Bilde vorgeführt. Vorzüglich ansprechend ist
das Leben Norberts, der die ersten Prämonstrateuscrklöster im Wandertaube anlegte,
geschildert, jenes gewaltigen Gottesmannes, von dem man rühmen konnte, daß er
mit seiner rastlosen Energie und seiner hinreißenden Beredsamkeit mehr Seelen für
das Reich Gottes gewonnen als irgend ein Mensch seit der Apostel Zeiten, und
daß damals niemand mehr Einfluß auf das innere Leben des Volkes ausgeübt habe,
als er. Ebenfalls sehr anziehend ist, was der Verfasser über die Ursachen sagt, aus
denen der Orden allmälig verfiel. Der anfängliche Eiser ließ nach, Zucht und Ge¬
horsam nahmen ab, das Leben der Klosterbrüder wurde ein Spott auf die Gesetze,
Zwiespalt riß ein, das von Norbert eingeführte Zusammenleben von Männern und
Frauen in demselben Kloster gab zu Aergerniß Anlaß, man war reich geworden
und gab das Arbeiten aus, um sich ausschließlich der innern Sammlung und Be¬
schaulichkeit zu widmen, d, h, dem geistliche» Müßiggang. Die Folge war, daß an
die Stelle der entarteten Jünger Norberts theils Bettelmönche, theils die edleren
Cistercienser traten, die weder von Almosen noch von Geschenken, sondern von
ihrer Hände Arbeit leben wollten. Diese wurden von nun an die Pioniere der
Cultur im deutschen Norden.
Der Verfasser beabsichtigt in dieser Arbeit, deren drei näcyste Abtheilungen die
Chronik der Stadt Bärnau, die Geschichte der nordgauischen Markgrafen aus dem Ge¬
schlechte der Babensbcrger und die Geschichte der Grafen von Vohburg einhalten werden,
nicht eine eigentliche Geschichte der obengenannten Landschaft zu liefern, sondern
nur durch kritische Sichtung und Zusammenstellung des vorhandenen in Archiven
verborgenen historischen Stoffes das Material zu einer solchen herbeizuschaffen. Das
ist in dem vorliegenden ersten Theil mit Fleiß und Sorgfalt geschehen, und so kann
diese Monographien-Reihe für Historiker, welche sich an die bis setzt vernachlässigte,
freilich auch vielfach dunkle und wirre Geschichte der bayrischen Oberpfalz machen
wollen, nicht ohne Nutzen sein. Schwnndorf, jetzt ein Städtchen Von 2000 Ein¬
wohnern, kommt übrigens bereits schon zu Anfang des elften Jahrhunderts unter
dem Namen Suainicondorf lSchwciuedorf von den an der Raab damals zahlreichen
Wildschweinen) vor, gehört also zu den ältesten Orten der rcgensburger Gegend.
Guter populärer Ueberblick über die Ereignisse vom 5. Mai 1789 bis zum
10. November 1799, wo Bonapartes: „den Saal geräumt. Grenadiere vorwärts"
den letzten Act der großen Tragödie beschloß, gewandte Erzählung, die Auffassung
der Ereignisse und Personen im Wesentlichen die unsere.
Die Biographie einer tapfern Mecklenburger!», die 1813 zu den Waffen griff,
um den Deutschen die Freiheit erringen zu helfen. Der Verfasser, Pastor in Fried-
land, dem Geburtsorte der Krüger, und selbst einer von den Kämpfern der Be¬
freiungskriege, schreibt nach Urkunden und aus der Gesinnung jener großen be¬
geisterten Zeit heraus.
Beschränktester Legitimismus in der Auffassung der Begebenheiten und Ver¬
hältnisse, Erzählertalent sehr mäßig, Garibaldi ein Straßenräuber, König Franz,
der bedauernswerthe Schwächling, ein Held u. s. w. Auch ein Standpunkt!
Die hier mitgetheilten früheren Schriften Lynkcrs — Novellen und Humores¬
ken — wollen nicht eben viel bedeuten. Dagegen enthält seine Geschichte des kasselcr
Theaters eine große Anzahl interessanter Notizen in Betreff der Entwickelung der
deutschen Bühne, namentlich aus der Zeit des großen Wendepunkts derselben, wo
durch Einwirkung der englischen Komödianten der Dilettantismus der Gelehrten und
ihrer Schüler der Bcrufsschauspielcrci das Feld zu räumen begann, d. h. aus den
ersten Decennien des siebzehnten Jahrhunderts, wo unter Landgraf Moritz die dra¬
matische Kunst wie andere Künste besondere Pflege erfuhr und in dem Ottoneum
eins der ersten deutschen Hoftheater entstand.
Auf Quellenstudium gegründete, aber stark panslawistisch gefärbte Darstellung
der ältesten Geschichte der genannten Donauvölker. Die erste Abtheilung schildert
die ersten Jahrhunderte derselben, deren Bekehrung zum Christenthum, ihre Kämpfe
mit den Nachbarflämmcn, den Byzantinern und den Ungarn, das goldne Zeitalter
Bulgariens unter Czar Simeon (Anfang des zehnten Jahrhunderts), dessen Verfall
durch innere Schwächung und dessen Sturz durch die Warjagcrschaarcn Swjatoslaws.
Der zweite Theil berichtet dann über die Zeit von 971, wo das Bulgarenrcich by¬
zantinische Provinz wurde, über die Erhebung der Bulgaren unter Samuel und die
Befreiung der slawischen Stämme in den Donau- und Balkanländcrn, die Bogo-
milenkctzcrci, den zweiten Fall des bulgarischen Reiches und die Unterwerfung auch
der Serben unter die Herrschaft von Byzanz (1019).
Enthält ein'e auf die Qucllcnschriststellcr zurückgehende, sorgfältig gearbeitete und
Wohlgeschriebene Abhandlung über die germanischen Ordalien von or. Pfalz. Unter
anderen interessanten Resultaten der Forschung des Verfassers machen wir aus den
von ihm geführten Beweis aufmerksam, daß es niemals ein Abendmahlsordal ge¬
geben hat.
Viel Gelehrsamkeit, Sorgfalt und Scharfsinn auf ein Curiosum verwendet,
welches für die Kunstgeschichte nur insofern einige Bedeutung hat, als der Koloß
des Charas der Sohn der Athene der athenischen Akropolis und der Vater des
Herkules auf der kasselcr Wilhelmshöhe und der Bavaria auf der Münchner Thcrcsicn-
wiese ist. Ucbcrzcugend weist der Verfasser nach, daß das Niesenbild nicht mit ge¬
spreizten Beinen über dem Hafcncingangc vor Rhodus gestanden haben kann, und
mit viel Vclescnhcit erhebt er es wenigstens zur Wahrscheinlichkeit, daß der Koloß
geraume Zeit länger, als man gewöhnlich meint, vor dem Zusammensturz bewahrt
geblieben ist. Wir danken ihm für diese Berichtigungen falscher Vorstellungen, aber
nicht ohne die Hoffnung, er werde sich künftig noch dankcnswerthercn Untersuchungen
widmen. '
- Von Prellers „Römischer Mythologie" (Berlin. Wcidmannschc
Buchhandlung) ist eine zweite Auflage erschienen, die von Reinhold Köhler revidirt
und mit Verweisungen auf die seit Erscheinen der ersten Auflage des Werkes
herausgekommenen hierher bezüglichen Schriften versehen worden ist. — Neubcrgs
Uebersetzung von Carlylcs „Geschichte Friedrichs des Zweiten" liegt jetzt bis zur
zweiten Hülste des vierten Bandes vor, welche die Zeit der Schlachten bei Hohenfriedberg,
Soor und Kesselsdorf und die Jahre nach dem dresdner Frieden bis zum 25. August
1750 in der bekannten geistvollen, aber barocken Manier des humoristischen Ge¬
schichtschreibers schildert. Daß die Uebertragung vortrefflich ist, haben wir früher
schon bemerkt. —- Von Dr. Karl Richters „Staats- und GcscllschaftSrccht der fran¬
zösischen Revolution von 1789 bis 1804" (Berlin, Verlag von I. Springer) ist
jetzt der erste Band, der bis zur Constituirung des Kaiserreichs geht, erschienen.
Wir behalten uns eine ausführliche Anzeige des Buches für die Zeit nach Erscheinen
des Schlußbandcs vor. — Guizots „Ugmoire« xonr sörvir 5. 1'Iristoire us mon
temps" (Paris, Michel Levy Mres, Leipzig, Brockhaus) sind jetzt bis zum siebenten
Bande gediehen; wir geben in einer der folgenden Nummern d. Bl. Mittheilungen
über den hauptsächlichsten Inhalt und bemerken hier nur, daß der neue Band sich
mit den Jahren 1841 bis 1846 beschäftigt. — Vou Thomas Buckles Ilistor^ ok
eivilisalicm in LnMncl" erscheint in Leipzig bei Brockhaus eine handliche und wohl-
ausgestattete Ausgabe in fünf Bünden, von denen uns die beiden ersten vorliegen,
und von Ruges deutscher Übersetzung des Werkes, die in der Winterscher Verlags¬
handlung, Leipzig und Heidelberg, herauskommt, ist Band 2 der zweiten durch¬
gesehenen Ausgabe erschienen. Ueber den Charakter des Originals haben wir uns
früher ausgesprochen.
Seit längerer Zeit war durch Verräthereien und prahlende Aeußerungen
erhitzter Gemüther der östreichischen Regierung bekannt geworden, daß von dem
polnischen Adel in Galizien ein Aufstand vorbereitet werde, und sogar der Tag
des Losschlagens, der 21. Februar 1846 war nicht verheimlicht geblieben. Um
die Jnsurrection im Voraus jeder Kraft zu berauben, suchte die Regierung den
Bauernstand auf ihre Seite zu bringen, und durch die verheißene Ablösung
des Robots gelang ihr dies in der That. Obgleich infolge dessen der nationalen
Partei nur der Adel, dessen Beamte, Studenten und ähnliche junge Leute treu
blieben, wurde dennoch mit Waffenrüstungen und Anwerbungen in Krakau
fortgefahren, und in den Krakau zunächst liegenden Kreisen Jnsurgentenschaaren
gebildet. In dieser Lage griffen einzelne Organe der östreichischen Regierung,
im höchsten Grade bestürzt und rathlos, zu Mitteln, die zum Theil gar nicht
im Verhältniß zu der unbedeutenden Gefahr standen, jedenfalls unsägliches
Unheil angerichtet haben. Es ist notorisch, daß, obgleich der Statthalter in
Lemberg, Erzherzog Ferdinand, die Bauern zur Ruhe vermahnte, dieselben
dennoch von den für ihr Leben und Eigenthum zitternden Beamten zur Selbst¬
hilfe gegen den insurgirten Adel aufgefordert wurden. Von beiden Seiten,
den regierungsfreundlichen Bauern und den regierungsfeindlichen Insurgenten,
wurde nun, ganz unabhängig von den Maßnahmen der Regierung und der
Insurgenten gegen einander — den Verhaftungen in Lemberg, dem Zuge gegen
Krakau u. s. w. — einige Tage lang ein wüthender Krieg geführt, von dem
die Berichte der Zeit mit Schaudern sprechen. Schon vor dem zum Losschlagen
von den Insurgenten bestimmten 21. Februar wurden, namentlich im tarnower
Kreise, wo die Bauern am meisten aufgereizt und die Insurgenten zahlreicher
wie anderswo waren, die ärgsten Gräuelthaten, Mord, Brandstiftung, Plün-
derung, begangen. Die polnischen Patrioten begannen ihre Heldenthaten mit
der Ermordung des Bürgermeisters Marke in Pilsno; in Lisagora fand ein
furchtbares Gemetzel zwischen beiden Parteien statt, indem Bauern die Waffen,
welche sie von dem Adel zur Jnsurrection erhalten hatten, gegen denselben
richteten; alle Adeligen und deren Anhänger, welche die Bauern in ihre Ge¬
walt bekamen, wurden theils getödtet, theils mißhandelt und der Regierung
zur Einkerkerung ausgeliefert. Ganze Familien, wie die des Grafen Rej und
die Familie Bogusz wurden ausgerottet. Ein gewesener östreichischer Corpora!
Namens Schello war der verruchteste unter den Rädelsführern der Bauern.
Weit entfernt, dem Treiben der letzteren irgend Einhalt zu thun, feuerten die
Beamten dieselben noch mehr an, nahmen die Gefangenen entgegen und sollen
sogar, wie manche sie beschuldigen. Preise für eingelieferte Adelige gezahlt
haben. Daß dergleichen Beschuldigungen nicht ohne Grund waren, daß
wenigstens die Bauern nicht ohne gewisse Aufträge sich wußten, geht aus der
nun folgenden Geschichte deutlich hervor, deren Schauplatz der östlich an den
tarnower grenzende rzeszower Kreis ist.
Auch auf diesen, die nördlichste Spitze von Oestreichisch-Polen, die sich
zwischen Weichsel und San ^ hineinzwängt, hatten sich die Nottirungen des
Landvolks, wenn auch in geringerem Maßstabe erstreckt. Jnsurgententrupps
scheinen dort nicht gewesen zu sein; nichtsdestoweniger zogen die Bauern, mit
Knütteln, Dreschflegeln, Mistgabeln und Sensen bewaffnet, kaum, nahmen
ihre adeligen Herren gefangen, mißhandelten sie und schlugen sie entweder todt
oder lieferten sie der Kreisbehörde in Rzeszow aus. Letzteres Schicksal theilte
— unschuldigerweise, wie sicherlich manche andere — auch ein aus Danzig
gebürtiger Kaufmann. Lassen wir ihn selbst erzählen, welche unglaublichen Roh-
heiten er von den galizischen Bauern erduldete, und wie es ihm nachher bei
den k. k. Behörden nicht viel besser erging — man wird ein Bild erhalten,
das, wenn es nicht durch amtliche Protokolle beglaubigt wäre, kaum in unserm
Jahrhundert und in einem von deutschen Herrschern regierten Lande für möglich
gehalten werden würde.
„Ich war seit dem Winter des Jahres 1843 in Sieniawa. einem Städtchen
des przemysler Kreises am San, wohnhaft und daselbst als antheilhabender
Geschäftsführer des Hauses I. und O. zu Warschau mit dem Einkauf und der
Spedition von Holz beschäftigt. Das Holz wurde von mir meistens von den
großen Grundbesitzern gekauft, im Winter gefällt, nach dem San oder dem
nächsten flößbaren Wasser hinuntergeschafft, zu Flößen, oder wie wir an der
Weichsel sagen, „Träster" zusammengeschlagen, und sobald der San und die
Weichsel im Frühjahr eisfrei waren, nach Warschau, resp. Danzig entsendet.
Ich war seit vielen Jahren in Polen allerorten herumgekommen, sprach und
spreche noch fertig polnisch und verstand auch, da ich fortwährend mit Holz¬
hauern, Juden und ähnlichen Leuten zu thun hatte, ihr Platt vollkommen.
Im äußeren Aufzuge war ich vollkommen polonisirt; in hohen Stiefeln, Kulla,
viereckiger Pelzmütze, mit starkem schwarzen Barte, dazu dem geläufigen Pol-
nisch, mußte man mich leicht für einen Polen hallen. Es wäre wohl un-
praktisch gewesen, hätte ich mich bei meiner Beschäftigung modischer Tracht be¬
dient; in jahrelangem Handel und Wandel mit Polen mußte ich ihresgleichen
scheinen. Dies ward mein Unglück, da ich, wie man bald sehen wird, in den
stürmischen Tagen der galizischen Revolution von den Bauern als der regierungs¬
feindlichen Partei angehörig, etwa als ein Emissär oder Beamter irgendwelches
adeligen Jnsurgentencomitvs angesehen wurde, was mir schreckliche Leiden und
eine langwierige Einkerkerung zuzog.
Während des ganzen Winters 1843 war ich wie sonst in der Nähe des
San, besonders in den dem Fürsten Sapieha gehörigen Wäldern beschäftigt
gewesen, für mein Haus Holz einzukaufen, das im Sommer verstößt werden
sollte. Am 22. Februar dieses Jahres, als eben die Unruhen ausgebrochen
waren, befand ich mich in dem Flecken Rubrik, rzcszower Kreises, am San
und traf dort zufällig den jüdischen Handelsmann Baruch Schlajen aus Ulanow,
einem Städtchen unweit Rubrik, am andern Ufer des Flusses. Derselbe bot
mir kieferne Balken zum Verkauf an, die am Wistok in der Gegend von Kil-
kow, tarnower Kreises lagen. Er bat mich, sogleich mit ihm dorthin zu fah¬
ren, indem er meinte, man habe jetzt gute Schlittenbahn, er sei in jener Ge¬
gend viel bekannt, die Bauern würden uns nicht aufhalten, es sei auch gar
nicht so schlimm, wie das Gerücht gehe. Ich schwankte auch keinen Augen¬
blick, indem ich mich auf meine Papiere, meine Kenntniß der Bauern, meine
damals noch jugendlichere Kraft, und 'im Nothfall auf ein Paar Pistolen ver¬
ließ, die ich geladen in der Reisetasche stets bei mir führte. Da also Schlajen
eine gute Fuhrgelegenheit und ich einen Tag Zeit übrighatte, so ließ ich mein
Fuhrwerk in Rubrik stehen, und fuhr mit dem jüdischen Händler 12 Uhr Mit¬
tags ab. In der Brusttasche meines Rockes hatte ich 4200 Gulden in Pa¬
pieren und 100 in Gold; meine Legitimationspapiere und Reisebedürfnisse
steckten bei den Pistolen in einem Reisesack, der vor mir auf dem Schlitten
lag. Wir fuhren quer durch den rzcszower Kreis und kamen ungefähr um
3 Uhr Nachmittags nach dem Dorfe Dcikowiec. Ich bat Schlajen, hier etwas
zu verweilen, indem ich Hunger verspürte und bei den dortigen Deutschen etwas
zu essen vorzufinden hoffte. Schlajen meinte jedoch, es wäre in Kolbuszow
(einem schon zum tarnower Kreis gehörigen Flecken) besser, ich sollte nur
warten, wir hätten nur noch durch das Dorf Werynia zu fahren, und in einer
halben Stunde würden wir dort sein. Damit tröstete ich mich, und wir fuhren
weiter, indem wir uns der Grenze des tarnower Kreises immer mehr näher¬
ten. Wir kamen in das Dorf Werynia und wollten eben durchfahren, als
etwa ein Dutzend Bauern, mit langen Knütteln bewaffnet, aus. dem Wirths¬
hause stürzten, den Pferden in die Zügel fielen und uns mit den Worten:
„Halt, es ist nicht erlaubt weiter zu fahren!" anhielten.
Ich stieg vom Schlitten und fragte die Bauern nach der Ursache des Auf
Haltens, wobei ich gleich merkte, daß sie angetrunken waren. Sie waren zwar
so höflich, nach ihrer Gewöhnung an ein demüthiges Auftreten jedem Besser-
gekleideten gegenüber, die Mütze zu ziehen, doch konnte ich nicht recht aus ihren
Absichten klug werden. Ein verworrenes Gerede erhob sich, sie hätten Befehl
hier (nämlich an der Grenze des tarnower Kreises) jeden festzunehmen; sie
wüßten nicht, was werden würde, sie warteten auf Militär; auch ihr Herr,
Gras Tyskiewicz. habe wegfahren wollen, sie hätten ihn aber nicht fortgelassen;
wenn der wegführe, wären sie alle unglücklich, denn er wäre ihr Vater u. f. w.
Von wem jener Befehl, Reisende festzunehmen, herrühre, konnte ich nicht er¬
fahren, noch muthmaßen, ob die Reden über den Grasen bäurische Verstellung
seien, oder ob sie wider Willen, auf höhere Anordnung, ihn festhielten. Auch
ging mich das nichts an, sobald ich nur weiter kam. Noch immer hatte ich
keine Ahnung, wie schlimm der Handel werden sollte, in den ich mit den
Bauern gerathen war. Unwirsch fragte ich sie, was zum Henker sie von mir
wollten, ich hätte mein Geschäft und wollte weiter fahren. Nun antworteten
sie bestimmter: „Hier muß gewartet werden, bis die ganze Gesellschaft heran¬
kommt, die jetzt im Walde ist. Es sind Boten nach Kolbuszow geschickt, um
sich zu erkundigen, was wir mit dem Grafen machen sollen." Ich ging nun
mit dem Juden Schlcijen, welcher in großer Angst war, in die Schenke, wo
wir den jüdischen Wirth Wolf Milion voll Furcht und Schrecken antrafen.
Auf meine Frage, was das alles zu bedeuten habe, konnte er mir nichts wei¬
ter sagen, als daß ein Herr Bilanski in der Nähe von Werynia den Tag vor¬
her von den Bauern todtgeschlagen und sein Leichnam aufgehängt sei; was
aber heute Abend noch geschehen würde, das könne nur Gott wissen, da von
den Bauern alles Schreckliche zu erwarten stände, zumal sie alle betrunken
wären. Der größte Haufe derselben habe jetzt eben den Grafen Tyskiewicz
zurück in seine Wohnung, die in der Nähe sei, geführt, und wolle nicht zu¬
lassen, daß derselbe mit Frau und Sohn nach Rzeszow fahre.
Was sollte ich bei so bewandten Umständen thun. Ich ging hinaus, um
zu versuchen, ob mich die Bauern nach Rubrik würden zurückfahren lassen;
aber auch dies gestatteten sie nicht und hießen mich warten. Eben stand ich
noch vor der Thür und überlegte, ob ichs nicht versuchen sollte, schnell in den
Schlitten zu springen, der noch angespannt dastand, und in voller Carriere
davon zu fahren, als ich in der Richtung, wohin der Schlitten stand, ein wil¬
des Geschrei hörte, und in dem Augenblick auch schon um die letzten Häuser
des Dorfes eine Horde Bauern mit Stöcken und Dreschflegeln bewaffnet her¬
umkommen sah. Sobald die vordersten mich am Schlitten stehen sahen, moch¬
ten sie meine Absicht errathen und stürzten mit der Wildheit reißender Thiere
aus mich zu. Hatten die Bauern, die mich in Werynia zuerst aufgehalten,
noch eine gewisse Rücksicht gezeigt, so waren diese neu angekommenen, vielleicht
durch Nachrichten aus Kolbuszow mehr aufgeregt, offenbar zu jeder Gewaltthat
aufgelegt. Sie bemächtigten sich des Schlittens, führten ihn in den Stall des
Kruges und schleppten mich, der ich mich vor ihnen auf den Hof geflüchtet hatte,
ebenfalls dorthin. „Verräther! Schuft! Aas! — Was hast du im Schlitten?"
riefen sie und schritten sofort zur Untersuchung desselben. Ohne auf meine
Einrede zu hören, rissen sie zuerst meine Reisetasche aus dem Schlitten und
wollten sie aufschneiden, als ich noch schnell genug die Schlüssel fand. Oben¬
auf lagen meine geladenen Pistolen. Eine riß sogleich ein Bauer an sich und
lief mit den Worten: „Oho, die ist gut für mich!" davon. Ein zweiter Bauer
nahm die andere, zog den Hahn und drückte, nach der Herzgrube zielend, mit
den Worten: „Wollen Probiren, ob sie geladen ist!" auf mich ab. Glücklicher¬
weise hatte ich kein Zündhütchen ausgesteckt, sonst hätte er mich unfehlbar nie¬
dergeschossen. Während der Bauer die Pistole noch besah, die er auf mich ver¬
geblich angelegt hatte, schrie ein dritter, dessen Name, wie ich erfuhr, Niezgoda,
war: „Wozu hast du die Pistole, du Schuft? Du willst uns tödten! da hast
du was!" wobei er mir einen Faustschlag hinters Ohr versetzte. Da ich Miene
machte, mich zu wehren, schlug der Haufe mit Stöcken und Flegeln aus mich
los, indem sie riefen: „Schlagt ihn todt, den Hund, wie den Bilanski!" So
gut ich konnte, parirte ich die Schläge, indem ich meine Arme über den Kopf
hielt, um diesen wenigstens zu schützen. Aber endlich drangen die Hiebe auch
hier durch, blutend und vor Schmerzen schreiend, stürzte ich an der Stallthür
nieder. So lange ich noch schrie, schlugen sie zu, endlich siel ich in Ohn¬
macht.
Nun ließen sie mich liegen und gingen vor die Thür, Wache zu halten.
Nach einer Weile kam ich wieder zu mir. Es war inzwischen dunkel geworden,
und ich überlegte, was ich thun sollte, ob es besser wäre, ins Freie zu flüchten
und im Schutze der Dunkelheit den Bauern zu entwischen, oder mich in den
Krug zu begeben und beim Krüger oder irgendeinem Verständigem unter den
Bauern Schutz zu erbitten. In dem Gaststalle konnte ich nicht bleiben, in der
Winterkälte, ohne Nahrung und Wärme, aus Kopfwunden blutend, hätte ich
von dem Ersten Besten, der allein in den Stall gekommen wäre, niedergeschlagen
werden können; im Freien hätte ich vielleicht eine der benachbarten Hütten
erreichen und mich bei einem mitleidigen Menschen verstecken können, vielleicht
aber auch nicht, und wäre ich fliehend erreicht worden, so würde der Tod mein
sicheres Loos gewesen sein. Ich beschloß also durch eine vom Stall direct in
den Krug führende Thür in die Hinterstube des Krügers zu schleichen und mich
dort oder irgendwo anders von demselben verstecken zu lassen. Aber in dem
Augenblick, wo ich mich aufraffte, Mußten meine Bewegungen wohl von einem
der wachehaltenden Bauern bemerkt worden sein; denn sie stürzten mit Geschrei
mir nach und drängten mich auf der Flucht in die Schenkstube, die von be¬
trunkenen Bauern wimmelte. Ich drängte mich, den Kopf nach unten haltend,
durch sie hindurch, um hinter den Schenktisch zu gelangen, aber Niezgoda hielt
mich fest und rief dem Krüger zu: „Gieb die Stricke her, wir müssen den
Racker aufhängen!" Alsbald legte man mir eine Schlinge um den Hals, und
als ich mich in Todesangst dagegen sträubte. hieb der trunkene Haufe auf mich
los. Ein fürchterlicher Schlag über den Hirnschädel betäubte mich fast, ein heißer
Strom Blutes rann mir über das Gesicht. Doch behielt ich — was vermag
der Mensch nicht in solcher Gefahr? — noch so viel Kraft und Besinnung,
daß ich die Hand in die Schleife steckte, die ohnehin an meinem Rockkragen
anhatte, so daß ich dadurch vor der Erdrosselung geschützt wurde. Wüthend
rissen mich die Bestien an dem Stricke hin und her, und ein vierschrötiger
Kerl hieb mir mit einem Faustschläge die vier obern Borderzähne ein, so daß
ich sie ausspie. In meiner Angst und bei dem namenlosen Schmerze, den mir
namentlich der Verlust der Zähne verursachte, die an den Wurzeln abgebrochen
waren, schrie ich alles durcheinander, was mir an Worten einfiel, die sie viel¬
leicht zur Milde stimmen konnten. Doch endlich versagte mir die Stimme, der
Strick zog sich trotz aller Gegenwehr fester und fester, und ich wäre sicherlich
erstickt, wenn nicht ein alter, weißhaariger Bauer in die Stube getreten wäre,
der meine letzten Worte hörte und sich beschwichtigend an seine Kameraden
wandte: „Ich war," sagte er, „im französischen Kriege; da haben wir es so
gemacht, wenn einer Pardon rief, dann haben wir ihm das Leben geschenkt!"
Mit diesen Worten wehrte er die Andern ab, indem er sich breitbeinig über
mich stellte, schleppte mich, da mich meine Kräfte verließen, auf eine Bank im
Winkel der Stube nahe dem Schenktisch, und nahm schnell den Strick vom
Halse. Will, so hieß mein Retter, setzte sich vor mich und wehrte die Andern,
die nach einem Augenblick verdutzter Scheu, wieder mit wildem Geschrei nach
meinem Leben verlangten, mit Ruhe ab. Dennoch wäre Will wohl nicht im
Stande gewesen, mich dauernd zu schützen, wäre nicht zum Glück in dem
Augenblick vor der Thür ein Lärm entstanden, der die Bauern veranlaßte, hin¬
auszulaufen, um zu sehen, was es gebe. Nur vier Mann blieben als Wache
zurück, welche mit dem Strick mir die Arme im Ellbogengelenk auf eine bar¬
barische Weise zusammenschnürten; einer der Kerle stellte sich in seiner Be¬
trunkenheit auf den Tisch und hielt das andere Ende des Strickes, als wenn
er ein Schwein zu Markte triebe.
Bald kam der Haufe zurück und brachte außer einem andern Gefangenen,
der draußen bleiben mußte, einen der Dorfgeschwornen mit, den der selbst schon
gefangne Graf, als er von meinem Unglück gehört, ersucht hatte, sich nach
meinem Namen zu erkundigen und fernere Mißhandlungen zu verhindern. Als
dieser meinen kläglichen Zustand sah, stellte er die Bauern und namentlich
Niezgoda über ihr Verfahren zur Rede. Statt aller Antwort hieb Niezgoda
auf ihn los; der ganze Haufe stimmte damit überein und prügelte den Ge¬
sandten zur Thür hinaus, wobei letzterer mein Portefeuille, das er irgendwie
erlangt haben mußte, auf dem Tisch zurückließ.
Indessen nahte sich mir ein Mensch, von dem ich nach seinem Bedienten¬
rock und Wappenknöpfen muthmaßte, daß er ein Lakai des Grasen sei, und
redete mich in gebrochenem Deutsch an, da man inzwischen aus den mir ge¬
raubten Papieren ersehen haben mußte, daß ich kein Pole, sondern ein Deutscher
war. Mit .meinem geschwollenen Gesicht und der noch heftig schmerzenden
Kehle konnte ich nur wenige und unzusammenhängende Worte vorbringen, wo¬
rauf der Lakai, der mit den Bauern unter einer Decke zu stecken schien, das
Portefeuille aufmachte und mit Kennermiene meinen Paß und die Handels¬
papiere besah. Offenbar konnte er aber nicht klug daraus werden, und ich
zeigte mit dem Finger, wobei ich mich aber, da meine Arme gebunden waren,
seitwärts an den Tisch stellen mußte, auf die in dem sich Paß befindenden Vlsa-
stempel.
„Die können falsch sein," riefen die Bauern, „denn Du bist sicherlich ein
Berather."
Darüber entstand ein verworrenes Hin- und Hergerathe; man fragte mich,
ob die Papiere alles wären, und dergleichen mehr. Die Bauern entzweiten
sich bei ihrem Examen selbst untereinander, Niezgoda fing Händel an und wurde
zu meiner heimlichen Genugthuung selbst tüchtig durchgeprügelt, gebunden und
hinaufgebracht.
Wie ich nun schon hoffte, daß sich alles zum Bessern wenden würde und
auch Will mich eine Weile verlassen hatte, kam ein neues Leiden über mich.
Es sammelte sich ein Haufen Weiber und junger Bengel um mich Gefesselten
und amüsirte sich mit dem Barte, indem sie fragten: „Bist du ein Jude? Bist
du ein Edelmann?" worauf andere erwiderten: „Nein, das ist ein Edelmann.
Wir werden jetzt nicht mehr für Herren arbeiten; wir sind jetzt selbst Herren."
Die Bursche schlugen mir mit Gerten ins Gesicht, was mir indessen lange nicht
so schmerzhaft war. als das Stechen und Bohren mit spitzen Stöcken in den
Leib und die Beine, wobei die Bestien riefen: „Na, thut das weh?" Meinen
Bart und einen Theil der Gestchtshaut rissen mir die Weiber flockenweise ab.
Während dieser Marter, von der man sich kaum einen Begriff machen
kann, erschien zu meinem Entsetzen wiederum der nichtswürdige Niezgoda, der
inzwischen sein Ansehn wieder hergestellt hatte, an der Spitze eines Haufens,
der den winselnden Baruch Schlajen hinter dem Ofen, wo er sich versteckt hatte,
hervorschleppte und schritt an mir vorbei in eine kleine Nebenstube des Krügers,
wohin er mich durch einen Bauer vor Gericht entbieten ließ. Ich konnte
nur mit Mühe die wenigen Schritte gehen und stellte mich vor ihn, an einen
Tisch gelehnt. „Wo hast du die Pistolen?" fragte er. „Ich habe sie nicht, die Bauern
haben sie genommen," antwortete ich. „Stillgeschwiegen, du Luder!" brüllte er,
schmetterte mich durch einen Faustschlag auf ein seitwärtsstehendes Sopha und be¬
arbeitete meinen Schädel mit einem Stocke. Ich war mit dem Kopf auf ein Stück
Leinwand das auf dem Sopha zusammengefaltet war, zu liegen gekommen und
tränkte es sofort Blut. „Meine Leinwand! Meine Leinwand!" kreischte die jüdische
Wirthin. Niezgoda gab mir mit dem Fuß einen Stoß, und ich flog zwischen
Tisch und Sopha an die Erde, worauf ich die Besinnung verlor und für todt
liegen gelassen wurde.
; ' Wie lange ich so gelegen, weiß ich nicht, aber es war stockfinster, als ich
erwachte. Keine Seele rührte sich in der Stube, und auch draußen war es still.
Ich war noch in einem traumähnlichen Zustand, in welchem ich wohl einmal
ein Geschrei draußen nach dem Krüger und nach neuen Stricken hörte. Darauf
aber vernahm ich wieder nichts und lag an den Händen gefesselt in einer
Sinncsdämmerung da. Da wurde ich ganz erweckt durch Hände, die an mir
herumtasteten und mich hinter dem Tisch hervorzogen. Ich gab Lebenszeichen
von mir, man brachte Licht, besah mich, und ein Bauer sagte: „Wie konnte
er wieder aufleben? Na, der hat ein Leben wie eine Katze!" Man richtete
mich auf und stieß mich vor die Thür des Kruges, wo mich Niezgoda mit dem
unvermeidlichen Faustschlag empfing, indem er triumphirte: „Siehst du, Hunde¬
blut! Du bist selbst Schuld daran!".
Vor dem Hause standen zwei Schlitten, der des Baruch Schlajen und einer
vom Grafen, In ersterem lag ein Mann gebunden und in der bittern Winter¬
kälte nur mit Hemd und Hosen bekleidet, wie ich später erfuhr, der Actuar
Roller aus Drikowiec. Aus einer Wunde, die ihm im Rücken mit einer Mist¬
forke beigebracht wär, blutete er stark. Im zweiten sah an den Füßen gebunden
Graf TrMewicz; neben ihm stand die Gräfin im Schlitten und sprach flehend
zu den umstehenden Bauern, die schweigend zuhörten, während die Weiber um
den Schlitten gedrängt zum Theil knieten und ihr demüthig antworteten.
Solche Gewalt hatte die Gewohnheit der Sklaverei über diese Bestien selbst
im Augenblick der Empörung. Doch die Bauern riefen, um die Bitten der
Gräfin abzuschneiden: „Wir müssen nach Rzeszow fahren; wir haben Befehl
vom Kreise." Darauf packte man mich in den vorderen Schlitten, nachdem
man vorher die Stricke an den Armen fester angezogen hatte, so daß die Ellen¬
bogen und Schulterngelenke furchtbar schmerzten und die Hände erstarben.
Neben mir lag der Actuar Roller, auf dem Kutschersitz saß, gleichfalls ge-
bunden, der gräfliche Koch Jankowski. 'Nun kam noch ein dritter Schlitten
aus dem Hofe heraus. Eine Anzahl betrunkener Bauern kletterte hinauf, einige
stiegen auf die Schlitten der Gefangenen als Kutscher und Wächter, und fort
ging es unter fürchterlichem Geschrei nach Rzeszow. Halbwegs lag eine Schenke.
Da wurde angehalten und alle Bauern, bis auf zwei, die als Wache zurück¬
blieben, gingen hinein, betranken sich von Neuem und wurden, da sie mit
andern Bauern, die dort gerade versammelt waren, Händel anfingen, von diesen
zur Thür hinausgeworfen. Dieses Intermezzo dauerte jedoch wohl IV2 Stunden,
wenigstens dünkte uns draußen in zum Theil mangelhafter Kleidung bei der
nächtlichen Kälte die Zeit entsetzlich lang. Endlich ging der Zug weiter, und
wir kamen in einen Wald, wo der Schnee so tief lag, daß die Pferde Mühe
hatten uns weiterzuschleppen- Die Bauern verloren darüber die Geduld und
hielten still. Aber wer beschreibt unser Entsetzen, als sie ernsthaft darüber zu
delibenren anfingen, ob sie uns sämmtlich nicht lieber an den Bäumen auf¬
hängen sollten, statt den Weg nach Rzeszow weiter zu fahren. Aufgehängt
oder todtgeschossen würden wir als Verräther ohnehin, es wäre unnütz, sich
weiter zu bemühen. Die meisten Bauern stimmten diesem Vorschlage bei, und
schon sah man sich nach den passendsten Bäumen um, die wir zieren sollten, als
es den Vernünftigem und namentlich dem alten Will, der zum Glück mit
unter der Deputation war oder sich aus Menschlichkeit dem Zuge angeschlossen
hatte, gelang, dieses Vorhaben den Andern auszureden, so den drohenden Tod
von uns abzuwenden und den Zug nach Rzeszow wieder in Bewegung zu
setzen.
Als wir uns dieser Kreisstadt bei noch dunkler Nacht, aber doch gegen
Morgen näherten, trafen wir auf ein Piquet Kuirassiere. die uns in Empfang
nahmen, worauf die meisten Bauern in dem einen der drei Schlitten schnür,
stracks nach Hause umkehrten, und nur wenige bei uns blieben.
Wir fuhren vor dem Kreisamt vor, und alsbald zeigte sich der Kreishaupt¬
mann Lederer, dem die Gräfin, die tapfer bei ihrem Gemahl ausgehalten hatte,
weinend die Angst erzählte, die sie um sich, ihren Mann, ihren Sohn aus¬
gestanden, und auch unser Schicksal ans Herz legte. Der Beamte zeigte sich
menschlich und befahl, uns sämmtlich in ein Hotel zu transportiren, wo wir,
wenn auch unter Bewachung, gut aufgehoben gewesen wären, wenn nicht in
demselben Augenblick ein Befehl vom General Legedicz, der in der Stadt
commandirte, angekommen wäre, der uns in das Criminalgefängniß verwies!
Zunächst ging an mir, der vor Schmerzen, Blutverlust, Hunger und Kälte
halbtodt war, dieser Befehl eindruckslos vorüber — gleichgiltig wo, wenn ich
nur überhaupt zur Ruhe kam. Auf dem Wege zum Kerker überhäuften die
escortirenden Soldaten, die über den ewigen Wacht- und Nachtdienst unwillig
waren, uns alle mit den gröbsten Schimpfwörtern, drohten uns aufzuhängen,
die Kugel durch den Kopf zu jagen und was dergleichen Liebenswürdigkeiten
mehr waren. Es waren Böhmen, die uns mit unserer vermeintlichen Empörung,
an der ich wenigstens so unschuldig war, wie ein neugebornes Kind, .höhnten.
Einer, der neben mir ging, fragte noch spöttisch: was nun unser Gräfchen uns
hälfe? — Ick? antwortete nicht, weil ich zu allem unfähig war, und war end¬
lich froh, als sich die Thür, hinter der man sonst Rauher und Mörder ver¬
schließt, auch hinter mir schloß.
Auf dem Hofe des Gefängnisses wurden wir von den Stricken befreit,
aber meine Arme waren so geschwollen, daß ich sie anfangs gar nicht, und
später nur mit großen Schmerzen wieder in ihre natürlich Lage zurückbrachte.
Trotz alledem muß ich heute lachen, wenn ich daran denke, wie mir zwischen
den himmelhohen Mauern, als ich in einem Winkel ein Bedürfniß befriedigte,
der dort Wache stehende Infanterist sein Bajonnet vor den Leib hielt.
Wir vier, Graf Tyskiewicz. der östreichische Actuar, der polnische Koch
und ich, der preußische Kaufmann, wurden nun vor eine Zelle geführt, an
deren Thür mit großen Ziffern Ur. Is geschrieben stand. Der Schließer öffnete
und holte einen an Händen und Füßen geketteten, mit einem Schuppenpelz
bekleideten Mann hervor, der, wie wir, in diesem Aufstande dorthin eingebracht
war, und nun diese geräumigere Zelle mit einer engern vertauschte, um uns
Vieren Platz zu machen. Eine einzige Pritsche stand darin; ich warf meinen
Pelz darauf, den mir bei der Abfahrt von Werynia eine mitleidige Seele
(wahrscheinlich ein deutscher Pächter Namens Binder, der sich erst kurz vor
unserer Abfahrt eingestellt) um die Schultern gehängt hatte, und ich legte mich
hin. Die drei Andern ließen sich das gefallen, obgleich sie sich nun an die
Erde legen mußten. Ohne irgend weiter für uns zu sorgen, gingen daraus die
Kerkermeister ab und schlössen uns ein.
So waren wir denn den Händen der Bauern entronnen, und ich kann
nicht sagen, wie dankbar ich meinem Schöpfer war. der mein Leben unter so
schrecklichen Leiden erhalten hatte. Daß man uns in das Criminalgesängniß
geworfen hatte und wie die gemeinsten Verbrecher behandelte, war mir, der
vor Schmerzen an allen Gliedern kaum eines Gedankens fähig war — denn
jetzt in der Ruhe und außer Lebensgefahr fingen die Wunden, Striemen und
Beulen viel mehr an zu schmerzen, als während der frühern Aufregung —
eigentlich gleichgiltig; desto mehr tobten meine Gefährten, die den General
verwünschten und die Schale ihrer Wuth über das Schließerpersonal aus¬
schütteten. Allmälig wurde es unterdessen Morgen, wo sich denn die Thür
öffnete und mehre Beamte zu unserer „Revision" eintraten. Einer nach dem
andern wurden wir entkleidet und unsere Kleider nach verbotenen Gegenständen
durchsucht, wie man Spitzbuben bei ihrem Eintritt ins Zuchthaus untersucht.
Entweder waren die Beamten so bornirt, daß sie zwischen uns und dem ge¬
wöhnlichen Gelichter nicht zu unterscheiden wußten, oder die Bauern hatten uns
für Insurgenten, Räuber oder Mörder ausgegeben, und man hatte diesem Ge¬
sinde! unbedingt geglaubt, ohne uns auch nur im entferntesten über die uns
ur Last gelegten Verbrechen zu befragen. Als nun beim Entkleiden mein
jammervoller Zustand zum Vorschein kam, und sich kein Körpertheil zeigte, wo
ich nicht mehr oder minder schwere Verletzungen hatte, rief man den Gefängni߬
arzt Dr. Tarde, der aber sehr entfernt von der Humanität war, die man sonst
an den Aerzten rühmt. Er begnügte sich mit einer ganz oberflächlichen Be¬
trachtung und meinte, es wäre nicht so schlimm, wie es aussähe; ich sollte mir
nur kalte Wasserumschläge auf den Kopf legen. Das war geradezu ein Hohn
für mich, da ich infolge der Gelenkgeschwulst meine Arme gar nicht bis zur
Höhe des Kopfes bringen konnte. Zu Umschlägen verabreichte man mir schmutzige
Lappen aus den zerrissenen Hemden der Spitzbuben, die hier gesessen hatten,
welche mich mit solchem Ekel erfüllten, daß, als der Koch sich erbot, sie mir
aufzulegen, ich es mir verbat, wodurch ich freilich die brennende Hitze der
Wunden nicht löschte. Demnächst nahm man uns alle Habseligkeiten außer den
Kleidern, die wir auf dem Leibe hatten, weg. Nun hatten die Bauern bei der
Plünderung meines Schlittens mich freilich vieler werthvollen Gegenstände be¬
raubt, die Reisetasche mit ihrem ganzen Inhalt an Kleidern, Wäsche, ein dicker
Burnuß, die Pistolen u. s. w. waren unwiederbringlich verschwunden, und beim
Binden der Arme hatte ein schlauer Patron mir im Gedränge einen werth¬
vollen Siegelring vom Finger gedreht. Aber mein Geld hatten sie in der
ungetrübten Besoffenheit, die bei ihrem Aufstande herrschte, nicht entdeckt; die
4200 Gulden in Papier und die 100 in Gold sowie einige Cigarren steckten
wohlverwahrt in der Brusttasche meines Rockes. Auf den ingeniösen Einfall,
Geld bei einem reisenden Kaufmann zu suchen, waren die Bauern nicht ge¬
kommen. Jetzt aber mußte ich das Geld abliefern, und der Kerkermeister zählte
es aus mein Verlangen vor meinen Augen durch, wobei er sich leider zweimal
irrte, indem er durchaus eine Banknote zu 100 und eine zu 50 Gulden weniger
fand, als ich angab. Erst als zum dritten Male ein anderer Beamter zählte,
fand sich meine Angabe bestätigt. Gewarnt, bat ich Graf Tyskiewicz, die
Summe mit einem Stückchen Holz in die Tünche der Gefängnißwand zu kratzen
und rief die Anwesenden zu Zeugen auf.
Nun stellten die Leute noch drei Pritschen in unsern Kerker und gaben
jedem von uns einen Strohsack, der abscheulich hart und zerlumpt war. Wir
wurden schließlich von den Kerlen gefragt, was wir essen wollten. Der Graf
bestellte für sich und seine beiden Leute Essen bei dem Kerkermeister und wies
ihn zum Behuf der Bezahlung auf ein Handlungshaus an. Ich, unlustig zu
allem und ernstlich krank, hatte mich auf meine Pritsche gelegt und antwortete
auf dieselbe Frage, er sollte sich zum Teufel scheren. Dies sollte ich büßen;
denn man brachte mir die ordinäre, elende Gefangenkost, zu der ich keinen
Appetit gehabt haben würde, selbst wenn ich in meinem Zustande überhaupt
Eßlust gespürt hätte.
Am andern Morgen brachte man den Andern Kaffee, und als ich nach
meinem fragte, erhielt ich die k. k. Kanzleistilantwort: Aerarialgefangene er¬
hielten keinen Kaffee. Als ich nun erklärte, ordentliche Speise haben zu wollen,
fragten die Schließer höhnisch: „Wovon?" — „Von meinem Gelde, was aÄ
üöxosituin genommen ist." — „Das ist nicht Ihr Geld, bevor Sie bewiesen ha-
den, daß es Ihnen gehört!" Nun lief mir doch die Laus über die Leber, und
so weh mir alle Glieder thaten, sprang ich, durch den Tag Ruhe wieder etwa»
erfrischt, auf, und erging mich in tausend Verwünschungen.
„Was!" rief ich, „nicht genug, daß mich die Bauern bis aus den Tod
mißhandelt und mich ausgeplündert haben, nicht genug, daß ich hier mit An-
dern, die ich gar nicht kenne, als desselben Verbrechens beschuldigt, eingesperrt
gehalten werde, soll ich auch noch für einen Dieb gehalten und unter schuftiger
Vorwänden im Gefängniß selbst bestohlen werden! Wo sind meine Papiere?
Wo ist mein Paß? Ich bin königlich preußischer Unterthan; euer Consul hat
mir durch Siegel und Unterschrift den Schutz aller östreichischen Behörden ver-
sprechen; und jetzt werde ich auf die Aussage viehisch betrunkener Bauern hin
hier eingesperrt, ohne den geringsten Schein des Rechts? Laßt Euch nicht bei-
kommen, mich betrügen zu wollen; sobald ich aus diesem verwünschten Loche
heraus bin, was in Kurzem geschehen muß, werde ich Euch bei Euern Vorgesetz¬
ten verklagen, und wenn ich bis zum Justizminister gehen sollte!"
Die Schließer wurden nun ganz verdutzt und sahen ein, daß sie mich nicht
schrauben konnten; denn darauf war es offenbar abgesehen. Diese Wichte
waren so gewöhnt, mit Gaunern umzugehen, daß sie selbst zu Gaunern ge¬
worden waren, und jedes Mitgefühl mit den Leiden Andrer in ihnen erstickt
War. Einer lief zu dem Herrn, der sich bei der Geldzählung schon als ehrlich
erwiesen hatte und Naleppa hieß, und dieser erlangte ohne Mühe von dem
Kammerpräsidenten Russinow die Erlaubniß, mir 50 Fi. zur einstweiligen Be¬
streitung meiner Kost und Anschaffung von Wäsche — denn ich hatte nicht ein
Hemd, als das, welches ich auf dem Leibe trug und das war voll geronnenen
Blutes — von meinem Gelde auszuhändigen. Ich bestellte mir demnach or¬
dentliche Speise und einige Wäsche, die ich so schnell wie möglich zu haben
wünschte. Ich hatte keine Vorstellung, wie lange ich noch sitzen sollte, und
trieb daher schon deswegen zur Eile. Aber ich kannte noch nicht zur Genüge
den Schneckengang der öffentlichen Geschäfte in Oestreich und hatte dazumal
keine Vorstellung von dem panischen Schrecken, der alle Beamten in Galizien
ergriffen hatte. Hätte ich diese Kenntnisse besessen, so würde ich ermessen ha¬
ben, was die lauen Versprechungen des Kreishauptmanns v. Festenburg und
des Präsidenten Russinow, die am vierten Tage meiner Gefangenschaft zu einem
vorläufigen Verhör in unsere Zelle kamen, zu bedeuten hatten. Ich bemerke
übrigens, daß, was ich bei solchen Gelegenheiten von den Andern aussagen
hörte, mir theils unverständlich, theils gleichgiltig. theils der Art war, daß
ich, von dem Grundsatz ausgehend, sich in fremden Ländern nicht um fremde
Angelegenheiten zu kümmern, ihre Aeußerungen ein für alle Mal übergehe und
mich nur auf unsre gemeinsamen Erlebnisse beschränke.
Inzwischen hatte sich der Zustand mehrer meiner Wunden, namentlich derer
am Kopfe, dergestalt verschlimmert, daß ich von einem starken Wundfieber be¬
fallen wurde. Bald war mir glühend heiß, bald so eiskalt, daß ich mich trotz
der zeitweisen Hitze, die ein eiserner Ofen in unserm Kerker hervorbrachte, in
meinen Pelz wickeln mußte. Dazu kam das Nachdenken über mein trauriges
Loos, das mich sehr entmuthigte. Wer ein rechter Kaufmann ist, sinnt Tag
und Nacht, selbst mitten in Zerstreuungen, über sein Geschäft nach. Nun hatte
ich Muße, den sehr bedeutenden Schaden, den ich und durch mich das war¬
schauer Haus, dessen Bevollmächtigter ich war, erlitt, mir vorzurechnen. Ganz
abgesehen von dem allgemeinen Druck, den die schlechte Zeit auf alle Handels¬
unternehmungen in Galizien üben mußte, standen mir alle die Leute vor Augen,
Holzfäller, Flößer, Juden und Grundbesitzer, die alle auf mich warteten, um
besprochene Contracte abzuschließen, Lohn zu erhalten, Holz zu überweisen u. s. w.
ins Unendliche.
Ich muß hier einschicken, daß mein Geschäft ein außerordentlich aus¬
gedehntes war, sodaß ich nicht zu viel behaupte, wenn ich sage, daß mehr wie
tausend Menschen, namentlich Holzarbeiter, Fuhrleute und sogenannte Dschimken
lwas die Flößer übrigens für ein Schimpfwort ansehn) bei mir direct oder
durch Vermittler in Lohn standen. Mein warschauer Haus hatte mit großem
Kostenaufwand« und Risico damals zuerst den Versuch gemacht, ohne sich, so-
weit es ging, der Zwischenkunft der galizischen Juden, die Verkäufer und Käu¬
fer prellten, zu bedienen, direct durch seine Agenten in Galizien Holz zu kau¬
fen, Bearbeitung und Verstoßung selbst zu besorgen. .Diese Operationen
mußten aber mit dem Aufgehen der Flüsse im Frühjahr soweit beendet sein,
daß sofort mit dem Frühlingshochwasser das Holz den San und andere Neben¬
flüsse hinunterschwimmen konnte, um bei Zeiten in demselben Sommer Danzig
zu erreichen. Jeder Augenblick war somit kostbar, um wo möglich auf Schlit-
tenwegen das gefällte Holz an die Flüsse zu schleppen, es am Ufer großen-
theils zu Balken, Latten, Sleepern u. f. w. verarbeiten zu lassen und daraus
die Flöße zusammenzusetzen. Versäumt man den Augenblick des Hochwassers,
so wird der San oft so flach, daß die Flöße Schwierigkeiten finden, weiter¬
zukommen, was in dem zum Unglück trocknen Sommer 1846 später in der
That die ganze Flößerei hinderte.
Was sollte nun werden? Jeder Tag, den ich unthätig im Kerker lag,
konnte mir und meinem Hause unwiederbringlichen Schaden verursachen, um
so mehr, da auf den winterlichen Wegen so schnell keine Nachricht nach War¬
schau gebracht werden konnte.
Solche Gedanken vermehrten die Hitze des Wundfiebers, und meine Mit¬
gefangenen bestanden bei den Wächtern darauf, daß der Gesängnißarzt Dr. Tarde
noch einmal zu mir geholt werde. Zum Glück erschien dieser in Begleitung
des Präsidenten und fand sich nun gemüßigt, mich genauer zu untersuchen.
Es zeigten sich vier schwerere Kopfwunden, die stark eiterten. Die Haare
wurden mir kurz geschoren, und aus einer Wunde ein zolllanger dicker Holz¬
splitter herausgezogen; ein anderer lag hart an der Einbiegung der Schläfe
und hätte daher leicht tödtlich werden können. Nachdem ich gründlich bepflastert
war, versprach mir der Präsident wiederum baldige Untersuchung, resp. Frei¬
lassung, sowie auch die Gewährung meiner Bitte, an mein Haus Nachricht
gelangen zu lassen, wo ich sei. Beides geschah leider nicht.
Wenn ich jetzt bedenke, wie ich die damaligen Leiden überstanden habe,
muß ich mich über die Zähigkeit meiner Lebenskraft selbst wundern und dem
Bauern Recht geben, der mein Leben mit dem einer Katze Verglich. Und nun
bedenke man den Zustand der östreichischen Gefängnisse, wenigstens wie jenes
damals war, und die abscheuliche Manier der Beaufsichtigung. Der eiserne
Ofen verbreitete schnell Dunst und Hitze und war ebenso schnell wieder kalt.
Ein Nachtstuhl in der Zelle selbst strömte fürchterliche Gerüche aus, und dabei
durften wir das vergitterte Fenster nicht öffnen. Die Strohmatratzen und
„Aerarialdecken" aus grauweißem Drillich wimmelten von Ungeziefer, so.daß
wir uns durchaus nicht zu schützen vermochten. Gras und Koch, Actuar und
Kaufmann, Pole und Deutscher thaten sich daher nothgedrungen den Liebesdienst,
einander zu lausen. Die Wäsche, die ich mir in den ersten Tagen der Ge¬
fangenschaft bestellt hatte, erhielt ich nach drei Wochen! Während der ganzen
Zeit mußte ich mich mit meinem blutigen Hemde bedecken. Das Essen war
schlecht und vor allem unsauber. Natürlich wurde der Wächter bestochen, so
daß er uns allerhand verbotene Kleinigkeiten zukommen ließ. Um Schwefel-
Hölzer, die absolut verpönt waren, zu erhalten, boten wir ihm einmal Schnaps
an; er trank ihn. da er aus Furcht vor Ueberraschung nicht aufzumachen wagte,
durch das Gukloch der Thür vermittelst eines Strohhalmes.
In der Nacht hatten wir niemals Ruhe. Alle Augenblicke ertönte auf den
Gängen rücksichtslos das brüllende „Halt! wer da?" „Patrouille vorbei!"
der Runde; zweimal die Nacht rasselte man die Thüren aus, „um zu revi-
diren". Nur ein langwieriges Gefängnißleben kann an solche Störungen ge¬
wöhnen.
Endlich am 20. März wurde ich zum Verhör abgeholt! Schon vorher war
ich zwar hin und wieder im Gefängniß befragt worden; nun wurde noch einmal
ein Generalprotokoll über meine Schandthaten ausgenommen, ich aä sönerali»
und aä sxecialia über Herkunft, Geschäft, Religion, Revolution, Insurgenten
und Verschwörungen vernommen und ausgepreßt wie eine Citrone. Es wollte
aber nicht das geringste Tröpfchen Verrath aus mir herauskommen. Was nun
machen? Laufen lassen konnte mich der hohe Gerichtshof doch nicht gleich!
Das wäre ja allen k. k, Autoritäten ein Schlag ins Gesicht gewesen. Also
zurück „ins Criminal". aber doch in eine bessere Zelle für mich allein, mit an¬
ständigerer Behandlung und etwas freierer Bewegung. Aber noch fernere vier
Wochen sollte ich der Freiheit entbehren. Zwar bemühten sich meine Geschäfts¬
freunde und andere wohlwollende Leute eifrigst, mich loszumachen, mein
Haus, das von meinem Schicksale genauer unterrichtet worden war, wandte
sich an die höchsten Behörden — aber nein, die Furcht vor der längst be¬
wältigten Jnsurrection wirkte noch so nach, daß die Behörde mich erst
am 18. April in Freiheit setzte, natürlich ohne sich bei mir wegen ihres
unerhörten Verfahrens zu entschuldigen. Keineswegs wurde mir aber beim
Austritt aus dem Gefängniß mein Eigenthum sofort übergeben. Ich hatte
den ganzen Tag hindurch bis zum 19. Abends von Pontius zu Pilatus zu
laufen, ehe ich das Geld und mein Portefeuille nach Abzug eines beträchtlichen
Kostgeldes zurückerhielt. Meine andern Sachen sah ich niemals wieder. Erst
am 20. April konnte ich nach Jaroslaw abfahren, um mein inzwischen gren¬
zenlos verfallenes Geschäft wieder aufzunehmen, über dessen Zustand ich
schweige.
Aber meine Geschichte hat noch ein Nachspiel. Der geneigte Leser kann
wohl denken, daß ich nicht mit den friedfertigsten Gefühlen dem galizischen Ge¬
fängniß den Rücken kehrte. Ich wandte mich an das preußische Ministerium, an
die östreichische Regierung und besonders an den damaligen preußischen Gesandten
in Wien, einen Herrn v. Arnim, um Genugthuung. Letzterem stellte ich vor,
was ich erlitten, wie schändlich ich von der östreichischen Behörde behandelt
worden und was für Verluste mein Geschäft infolge dessen noch täglich erfahre.
Er möchte die Gewogenheit haben, die östreichische Negierung zu einer Ehren¬
erklärung Md zur Vergütung gewisser pecuniärer Beschädigungen anzuhalten,
worunter ich nur die Ausgaben verstand, die ich gemacht hatte, ohne sie ver¬
werthen zu können.
Die Antwort, die ich von dem Herrn Gesandten empfing, war sehr denkwürdig.
Herr v. Arnim gab mir eine solche, welche zeigte, daß ein preußischer Gesandter
damals viel Wichtigeres zu thun hatte, als sich für das Wohl preußischer Staats-
bürger im Auslande zu interessiren. Er habe keine Veranlassung, erwiderte
der gnädige Herr, sich in diese Angelegenheiten zu mischen, bedauere mein
Schicksal, eine Entschädigung auszuwirken sei unmöglich, und ich solle über¬
haupt zufrieden sein, daß ich mit dem Leben davongekommen!
Sicherlich hatte der vornehme Diplomat keine Vorstellung von so
untergeordneten Dingen wie der polnische Holzhandel für D-">z>g 'se. — so
Wenig wie die preußische Regierung von der handelspol'"«^" Wichtigkeit, die
für Schlesien und Breslau"in der Selbständigkeit Krakaus lag, Welches die Oest-
reicher damals — was jetzt vergessen zu sein scheint, aber nicht vergessen sein
sollte — unbehindert annectirten.
Die nachhaltigen Einwirkungen der Julirevolution auf das öffentliche Leben
unseres Vaterlandes sind nie geläugnet worden. Wir sind aber besser über die
Art und Weise, wie sich die französischen Einflüsse auf die liberalen Parteien
äußerten, unterrichtet, als über die Stimmung, welche die pariser Nachrichten,
der Wechsel der Dinge jenseits des Rheins in den regierenden Kreisen der
größeren deutschen Staaten hervorriefen. Darum dürfte es nicht uninteressant
sein, aus Aufzeichnungen wohlunterrichteter Männer über die Gesinnungen, Pläne
und Wünsche der Höfe in Berlin, Wien. Stuttgart und München einige Mit¬
theilungen zu machen, die uns recht lebendig und deutlich die Anschauungen
jener Kreise vorführen, von denen damals doch noch in viel höherem Maße als
heute, nach fünfunddreißig Jahren, die Stellung Deutschlands zu einer so wichtigen
Frage abhing. Die Wucht und Bedeutung des eminent nationalen und
liberalen Charakters der französischen Bewegung gab hauptsächlich in der
Beurtheilung derselben für Aristokraten und Liberale in Deutschland den Aus¬
schlag. Wie sich die Volkspartei, man möchte sagen instinctiv, von den pariser
Ereignissen begeistern ließ, fühlten ihre Gegner ebenso lebhaft die Gefahr,
die für sie in dem verführerischen Beispiel lag, das jenen von dem linken
Rheinufer her gegeben wurde.
Am kühlsten und nüchternsten, freilich auch mit dem größten Unbehagen, weil
man sich der eigenen Schwäche wohl bewußt war, sah man in Wien die
Lage der Dinge an. Auf den sehr kriegerischen Brief eines kleinstaatlichen
Generals antwortet am 24. August 1830 ein östreichischer Staatsmann: „Ihr
Brief vom 19. trägt das Gepräge Ihrer Seele. Ich begreife, daß die Begeben-
heiten in Frankreich so und nicht anders auf Sie wirkten. Diesmal aber, mein
theuerster Freund, muß die praktische Vernunft unsere einzige Führerin sein.
Die letzte und feierlichste aller Revolutionen ist nur angefangen, keineswegs
beendigt. Hinter den ^igen Machthabern steht eine andere Partei, die diesen
den Umsturz und der ganzen gesellschaftlichen Ordnung in Europa den absoluten
Untergang droht. Was wir auch von dem neuen Könige denken mögen, wir
sind gezwungen, wir sind nothgedrungen, seine Erhaltung zu wünschen; ear
apres lui — 1e äelliAö! Nehmen Sie hinzu, daß der Stand der Dinge
ein ganz anderer als im Jahre 1816. daß keine der großen Machte zum
Krieg gehörig vorbereitet ist, und Sie werden Sich nicht wundern, wenn 1s
iimmtiöll ac 1a paix von allen Seiten als das große Losungswort erschallt.
Heute müssen Sie Ihr tapferes Schwert noch in der Scheide halten; gebe
Gott, daß Sie es nicht allzufrüh in das Blut der Weltverderber tauchen
müssen. Ich sehne mich nach Ihrer Zurückkunft.*) Mit Ihnen zu sprechen
wird mir wohl thun. Sie werden mir Muth und Lebenslust einhauchen, die
mich allmälig verlassen. Nayneval**) geht morgen, ungerufen und auf gut
Glück, nach Paris. Ich sehe aus den neuesten Berichten, daß man uns Herrn
Aulaire als außerordentlichen Gesandten schicken will. Alles, was wir von
Paris hören, lautet finster und halsbrechend. Leben Sie wohl und sehen Sie
in diesen Zeilen das unruhige, geängstigte Gemüth, zugleich aber die unerschütter-
liche Anhänglichkeit Ihres :c. u."***)
Ein Münchener Brief vom 9. August läßt uns erkennen, daß der Hos
und seine Anhänger dieselben kriegerischen Gesinnungen hegten, die den von
Wien aus zur Ruhe ernährten General beseelten, während die Bevölkerung
von ganz entgegengesetzten Antipathien erregt wurde. Voll Bewunderung des
Betragens und der Tapferkeit der pariser Bevölkerung und voll Abscheu gegen
die unloyalen und feigen Handlungen des Ministeriums — so meldet unser
Gewährsmann — brenne man in München vor Begierde, sich mit den Franzosen
zu vereinigen und mit ihnen gegen Oestreich ins Feld zu ziehen, dem man
Schuld gebe, die dem König Karl so verderblichen Ordonnanzen unter der
Hand begünstigt zu haben. Es breche der ganze Haß wieder hervor, der den
Bayern gegen ihre Nachbarn angeboren zu sein scheine. Im Gegensatz zu dieser
Stimmung des Volkes scheine die ultra-royalistische und die fromme Partei
(I» collsr6gg>tivll) sehr bestürzt und athme nur Rache gegen die französischen
Revolutionäre.
In Berlin stand von Anfang an der Entschluß des Königs fest, sich
nicht in die Angelegenheiten Frankreichs zu mischen, und die ersten Staats¬
männer ertheilten ihm ihre ungetheilte Billigung. Dennoch fühlte man sich
von den pariser Ereignissen und den Gefahren, die sie möglicherweise im Ge>
folge haben könnten, sehr unangenehm berührt. Bei der ersten Nachricht soll
der König gesagt haben: „Nachdem ich die Greuel der ersten Revolution er¬
lebt, ihre Folgen gesehen und verderbliche Kriege zu führen gezwungen war,
hätte ich gerne mein Alter in Frieden zugebracht, da die gewöhnlichen Ange¬
legenheiten Sorge genug gewahren." Die Worte erinnern an Steins Ausruf:
„Also noch einmal soll das böse Volk Verwirrung über Europa bringen!
Wenn sie einmal losbrechen wollten und mußten, so wollt' ich doch, sie hätten
gewartet, bis ich todt wäre!" Den Ausbruch eines Rheinkrieges hielt man in
Berlin, wenn auch nicht für die nächste Zeit, für sehr wohl möglich und rüstete
sich im Stillen, damit er den Staat nicht unvorbereitet treffe. Je mehr man
sich aller Einmischung und alles dessen enthielt, was einer Herausforderung
ähnlich sehen konnte, um so mehr rechnete man auch auf den Enthusiasmus
der Nation, wenn ein Vertheidigungskrieg nöthig würde; in den alten Provinzen
durfte man wohl mit Gewißheit darauf zählen.
Das Schreiben eines wohlunterrichteten Mannes (aus Berlin vom 20. August)
mag hier Platz finden, da es die Stimmung der verschiedenen Kreise des Landes
sehr 'klar zur Anschauung bringt und in seiner unbedingten Anerkennung der
preußischen Schlagfertigkeit um so unbefangener erscheint, als der Verfasser ein
Süddeutscher ist. „Abgesehen davon" — heißt es nach dem für unser Thema
gleichgiltigen Eingang — „daß ein Angriffskrieg Preußens gegen Frankreich
unter den gegenwärt-igen Verhältnissen unpopulär wäre, indem unverkennbar
auch im preußischen Volke die Stimmung für die Pariser und gegen die Bour-
bonen ist, ist auch die ganze bekannte preußische Militärverfassung mit ihrer
dreijährigen Dienstzeit und dem Landwehrsystem mehr auf einen Vertheidigungs¬
krieg als auf einen Angriffskrieg berechnet. Will Preußen einen Krieg mit
Glück führen, so muß es ein Volkskrieg sein, ein blos politischer Krieg ließe
die Nation kalt. Dagegen sind die militärischen Streitkräfte Preußens bedeutend,
die Mittel in gutem Zustande und zahlreich, ein Vorzug, den es vor Rußland
in diesem Augenblicke hat, dem ein Krieg sehr ungelegen käme, da es durch
den Türkenkrieg mehr erschöpft ist. als man glauben sollte. Wie Oestreich an
einem Zehrfieber darniederliegt, wie dessen Militärkräfte durch Vernachlässigung
in Verfall gerathen, ist bekannt. Preußen steht dagegen jung und kräftig da.
Die Arsenale sind alle gefüllt, die Regimenter, ja selbst die Landwehr, haben
alle zwei complete Anzüge auf den Kammern; die Festungen sind in dem
besten Zustande, und in ihnen befinden sich beträchliche Magazine von Getreide
und Mehl, in wohlfeilen Jahren aufgekauft und stets gut erhalten. Zur
Mobilmachung sämmtlicher Armeecorps bedarf man etwa neun Millionen Thaler,
und diese liegen, nur für diesen Zweck, stets im ^Staatsschatz reservirt. In
vierzehn Tagen bis drei Wochen kann jedes Armeecorps auf den Kriegsfuß
organisirt, concentrirt sein. Im Stillen bereitet man sich zur Vertheidigung
vor, die Festungen Saarlouis, Luxemburg, Jülich, Wesel, Koblenz werden ohne
Geräusch für die möglichen Ereignisse in Stand gesetzt, ja selbst für die
rückwärtsliegende Festungslinie an der Elbe werden Borkehrungen getroffen.
Eine bei der trefflichen Organisation geräuschlose Thätigkeit herrscht in der
Militärverwaltung.
Der Geist der Armee ist ein guter, den jungen Offizieren wäre ein Krieg
nicht unlieb, der sie in Thätigkeit brächte, Avancement und Gelegenheit zur Aus¬
zeichnung verhieße; selbst viele Stabsoffiziere und jüngere Generale würden
damit zufrieden sein, weil sie Gelegenheit erhielten, vielleicht noch eine Rolle
zu spielen, ehe das Alter sie heimsucht und ihre Kräfte abstumpft. Jedoch ist
diese kriegerische Stimmung eines Theils der Armee nur passiv, nicht eine fort«
reißende, wie im Jahre 1806 und beschränkt sich auf stille Wünsche. Im All«
gemeinen spricht sich in der Armee keine bestimmte politische Meinung
aus; Vaterlandsliebe. Liebe zum Ruhm und vor allen Dingen für den König
und sein Haus die unbedingteste Hingebung sind vorherrschend.
Was nun den Geist des Volkes betrifft, nämlich der Masse, so kann
man wohl annehmen, daß er bei den Vorgängen in Frankreich fast gleichgiltig
geblieben ist. Die Rheinprovinzen und Westphalen möchten davon ausgenom¬
men sein. Nicht so verhält es sich mit der Beamtenwelt, dem Handels- und
Lehrstande :c., die vielleicht mehr von den sogenannten freisinnigen Ideen durch¬
drungen sind als gerade nothwendig wäre. Doch die allgemeine Liebe zum
König mildert und mäßigt hier alles.
Im Gegensatze zu der oben erwähnten Classe des Beamten-, Handels¬
und Lehrerstandes stehen die adligen Gutsbesitzer, einige wenige Staatsdiener,
höhere Militärs und besonders Hofleute aus den Umgebungen des Prinzen,
die zwar alle zusammen die Minorität ausmachen, aber sich desto lauter zu
dem entgegengesetzten System bekennen und dafür aussprechen, da es ihnen
gelungen, wenigstens dem Anschein nach, den Kronprinzen dafür zu ge¬
winnen.
Einen beklagenswerthen Uebelstand bringen die Umgebungen des Kron¬
prinzen hervor, da diese entweder, der angenommenen und verbreiteten Meinung
nach, zu den Pietisten oder Absolutisten gehören sollen, nämlich sie bewirken,
daß der Kronprinz in gewisser Art an Popularität verliert, und daß man mit
Bangigkeit einem dereinstigen Regierungswechsel entgegensieht. Gerade jetzt,
bei den Ereignissen in Paris, sind dem Kronprinzen bei seiner Lebhaftigkeit
vielleicht nichts bedeutende Aeußerungen entschlüpft, die unkluger- und unrechter¬
weise von den Umgebungen verbreitet werden, aber im Volke Wurzel fassen
und dem Prinzen vielleicht in unverdienter Weise die Gemüther abwenden.
Viele erwarteten anfangs, es würden von Preußen Anträge an den denk-
schen Bundestag ergehen; jedoch hat sich Graf Bernsiorsf dagegen erklärt, weil
man nicht von der Voraussetzung ausgehen könne, als sei Deutschland durch
die Vorgänge in Frankreich bedroht. Sollten die Umstände sich ändern, so
wird das preußische Cabinet nicht unterlassen, sich mit den deutschen Staa¬
ten in Communication zu setzen."
Die Haltung Preußens wurde auch nicht durch die Nachrichten aus
Se. Petersburg geändert, welche meldeten, daß der Kaiser von Nußland die
Ereignisse in Paris sehr ernsthaft genommen und dem preußischen Gesandten
seine Absicht angekündigt habe, augenblicklich alle Verbindung mit Frankreich
abzubrechen, seinen Gesandten zurückzurufen u. s. f. Diese russischen An¬
schauungen zu adoptiren, fand man in Berlin keineswegs von dem Inter¬
esse Preußens geboten, und sah vielmehr die Haltung Englands für maßgebend
an, mit dem man in besonders guten Beziehungen stand, seit sich die britische
Negierung in Bezug auf die Niederlande jso ausgesprochen hatte, wie es den
preußischen Interessen zusagte. Trotzdem bereitete die gegen Ende August ziem¬
lich unerwartet angekündigte Ankunft des Grafen von Lobau, des französischen
Gesandten, der die Thronbesteigung Ludwig Philipps modificiren sollte, in
Berlin einige Verlegenheit, da man sich dadurch genöthigt sah, gleichsam die
Initiative zu ergreifen, welche — wie unser Gewährsmann meinr — „nicht
ganz im Charakter der preußischen Regierung oder vielmehr nicht in der Per¬
sönlichkeit des Königs liege." Anfangs dachte man daran, den Aufenthalt des
Königs in Parey bei Potsdam, wo er in der Regel Niemand sah, und die
bevorstehenden Herbstübungen der Garden dazu zu benutzen, den französischen
Abgesandten einige Zeit warten zu lassen; aber man kam doch wieder von
dieser leicht zu durchschauenden Ausflucht zurück, und noch vor Ende des Mo¬
nats wurde Graf Lobau von Friedrich Wilhelm dem Dritten empfangen.
Eine andere drohende Verlegenheit erschien nur am Horizont der politischen
Gerüchte, um sofort als bloßes Schemen erkannt zu werden. Es war die
Nachricht, als beabsichtige König Karl der Zehnte seinen künftigen Aufenthalt
zu Moritzburg in Sachsen zu nehmen, wo man denn auch von Seiten des
preußischen Hofes Pflichten der Höflichkeit zu erfüllen gehabt hätte, die leicht der
Mißdeutung fähig gewesen wären. Die sächsische Negierung erklärte auf eine
bezügliche Anfrage vertraulich, daß bis den 24. August deshalb noch kein An¬
suchen an sie gestellt worden sei. daß jedoch, wenn auch ein derartiges Gesuch
erfolgen sollte, man es in Dresden auf höfliche Weise abzulehnen gedenke.
Indessen hatte man in Wien doch nicht ganz unthätig den Wechsel der
Dinge in Frankreich beobachtet. Der Fürst Metternich gedachte bei diesem An¬
laß wieder einmal der Welt das Schauspiel einer gemeinsamen Politik der
drei Mächte der heiligen Allianz vorzuführen. Ende August machte er dem
k. preußischen und dem kais. russischen Hofe folgende drei ProPositionen:
1) sich jeder Intervention in die innern Angelegenheiten Frankreichs zu
enthalten, indem man sonst zu befürchten hätte, daß alle Parteien sich gegen
das Ausland vereinigen und einen höchst gefährlichen Krieg herbeiführen
würden;
2) den König Ludwig Philipp unverzüglich anzuerkennen, damit die der-
malige französische Regierung sich möglichst consolidire und der Anarchie vor¬
gebeugt werde;
3) eine Ministerconferenz zu etabliren. um die Maßregeln zu berathen,
welche zu ergreifen seien, wenn die Franzosen ihre Principien auf fremden Bo¬
den zu verpflanzen suchten, und so die Ruhe der Nachbarstaaten bedrohten.
Hierbei wurde bemerkt, daß Berlin der geeignetste Ort zu einer solchen Con-
ferenz sein dürfte, da dasselbe in der Mitte zwischen den verschiedenen Höfen
von Wien, Petersburg. London und Paris liege.
Graf Bernstorff. der preußische Ministerpräsident, erwiderte hierauf, daß
der k. preußische Hof mit den beiden ersten Punkten vollkommen einverstanden
sei. indem man allerdings alles vermeiden müsse, was die französische Nation
reizen oder Anarchie herbeiführen könnte. Aus demselben Grunde müsse er
sich aber gegen den dritten Vorschlag erklären, weil eine Ministerconferenz wie
die zu Paris und London etablirten,*) bei Frankreich den Verdacht erregen
müßte, Oestreich, Preußen und Rußland meinten es mit der Anerkennung
Frankreichs nicht aufrichtig und führten andere Absichten im Schilde. Gleich¬
wohl stehe nichts im Wege, daß die Gesandten von Oestreich, Preußen und
Nußland sich vertraulich die Ansichten ihrer Höfe über alle vorkommenden Fälle
mittheilten und so ein Zusammenwirken zu gleichen Zwecken herbeiführten.
Graf Nesselrode, der russische Minister, war mit dieser Ansicht Preußens
persönlich vollkommen einverstanden, und reiste sofort nach Petersburg ab, um
sie bei dem Kaiser geltend zu machen. Der Czar fuhr fort, der Idee der An¬
erkennung Ludwig Philipps zu widerstreben, den er nur als „Generallieute¬
nant des Königreichs" betrachten zu können erklärte. Aber die Entschiedenheit,
mit der in dieser Frage Oestreich und Preußen sich von seiner Politik lossag¬
ten, drängte auch ihn schließlich zu dem ungern vollzogenen Schritte. Am
18. September sprach Kaiser Nikolaus in einem von Zarskoe-Scio datirten
Schreiben die Anerkennung Ludwig Philipps aus, nachdem die beiden verbün¬
deten deutschen Staaten ihm mit diesem Acte vorangegangen waren. Das
Schreiben ist charakteristisch genug, um der vollständigen Mittheilung werth zu
zu sein. Es lautet:
„5'al re?u als oans an Z6ri6rai ^etain 1a lettrs, aeine it a 6t6 xor-
leur. pes ^v^neueres s. jamais ä^ploradles out Me6 V. U. äans une
cruelle altervs-dive. Like g, xris une llöterminatioll «^ni I^ni a paru la
seule propre u sauver la ?rA»ve as plus Zranäes ealamit^s et je ne me
xrononcerai xas sur les eonsiäerations gui ont Zui<j6 V. N. Nais ^e
torwe ses voeux xour We Is, ?rovi6cree viviue veuille d^mir 8es in»
tentious et les etlorts qu'LIIe of. taire pour 1e douneur an peuple krg.u?ais.
ve ooneert avec mes ^Ilies ^je me Mis u aoeueillir Is ä6Sir que V. N.
a exxrimö ä'entretevir ass relations as paix et ä'annis avec tous les
6kath <le I'Lurovo. ?g,ut ^u'elles seront bas^es sur les trg-it^s existans et
sur la terme volonte ac resxeeter les äroits et odliZations ainsi que l'etat
Ac possession territoriale qu'ils out eonsaer^s, I'Lurope trouvers, une
ZÄralltis <le la Mix Li Necessaire an repos ac la ?rg.nov elle-meme. ^p-
velö con^ointswent g.pee mes ^llies i>, eultiver avec is. Trance sous son
nouves-u Llouverneinent ees relutions eonservatriess, ^'z^ avporterai pour
ins, xart toute la sollioituäe pu'elles reelament et les äispositions aoud
^'s.los g. ottrir a V. N. l'ussllranoe en retour ach sentimens o.u'LIle w'g.
exxrim6s. ?e I^a prie ä'aZr^er en meine temps celle" ete. ceo.
Auch an den Bundestag trat die Frage der Anerkennung des neuen Sou¬
veräns heran. Die materielle Entscheidung war hier gegeben, nachdem sich die
beiden Großmächte ausgesprochen hatten. Es konnte sich sonach nur noch um
die geeignete Form handeln, in welcher dieselbe auszusprechen sei. Es sind
deshalb auch nur einige kleine diplomatische Formalitäten, die wir aus Frank¬
furt zu melden haben. Der Marquis de Dalmatie war hier mit der Noti-
fication der Thronbesteigung Ludwig Philipps beauftragt, und es steht in den
Papieren, die vor uns liegen, verzeichnet, daß er sich auf den Karten, die er
bei seiner Tournee bei dem diplomatischen Corps abgab. „Lnvoz^ ac 8. N.
le Roi Ach ?rs.no.uis" nannte. Das diplomatische Corps erwiederte seinen
Besuch, aber der Präsidialgesandte Freih. v. Münch, dem der Marquis das
Schreiben Ludwig Philipps an den Bund überreicht hatte, befand sich in tau¬
send Nöthen wegen der nicht zu vermeidenden Einladung des Gesandten. Zu¬
erst dachte er dem Marquis ein gewöhnliches Diner zu geben, wie jedem aus¬
gezeichneten Fremden, nicht aber ein diplomatisches in Uniform, wie es sonst
bei dem ersten Erscheinen fremder Gesandten nach ihrer Accreditirung üblich
war, schließlich aber entschloß er sich nur zu einem ganz kleinen Diner, zu
dem er niemand zuzog als die Gesandten von Oldenburg und Mecklenburg,
bei deren Höfen der Marquis ebenfalls die Thronbesteigung zu modificiren
hatte.
Außer diesen schweren Sorgen des Freih. v. Münch weiß unser Gewährs-
mann nur noch mitzutheilen, daß der Marquis ein Empfehlungsschreiben des
bayrischen Gesandten in Paris, Baron Pfeffel, an den bayrischen Bundestags-
gesandten, Baron Lerchenfeld, mitbrachte, was Aufmerksamkeit und Verdacht
gegen die bayrische Politik unter den Gesandten erregt haben soll.
Uebrigens erfolgte Anfangs October die Anerkennung des Bürgerkönigs
durch den Bundestag, nicht ohne daß das betreffende Schreiben vorher durch
den Freih. v. Mönch dem k. k. östreichischen Hofe vorgelegt und von dem
Fürsten Metternich „sehr schön und den Verhältnissen vollkommen entsprechend"
gefunden wurde. Es ist in den Bundestagsprotokollen abgedruckt.
Wir haben gesehen, daß das Motiv der so rasch erfolgten Anerkennung
der neuen Ordnung der Dinge in Frankreich durch die Großmächte vor allem
die Erkenntniß war, daß von den möglichen Uebeln, welche die Julirevolution
in Aussicht gestellt hatte, die Regierung Ludwig Philipps immer noch das
kleinste sei. Sie betrachtete man in Wien und in Petersburg als die einzige
gegebene Garantie für die Ruhe Frankreichs. Als sich diese Voraussetzung
nun aber nicht vollständig zu erfüllen- schien, als die Octoberaufstände in Paris
neue Verwirrungen einzuleiten schienen, als in Deutschland da und dort Un¬
ruhen ausbrachen, und die liberalen Ideen einen neuen mächtigen Aufschwung
nahmen, als Bayern und Würtemberg bei den Abstimmungen am Bunde den
Widerstand des Jahres 1819 erneuerten und neuerdings dem metternichschen
System Opposition zu machen begannen, da glaubte der Fürststaatskanzler die
Zeit gekommen — wenigstens der russischen Unterstützung jetzt sicherer als ehedem
zur Zeit Kaiser Alexanders — sich wieder an die Spitze einer reactionären
Politik zu stellen. Zunächst sollte Bayern dem wiener Hofe wiedergewonnen
werden. Der bayrische Gesandte in Wien, Graf Bray, wurde an den König
Ludwig entsendet, um zuerst in Metternichs Auftrag Auskunft über die poli¬
tischen Absichten des Königs zu verlangen, dann zum engsten Anschluß an
Oestreich aufzufordern, endlich den ländersüchtigen König mit dem Versprechen
des einstigen Besitzes der badischen Pfalz, den eiteln und ehrgeizigen Fürsten
Wrede mit der Aussicht auf den Feldherrnstab der Bundesarmee zu ködern.
In Stuttgart wurden ähnliche Eröffnungen gemacht. Eines wollte Metternich
um jeden Preis erringen: entweder eine Offensiv- und Defensivallianz mit
beiden süddeutschen Staaten oder eine Trennung ihres sichtbaren Einverständ-
nisses durch Erweckung gegenseitigen Mißtrauens.
Ende November kam auch ein außerordentlicher Gesandter des russischen
Hofes, Graf Potemkin. nach München, um die Theilnahme des Königs von
Bayern für den Fall eines Krieges mit Frankreich zu sichern.
Aber keiner von beiden fand ein geneigtes Ohr. Man begann in München
und Stuttgart sich der preußischen Ansicht anzuschließen, die fortfuhr, jede offene
Einmischung als gefährlich und unheilbringend zu betrachten. Zwar gab es in
München so gut als in Berlin eine Partei, die zum Losschlagen drängte, wie
dort den Kronprinzen, betrachtete man hier den Prinzen Karl, den Bruder des
Königs, als ihr Haupt, und es blieb nicht unbemerkt, daß der Prinz in diesen
Tagen seine Feldequipagen hatte in Stand setzen lassen.
Von König Wilhelm von Würtemberg aber ging damals der Plan aus.
dem Drange» Oestreichs und Rußlands gegenüber eine bewaffnete Neutralität
der kleineren deutschen Staaten unter Anlehnung an Preußen aufzustellen,
für den Fall einer Betheiligung «n dem Kriege aber einen Militärverein dieser
Staaten, immer im Einvernehmen mit Preußen, zu gründen und sich
auf diese Weise die Selbständigkeit der Entscheidung möglichst zu sichern. Die
Idee wurde zunächst nur in sehr engen Kreisen ventilirt, aber es fehlte trotz,
dem nicht an einer lebhaften Gegenagitation der Anhänger des östreichischen
Hofes. Trotzdem glaubte man bei einer etwaigen Abstimmung in Frankfurt
sicher auf 28 Stimmen für die Neutralität des Bundes im Falle eines Krieges
rechnen zu dürfen. Und Preußen zeigte sich beiden Plänen: der Bundesneu¬
tralität und dem süddeutschen Militärverein sehr geneigt. Als der blinde
Kriegslärm verklungen war. kam auch diese Idee, wie so viele Anläufe zu Re¬
formen im deutschen Bunde, rasch in Vergessenheit. Die „Staatskunst"'des
Fürsten Metternich aber fand bald wieder in der Behandlung der Preßangelegen¬
heit ein würdiges Feld der Thätigkeit. Die ganze Wucht des reactionären
Ingrimmes gegen die französischen Revolutionäre wurde im Verlauf der nächsten
Jahre auf die deutschen Liberalen — Männer und Staaten — geworfen. Die
wiener Conferenzen von 1834 waren der siegreiche Ausgang dieses mit den
Ideen von 1830 geführten Kampfes.
Herr v. Oertzen. unser Minister des Auswärtigen und des Innern, hat
in den letzten Jahren einen großen Theil seiner Thätigkeit auf die Bekämpfung
eines Vereins verwandt, welcher in ganz Deutschland außerhalb der obotriti-
schen Grenzpfähle und selbst in Mecklenburg-Strelitz unangefochten und unter
dem Schutze der Gesetze besteht, welcher in seinen Statuten die ausdrückliche
Bestimmung enthält, daß das Ziel, die Einheit und Freiheit der deutschen Na.
lion, nicht anders als mit gesetzlichen Mitteln erstrebt werden soll, und welchem
noch niemand den Vorwurf zu machen gewagt hat, daß er sich an diese Be¬
stimmung seines Statuts nicht gewissenhaft binde. Herr v. Oertzen hat da¬
bei den Zeitpunkt, wo er mit seinen Aggressionen gegen den deutschen National¬
verein in die Oeffentlichkeit trat, jedesmal so zu wählen gewußt, daß derselbe
mit irgendeiner großen Erinnerung der Nation zusammentraf: im October
des Jahres 1863 erließ er den Befehl, daß gegen die rostocker Nationalvereins¬
mitglieder, wegen ihrer Betheiligung an diesem Verein, eine Untersuchung ein¬
geleitet werden solle, und dieser Befehl kam am Vorabend der Jubelfeier der
Schlacht bei Leipzig zur Ausführung; am 17. Juni 1866, dem Vorabend des
60jährigen Gedenktages der Schlacht bei Waterloo, brachte er mit Hilfe einer
militärischen Zwangsexecution die von ihm verfügte Aufhebung des zu Recht
bestehenden freisprechenden Erkenntnisses und das von ihm an dessen Stelle
gesetzte verurtheilende Erkenntniß gegen die rostocker Nationalvereinsmitglieder
zur Wirksamkeit.
Das mecklenburgische Vereinsgesetz vom 27. Januar bestimmt: „Die Bil-
dung von Vereinen zu politischen Zwecken darf nur mit Genehmigung des
Ministeriums des Innern geschehen." Die Unanwendbarkeit dieser Bestim-
mung auf Vereine, die im Lande weder ihren Sitz noch Filial- oder Zweig-
Vereine haben, muß jedem Unbefangenen einleuchten. Der Minister hat weder
das Recht noch die Macht, die Bildung auswärtiger politischer Vereine zu con-
cessioniren; der Nationalverein hatte sich bereits gebildet und loyalen Bestand
gewonnen, als der Beitritt der rostocker Mitglieder erfolgte, und es war daher
auch schon aus diesem Grunde unmöglich, die Genehmigung des Ministers für
die Bildung desselben nachzusuchen; die zum Beitritt geneigten Mecklenburger
fanden den Verein bereits vor und konnten daher den Minister nicht um die
Erlaubniß, einen Verein zu bilden, angehen, sondern höchstens dessen Geneh-
migung zum Anschluß an einen schon bestehenden Verein nachsuchen, wozu sie
aber das Gesetz nicht verpflichtete. Der Minister muß selbst erkannt haben,
daß das Gesetz für den Zweck, den Beitritt von Mecklenburgern zum deutschen
Nationalverein zu hindern, nicht ausreichend sei. Denn sonst würde er es
nicht für erforderlich gehalten haben, noch durch einen besonderen Erlaß, vom
1. October 18S9. die Theilnahme am deutschen Nationalverein, „sowie an
allen, auch den im Auslande gegründeten politischen Verbindungen, welche eine
unberufene Agitation gegen die bestehende Bundesverfassung bezwecken", den
Mecklenburgern zu untersagen. Freilich war er mit diesem Erlaß auf den
Weg einer authentischen Interpretation gerathen, zu welcher er nicht competent
ist, und wenn auch bei der politischen Richtung, welche unter der Einwirkung
der Minister in den fünfzehn Jahren der Reaction auch bei dem Richter-
Personal fast zur ausschließlichen Herrschaft gelangt ist, vorausgesetzt werden
durfte, daß die ministerielle Gesetzesauslegung bei den Gerichten großes An-
sehn genießen werde, so ließ es sich doch nicht verbürgen, daß sie auf eine
ausnahmslose Zustimmung und Geltung zu rechnen habe.
Dies war der Stand der Gesetzgebung in Betreff der politischen Vereine,
als der Minister dem Rath der Stadt Rostock den Befehl ertheilte, gegen die
dortigen Mitglieder des Nationalvereins. — welche bis dahin, unbehelligt von der
Behörde, die mit allem sehr wohl bekannt war, meistens schon Jahre lang
demselben angehört und für dessen Zwecke gewirkt hatten, ohne daraus irgend¬
ein Geheimniß zu machen, — eine Untersuchung einzuleiten.
Nach der Rostocker Gerichtsverfassung war das dortige Polizeiamt, dessen
Präses der durch seine praktisch bethätigte Vorliebe für die Strafe der körper¬
lichen Züchtigung zu einem nicht beneidenswerthen Ruf gelangte Senator
Di-. Bläuel ist, als Untersuchungs- und Spruchbehörde in erster Instanz com-
petent. Da die Mitglieder des Nationalvereins, nachdem die Untersuchung
gegen eines derselben eingeleitet war, sich alle selbst anzeigten und in den mit
ihnen angestellten Verhören über alles offne Auskunft gaben, so war die Fest¬
stellung des Thatbestandes nicht schwierig. Die Verhöre wurden sehr summarisch
und meistens gruppenweise betrieben. Eine Vertheidigung, außer dem, was
etwa der Einzelne mündlich zu Protokoll gab, war in dieser Instanz noch nicht
statthaft. Der Inquirent behandelte die Sache wenig eingehend und mit so
großer Eile, daß er einen der Angeklagten, Moritz Wiggers, sich nicht einmal
die Mühe gab zur Vernehmung zu laden, und verurtheilte am 16. December 1863
sämmtliche Angeklagte, 43 an der Zahl, in Geldstrafen resp. 20. 15. 10 und
5 Thlr. Unter den Verurtheilten befand sich auch Moritz Wiggers, gegen
welchen die Untersuchung demnach mit der Publication des Straferkenntnisses
begann. In den Entscheidungsgründen wurde zwar die Tendenz des National¬
vereins als keinem Tadel unterliegende und sogar löbliche anerkannt; weil
aber auf den ministeriellen Erlaß vom 1. October 1859 ein demselben nicht
zukommendes Gewicht gelegt wurde, und vielleicht auch der Wunsch mitwirkte,
einem Conflict mit dem Minister aus dem Wege zu gehen, glaubte der Richter
die Angeklagten von Schuld und Strafe nicht ganz freisprechen zu können.
Die letzteren legten gegen dieses Erkenntniß Recurs ein, und die Sache
gelangte dadurch, in zweiter Instanz, vor den rostocker Stadtrath, bestehend
aus zwei Rechtsgelehrten und einem kaufmännischen Bürgermeister, zwei rechts¬
gelehrten Syndicis und 11 Senatoren, von denen 6 !l!echtsgelehrte sind und
5 dem Kaufmannsstande angehören. Die Angeklagten hatten einen aus ihrer
Mitte, den Advocaten Behm. zu ihrem Vertheidiger erwählt, welcher in einer
gründlichen und umfassenden Defensionsschrift die Schwäche der vom Senator
Bläuel seinem Strafertenntniß beigefügten Entscheidungsgründe und die voll¬
kommene Gesetzlichkeit der Betheiligung am Nationalvereine nachwies. Nach sorgsamer
und lange fortgesetzter Erwägung sprach der Rath, in einem ausführlich motivirten
Erkenntniß vom 3. October 1864, sämmtliche Angeklagte von Strafe und
Kosten frei und verfügte, daß die Kosten der Vertheidigung aus der Polizci-
kasse zu ersetzen feien, und daß das Erkenntniß mit den Entscheidungsgründen
dem Vertheidiger kostenfrei anstatt förmlicher Verkündigung zugestellt werden solle.
Damit war die Sache rechtlich zum Schluß gediehen. Kaum oder hatte
der Minister v. Oertzen von diesem, seinem Wunsche sehr wenig entsprechenden
Ausgange der Untersuchung Kunde erhalten, als er die Acten einforderte und
den Rath wegen seiner Auslegung der Gesetze sehr hart anließ. In einem
großherzoglichen, vom Minister v. Oertzen contrasignirten Rescript an den
Rostocker Rath vom 25. October 1864, welches dem ministeriellen Blatt zur
Veröffentlichung überwiesen ward, kam der Passus vor: „weil ihr euch erdreistet,
dem bestehenden Verbot des gedachten Vereins in Unseren Landen die verbind¬
liche Kraft abzusprechen." Dies ward als „offenbarer Mißbrauch der dem Rathe
zustehenden Polizeiwalt" bezeichnet und zugleich erklärt, daß der Großherzog nicht
Willens sei, diesen Mißbrauch in seinen Wirkungen fortbestehen zu lassen. Er wolle nur
noch vorher hören, was der Rath außer dem Inhalt der Entscheidungsgründe noch
etwa zur Rechtfertigung seines freisprechenden Erkenntnisses vorzutragen habe.
Nach Erfüllung dieser Formalitäten bewirkte der Minister ein weiteres gro߬
herzogliches Rescript (29. November 1864), durch welches das von dem Rath
gefällte Erkenntniß für nichtig erklärt und derselbe angewiesen ward, ein anderes,
nicht freisprechendes, sondern verurtheilendes Erkenntniß nach Maßgabe der mini-
steriellen Gesetzesauslegung und des auf Grund dieser Auslegung erlassenen
ministeriellen Verbots der Theilnahme am Nationalverein abzufassen, und von
der landesherrlichen Annullirung des freisprechenden Erkenntnisses den Freige¬
sprochenen sofort Anzeige zu machen. Hinzugefügt ward die Bedrohung mit
einer Geldstrafe von 1000 Thlr., wenn der Rath es sich noch einmal einfallen
lasse, die Richtigkeit der vom Minister v. Oertzen bekundeten Auslegung des
Vereinsgesetzes in Zweifel zu ziehen.
Der Rath hielt es jedoch begreiflich mit seiner richterlichen Ehre und Pflicht
nicht vereinbar, diesem Befehl zur Wiederaufnahme der Untersuchung und nach¬
träglichen Verurtheilung der von ihm Freigesprochenen Folge zu leisten.
Der Minister sann anfangs auf Zwangsmaßregeln, um den Rath zur
Befolgung seines Befehles anzuhalten. Später aber gab er diesen Plan wieder
auf und versuchte es auf einem anderen Wege. Er übernahm selbst die Sub-
stituirung des freisprechenden Erkenntnisses durch ein verurtheilendes. Durch ein gro߬
herzogliches Rescript vom 27. Mai 1865 ward dem Rathe angezeigt, daß es nunmehr
der landesherrliche Wille sei, das vom Senator Bläuel gefällte Erkenntniß erster
Instanz zur Ausfühung zu bringen, und zugleich befohlen, daßder Rath dies den Frei¬
gesprochenen modificiren und das Polizeiamt mit der Vollziehung des Weiteren
beauftragen solle. Nur in Bezug auf Moritz Wiggers glaubte der Minister
eine Ausnahme statuiren zu sollen. Für diesen sollte, da er vom Polizeiamt
bisher nur verurtheilt, aber noch nicht in Untersuchung gezogen war, an die
Stelle des freisprechenden Erkenntnisses erst eine neue Untersuchung und erst
nach deren Beendigung eine Berurtheilung treten.
Auch dazu weigerte sich der Rath die Hand zu bieten, und der Minister
v. Oertzen griff jetzt zu Zwangsmaßregeln, um den von ihm adoplirten blanck-
schen Spruch zur praktischen Geltung zu bringen. Ein großherzoglicher Com-
missarius, der Regierungsfiscal Kanzleirath Kues, erschien in Rostock und machte
dem Rath die Mittheilung, daß er entweder binnen drei Tagen dem Befehl des
Ministers Folge zu leisten oder zu gewärtigen habe, daß eine dem worthabenden
Bürgermeister einzulegende Executionsmannschaft von 26 Mann, deren Aus-
quartirung nicht statthaft sei, Gehorsam erzwingen werde. Als der Rath auch
dieser Drohung noch Stand hielt, rückte» am 17. Juni Nachmittags 3 Uhr
25 Mann großherzoglicher Gardetruppen aus Schwerin unter Anführung des
Lieutenant v. Rantzau in die Stadt und besetzten das Haus des Bürgermeisters
Dr. Zastrow, in dessen Beletage sie sich niederließen. Der Rath glaubte jetzt
seine richterliche Ehre hinlänglich gewahrt zu haben und hatte schon im Bor¬
aus beschlossen, den Beginn der Zwangsmaßregeln als das Signal anzusehen,
daß der geeignete Zeitpunkt der Nachgiebigkeit gekommen sei. Er hatte dafür
gesorgt, daß 43 Decrete. eines für jedes Mitglied des Nationalvereins, zugleich
mit 43 Abschriften der beiden landesherrlichen Nescnpte vom 29. November
1864 und 27. Mai 1865 zur Insinuation bereitlagen. Es blieb in den Decreten
nur noch das Datum auszufüllen. Nachdem dies geschehen war. setzten sich
die Rathsdiener in ihren rothen Uniformen in Bewegung und eilten mit den
Ackerstücken durch die Stadt, um den einzelnen Nationalvereinsmitgliedern die
Urkunde zu überbringen, nach welcher ihre Freisprechung nicht gelten und sie
sich auf Befehl des Großherzogs mit dem Erkenntniß erster Znstanz zu begnügen
haben sollten. Abends 9 Uhr nahm die militärische Belästigung des Bürger¬
meisters ein Ende, die Soldaten wurden in ein Wirthshaus verlegt und kehrten
am andern Mittag nach Schwerin zurück.
Dem Minister ist es allerdings gelungen, seinen Willen durchzusetzen;
aber, wir fürchten, zum schweren Nachtheil seines eigenen Ansehens und des
Ansehens der Behörden und Gesetze unseres Landes. Er hat die Rechtsordnung
durchbrochen, indem er ein in allen gesetzlichen Formen erlassenes rechtskräftiges
Erkenntniß annullirt und sein eigenes Belieben an die Stelle gesetzt hat; er hat
dies gethan, ohne den Angeklagten die ihnen gesetzlich zustehende zweite Instanz
zu gewähren und vorher ihre Vertheidigung zu hören; er hat die Mitwirkung
des rostocker Raths zu diesem Verfahren erpreßt, dieselben Männer, welche nach
ihrer Rechtsüberzeugung ein freisprechendes Erkenntniß gefällt und nach ihrer
richterlichen und obrigkeitlichen Pflicht die Freigesprochenen gegen die Gewalt
mit dem Aufgebot aller ihrer Kräfte zu schützen hatten, gezwungen, sich ander
Ausübung des Unrechts zu betheiligen, und durch dies alles das'richterliche
und obrigkeitliche Ansehen untergraben und auf das Schwerste geschädigt. Die
Verstimmung der rostocker Bürgerschaft sowohl über den geschehenen Eingriff
in die Rechtspflege wie über die vorzeitige und übermäßige Nachgiebigkeit des
Raths ist groß, und die Bürgcrvertietung, in Rostock noch höchst alterthümlich
aus 50 Deputaten der Kaufmannscompagnie und 50 Deputirten der Hand¬
werkszünfte gebildet, hat in sehr energischen Erklärungen an den Rath ihre
Mißbilligung seines Verhaltens ausgesprochen.
Der Rath soll dem Großherzog gegenüber noch eine weitere rechtliche Ver¬
tretung der Gerechtsame der Stadt reservirt haben, wozu ihm allerdings die
Erbverträge, in welchen das rechtliche Verhältniß der Stadt zum Landesherrn
ihre Grundlage hat, noch einen Weg eröffnen. Die Thatsache, daß der Rath
einen Rechtsspruch, zu dessen Annullirung er dem Minister das Recht bestreitet,
hat annulliren helfen und einen außerhalb der Rechtsordnung erlassenen Befehl
zur Bestrafung von Männern, die er von Strafe und Schuld freigesprochen,
hat in Vollzug setzen müsse», kann dadurch keinenfalls ungeschehen gemacht
werden.
Von Seiten der betheiligten Nationalvereinsmitglieder wird, zur Beseitigung
der von höchster Stelle erfolgten Rechtshemmung, der Weg der Beschwerde bei
dem Bundestage, welchen der Artikel 29 der wiener Schlußacte vorzeichnet,
betreten werden.
Ueber die Flugschriften Friedrichs des Großen aus der Zeit des siebenjährigen Krie¬
ges von Dr. Eduard Cauer. Potsdam, 1865. Verlag der Gropiusschen
Buchhandlung. 64 S. 8.
Wie die Reformation, der dreißigjährige Krieg und die Befreiungskriege,
so rief auch der siebenjährige Krieg eine große Anzahl von Flugschriften und
fliegenden Blättern hervor. Derartige Producte ersetzten eben die damals noch
mangelnden, wenigstens sehr mangelhaften Zeitungen in der Vertretung der
öffentlichen Meinung. So sind sie von großer Bedeutung für die Geschichte
jener Zeiten, und namentlich für die Erkenntniß des Antheils, welchen die tiefe
Erregtheit des Volkes an dem Verlauf der Dinge hatte. Was von solchen
Schriften während der zuerst genannten drei Epochen erschien, ist. wenn auch
gewiß noch nicht hinreichend, gesammelt und berücksichtigt worden. Für den
siebenjährigen Krieg dagegen ist noch ungemein viel werthvolles Material un¬
benutzt geblieben, und so ist die Ergänzung dieser Lücke, die der Verfasser der
vorliegenden Broschüre sich zur Aufgabe gemacht hat, und von der er hier eine
Probe giebt, ein sehr dankenswerthes Unternehmen, dem wir um so mehr die
erbetene Förderung wünschen, als Herr Cauer sich in seiner Kritik und Cha¬
rakteristik der hier ins Auge gefaßten Beiträge Friedrichs zu der betreffenden
Literatur als vorzüglich für diese Arbeit befähigt zeigt.
Ueberblicken wir die vierzehn Flugblätter und Broschüre», welche der Ver¬
sasser bespricht, und von denen <r die drei ersten — wie uns scheint mit Recht
— als gewiß, wenigstens sehr wahrscheinlich nicht aus der Feder des Königs
hervorgegangen ansieht (es sind „I^etre <M I'iriecmllu) ü, U. Jo maröeniü (tue
as Lellv-Isle", „I^clere ä'no aumomer as I'armöö autriekionnö an r6v6r<znä
por« hup<zri6uräöseoräeIiers6ueouve»t(es?i'auel'ort-8ur-Is-Mg.in" und„I^t,dro
ein mar6ma1 I^vpolä comte as vaun an xaxe"), so sehen wir. daß in ihnen häusiger
als irgendein anderer Gedanke der des religiösen Gegensatzes wiederkehrt, welcher
zwischen Preußen und seine» Gegnern besteht. Daß Friedrich die Sache des Protestan¬
tismus und der Religionsfreiheit zu vertreten habe gegenüber der katholischen Be¬
schränktheit und Intoleranz, ist eine Anschauung, die in dreien von den Flugschriften
desselben, in dem bekannten Breve an Daun, in dem Glückwunschschreiben
Soubises an denselben und in den „I^cleres 6v ?ni!Mu"*) geradezu den
Mittelpunkt der Darstellung bildet, und ebenso richten die beiden letzten der
oben als unecht bezeichneten Schriften, die beiläufig sehr wahrscheinlich von
d'Argens herrühren, und die Briefe, welche derselbe Vertraute Friedrichs unter
der Maske eines evangelischen Geistlichen veröffentlichte, ihre Spitze gegen den
Katholicismus der Gegner des Königs.
Die Weisheit des Herrn Ouro Klopp ist mit diesen Schriften rasch fertig
geworden. Was konnte einen Religionsverächter wie Friedrich der Gegensatz
der Confessionen kümmern, stellten er und sein französischer Helfershelfer sich
so, als schrieben sie dem Kriege eine religiöse Bedeutung zu, so geschah es nur,
weil sie es opportun fanden, weil sie damit das protestantische Volk auf ihre
Seite zu bringen hofften. Als der Zweck erreicht war, sahen sich die beiden
Auguren an und lachten. Zwei ungläubige Philosophen Erfinder und Prediger
des Religionskriegs, die Anhänglichkeit der Menschen an positives Kirchenthum
zu den Zwecken eines Königs ausgebeutet, der dieses Kirchenthum für Thorheit
hielt — wie hätte Herr Klopp sich die Ausmalung dieses pikanten Contrastes
versagen dürfen!
Anders unser Autor, der damit allerdings weniger pikant wird, aber sicher
der Wahrheit besser dient als jener katholisirende Tendenzschriststeller. Der
siebenjährige Krieg war in der That, wenn auch nicht vorwiegend, ein Religions¬
krieg. wenigstens faßte ihn ein Theil des Volkes bis zu einem gewissen Grade
so auf. und Friedrich selbst theilte die damit verbundenen Besorgnisse. Klopp
läugnet natürlich wie die ganze Gruppe von PseudoHistorikern, der er angehört,
daß katholischerseits Anlaß zu Befürchtungen für den Protestantismus gegeben
worden sei. Aber Hauffer hat („Sendschreiben zur Beurtheilung Friedrichs des
Großen". Heidelberg 186.2. S. 68 ff.) schlagende Thatsachen angeführt, nach
denen solcher Anlaß allerdings gegeben war. Indeß lassen wir diese Frage mit
dem Verfasser unsrer Schrift dahin gestellt und beschäftigen uns zunächst nur
mit der ebenso wichtigen, ob Befürchtungen, wie die erwähnten, wirklich gehegt
und ob dieselben vor den Briefen, die d'Argens 1769 Arier der Maske eines
Protestantischen Pfarrers schrieb, und vor Friedrichs oben angeführten Flug¬
schriften, die 1769 und 1760 erschienen, bereits in Druckschriften ausgesprochen
waren, ob man also unrecht thut, Friedrich und d'Argens als Erfinder der
Vorstellung zu betrachten, daß der siebenjährige Krieg auch der Religion gelte.
Die Antwort, welche unsere Broschüre darauf giebt, lautet bejahend,
und das Ja ist hinreichend motivirt. Wir geben die bezüglichen Seiten im
Auszug. Zunächst war der Glaube, daß Friedrich zugleich den Protestantismus
vertheidige, Hauptgrund der wunderbaren Popularität, deren sich der König
in England erfreute. Dann sind die bekannten Vorgänge auf dem regensburger
Reichstage zu beachten. Wichtiger endlich ist, daß sich Schriften aus den Jahren vor
Erscheinen der d'Argensschen Briefe des evangelischen Geistlichen finden, in denen
jener Glaube sich äußert oder, was von noch größerer Bedeutung ist, bekämpft,
also als weitverbreitet vorausgesetzt wird.
Unter den Schriften der letzteren Art führt der Verfasser unsrer Arbeit als
eine der frühesten die 1766 erschienenen, dann auch in deutscher Uebersetzung
herausgekommenen „KeSexiovs ä'no Suisse sur les rootits ac la Auorre präsente"
an. Dieselben verfolgen von vornherein die ausgesprochne Absicht, die Be¬
sorgnisse der Protestanten vor einer Gefährdung ihres Glaubens durch den
Bund der katholischen Hauptmächte Europas zu zerstreuen, und constatiren
eben durch diese Tendenz das Vorhandensein und die Bedeutung dies« Be¬
sorgnisse.
Die gleichen Ziele kehren wieder in zwei deutschen Flugschriften des Jahres
1757, welche Cauer in der Sammlung der berliner Kriegsakademie fand. Die
eine, zu Köln erschienen, führt den Titel: „Abbildung des gegenwärtigen Kriegs
in Teutschland, nach seinem eigentlichen Ursprung und Folgen vorgestellt in
dem Briefe eines Bürgers der freien Reichsstadt F. an einen preußischen Unter¬
thanen". Die zweite nennt sich: „Betrachtungen über den gegenwärtigen inner¬
lichen Krieg der Deutschen und dessen Absicht auf die Religion", und ist dem
Titel nach in Goslar herausgekommen.
Allerdings ist nun richtig, daß diese Schriften sich selbst mehr oder minder
bestimmt als von Protestanten verfaßt geben. Allein erstens beweist dies
nichts für ihren wirklichen Ursprung; denn wenn sie Katholiken zu Verfassern
hatten, so hatten diese, wofern sie auf die Evangelischen wirken wollten, sicher¬
lich alle Ursache, sich in deren Kleider zu stecken. Dann aber, wollte man auch
das Herauskehren des protestantischen Bekenntnisses bei ihnen für mehr als
bloße Maske halten, so würde daraus eben nichts weiter folgen, als daß es
damals auch einzelne Protestanten gab. die unter ihren Glaubensgenossen eine
isolirte Stellung einnahmen — eine solche Stellung etwa wie heutzutage Herr
Klopp, der Lobredner Tillys und der Verkleinerer des großen Friedrich.
Von der großen Anzahl directer Beweisstücke, welche sich für die That¬
sache beibringen ließen, daß das deutsche Volk den siebenjährigen Krieg als
einen Kampf auch von religiöser Bedeutung ansah, führt der Verfasser nur die
Reihenfolge von „Schreiben eines Freundes aus Sachsen an seinen Freund in
W** über den gegenwärtigen Zustand des Krieges in Deutschland, Freiburg
1768" an, eine Art periodischer Schrift, welche dazu bestimmt gewesen zu sein
scheint, im Kurfürstenthum Sachsen das preußische Interesse zu vertreten.
Gleich in dem zweiten dieser Briefe wird nun aber der religiöse Gesichtspunkt
mit aller Entschiedenheit eingenommen und die Erörterung der betreffenden
Frage mit folgenden Worten eingeleitet:
„Seit dem Ausbruch des gegenwärtigen Krieges hat man hin und wieder
geglaubt, daß dle Feinde des Königs von Preußen außer den Absichten auf
seine Lande auch Anschläge wider die bisherige Freyheit der protestantischen
Religion in Deutschland hegten. Die meisten preußisch Gesinnten be¬
haupteten diese Meinung und bestärkten sie aus den öffentlichen Schriften des
berliner Hofes, durch welche sich derselbe wegen Ergreifung der Waffen wider
Oestreich und Sachsen rechtfertiget. Da wir hier zu Lande ni« gut preußisch
gesinnet gewesen: so fand auch die Vorstellung, daß unsre Religions-Freyheit in
Gefahr schwebe, bey uns wenig Glauben. Diejenigen, welche sich die Gabe
beylegen, für andere tief in die geheimsten Cabinetter der Monarchen sehen zu
können, bemühten sich, jedermann mit vieler Dreistigkeit zu überreden, der
Vorwand der Religion sey nur ein Staatsgnf. ein blinder Lärmen, den die
Preußen bliessen, um die protestantischen Stände in den Harnisch zu jagen
und auf die Weise ihre verlassene Parthey zu verstärken. Dieses Vorgeben fand
desto mehr Beifall, je gemäser es dem Geschmacke unsrer Zeiten war, da man
es zur Mode machen will, von der Religion geringschätzig zu urtheilen. Ja
man wußte es mit vielem Scheine vorzubringen, daß auch viele Geistliche es
für gegründet hielten."
Der Briefschreiber versucht dann ausführlich das Irrthümliche der in Sachsen
verbreiteten Meinung darzuthun, daß die Besorgnisse des protestantischen Volkes
wegen seines Glaubens grundlos seien, und zu zeigen, daß letzterer in seiner Freiheit
durch die katholischen Mächte, die gegen Friedrich in Waffen standen, allerdings
bedroht sei. Auf die Prüfung der zu diesem Zweck vorgebrachten Thatsachen
geht unsre Schrift nicht ein. Es war hier nur zu zeigen < und es ist in der
That gezeigt worden, daß die religiöse Frage vom Beginn des siebenjährigen
Krieges an im Protestantischen Deutschland auf der Tagesordnung stand. Wer
sie also auch immer auf dieselbe gebracht haben mag, er hat damit nichts Will¬
kürliches ersonnen, sondern einer Empfindung Ausdruck gegeben, welche in der
Situation tief begründet war und in Tausenden schlummerte.
In welchem Verhältniß aber stand Friedrich der Große zu dieser allgemeinen
religiösen Erregung der Gemüther? Die Antwort lautet: nichts lag seiner Natur
von Hause aus ferner als die Entfesselung religiöser Leidenschaften zum Zwecke
Polnischer Erfolge. In seinem „Amel-Machiavel" d. h. in der ursprünglichen,
nicht von Voltaire verkürzten Fassung dieses Buchs, wie sie jetzt in der neuesten
Ausgabe der „Oeuvres 6s ?r6ä6rie le Vi-anÄ" vorliegt, spricht er sich darüber
sehr entschieden aus, und den hier niedergelegten Grundsätzen ist er zur Zeit
des ersten und zweiten schlesischen Krieges trotz mancher Verlockung zum Gegen¬
theil durchaus treu geblieben. Gern hätte ihn die Stimmung der Protestanten
Schlesiens in die Wege Gustav Adolfs einlenken sehen, aber geflissentlich ver¬
mied er, seinem Thun in diesen Kriegen religiöse Motive unterzuschieben, ja
er ließ damals einer solchen Auffassung, wo sie trotzdem sich geltend machte,
mit aller Bestimmtheit entgegentreten. Und dieser Haltung entsprach die Behand¬
lung, die der König dem eroberten Lande zu Theil werden ließ: er befreite die
Protestantische Bevölkerung von dem Drucke, unter dem sie bis jetzt gelitten hatte,
und gab ihr das Recht, sich aus eignen Mitteln ihre kirchlichen Einrichtungen
zu gestalten. Weiter ging er nicht, und wo der Eifer seiner Anhänger ihn
über diese Linie hinauszudrängen suchte, wo Entfesselung des religiösen Fanatis¬
mus drohte, leistete er entschiedenen Widerstand. Als er z. B. nach der Schlacht
bei Hohenfriedberg in Landshut eintraf, umringten ihn eine Masse von Bauern,
die um die Erlaubniß baten, alles, was in der Gegend katholisch war, umzu¬
bringen. Er beruhigte ihre Leidenschaften und hieß sie des Bibclworts ein¬
gedenk sein, nach welchem sie die, welche ihnen Böses gethan, segnen, und für
die, welche sie verfolgt, beten sollten. Niemals hat Friedrich sich damals her¬
beigelassen, sich der Religion als einer Angriffswaffe zu bedienen.
Anders lagen die Dinge zur Zeit des siebenjährigen Krieges. Wie dieser
von dem Könige von Anfang bis zu Ende nur zur Abwehr feindlicher Ver¬
gewaltigung geführt wurde, so waren auch, wie oben gezeigt, die re¬
ligiösen Stimmungen der Protestanten während desselben nichts weniger als
aggressiv.. Vielmehr handelte es sich auch ihnen nur um Vertheidigung gegen
Gefahren, von denen man sich bedroht zu halten Ursache hatte. Hätte Friedrich
diese Befürchtungen, ohne sie zu theilen, in einem Kampfe um seine und seines
Landes Existenz, wie er jetzt gekämpft wurde, auszubeuten versucht, so würde
ihn schwerlich ein Billigdenkender darüber tadeln. Aber in Wahrheit verhielt
es sich ganz anders. Peru Friedrich war weit entfernt, die religiöse Erregt¬
heit der Gemüther nur als ein ihm völlig Fremdes, aber Nützliches in seinen
politischen Calcul aufzunehmen, sondern die Gefahren, die gegen den Protestan¬
tismus heranzogen, gingen ihm persönlich zu Herzen. Wie frei er auch über
das Dogma dachte, wie verächtlich ihm der orthodoxe Hokuspokus vorkam,
den Werth der Reformation und das eigentliche Wesen des Protestantismus
wußte er sehr wohl zu schätzen. Wem das nicht schon aus der ganzen Natur
und Denkart des großen Königs klar ist, der findet den Beweis dafür in seiner
Abhandlung „ve 1a suxerstitio» et Ah 1a religion" und namentlich im dritten
Artikel demselben (Oeuvres I. 204 ff.). Welche Fortschritte der menschliche
Geist direct und irrdirect der Reformation verdankt, wie sie anregend auch auf
die katholische Kirche zurückgewirkt hat. welche Vortheile Ar die geistige Freiheit
gerade das Nebeneinanderbestehen mehrer Bekenntnisse bietet, diese und ähnliche
Fragen bespricht er hier nicht in frivol spottenden Tone, sondern mit einem
Ernst und einer Unbefangenheit, die seinem historischen Sinne alle Ehre macht.
Ein anderer Beweis liegt in der Haltung, welche der König während des
siebenjährigen Krieges gewissen Friedensprojecten gegenüber einnahm, als ihm
dieselben vorgelegt wurden. So erzählt Bartelmeß. in seiner „llistoire Mio-
soMhue as 1'ac^äemie ac krusse", als dem Könige aus der Mitte der
Akademie die Idee eines Arrangements entgegengebracht worden, welches daraus
hinaufgelaufen sei, auf Schlesien als den eigentlichen Gegenstand des Streites
zu verzichten und dafür die polnische Kryne zu nehmen, habe Friedrich diesen
Plan schon deshalb für unausführbar erklärt, weil er. obgleich ein schlechter
Protestant, sich doch nie zu dem hierbei nothwendigen Religionswechsel verstehen
WÜr.d^e. In diesem Punkte dachte er also ebenso streng als sein Vorfahr, der
große Kurfürst, der einst eine ähnliche Aussicht, aus demselben Grunde ver-
schmäht hatte, während die Nachbarfürsten in Sachse» ohne Besinnen für den
Polnischen Königstitel ihren Glauben abschwuren.
„Wer hat nun," fragt unsre Schrift, „bei solchen Ueberzeugungen und
Grundsätzen des Königs ein Recht zu behaupten, es sei ihm nicht Ernst gewe¬
sen mit seinen Sorgen um die Erhaltung des Protestantismus, wie er sie na¬
mentlich in den vertraulichen Briefen an die Markgräfin von Bayreuth laut
werden läßt, also in Augenblicken, wo er wahrlich am wenigsten Anlaß hatte.
Empfindungen zu heucheln, die nicht wirklich in ihm lebten? Und hatte es
denn nicht volle Wahrheit, was er ihr am 13. Juli 1757 nach der Schlacht
bei Collin schrieb? „Lota, voici 1a 1idert6 ac 1'^IIkiliaZnö se esllg as estte
cause Protestant«, pour layuellö on g, tant vers6 6« sauZ,
pong. egg cieux Zrauäs int^roth su se la onss est si kort«, pu'un mal-
IrsureuLö <Mart ä'Ireurs psut ^datur xour ^jamais äans la t/rau-
vique äoiniuativll ac la maison ä'^utrioliL." Und weil er sich von dem kirch¬
lichen Dogma emancipirt hatte, sollte es ihm nicht zugestanden haben, diese
Wahrheit auszusprechen und zu empfinden?"
Daß die Gestalt, in der diese Empfindungen in jenen Flugschriften vor
das Publikum traten, die des Angriffs gegen die feindliche Macht, gegen das
römische System war, lag theils in der eignen streitbaren Natur des Königs,
theils in seiner Situation und namentlich in der herausfordernden Haltung
Papst Clemens des Dreizehnter. Erst als dieser durch die bekannten Schritte
zum heiligen Kriege gegen den ketzerischen König aufgefordert hatte, brach dessen
Zorn und Spott über Rom los und erging*) an d'Argen.s das Verlangen, bei
diesem Federkriege mitzuwirken.
Wie der französische Philosoph diesem Wunsche Friedrichs nachkam, soll
hier kurz angedeutet werden. Er schrieb theils in dem satirischen Tone des
Königs. So in dem Briefe Dauns an den Papst, in welchem der Marschall
sich für den ihm verliehenen geweihten Hut und Degen bedankt und das Ge¬
rücht mittheilt, Friedrich habe zur Neutralisirung der Kraft dieser Geschenke die
Säbel seiner Husaren durch den Bischof von Canterbury weihen lassen; und
so ferner in dem Briefe des östreichischen Feldpredigers, welcher nachweist, daß
der König die Siege bei Liegnitz und Torgau dem Bunde mit dem Teufel
verdanke, den ein Mitarbeiter an der Encyklopädie vermittelt; eine Stelle aus
Locke, diesem „höllischen" Schriftsteller, dient als Beschwörungsformel, und
Zwanzig Stück schlesische Jesuiten werden dem bösen Feind als Preis für seine
Hilfe versprochen. Sodann aber wagte sich d'Argens in den „Briefen eines
Protestantischen Geistlichen" auch auf ein Gebiet, welches von Friedrichs Art
weit ablag, und welches ihn dieser nicht ohne Mißtrauen betreten sah. Der
Brief vom 12. Mai 1759, in welchem der König seine Zweifel in dieser Hin¬
sicht äußert, beweist vollständig, daß derselbe, wie sehr er auch von der reli¬
giösen Bedeutung des Kampfes überzeugt war, doch dem Gedanken, ihn zum
Religionskriege stempeln zu wollen, fern stand. Er schreibt:
„Sie wollen sich der alten Maschine der Religion bedienen? (Folgen dann
Verse, in denen die Religion als verbrauchte Waffe, der Fanatismus des Glau¬
bens als Gegenstand des Gelächters bezeichnet wird, worauf es weiter heißt:)
Nicht, daß ich Ihr Vorhaben verwerfe. Schreiben Sie nur immer zu und machen
Sie, was sich machen läßt. Aber, mein Lieber, das persönliche Interesse bei unsern
guten Protestanten überwiegt die Anhänglichkeit, die sie an die Communion sud
utrgHue hegen , und ich sehe voraus, binnen Kurzem wird es mit dieser Reli¬
gion zu Ende sein, sei es, daß man sie zu Grunde richtet, indem man mich
stürzt, sei es, daß man sie den sanften Tod durch Erlöschen des Eifers sterben
läßt."
Friedrich hat hier die Lebenskraft des Protestantismus sehr unterschätzt,
seine Zukunft durchaus unrichtig beurtheilt. Sein Bild bleibt aber auch hin¬
ter den Zuständen und Stimmungen, in deren Mitte er selbst lebte, und die
in den vorhergehenden Auszügen aus Cauers Schrift angedeutet sind, ausfal¬
lend zurück, und so könnte man ihm hiernach eher den Vorwurf, er habe die
damals vielfach sich kundgebenden Symptome kirchlichen Lebens zu wenig be¬
achtet, als den machen, er habe dieselben für seine Zwecke benutzt.
Sei dem aber, >vie ihm wolle, jedenfalls hat der Verfasser unsrer Bro¬
schüre dargethan, daß die religiöse Erregung, welche in den ersten Jahren des
siebenjährigen Krieges in der protestantischen Welt zu Tage trat, eine spontane
war und nicht eine vom König Friedrich auf künstlichem Wege erzeugte, und
daß ferner, wenn er selbst in mehren seiner Flugschriften zu dem Mittel einer
auf dem kirchlichen Gebiet sich bewegenden Polemik gegriffen hat. er damit
nicht einer kühlen und heuchlerischen Berechnung, sondern dem allgemeinen Zuge
der Zeit und dem eigensten Bedürfnisse seiner Natur gefolgt ist.
Als ein unumwundenes Wort für das straußsche Werk kündigt sich diese
Schrift an. Nicht als ob das bedeutende, durch seinen eigenen Werth sich Bahn
brechende Buch eines Fürsprechers bedürfte. Aber sie möchte zum Lesen des Strauß-
feder Buchs selbst anregen, indem sie in dasselbe einführt und die Stelle bezeichnet,
welche es einerseits im religiösen und geistigen Leben der Gegenwart, andrerseits
sowohl zur Kirche und Theologie, als zum ersten „Leben Jesu" und der seitherigen
Evangelienkritik, endlich zu den neuesten ähnlichen Versuchen, uns mit dem Christen¬
thum auseinanderzusetzen, einnimmt. Insofern ist die anziehend und durchaus po¬
pulär geschriebene Schrift keineswegs überflüssig; denn unser Publikum war doch
im Grund noch wenig vorbereitet, als mit einem Mal von den verschiedensten Seiten
und Standpunkten her die neuen Bearbeitungen des Lebens Jesu, die alle an da«
Volk appcllirten, auf dasselbe einstürmten, und so konnte es leicht kommen, daß in
augenblicklicher Gunst solche Darstellungen die Palme davontrugen, welche entweder
mehr an die Neugierde und die Phantasie, als an das ernste Denken sich wandten,
oder die durch salbungsvolle Zuthaten aus der Küche der Kanzelbcredsamkeit an die
gemäßigten Bedürfnisse der Halbgebildeten sich anschmcichclten. Man darf den Fort¬
schritt nicht unterschätzen, der in den Werken des französischen Gelehrten und des
Heidelberger Kirchenraths liegt, aber ihre leichte Waare birgt auch wieder die Ge¬
fahr, daß der Leser über die Bedeutung des thatsächlich vorhandenen Conflicts hin¬
weggetäuscht werde und unter einem dürftigen Notstand geborgen besserer und
tieferer Einsicht sich verschließe. Die Bedeutung des Straußfeder Buches gegenüber
von Renan und Schenkel ins rechte Licht zu setzen, ist daher das besondere Bestreben
des Verfassers. Den Hauptunterschied erkennt er mit Recht darin, daß Renan und
Schenkel den Leser dem Christenthum der Bibel gegenüber in einem unfreien Ver¬
hältniß lassen, weil sie dessen Wundergcschichte nicht erklären, also die Ausscheidung
des Ungeschichtlichcii nach Laune und Willkür vornehmen, somit ihr Leben Jesu
nicht beweisen. Es ist mit einem Wort wesentlich die gründliche Evangelienkritik,
welche Strauß so weit über die andern Biographen Jesu erhebt. „Jedes Bild des
historischen Jesus, jede Erklärung seiner Sagengeschichte, welche diese Bedingung
nicht erfüllen, sind nothwendig verschwommen, lückenhaft, schief und unklar. Ja
die allererste Bedingung zu einem echten Biographen Jesu, die nämlich, frei, weder
in Haß und blindem Eifer, noch in Furcht und Rücksichten befangen, um den
Tadel wie den Beifall der halbgebiloeten Menge, welche vor jeder letzten ernsten
Konsequenz erschrickt, unbekümmert dem Kirchenglauben entgegenzutreten, auch diese
Bedingung hängt zum großen Theil von jener andern ab, in der Evangelienkritik
festen Fußes auf der Höhe der heutigen Forschung zu stehen."
Auf die Verketzerungen seiner Gegner, auf die Sündfluth von Protesterklärungen
der neumodischen protestantischen Päpstlcin hat Schenkel mit dieser „Schutzschrift"
geantwortet, welche, da seine Sache zugleich die der protestantischen Lehrfreiheit ist,
über die Bedeutung einer persönlichen Vertheidigung hinausgeht. Schenkel ist ein
gewandter Polemiker, er bleibt seinen Gegnern nichts schuldig, die Worte stehen
ihm in reicher Fülle zu Gebot, und sie würden vielleicht noch mehr Eindruck machen,
wenn sie ihm nicht gar zu reichlich und breit zuströmen würden. Was er zur
Signatur der modernen Rückschrittstheologie, über ihren wesentlich katholischen
Charakter, über ihre Halbheit, die doch jeden Augenblick den eigenen Principien
untreu wird, was er über das Wesen des Protestantismus, über das Recht einer
freieren Theologie auf dem Boden des Christenthums, endlich über den Verlauf des
badischen Kirchenstreits sagt, wird — die theologische Zunft ausgenommen — über¬
all Zustimmung und Antheil finden. Es ist immerhin nicht wenig werth, diese
Grundsätze von solcher Stelle muthvoll vertheidigt zu sehen. Was er dann freilich
zur Vertheidigung seines „Charakterbildes" im Einzelnen beibringt, wird die Ein¬
wendungen nicht entkräften, welche das letztere von wissenschaftlicher Seite erfuhr.
Zum Glück liegt in den von ihm bekannten Principien zugleich die Kraft auch über
gutgemeinte Compromisse und halbe Zugeständnisse hinauszutreiben. Denn der
Protestantismus ist, wie Schenkel sagt, eine niemals fertig zu bringende und ganz
zu lösende, sondern vielmehr ins Unendliche fortschreitende Aufgabe. Der Protestantis¬
mus ist, seinem geschichtlichen Ursprung und seiner ganzen Bestimmung nach, ein
Element der Bewegung und Entwicklung; jeder Stillstand, jedes blos äußerliche
Verharren auf einem gegebenen Standpunkt ist mit dem Wesen desselben unver¬
träglich.
Vier Abhandlungen, von denen die erste „der Vers im Drama" überschrieben
ist, aber sich nicht blos auf den bekannten Streit über die Anwendung des Verses
im Drama beschränkt, sondern die stufenweise Hebung und Vervollkommnung der
weimarischen Bühne unter Goethe und Schiller, deren allmälige Jdealisirung, be¬
sonders nach Aufführung der wallensteinschen Trilogie zu schildern unternimmt.
Die zweite kürzere Abhandlung beschäftigt sich mit einem Streit zwischen Herder und
Goethe über Kirche, Schule und deren Verhältniß zum Theater, der für beide cha¬
rakteristisch ist. Eine dritte bringt interessante Mittheilungen über Goethes Auffas¬
sung von der Berechtigung des Theaters, kirchliche Gegenstände in sein Bereich zu
ziehen. Die vierte endlich giebt die Lebensbeschreibung der Schauspielerin Christiane
Neumann — die „Euphrosyne" Goethes. Wir theilen aus der dritten Abhand¬
lung Einiges mit. Zu Anfang unsres Jahrhunderts war man im Allgemeinen in
Betreff der Zulassung des Heiligen auf der Bühne beträchtlich strenger als jetzt, am
tolerantesten zeigte sich gewöhnlich die lutherische Theologie, weniger fügsam und
nachsichtig der katholische Klerus, am wenigsten die reformirte Kirche und der Pie¬
tismus. Werners „Weihe der Kraft" stieß bei ihrer Aufführung in Berlin wiever¬
holt beim Publikum wie beim Consistorium auf die entschiedenste Opposition. In
Dresden verwandelte der Censor den Beichtvater Domingo im „Don Carlos" in einen
Staatssekretär Perez und den Kapuzinermönch in Hagemanns „Otto mit dem Pfeil"
in einen Scholarchen. Auch durste hier die Johanna in der „Jungfrau von Or¬
leans" nicht von der Mutter Gottes, sondern »ur vom Genius Frankreichs begei¬
stert sein, der Bischof nur als Scneschall auftreten. Auf den meiste» Bühnen durfte
nicht gebetet, >c> nicht einmal das Wort „Beten" gebraucht werden und ebensowenig
ein heiliger Name, Statt Gott mußte Himmel gesagt werden, selbst Orgelmusik
war auf dem Theater verboten. Kotzebues Lustspiel „Die Beichte" hieß auf den
Theaterzetteln in München „Der Klausner". In dessen „silberner Hochzeit" ge¬
staltete die rigacr Censur die Worte! „Wie war dir zu Muthe? Gerade so wie bei
der Confirmation, als das letzte Lied gesungen wurde und die ganze Gemeinde mich
ansah", in einer zerstreuten Stunde dahin um, daß der Gefragte erwiederte: „Ge¬
rade so wie bei der Handlung, als man mich aus der Schule entließ, der Lehrer und
die Eltern mich lobten und umarmten und — die ganze Gemeinde mich anjsah."
Auch Goethe war vorsichtig, wenn religiöse Gegenstände auf die Bühne kom¬
men sollten, doch mehr aus Abneigung gegen jede Vermischung des Heilige» und
Profanen. Aber so weit wie die dresdner Beschränktheit ging er nicht. Er ließ
alle geistlichen Persönlichkeiten, die ein Dichter ausgestellt, sich vollständig produciren,
und am wenigsten hätte er einen religiösen Namen oder ein derartiges Wort geän¬
dert. Brachte er einmal etwas aus die Bühne, was Anstoß erregen konnte, so ließ
er das betreffende Stück auf das Sorgfältigste einstudiren und die Schauspieler
wurden so lange gestimmt, bis heiliger Ernst und feierliche Würde sich über ihr
ganzes Spiel verbreiteten. So führte er 1797 „Die Jesuiten" von Hagemcister
mit aller möglichen Feierlichkeit auf, wobei im zweiten Act eine mozartschc Messe
verwendet wurde. In ähnlicher Weise gab er später Voltaires „Mahomet". Gegen
die Communion in der „Maria Stuart" machte er Schiller bekanntlich Vorstellungen,
aber wohl nur, weil Karl August, vermuthlich auf Anregung seiner Damen, sich
ungünstig darüber geäußert. Bis zum Beginn dieses Jahrhunderts galt die Auf¬
führung von Lessings „Nathan" als ein Wagniß. Döbbelin war 1783 noch in
Berlin damit gescheitert. Goethe aber erzielte, als er das Stück im November 1801
auf die weimarische Bühne brachte, den vollständigsten Erfolg, und da die Welt
inzwischen toleranter geworden war, schlug das Drama im nächsten März auch in
Berlin und dann auch anderwärts in Deutschland durch.
Von andern Stücken, welche religiöse Grundlage hatten oder biblische Stoffe
behandelten, wurden von Goethe noch einige und zwar besonders im zweiten De>
cernium des neuen Jahrhunderts aufgeführt. So Knebels Bearbeitung des alfieri-
schen „Saul", mit dem kein Erfolg erreicht wurde, „Jcpbtas Tochter" von L. Ro¬
bert, welches dasselbe Schicksal hatte, da das weimarischc Publikum zu leicht heraus¬
fand, wo der Verfasser seine Gestalten und Situationen herhatte, „Jacob und seine
Söhne", ein Stück, welches seiner einfachen Musik wegen großen Beifall fand, end¬
lich Calderons „standhafter Prinz", welcher, sorgfältig einffudirt, den mächtigsten
Eindruck machte. Das Stück wurde infolge dessen in Weimar viel besprochen und
dabei geltend gemacht, daß es doch eine fanatisch katholische und auch sonst unsrer
Bildungsstufe und unsrer ganzen Empfindungsweise fremde Dichtung sei. Johan¬
nes Schulz, damals am Gymnasium angestellt, hob das religiöse, Moment desselben
sogar in einer Broschüre hervor. Goethe aber sprach seine Verwunderung darüber
aus, daß man auf diesen stofflichen Inhalt so viel Gewicht lege; er sehe in dem
standhaften Prinzen nur einen christlichen Regulus, an dem das so vollendet sei,
daß der Dichter die Stnndhaftigkcit im Glauben vor den Augen seines Publi¬
kums entstehen lasse, vor dessen Augen gleichsam die Märtyrerkrone zusammenflechte.
Noch andere Stücke religiösen oder biblischen Inhalts wurden Goethe zur Auf¬
führung vorgelegt, wie der „Moses" und der „Luther" Klingemanns, ein zweiter
„Luther", der im Jahre 1817 von einem Ungenannten erschien, und der „Johannes"
Krummachers; er legte sie aber bei Seite. Gewöhnlich las ihm eingesandte Novitäten
dieser Art sein Schreiber John vor, und Goethe pflegte, wenn er die Tendenz des
Poeten zu merken begann, zu sagen: „Ich rieche schon das Christenthum." Als
sein Sekretär Kräuter ihm das „Käthchen von Heilbronn", welches damals in Weimar
Viele entzückte (unter Andern Falk und Schulz) gebracht hatte und Goethe es gelesen,
sagte er: „Ein wunderbares Gemisch von Sinn und Unsinn. Die verfluchte Un¬
natur!" warf das Buch in den Ofen und setzte hinzu: „das führe ich nicht auf
und wenn es auch halb Weimar verlangte." Kräuter war erschrocken, denn er hatte
das Exemplar nur geliehen. Als Goethe durch die Aufführung von Werners „Wanda"
1808 mit dem Dichter in persönliche Berührung gekommen war und dieser, gehoben
von dem Beifall, den seine Sarmatenkönigin gefunden, die Aufführung noch andrer
seiner Stücke, wie des „Kreuzes an der Ostsee", der „Söhne des Thals" und der
„Weihe der Kraft" wünschte, zeigte Goethe sich völlig unzugänglich für die christliche
Richtung dieser Poesien. Dagcg.» rieth er Werner, Theaterstücke kleineren Umfangs
zu dichten, für welche Goethe damals eine große Vorliebe hatte. Nun traf es sich,
daß in einer Gesellschaft bei dem Herrn Geheimrath, in welcher Werner sich auch
befand, aus der Zeitung eine schauerliche Kriminalgeschichtc vorgelesen wurde, die
mit einem merkwürdigen Zusammentreffen der Jahrestage verbunden war. Diese
empfahl Goethe Warnern als einen geeigneten Stoff zu einem kleinen einaktigen
Trauerspiel. Werner ging sogleich darauf ein, und schon nach einer Woche übergab
er Goethen den „Vierundzwauzigsten Februar". Als Goethe das Stück gelesen,
hätte er die Aufführung desselben gern abgelehnt, wenigstens wollte er es anfangs
nicht vor das große Publikum bringen, sondern es nur vor einer ausgewählten
Gesellschaft und bei verschlossenen Thüren geben; doch erfolgte endlich die öffentliche
Aufführung, und zwar am 24. Februar 1810, wie Goethe es denn liebte, durch
solche beabsichtigte Zufälligkeiten das Schauerliche derartiger Producte wirksamer werden
zu lassen. Bei der ersten Aufführung sollen viele Zuschauer vor Entsetzen ganz
außer Athem gewesen sein. Die Gelehrten Weimars aber waren gleich bei der Hand,
an die Wirkung der Eumeniden in Athen zu erinnern. Der alte Wieland dagegen
war verdrießlich über das Stück und machte Goethe über die Zulassung desselben
Vorwürfe, worauf er zur Antwort erhalten haben soll (nach Schuldircctor Schubart«
Mittheilung): „Sie haben wohl recht, aber man trinkt ja nicht immer Wein; man
trinkt auch einmal Branntwein." So wäre denn Weimar auch die Geburtsstätte der
Schicksalstragödie, und zwar wurde das genannte erste Drama dieser Art im Gast¬
hof zum Schwan, nicht weit von Goethes Hause, von Werner geschrieben.
Nach der Encyclica nebst Syslabus ein eigenhändiger Brief an Victor
Emanuel, den mit dem zwiefachen Kirchenbann Belasteten, dies mußte nicht
wenig überraschen. Waren auch im Leben Pius des Neunten spontane Willens¬
äußerungen, rasche Schwenkungen nichts Unerhörtes, so schien er doch mit
jenem Manifest vom 8. December sein letztes abschließendes Wort gesagt zu
haben, achtzigfach hatte er sein nein possumus versiegelt, ja, als wäre er seiner
eigenen Schwäche sich bewußt gewesen, so schien es, er wolle durch diesen ecla-
tanten Act sich selbst die Möglichkeit abschneiden, je wieder auf den Weg der
Verirrung, auf den Weg der Transaction mit dem modernen Staat zurück-
zulenken. Wenige Monate, und von ihm selbst gerufen erscheint ein Ab¬
gesandter des Königs von Italien im Vatican, und die Ordnung der kirchlichen
Angelegenheiten im Königreich wird der Gegenstand ernster Unterhandlungen
zwischen Florenz und Rom.
Allerdings, nur von kirchlichen Dingen sollte die Rede sein; allein im Va-
tican weiß man am besten, was es mit dem Grundsatz auf sich hat, Weltliches
und Geistliches getrennt zu behandeln. Nur über die Wicderbesetzung der ver¬
waisten bischöflichen Sitze sollte unterhandelt werden; aber doch unterhandelt
mit derjenigen Regierung, welche den Anathemen des heiligen Stuhls zum Trotz
besteht und im Besitz der Marken. Andricus und der Romagna ist. Nicht
Zwischen den Regierungen, sondern zwischen deu Souveränen sollten die Ver¬
handlungen geführt werden; allein auch diese Fiction nahm dem Schritt nichts
von seiner Bedeutung. Sie war nothwendig, weil nur sie die tiefe Kluft,
welche beide Regierungen trennt, überbrücken konnte. Der Sohn Karl Alberts
hatte es, auch seitdem ihn der Bannstrahl getroffen, niemals an Beweisen
seiner katholischen Rechtgläubigkeit, wie seiner Ergebenheit gegen die Person
des heiligen Vaters fehlen lassen. Eben dadurch war immer eine schmale Thür
offen geblieben, durch welche dereinst eine Verständigung des neuen Italien mit
dem Vatican möglich war. Zu dieser Verständigung sind jetzt die ersten Schritte
gethan. Gleichviel, ob es sofort im ersten Anlauf gelang, die gegenseitigen
Ansprüche auszugleichen: indem der Papst mit Victor Emanuel eine Korrespondenz
eröffnete, war der bequeme, aber auf die Länge doch nicht unbedenkliche Stand'
Punkt des mori xossumus aufgegeben. Die Mission Vegezzi ist gescheitert, aber
damit ist nur der erste Act des Dramas zu Ende. Jedermann ist in Erwartung,
daß der Vorhang wieder in die Höhe gehen wird.
Welche Gründe bewogen den Papst zu der Initiative, die er ergriff? Daß
die Curie ernstliche Veranlassung hatte, das Aufhören der kirchlichen Anarchie
im Königreich zu wünschen, liegt auf der Hand. Von 229 Bisthümern sind
etliche 40 verwaist, die einen, weil die Inhaber von ihren Sitzen vertrieben
sind, die andern, weil keine Normen zur Wiederbesetzung der erledigten existiren.
Dieser Zustand kann mit der Zeit nur immer schlimmer werden, die Kette der
bischöflichen Gewalt ist unterbrochen, die Action der Kirche auf die Gemüther
geschwächt, und während die bürgerliche Gewalt sich befestigt und sich anschickt,
eine Reihe kirchenrechtlicher Probleme im Sinne des modernen Staatsbegriffes
zu lösen, greift die antiklerikale Gesinnung im Volk immer weiter um sich und
hat selbst in Italien die Encyclica nebst Syllabus nur den Erfolg der Heiterkeit
gehabt. Es ist auf dem Standpunkt des Papstes erklärlich, daß er von der
Wiederherstellung der kirchlichen Ordnungen Abhilfe gegen diesen Zustand der
Geister hofft. Aber ist es einzig dieses religiöse Interesse, die Sorge für das
Seelenheil der Unterthanen des Königs von Italien, was ihn zu jenem Schritte
bewog, oder haben andere Motive und Interessen mitgewirkt? Ist vielleicht in
Pius dem Neunten eine Reminiscenz aus dem Jahre 1847, ein Funke ita>
tierischen Gefühls wieder erwacht, verstärkt durch die Ueberzeugung, daß Kaiser
Napoleon im Grunde ebenso der Feind Italiens wie der Curie ist? Oder
glaubte der Papst in seiner Berechnung jetzt den Moment gekommen, wo er,
der katholischen Gesinnung des Königs sich bedienend, zu einer Restauration
verlorener Rechte, zu einer Befestigung seiner politischen Position schreiten
konnte? Ist es die Erkenntniß seiner wahren Lage, welche ihn treibt, im In¬
teresse beider Theile dem König aufrichtig die Hand zur Versöhnung zu bieten,
oder treibt ihn nur die Besorgnis) vor den Folgen des Septembervertrags,
sich an die ihm noch übrigen Chancen, welche ihm der Vertrag gelassen, fest¬
zuklammern?
Es dürfte schwer sein, auf diese Fragen eine bestimmte Antwort zu geben.
Nur so viel ist unzweifelhaft, daß der Entschluß des Papstes nicht blos von
kirchlichen, sondern zugleich von politischen Motiven dictirt war. Die Fort¬
existenz des päpstlichen Staates in der bisherigen Weise ist eine finanzielle Un¬
möglichkeit, sie ist überdies schon in einer nahen Zukunft aufs äußerste gefährdet
durch die drohende Perspective des baldigen Abzuges der Franzosen. Und nun
ist das Bedeutsame eben dies, daß der Schritt des Papstes genau in der Richtung
des Septembervertrags liegt. Er ist durch diesen erst möglich geworden, er ist
durch ihn aber auch herausgefordert.
Wir haben auf diese Bedeutung des Septembervertrags, welche namentlich
in den Verhandlungen des italienischen Senats über denselben hervorgehoben
wurde, in einem früheren Artikel d. Bl. hingewiesen.*) Der Vertrag verlangt
eine Aussöhnung des Papstthums mit Italien, indem er in einer gegebenen
Frist jenes auf sich selber stellt, aber er ermöglichte auch diese Versöhnung, in¬
dem er an die Stelle von Rom Florenz als Hauptstadt setzte. Der Papst und
der König können nicht in derselben Stadt wohnen, dies würde nur ewige
Feindschaft bedeuten; mit Turin waren keine Verhandlungen möglich, weil
hinter diesem stets das Programm: Rom die Hauptstadt stand; erst mit Florenz,
welches den Gedanken an einen abermaligen Auszug verbietet, konnte die Curie
unterhandeln. Aus diesem Gesichtspunkt betrachtete die Partei, deren Organ
insbesondere Massimo d'Azeglio war, den Vertrag. Im Sinne eben dieser
Partei, welche in dem Moment wieder hervortreten mußte, in welchem die Aera
der Revolution sich schloß, wurden die Verhandlungen geführt. Die Bisthümer-
frage war die willkommene Einleitung, der Anknüpfungspunkt für weitere
Verhandlungen. War man erst über jene Frage glücklich im Reinen, so kam
die Reihe von selbst an jene Entwürfe, welche darauf abzielten, ebenso das
Papstthum als geistliche Macht in Rom zu belassen und zu befestigen, als in
bürgerlicher Beziehung das päpstliche Gebiet mit dem Königreich allmälig zu
assimiliren. Ob der Papst sich dieser Consequenz bewußt war oder nicht, sie
lag in der Natur der Sache. Je näher der unerbittliche Termin der Räumung
Roms rückte, um so eher durfte man hoffen, die Curie auf den Weg einer
Transaction gedrängt zu sehen, welche ihre geistliche Stellung befestigte, indem
sie ihre weltliche untergrub. Italien war bereit, auf päpstlichen Gebiet die
umfassendsten Zugeständnisse zu machen, aber das Ziel war jenes Programm,
welches schon der Kern des Septembervertrags war: Rom nicht Hauptstadt
Italiens, aber italienische Stadt.
Eben diese weitere Perspektive, welche hinter der Mission Vegczzis stand,
war es, welche sie scheitern machte. Bei dem guten Willen auf beiden Seiten
waren offenbar alle Elemente gegeben, sich über die Bischofsfrage zu vereinigen.
Aber jeder Theil scheute sich vor dem Abschluß eines Compromisses, welcher
die Zukunft präjudicirte und möglicherweise beide Theile weiter trieb, als sie
gewollt hatten. Nicht der Eid und das Exequatur, sondern die Furcht vor
einem Etwas, das in noch nicht greifbarer Gestalt hinter den abzufassenden
Paragraphen stand, verhinderte den Abschluß, zu welchem schon die Feder an¬
gesetzt war. Eben mit dieser dunklen Besorgniß hing auch der Widerstand zu¬
sammen, welchen außerhalb der zunächst Paciscirenden die ganze Unterhandlung
gefunden hatte.
Daß die politische Partei in Rom, die ultramontane Umgebung des
Papstes, welche Hr. v. Persigny in seinem Brief über Rom so drastisch signa-
lisirte, von Anfang an diesen Versuch einer Aussöhnung mit Italien mit höch¬
stem Mißtrauen sah und ihm mit allen Kräften entgegenwirkte, daß ferner
Oestreich nichts unversucht lassen würde, den Papst von der abschüssigen Bahn
zurückzuhalten, verstand sich von selbst. Wenn der Papst nicht von vornherein
entschlossen war, unbekümmert um diese widerstrebenden Einflüsse seinen Weg
zu gehen, so war das Schicksal der Mission Vegezzis besiegelt. Aber nicht min¬
der lebhafter Widerspruch kam von der entgegengesetzten Seite; auch die öffent¬
liche Meinung in Italien war den Verhandlungen entschieden ungünstig, und
nicht blos die Actionspartei bot ihren herkömmlichen Apparat von Protesten
und Volksversammlungen auf, sondern das Mißtrauen erstreckte sich, zumal im
Anfang, bis weit in die Reihen der liberalen Partei.
Auch dies ist erklärlich genug. Nirgends hat der Name Concordat einen
guten Klang, in Italien am wenigsten. Die Opposition, welcher anfangs der
Septembervortrag begegnete, war zwar längst beschwichtigt, der Umzug in die
neue Hauptstadt in aller Ordnung vollzogen worden. Allein eine Negotiation
mit dem Papst, obwohl die natürliche Folge dieses Vertrags, enthielt einen zu
deutlichen Verzicht auf das ehemalige Programm: Rom die Hauptstadt, als
daß nicht die kaum beschwichtigten Gemüther in verstärktem Grad wieder alar-
mirt werden mußten. Jenes Programm war in den Tagen der siegreichen
Revolution aufgestellt worden, es war'der natürlichste, populärste Ausdruck für
das nationale Ziel gewesen. Aber indessen hatte der Lauf der Revolution
seine Grenze gefunden. Es galt innerhalb bestimmter Schranken den staat¬
lichen Aufgaben zu genügen. Für das noch Fehlende reichten die erschöpften
Kräfte der Revolution nicht mehr aus. An ihre Stelle trat die Diplomatie,
welche auf längeren Umwegen suchen mußte zu erreichen, was die Energie der
Revolution vielleicht in Einem Anlauf genommen hätte, welche die nächsten
Ziele niederer stellte, um desto sicherer das Höhere zu erreichen. Aber die
öffentliche Meinung, die aus einer stegreichen Revolution kommt, gewöhnt sich
schwer an den Gedanken, daß die Tage der Revolution vorüber sind, die alten
Schlagwörter klingen ihr noch in den Ohren, armselig erscheinen ihr die tasten¬
den Versuche der Staatskunst, und als Verrath bezeichnet sie das, was
in Wahrheit nur unter dem Zwang der veränderten Umstände veränderte
Taktik ist.
Und noch besondere Umstände kamen hinzu, welche das Mißtrauen des
Volks begünstigen mußten. Die Verhandlungen in Rom waren eben im Gange,
als das Ministerium in der Kammersitzung vom 28. April den Gesetzesentwurf
betreffend die Aufhebung der Klöster und Umwandlung der Kirchengüter, nach¬
dem er beinahe ganz durchberathen war, zurückzog. Allerdings hatte die Dis'
cussion dargethan, wie wenig vorbereitet die Sache war, es hatten sich Schwie¬
rigkeiten erhoben über die Verwendung des Ertrags der Güter, über die
besonderen Ansprüche Siciliens, über die Behandlung der Bettelorden; die
finanziellen Motive, auf welchen der Gesetzesentwurf vornehmlich basirte. durch¬
kreuzten sich mit den politischen, welche die Kammer voranstellte. Allein daß
die Regierung ohne einen Versuch zur Ausgleichung in der von ihr bisher als
dringlich bezeichneten Angelegenheit zu machen, vielmehr das Gesetz zurückzog,
war ein zu auffallendes Zusammentreffen mit der neuen dem heiligen Stuhl
gegenüber angenommenen Haltung, als daß die Versicherung des Ministeriums,
eine solche Beziehung finde nicht statt, Glauben finden konnte. Die Neuguel-
fen, sagten die Gemäßigteren, triumphiren über die reinen Politiker; wir trei¬
ben in die volle Reaction hinein, riefen die Radicalen.
Auch die Art und Weise, wie die Verhandlungen geführt wurden, konnte
nicht dazu dienen diese Besorgnisse zu zerstreuen. Sie trugen einen wesentlich
persönlichen Charakter, und man traute dem König die weitgehendsten Zugeständ¬
nisse an den heiligen Vater zu. Das Geheimniß, mit welchem sie umgeben
wurden, begünstigte übertriebene Gerüchte, selbst die auswärtigen Legationen
des Königreichs ließ man bis auf diesen Tag ohne nähere Kenntniß der De¬
tails. Alles dies nährte die Unzufriedenheit, welche auf zahlreichen Meetings
einen ebenso antiroyalistischen als antipapistischen Ausdruck fand, und die Re¬
gierung, wenn sie auch durch Rundschreiben und officiöse Erklärungen zu be¬
schwichtigen suchte, mußte doch mit diesem Factor rechnen. Auch sie scheint in
der letzten Stunde scrupulöser geworden zu sein und ihre Behutsamkeit verdop¬
pelt zu haben. Das Uebrige that die Kongregation der Cardinäle, welcher
der Papst, sich selbst mißtrauend, die Entscheidung überließ, und so mag wohl
die Schuld für das Scheitern der Verhandlungen auf beide Parteien zu ver¬
theilen sein.
Gleichwohl konnte die Regierung überzeugt sein in gutem Glauben zu
handeln, wenn sie die Hand zu einer Verständigung bot, welche der Papst an¬
geregt hatte. Die bloße Thatsache einer Verständigung — abgesehen von ihrem
Inhalt — war ein Gewinn für das Königreich; denn der gegenwärtige Kriegs¬
zustand zwischen Staat und Kirche erschwert unlciugbar dessen Consolidirung.
Gleich für die nächste Zeit war es erwünscht, wenn der Wahlkampf, auf den
sich die Klerikalen mit allen Kräften rüsten, von seiner Heftigkeit verlor. Und
wenn es zunächst der Staat war, von welchem ohne positive Gegenleistungen
Zugeständnisse an die Kirche verlangt wurden, so war dies doch zugleich ein
bedeutender Schritt gegen das Programm: die freie Kirche im freien Staat,
auch mußte es immerhin als eine factische Anerkennung des Königreichs Ita¬
lien betrachtet werden, wenn die Curie mit einem Abgesandten des Königs von
Italien erfolgreich verhandelte. War nur erst über die eine Frage eine Verstau-
digung erzielt, so war die Brücke gefunden für fernere Verhandlungen, welche
eine weitere Annäherung der beiden Höfe bringen mußten. Und dies scheint
uns der Hauptgesichtspunkt zu sein, aus welchem die Mission Vegezzis zu be¬
trachten war. Es war die erste Verhandlung, welche über die römische Frage
von den Nächstbetheiligten ohne die Vermittlung Frankreichs geführt
wurde. In Paris begriff man diese Seite der Frage sehr wohl, wenn man
sich auch den Anschein gab, als begünstige man eine Unterhandlung, zu welcher
allerdings der Septembervertrag erst die Möglichkeit eröffnet hatte. Es war
von Seite des Papstes wie von Seite Italiens der erste Versuch, sich des lä¬
stigen Schutzes Frankreichs zu erwehren und für das große Problem eine rein-
italienische Lösung zu finden, eine Lösung, welche zwar selbst nur ein Ueber¬
gangszustand sein konnte, deren Bedeutung aber eben darin bestand, daß sie
die Intervention Frankreichs jetzt und für die Zukunft ausschloß. Denn dies
ist kein Zweifel: das Gelingen einer Verständigung zwischen Florenz und Rom
ist das einzige Mittel, um Frankreich jeden Vorwand abzuschneiden,
die Occupation der ewigen Stadt zu verlängern. Und dies ist zu¬
nächst die Hauptsache. Frankreich hat sich zu einem Termin für die Räumung
Roms verpflichtet. Aber so lange die Aussöhnung zwischen Italien und dem
Papstthum fehlt, wird es immer Mittel finden können, seinem Versprechen sich
zu entziehen. Die Räumung Roms ist aber das nächste und dringendste In¬
teresse Italiens. Alle andern Fragen sind dagegen von untergeordneter Bedeu¬
tung. Die Opfer, welche von Italien verlangt wurden, brachte es nicht dem
Interesse des heiligen Stuhls, sondern der Sicherheit, daß Rom geräumt und
Italien gegenüber, auf seine eignen Füße gestellt wurde. Für den Augenblick,
kommt wenig darauf an, ob die Zahl der Bisthümer nach Nicasolis Vorschlag
um ein Fünftel vermindert wird, auch der Eid der Bischöfe, die Form ihrer
Einsetzung sind keine Lebensfragen für Italien, aber eine Lebensfrage ist, daß
die fremde Besatzung aus dem Mittelpunkt der Halbinsel verschwinde und die
römische Frage eine italienische werde.
Von diesem Gesichtspunkt betrachtet, scheint es uns ein preccirer Gewinn
für Italien, daß die Verhandlungen vorläufig sich zerschlagen haben. Indessen,
das Interesse einer Verständigung ist angesichts des Septembervertrags auf
beiden Seiten vorhanden, dieselben Gründe, welche den Papst zu einem ent¬
gegenkommenden Schritt vermochten, werden sich auch künftig geltend machen,
voraussichtlich in immer zwingenderer Weise. Je drückender der zweideutige
Schutz Frankreichs empfunden wird, je sichtbarer zugleich die Unmöglichkeit für
den heiligen Stuhl ist, sich der Assimilirung Roms an Italien zu erwehren,
um so eher wird der Widerspruch gegen eine Transaction nachlassen, welche
wenigstens seine geistliche Stellung unangetastet läßt. Das Königreich andrer¬
seits wird um so größere Zugeständnisse an die Freiheit der Kirche machen
können, je mehr es die nächste Zeit dazu anwendet, die Unabhängigkeit des
Staats zu befestigen und durch Trennung des bürgerlichen und kirchlichen Ge¬
biets fertige Thatsachen zu schaffen. In dieser Beziehung ist es von Wichtig,
keit, daß auf den 1. Januar 1866 die Einführung der Civilehe festgesetzt ist-
womit eine Hauptquelle der Eingriffe der Kirche in die bürgerlichen Verhält-
nisse beseitigt wird. Ferner wird die Regierung nicht säumen das Klosterauf.
Hebungsgesetz der Kammer wieder vorzulegen und zum Abschluß zu bringen
Je freier der Staat der Kirche gegenüber dasteht, um so größere Freiheit kann
er der Kirche in ihrer Sphäre verstatten. Ist die Trennung beider Gebiete
praktisch weiter vorgeschritten, als sie es heute war, so wird eine Reihe pour
Schwierigkeiten beseitigt sein, welche diesmal die Verhandlungen scheitern
Schon früh bildete sich im israelitischen Volk die Prophetensage aus. Wir
haben in den Büchern der Könige mehre, zum Theil ziemlich umfangreiche
Abschnitte, welche uns die Wirksamkeit der gewaltigen Männer, denen das
kleine Volk allerdings allein seine weltgeschichtliche Bedeutung verdankt, in über¬
natürlicher Beleuchtung darstellen. Keine dieser Erzählungen ist ohne einen
eigenthümlichen Werth, wenn sie durch ihren märchenhaft-wunderbaren oder
stark didaktischen Charakter auch mitunter etwas gegen unsern Geschmack ver¬
stoßen. Durchaus großartig ist die Geschichte Ella's, wie er ohne jede Rücksicht
für den Herrn eifert, wie er unter Gottes wunderbarem Beistande die Baals-
Pfaffen beschämt und ausrottet, wie er dennoch sein Wirken vereitelt, sein Leben
bedroht sehend stürmisch zu Gott klagt und von ihm serner in seinem großen
Streben unterstützt wird, bis er endlich im feurigen Wagen gen Himmel fährt.
Ich kenne im alten Testament keine Erzählung, welche einen so gewaltigen
Charakter hätte, in der Größe und Schroffheit des Helden so sehr durch das
ihn umgebende Wunderbare gesteigert wird. Dies wird uns erst recht klar,
Wenn wir die Geschichte seines Schülers Elisa betrachten, welche nur ein schwacher
Nachklang der Geschichte des Meisters ist, in der man vergeblich durch Häufung
und Vergrößerung der Wunder die innere Größe dieser zu erreichen strebt.
Die Geschichten dieser alten Propheten sind jetzt in die Darstellung der
Reichsgeschichte aufgenommen, wie sie denn auch größtentheils entschieden ge¬
schichtliche Grundlagen haben. Nur eine einzige Prophetenerzählung haben wir
im alten Testament als ein besonderes Buch oder, um genauer zu reden, als
einen ganz selbständigen Theil des Buchs der zwölf (kleinen) Propheten. Dies
ist das Buch Jona, dessen Geschichte uns folgendermaßen erzählt wird:
Jona, der Sohn des Amitthai, erhält den göttlichen Befehl, nach der
großen Stadt Ninive zu gehn, um gegen sie wegen ihrer Bosheit zu predigen.
Da er aber fürchtet, die Niniviten würden auf seine Predigt Buße thun und
dann doch Gnade erhalten, sucht er Gott zu entfliehen. Er will von Joppe
nach dem fernen Tarsis (Tartessus in Spanien) fahren. Aber Gott erregt einen
großen Sturm. Vergeblich suchen die Schiffer das Schiff durch Hinauswerfen
ihrer Sachen zu erleichtern, vergeblich flehn sie zu ihren Göttern. Jetzt wird
auch Jona. welcher unten im Schiff geschlafen hat, heraufgeholt und aufge¬
fordert, seinen Gott um Rettung anzurufen. Da aber nichts hilft, beschließen
sie, durchs Loos zu erforschen, wessen Schuld die Lebensgefahr über sie ge¬
bracht habe. Das Loos fällt auf Jona, dieser gesteht seine Schuld und fordert
sie selbst auf, ihn über Bord zu werfen. Nachdem alle Anstrengungen, das
Schiff sonst zu retten, sich vergeblich erwiesen haben, wird Jona ins Meer ge¬
worfen, und das Meer wird sofort ruhig. Die Schiffer, welche vorher Gott
gebeten haben, ihnen Jonas Tod nicht als Blutschuld anzurechnen, bringen
Gott Opfer und Gelübde dar.
Jona wird durch einen von Gold bestellten Fisch verschlungen. Im Bauche
desselben fleht er zu Gott und wird nach drei Tagen und drei Nächten vom
Fisch ans Land gespieen.
Dem wiederholt an ihn ergehenden Befehle nach Ninive zu gehn, leistet
Jona nun Folge. Er verkündet in Ninive, daß die Stadt in 40 Tagen unter¬
gehn werde. Die Bewohner glauben an ihn, suchen aber durch Trauer. Fasten
und tiefe Reue das Unheil abzuwenden. Der König geht seinen Unterthanen
mit dem besten Beispiel voran: seine Befehle, strengste Buße zu thun, werden
befolgt. Darob erbarmt sich der Herr und läßt die gedrohte Strafe nicht
eintreten.
Dies verdrießt den Jona. Unmuthig baut er sich vor der Stadt eine Hütte,
um darin zu sehen, was aus Ninive werde. Gott läßt ein schattiges Gewächs")
aufsprossen, der Prophet hat darüber seine große Freude. Desto größer ist
seine Betrübniß, als Gott das Gewächs durch einen Wurm stechen und ver¬
dorren läßt, so daß er nun vor der Hitze und dem Gluthwind keinen Schutz
mehr hat. Er wünscht sich den Tod, weil sein Lieblingsgewächs so rasch ver¬
nichtet ist. Nun aber setzt ihn Gott zur Rede, wie er, der unmuthig sei über
das Schicksal einer solchen Pflanze, es Gott verargen wolle, daß er sich der
gewaltigen Stadt mit den zahllosen unmündigen Kindern und dem unschuldigen
Vieh darin erbarme. — Damit schließt die Erzählung ganz abgebrochen, wie
sie abgebrochen anfängt.
An eine geschichtliche Darstellung ist bei dieser Erzählung nicht zu denken.
Die kindliche Weise, in der hier Gott auftritt, ließe sich freilich zur Noth noch
dem Berichterstatter zur Last legen, der etwa die ihm vorliegenden geschichtlichen
Angaben nur auf seine Weise bearbeitet habe. Aber die wesentlichsten Züge
der Erzählung selbst verstoßen wider alle Wirklichkeit. Daß Jona von einem
Fisch verschlungen wird, drei Tage in seinem Innern bei vollem Bewußtsein
verharrt, und daß die Niniviten beim ersten Auftreten des israelitischen Pro¬
pheten sofort bekehrt werden, sind Dinge, deren Unmöglichkeit die ganze Ge¬
schichte ins Gebiet der Dichtung verweist. Dazu kommen noch einige kleinere
Züge, wie z. B. die unendliche Größe der Stadt Ninive, welche „drei Tage¬
reisen" groß ist, nach dem ganzen Zusammenhange kann dies nur so viel be¬
deuten, daß von einem Ende Niniveh bis zum andern mindestens 12 Meilen
Wegs gewesen, so daß demnach die am Ende angeführte Zahl von mehr als
12d,000 unmündigen Kindern („Menschen, welche nicht ihre Rechte von ihrer
Linken unterscheiden können") für eine solche Größe der Stadt noch viel zu
gering wäre, so unglaublich die daraus zu erschließende Einwohnerzahl auch an
und für sich schon sein muß.
Die einzige Frage, welche in dieser Hinsicht noch aufgeworfen werden
könnte, wäre die. ob der Verfasser wenigstens die Grundzüge einer geschicht¬
lichen Ueberlieferung befolgt hätte. Der Name Jona ist allerdings nicht Will¬
kürlich gewählt. Im zweiten Buch der Könige 14, 26 heißt es, der König
Jerobeam der Zweite von Israel habe die alten Grenzen des davidischen Reichs
wiederhergestellt, wie es Gott verkündigt habe durch seinen Knecht, den Propheten
Jyna. Sohn des Amitthai von Gäth-Hahefer (einem Ort Nordpalästinas).
Aus dieser durchaus zuverlässigen Nachricht*) sehen wir, daß dieser Prophet
spätestens ein Zeitgenosse des großen Eroberers Jerobeam des Zweiten (erste
Hälfte des achten Jahrhunderts vor Chr. Geb.) war. weiter wissen wir nichts
von ihm. Ziehen wir nun alle unglaublichen Züge unserer Erzählung ab, so
bleibt als möglicherweise geschichtlich, daß dieser alte Prophet eine Reise nach
dem Westen habe machen wollen, und daß er nach Ninive gekommen sei. Was
nun aber ein israelitischer Prophet jener Zeit in Spanien oder in Ninive habe
machen wollen, bleibt durchaus unklar. Predigen konnte er den Fremdlingen
nicht, weil sie weder ein Verständniß von seiner Religion noch von seiner
Sprache haben konnten. Handels- oder Staatsgeschäfte können ihn der da¬
maligen geschäftlichen Lage wegen kaum in die Ferne geführt haben', und noch
weniger machte ein israelitischer Gottesmann Reisen zur Belehrung oder zum
Vergnügen ins ferne Ausland. Sehn wir nun, wie die Nennung von Tartessus
und Ninive gerade zu den didaktischen Zwecken des Büchleins so gut stimmt,
so werden wir zu dem Schluß kommen, daß höchst wahrscheinlich auch die
Reisen Jona's eine Fiction des Erzählers sind.
Derselbe wollte seine Lehren in erzählender Form an das Leben eines
Propheten knüpfen, und da nahm er einen solchen heraus, von dem man nichts
weiter wußte, als was in jener Notiz steht, einen Propheten des grauen
Alterthums aus dem nördlichen, früh zerstörten Reiche, mit dem er nun ganz
frei schalten konnte.
Die Erzählung sollte mehre Lehren geben. Zuerst wird gelehrt, daß der
Mensch sich nie dem Befehle Gottes entziehen soll. Glaubt er Gott, der ihn nach
dem fernen Osten senden will, durch die Flucht in den äußersten Westen zu
entkommen, so weiß ihn Gott schon zu erreichen. Aber durch demüthiges
Gebet wird er wieder aus der Noth befreit, in die er sich selbst gestürzt hat,
wie Jona aus dem Bauche des Fisches. Die Gnade Gottes, welche auch die
schwersten Sünden tilgt, wenn sich der Sünder von Herzen bekehrt, wird an
den Niniviten deutlich. Und schließlich: wenn Gott sich auch der Heiden erbarmt
und das oft gedrohte Strafgericht über sie nicht hereinbrechen läßt, so soll man
darüber nicht murren, wie Jona über die Verschönung Niniveh, sondern soll
sich über Gottes Barmherzigkeit, die trostreichste, dem Menschen wichtigste und
deshalb von Alters her am meisten gepriesene Eigenschaft Gottes (vgl. Jona
4, 2 mit 2. Mose 34. 6 Joel 2. 13) freuen.
Der letzte Punkt ist offenbar der wichtigste und der. welcher den Verfasser
veranlaßte, die Erzählung zu schreiben. Die alten Propheten hatten so gewaltig
den Zorn Gottes über die Heiden verkündet, hatten mit solcher Bestimmheit
den einzelnen heidnischen Reichen ihr nahe bevorstehendes Ende vorausgesagt,
daß die Judäer ungeduldig werden mußten, wenn sie dieses Ende der Heiden
nicht kommen sahen, während sie selbst so oft in großer Noth waren. Nun
lehrt und sagt aber schon der Pentateuch, daß die Buße des Menschen Gottes
Sinn ändern könne, und daß Gott um weniger Gerechten willen die Strafe
frevelhafter Völker und Städte ausschiebe. Konnte es nicht so mit den verschonten
Heiden sein? Und mußte es bei ernsthaftem Nachdenken nicht sündlich erscheinen,
über diese Barmherzigkeit Gottes zu zürnen?
Man sieht, der Verfasser war von hohen sittlichen und humanen Ideen
erfüllt, der jüdische Particularismus war bei ihm schon fast ganz durch¬
brochen.
Durch die Wahl Jona's als Hauptperson hatte er sich ein entlegenes Ge¬
biet gewählt, auf welchem er für die Dichtung freien Spielraum hatte. Im
Zeitalter des geschichtlichen Jona war Ninive die Hauptstadt des größten Reichs,
das nicht lange darauf mit Israel feindlich zusammenstieß und in der Erinnerung
als ein Reich des Frevels dastand. Hier war daher ein zweckmäßiger Ort zur
Darstellung des großen Gedankens. Daß die Wirksamkeit eines israelitischen
Propheten in Ninive undenkbar, daß zumal eine so rasche Bekehrung der Be¬
wohner eine Unmöglichkeit war, daß die Klagen der Propheten über Niniveh
Bosheit erst nach dieser Zeit erschallen, ohne je eine Rücksicht auf eine frühere
Bekehrung desselben zu nehmen, das konnte ihn alles nicht kümmern; er schrieb ja
weder Geschichte, noch einen historischen Roman im modernen Sinne. Um das
Unrecht des mürrischen Sinnes recht zu zeigen, läßt er ihn bei dem Propheten
selbst erscheinen. Dieser ahnt sogleich, daß Gott seine Drohung doch nicht
ausführen werde, und geht soweit in seiner Thorheit, daß er Gott entfliehen
will. Tartessus ist genannt, weil dieser Ort der Endpunkt der hebräischen
Weltkunde im Westen war; um nicht nach Osten gehn zu müssen, sucht er
in den fernen Westen zu fliehn, und scheut sogar das Meer nicht, vor dem
doch die Jsraeliten von jeher ein gewaltiges Grauen hatten. Die Art, wie
Jona an diesem Vorhaben gehindert und zugleich recht nachdrücklich wegen seiner
Verkehrtheit zurechtgewiesen wird, kommt uns allerdings etwas seltsam vor,
aber wir müssen bei der Beurtheilung alter Literaturwerke beständig den Ge¬
schmack und die Ansichten des Volkes vor Augen haben, aus dem jene hervor¬
gegangen sind. Für den Hebräer hatte dieser Aufenthalt im Bauche des Fisches
gar nichts so Auffallendes; er war noch an ganz andre Wunder gewöhnt.
Dazu gewährte dies Seeabcnteuer noch Gelegenheit, den Eindruck des gött¬
lichen Wirkens auf die heidnischen Schiffer lebendig zu veranschaulichen. Die
ganze übrige Entwicklung der Erzählung ergiebt sich von selbst.
Man hat die Geschichte Jona's mehrfach sehr hart beurtheilt; ich kann
mich diesem Tadel nicht anschließen: freilich kommen einige sehr unpassende
Züge vor, wie der, daß auch das Vieh fasten muß und in Trauergewänder
gekleidet wird. Aber im Ganzen ist die Erzählung gewandt, lebendig, anschau¬
lich und eindringlich. Der Charakter des Helden ist sehr natürlich dargelegt.
Der Eigensinn und die Ungeduld des Propheten hätten in den wenigen
Zügen kaum besser dargestellt werden können. Man kann freilich fragen: wie
kam der Verfasser dazu, den Helden zu einem Propheten zu machen? Die Ursache
ist die, daß seine Ansicht von der Aufhebung der göttlichen durch die Propheten
Verkündeten Strafdecrete durch das Auftreten des Propheten am besten der-
sinnliche wird. Auch bedürfte er der Person eines solchen, um einen unmittel¬
baren Verkehr mit Gott darstellen zu können.
Sehr hübsch ist die Schlußscene mit dem Wunderbaum. Auch daß die
Geschichte ganz plötzlich abbricht, kann ich nicht tadeln. Es ist ja nicht darauf
abgesehn, eine Geschichte Jona's zu geben, sondern nachdem der Verfasser
seine Lehren ausgesprochen, kann er den Schluß abbrechen, wie er ohne Ein¬
leitung angefangen hat.
Dagegen hat der Verfasser ein eigenthümliches Versehen mit dem Gebet
Jona's im Fischbauche begangen. Nach dem Zusammenhang der Rede ist es
ein Gebet aus der Noth; betrachten wir aber die Worte selbst, so sehen wir,
daß es ein Danklied für Rettung aus der Noth ist. Damit der Leser selbst
entscheiden könne, gebe ich das Lied in wörtlicher Uebersetzung:
Cap. 2 V. 3: „Ich rief aus meiner Noth zum Herrn, und er erhörte
mich; aus der Unterwelt Bauch schrie ich: Du hörtest meine Stimme.
V. 4. Du hattest mich in die Tiefe, mitten ins Meer geworfen, ein
Strom umgab mich, all Deine Brandungen und Wogen gingen über mich. .
V. ö. Da dachte ich: „verstoßen bin ich aus Deinen Augen." Doch werd'
es wieder Deinen heiligen Tempel schaun!
V. 6. Das Wasser umfing mich, ans Leben ging's mir,*) die Fluth
Umringte mich, Schilf war an mein Haupt gebunden.
V. 7. Bis zu den Gründen der Berge war ich hinabgesunken, der Erde
Riegel waren hinter mir (geschlossen) für immer: da zogst Du. mein Gott, aus
der Grube mein Leben hervor.
V. 8. Als mir meine Seele verschmachten wollte, gedachte ich des Herrn:
da kam zu Dir mein Gebet in Deinen heiligen Tempel.
V. 9. Die, welche Sündeneitelkeiten im Auge behalten, verlassen ihre
Frömmigkeit.
V. 10. Ich aber will Dir mit lautem Preise opfern, was ich gelobte, will
ich bezahlen, Hilfe kommt vom Herrn."
Wer die Sprache der Psalmen auch nur oberflächlich kennt, der weiß, daß
das Versinken ins Meer, das Bedecktsein durch die Wogen einerseits, das Hin¬
abfahren zur Unterwelt oder in die Tiefe der Erde andrerseits geläufige Bilder
des tiefsten Unglücks sind. Beide Bilder (deren letztes zunächst das Begraben¬
sein bedeutet) sind in unserm Liede angewandt, das erste in V. 4 un5 6. das
andere in V. 3 und 7. Der Dichter aber preist Gott, daß er ihn aus dieser
Noth befreit habe, so daß er wieder den Tempel schauen werde.
Da das Gedicht auch ein weit alterthümlicheres Gepräge trägt als die
Erzählung, so ist nicht daran zu zweifeln, daß der Erzähler hier ein älteres
Lied aufnahm. Bei den Bildern vom Meer und vom Bauch der Unterwelt
konnte ja der Leser an den Bauch des Fisches denken. Freilich paßt die Si¬
tuation des Dichters schlecht zu der Jona's, und es ist anzunehmen, daß der
Erzähler das Lied unrichtig als einen Bittgesang auffaßte. Auf keinen Fall
darf man mit einigen Erklärern gegen den klaren Wortlaut das Lied als Dank¬
lied Jona's nach Befreiung aus dem Bauche des Fisches ansehn. Ebenso
wenig kann ich Hitzigs Ansicht billigen, nach welchem der Erzähler das Lied
selbst aus Bruchstücken verschiedener religiöser Lieder zusammengesetzt hätte; denn
hätte der Erzähler das Lied auch nur als Canto verfaßt, so hätte er doch gewiß
die richtige Situation hergestellt und eine flehentliche Bitte zu Gott um Ver¬
gebung und Errettung eingefügt. Ganz abenteuerlich, wie so manche andere
Ansichten dieses Gelehrten, ist die Meinung Bunsens, dies sei ein echtes Lied
des alten Propheten Jona, aus dessen falscher Ausfassung die uns vorliegende
Gestalt der Geschichte Jona's entsprungen sei. Uebrigens ist die Aufnahme
eines ältern Liedes in eine neuere Erzählung an einer unpassenden Stelle nicht
ohne Analogie im alten Testament: 1 Sam. 2, 1 ff. ist der Mutter Samuels
ein Lied in den Mund gelegt, welches von einem hochgestellten Mann nach
großen Thaten dem Herrn zum Dank und Preis gesungen ist.
Der Verfasser ist sehr originell, wenn ihm auch hier und da die alten
Muster vorschweben. Der Unmuth und selbst die äußere Stellung Jona's im
letzten Capitel ist der Erzählung von Ella nachgebildet, aus der (in V. 3 und 8
sogar noch einige Ausdrücke nachtönen. Freilich steht der titanenhafte Prophet,
dessen tiefen Schmerz über die Vergeblichkeit seines Wirkens Mendelssohn in
seinen schönsten Tönen dargestellt hat, hoch über dem eigensinnigen, unver¬
ständigen Jona.
Die ganze Art der Komposition und der Gedanken, sowie nicht minder
die höchst eigenthümliche, etwas aramaisirende Sprache weisen unserer Er¬
zählung ein ziemlich spätes Alter an. An eine vorexilische Abfassung ist gar
nicht zu denken. Doch darf man andrerseits das Alter des Buches nicht zu
tief herabsetzen. Der um 190 v. Chr. schreibende Sirach kennt (49, 10) das
Buch der 12 Propheten (die Echtheit der Stelle ist mit Unrecht angefochten),
also auch unser Buch, und das ungefähr um dieselbe Zeit geschriebene Buch
Tobie weist (14, 8) freilich etwas ungeschickt, auf das Buch Jona hin. Die
Aufnahme in das Buch der 12 Propheten macht es sogar wahrscheinlich, daß
die Erzählung schon im fünften Jahrhundert v. Chr. entstanden ist, da sich der
Abschluß dieses Buches schwerlich hinter das Jahr 400 setzen läßt.
Die Aufnahme in diese Sammlung prophetischer Schriften, welche sonst¬
alle einen ganz andern Charakter haben, verdankt unsere Erzählung wohl
wesentlich dem Wunsche, die heilige Zwölfzahl voll zu machen, auf welche man
seit alten Zeiten großen Werth gelegt hat. Ihre Stelle bekam sie im Anfang
des Buches, weil Jona, dessen Geschichte man hier hatte, nach der oben an¬
geführten Stelle aus dem zweiten Buch der Könige in Beziehung zum König
Jervbeam dem Zweiten gestanden hatte, wie auch die andern ältesten Propheten
deren Zeitalter bekannt war, Hosea und Amos (Joel und Obadja erhielten aus
andern Gründen ihre Stellung resp, vor und hinter Amos).
Da das Buch Jona der rein geschichtlichen Auffassung manchen Anstoß
bot, so hat man es früher sowohl in der christlichen wie in der jüdischen Kirche
vielfach allegorisch gedeutet oder als einen Traum oder eine Vision gefaßt.
Die Willkürlichkeit und Verkehrtheit solcher Versuche liegt auf der Hand.*)
Noch ist zu erwähnen, daß man bisweilen in unserm Buche Anklänge an
griechische Mythen gefunden hat. Allerdings bieten die Erzählungen von
Hesione und Herakles sowie von Andromeda und Perseus besonders in gewissen
eigenthümlichen Ausbildungen mehre Vergleichspunkte, doch berühren sie alle
nicht das Wesen unsrer Geschichte, und ich möchte sie für zufällig halten. Daß
der Verfasser, der doch voraus^shlich in Jerusalem schrieb, den Jona von Joppe,
dem Hafenort Jerusalems, abfahren ließ, lag sehr nahe, und er brauchte diesen
Ort nicht erst aus einer griechischen oder phönizischen Sage zu nehmen, welche
den Mythus von Perseus frühzeitig in Joppe localisirte. Wie dem aber auch
sei, vollkommen verkehrt ist es jedenfalls, die Geschichte Jonas mit babylonischen
Mythen zusammenzuhalten.
Bekanntlich erhob das Herrenhaus in seiner 17. Sitzung am 14. Juni,
erregt vornehmlich durch die Reden der Abgeordneten Gneist über die Militär¬
reorganisation, Tochter über die Gerichte in Preußen, Virchxw über den
Marineetat, den Antrag des Herrn v. Waldau-Steinhöfel zum Beschlusse: «die
königliche Staatsregierung zu ersuchen, innerhalb der Grenzen der bestehenden
Gesetze Vorsorge zu treffen, daß Injurien, Verleumdungen und andere ver¬
brecherische Aeußerungen auch dann den allgemeinen Strafgesetzen unterworfen
bleiben^ wenn sie von einem Mitgliede der Häuser des Landtages bei einer
Berathung in denselben ausgehen". Am Schluß der lebhaften und zum Theil
^parlamentarischen Debatte erklärte der Ministerpräsident v. Bismarck: „die
königliche Staatsregierung ist der Ansicht, daß ein Privilegium zu Beleidigungen
und Verleumdungen in Preußen nicht bestehen sollte, oder doch nur so lange
geduldet werden könnte, als das sittliche Gefühl sich stark genug erweist, um
die Ausübung eines solchen Privilegiums zu verhindern. Die königliche Staats¬
regierung hat den Eindruck, daß diese Prämisse nicht mehr zutrifft, und daß
sie deshalb der Frage: besteht ein solches Privilegium bei uns oder nicht, näher
treten muß. Wenn es bestände und benutzt wird, so brauche ich nicht nach¬
zuweisen, daß es der Gerechtigkeit, der Vernunft, der Würde des Landes wider¬
spricht. Ich gebe gern zu. daß die Versuche, erfahrungsmäßig zu ermitteln,
ob die Gerichte das Bestehen eines solchen Privilegiums anerkennen, bisher
noch nicht erschöpfend genug ausgefallen sind. Nach dem Antrage von Waldau
wird die Existenz des Ucbelstandes bezweifelt und der Negierung anheimgegeben,
der Frage, ob die Gerichte die Verfassung so auslegen, daß volle Straflosig¬
keit für Injurien und Verbrechen, so weit sie durch das Wort begangen werden
können, existirt. näher zu treten und sie genauer und sichrer, als bisher zu
ermitteln. Die königliche Regierung ist bereit, diesen Weg zu betreten. Sollte
sich dabei herausstellen, daß dennoch nach den Erkenntnissen der königlichen
Gerichte dieses Privilegium aä usum besteht, so wird die Negierung bestrebt
sein, auf den gesetzmäßigen Weg einzutreten, seine Abschaffung anzubahnen."
Hier wird also klar das Mittel angezeigt, welches die Regierung gegen
die ausschreitcnde Redefreiheit der Abgeordneten anwenden will: zuerst Anklage
durch die Staatsanwälte nach Schluß der Sitzungen, um gerichtliche Ent¬
scheidungen gegen diejenigen Abgeordneten zu erzielen, deren Meinungsäußerun¬
gen in der Kammer den Thatbestand einer strafrechtlichen Handlung bilden, die
Rechte Dritter verletzen; versagt dies Mittel, dann Anträge auf gesetzliche Be¬
schränkung des Art. 84 der Verfassung. Demgemäß häufen sich seit Schluß
der Sitzungen immer bestimmtere Gerüchte, der Justizminister habe schon die
Oberstaatsanwälte (nicht den Gcneralstaatsanwalt, der gar nicht übergeordnete
Behörde jener ist) angewiesen, mit desfälligen Anklagen gegen die Abgeordneten
vorzugehen. Nach den obigen Aeußerungen Bismarcks sind diese Gerüchte
höchstens verfrüht, im Inhalt zweifellos richtig.
Bedroht oder verletzt dieses Vorgehen der Regierung unsre Verfassung?
Streng parteilos wollen und müssen wir dies untersuchen.
In der Theorie des constitutionell monarchischen Staatsrechts lassen sich
eine Reihe von Gründen entwickeln, aus welchen die Redefreiheit der Abge¬
ordneten, einer ersten und zweiten Kammer, in der hier beabsichtigten oder
irgendeiner andern Weise. — außer dem Ordnungsruf des Präsidenten der
Kammer —. nicht beschränkt werden darf, ohne das Wesen, den Zweck der
Kammern zu beeinträchtigen, ja wohl gar ganz aufzuheben. Mag man den
Volksvertretern die Gewalt der Gesetzgebung und der Controlle der Regierungs¬
handlungen zuerkennen, oder ihnen, wie noch neuerdings der große John
Stuart Mill (Repräsentativverfassung S, S6 ff. 68 ff.) will, nur letztere Con¬
trolle zuweisen, immer müssen sie die gesetzliche Möglichkeit haben, unbeeinflußt
durch eine entgegenstehende Besorgniß vor Anklage die wahre Meinung, den
wahren Willen des Volkes zum Ausdruck zu bringen. Gerade die Stellung
der Volksvertreter zwischen Negierung und Volk, besonders aber als Beauf'
sichtiger der Regierung im Namen und zu Gunsten des Volkes bringt es mit
sich und zwingt, daß sie vielfach mit ernster, strenger Rüge gegen Maßregeln
der Regierung, gegen das Gebahren, Verhalten einzelner Glieder des Volkes
einschreiten. Ihr Tadel kann gar leicht so weit gehen, daß es erscheint, als
wollten sie z. B. die Staatsverfassung gewaltsam ändern oder öffentlich durch
ihre Rede zur Ausführung einer solchen Aenderung auffordern, und doch deckt
eben ihre Stellung als Volksvertreter sie schon gegen den Verdacht des Hoch¬
verrathes oder der Anreizung dazu. Auch können sie oft gar nicht alle ihre
Behauptungen, ihre Verdachtsmomente mit klaren Beweisen belegen und doch
müssen sie, eben um durch die Debatte Klarheit, Gewißheit zu schaffen, ihren
Verdacht, ihren Tadel aussprechen. Folgendes aber kommt noch hinzu. Hier
faßt, wie gerade die eben geschlossene Sitzungsperiode der Hauser in Preußen
lehrt, der gerügte Theil die Worte der Rüge gar zu leicht als persönliche, nicht
sachliche aus, oder er sieht in der Rüge vom Parteistandpunkte aus Anzeichen
einer schweren strafbaren Handlung, z. B. Hochverraths. Und so weist die
gerügte Regierung, der getadelte Minister, als Partei, nun ihre Organe, die
Staatsanwälte und Oberstaatsanwälte an. Anklage gegen den verhaßten Tadler
wegen seiner Rüge zu erheben, und der höchste Chef der Gerichtsbeamten im
Staate, an dessen Willen, dessen Verfügungen vielfach das Glück, ja die Existenz
der Richter hängt, als Beleidigter, Verleumdeter, oder als Partei- und Regie-
rungsgenvsse der Beleidigten. Verleumdeten, oder auch nur als höchster Vor¬
gesetzter und Mitglied der angeblich in ihrer Existenz bedrohten Regierung
fordert von den Richtern das Urtheil über seinen offnen, allbekannten politischen
Gegner, den Gegner seiner Genossen, seiner Negierung. (Der Umstand da¬
gegen, daß die Richter hier über Mitglieder des einen gesetzgebenden Factors
urtheilen müssen, hat offenbar nichts Widersprechendes in sich.) — Andrerseits
regt gerade die Stellung der Volksvertreter alle Geistes- und Seelenkräfte der
einzelnen Mitglieder auf, ihre Pflicht fordert, daß sie mit ganzer Energie,
mit größtem Nachdruck die Rechte, das Wohl des Volkes wahrnehmen. Wenn
nun bereits die Repräsentativverfassung durch scharf gesonderte Parteibildungen
im Volke sich lebendig erwies und etwa ein brennender Conflict zwischen
Regierung und Volk die politischen Parteien besonders schroff einander gegen¬
überstellte, dann ist es unausbleiblich, daß die Volksvertreter ebenso, wie die-
jenigen der Regierung, in der leidenschaftlichen Erregung der Reden augenblicklich
einmal mit ihren Worten gegen die Rechtssphäre Dritter und gegen das Straf¬
gesetz verstoßen. Je mehr in dem Abgeordnetenhause die aus den verschiedenen
Gesellschaftsschichten genommenen wirtlichen Vertreter derselben — was wir
erstreben müssen — Platz gewinnen werden, und nicht blos, wie heute noch
fast überall in Deutschland, nur Glieder der vorzugsweise gebildeten Gesellschafts¬
kreise das Volk vertreten, desto mehr wird sich obige leidenschaftliche Erregung
des Augenblickes in den Debatten offenbaren, bis die volle politische Durch¬
bildung des Volkes diesen Mißstand beseitigt. Das liegt in der menschlichen
Natur, wenn sie nicht völlig verlebte und blasirt wurde, begründet, und die
Praxis sogar unseres Herrenhauses, ja selbst der Minister, so Roons Vorwurf
der „Unverschämtheit" gegen Gneist, bestätigte es vielfach, auch erkannte
Herr v. Roon es gegenüber Virchow in dessen Streit mit Bismarck ausdrück¬
lich an. Droht aber jedem leidenschaftlich unbedachten Worte eine Anklage
und gar unter den oben geschilderten bedenklichen Vedingungen, so hütet sich
jeder Vertreter des Volkes (oder der iliegicrnng, falls diesen letzteren nicht eben
jene Bedingungen straflos hinstellen) mit voller Wucht, mit ganzem Nachdruck
seiner Ueberzeugung, dem Willen des Volkes Ausdruck zu verleihen, ja nur
einen directen Tadel mit Freimuth auszusprechen; denn schon dieser kann, wie
gezeigt, strafwürdig erscheinen, z. B. in politischen Zuständen, wie unsre heutigen
Preußischen es sind. So wird die Kammer matt, zweckwidrig, unwahr.
Welche Gefahr endlich kann denn aus solcher augenblicklichen Rechtsverletzung
im Sturm der Rede entstehen? Die völlige Oeffentlichkeit des Vorganges vor
den Augen des Volkes, ja der Völker mindert die Gefahr doch bedeutend, wenn
sie sie nicht ganz aufhebt. Außerdem steht der Weg der Entgegnung durch
das Wort im Hause, durch die Presse außerhalb jedem offen, Petitionen sind
unbeschränkt; vor allem überwacht ja der Präsident des Hauses, der hier doppelt
die Pflicht der ernstesten Strenge und nachdrücklichsten Rüge hat, die Debatte
und rügt die ungehörigen, straffälligen Worte, er ruft den Redner zur Ordnung
und entscheidet dadurch sofort Namens des Hauses über die Behauptung, die
Aeußerung des Berufenen. Genug Schutzmittel für ein wirklich constitutionelles
Volk! Der große Minister Englands, Lord Chatham. wurde von einem eifrigen
Mitgliede des Unterhauses wiederholt mit dem dringenden Verlangen auf
Herabsetzung einer Steuer behelligt. Das Mitglied rief, einen Staar müsse
man anstellen, welcher dem widerhaarigen Minister fort und fort das Verlangen
entgegenschnarre. Pitt antwortete, es sei wohl unnöthig, den Etat Gro߬
britanniens mit den Unterhaltskosten dieses Staares zu belasten, so lange das
ehrenwerthe Mitglied im Hause sitze, und — das ganze Haus hatte Pitt auf
seiner Seite. Eben die Kammern sind verpflichtet, und sie allein, „auf Grund
ihrer Autonomie dafür Sorge zu tragen, daß durch strenge Handhabung der in
Bezug auf Redefreiheit ihnen zustehenden und obliegenden Disciplinargewall"
wie Herr v. Grüner sehr richtig im preußischen Herrenhause sagt. „Ausschreitungen
verhütet und die dennoch begangenen mit Ernst und Nachdruck geahndet werden.
Die Correctur unausbleiblicher Ausschreitungen wird durch die sittliche Ent¬
wicklung der Nation von selbst erfolgen." Wie herbe Aeußerungen gegen ein¬
ander, gegen das jeweilige Regierungssystem und dessen Angreifer werfen die
Mitglieder des Unterhauses in England und die Vertreter der Krone sich zu,
und immer noch hat man mit dem angeführten constitutionellen Schutzwehren
dem Angegriffenen Genugthuung bereitet, dem Hause aber die Redefreiheit un¬
verkürzt gewahrt.
Deshalb folgert unter anderm der epochemachende deutsche Staats¬
rechtslehrer Karl Salomo Zachariä. welchem man gewiß nicht Theilnahme für
eine specielle, besonders liberale Partei unterlegen darf, die volle Redefreiheit
der Kammermitglieder (nur beschränkt durch den Ordnungsruf des Präsidenten)
sei eines der Vorrechte, welches die Verfassung einer constitutionellen Monarchie
den Kammermitgliedern zusichern muß, ohne welches die letzteren ihrem Berufe
gar nicht oder nicht mit der nöthigen Unabhängigkeit Genüge leisten können.
„So gefährlich auch dieses Vorrecht ist (denn es kann sowohl zu Angriffen auf
die Verfassung, als zur Kränkung der Ehre Anderer benutzt werden), so hat
man doch um die Wahl, ob man das Repräsentativsystem als eine Grundlage
der constitutionellen Monarchie wegen dieser mit ihm verbundenen Gefahr
gänzlich aufgeben oder ob man es, ungeachtet dieser Gefahr dennoch beibehal¬
ten will." (Vierzig Bücher v. Staate III. Bd. S. 255. u. Archiv f. civilise.
Praxis.) Derselben Ansicht sind unter den deutschen Bearbeitern des öffent¬
lichen Rechtes der ebenso ausgezeichnete Klüver (öffentl. Recht des deutsch.
Bundes §. 300 S. 456) und unser als Gelehrter, Staatsbürger und
Mensch gleich hochverehrter Welcker in seinem Aufsatz über Verantwortlich¬
keit der 'Landstände (v. l)!ottecks u. Welckers Staatslexikon, 2. Aufl. XII.
S. 711 ff.) Daß unter den außerdeutschen Staaten vornehmlich das urcon-
stitutionelle England, welches in dieser ganzen Frage von besonderer Wichtig¬
keit ist, seine gelehrten Sachverständigen für die unbeschränkte Redefreiheit der
Volksvertreter gestellen wird, kann nach der englischen Pariamentspraxis keinem
Zweifel unterliegen. I. S. Mill in der oben citirten Schrift setzt solche Rede¬
freiheit als unbedingt und selbstverständlich voraus, ihm ist sie um so weniger
zweifelhaft, da er gerade den ganzen Nachdruck in der Thätigkeit der Volks¬
vertreter auf ihre Beaufsichtigung und Kritik der Regierungshandlungen legt.
So nennt er das Parlament „einen Schau- und Kampfplatz, wo nicht nur die
allgemeine Meinung der Nation, sondern auch jede Abtheilung derselben und
womöglich jede in ihr enthaltene ausgezeichnete Persönlichkeit sich in vollem
Lichte darstellen und die Erörterung herausfordern kann; eine Stelle, wo jedes
Interesse und jede Meinungsschattirung, selbst leidenschaftlich, verhandeln kann"
u. s. w. (a. a. O. S. 69).
Andere Staatsrechtslehrer dagegen wollen die Redefreiheit der Volksver¬
treter nicht in obiger Ausdehnung, sondern nur soweit gewahrt wissen, als
dieselbe nicht die Rechte Dritter verletzt. H. A. Zcichariä in Göttingen sagt:
„Die Stände sind hinsichtlich ihrer Meinungsäußerung und Beschlußfassung in
ihrer Sphäre durchaus frei und unabhängig von der Regierung, und in dieser
Beziehung weder nach oben, noch nach unten verantwortlich. Ein Verbrechen
können die Stände als ganzes Corpus so wenig, wie eine andre Corporation
begehn. Ueberschreiten sie aber ihre gesetzliche Sphäre, so sind die Einzelnen,
ebenso wie wenn sie außerhalb der ständischen Thätigkeit, wenn auch bezüglich
auf dieselbe delinquiren. nach den bestehenden Gesetzen zu beurtheilen. Auch
läßt sich ohne eine positiv rechtliche, in neueren Verfassungen sich freilich zur
Sicherung der Freiheit und Unverletzlichkeit der Stände häufig findende Be¬
stimmung, nicht annehmen, daß Mitglieder der Ständeversammlungen resp, stän¬
discher Ausschüsse, wegen ihrer in der Versammlung selbst gemachten Aeußerungen,
wenn sie unter den Begriff eines Verbrechens fallen, insbesondere z. B. wegen
Hochverrates. wegen Majestätsbeleidigung, Injurie und Verleumdung dem
Staate, oder Privatpersonen gegenüber nicht verantwortlich seien." (Deutsch.
Staats-R. I. S. S79 ff,). Derselben Ansicht sind die unbekannten Verfasser
des hierher einschlagenden Aufsatzes in der Zeitschr. f. Civilrecht und Praxis
N. F. I. S. 1—46 und der Broschüre über „die sogenannte UnVerantwortlich¬
keit der Landtagsabgeordneten" u. s. w. (Gießen 18S3), ferner die Vertheidi-
gungsschrift „Der permanente landständische Ausschuß in Kurhessen" (Kassel 18S1),
das darin enthaltene Gutachten der göttinger Iuristenfacultät v. Mai 1851
(Art. L.), und das Gutachten von Heidelberg (ebend. S. 71 ff.), endlich E. Herr-
mann in seinem Aufsatz über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Stände¬
mitglieder (Archiv des Criminalrechts 1853. S. 341 ff.). In diesen Schriften
indeß wird vorzugsweise die streng juristische, nicht so die praktisch-politische
Seite der Frage betont; das obige Citat aus H. A. Zachariä, einem der gegen¬
wärtig bedeutendsten Kenner des Staatsrechts in Deutschland, zeigt serner,
wie selbst er es von der praktischen Seite für sehr wohl begreiflich hält, die Rede¬
freiheit der Volksvertreter unbedingt zu schützen, auch begründet er seine dem
entgegenstehende juristische Ansicht nicht weiter.
Die weitaus größten und durch Alter und Geschichte ihrer constitutionellen
Freiheit am schwersten wiegenden Staaten halten in ihren alten und jungen
Verfassungen die unbedingte Redefreiheit der Volksvertreter (in obigem Sinne)
durchaus aufrecht und zeugen damit auf das entschiedenste für die Nichtigkeit
der oben entwickelten theoretischen Sätze und für den diesen zustimmenden Ken-
ner und Schriftsteller des Staatsrechts.
' Die englische bill ok riZrits von 1689 bestimmt in Art. 9, daß jede Be¬
schränkung der Redefreiheit des Parlaments im allgemeinsten Umfange. Vor¬
nehmlich auch dnrch strasgerichtliches Borgehen, ausgeschlossen sein soll: (eine
eng t>«Zö(Jon ok spööeli g,na äeidÄtöL or xroceäinß-; in ?Al'Iiameirt on-zlrt
not to hö imponeliöä or qu68t,ioliöll in ernz^ court or Mev out ok?^rlia-
ment.) Demgemäß ist heute noch die Redefreiheit der beiden Häuser im obigen
weitesten Sinne gewahrt. Zuhörer bei den Debatten sieht man aber als aus
besondrer Gunst zu gelassen an, deshalb bleibt der Zeitungsredacteur für den In¬
halt der von ihm veröffentlichten Parlamentsreden verantwortlich. Beröffent-
lichen dagegen die Häuser amtlich ihre amtlichen Protokolle, so gilt auch sür
diese der Schul; der parlamentarischen Redefreiheit. Diese englische», durch
Jahrhunderte lange Praxis des ersten Parlaments der Welt bewährte» Bestim¬
mungen sind dann in die Bcrfassungen der meisten und bedeutendsten freien
Staaten übergegangen und haben auch hier bereits die Prüfung ruhiger und
erregter Jahrzehnte glänzend bestanden.
Die nordameritcnnscbe Verfassung v. 17. September 1787 sagt in
Adhad. V. K. 2, jedes Haus (och Senats und der Repräsentanten) darf
seine Geschäftsordnung selbst bestimmen, seine Mitglieder wegen schlechter Auf¬
führung bestrafen und mit der Zustimmung von zwei Drittheilen ein Mitglied
ausstoßen; ferner in Adhad. VI. K. 1. die Senatoren und Abgeordneten
sollen wegen keiner in einem der beiden Häuser gehaltenen Rede oder
Debatte ein irgendeinen: andern Orte belangt und zur Rede gestellt werden
können.
Die norwegische Verfassung v. 17. Mai und 4. November 1814 ver¬
ordnet in K. 66, die Repräsentanten können nur von dem versammelten
Stvrthinge zur Verantwortung wegen ihrer daselbst geäußerten Meinungen ge¬
zogen werden. Jeder ist verpflichtet, sich nach der dort angenommenen Ord¬
nung zu richten.
Die Verfassung des Staates Neuyork v. 3. November 1846, seit 1. Ja¬
nuar 1847 gellend, welche wir als Beispiel der Verfassungen in den meisten
andern Einzelstaaten der nordamerikanischen Union anführen, schreibt vor in
Adhad. 12: die Mitglieder sollen wegen irgendeiner Rede oder Debatte in
einem der beiden Häuser des gesetzgebenden Körpers an keinem andern Orte
zur Verantwortung gezogen werden.
Die belgische Verfassung v. 2S. Februar 1851 verfügt in Art. 44: Kein
Mitglied der. einen oder der andern Kammer kann wegen der bei seiner Amts¬
verrichtung von ihm während der Dauer der Sitzung ausgesprochenen Mei¬
nungen und Voden gerichtlich verfolgt oder zur Rechenschaft gezogen werden.
Von den Verfassungel^deutscher Staaten führt Moser (Abb. versah.j Rechts¬
materien V. 1.) eine Zahl aus früherer Zeit an, in welchen den Landständen
und ihren Mitgliedern volle Freiheit der Meinungsäußerung gesichert war.
Aus denen der Gegenwart nennen wir:
Die herrische v. 26. Mai 1818, Art. 27: Kein Mitglied der Kammer kann
für die Stimme, welche es in der Kammer selbst geführt hat, anders als in
Folge der Geschäftsordnung durch die Versammlung selbst zur Rede gestellt
werden. '
Die von Sacksen-Meiningen v. 1823, Art. 99: Die Abgeordneten können
wegen ihrer Aeußerungen in der Ständeversannnlung nicht zur gerichtlichen
Rechenschaft gezogen werden. Dem Landtage liegt aber ob, unanständige und
verfassungswidrige Ausdrücke und Erklärungen zu verhüten und zu rügen.
Die Luxemburgs v. 9. Juli 1848. Art. 69: Kein Abgeordneter kann
wegen der von ihm in Ausübung seines Berufs geäußerten Meinungen
oder wegen seiner Abstimmungen belangt oder zur Rechenschaft gezogen
werden.
Die preußische v. 31. Januar 1850, Art. 78: Die Kammer regelt ihren
Geschäftsgang und ihre Disciplin durch eine Geschäftsordnung, Art. 84: Die
Mitglieder der Kammer können für ihre Abstimmung in der Kammer niemals,
für ihre darin ausgesprochenen Meinungen nur innerhalb der Kammer auf
Grund der Geschäftsordnung (Art. 78) zur Rechenschaft gezogen werden.
Diesen gegenüber beschränken einige deutsche Verfassungen die Rede¬
freiheit der Volksvertreter und halten letztere außerhalb des Bereiches der Kam¬
mer für verantwortlich, nämlich
die von Würtemberg v. 1819 K. 185 wegen Verleumdungen oder Belei¬
digungen der Negierung, Ständeversammlung oder einzelner Personen.
die von Hannover v. 1833 §. 10 und 1848 §. 53. 54 wegen Aeuße¬
rungen Hochverrätherischen Inhalts, Beleidigungen und Verleumdungen von In¬
dividuen,
die von Weimar v. 1816 §. 68 und 1850 §. 18 wegen jeder Veru».
Klimpfung der höchsten Person des Landesfürsten oder einer Beleidigung der
Regierung des Landtags oder Einzelner,
und in ähnlicher Weise die Verfassungen von Waldeck v. 1816, Sachsen
V. 1831 §, 83. Braunschweig v. 1832 §. 134, Nassau V. 1849 §. 62. Olden¬
burg v. 1849 Art. 148.
Ein merkwürdiges Versehen gegen die Geschichte, gegen Staatsrecht und
Politik beginge derjenige, welcher auf Grund der im engen und engsten Kreise
wirkenden Verfassungen dieser ganz eigenthümlich emporgewachsenen und
gestalteten Länder und Ländchen die oben dargelegten Sätze von der un¬
beschränkten Redefreiheit der Volksvertreter als aufgehoben oder doch nur als
zweifelhaft ansehen wollte. Selbst die Zahl letzterer deutscher Duodezverfassungen
verschwindet wirkungslos, wenn wir die oben nur in dem einen Beispiel von
Neuyork aufgeführten Verfassungen der — auch in Größe und materieller Be¬
deutung so viel schwerer wiegenden — Einzelstaaten der nordamerikanischen
Union einzeln citiren.
Allein bei dem Vorgehen der preußischen Negierung gegen die preußischen
Abgeordneten wird es erst in zweiter Linie auf die aus dem Wesen der Re¬
präsentativverfassung und aus dem Vergleiche der Verfassungsbestimmungen frei
regierter Länder entwickelten theoretischen Grundsätze ankommen. Gewährt die
preußische Verfassung in ihren Vorschriften nicht ausdrücklich unbeschränkte Rede¬
freiheit den preußischen Abgeordneten?
Die preußische Verfassung bestimmt in Art. 78: Die Kammer regelt ihren
Geschäftsgang und ihre Disciplin durch eine. Geschäftsordnung. Und in
Art. 84: Alinea 1: Die Mitglieder der Kammer können für ihre Abstimmungen
in der Kammer niemals, für ihre darin ausgesprochenen Meinungen nur inner¬
halb der Kammer auf Grund der Geschäftsordnung (Art. 78) zur Rechenschaft
gezogen werden.
Dieses Alinea lautete in der Regierungsvorlage vom 20. Mai 1848 §. S7
unbegrenzter, indem selbst die Beschränkung der Redefreiheit durch die Kammer
darin fehlte. Dagegen faßte §. 1 des mit der Nationalversammlung verein¬
barten Gesetzes vom 23. Juni 1848 sonst die Frage präciser dahin: Kein Mit¬
glied der Versammlung kann für seine Abstimmungen oder für die von ihm in
seiner Eigenschaft als Abgeordneter ausgesprochenen Worte und Meinungen in
irgendeiner Weise zur Rechenschaft gezogen werden; und noch mehr der nach
den Vorschlägen des conservativen Abgeordneten Reichensperger angenommene
Art. 79 des Commissionsentwurfs der Nationalversammlung: Sie können für
ihre Abstimmungen oder für die in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete abgegebenen
schriftlichen oder mündlichen Aeußerungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Dem gegenüber hielt die octroyirte Verfassungsurkunde vom 6. December 1848
Art. 83, den Wortlaut obiger nicht beschränkender Regierungsvorlage vom
20. Mai 1848 §. 37 wieder aufrecht. Bei der Revision der octroyirten Ver¬
fassungsurkunde erhielt dann der Artikel 84 Alinea 1 seine heutige Fassung im
October bis December 1849, unter Uebereinstimmung der Nevisionscommissionen
und des Plenums beider Häuser. Hierbei bemerkte die Revisionscvmmission des
Abgeordnetenhauses, daß das erste Alinea das Bedenken erregt habe, als sei
jede Disciplin in der Kammer unstatthaft, so daß die letztere kein Mittel in
Händen habe, einem ordnungswidrigen störenden Betragen einzelner Mitglieder
entgegenzuwirken; deshalb sei die Aenderung angenommen, daß es in der Macht
der Kammern stehe, solche Mitglieder vorübergehend zu excludiren, doch schien
es nicht angemessen, diese Bestimmung in die Verfassungsurkunde zu setzen.
In der ersten Kammer ferner führte der Abgeordnete Kisker aus, man müsst
dem Art. 84 Alinea 1 eine unzweideutige Fassung dahin geben, daß unter den
„Meinungen" nicht „Aeußerungen" überhaupt zu verstehen seien; denn es er¬
scheine unbillig, daß Beleidigungen und Verleumdungen von Privatpersonen
durch Abgeordnete nur dem Ordnungsrufe des Präsidenten unterliegen sollten.
Daher empfehle sich „Meinungen" zu erklären mit „Begründungen der Ab¬
stimmung", gleichsam wie die Gründe eines gerichtlichen Erkenntnisses. Die
erste Kammer ist dieser Auslegung aber in keiner Weise beigetreten, noch sind
sonst im Plenum der beiden Häuser damals Bedenken gegen die jetzige Fassung
des Art. 84 vorgebracht oder Anträge auf Besserung oder Ergänzung desselben
gestellt worden. Also ergiebt sich auch aus dem Wortlaut und der Geschichte
der hier einschlagenden Vorschrift der preußischen Verfassungsurkunde, daß in
Preußen die unbeschränkte Redefreiheit der Kammermitglieder im obigen Sinne
gesetzlich gesichert.ist.
Gegner dieser Redefreiheit und dieser Auslegung unsrer Verfassungsur¬
kunde weisen darauf hin, daß die octroyirte Verfassung vom ö. December 1848,
wie gezeigt, „Meinungen" statt des in früheren Bestimmungen gesetzten Wortes
„Aeußerungen" in den Text aufnahm. Dies habe einen guten Grund. Denn
Meinungen bedeuteten im gewöhnlichen Sinne: Ansichten, Urtheile aus bestimmten
Gründen, Aeußerungen seien überhaupt Bekundungen von Gedanken durch
Worte. Aeußerung bilde daher das Allgemeinere, ausgesprochne Meinung das
Speciellere, was als Art in dem Allgemeinerem enthalten sei. Daher sei in
Art. 84 die Thätigkeit des Abgeordneten geschieden in „Abgeben der Stimme"
und „Meinungsabgabe" über die zu verhandelnden Fragen mit Einschluß der
Begründung seines Votums. Nur diese zwiefache Thätigkeit betreffe Art. 84,
wenn Abgeordnete außerdem ihre „Aeußerungen" allgemein verlauten ließen,
so sage die Verfassung über diese nichts, sie fielen also unter die allgemeinen
gesetzlichen Bestimmungen und so auch unter das Strafgesetz. Darum füge das
Gesetz vom 23. Juni 1848 auch ausdrücklich bei: „Worte" und Meinungen;
und der Commissionscntwurf der Nationalversammlung §. 79 setze statt dessen:
„schriftlich oder mündlich abgegebene Aeußerungen;" auch sei in den Revisions¬
commissionen beider Häuser 1849 die Aenderung von „Meinungen" des heutigen
Art. 84 in „Aeußerungen" beantragt, doch vergebens, weil man erwogen habe,
daß nicht alle an sich strafbaren Aeußerungen straflos oder blos der Disciplin
der Kammer anheimgegeben sein sollten.
Diese Gründe der Gegner sind aber nicht stichhaltig. Zunächst ist von
ihnen unrichtig und unerweislich der allgemeine Sprachgebrauch betreffs „der
Meinung" gegenüber „der Aeußerung" so, wie angegeben, herangezogen. Man
braucht keineswegs in so strenger Begriffsscheidung beide Worte. Wollte man
diese Scheidung aber zur Auslegung des Art. 84 anwenden, so würde bei der
selbst von den Gegnern anerkannten Hauptthätigkeit der Abgeordneten, dem
Abgeben der Meinung und der Stimme, in den meisten Fällen gar nicht zu
scheiden sein, wo nun in der einzelnen Rede die Meinung aufhörte und die
Aeußerung anfinge. Ja, der Abgeordnete kann doch bei der bloßen Motivirung
seiner Abstimmung allen sonstigen Inhalt einer „Aeußerung" vorbringen; nun
brauchte er gar nur alle seine Cxpcctorationen schließlich ausdrücklich als Aus¬
druck seiner „Meinung" zu erklären und es wäre auch dem scharfsinnigsten
politischen Gegner und Richter unmöglich, mit Gründen zu bestimmen, daß
hier und wie die Scheidung zwischen „Aeußerung" und „Meinung" Platz greife.
Diese Scheidung an sich ist also unwahr und unpraktisch. Aus der Geschichte
des Art. 84 ergiebt sich aber, wie dargelegt ist, daß beide Kammern die heutige
Wortfassung desselben als Inbegriff der ganzen Thätigkeit eines Abgeordneten
annahmen. Eben deshalb und nur deshalb ließen sie im Plenum, ja selbst
schon in den Commissionen alle beschränkenden, alle zweifelhaft zwischen „Meinung
und Aeußerung" scheidenden Anträge fallen. (Gerade auf die Ansicht der
Majorität in Commission und Plenum kommt es aber doch an, nicht darauf,
ob hier oder dort ein vereinzelter und unberücksichtigter Antrag gestellt wird.)
Eben deshalb serner erstreckte die Revisionscommission der zweiten Kammer mit
Ausschluß jeder gerichtlichen Verfolgung die Disciplinargewalt des Hauses bis
auf vorübergehende Exclusion von Mitgliedern; und in der ersten Kammer,
wo Kislar, wie gezeigt, gerade auf die jetzt von den Gegnern betonte Unter¬
scheidung zwischen „Meinung" und „Aeußerung" hinwies, und wo er, wie jetzt
die Gegner, den Gerichten die Verfolgung gegen die straffälligen Reden der
Kammermitgliedcr reserviren wollte, ließ das Haus seine Rede unberücksichtigt,
es ging stillschweigend darüber weg und lehrte damit, wie es den Artikel 84
verstanden wissen wollte. — Der oben citirte Wortlaut feiner des Gesetzes vom
23. Juni 1848 und des Commissionsentwurfs der Nationalversammlung be¬
weisen gerade gegen die Auffassung der Gegner. Denn wollten diese recht um¬
fassend, allgemein die Redefreiheit der Kammermitgliedcr festsetzen, so brauchten
sie ja eben keine Scheidung zwischen „Wort" und „Meinung", „Aeußerung"
und „Meinung" festzuhalten, immer siel die ganze Thätigkeit der Mitglieder
höchstens unter die Aufsicht der Häuser. Hatte aber andrerseits eines der
unserm Art. 84 voraufgegangenen Gesetze die Absicht, recht unbeschränkt die
Redefreiheit der Abgeordneten auszusprechen und zu sichern, so war es doch
gewiß die unter dem Einflüsse der Märzcreignisse unmittelbar entstandene Re¬
gierungsvorlage vom 20. Mai 1848, und gerade sie sagt in K. 87 „Abstimmung"
und „ausgesprochene Meinungen". Ebenso braucht Art. 27 der Verfassungs¬
urkunde den Ausdruck „seine Meinung äußern" ganz im allgemeinen Sinne
„eine Aeußerung thun" und weiß nichts von einer sprachlichen Scheidung
»wischen beiden Worten. Aus allen jenen Gesetzen sodann hat sich, wie ge-
zeigt, unser heutiger Art. 84 herausentwickelt, sein Wortlaut stimmt in den
hier maßgebenden Stellen völlig mit zweien der voraufgegangenen Gesetze,
nämlich der Regierungsvorlage vom 20, Mai 1848 §. 57 und der octroyirten
Verfassungsurkunde vom S. December 1848, Art. 83 — Gesetze, deren Vorschriften
über parlamentarische Redefreiheit selbst die Gegner als unbeschränkt und um¬
fassend anerkennen. Hiernach ist doch von vornherein nothwendig anzunehmen,
daß auch bei dem heutigen Art. 84 die Absicht waltete, die Redefreiheit in der¬
selben Unbeschränktheit durch ihn zu schützen, wie sie in seinen vier gesetzlichen
Quellen und Grundlagen geschützt war. Wollte man gerade das Gegentheil,
so mußte man in den Debatten über Art. 84 dicht aussprechen, und mußte
in seinem Wortlaute dies unverkennbar erklären, nicht aber in den Debatten
darüber schweigen und im Texte des Artikels lediglich Ausdrücke gebrauchen,
welche in zweien seiner gesetzlichen Grundlagen, wie gezeigt, gerade unbeschränkte
Redefreiheit bezeichneten, in ihrem gewöhnlichen Sinne aufgefaßt aber nur höchst
zweifelhaft eine Beschränkung ahnen ließen. — Endlich !darf man nur unsern
Art. 84 mit der Reihe der (eben zu diesem Zwecke) oben wörtlich angeführten
Bestimmungen anderer Verfassungen über die parlamentarische Redefreiheit ver¬
gleichen, so erhellt, daß jene unbestritten für diese Freiheit und UnVerantwort¬
lichkeit der Abgeordneten schrankenlos auftretenden Vorschriften fast wörtlich
mit der preußischen Verfassung übereinstimmen, daß dagegen die Verfassungen,
welche die UnVerantwortlichkeit einschränken, ausdrücklich die einzelnen Fälle der
Einschränkung aufführen!
Die Einwände der Gegner sind somit hinfällig, und es ergiebt sich un¬
bestreitbar, daß auch die preußische Verfassung in Art. 84 jede gerichtliche Ver¬
folgung der Kammermitglieder ausschließt und hinsichtlich der Abstimmung die
letzteren völlig unverantwortlich läßt, hinsichts aller Meinungsäußerungen in der
Kammer aber sie nur der Kammer und deren Geschäftsordnung unterwirft.
Leider ist unterlassen worden, den hier also vorliegenden Grund zur Ausschließung
der Strafen, im Falle ein Kammermitglied in seinen Kammerreden das Straf¬
gesetz verletzte, in den IV. Titel des neuen preußischen Strafgesetzbuchs vom
14. April 18S1 aufzunehmen. Hier, wie an nicht wenigen andern Stellen der
neuern preußischen Gesetze, muß man beklagen, daß die Vorschriften der Ver¬
fassungsurkunde so unvollständig in die entsprechenden Bestimmungen der täglich
anzuwendenden Civil- und Criminalgesetze verarbeitet worden sind, daher einen
viel loseren Zusammenhang mit letzteren zu haben scheinen, als sie ihn wirklich
haben und, zumal in Zeiten so schwerer politischer Kämpfe, wie gegenwärtig,
ihn haben müssen.
Trotz dieses Mangels indeß sind die preußischen Richter dreier Instanzen
— und in politisch sehr deprimirter Zeit — nicht zweifelhaft gewesen, die oben
entwickelte und begründete Vorschrift der Verfassungsurkunde anzuerkennen und
auszuführen. Diese für die Zukunft höchst wichtige Billigung der obigen Aus¬
legung an entscheidender Stelle verdient hier einen Augenblick nähere Auf¬
merksamkeit.
Der Abgeordnete der zweiten Kammer Aldenhoven äußerte in der Sitzung
des Hauses vom 1. Februar 18S3 in seiner Rede über einen Bericht des Ministers
des Innern: „das ist eine Handlungsweise des Ministers, wofür ich keinen
parlamentarischen Ausdruck finde, weil ich keinen kenne für die absichtliche Ent¬
stellung der Wahrheit." Als über den Sinn dieser Worte Streit entstand,
sagte Aldenhoven: „Ich habe mich bemüht, darzuthun, daß nach meiner Aus¬
fassung der Minister des Innern durch die Vorgänge in der zweiten Kammer
die Ueberzeugung hätte haben müssen, daß dasjenige, was er am 17. Juni 1862
berichtet hatte, nicht die Wahrheit gewesen, und ich habe daran anknüpfend
gesagt, daß ich mich alsdann außer Stande. finde, einen parlamentarischen
Ausdruck zu finden, der für die absichtliche Entstellung der Wahrheit Paßt."
Darauf erklärte derselbe, er habe hiermit eine Beleidigung nicht aussprechen
wollen. Der Präsident der Kammer erachtete hiermit die Sache für erledigt;
die Worte Aldenhovens hätten den Ordnungsruf verdient und würden ihn er¬
halten haben, wenn er, der Präsident, sie gehört hätte, was-nicht der Fall sei.
Der Ministerpräsident behielt sich eine anderweite Verfolgung der Sache
vor, und suchte dann um Genehmigung des Hauses zur gerichtlichen Verfolgung
Aldenhovens wegen Beleidigung und Verleumdung des Ministers des Innern
nach. Die Verfassungscvmmission des notorisch damals gegen die Regierung all¬
gefügigen Hauses beantragte im Bericht vom 22. April 18S3, diese Genehmigung
Seitens des Hauses zu ertheilen, indem sie darzuthun suchte, daß laut unsrer
Verfassung die Abgeordneten für die in ihren Kammerreden begangenen straf¬
baren Handlungen verantwortlich seien. Das Plenum des Hauses konnte sich
damals über die Frage nicht erklären, weil zuvor das Staatsministerium den
obigen Antrag zurückzog. Nach dem Schluß der Sitzungsperiode wurde darauf
die Anklage gegen Aldenhoven erhoben, dieser verneinte vor dem Untersuchungs¬
richter die Absicht der Verleumdung des Ministers, berief sich aber gegen jedes
gerichtliche Verfahren auf Art. 84 der Verfassung, nach welchem über seine
straffälligen Worte bereits in der Sitzung vom 1. Februar 1883 das Präsidium
des Hauses entschieden habe.
Die Nathskammer des Landgerichts zu Düsseldorf lehnte hierauf den An¬
trag der Staatsanwaltschaft auf Verweisung vor das Zuchtpolizeigericht ab und
sistirte das Verfahren durch Beschluß, weil die fraglichen Worte die Meinung des
Abgeordneten A. über die Handlungsweise des Ministers enthielten, die nach
Art. 84 der Verfassungsmkunde kein Gegenstand der gerichtlichen Verfolgung
werden könne. Hiergegen beschult die Staatsanwaltschaft die zweite Instanz,
allein der Anklagesenat des Appellationsgerichtshofes zu Köln verwarf am 1. Juli
18S3 das Rechtsmittel, indem er sich ausdrücklich auf einen Theil der obigen
Auslegungssätze unsers Verfassungsrechtes stützte. Gegen dieses Erkenntniß
legte der Generalprocurator desselben Appellationsgerichtes den Cassationsrecurs
wegen Verletzung des Art. 84 der Verfassungsurkunde ein und begründete
diesen mit den wichtigsten der oben angeführten gegnerischen Ausführungen,
so wie mit Hinweis auf die Gefahr eines Privilegiums für die Nedeverbrechen
der Kammermitglieder. Korne einmal ein Abgeordneter die Anführung ver¬
letzender Thatsachen nicht umgehen, so gestatte ihm §. 157 des Strafgesetzbuches,
den Beweis der Wahrheit anzutreten und so sich gegen die Anklage wegen
Verleumdung zu schützen. (Hierüber beziehen wir uns auf die obigen allgemein
theoretischen Grundsätze betreffs der unbeschränkten Redefreiheit der Kammern.)
Der Generalstaatsanwalt beim Obertribunal widerholtc im Wescnlichcn jene
Gründe und schloß damit, bei der Unabhängigkeit preußischer Gerichte werde
die parlamentarische Redefreiheit durch die verlangte gerichtliche Verfolgung der
Kammermitglieder nicht ernstlich gefährdet; aber die Gerechtigkeit, d'le Gleichheit
vor dem Gesetz, die nothwendige Aufrechthaltung der Autorität gestatten es
nicht, daß Mitglieder der Kammer in ihren Reden straflos die Gesetze verletzen,
daß sie namentlich durch Behauptung unwahrer Thatsachen die ersten Rath-
geber der Krone dem Hasse und der Verachtung aussetzen.
Aber das Erkenntniß des Obertribunals v. 12. Decbr. 18S3 wies trotz
aller dieser angedrohten Schrecknisse den Cassationsrecurs zurück in Erwägung
daß Art. 84 der Verfassungsurkunde zwar nicht alle Aeußerungen eines Abge¬
ordneten in der Kammer der strafgerichtlichen Verfolgung entziehe, daß aber
wegen der Abstimmungen jede Verfolgung ausgeschlossen ist und wegen der ge¬
äußerten Meinungen nur der betreffenden Kammer das Recht zugestanden werde,
innerhalb der Kammer auf Grund der Geschäftsordnung Rechenschaft zu fordern;
daß das Gesetz hierdurch die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der Abgeord¬
neten bei ihren amtlichen Reden sichern wollte, und daß also der Ausdruck
„Meinungen" alle Aeußerungen eines Abgeordneten umfaßt, welche von dem¬
selben in dieser seiner Eigenschaft bei Ausübung seiner Functionen von der
Kammer gemacht werden, insoweit solche nicht zu den Abstimmungen ge¬
hören (Goldammer. Archiv II. S. 82).
Der höchste preußische Gerichtshof sieht also ebenfalls den Art. 84 als
Schutzwehr der Kammermitglieder gegen jede gerichtliche Verfolgung an, so weit
es sich — abgesehen von den Abstimmungen — um die Reden und Aeußerungen
handelt, welche ein Kammermitglied als solches hält, resp. thut. Das bedeutet
der Satz des obigen Erkenntnisses: „alle Aeußerungen, welche von einem Abge¬
ordneten in dieser seiner Eigenschaft bei Ausübung seiner Functionen in der
Kammer gemacht-werden." Denn die Functionen eines Kammcrmitgliedes in
der Kammer sind, zu stimmen und sich über die den Kammcrberathungen vor-
liegenden Fragen amtlich zu äußern. Eben diese umfassende Auslegung des
Art. 84 folgt daraus, daß sein Zweck, die Sicherung der Unabhängigkeit der
Abgeordneten, sich auf alle „ihre amtlichen Reden" erstrecken soll! Ausdrücklich
verwirft das Obertribunal die gegnerische Scheidung zwischen „Meinungen" und
„Aeußerungen", ausdrücklich setzt es den Zweck dieser nothwendigen Vorschrift
des Art. 84 darin, die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten
bei ihren amtlichen Reden zu sichern.
Die parteilose Prüfung im Felde der allgemeinen Theorie und der be¬
sondern preußischen Praxis des Repräsentativ-Verfassungsrechtes ist damit be¬
endet. Sie ergiebt das Resultat, daß das beabsichtigte Vorgehen der Staats¬
regierung den Art. 84 der Verfassung verletzt; denn die Regierung fordert Be¬
amte auf, Abgeordnete wegen ihrer straffälligen Reden anzuklagen und zu richten,
während beides der citirte Artikel der Verfassung verbietet.
Der Abgeordnete Ziegler in seiner unvergeßlichen Rede ist wieder ge¬
rechtfertigt, uns begegnet täglich in unserem Verfassungsleben so Ungeheures,
so Unnatürliches, daß wir den Maßstab desselben verlieren. Das Herrenhaus,
die eine Hälfte der Kammer, will die Redefreiheit der andern Hälfte beschränkt
wissen. Ganz abgesehen von der parlamentarischen Unnatur solches Schrittes
ist er vor allem ein Schlag gegen die Verfassung, gegen die unveräußerliche
Grundlage des Herrenhauses selbst und unseres ganzen Staatslebens. Und
eben dieses Herrenhaus verletzt fast in jeder seiner seltenen Sitzungen die
Rechte Dritter durch seine Reden und sündigt so gegen seine eigene Moral und
verletzt so seinen eigenen Rechtssatz. Wie oft nannten Mitglieder und Vorsitzende
des Herrenhauses die streng verfassungsmäßigen Schritte des andern Hauses mit
den verleumdungsrcichsten Namen, .ihnen sind die Mitglieder der Majorität des
Volkshauses Gottes- und Königslästerer, Eidbrüchige und Hochverräther. In
der Sitzung selbst, in welcher diese Herrenhäusler der UnVerantwortlichkeit, der
Redefreiheit des Abgeordnetenhauses Fesseln anlegen wollen, werfen sie, die
Gerechten, Beschuldigungen dem andern Hause ins Gesicht, daß ihre eben ge¬
schmiedeten Redefesseln vor allem ihnen erst angelegt werden müßten, v. Below
ruft: „Die Kritik der Abgeordneten vernichtet die Autoritäten, ohne welche kein
Staat existiren kann"; „die Redefreiheit der Abgeordneten giebt den König, seine
Diener und die Gerichte des Landes der Verachtung Preis"; „der Präsident
des Abgeordnetenhauses ist parteiisch". Der Freiherr von Senfft-Pilsach be¬
schimpft die jüdischen Zeitungsliteraten, was gar nicht zum Gegenstande der
Debatte gehört, er nennt den Vorwurf des Vcrfassungsbruchs, welchen die
Abgeordneten gegen die „treuesten" Minister aussprechen, „schamlose Lüge und Ver¬
leumdung". Die Aeußerung Greises vom Kainszeichen des Eidbruches bezeichnet
er als „schamlose, scheußliche Angriffe, Nichtswürdigkeiten, Niederträchtigkeiten; wenn
die Verfassung diese stützt, ist sie nichts werth, nicht zu schützen, nicht zu halten."
Die Regierung muß — wenn überhaupt — gegen solche Worte den Staats¬
anwalt bereit haben. Bei uns denkt man zunächst, wie die obige Erklärung
des Ministerpräsidenten zeigt, nur an Verfolgung der Abgeordneten. Im Ab¬
geordnetenhause aber begegnen die Vertreter der Regierung den Angriffen der
Volksmänner nicht mit den oben angeführten constitutionellen Mitteln, sondern
zum Zweikampf fordern sie sie; sie erwidern den straffälligen Angriff mit einem
gleich strafbaren, so Herr von Roon mit dem Vorwurfe der „Unverschämtheit";
sie lassen sich nähere Präcisirung und Rücknahme des Angriffe gefallen und ge¬
statten danach, daß die unter ihren Augen erscheinende Presse den Gegner ver¬
höhnt. Es genügt, hier aus die Worte Greises über solch ein Cavalierthum
zu verweisen. Und ist die Sitzungsperiode geschlossen, so weisen sie den Staats¬
anwalt zur Anklage an.
So mag denn das preußische Volk seine Verfassung gegen solche Angriffe
aufrecht halten und durch den gesetzmäßigen Mund der Vereine, der Presse
wieder und wieder kund thun- hier ist die Grenze der unverletzlichen Verfassung!
Das einzeln unscheinbare Mittel wird so selbst der organisirten Gewalt der
Regierung gegenüber stark durch die Einmütigkeit aller Orte des Preußenlandes,
stark durch die Zähigkeit seiner immer erneuten Dauer, stark durch die Gesetzmäßigkeit.
Gegen ein Volk, dessen einzelne Glieder unermüdet in Wort und That gesetzmäßig
beweisen, daß ihnen die Verfassung in Fleisch und Blut überging, verschwindet jede
Gewalt der Regierung, Angriffe gegen solch ein Volksrecht gefährden nichts, sie bilden
nur ein unschätzbares, nothwendiges Glied der politischen und Rechtsentwickelung.
Die Staatsanwaltschaften werden der vom Ministerpräsidenten verkündeten
Anweisung zur Anklage der straffälligen Abgeordneten Folge leisten, sie sind
untergebene Verwaltungsbeamte. Die Richter aber, unabhängige Glieder ihres
Volkes und durchdrungen von seinem Rechtsbewußtsein, legen den Finger auf
unsern Artikel 84 der Verfassung und decken unsere Abgeordneten mit unserm
heiligen Rechte. Zwei hochgestellte Glieder des preußischen Richterstandes er¬
klärten im Herrenhause sich gegen dessen Antrag zur Fesselung der Redefreiheit.
Graf von Rittberg, der Chefpräsident eines Appellationsgerichtes, wies aus¬
drücklich auf Artikel 84 der Verfassung, und Uhden. der erste Präsident un¬
seres höchsten Gerichtshofes, wahrte, wenn auch mit herben Worten, dem
Obertribunal seine volle Unparteilichkeit: „Ich glaube, daß der höchste Gerichts¬
hof durch die Urtheilssprüche und tendenziösen, fanatischen Aeußerungen im
Abgeordnetenhause, von welchem Hause sie auch kommen mögen, sich nicht be¬
troffen fühlen und davon abhalten lassen kann, in seinem Wege fortzugehen."
Wenn auch die Besetzung der Criminalsenate des höchsten Gerichtshofes ge-
wechselt hat, so dürfen wir doch von vornherein nicht, bezweifeln, daß heute
ebenso wie vor zwölf Jahren, unsere Richter aller Instanzen dem klaren Rechte
des Landes Genüge thun.
Ueberzeuzt die Staatsregierung sich dann, daß in Wahrheit die Verfassung
ihrem Vorgehen entgegensteht, so bleibt ihr, wie Herr von Bismark oben
sagt, nur noch der Weg der Gesetzesänderung. Nun, wähle das preußische
Volk nur seine verfassungstreuen Vertreter, unbeirrt durch neue Wahlgesetze,
wieder, so zweifeln wir heute nicht mehr, daß auch dieser Weg der Regierung
versagt und daß der Artikel 84 der Verfassung siegreich bestehen bleibt. Ueber¬
windet er diesen Angriff, so ist er künftig unangreifbar; denn jeder Preuße
weiß dann, was er uns ist.
So gewinnt unsere ganze Verfassung nur durch den Verfassungskampf wahres
Leben im Volke.
Wenn ich Ihnen eine längere Zeit nicht über unsere Zustände berichtet
habe, so war es, weit sich nichts Wichtiges berichten ließ. Auch jetzt ist nicht
viel mehr zu sagen, als daß die Lage der Dinge, soweit wir darunter nur
die innern Verhältnisse verstehen, sich wenig geändert hat, wie sie sich denn
überhaupt nicht eher viel anders gestalten wird, als bis Preußen sich entweder
durch Verständigung mit Oestreich oder trotz Oestreich und seinemßetwaigen An¬
hang die Möglichkeit verschafft, mit ernsten durchgreifenden Maßregeln gegen
die dynastisch-particularistische Partei und den von derselben geübten Terroris¬
mus vorzugehen. Die Meinung, daß der gesunde Menschenverstand sich all-
mälig von selbst Bahn brechen und zu seinem Rechte gelangen werde, daß das
Volk endlich wenigstens in der Mehrzahl der an politischen Angelegenheiten
Theilnehmenden erkennen werde, was die in Kiel verfolgten Zwecke in Wahrheit
sind, und wie wenig Aussicht diese Zwecke auf Verwirklichung haben, wie wenig
sie dem Interesse des Landes entsprechen — diese vermuthlich auch in Berlin ge¬
hegte Meinung beruht auf einem Irrthum, mindestens geht es mit ihrer Ver¬
wirklichung sehr langsam, und zwar, wie ich wiederholen muß, nicht so sehr,
weil es an Verstand, als weil es der seit lange schon mit allen demagogischen
Künsten bearbeiteten und fortwährend in Vereinen und Versammlungen von
Neuem gegen die preußischen Ansprüche aufgestachelter gedankenlosen Masse
gegenüber an Muth fehlt.
Wagt jemand, sich zu dem Programm der nationalen zu bekennen, so hat
er sofort eine mehr oder minder ofsiciöse Meute um sich, die seinen Entschluß
in der unsaubersten Weise verdächtigt, seinen Privatcharakter angreift, ihn mit
Bierschenkenspäßen lächerlich zu machen sucht und ihm wo möglich den gewohnten
Erwerb und Verkehr abzuschneiden bestrebt ist. In der Stadt Schleswig wird
gegen die Wiederwahl des Abgeordneten Petersen agitirt und der bekannte
Heiberg poussnt. weil jener national denkt, dieser eifrig augustenburgisch und
Vertrauter Halbhubers ist. Nicht sobald hatte der Ständedeputirte Dient von
Elmshorn sich unsrer Partei angeschlossen, als ihn erst die Stadt Wilster, dann
ein Theil der Wähler von Elmshorn zur Niederlegung seines Maubads auf¬
forderte. Bald daraus verlautete, daß dasselbe Manöver mit dem Justizrath
Rötger, dem zweiten unserm Programm beigetretenen Ständemitgiiede, vor¬
genommen werden sollte, und wenn das noch nicht geschehen ist, so liegt die
Ursache gewiß nicht an dem Willen und der Rührigkeit der Herren, welche die
Masse commandiren und für ihre Pläne aufmarschiren lassen. Noch lehrreicher
ist der Fall mit Advocat Rathlev in Kiel, dem vor einigen Tagen von der"
altonacr Feuerversicherungsgesellschaft die Agentur für dieselbe entzogen wurde.
Gründe waren nicht angegeben und konnten nicht wohl angegeben werden;
denn solche, die man hätte nennen dürfen, Nachlässigkeit in der Führung der
Geschäfte etwa, waren nicht vorhanden, zu dem eigentlichen Grund aber, der
darin lag, daß Rathlev die bekannte scheel-plessensche Avresse unterschrieben, daß
Interessenten der Direction die Alternative: entweder ihren Austritt oder Ent¬
lassung des Annexionisten gestellt, und daß die Direction die Schwäche gehabt,
der Drohung nachzugeben, konnte man sich doch nicht wohl bekennen. Andere
Ränke dieser Art ließen sich noch manche mittheilen, es mag aber mit den an¬
geführten genug sein; sie werden hinreichend klar machen, daß man in der
That einigen Muth besitzen muß, wenn man es unternimmt, gegen die von
der kieler Agitationsmühle getriebene Strömung zu schwimmen.
Stocke diese Strömung, die in einer Menge von Kanälen durch das Land
geht und in den Kampfgenossenvereinen sowie in den Schleswig-holsteinischen
Vereinen ihre weiteren Triebwerke hat, an irgendeiner Stelle einmal, wird nach
Kiel von überhandnehmender Beruhigung der Gemüther oder gar von Symp¬
tomen des Nachdenkens und der Erkenntniß berichtet, so geht so rasch wie
möglich in der Person eines ergebenen Advocaten oder Schulmeisters ein Re¬
gulator nach dem bedrohten Punkte ab, der den Betreffenden in einer Ver¬
sammlung (wie neulich in Angeln und dann in Flensburg) die Köpfe zurecht¬
setzt, das Salböl echter Holstentreue darüber ausgießt und so die alte Einfalt
wiederherstellt.
Nicht verschwiegen darf werden, daß auch manche Maßregeln der preu¬
ßischen Politik beigetragen haben, wenn es mit der jöffentlichen Meinung
bei uns nicht recht vorwärts will. Die Sendung des Prinzen Hohenlohe nach
Nordschleswig war kein glücklicher Gedanke, oder sollte Frankreichs Stellung
zur Sache sie nothwendig gemacht haben? Wo nicht, so hat man sich damit
nur geschadet; denn ein großer Theil der dcutschgesinnten Schleswiger ist da¬
durch erbittert worden, während kaum anzunehmen ist, daß die dänischge¬
sinnten dadurch gewonnen worden sind. Freilich kommt zuletzt auf den guten
oder bösen Willen jener nicht allzuviel an, aber man hat den Kielern Gelegen¬
heit geschaffen, wieder einmal in den Mantel der Tugend gehüllt mit Fingern
auf das böse Preußen zu weisen, welches immer noch an Abtretung eines
Stücks von Schleswig denkt, um sich Napoleons Einwilligung zur Annectirung
des Rehes zu erkaufen. Der Brief Schleidens riß ein garstiges Loch in jenen
schönen Mantel, ich fürchte aber, daß es bei der fast allgemeinen Verblendung hier
nur die sehen, die über das, was erverhüllt, über das Streben, den Erbprinzen umjeden
Preis zum souveränen Herzog zu machen, schon vorMonaten rieseln Zweifel waren.
Ein anderes Beispiel preußischen Ungeschicks in der Behandlung der
hiesigen öffentlichen Meinung ist folgendes. Wie Sie vielleicht wissen, soll hier
am 18. Juli die Wauderversammlung deutscher Kunstgenossen stattfinden. Nun
hatte sich zu dem Zwecke hier ein Comite gebildet, welches ein sehr anerkennens-
wertheS Programm entwarf, so daß das Fest, wenn dieses Programm zur Aus-
führung käme, recht gut ausfallen würde. Dazu gehören aber 6000 Mark;
denn es ist eine Tour nach Schleswig zur Enthüllung des Karstens-Denkmals
und eine Seefahrt nach den Düppelhöhen projectirt, und so war man genöthigt,
sich um eine Beihilfe an die Regierung zu wenden. Die zu dem Zwecke ab¬
geordnete Deputation traf Zedlitz auf dem Bahnhof im Begriff abzureisen,
hatte aber noch Zeit, ihm ihren Wunsch vorzutragen. Sie erhielt zur Antwort,
die Geldbewilligung hinge davon ab, wie die Kieler sich am 6. Juli verhalten
würden; kämen wieder ungehörige Demonstrationen vor, so verabfolge er nicht
einen Schilling. Hierauf verabschiedeten sich die Herren in aller Kürze und
gingen zu Halbhuber, der sehr leutselig war, sich dahin äußerte, sein Herr
College habe sich die Sache wohl nicht recht überlegt, und daran die erfreuliche
Bemerkung knüpfte, wenn er allein zu entscheiden hätte, so wäre die Angelegen¬
heit in ein paar Minuten geordnet. Nun bestand aber die Deputation keines¬
wegs aus Preußenfeinden. Im Comite war ein Vorschlag Pastor Schraders,
bei dem Festmahl den ersten Toast auf den Herzog auszubringen, trotzdem,
daß Professor Behn ihn unterstützt, ohne Weiteres abgewiesen worden, und
man hatte beschlossen, von der Feier überhaupt alle augustenburgischen Demon¬
strationen fernzuhalten. Es war also hier jedenfalls unpolitisch, zu drohen
und eine Bedingung zu stellen, die überflüssig war. Die Augustenburgischen
wurden damit herausgefordert, nun den 6. Juli erst recht zu feiern, und die
Wanderversammlung wird in ihren etwaigen Sympathien für Preußen dadurch
auch nicht gerade bestärkt werden, endlich aber ist Gefahr vorhanden, daß das
Fest vom 18. Juli durch Subvention von Nienstetten, die man nicht Wohl zu¬
rückweisen könnte, einen augustenburgischen Charakter annimmt. Das ist die
Folge davon, daß man prcußischerseits nicht genug Personen- und Sachkunde
hat, und daß man es bisher verschmähte, sich von Freunden Preußens, welche
diese Kunde besitzen, rathen zu lassen.
Dies zeigt sich noch bedenklicher in den Folgen der Wahlen, welche man
bei Besetzung der höhern Beamtenstellen getroffen hat. Von diesen gilt in
noch stärkerem Maß, was zur Charakteristik der meisten niedern Beamten und
Geistlichen zu sagen ist. Sämmtliche Negierungsräihe in Schleswig sind zuver¬
lässige und eifrige Anhänger des kieler Hofes und des hier florirenden Parti-
cularismus, und wenn Zedlitz anfangs seinen Willen durchsetzen konnte, so
war es einerseits, weil die Gegensätze noch nicht so schroff hervortraten, dann
weil der östreichische Commissär sich nachgiebig zeigte. Mit Halbhubers Ankunft
wurde dies anders, und jetzt herrscht nahezu Anarchie in Schloß Gottorf.
Zedlitz kann sich auf keinen seiner nächsten Untergebnen recht verlassen, selbst
auf Seemann, den Vorstand des Pvlizeidcpartcments, nicht, dessen man sicher
zu sein glaubte, da er eine Reihe von Jahren Staatsanwalt in Preußen ge¬
wesen war, ja man darf behaupten, daß dieser Herr gerade ganz besonders
herzoglich gesinnt ist, und daß die preußische Politik, indem sie ihn anstellte,
den größten unter den Mißgriffen begangen hat, deren sie sich zu ihrem eignen
Schaden hier zu Lande schuldig gemacht hat. Die Sache liegt jetzt so, daß die
Augustenburgischen oder, was ungefähr dasselbe, die Antipreußischen in der
Regierung, sich soweit möglich in directe Verbindung mit dem kieler Sophicn-
blatt gesetzt haben, und daß man tuer einen ganz bestimmten Einfluß auf die
Entscheidung der in Schloß Gottorf vorliegenden Fragen, namentlich auch auf
die Anstellung der Beamten ausübt. Daß man den Räthen des Erbprinzen
Acten mittheilt, wird bestimmt behauptet, und neulich hörten wir von zuver-
lässiger Seite, daß ein Fascikel betreffend die Vergütung der Einquartierungs-
lasten in der Brunswik auf dem Umschlag ungefähr folgende von der Hand
eines Mitglieds der Regierung in Schleswig herrührende Bemerkung getragen
habe: „Geehrter Herr G. Se.. da ich Sie nicht zu Hause traf, so lasse ich Ihnen
die Acten zurück." Ein weiteres Wort über diese Gefälligkeit ist wohl über¬
flüssig.
Den meisten Einfluß in der Regierung soll Lesser der Zweite haben, und
leider setzt man hinzu, daß derselbe auch von allen Herren des Collegiums die
größte Bereitwilligkeit an den Tag lege, in der Richtung zu wirken, in welcher
man in Kiel das Wohl des Landes liegen sieht.
Will Preußen vorwärts, so muß es vor allem, sei es auf die oder jene
Weise, in Bezug auf die Zusammensetzung der Regierung Wandel schaffen, und
zwar so bald als möglich. Mit der bisherigen Geduld wird nichts erreicht, als
das, was man nicht wollen kann. Merkt die Bevölkerung erst, daß von Schloß
Gottorf ein anderer Wind weht, so werden die Leute bald den Rock wechseln, der
dann nicht mehr warm und bequem sein wird. Vor allen Dingen müßte ein von der
Gerechtigkeit der preußischen Forderungen überzeugter, nicht auf die kieler Hof¬
politik hörender energischer Mann Departcmentschef der Justiz und Polizei
werden, damit ein „tu'in goverirmMt" unsre Schreier und Schwätzer überzeugte,
daß es mit der gemüthlichen Anarchie von nun an ein Ende habe.
Freilich wird man dagegen, rasch getröstet, einwerfen: „Das läßt Halbhuber
nicht zu!" und es ist wahr, dieser Wächter der Schleswig-holsteinischen Freiheit
hat schon manches Nützliche und Verständige hintertrieben oder aufgehalten.
Soll doch in Schleswig ein eigenes Schubfach existiren, in welches die
Sachen, die wegen mangelnder Uebereinstimmung in der obersten Civilbehörde
nicht zu erledigen sind, weggelegt werden. Aber soll das so bleiben, und will
man den Stein, den man sich durch das östreichische Bündniß an das Bein
gebunden hat, in alle Ewigkeit sich die nothwendigen Schritte hindern lassen?
Muß man das noch, nun so verzichte man auf die Einberufung der Stände, in denen
unter Halbhubers Aegide und der jetzigen gottorfer Regierung in Holstein
höchstens sieben bis acht und in Schleswig kaum zwei oder drei Stimmen mehr
für Preußen zu hören sein werden, und sehe zu. ob die Fortsetzung des Pro¬
visorismus dem Nebenregiment endlich die Kräfte und den Glauben an seine
Zukunft ausgehen läßt. Es ist traurig, daß die Schleswig-Holsteiner zu ihrem
wahren Besten gezwungen sein wollen, aber zu wünschen, daß Deutschlands
Interesse aus Rücksicht auf ihre Beschränktheit und ihren üblen Willen leide,
wäre unerlaubte Sentimentalität, und dieser wollen wenigstens wir, die na¬
tionalen, uns nicht schuldig machen.
Seit ich das geschrieben, hat der sechste Juli unsern Legitimisten und
Particularisten wieder einmal Gelegenheit zur Entfaltung ihrer Kräfte in großer
Parade gegeben. Schon die Woche vorher fanden sich in Kiel wohl oder übel
kleinere Gelegenheiten, loyal zu demonstriren. So bei der Versammlung zur
Gründung eines deutschen Vereins zur Rettung Schiffbrüchiger, wo man sie
am wenigsten hätte suchen sollen. Bei dem damals auf Bellevue veranstalteten
Festessen unter Staatsrath Franckes Vorsitz brachte den ersten officiellen Toast
der Nationalvereinsagent Wichmann aus Lübeck auf Herzog Friedrich aus, „da
in jedem constitutionellen Staat Sitte sei, zuerst das Wohl des Landesherrn
zu trinken". Nach dem Rechte, fuhr der Redner fort, wären wir ein constitu-
tioneller Staat, und nach dem Rechte hätten wir auch schon einen Landesherrn.
Herr Francke ließ später ein Hoch aus die preußische Fortschrittspartei folgen,
„welche mit denselben Gegnern wie wir kämpft". Sehr charakteristisch! Wichmann
wollte nachher noch für die Reichsverfassung ein gutes Wort einlegen, wurde
aber durch Zischen daran verhindert. Ebenfalls sehr charakteristisch!
Bei der Versammlung baltischer Aerzte waren alle politischen Demonstrationen,
wie billig, verbeten. Indeß überströmende Gefühle ließen sich nicht ganz im
Busen verschließen, und so brachte nach den beiden officiellen Toasten ein von
solcher Empfindung übermeisterter Doctor aus Bornhöft richtig auch sein Hoch
auf Friedrich den Achten an den Mann.
Gestern brauchte man sich keinerlei Zwang anzuthun, und so gab es denn
hierund in den übrigen Städten des Landes reichlichste legitimistische Begeisterung
mit allem, was dazu gehört. Kein Liebhaber von derartigem unnützem Lärm,
hatte ichs vorgezogen, mich aufs Land hinaus zu begeben, wo es so still und
behaglich gleichgiltig war, wie überall, wo die Natur die Kunst überwiegt,
und so könnte ich Ihnen unsere Feier nur nach Hörensagen schildern, wenn ich
Sie überhaupt mit solcher Schilderung glücklich zu machen hoffte. Ohne diese
Hoffnung, beschränke ich mich auf einige Zage des Geburtstagsfestes. Bei dem
Festmahl auf Bellevue speiste Staatsrath Francke die Geister der Anwesenden
mit einem Toast auf das „deutsche", will sagen, nicht von Preußen abhängige,
nach dem Willen Oestreichs und des Herrn v. d. Pfordten constituirte Schleswig-
Holstein — eine Art oratorischen Plumpuddings derbster Art, in welchem
Rosinen wie „Rechtsverdrehung". „Lug und Trug", „Soldatcndruck", „Schwarm
von Kronjuristen" und ähnliche Liebenswürdigkeiten gegen Preußen dick bei
einander saßen, und dem der Herr Redner mit dem ihm eigenen Takt und
Zartgefühl eine Sauce von der „kleinen Partei im Lande, welche sich in ihrem
Hochmuth die nationale nenne", beizugeben beliebte, obwohl ein Mitglied dieser
Partei ihm fast gerade gegenübersaß. Und bei der Feier, welche die Universität
in der Aula abhielt, kriegten wir's wieder; denn Herr Professor Forchhammer
bewies hier in längerem Vortrag, daß die nationalen „nichts als eine Elite
unklarer Köpfe" sind. Der Gelehrte, der uns die griechischen Götter in
Wasser aufgelöst, der Mitarbeiter der Kieler Zeitung, der uns so scharfsinnig
am Stettiner Polizeidirector die staatenbildende Kraft des Schleswig-holsteinischen
„Stammes" nachgewiesen, der Redner, der auch jetzt wieder höchst weise über
deutsche Stämme und Staatenbildung sprach, hatte unzweifelhaft ein Recht, von
Unklarheit bei uns zu reden. Aber es war doch ein eigenes Zusammentreffen,
daß gerade an dem Tage dieser Leistung die Nummer der Elberfelder Zeitung mit
dem häßlichen Brief Schleidens hier eintreffen mußte, in welchem gebeten wird,
Professor Forchhammer sofort von London abzuberufen, weil „es ihm an po¬
litischer Einsicht fehlt", weil er „hier überhaupt mehr schadet als nützt", und
weil „das Geld, welches sein hiesiger Aufenthalt kostet, nicht nur weggeworfen,
sondern geradezu schädlich angewendet ist". Böser Schleiden! Armer Peter
Forchhammer!
Will, indem es gewisse Aussprüche Cäsars erörtert, „noch ein Commentar zur
Geschichte Julius Cäsars von Napoleon dem Dritten" sein. Der Verfasser ist ein
Mann von Geist und Wissen, seine Betrachtungsweise aber ist durchaus tendenziös,
Cäsar für ihn nichts als ein großer Verbrecher, wie „alle jene Elenden, die in den
modernen Zeiten seine Maske wieder aufgenommen und seine Rolle weiter gespielt
haben." Von größerem Interesse ist uns die vorausgesandte Biographie Nogcards,
der vor einigen Wochen bekanntlich durch eine kleine Broschüre und gewissermaßen
über Nacht für einige Zeit zu einer europäischen Berühmtheit wurde, und von dem
wir hoffen dürfen, daß er sich nicht so rasch wieder in Vergessenheit sinken lassen
wird, wie der gute Nikolaus Becker, dem mit seinem Nheinlicd ein ähnliches Glück
widerfuhr. Wir geben aus dieser Biographie einen Auszug.
Louis Auguste Rogcard wurde am 25. April 1820 zu Chartres geboren.
Sein Vater war Offizier. 1840 war er Lehrer der Normalschule, dann Professor in
Obernay im Bas-Rhin, wo er sich 1842 zur Messe zu gehen weigerte. Später
lehrte er zu Libourne in der Gironde, zu Angoulsmc, zu Brives und zu Pan.
Am letzterem Orte erlaubte er sich scharfe Bemerkungen über die Verwaltung der
Armcngelder durch die Geistlichkeit, die sehr übel vermerkt wurden, 1849 nahm er
Urlaub, um nach Paris zu gehen, wo er sich lebhaft an allen Kundgebungen der
revolutionären Parteien betheiligte. Nach Pan zurückgekehrt und zum Lehrer in der
Tertia aufgerückt, erhielt er vier Monate nach dem Staatsstreiche wegen Eidesver¬
weigerung seine Entlassung, worauf er zuerst wieder nach Paris, dann auf fünf
Monate als Hauslehrer nach England ging. Dann war er in gleicher Eigenschaft
zwei Jahre wieder in Paris. Endlich solcher abhängigen Stellungen müde, machte
er sich zum protessLur lidrs. Jetzt versuchte er sich auch zum ersten Mal in der
Literatur. 1853 erschien im „Avenir" von ihm eine Studie „vu rükt 6s la litts-
raturv äaos Iss öoeiötös". 1855 wurde er wegen Betheiligung an den Unruhen, die bei
Nisärds Vorlesungen in der Sorbonne stattfanden, in Anklagestand versetzt und erst
zu vier Monat Einsparung ver urtheilt, dann auf eine Vertheidigung durch Emile
Ollivier freigesprochen. 2. Februar 1856 wurde Nogeard abermals und zwar dies¬
mal des Nachts in seiner Wohnung verhaftet. Er sollte eine geheime Gesellschaft
gestiftet haben, und fo brachte man ihn nach Mazas, wo er einen vollen Monat
saß, ohne verhört zu werden. Dann wurde er ohne Erklärung entlassen.
Natürlich erhitzte diese Maßregel Nogeard nur zu größerem Haß gegen das
herrschende System. Er hegte den glühendsten Wunsch, sich zu rächen, nur wußte
er lange nicht, wie er den empfindlichsten Schlag führen sollte und auf welchem
Felde. Er wandte sich jetzt entschiedener der Literatur zu und trat mit dem Quartier
Ladin in Verbindung, 1861 veröffentlichte das Journal dieses Kreises „I.» .leunsssö"
einen Artikel über die beiden Ausgaben des Wörterbuchs von Bouillet, von denen
die zweite vom römischen Index gesäubert worden. Im Jahre darauf brachte die
in demselben Kreise wurzelnde Zeitung „1.6 Ir^van" Nogeards Satiren „I,g, vermesse
6'Lsxrit" (gegen die erst revolutionäre, dann im Alter reactionäre Jugend) und
„I'Lsxrit n^stiyue" (gegen die Frömmler, welche die Wissenschaft anfeinden). Be¬
deutender waren die ebenfalls 1862 erschienenen Broschüren „ksuvre I^r-ruck", ein
Heft Poesien, welches nach dem Titel in der „Druckerei der Freiheit in den Katakomben",
in Wahrheit aber in Paris gedruckt war, und die Schrift „l'^bstsution", welche
von der Betheiligung an den Wahlen für 1863 abrieth. 1863 arbeitete Nogeard
viel für die „Rolarwö MtErairo", in Welche er einen Artikel über AboutS „Gaötana",
eine Geißelung von Samt Beuvcs Recension der von Herzen herausgegebnen Memoiren
Katharinas der Zweiten und die Abhandlung „?roM 6'un oonZrös universsl clef
8oiönees moiales" lieferte, die auf Schaffung einer unabhängigen Wissenschaft
gegenüber der officiellen ausging. 1864 veröffentlichte Hachette das erste größere
fachwissenschaftliche Werk Nogeards, den „Vours <Ze8 persicus I^eines", den
Se. Marc Girardin im Journal des öffentlichen Unterrichts sehr günstig besprach.
Zugleich aber brachte der „?us,rö 6s la, I^oire" den Aufsah „I-a DümoerMs
maeulsö", eine geharnischte Antwort auf einen Vorschlag der „Oxinion nationale",
der den liberalen Journalisten angerathen, dem System der Regierung sich anzu¬
bequemen.
Trotzdem wäre Rogcard ohne Zweifel früher oder später ebenso klanglos zum
Orkus hinabgestiegen wie die Mehrzahl der unzähligen kleinen pariser Tagcsschrift-
steller, wenn ihm nicht Gelegenheit gegeben worden wäre, sein Talent in anderer
Weise leuchten zu lasse». Das Quartier Ladin an sich konnte ihm diese Gelegenheit
nicht schaffen. Es ist von uralter Zeit her ein Wespennest sehr witziger, bisweilen
fataler, aber nicht besonders gefährlicher, weil mehr zum Vergnügen als aus Ge¬
sinnung opponirendcr Opposition. Bei dem steten Abfluß und Zufluß der Studenten-
welt wechseln überdies stets die Gruppen der hier politisirenden Gesellschaft, fast alle
Vierteljahre entsteht ein neues Journal, und keines lebt länger als etwa ein Semester.
Zuweilen wird ein giftiges Spottgedicht ohne Druckort ausgeworfen oder eine Pro¬
klamation der Zukunft, worüber sich dann die auswärtige Presse feierlich wie über
ein Zeichen der Zeit berichten läßt, wovon man aber auf der rechten Seite von
Paris kaum Notiz nimmt. 1865 gründete das Quartier Ladin wieder einmal ein
neues Wochenblättchen „La Rios ganons". In aller Welt Munde war damals das
demnächstige Erscheinen der Cäsarbiographie aus der Feder des Kaisers. Bevor man
das Werk noch kannte, mußte natürlich von der radicalen Studentenschaft dagegen
losgezogen werden; denn einmal ist der Name Cäsar sür die moderne französische
Demokratie, was rothes Tuch für den Truthahn ist, und dann ließ sich doch schon
aus der Wahl dieses Stoffes errathen, was der Biograph in den Tuilerien beab¬
sichtigte. Da letzterer noch nicht gesprochen, so griff man zunächst seinen Helden
als historische Persönlichkeit an, und so schrieb denn Nogeard für jenes Blättchen die
Untersuchung „I^Sö mors as (üesar". Dieselbe blieb im Eckzimmer des Pavillons
an der Seine unbemerkt, sonst wäre, wie unser Biograph Nogeards meint, vielleicht
rasch ein neuer Senator entstanden.
Die Rive Gäuche wurde hierauf kühner, und als das kaiserliche Buch selbst
vorlag und officiös volle Discussionssreiheit darüber bewilligt wurde, glaubte man sich
nicht mehr geniren zu dürfen. Der gelehrte Ironiker legte sich mit aller seiner Malice
ins Zeug, und schrieb in seiner einzigen Nacht das Manuscript ,,I^es xroxos as
1,-rbiöllus", welches die Redaction M „recht hübschen Beitrag" abdruckte. Am
nächsten Tage war die nicht sehr große Auflage der Nummer in wenigen Minuten
ausverkauft. Die Redaction prüft ihr Blatt, noch nicht recht klar, welcher Artikel
eigentlich so eingeschlagen. Aber bald weiß sie es. Hunderte stürmen in das Bureau,
um nach dem „?roxos" zu fragen. Sofort geht man zu dem guten frommen
Drucker des Journals, Lalu6, und bestellt, da der Satz noch steht, ein paar tausend
separate,bzügc. Auch diese sind fast im Nu vergriffen. Lcunv hatte die Broschüre
bisher noch gar nicht angesehen. Als jedoch Nogeard nun die Lieferung von
hunderttausend Exemplaren binnen wenigen Stunden verlangte, wurde der Druck¬
herr stutzig, und er begann die Schrift zu lesen. Zwar verstand er sie nicht ganz,
wohl aber erschrack er über den Ton, und so machte er sich sofort auf den Weg
zur Polizei, um sich Raths zu erholen. Die Polizei erschrack gleichfalls und begann
dann damit, daß sie Lainö sofort beim Aermel nehmen und in die „Pistole" (Unter-
suchungshaft) stecken wollte. Mit Mühe rettete sich der Schuldlose durch den klarsten
Beweis, daß er von der Bosheit des rogeardschen Pamphlets nicht das Mindeste
geahnt hatte. Aber die Auflage der Hunderttausend wurde augenblicklich in Beschlag
genommen, und ein alter Herr mit Tressenhut und Gvldkragen fuhr ohne Verzug
mit einem Exemplar direct in die Tuilerien.
Das begab sich Anfangs März dieses Jahres. Dann leitete man gegen den
Autor einen Staatsproccß ein. Nogeard wollte diesem die Stirn bieten. Aber seine
Freunde dachten anders, und als ihr Zureden nicht verfing, schoben sie ihn kurzer
Hand in einen Eiscndahnwaggon und spedirten ihn nach Brüssel, wohin man ihm
später seine Sachen nachschickte. sechs Stunden nach seiner Abreise war Rogcard
eine aufdämmernde europäische Berühmtheit, die durch seine bald darauf erfolgende
Verurtheilung in eontuwÄLiam zu fünf Jahren Gcfüngniß natürlich nicht wenig ge¬
hoben wurde. Aus einem pariser Localwitz war eine Art Weltcrcigniß geworden,
von dem der Telegraph Posaunte. Jn^ wenigen Wochen gab es von dem französischen
Original der „Propvs" 17 deutsche, II, englische, 4 italienische, 2 schwedische,
1 dänische, 1 ungarische, 1 böhmische, 2 polnische, 1 russische, l neugriechische
und sogar 1 serbische Uebersetzung. Sehr viel hatte die Sccmdalsucht, ziemlich
viel auch die Bedeutung, welche Paris für die Welt hat, dazu beigetragen, diese
Brochüre zu einer Art Ereigniß zu machen, auch die demokratischen Flüchtlinge in
Belgien und England thaten für dieselbe nach Kräften das Ihrige. Ganz aber
erklärt sich das Aufsehen, das sie machte, aus diesen Ursachen nicht. Es werden
alle Jahre Dutzende"viel positiverer und viel leidenschaftlicherer Anklagen des napo¬
leonischen Systems, namentlich von der Schweiz aus vom Stapel gelassen, und man
hört kaum von ihnen, geschweige denn, daß sie eine solche Verbreitung finden, wie
das rogcardschc Pamphlet. Der .Unterschied besteht und die Erklärung findet sich
darin, daß die Schrift Rogcards nicht blos eine sehr intensive Maki«, sondern auch
durch die Kenntnisse, die sie verräth, durch die geistreiche Art, in der sie spricht, und
durch die außerordentliche Gewandtheit, mit welcher der Verfasser die französische
Sprache handhabt, einen nicht gewöhnlichen literarischen Werth hat. Sie ist die
Arbeit eines bedeutenden Talents, das nur zufällig dahin kam, seine glänzenden
Eigenschaften der politischen Tendenz zu widmen. Wir schweigen von dieser Tendenz,
oder begnügen uns, zu sagen, daß wir sie nicht durchweg billigen können, da sie
auf bloße Hervorhebung der Schatten hinausläuft. Wir reden nur von dem ästhe¬
tischen Charakter der Broschüre, und hier müssen wir dem Verfasser der Biographie
Nogcards, dessen politische Meinung mir nicht theilen, im Wesentlichen recht geben,
wenn er in den "Propos" etwas von dem Geiste findet, der die Jnniusbriefe dictirte.
Uns Heutige interessirt es nicht sehr mehr, wer die Leute waren, welche den großen
noch immer unbekannten englischen Pamphletisten reizten', sich ihrer mit seiner ver¬
nichtend scharfen Feder anzunehmen. Aber mit einer Genugthuung, wie man sie
nur vor einem Kunstwerke empfindet, lesen wir noch heute jene köstliche, feine, überall
mehr durch kalte Verachtung als durch eifernden Zorn strafende Durchhechelung, die
um so weniger ermüdet, als sie zur rechten Zeit stets in den echten Ton sittlichen
Ernstes und schöner Ueberzeugung vom endlichen Siege der Wahrheit und des
Rechtes einlenkt. Einen ähnlichen Eindruck macht auf den nüchternen, leidenschafts¬
losen Leser das Schriftchen Rogeards. Nicht so sehr die Schärfe der Waffe erfreut,
als die zierliche, seine und doch nicht gekünstelte Ausarbeitung derselben. Dann aber
gewinnen wir zugleich Achtung vor der Bildung des Verfassers in Betreff des Ma¬
terials, mit dem er arbeitete. Wir staunen, in dem Feuilletonisten zugleich einen
respectablen Gelehrten zu erkennen, der in der alten Geschichte und in der Denkweise
vergangener Generationen außerordentlich gut zu Hause ist, und der den historischen
Localton Roms zur Zeit Cäsars und noch mehr den Ton der Plauderei bummeln¬
der Civcs Romani dieser Zeit überraschend treu wiederzugeben versteht. Wir sehen
sofort, die Studien, aus denen das beruht, sind nicht hastig für den Zweck gemacht,
den das Pamphlet verfolgt, sondern es find die Resultate langjähriger stiller Arbeit,
die hier dem Satiriker für sein Spiel zu Gebote stehen. Leichtigkeit, Glätte und
Anmuth vereinigen sich aufs beste hier mit Gediegenheit und Tiefe.
Rogeard ist gegenwärtig mit drei neuen Arbeiten beschäftigt, einer neuen Ausgabe
der „Noth alö Lösar", einer „Vie an seeouÄ <üvsa,r" und einer dritten Schrift,
welche „Ilistoirs ä'uno droolruro" betitelt sein und die Geschichte der „?roxo8 av
I^bierms" geben wird. Alle diese Broschüren sollen in deutschen Uebersetzungen bei
Steinhäuser in Prag erscheinen.
Der siebente Band giebt Lieder und Balladen von Robert Burns, deutsch von
Karl Bartsch. Band 8—10 enthält Dantes göttliche Komödie übertragen von Karl
Eitner. Beide Uebersetzer haben Gutes geleistet, der letztere freilich, indem er den
Reim weglassend und nur den fünffüßige« Jambus beibehaltend, die Form des Ori¬
ginals nicht ganz wiedergab.
Deutsche Dichter und Prosaisten von der Mitte des fünfzehnten Jahr¬
hunderts bis auf unsere Zeit nach ihrem Leben und Wirken geschildert. Von
Heinrich Kurtz. Zweite Abtheilung, dritter Band. Leipzig, 1865. Teubner.
645 S. 12. Enthält die Biographien und Charakteristiken von Gellert, Rabner,
I. E. Schlegel, Kästner, E. Chr. v. Kleist. Chr. Felix Weiße, Gleim, Uz, der
Karschin, I. F. W. Zachariä, Ramler, Mendelssohn, Nicolai. Lenz, Hippel,
Hcinse, v. Thümmel, Kotzebue und Jean Paul. Den meisten derselben sind Portraits
der betreffenden Schriftsteller in Holzschnitt beigegeben. Der Text bringt nicht
viel Neues und Selbständiges, und bisweilen wird der Biograph sogar platter als
billig. Auch läßt sich Vieles ohne Zweifel weniger weitschweifig sagen.
Herr Schäfer hat vor einigen Jahren ein großes dreibändiges Werk über die
dresdner Galerie veröffentlicht, welches zwar nicht als Muster deutschen Stils
gelten konnte, aber dem Inhalt nach seine Verdienste hatte. Hier bietet er einen
einfachen Wegweiser, der nur das Nöthigste in gedrängter Kürze enthält, den wir
aber als durchweg praktisch bestens empfehlen können. Als etwas völlig Neues ent¬
hält das Buch eine genauere Betrachtung der Pastellbilder der Galerie und der Ge¬
mälde Dietrichs, Canales und Canglettos und der im nordöstlichen Pavillon des
Zwingers aufgestellten topographisch interessanten Landschaften Thicles sowie eine
sorgfältig ausgearbeitete Uebersicht und Erläuterung der einzelnen, zum Theil nicht
unbedeutenden Bildchen der nirgends so reich vertretenen Miniaturensammlung der
dresdner Galerie.
Allerlei meist lose aneinander gereihte Notizen, Geschichten und Anekdoten, wenig
Bedeutendes, aber manches Hübsche darunter. Wo Urtheile vorkommen, sind sie
meist mehr gutmüthig als tief, wie z. B. das über Raupach im zweiten Capitel.
Besonders interessant sind unter den Anekdoten des Tagebuchs die von der Schröder-
Devricnt mitgetheilten sowie die, welche der Verfasser von Röhr erzählt.
Noch einmal Italien und noch einmal die Schweiz, recht ansprechend geschildert,
recht nett erzählt, aber ist denn noch nicht Wasser genug in der See? Oder wäre
es etwa erlaubt, hier davon abzusehen, daß die betreffenden Gegenstände bereits
mehr als zur Genüge beschrieben sind, und könnte es interessant sein, zu wissen,
was ein Poet dritten Ranges beim Anblick der hundertmal schon abconterfciten Berge,
Städte und Gewässer erlebt und empfunden hat, vielleicht nur empfunden haben will?
Ein Buch, welches Gartenbesitzern, Architekten und Gärtnern von höheren An¬
sprüchen als lehrreich bestens empfohlen werden kann. Der Verfasser. Hofgcirtncr
und Bauführer auf Schloß Albrcchtsberg bei Dresden, gründlich in feinem Fache
zu Hause und von gutem Geschmack, giebt zunächst allgemeine Anleitung zu vor-
theilhafter Anlage von Haus und Garten, woran sich eine Schilderung und Auf¬
zählung der hierher gehörigen Zicrhölzcr und Obstbäume schließt. Dann folgen
24 Pläne zu Gärten und Häusern nach bereits existirenden Grundstücken, welchen
Plänen fein colorirte Zeichnungen und eine beträchtliche Anzahl von Umrissen der
bezüglichen Details beigegeben sind.
Im Verlag des bibliographischen Instituts zu Hildburghausen erscheinen- Er-
g änzungsblättcr zur Kenntniß der Gegenwart", von denen uns das
erste Heft vorliegt. Von den Mitarbeitern nennen wir Dr. Mnx Schafter, Feodor
Wahl, Karl Andre- und Otto Bauet. Die Artikel sind meist in der Weise der Con-
vcrsationslcrika gehalten und behandeln Gegenstände aller in diesen vertretenen Fächer.
"
Unter dem Titel „Vor der Sündfluth erscheint von Dr. Oskar Fraas
in Stuttgart bei Karl Hoffmann eine populäre Darstellung dessen, was die neuesten
Forschungen in Betreff der vegetabilischen und animalischen Bildungen der unsrer
jetzigen Erdperiode vorausgegangenen Zeiträume zu Tage gefördert haben. Dieselbe
ist — jetzt bis zur 8. Lieferung gediehen — reich und gut illustrirt und was den
Text betrifft, wohlgeschrieben.
Moliöre's Lustspiele übersetzt von Wolf Grasen Baudissin. Erster Band. Leipzig,
S. Hirzel. 1865.
Das neue Werk, welches in stattlichem Bande vor uns liegt, ist nicht nur
als eine vortreffliche Arbeit erfreulich, es hat für uns Deutsche besondere Be¬
deutung. Zunächst wegen des Uebersetzers selbst. Er gehört zu den Männern,
aus welche der jüngere Dichter mit Achtung und Pietät blickt. Sein Name ist eng
verbunden mit der Schlegel-tieckschen Uebersetzung Shakespeares, er war unter
den Ersten, welche die große dramatische Zeit Englands den Deutschen ver¬
traulich machten. Seitdem lebt er uns, unermüdlich thätig, ein hoch gebildeter
klarer Geist, noch in höherem Mannesalter mit inniger Theilnahme jedem ernsteren
literarischen und künstlerischen Streben zugewandt, im stattlichen, wohlgefügten
Hause, wohlthuend für jeden, der ihm nahe tritt, freundlich verbunden mit
einem großen Theil unserer namhaften Talente, ein warmer Patriot, ein treuer
deutscher Mann, aus seinem würdigen Haupt ruht der Kranz unverwelkiicher
Jugend. Und er ist uns jetzt als Schriftsteller, Gentleman und jPatriot werth¬
voller Repräsentant einer großen Literaturepoche, in welcher die Nation vor¬
wiegend literarischen Interessen zugewandt war.
Wir freuen uns also dieses Buches, weil er darin als Uebersetzer und
Dramaturg die Technik eines Meisters bewiesen hat. Nicht weniger des¬
halb, weil diese Uebersetzung eine große Lücke in unserer Literatur ausfüllt.
Die Deutschen rühmen sich zuweilen, in Uebersetzungen das Meiste und Beste
geleistet zu haben, und doch besitzen wir von dem Dichter/ der auf die heitere
dramatische Literatur der Deutschen durch mehr als hundert Jahre herrschenden
Einfluß geübt hat, noch keine Übertragung', welche — zumal in den versificirten
Stücken — auch nur mäßigen Anforderungen entspräche. Man wende nicht
ein, daß trotzdem Moliöre bei uns sehr bekannt sei und daß ihn jeder gebildete
Deutsche im Original lesen könne. Es ist doch wahr, daß er in der Gegen¬
wart wenig gelesen und von dem jüngern Geschlecht viel zu wenig gekannt ist.
Auch ist eine gute Uebersetzung nicht blos für solche geschrieben, denen un¬
bequem wird, das Original in fremder Sprache zu lesen; denn sie hilft den
fremden Dichter, den sie in deutsches Gewand kleidet, zu Nationalismen, und
sie bereichert durch das Genie des Fremden, welches sie mit unserer Sprache
verbindet, unsrer Poesie Kunst, Farbe und Sprache.
Die neue Uebersetzung umfaßt in ihrem ersten Theil — Schule der Ehe¬
männer, Schule der Frauen, Misanthrop, Tartüffe, gelehrte Frauen, — gerade
mehre für den Uebersetzer schwierige Aufgaben. Es ist eine Freude, in dem
Bande zu verfolgen, wie diese Schwierigkeiten ^überwunden sind. Denn die
Arbeit ist mit größter Liebe gemacht, mit dem feinsten Verständniß für Sprache
und Geist des Dichters, zu gleicher Zeit in reinem Geschmack, eine durchweg
saubere gute Leistung, der man sehr wenig von Übersetzungen aus dem
Französischen an die Seite setzen kann. Sie ist sehr treu und sehr deutsch.
Der Uebersetzer hat den Muth gehabt, den deutschen Vers zu wählen,
welcher für Moliöre der allein richtige ist, unsern dramatischen Vers, den jambischen
Fünffuß. Was er selbst in der Vorrede dafür anführt, ist unwiderlegbar.
Der Charakter des französischen Alexandriners ist von dem des deutschen
Alexandriners grundverschieden. Dieser Sechsfuß ist für die französische Sprache
in der That der gebotene dramatische Vers, wie unser Fünfsuß für das Deutsche.
Das unerträgliche Geklapper, selbst das scharfe Vortönen des Reims, welches
im Deutschen der Tod bewegter dramatischer Rede wird, ist im Französischen
nicht fühlbar. Die französischen Verse sind nur Accentverse, ohne Längen und
Kürzen, und im Ganzen ohne gebotene Hebungs- und Senkungssilben, wie bei
uns. der Versaccent tönt schon deshalb weniger stark aus der rollenden Rede,
und er wird durch den launischen Wortaccent, durch schnellen Wechsel des Rede-
tempo, durch das vom Sinne des Satzes abhängige Zusammenfassen und
Dehnen der einzelnen Wörter im Französischen viel lebhafter gebrochen und
variirt, als dem deutschen Vers möglich ist. Auch der Reim klingt bei solcher
Redeweise weniger voll und zusammenschließend als bei uns. Im Französischen
ist deshalb der Alexandriner ein leichtes schmiegsames Gewand, bei uns ein
schweres gepapptes Kostüm, welches die feinen Seelenbewegungen verdeckt. Wenn
man sich in Uebersetzung französischer Tragiker noch eher den Pomp eines
solchen Redegewandes gefallen lassen kann, — obgleich er auch ihnen die
Schwäche ihrer Poesie unbillig hervorhebt — so ist er bei dem beweglichen, geist-
sprüdelnden Lustspieldichter geradezu unerträglich. Deshalb wer Moliöre treu
in unsere Sprache übertragen will, der muß ihm auch die Art von Wohllaut
geben, welche unsere Sprache in dramatischer Rede zu verwenden fähig ist.
Wenn unser Fünffuß immer noch am besten entspricht, so giebt freilich auch er nicht
vollständig das Costüm der französischen Versrede wieder, an die Stelle des
schmeichelnden Klanges ist ein ruhig gehaltener Ausdruck getreten, die Sprache
des deutschen Moliöre ist um etwas mehr vergeistigt und minder beifallslustig;
aber der große Dichter der Franzosen kann sich diese Umbildung in deutsches
Wesen wohl gefallen lassen, sie war die Bedingung, unter welcher seine Schön¬
heit.allein zur Geltung gebracht werden konnte.
Die Sprache, welche der Uebersetzer in diese Verse fügt, ist, wie die Verse
selbst, rein, behaglich und wohltönend. Gerade die heitligsten Aufgaben sind
mit Virtuosität gelöst. Dahin gehört z. B. der erste Act des Misanthrop,
der'.dritte Act der gelehrten Frauen. In beiden Acten läßt Moliere ein Ge¬
dicht vorlesen und darauf Sprache und Gedanken desselben recensiren, beide
Scenen sind auch in dramatischer Beziehung Meisterstücke schöner Arbeit und
haben von je auf der französischen Bühne dafür gegolten. Man lese selbst
nach, wie geistvoll der Uebersetzer die Schwierigkeit überwunden hat, ein
schlechtes Gedicht so wiederzugeben, daß, was in französischer Sprache als
ungeschickte Wendung auffällt, in deutscher genau denselben Eindruck macht,
und ohne plump zu werden, noch so wirkt, daß es urtheilslose Leser bestechen
kann, und daß es doch den besser Beurtheilenden lächerlich erscheint. Ebenso
hat die Sprechweise der gelehrten Frauen den Jargon wiederzugeben, der
zur Zeit von Descartes in einigen eleganten Cirkeln Frankreichs gehört wurde,
und sie soll zugleich dem deutschen Leser die komische Wirkung machen, welche
gelehrtes Geschwätz unserer Modedamen erregen würde, welche Lichtstrahlen
aus Schoppenhauers Werken, oder die tapfern Angriffe unseres Professor Bock
auf die Homöopathen ungeschickt in sich aufgenommen haben.
In den Stücken seiner letzten Zeit dialogisirt Moliere zuweilen so fein,
daß sogar seine Charaktere nur verständlich werden, wenn der Uebersetzer den
Dialog des Originals mit ähnlichem Geist wiederzugeben vermag. Man beachte
unter andern die kleine Rolle der Belise, Momente in der Rolle des Tartüffe.
Ja in der ganzen Methode Moliöres zu charakterisiren liegt etwas, was discrete
und säuberliche Behandlung seiner Sprache nöthig macht, wenn ihm nicht bitteres
Unrecht geschehen soll. Eine Übertragung desselben ist deshalb schwerer
als bei den meisten seiner Zeitgenossen. Darüber, daß der Uebersetzer einige
Derbheiten des Textes nicht durch den entsprechenden Ausdruck wiedergegeben
hat, vertheidigt er sich selbst mit der Bemerkung, daß die Sprache wie ein
Gemälde nachdunkelt, und daß der Uebersetzer in einzelnen Fällen das Original
am treuesten copirt, wenn er nicht wörtlich abschreibt.
Der erste Band der Übertragung enthält noch eine einleitende Vor¬
rede, welche unter andern über frühere Uebersetzungen und Einzelnheiten der
mitgetheilten Stücke Auskunft giebt. Darauf folgt eine übersichtliche Lebensskizze
Moliöres, in welcher seine sämmtlichen Stücke, was sie etwa veranlaßte und
interessante Anekdoten, welche von ihrer Aufführung und dem Dichter über¬
liefert sind, dem deutschen Leser berichtet werden.
Sollen wir dem Uebersetzer hier eine Bitte aussprechen, so wäre es die,
daß er in dem zweiten Bande zu den Stücken, welche er dafür in Aussicht
stellt, noch den Geizigen und den Bürger, der Edelmann sein will, fügen möge;
beide gehören zu den bekannten, welche auch unsere Bühne vielfach beeinflußt haben.
Hauptsache auch für uns bleiben freilich die Stücke der höheren Komödie in Versen.
Es war den vorigen November zweihundert Jahre, daß Tartüffe das erste
Mal vollständig im Schloß des Prinzen Conde verstohlen aufgeführt wurde;
es sind mehr als hundert Jahre, daß Gellert die Betschwester nach dem Muster
des Tartüffe schrieb. Welche unserer Bühnen hat in einer Zeit, wo man so
bereit ist, Erinnerungstage zu feiern, an die Wiederaufnahme des Stückes ge¬
dacht? Haben unsere Intendanzen vielleicht noch immer Grund, das Stück mit den¬
selben Augen anzusehen, mit denen es Napoleon der Erste betrachtete? Das Lustspiel
steht zwar noch im Repertoir der meisten älteren Charakterspieler, es wäre aber
wohl eine Festtagsaufgabe, die alte unbehilfliche Bearbeitung des wackeren
Hamburgers Schmidt bei Seite zu werfen und das Stück im Costüm seines
Jahres nach der neuen Uebersetzung auf die Bühne zu bringen. Wenn man
aber Stücke von Moliöre wieder auf die Bretter trägt, soll man nicht außer
Acht lassen, daß für ihre Aufführung eine sorgfältigere Behandlung des Dialogs
unumgänglich nöthig ist, als wir Deutsche in der Regel durchsetzen. Die
Tempi der Reden und Gegenreden haben bei Moliöre häufigen Wechsel,
und es gehört Bildung und Energie des Regisseurs dazu, diese Tempi
unsern Schauspielern, welche zu wenig daran gewöhnt sind, beizubringen.
Ferner aber ist zu beachten, daß seine Stücke im Ganzen betrachtet weit
schneller abrollen müssen als unsere modernen Lustspiele. Coulisscnwechsel
im Act ist durchaus unstatthaft, zwischen den einzelnen Acten dürfen nicht mehr als
eine bis höchstens drei Minuten vergehen, die Gardine darf auch in den Zwischen¬
acten nur dann fallen, wenn ein Coulissenwcchsel unumgänglich nöthig wird.
Wir sind, seit wir die unselige Erfindung gemacht haben, bei jedem Scenen¬
wechsel die Gardine herunterzulassen, in eine so geschmacklose Abhängigkeit
von der Staffage und den Möbeln der Stücke gekommen, daß auf den meisten
Bühnen die künstlerische Gliederung der Dramen verloren ist. Wer Stücke
Moliöres aufführt wie unsere Dramen, wird schwerlich Freude davon haben.
Noch ruht unser neues Lustspiel auf Moliöre, die Fortschritte, welche wir
seitdem durchgesetzt, sind durch kleine und große Talente, nicht durch eine geniale
Kraft gemacht worden, zumeist bei den Franzosen, weniger glänzend bei den
Völkern germanischen Stammes, sie sind im Grunde nur von mäßigem Werth.
Noch immer wirkt die Größe Moliöres auf unsre Schaffenden, welche seinen
Erwerb allerdings meist aus zweiter und dritter Hand für sich gewinnen, aber
es ist geschehen, daß reichlicher auf uns übergegangen ist, worin die Eigen¬
thümlichkeit seiner Zeit und seine Vorgänger ihn beschränkten, als worin er
auch für alle Zeit groß sein wird. Conventionelle Annahmen seiner Bühne, die
Flüchtigkeit im Motiviren, die Erinnerung an die römischen Masken in den
Typen seiner Nebenfiguren, stehende Fächer: die Vertrauten und Kammer¬
mädchen, das Forttreiben der Handlung durch kleine abgenutzte Mittel, dies und
Aehnliches hängt noch unserm Lustspiel an, wie er es aus der römischen Ko¬
mödie überkam.
Denn die Atmosphäre des französischen Familienlebens, wie es zu Moliöres
Zeit war, ist aus der Trivialität unserer Anekdvtenstücke immer noch erkennbar;
wie aus unserer Bühne die Freier ins Haus geführt werden, wie sie sich zwi¬
schen Vater und Mutter durchsetzen, Zustände, Charaktere, Situationen sind
noch häufig geistlose Nachbildungen seiner Erfindung, im Vergleich mit
unserer Zeit so conventionell, unwahr und abgeschmackt als möglich. Und es
ist ein unheimliches Gefühl, den rechtschaffenen Rathgeber Ariste. das Kammer¬
mädchen Dorine, den widcrhciarigen Vormund Scagnarelle, die verliebte alte Tante
Belise aus dem dürftigen Dialog unserer Jahre in altfranzösischer Tracht Her¬
ausgucken zu sehen. Freilich kann man noch ältere Gesichter hinter den mo¬
dernen Personen erkennen, auch Sofia und Davus,- welche lange vor unserer
Zeitrechnung Lachen erregten, sind durch modernen Frack und Tressenhut zuweilen
weniger nationalisirt, als schon bei Moliöre. Nirgend wird die Abhängigkeit
vom Alterthum und die Seltenheit starker originaler Empfindung lebhafter
empfunden als bei der Gattung der Poesie, welche doch ganz ausschließlich
auf lustige Darstellung ihrer Gegenwart angewiesen ist.
Moliere war in dem höfischen Treiben seiner Zeit ein ernster Mann von
starken ethischen Bedürfnissen. Die Lebensgrundsätze, welche er ausspricht, sind
reiner und strenger als bei der Mehrzahl seiner Zeitgenossen', er hat die Weisheit
eines Mannes von Welt und die Liebe eines Dichterherzens zur Menschheit.
Er steht als Dichter nicht nur in Bildung, auch in sittlichem Inhalt hoch über
dem wüsten Treiben seiner Zeit, ja er ist in jener Periode der Frivolität, in
welcher die Rohheit des Mittelalters zuerst durch äußere Form gebändigt
wurde, ein eifriger Moralprediger, und er liebt es, die Grundsätze eines guten
und charaktervoller Menschen den Nennungen seiner Zeit gegenüber mit einer
Energie und Ausführlichkeit auszusprechen, welche uns zuweilen ein beistim¬
mendes Lächeln abnöthigen. Aber die edelsten Sittenlehren aus vergangener
Zeit erscheinen unsrer Erkenntniß nicht nach jeder Richtung vollendet. Und jede
Zeit und jedes Volk hat außer den allgemeinen Schäden und Schwächen auch
ihre nationalen. Der Hof und das Paris des vierzehnten Ludwig beschränkten
auch für unsere Empfindung die honetten Leute jener Jahre. Die Zuverlässig¬
keit in Wort und That zwar geringer, die Nothlüge machte auch zarten Ge¬
wissen wenig Bedenken. Die Frivolität in Auffassung socialer Pflichten war un-
vergleichlich größer als jetzt, die Ehe war ein Geschäft, welches in der Regel
aus äußern Rücksichten geschlossen wurde, einen dienenden Verehrer zu haben
war ein Erfordermß des geselligen Anstandes für modische Mädchen wie für
Frauen, der Wechsel in solchen Verhältnissen war häufig, und die verkümmerte
Poesie, welche darin lag, ein Hauptreiz des geselligen Verkehrs. Die Rechte
des Individuums, der Kinder gegen den Vater, des Mannes gegen den Für¬
sten wurden niedriger gefaßt, der Zwang der Autorität in der Familie und im
Staat war übermächtig. Gewaltthaten, auch blutige, und die raffinirte Genu߬
sucht eines verschwenderischen Hofes arbeiteten noch durcheinander, der Blick
war scharf geworden für die Schwächen und Laster der Menschen, aber diese
Schwächen und Laster wucherten unter der Hülle guter Lebensart noch heftig
und rücksichtslos. Auch ein wackerer Mann, der in solcher Zeit unter den
Menschen ausdauern wollte, konnte, so oft er über Andere urtheilte, eine Nach¬
sicht und ein resignirtes Achselzucken nicht entbehren, die in unserem Leben schlaff
und charakterlos erscheinen würden. Es ist selbstverständlich, daß Moliöre der
Lustspieldichter von solcher Auffassung des Lebens nicht frei sein konnte, aber
selbst die herrschenden Schwächen seiner Zeitbildung verletzen bei ihm nur an
einzelnen Stellen, sie treten in den späteren seiner Stücke weniger hervor, und
erscheinen bei einem Vergleich mit anderen Zeitgenossen so mild, daß sie zu¬
weilen nur wie ein leichter Hauch an dem Spiegel hasten, der uns Menschen¬
natur schön und allverständlich zurückstrahlt.
Daß hier nicht die Sprache einzelner Scherzreden gemeint sei, ist selbst¬
verständlich, zwar wurden auch diese durch die Sitte einer Zeit regulirt, außerdem
aber durch die Mode. Daß seine Scherze — nicht nur in den possenhaften Lust¬
spielen — zuweilen durch Redewendungen wirken, welche bei uns in guter Gesell¬
schaft verpönt sind, und daß man damals noch einzelne Situationen herzlich be¬
lachte, welche uns auf der Bühne lästig sein würden, das ist bekannt, und wird
den Leser des Originals nur selten irren.
Moliöre hatte als Sohn eines wohlhabenden pariser Bürgers, der zu
gleicher Zeit im Hofdienste stand, den besten Jugendunterricht genossen, der da¬
mals zu finden war. er hat in seiner Schulzeit mit einem Freunde den Lucretius
ins Französische übersetzt, erlas den Plautus und Terenz, und vielleicht sogar
etwas Griechisch. Er zog als Schauspieler Jahre lang mit einer kleinen
Truppe in Frankreich umher und lernte unter schwierigen Verhältnissen die
Franzosen seiner Zeit so gründlich kennen, wie kaum ein Anderer. Er wurde
mit seiner Gesellschaft in den königlichen Dienst genommen, erwarb in dieser
Stellung als Theaterdirector und Theaterdichter ungewöhnliche Einnahmen,
machte in Paris ein Haus, verkehrte als Günstling des Königs, als gewandter
Weltmann und vortrefflicher Anordner von dramatischen Festen mit den Vor-
nehmsten des großen Hofes, war mit den besten literarischen und künst¬
lerischen Talenten seines Paris befreundet, und, was die Hauptsache ist, er
selbst war ein vortrefflicher Schauspieler, er schrieb für seine Gesellschaft, deren
Mitglieder er fest an sich zu fesseln wußte. So waren seine äußern Verhält-
nisse wohl dazu angethan, ihn zu einem großen Lustspieldichter zu machen.
Wie er zum Reformator der heitern dramatischen Kunst wurde, ist aber dock
sehr merkwürdig. Er sing auf seiner Wanderbühne mit den Possen an, welche
sich an den Masken der alten italienischen Komödie entwickelt hatten. Die
typischen Figuren derselben wurden zuerst in kleinen Stücken, die nach dama¬
ligem Zeitgeschmack nicht arm an Zweideutigkeiten und gewagten Situationen sind,
dadurch idealisirt. daß er das französische Costüm derselben zeitgemäß verfeinerte
und sie zu Menschen umformte mit einem hervorstechenden charakteristischen Zug,
seine Situation, die drollige Laune des Dialogs und die graziöse Erfindung einer
kurzen Handlung erschien schon damals bei ihm bewundernswerth. Aber er blieb
dabei nicht stehen. Noch während er in den Provinzialstädten Frankreichs bei
Honoratioren seine Aufwartung machte und für Zulassung seiner Truppe mit
tausend Schwierigkeiten kämpfte, studirte er unermüdlich seine Vorbilder, die
Römer, und suchte von Terenz zu lernen, wie sich ein größeres Stück aufbaut,
und von Plautus, wie Menschennatur bei lustiger Darstellung das Innere
nach außen kehrt. Wenig ist von den Einwirkungen der spanischen Bühne auf
ihn zu merken, aber überall erkennt man aus den Komödien seiner zweiten
Periode die Antike. Er componirte seine Handlung, indem er die grotesken
Masken, die er in Franzosen seiner Zeit umgeformt hatte, in eine kunstvolle
gegliederte Handlung hineinsetzte, welche er wieder auf den hervorstechenden Cha¬
rakterzug einer komischen Figur aufbaute. Von den Stücken der vorliegenden
Sammlung gehören dahin: die Schule der Ehemänner, und die Schule der
Frauen. Noch ist das Foppen und der Selbstbetrug eines verschrobenen, wun¬
derlichen, lächerlichen Gesellen der Scherz, noch ist es eine Intrigue, in welcher
die einzelnen Situationen verhältnißmäßig schwach motivirt sind, aber schon
zeigt sich in dem sichern Gegensatz der Charaktere und in den geistvollen Va¬
riationen der Intrigue die Meisterschaft eines großen und sichern Dichters. Schon
sieht man in dieser Periode, wie es ihm besondere Freude ist, die Charaktere
sich Präsentiren zu lassen, und wie er es liebt", aus ihnen den Verlauf der Hand¬
lung zu erklären. Aber auch dabei blieb er nicht stehen. In den besten Stücken
seiner reifsten Zeit tritt der gewohnte Apparat der Jntriguenstücke mehr in den
Hintergrund, die Handlung wird einfacher, sie verläuft in wenigen Momenten,
es ist nicht mehr ein wunderlicher Einfall oder eine der Caricatur nahestehende
groteske Gestalt, welche den Mittelpunkt bildet, sondern es sind sorgfältig aus-
gearbeitete Charaktere, allerdings noch mit einem stark hervorstechenden Zug, Tar-
tüffe, der Heuchler, die gelehrten Frauen, der Misanthrop, der Geizige, der ein¬
gebildete Kranke; sehr fein ist die Charakteristik geworden, auf sie ist das Hauptgewicht
gelegt, wie der Charakter sich geistreich und originell präsentirt, ist ihm in den
reich ausgeführten Situationen das Reizvolle. Diese Stücke sind es auch, in denen
sich seine hohe Bildung und die ausgezeichnete Kenntniß der Menschen am glän-
zendsten erweist, und sie werden in guten Zeiten immer wieder auch auf unserer Bühne
Bewunderung erregen. Denn sie stellen der Schauspielkunst Aufgaben, welche
nur von großen Talenten zu lösen sind, wenn diese etwas haben, was in
unserer Zeit freilich selten auf der Bühne zu finden ist, Geist und zu gleicher
Zeit Reichthum in charakterisirenden Kunstmitteln und die größte Delikatesse in
Anwendung derselben.
Wahrhaft bewundernswürdig und niemals übertroffen ist Moliere in der
dramatischen Führung seiner Scenen; dem Lustspieldichter kann man kein
besseres Studium empfehlen als die Werke seiner besten Zeit. Jede Scene
eines Stückes hat die Aufgabe, durch die Bewegung und Conflicte der Personen
die Handlung ein Stück vorwärts zu treiben, jede Scene hat also ein Resultat
für das Ganze, und sie muß zu diesem Resultat durch ein mehr oder weniger
bewegtes Zusammenwirken der verschiedenen Charaktere kommen. Der Weg
dazu muß interessiren, das Resultat kräftig herausspringen. Der Lauf der Scene,
ihre aufsteigende Bewegung und ihr Höhenpunkt muß den Eindruck machen,
daß beides wahr und zwanglos aus den Charakteren und den Voraussetzungen
der Handlung hervorspringt, beides muß ihn zugleich überraschen und ihm
die Ahnung bereiten, daß es zweckvoll den Gesammtverlauf der Handlung
fördert; die Scene wird um so mehr spannen, je tiefer und poetischer sich
das Charakteristische der Personen darin ausdrückt, je kräftiger der Kampf
contrastirender Stimmungen und Willensrichtungen ist, aus denen das Re¬
sultat herausbricht. Und dieser Kampf und Verlauf muß endlich so empfunden
sein, daß er dem Schauspieler Gelegenheit giebt, durch seine Kunst: Mimik,
Geberde, Nuancen der Sprache die Wirkung zu steigern. Moliere, der Schau¬
spieler, empfindet in jedem Augenblick nicht nur die Wirkung der geschriebenen
Rede merkwürdig sicher, sondern ebenso deutlich die belebende Thätigkeit des
Darstellers bei der Aufführung. Er beengt und drückt diesen nicht, wie leicht
der stärkere Dichter thut, sondern er hebt ihn dadurch, daß er seiner Kunst
überall kleine Ausführungen läßt, komische Wirkungen, welche durch die Rede
an sich nicht erreicht werden. Der Dichter Trissotin will z. B. Damen, die ihn
hoch verehren, seine Verse vorlesen, er hat die einleitenden Phrasen der Be¬
wunderung, welche ihm vorausgespendet werden, überwunden, hat seine Damen
dadurch gespannt, daß er ihnen andeutet, auch eine Prinzessin habe das Ge.
dicht schmackhaft gefunden; er schmeichelt sich, es werde ihnen ebenso gehen und
erwartet Ruhe. Da kommt die Exaltation einer ungeschickten Verehrerin zu
neuem Ausbruch, und während er anfangen will zu lesen, wird er immer
wieder durch die Aeußerung ihrer ungeduldigen Erwartung unterbrochen. Wiederholt
öffnet er den Mund, ohne zu Worte zu kommen. Dieser Kampf zwischen seiner
Lust zu lesen und der Verpflichtung, die Dame reden zu lassen und ihren
Enthusiasmus noch zu bewundern, ist für den Darsteller eine kleine reizende
Gelegenheit, seine Mimik zu verwerthen, er wird bei guter Aufführung ein
Moment von sehr komischer Wirkung. Und diese Wirkung ist keine unnütze
Beigabe, sondern sie ist zu gleicher Zeit höchst zweckvoll, weil sie dem Publikum
genau die gehobene Heiterkeit und Erwartung giebt, welche für die Lectüre des
folgenden Gedichtes nothwendig ist. Nicht weniger schön ist die Weise, in
welcher die Erbärmlichkeit des recitirten Gedichtes durch die entzückte Bewegung der
Hörerinnen, die begeisterte Wiederholung der schlechtesten Stellen bemerkbar gemacht
wird, und ganz meisterhaft sind die Variationen dieser Wirkung, welche nach
den einzelnen Versen des Gedichtes eintreten. Was hier Moliere gewagt hat,
wäre wenig Andern gelungen, das Vorlesen von Versen, und die Kritik
derselben mit dem reichsten dramatischen Leben zu erfüllen. Da die Scenen, in
denen Sonette gelesen werden, hier bereits gelobt sind, möge der Leser auch der
entsprechenden Scene im Misanthrop einige Aufmerksamkeit zuwenden. Sie steht
am Schluß des ersten Actes, Alceste hat in der einleitenden Scene gegen den
Freund Philinte seinen Charakter explicire, die Falschheit, Lüge, Heuchelei der
Welt hat sein edles und reizbares Gemüth wund gemacht, er kann sich in die
Menschen nicht finden, auch die gewöhnlichen Höflichkeiten des Verkehrs sind
ihm unerträglich, so oft sie unwahr sind. Die nächste Scene, das Finale des
einleitenden Actes, hat den Zweck, zu zeigen, wie er sich durch diese Gemüths¬
art einen sonst wackern Mann zum Feinde macht, weil er aus Wahrheitsliebe
die Eitelkeit desselben tödtlich verletzt. Es naht ein Cavalier Orville, und
bittet den Alceste mit allen Phrasen der damaligen Hofsprache um seine
Freundschaft. Alceste sträubt sich in stolzer Bescheidenheit gegen die lobenden
Reden. Orville läßt ihn im Fluß seiner Phrasen nicht zu Worte kommen,
die Ablehnung Ältestes besteht nur in viermaligem Ansatz der Worte: mein
Herr. Er wird jedesmal durch ein neues Lob unterbrochen. Der Schau¬
spieler des Alceste hat also viermal denselben Anfang unterbrochener Rede zu
nüanciren. Nach solch schnellem Aufwärtssteigen in flüchtiger Rede schließt
Alceste diesen Eingang der Scene kräftig ab, indem er mit gehaltenen Wor¬
ten für die Ehre dankt und dem Andern bemerklich macht, daß erst nähere
Bekanntschaft vorausgehen müsse, damit keiner von ihnen den schnellen Bund
zu bereuen habe. Orville, durch die feste Würde wenigstens nicht empfindlich
verletzt, beruhigt sich mit der Aussicht auf Freundschaft, bietet unterdeß seine
Dienste an und geht zum Hauptinhalt der Scene über, indem er von dem
feinfühlenden Sinne des Andern, zugleich um sein Vertrauen zu zeigen,
das Urtheil über ein Sonett erbittet. Alceste deprccirt wegen seiner unvermeid¬
lichen Aufrichtigkeit, das aber gerade ist es, was der Andere will, Orville
beginnt vorzulesen. Auch hier wird die heitere und gehobene Stimmung des
Publikums, welche dem geduldigen Anhören eines Gedichtes als spannendes
Moment vorausgehen muß, sehr zierlich dadurch erreicht, daß Orville sich immer
wieder selbst unterbricht, um seinem Hörer den Charakter seiner Verse vorher
deutlich zu machen. Die hübsche dramatische Bewegung möge man aus den
Worten ersehen:
Wenns denn sein muß, mein Herr, so füg' ich mich.
„Sonett". — S' ist ein Sonett! — „Wem Hoffnung noch" . . .
Das Ganze richtet sich, begreift Ihr wohl,
An eine Dame, die für meine Flamme
Empfänglich schien — „Wem Hoffnung noch- . . . Gebt Acht,
Es sind nickt schwergereimte macht'ge Verse,
Nein, zarte leichte Zeilen voll Gefühl.
Das wird sich zeigen.
„Wem" ... Ich bin begierig,
Ob Euch der Stil genugsam klar und fließend
Bedünken wird, und ob Ihr mit der Wahl
Des Ausdrucks einverstanden seid.
Wir werden
Ja sehn, mein Herr.
Vor allem müßt Ihr wissen,
Ich habe höchstens eine Viertelstunde
Daraus verwandt.
Die Zeit thut nichts zur Sache!
„Wem Hoffnung noch den Busen schwellt,
Dem lindert sie den Schmerz für eine Weile" u. f. w.
Die Vorlesung wird nach jeder Strophe durch einzellige Zwischenreden
der Hörer unterbrochen, von denen Philinte, der Freund Alcestes, laut lobt,
Alceste bei Seite zürnt. Nach dem Ende sammelt Orville erst in wenig Worten
das Lob des Philinte ein, dann wendet er sich zu Alceste. Die Weise, in
welcher dieser zuerst das Urtheil ablehnt, dann auf neue empfindliche Ausforderung
seine Mißbilligung gegen des Orontcs poetische Versuche ausspricht, immer
in Sprache und Haltung eines Mannes von Welt, als ein wirklicher Kenner,
ehrlich und liebenswerch, bis er sogar dem Sonett die innige Empfindung
eines Volksliedes entgegensetzt, das ist sehr schön und wahrhaft poetisch
gefunden, auf diesem Höhepunkt der Scene schwebt die Rede des Alceste warm
und langathmig dahin, der Gegenspieler ist unwillig ausnehmender Hörer.
Die Art, wie Alceste sein Volkslied in freudigem Genuß der schlichten Worte
trällernd noch einmal wiederholt, ist von unübertrefflicher Anmuth. Nach
dieser reichen Ausführung folgen schnelle stichische Wechselreden der Beiden in
schneller Steigerung des Zornes bis zu dem Moment, wo in Orville der Ca-
valier getroffen wird, Philine dazwischen tritt und Orville mit mühsamer Selbst¬
beherrschung den Wortwechsel, der ein Duell zur Folge haben wird, höflich
abbricht und sich entfernt. Darauf wieder kurz der Schluß des Actes, Philine
beklagt die Folgen der Scene, Alceste weist zornig seine Warnung ab. Es ist
ganz in der Ordnung, daß diese Scene auf der französischen Bühne immer
als ein Meisterstück schöner Arbeit geschätzt worden ist. kein Wort zu wenig
und zu viel, alles lebendig für die Darstellung geschaffen, alles wahr aus den
Charakteren entwickelt, schöne Gliederung und edle Proportion in ihren Theilen,
über die das Publikum bei der Darstellung nicht nachdenkt, deren Zusammen¬
bau sie aber als höchst wirksam genießt. Es giebt aber bei Moliere kaum eine
große Scene, in welcher dieselbe bewunderungswürdige Sicherheit und Fülle der
dramatischen Bewegung nicht in ähnlicher Weise erfreute.
Allerdings ist Moliöre in dem Zusammenfügen dieser einzelnen Wirkungen
zu der Gesammthandlung nicht nach jeder Richtung für uns musterhaft. Er
liebt es, seine Charaktere sich in der Einleitung mit einer gewissen Breite über
ihr Wesen aussprechen zu lassen. Das war gewiß für seine Zeit, wo solche
Darstellung der Menschennatur etwas Neues war. vortrefflich, für uns sind
diese exponirenden Scenen einige Mal zu wortreich. Doch weiß er auch hier
klug zu nüanciren. Die Charaktere des Tartüffe, der Celimene, der gelehrten
Philaminte Präsentiren sich als innerlich wenig bewegte, in solchen Fällen
weiß er sehr gut, daß auch die größte Virtuosität im Detail eine Monotonie
nicht fern halten kann, und solche Hauptcharaktere führt er selbst, wenn nach
ihnen das Stück benannt ist, verhältnißmäßig spät auf. er giebt ihnen nur
wenige ausgeführte Scenen und läßt im ersten Act die Gegenspieler und Neben¬
personen das Wesen derselben erklären, so daß ihr Auftreten Befriedigung einer
bereits erregten Spannung ist. Tartüffe tritt erst im dritten Acte aus.
Auffälliger ist uns, daß Meliere im Motiviren sorgloser ist. als wir sein
dürfen. Niemals da, wo er einen Fortschritt der Handlung aus den Charak¬
teren ableitet, wohl aber, wo er die Handlung hinter der Bühne fortspielen
läßt; was außerhalb seiner Tapeten geschehen muß, um die Handlung zu för-
dem, kümmert ihn wenig, und er setzt leicht das ihm Dienende voraus. Auch
in den Mitteln, durch welche er in den Jntriguenstücken seine Handlung fort¬
treibt, folgt er noch den Gewohnheiten der Römer, wie die Maskenkomödie
und die Spanier, welche die Ueberlieferungen des classischen Alterthums eben-
falls behielten, außer dem Behorchen hat er die Briefe, welche auf das Theater
geschickt werden, den Usus ex in-retina, der aus der letzten Noth hilft, und ähn¬
liches. Aber auch im Gebrauch dieser Mittel wird er immer mäßiger, gewählter,
und es wäre Aufgabe einer eingehenden Würdigung, diese allmälige Befreiung
von der Tradition bei ihm nachzuweisen, wobei man freilich nicht vergessen darf,
daß er, der im Drange des Tages arbeitete, zuweilen auch in der letzten Zeit
zu den hergebrachten Formen zurückgriff.
Leicht wird es dem Kritiker der Gegenwart, etwas an Moliöre zu vermis¬
sen. Wer den Zeitgenossen und Kameraden Corneilles mit dem Spanier Cal-
deron vergleicht, der wird den größern Reichthum des Gemüthes an dem Fran¬
zosen .bewundern, wer ihn neben Shakespeare hält, der muß in ihm etwas
Fremdartiges empfinden und, ganz abgesehen von der Jntensivität und dem
Umfang der dramatischen Kraft, auch eine weit andere und einseitigere BeHand
lung der Charaktere. Uns möchte oft auch in den besten Stücken Moliöres
bedünken, als fehle seinen Personen etwas zu dem schönen Schein ganzer Mer-.
schen. Das liegt zunächst in seiner Methode zu gestalten und in den Traditionen sei¬
ner Kunst. Aus den Masken hatte er mit übermüthiger Laune lustige Caricaturen,
aus den Caricaturen endlich vertiefte Charaktere geschaffen. Aber auch an der Komö¬
die höheren Stils, welche er den Franzosen und uns Modernen erwarb, blieb noch
in einzelnen Stellen etwas von Heu seelenlosen 'der alten Maskenbilder hän-
gen. Nie leidet er an der Schwäche schlechter Dichter, in einem burlesken
Moment den Charakter seiner Helden zu opfern, aber in den Linien der Cha¬
raktere selbst ist bei aller Feinheit der Ausführung doch eine gewisse Armuth
sichtbar. Sie reprcisentiren eine Tendenz und sind nur dazu da, um diese zur
Geltung zu bringen. Sie sind in seiner besten Zeit nie Chargen, und wenn
sie hier und da uns so erscheinen, die wir Ecken und Wunderlichkeiten stumpf
abgeschliffen haben, so waren ihre Lebensäußerungen doch in der Zeit des
Dichters zuverlässig wahr. Aber sie sind hart und einförmig. Wenn im Tar-
tüffe der ehrliche Orgon immer wieder sagt und zu erkennen giebt, daß ihm
Weib und Kind nichts gelte gegen seinen Tartüffe, so ist solcher Ausdruck sei¬
ner Befangenheit für unsere Empfindung nicht mehr ganz wahr. In der That
ist Orgon nicht ganz so herzlos geworden, als er sich stellt, denn obgleich er
im Zorn seinen Sohn aus dem Hause scheucht, weil dieser den Freund ver¬
leumdet, so ist doch seiner Tochter gegenüber sehr wohl das Vaterherz mar-
kirt, und es ist nicht blos der gekränkte Freund, sondern auch der geängstigte
Ehemann, welcher unter den Tisch seiner Frau kriecht, um zu lauschen.
Der Dichter empfindet das Wesen des Orgon ganz richtig, aber ihm liegt
nichts daran, ihn unserm Gefühl vertraulich nahe zu stellen. Er ist ihm für
das Stück nichts als der kopflose Düpirte, und nur diese Seite seines Wesens
hat für ihn eine Bedeutung. Schwerlich hätte ein Dichter germanischer Natur
einen Bethörten so dargestellt, er hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen
lassen, in einem und dem andern kleinen Zuge auch Herrn Orgon uns mensch¬
lich näher zu stellen, seine Gutherzigkeit, seine Noblesse zu zeigen. Dadurch
hätte das Stück und die Wirkung nicht verloren, sondern für unsre Empfin¬
dung gewonnen. Wenn wir an den Schicksalen eines Menschen theilnehmen
sollen, seine Verirrungen, seine Verlegenheiten mit behaglicher Theilnahme em¬
pfinden, so muß er uns bis zu einem gewissen Grade, soweit es seine Stellung
im Stück erlaubt, auch nahe gestellt werden. Der lustig spottende Franzose will
nur die Lächerlichkeit oder Verkehrtheit zeigen, während wir das Bedürfniß haben,
den ganzen Menschen vor uns zu sehen. Die Mischung von charakterisirenden
Farben in derselben Person hebt die Wirkung der Hauptfarbe nicht auf, ja sie
erst giebt ihr den vollen Reiz des Lebendigen, den meisten Personen Moliöres
fehlt ein wenig zu sehr diese Mischung zu ihrem dramatischen Leben, eine Farben¬
mischung, welche im Alterthum, soweit uns Kunde davon geblieben, nur einer,
Sophokles, verstanden hat.
Wenn man zugiebt, daß es eine andre Methode der Charakterdarstellung
für das Lustspiel giebt, wo die Handlung nicht vorzugsweise von der Verkehrt¬
heit der Personen abhängig ist, und wo die Charakterschilderung mit allem
Aufwand und Kunst nur diese Verkehrtheit hervorzuheben hat, so ist doch nicht leicht,
Stücke und Dichtertalente anzuführen, in denen sich seitMoliöre ein sicherer Fort¬
schritt des Lustspiels vollzogen hat. Lesstng hat in seiner Minna von Barn¬
helm einen Anlauf genommen, aber es blieb beim Anlauf. Und wie auch er
durch Meliere bestimmt wurde, ist deutlich zu erkennen. Sein Tellheim ent¬
hält mehr als eine Erinnerung an den Misanthrop, auch bei ihm wird am
Schluß die Verwickelung durch den veus ex wackina, den einfallenden Brief
seines großen Königs gelöst, wie im Tartüffe durch die Ordonnanz des großen
Monarchen. Aber allerdings ist in dem deutschen Versuche schon eine andre
Art von Charakterzeichnung als bei dem Franzosen. Der Dichter empfindet
mit größerer Innigkeit die Tiefen des Gemüthslebens in seinen Menschen, der
hervorstechende Charakterzug beherrscht sie nicht mehr in dem Grade, daß nur
auf ihn die Blicke geheftet bleiben, Tellheim ist ein wackrer ritterlicher Mann,
unsres warmen Antheils werth, der nicht nur aus übergroßem Ehrgefühl oder
verletztem Stolz sich von der Welt zurückzieht, sondern der uns auch andre
Seiten seines Wesens zeigt und den Glauben einflößt, daß er wohl seinen
Frieden mit der Welt machen werde, wenn aus seiner Seele entfernt ist, waS
ihm als Stachel von einer erlittenen Kränkung zurückgeblieben ist. Denn
das Stück stellt sich die Aufgabe, in heiterm Spiel die Befreiung des Hel¬
den von dem darzustellen, was seinem edlen Wesen eine leise Beimischung
des Lächerlichen giebt. Gelang es dem Dichter auch nicht vollständig, diese
Idee seines Stückes zur Darstellung zu bringen, wir werden doch warme Theil-
nehmer an dem Proceß einer innern Befreiung. Der Misanthrop Möliöres
dagegen., auch ein edler Mann, der wärmsten Theilnahme würdig, wird vom
Dichter nicht dargestellt, wie er von seinem Menschenhaß frei wird, er bleibt
trotz der lebhaften Bewegung, welche ihm das Stück in die Seele wirft, vom
Anfang bis zum Ende unverändert, ja sein Menschenhaß erhält durch die Ereig¬
nisse fast Recht, wir sind am Ende des Stückes dem Hauptcharakter gegenüber
soweit wie im Anfange. Und das Stück ist nach unsern Vorstellungen ein
Trauerspiel, nur daß in den Situationen vorzugsweise die komische Seite her¬
ausgekehrt wird. Das Interesse Molieres war nur. zwei scharf charakterisirte
Rollen, den ernsten Menschenfeind und die kokette Dame gegenüberzustellen, den
Gegensatz und die Reibungen für seine meisterhafte Scenenführung auszubeu¬
ten. Seine Dichterkraft in der Darstellung der beiden contrastirenden Gemüths¬
anlagen, welche hart und grell wie Mineralfarben nebeneinanderstehen, ist un¬
übertrefflich, die Details der höchsten Bewunderung werth, und mit der Bühnen'
kraft seiner Erfindung kann sich die unsers Lessing nicht vergleichen. Dennoch
ist in Lessing eine höhere und vollkommnere Empfindung des dramatischen Le¬
bens. Das Menschengeschlecht war seitdem ein Jahrhundert älter, klarer,
hoffnungsreicher geworden. Aber über Lessing ist man bei uns trotz der massen¬
haften Lustspielliteratur doch eben nicht hinausgekommen, es sind alles nur An¬
läufe geblieben/
Und in der That hat ein großer und sichrer Fortschritt auf diesem Wege
wieder mit einer Schwierigkeit zu kämpfen, welche Molisre in den Stücken
seiner letzten Periode bereits überwunden hatte. Diese Schwierigkeit liegt in
der Bedeutung der Handlung oder Intrigue für das Stück. Die Charakter¬
zeichnung in der Weise Moliöres macht in den Hauptpersonen eine Wun¬
derlichkeit, Lächerlichkeit. Verkehrtheit zum Mittelpunkt des Interesses, sie wendet
die höchste Dichterkunst, allen Reiz der Erfindung an, diese Seite interessant und
dramatisch wirksam zu machen. Die Handlung wird sehr einfach, sie dient vor¬
zugsweise dazu, die so gezeichneten Charaktere zu Präsentiren. Sie ist in Ge¬
fahr, dabei zur Nebensache zu werden. Was in dem Stück zum drama¬
tischen Abschluß gebracht wird, ist der geführte Beweis, daß Celimene eine
Kokette, daß Tartüffe ein Heuchler, daß Trissotin ein charakterloser Dichterling
ist. Denn daß die Liebenden über die Hindernisse siegen, welche ihnen durch
den verkehrten Charakter in den Weg geworfen wurden, ist nur Nebensache,
auf ihnen ruht nicht mehr das Hauptinteresse des Stückes. Während aber die
Handlung an Bedeutung verliert, tritt die Personenzeichnung mächtig in den
Vordergrund. Das Schildern einer socialen Verbildung in einer Person von
dramatischer Bewegung ist für den Dichter wie für den Schauspieler eine große
und lockende Aufgabe, sie gestattet reichliche Ausführung, schöne Details, ihr
Verständniß der Welt, ihre Kenntniß des menschlichen Herzens vermögen sich
dabei glänzend zu bethätigen, sie vermag in einzelnen Scenen auf das Pu¬
blikum eine jede andre dramatische Wirkung übertreffende Macht zu gewinnen,
sie giebt dem Künstler die beste, kaum durch ein andres Genre der Dar¬
stellung erreichbare Gelegenheit, seinem Volk ein Lehrer der Tugend und Weis¬
heit zu werden. Und das war Moliöre für seine Zeit, so hoch faßte er selbst
seinen Beruf, und als aufgeklärter Volkslehrer ist er seit zwei Jahrhunderten
von seinen Franzosen mit Pietät verehrt worden.
Der Lustspieldichter dagegen, welcher Menschennatur reicher und voller zu
fassen sucht, wie Shakespeare vermochte, wie Lessing begann, und wie sich seit
ihm die kräftigeren Talente der Deutschen bemühen, muß auf die Handlung
größeres Gewicht legen, ihm erschöpft sich das Interesse nicht in dem mannig¬
faltigen Anschlag einer und derselben scharstönenden Saite, die innere Bewegung
seiner Menschen ist nicht nur die einer leidenschaftlichen Erregung, welche mit
der Situation abschließt, sondern bei ihm soll auf den Charakter auch inner¬
halb gegebener Grenzen Einwirkung geübt, er soll im Fluß erscheinen, und gewisse
Wandlungen sollen in ihm vollbracht werden und zu einem Ende führen, welches
auch dem Charakter einen befreienden Abschluß giebt. Deshalb wird hier
wieder die Handlung bedeutender, als sie in den Intriguenstücken Moliöres
war, auch die Hauptpersonen sind in anderer Weise der dramatischen Handlung
eingeordnet, als bei jenen Charakterstücken. Da liegt nun für ein mäßiges
Talent die Gefahr nahe, wieder die Anekdote in den Vordergrund zu stellen,
der Hauptreiz ist das spannende in dem Verlauf der Handlung, das Publicum
wird vorzugsweise dadurch befriedigt, den Zusammenhang zu erfahren, die
Schauspieler werden Referenten, welche allerdings in sehr lebendiger Weise
eine Geschichte vortragen, das Lustspiel ist in Gefahr eine dramatisirte Novelle
zu werden, wie es in der letzten Zeit Moliöres dramatisirte Satire war. In
diesem Zeitraum dramatisirter Novellen treibt unser Lustspiel kraftlos einher.
Und wenn wir deshalb unsere Stellung zu dieser heitersten Kunstgattung kurz
bezeichnen, so müssen wir sagen, wir haben durch Meliere zuerst gelernt
scharf zu charakterisiren, wir haben durch Lessing, durch unsere Tragiker und durch
Einführung Shakespeares in Deutschland gelernt, Charaktere, die unser deutsches
Gemüth befriedigen, zu schaffen, aber uns hat der Mann gefehlt, welcher den
gewonnenen Erwerb in großem Sinne für unsere Zeit verwerthete.
Vielleicht die Kraft, sicher auch die Freiheit und das Behagen. Wir sind
lange ein stilles und sinniges Volk gewesen, jetzt ist zu dem Ernst und dem
Nachdenken auch der Eifer und Haß gekommen, wir sind in den Anfängen einer
großen politischen Erregung, und die Kunst der Darstellung ist ein anspruchs¬
loses Sonntagsvergnügen der Genügsamen und Mäßigen geworden, die Bühne
in diesem Augenblick durchaus nicht der Spiegel unserer Zeit und unseres
Lebens.
Das wird anders werden. Und wenn es erlaubt ist. hier eine Ansicht
auszusprechen über den nächsten Fortschritt, welchen unser Lustspiel zu machen
hat, so wäre es die. daß sich unser Lustspiel aus der Trivialität des Anekbotenkrams
auf der Bühne durch die Einführung einer gehobenen Darstellung erheben wird,
welche den Dichter und Schauspieler zwingt, den Ton guter Gesellschaft zu ideali-
siren. Der Uebersetzer des Mvliöre hat in seiner klaren und freundlichen
Weise genau das Richtige gesagt, wenn er den Wunsch ausspricht, daß auch wir
eine höhere Komödie in Versen gewinnen möchten. Natürlich, der Vers allein
thuts nicht. Aber mit der Einführung des Verses geht vieles Abgelebte ver¬
loren und wird dem Dichter der Zwang aufgelegt Neues zu finden. Es scheint
uns auch, daß ein gewisses Bedürfniß darnach auf unserer Bühne fühlbar
geworden ist, unsere Schauspieler würden, wie einseitig ihre Kunstentwicklung
sonst sein mag, den dramatischen Vers des Lustspiels, wenn sie erst an
seinen schnelleren und springenden Lauf gewöhnt wären, behaglicher ge¬
brauchen, als den der Tragödie. Und dies ist der Gesichtspunkt, von dem wir
diese gute Uebersetzung des Moliöre für eine Erscheinung halten, welche gerade
zu rechter Zeit in unser Kunstleben hineinfällt, und das Buch für ein Lehr¬
buch, das alle fördern wird, welche den Vers des Lustspiels in origineller und
wirksamer, d. h. in schöner Behandlung erkennen wollen.
Der Kriegsrath Scheffner und die Königin Louise. Von Rudolf Rcickc. Königsberg.
1865. Koch. 31. S. 8.
Unter den vielen tüchtigen und eigengearteten Männern, welche der Osten
Preußens namentlich in der Regenerationszeit von 1808 bis 1810 als mehr
oder minder einflußreiche Förderer des Staatswohles aus seiner Bevölkerung
hervorgehen ließ, nimmt der Kriegsrath Johann Georg Scheffner einerseits durch
seine Originalität, dann durch sein Verhältniß zur königlichen Familie und be¬
sonders zur Königin Louise besondere Beachtung in Anspruch. Einst ein tapferer
Soldat unter dem alten Fritz, als gereifter Mann mit Kant, Hamann und
Hippel eng befreundet, war er als Greis mit seiner Rührigkeit für alles Ge¬
meinnützige, vorzüglich für Hebung des Unterrichts, und mit seinem ehrlichen,
in originellster Sprache sich äußernden Freimuth eine der geachtetsten Persönlich¬
keiten des Kreises, der sich in Königsberg um den Hof sammelte.
Auch der König und die Königin fanden Gefallen an dieser eigenthüm¬
lichen Natur, machten ihn zu ihrem Vertrauten und ließen sich mehr als ein¬
mal in wichtigen Dingen in freiester Rede von ihm Rath ertheilen. Zeugniß
davon sind die hier mitgetheilten achtzehn Briefe, die aus d»in im königlichen
Archive zu Königsberg aufbewahrten schriftlichen Nachlasse Schcffners zum ersten
Mal veröffentlicht wurden, und die besonders auf die Denkweise der Königin
ein interessantes Licht werfen. Einer dieser Briefe begleitet die „ciriaraoterW"
von de la Bruyöre, die der Kriegsrath der Königin mit Rücksicht auf ein mit
derselben gehabtes „kleines Gespräch über die den Regierenden höchstnöthige
Menschenprüfung und Kenntniß" übersendet. Mehre fernere Briefe stehen in
Verbindung mit dem Wunsche Scbeffners, die Erziehung des Kronprinzen
Dellbrück genommen und in andere Hände gelegt zu sehen, was in einer andern^
Unterredung mit Louisen angeregt worden war. und wobei der alte Gewissens¬
rath der Königin an Professor Süvern dachte. In einem derselben, welcher einer
Uebersicht über gewisse Vorlesungen Süverns und einem Bande von Herders
Schriften als Begleiter diente, wagt der wackere alte Herr sogar die ganze Um¬
gebung des Hofes anzugreifen und eine Reformirung derselben als dringlich
zu bezeichnen. Es heißt da, nachdem der Briefschreiber versichert, daß er gern
sein Leben hingeben möchte, wenn er „den von Gott Ew. M. verliehenen Geist
dahin bringen könnte, den Reichthum seiner Gaben königlich zu gebrauchen."
unter Anderem:
„Glauben E. M. der Versicherung. daß es mir und manchen andern unbe¬
greiflich ist, wie unter dem Vorsiz einer in jedem Wortverstande höchst liebens¬
würdigen Königin, und eines Königs, den alle Welt für verständig und ein¬
sichtsvoll, sowie für höchst bieder und rechtschaffen hält, ein mächtiges Reich
ein solches Mißgeschick hat treffen können, wofern man nicht an die Existenz ge¬
wisser kleinlicher Nebeneigenschaften des Geistes und Herzens glauben will, die
freylich durch ein immerwährendes Treiben und Reiben die hohen, die edelsten
Geistes, und Willenskräfte schwächen, zu sich herabziehen und unwirksam zu
machen vermögen.
Mehr als einmal hab ick gewünscht, daß in Einem Moment alle zeitige
Hofumgebungen sterben, und weil das Auge des Königs sich ungern an neue
Gestalten gewöhnt, ihre Leichname, der alten Lehre von der Seelenwanderung
zufolge, sofort von lauter wackern, klugen, fortschrittlustigen Geistern neu belebt
werden möchten. Würde nicht der König beym Anblick eines ganz anders be¬
seelten --zu E. M. gesagt haben: Luise, woher kommt diesem die Weis¬
heit und Energie? und wenn Sie Ihm dann auch die an Ihren Umgebungen
bemerkte glückliche Metamorphose mit Ihrer ganz unnachahmlich freundlichen
Anspruchslosigkeit erzählt hätten — Ach Gott! welch ein Heil könnte Ihnen,
Ihren Kindern, allen und allem wiederfahren, hätten Sie sich erst zu diesen
Ihren beyderseitigen Herzen und Einsichten beßer zusprechenden Umgebungen
ohne Scheu vor solcher Verwandlung, gewöhnt!
Wußt ich nicht, wie zuverläßig die Preußen E. K. M. für das Einzige
Wesen im Staat« halten, welches dem Benehmen im Großen und Kleinen einen
andern vortheilhaften Schwung und dem den König und die Nation vereinen¬
den Bande Unauflöslichkeit schaffen könnte, glaubt ich nicht fest, daß Sie alle
dazu erforderlichen Kräfte besäßen, so hätt' ich es nicht gewagt, vorstehendes
zu schreiben, und würde noch weniger mich erdreusten, es seiner Beherzigung
zu empfehlen. Die Ueberzeugung, daß die hohe Liebenswürdigkeit einer Königin,
die preißwürdige Rechtschaffenheit eines Königs und die Heiterkeit Ihres ganzen
häußlichen Lebens nichts einbüßen dürfen, wenn man alles, was zu Regierungs¬
geschäften gehört mit dem Meccabalsam des ernsthaften Verstandes und alle
Zeitvertreibe mit dem Rosenöhl fein cultivirter Genialität tangirte, und dadurch
alle Reden geschmeidig erhielte, diese Ueberzeugung muß die Offenherzigkeit
meiner Aeußerungen entschuldigen. Ihre Hauptquelle ist mein grenzenloses
Zutrauen zu E. K. M. innerm Wehrte, dessen Ausstrahlung in diesen Gift-
nebelzeiten ein Licht über Preußen verbreiten würde, das das schreckliche fran¬
zösische Feuer-Meteor nie seinem Lande zu schaffen vermögen wird."
In einem andern der in Sachen der Erziehung des Kronprinzen ge¬
wechselten Briefe dringt Scheffner ernsthaft und unumwunden auf die Wahl
eines andern Erziehers, indem er unter anderm sagt: „Wollen E. M. und der
König, ein Paar so herrlicher Menschen, und sollten sie wohl so schrecklich
gnädig und gutmüthig seyn, die Beybehaltung eines täglich gefährlicher werden¬
den Uebels zu gestatten, um nur der Unannehmlichkeit einer persönlichen Weg¬
schaffung auszuweichen?"
Nicht oft wird, um auch eine Probe der komischen Ader des Kriegsraths
zu geben, in launigerer Weise um eine königliche Gnadenbezeugung gebeten
worden sein, als in Brief Ur. 9 der reickeschcn Sammlung, in welcher Scheffner
für den königsberger Admiralitätsdirector Klein um den von diesem im
Stillen sehnlich gewünschten Geheimrathstitel petitionirt. Es heißt da: „Mir
ist zwar dieser heimliche Wunsch ein neuer Beweiß für das bekannte Sprich¬
wort: Alter schabt der Thorheit nicht, allein der Mann hat eine beträchtliche
königl. Kasse vor den Franzosenhänden gesichert, ein königl. Schiff, welches
4000 Thlr. gekostet von ihnen errettet, ist außerdem bey einigen Strohmfahrten
E. K. M. Steurmann, auch der erste Veranlasser der Schloßteichsbeleuchtung
am 3. August gewesen, und würde einem braven, nicht mehr jungen Mädchen
seine Rechte anbieten, wenn er in der Linken das Geheimrathspatent vorzeigen
könnte: sollten diese Umstände, besonders aber die Verminderung des Chors
alter Jungfrauen nicht E. K. M. staatsmütterliches Herz bewegen den König zu
bitten, auf Kleins graues Haupt den Geheimrathstitel unmittelbar vom königl.
Himmel doch ohne die Schwere der Stempel, und Chargenjura fallen zu
lassen."
Die Perle der Sammlung endlich ist einer der Briefe der Königin an
Scheffner, der für die obengedachte Uebersendung von Heften der süvcrnschen
Vorlesungen dankt, die Empfindungen Louisens bei Lectüre derselben darstellt und
sich über einige ihr dunkel gebliebne Stellen Aufklärung erbittet. Er ist sehr
charakteristisch sowohl für die Denk- und Empfindungsweise, wie für die
Bildungsstufe der hohen Briefschreiberin, und so lassen wir ihn ganz folgen.
Die Königin schreibt:
„Guten Morgen Herr Scheffner, Ich wünsche, daß Sie sich besser befänden,
wie ich. Heute schicke ich Iren die 4. und 6. Vorlesung zurück, die mir un¬
aussprechlichen Genuß verschafften. Könnt ich nur einmahl selber Professor
Süvern dafür danken, allein ich schäme mich geradezu Ihnen herausgesagt
meiner Unwissenheit. Ich empfinde recht tief die schöne Wahrheiten, auf
der seyn ganzes Princip ruht; und doppelt fühl ich mich hingerißen. die Auf«
gäbe meines Lebens: mich mit klarem Bewußtseyn zur innern Harmonie
zu bilden nicht zu verfehlen, sondern ihr zu genügen.
, Recht schade ist. daß die schöne Griechen Welle voll Unschuld, und die
kräftige Welle nicht hat dauren können, die Zeit des Abfalls und ihre Niedrig¬
keit hat mich wahrlich ergriffen, weil leider die jetzige ihr sehr gleicht. —
Wollten nur die Menschen die Augen nach innen wenden, vielleicht fänden
Sie noch Kraft das Sclaven Joch abzuschütteln; aber thun sie es nicht so
sieben keine alte Ritter auf, für das Recht, den Glauben und die Liebe zu
kämpfen. Mit wahrer Andacht kniete ich in Gedanken, an dem Altar der
Burg Capelle und bettete für beßere Zeiten zu dem Allmächtigen. Erlebe ich
sie auch nicht mehr, geht es nur meinen Kindern und durch ihnen meinem
Volk einmal wohl! Ich weiß die Zeiten machen sich nicht selbst, sondern die
Menschen machen die Zeit, deswegen sollen meine Kinder gute Menschen werden
um wohlthätig auf ihr Zeitalter zu wirken. —
Wenn ich so die OaKiers ansehe, wie sie mit Bleystift besudelt sind, so
schäme ich mich schon wieder, weil M. Stein sie so lesen wird. Er kennt mich
noch weniger als Sie, was wird er denken. Die Hyroglyfen meines Herzens
kann der nur rathen, der mich genau kennt. Vergangenheit, eigene Erfahrungen
und Schicksaale, Gegenwart, Zukunft, Hoffnung alles hab'ich darin angedeutet,
und hätt' es noch viel mehr gethan, wüßt ich nicht, daß außer Ihnen noch
Jemand sie sehe. Doch einige Fragen. Welche Kriege nennt man die punischen
Kriege? Gingen diese alle gegen Carthago? Die Gracchischen Unruhen, welche
sind die? Verzeihen Sie. Sie haben es mir aber erlaubt. Dann bitt ich Sie
die vierte Vorlesung aufzuschlagen, und die Lignen wo die Kreuzchen sich be¬
finden zu überlesen. Die Zeit, wovon er da spricht, ist sie nicht die. welche
Süwern das Zeitalter der Germanen nennt? und wo die schöne edle Ritterzeit
zu ihrer schönsten Blüthe gediehen war?
Wenn der M. Stein die Hefte gelesen hat, so bitt ich Sie. schicken Sie
sie mir wieder. Ich blättre dann hin und wieder, zerstreue mich so herlich von
der drückenden Gegenwart hinweg, mache mir die angestrichnen Stellen immer
mehr zu eigen und vergesse es nicht mehr, hoffe ich. Ich habe noch eine
ganze Seite zu lesen, dann mach ich das Paket zu. Adieu bis — dahin.
Habe ich recht verstanden, so lößte sich das Zeitalter der Germanen auf,
weil sie mehr ihren Gefühlen und ihrer Phantasie folgten, als dem Verstände,
der (wie man sagt) richtiger wägt, gehör gaben. Haben Sie die güte und
sagen mir waß Hierarchie eigentlich ist, ich habe keinen deutlichen Begris davon.
Nun ist es wahrlich genung, und ich hab' Ihnen schön mit Fragen belästigt.
Frägt man aber nicht, und schämt sich seiner Einfälle gegen jeden, so bleibt
man immer dum. Und ich hasse entsetzlich die Dumheit. Ihre Nachsicht macht
alles wieder gut, und heilet die Wunden, die ich heute der Eitelkeit schlug,
die ich gerne dem besseren opfere. Sie wollten mir nun nicht das sechste
Hesse schicken, sondern die. Schlußreden. Warum? Ich bin mit Freundschafft
und Hochachtung Ihre
Können Sie morgen früh zu mir kommen, so wird es mich freuen, doch
lieber übermorgen. Wollen Sie einen Wagen haben, so schicken Sie im
königl. Stall, ich werde dafür sorgen, daß Sie einen bekommen."
Scheffner antwortete hierauf am nächsten Tage, indem er zunächst der
Königin in artiger Form Rath in Betreff ihrer eignen innern Förderung und
dann wieder in Bezug auf ihre Umgebung ertheilte. „Wie wenig Recht," sagt
er ihr nicht ohne einige höfliche Uebertreibung, „haben doch E. K. M. darüber
zu klagen, daß Sie nicht immer alles verstünden. In den Kunstwörtern und
Nahmen steckt ja nicht die hohe nüzliche Weisheit der Geschichte, aber wohl in
der Erkenntniß des Geistes der Personen und Handlungen, die Einfluß auf
die Veränderungen des Menschengeschlechts gehabt haben, und die Ihrem Sinn
und Gefühl so eigen ist, daß Sie vermittelst derselben Ihren herrlichen Hang
zur innern Harmonie mit Bewußtsein ausbilden würden, wenn Sie
nur anhaltend recht ernstlich es wollten, und fest darauf beständen, daß alles
was Sie umgiebt durchaus die Augen nach innen wenden müßte, bey Sirast
Ihr unaussprechlich einnehmendes Angesicht nicht mehr zu schauen."
Dann kommt er wieder auf sein Thema von der Erziehung des Kron¬
prinzen zu sprechen, wobei er sagt:
„Ein Paar ganz verständige Menschen, die die Prinzen aus ihren Strand¬
reisen zu sehen Gelegenheit gehabt, sagten vorgestern zu mir, schad um den
Kronprinzen, daß man seine Geistesfähigkeiten nicht besser zu benutzen sucht
und sich der Gefahr aussetzt, ihn bey längerer Versäumnis; in der Folge nicht
mehr gehörig bilden zu können. —
Durch ein schon mündlich abgelegtes Bekenntniß hab ich E. K. M. bereits
zu bezeugen gewagt, wie sehr mir dieser Punkt an und auf dem Herzen liegt
— so oft ich den Minister Stein spreche wird seiner erwähnt, aber wenn im
Mutterherzen nicht Muth genug ist beym Vater auf eine Abänderung anzutragen
und darauf zu bestehen, wer wird es denn vermögen?"
Endlich folgen die von der Königin erbetenen Erklärungen der ihr beim
Lesen des süvernschen Manuscripts unverständlich gebliebenen Ausdrücke und
Anspielungen. Auch sie sind ziemlich charakteristisch, und so mögen sie zum
Schlüsse dieser Auszüge aus dem Briefwechsel wörtlich hier stehn. Scheffner
erwidert:
„Die punischen Kriege wurden in 3 Reprisen von den Römern gegen
Carthago geführt. Im zweiten glänzte Hannibal, im dritten wurde Carthago
zerstöhrt.
Die Gracchen waren 2 Brüder aus einem vornehmen römischen Geschlecht,
ihre Mutter war die berühmte Cornelia, die einer andern Römerin, die ihr«
Kostbarkeiten zu sehen wünschte, diese ihre beyden Söhne vorstellte. Beyde
Gracchen waren höchst edle Menschen, aber ein gewisser excentrisirender Stolz
Verleitete sie ein wenig g, 1s, Mrabög.u zu handeln, manche dem Volk günstige
Gesezze, unter andern das über die gleiche Vertheilung der Aecker in Vorschlag
zu bringen. Beyde konnten ihren Plan nicht durchsezzen, sondern verlohren
durch die Hand roher Verwandten das Leben.
Das Wort Hierarchie wird am gewöhnlichsten vom Priester-Regiment
und -Ordnung gebraucht, man bedient sich aber seiner auch bey anderen Negie-
rungsordnungen mit Beysetzung ein Beyworts; so giebt es denn eine Hierarchie
wilitaire, Hierarchie ac xolies, ne ^ustiee :c. Die angekreuzte Stelle möchte
wohl nicht das Zeitalter der Rilterzeitblüthe betreffen, sondern eine Zeit, die nur
existiren kann und wird unter einer Königin wie E. M., die durch Einsicht, Muth
und Beispiel alles Ihr ähnlich adel und gemüthlich zu machen gebohren ist. Schade
ist es freylich um die Griechen- und Römerwelt; da aber E. K. M. sehr gut
getroffen haben, daß durch zu fein gewordene Gefühle und durch ungezügelte
Phantasie-Bedürfnisse das glücklichste Zeitalter der Germanen aufgelöst sey, so
müste die jezzige Zeit um so mehr darnach streben die Einfachheit der Griechen
und die Stärke der Römer sich anzueignen."
Nicht immer war man im Lande der Alpen so glaubenseinheitlich, wie die
Klerikalen dort vorgeben. Gerade als sie hier ihre schönsten Tage verlebten,
regte sich mit einem Male der Drang, sie los zu werden. Es mag für sie
bitter sein, sich nachweisen lassen zu müssen, wie viel sie selbst zur Bewegung
beitrugen, die sich, zu Luthers Zeiten gegen sie erhob, dies ändert aber nichts
an der Thatsache. In München und Innsbruck wollte man diese verdrehen und
fälschen, um so mehr ist eine schlichte und wahrhafte Darstellung jener Vor¬
gänge angezeigt.
Auf dem päpstlichen Stuhle faß 1492—1503 Alexander der Vierte, oder,
wie wir ihn nennen wollen, der Lasterhafte. Rom war ein Pfuhl des Mordes
und der Unzucht, der Grausamkeit und unerhörter Habgier. Schon 1501 wur¬
den Opferbüchsen zur Gewinnung eines Jubelablasses aufgestellt, sein Ertrag
sollte die Kosten eines Kreuzzugs gegen die Türken decken, der aber nie zu
Stande kam. Noch kecker und umfangreicher betrieben das Geschäft des Abla߬
verkaufs jene Commissionen, die 1517 für den Bau von Se. Peter Deutschland
durchzogen. Reue und Beichte schienen Nebensache, denn es gab Jndulgenzen,
die man sich auch ohne sie durch Geld erkaufen konnte. Die Werkheiligkeit,
der Ceremoniendienst hatten die höchste Stufe erreicht, und wenn auch kein
Luther erstanden wäre, die Nothwendigkeit einer Reform lag in jenem un¬
wandelbaren Gesetze, dem die Welt durch eine weise Fügung unterworfen ist.
Schien es doch, als ob, wie aus jenen Beschwerden der deutschen Nation er¬
hellt, die 1510 auf dem Reichstag zu Augsburg dem Kaiser übergeben wurden,
ganz Deutschland dem römischen Hofe tributpflichtig und die geistlichen Pfründen
nur dazu geschaffen wären, um Leute von vornehmer Abstammung zu versorgen,
oder dem Wohlleben einzelner Bevorzugter zu stöhnen, während sie ihren Dienst
durch karg bestellte Vicare versehen ließen. Die Klage über das ausgelassene
Leben der Geistlichen war allgemein, einen der vielen Beweise dafür liefert die
1522 zu Mühldorf gehaltene Synode, welche die Thatsache auch von geistlicher
Seite feststellt; der Unterricht des gemeinen Mannes wurde vernachlässigt, böses
Beispiel trat an seine Stelle. Daß sich gegen diese Verkehrtheit und die starren
Dogmen der Scholastik die Gebildeten erhoben und den Kampf mit der Ver¬
finsterung aufnahmen, war selbstverständlich, ihre Wirkung auf die Menge, die
im Aberglauben erzogen, aber kaum in hohe Rechnung zu stellen. Zur Er¬
nüchterung des Volkes bedürfte es nicht des geschriebenen, sondern des leben-
tigem Wortes. Im Gewissen der Deutschen lag der fruchtbare Boden, in der
es bald kräftige Wurzeln trieb.
Die meisten Fürsten hatten davon so wenig als der mit ihnen verbündete
Klerus. Erzherzog Sigmund von Tirol entblödete sich nicht 1490 öffentlich aus
dem Landtag in Gegenwart des Königs Maximilian zu klagen, daß man seine
natürlichen Kinder Mangel leiden lasse, und mußte die Erwiderung hinnehmen,
er habe über vierzig uneheliche Söhne und Töchter, die meisten der ersteren
seien mit 1000 si., Roß und Harnisch oder einem Jahrgeld von 30 si. versehen
worden, sie kämen aber immer wieder um Aushilfe. Maximilian selbst hatte
mehre natürliche Kinder, wovon wir nur jene Gräfin Margarethe von Helfen¬
stein, deren Gatte zu Weinsberg in die Spieße gejagt wurde, und Georg von
Oesterreich, der auf die Empfehlung seines Vetters, des Erzherzogs Ferdinand
als Bischof von Brixen postulirt wurde (1525), erwähnen. Gleichwohl verordnete
er in seiner Halsgerichtsordnung für die Grafschaft Tirol von 1499, daß die
Kindsmörderinnen lebendig begraben und ihnen ein Pfahl durch den Leib ge¬
schlagen werde, eine grausame Härte, auf der wir ihn auch gegen jene betreten,
die seine Hirsche bürschten und dafür mit ihrem Leben büßen mußten. Ein
anderer deutscher Fürst, Herzog Ulrich von Würtemberg, der mit des Kaisers
Nichte Sabina von Bayern-München verehlicht war, lebte in Ehebruch mit der
Frau seines Hofbeamten Hans von Hütten, und ermordete diesen, als erdessen
Verhältniß zu seiner eigenen Gattin entdeckte.
Nicht besser als um die sittlichen stand es um die rechtlichen Verhältnisse
im deutschen Reiche, der Feudalstaat hatte die Fürsten wie die Ritter zu eigen¬
mächtigen Herren herangezogen, die keine andere Schranke kannten als die
äußere Gewalt, viele dieser kleinen souveraine lauschten nur auf den günstigen
Augenblick, um das gegebene Wort zu brechen, fremdes Gut zu rauben und
neue Abgaben zu ertrotzen. Die Erblichkeit der Lehen ließ ihre Besitzer zu fast
unumschränkter Macht gelangen, Rom schürte die Gluth der Zwietracht, indem
es dem Scheine nach die Freiheit der Fürsten in Schutz nahm, dabei aber die
treuherzigen Deutschen als Mittel benutzte, um seine Herrschaft zu befestigen
und ihre Säckel zu leeren; die Macht der Kaiser wurde immer kleiner und
schwächer, schon die Uebertragung der Krone mußten sie durch Capitulationen
mit den Kurfürsten, jede spätere Hilfe mit neuen Zugeständnissen erkaufen.
Wie sollten sie da das gute Recht mit rücksichtsloser Strenge üben? Beim
Versuche, den Landfrieden durch ein Kammergericht herzustellen, gewann es den
Anschein, als wollte Maximilian nur seine Hausmacht erweitern, man sah im
gemeinen Pfennig, der jene Kosten decken, in der Aushebung der Mannschaft,
die zur Execution der Urtheile dienen sollte, nur die Mittel, seinen Einfluß
im Innern zu mehren, seine auswärtigen Unternehmungen zu unterstützen.
An diesem Mißtrauen, dieser fortwährenden Reibung zwischen dem Kaiser und
den Reichsständen scheiterte der Erfolg aller Reichstagsverhandlungen von 1495
bis 1518, das Schlimmste dabei war, daß Maximilian weder den Geist noch
die Kraft hatte, der Schöpfer einer neuen Zeit zu werden. Er war der Sohn
des scheidenden Mittelalters, „der letzte Ritter"; darin lag ein vorzüglicher
Grund, warum er seine Aufgabe nicht erfüllte.
Mit kühner Begeisterung ergriff er jeden seiner weitcuissehenden Pläne,
warf leichtfertig dem Gegner den Handschuh hin, erlahmte aber bald und
unterließ, den Kampf fortzusetzen. Nicht blos bei der Einführung der neuen
Reichsverfassung, auch bei der Reform der Kirchenordnung und namentlich den
vielen von ihm begonnenen Kriegen wiederholte sich immer dasselbe Schau-,
spiel. Das romantisch Ritterliche, das solche Turniere in großem Stile
boten, war das Element, worin er sich heimisch fühlte. Diesem hervorragenden
Charakterzug begegnen wir auf der glänzenden Brautfahrt um die burgundische
Marie, den mißglückter Zügen gegen die Franzosen, Ungarn, Italiener und
Schweizer, im neunjährigen Kriege gegen Venedig und noch zuletzt auf dem
Reichstag zu Augsburg bei der beabsichtigten Kreuzfahrt gegen die Ungläubigen.
In allen seinen Kriegen war er der ersten Aufwallung des Muthes gefolgt,
ohne die Kräfte zu bedenken, auf die er nachhaltig rechnen durfte. Als der
gemeine Pfennig nicht eingehen wollte, beschäftigte ihn aus dem Reichstag zu
Augsburg von 1500 der Gedanke, durch eine Art von Aushebung ein stehendes
Heer zu bilden, je vierhundert Einwohner sollten einen ausgerüsteten Mann
zu Fuß stellen. wodurch er eine Macht von 30,000 Mann aufzubringen hoffte.
Es mochte ihm hierbei die Einrichtung Ludwig des Elster vorschweben, der durch
seine gsris ä'armW und sreders ä'oräonr>g.rie6den Grund zu einem stehenden Heere
legte. Die Landsknechte, mit denen er es in Brabant und Flandern versucht
hatte, waren auf die Dauer der großen Kosten halber nicht zu halten . und das
Reich wollte zu einem ständigen Institute dieser Art nicht behülflich sein. Was
mit den Reichsständen nicht gelang, dachte er in Tirol einzuleiten, wo die
Pflicht zum Zuzug in Kriegsfällen schon lange bestand, es handelte sich nur
darum, sie besser zu ordne». Den Anfang machten seine Commissarien auf
dem Landtag zu Sterzing 1502, wo sie sich von den Ständen einer Kriegshilfe
von'7815 Mann, 425 Pferden und dem zehnten Pfennig versicherten. Auf
dem späteren zu Bozen 1509 wurde bereits ein Anschlag von 5000 Mann ge¬
macht, auf die Stifte. Prälaten, den Adel, die Städte und Gerichte vertheilt
und ihre Vermehrung bis auf 20,000 Mann im Falle der Noth ausgesprochen,
schon damals aber die Stellung von 10,000 Mann zugesichert. Dies bot die
Grundlage zum tiroler Landlivell von 1511, worin jedoch, wie schon zwei Jahre
früher, die Beschränkung festgesetzt war, daß in Zukunft ohne Wissen, Willen
und Rath der Landschaft kein Krieg durch das Land begonnen werde. Diese
gerühmte rrmMa, ekarts, von Tirol war im Grunde nichts als eine Zuzugs-
ordnung, welche der Venezianer Krieg hervorgerufen, die darin noch sonst ent¬
haltenen sogenannten „Freiheiten" beschränkten sich auf Privilegien einzelner
Stände und Familien. Es war dem Kaiser auch wenig damit geholfen; denn
da die Mannschaft außer Land zu ziehen nicht verpflichtet war, sicherte daS
Aufgebot nur seinen Rücken, für den Kampf selbst benöthigte er außerdem noch
Geldbeiträge, und forderte deren alljährlich noch größere, so daß die Stände
auf dem Landtag von 1517 zu Innsbruck klagten, der Krieg mit Venedig hätte
sie schon über zwei Millionen Gulden gekostet, während sie unter Erzherzog
Sigmund nie mehr als höchstens 15.000 si. gesteuert, ihre Freiheiten ständen
in Gefahr, es nütze nichts, oftmalige und kostspielige Landtage zu halten,
wenn die kaiserlichen Postulate doch bis auf den letzten Pfennig gewährt wer-
den sollten. Gleichwohl mußten sie beim großen Landtag Von 1518. auf dem
auch die Ausschüsse der fünf Herzogthümer und der Vorlande erschienen, dem
Kaiser für seinen Hofstaat und zur Einlösung der verpfändeten Bergwerke
120,000 si. in vierjährigen Raten bewilligen, während die ganze, den sämmtlichen
Erbländer auferlegte Steuer volle 400,000 si. betrug.
Der große Kriegsaufwand hinderte den Kaiser nicht, nebenher auch auf
Feste und Jagden ungeheure Summen zu verwenden. So wird erzählt, daß
nur seine Rüstung bei dem zu Augsburg 1510 mit dem Kurfürsten Friedrich
gehaltenen Scharfrennen den Werth von 200.000 si. erreicht habe. Bei der
Doppelverlobung seiner Enkelin Marie und der ungarischen Prinzessin Anna
verbrauchte er 150,000 si., dafür konnte er oft auch nicht seine dringendsten
Bedürfnisse decken. Im Jahre 1601 mußte seine und seiner Gemahlin Zeche
bei ihrer Reise durch Sterzing und Bruneck der Bischof Melchior von Brixen
bezahlen, und die Bürger von Innsbruck wollten 1518 wegen früherer Rück¬
stände selbst seine Pferde nicht einlassen. Fast immer waren es die Fugger. die in
den Tagen der Noth gegen hohen Wucherzins Rath und Hilfe schafften. Neue
Zölle wurden errichtet, für den freien Durchzug der Waaren während deS
Venezianer Krieges namhafte Summen, z. B. 3000 Ducaten für 200 Saum¬
last, abgeheischt und den größern Häusern für ihre unentbehrliche Geldhilfe die
Mittel gestattet, ihren Handel wie ein Monopol auszunützen. Sie bestimmten
die Preise nicht nur für Gegenstände des verfeinerten Genusses, sondern auch
für die gewöhnlichen Lebensbedürfnisse, die sie durch Vorlauf vertheuerten und
dem Verkehr vorenthielten. Nach Tirol hatten sich die Fugger durch die Ver¬
pfändung der Bergwerke hereingezogen, sie steigerten die Lebensmittel auf daS
Dreifache und brachten geringhaltiges Geld ins Land, das ebenfalls zur Ver-
theuerung beitrug. Der Kaiser wollte diesem Uebel zwar durch eine Münz¬
ordnung abhelfen, allein es blieb auch mit dieser beim Versuche.
Auf dem zu Innsbruck 1518 gehaltenen großen Landtage führte der Aus-
schuß über diesen Unfug laute. Klage, das „Glaitgeld" für die Kaufmannsgüter,
das Monopol zum Vieh- und Scifenhandel wurden aufgehoben, den kaiserlichen
Beamten, ja den Inländern überhaupt der Eintritt in auswärtige Kaufmanns-
gesellschaften und diesen selbst der Verkauf außer den Märkten verboten. In
der Entscheidung hieß es, daß dadurch sowohl die Landleute als das Kammer¬
gut leiden, und die Rücksicht auf das letztere war es auch, welche die Nieder¬
lagen der ausländischen Kaufleute und den damit verbundenen Bergwerksbetrieb
fortbestehen ließ. Nach einem Erlasse des Kaisers sollten gemeinschädliche Frei¬
heiten und Gnadenbriefe aufhören, die bereits im Landlibell von 1611 den
Prälaten und Adeligen gewährte zollfreie Einfuhr des Weines für ihre Haus-
nothdurft wurde aber neuerdings bestätigt und der Verkauf des trienter Weins
vor Se. Georgentag untersagt. Was dem Kaiser schon damals, als man ihm
noch kaum das nöthige Geld zur Zahlung seiner Schulden zugesichert, am
meisten anlag, war ein Kriegszug gegen die Türken. Ueber die Rüstung der
nieder- und oberöstreichischen Lande wurde eine weitläufige Vereinigung festge¬
stellt und gegenseitige Hilfe mit Geld und Kriegsvolk verbürgt. Als Maximilian
zur selben Zeit auch einen Hofrath, ein Landesregiment und eine Rentkammer
in Innsbruck einsetzte, sorgte er vor allem für die reichliche Bestallung seiner
Secretaire. Alle Macht und Pracht, sagt der gleichzeitige Chronist Kirchmayr,
stand bei ihnen, „ein jeder hatte ein kaiserliches Secret, damit sie ihren Staat
erhalten möchten". Den Räthen wurde eine Anzahl^ Pferde gehalten je nach
ihrem Stande, dem Grafen 7, dem Doctor und Edelmann 3, dies hinderte
jedoch nicht, daß sich der Silberkämmerer Sigmund von Dietrichstein in kurzer
Zeit von einem zu vierzig emporhalf. Alle Herrschaften, Gerichte und die
meisten Zölle waren verpfändet, die Fugger bezogen aus dem Bergwerk in
Schwaz allein jährlich 200,000 si.. an andere waren die Einkünfte des Pfarr¬
hauses in Hall vertheilt, dem Kaiser erübrigte fast gar kein Einkommen aus
dem Lande. Das Versprechen die Landesordnung zu verbessern wurde zwar ge¬
geben, allein es kam blos zur Wahl von vier Ausschüssen, die darüber mit der
Negierung berathen sollten. Am wenigsten war Maximilian darauf bedacht,
Ordnung in den geistlichen Dingen herzustellen.
Der tirolische Ausschuß begehrte, daß auf reiche Prälaturen und Pfarren,
obgleich sie „als Spitäler des Adels fundirt. gestiftet und begabt seien", in
Zukunft auch Landeskinder Anspruch haben, und beschwerte sich über die Fälschung
der alten Stiftbücher, kärgliche Besoldung der Vicare, Vergeudung des Kirchen¬
gutes durch Ungeweihte, den Abbruch an Gottesdienst, die Steigerung der
Stolgebühren, den ärgerlichen Wandel der Geistlichen und ihre Habsucht,
sie straften, hieß es, die Sünde im Säckel, und gäben dadurch zu neuer An¬
laß. Auch über das viele Geld, das an Annalen, Paillen. Dispenten und
anderen Beisteuern für den päpstlichen Hofhalt „zu merklicher Erschöpfung der
Erdtaube" nach Rom gehe, und über die Vergebung von Pfründen, die dort
als „Commenden" behandelt würden, erhob man laute Klage. Maximilian
gab darauf nur ausweichenden Bescheid: „In Sachen, wo dem Papst vorzu¬
gehen gebühre, werde er bei Sr. Heiligkeit werben, in anderen, wo ihm als
Landesherrn mit Rath und Willen der Geistlichkeit oder allein ein Einsehen zu¬
stande, wolle er solches mit Fleiß thun, und auf den künftigen Landtagen
handeln." So hatte er auch schon 1510 an eine neue Kirchenordnung nach
dem Muster der französischen und die Abstellung kirchlicher Mißbräuche durch
die weltliche Macht gedacht, es fehlte ihm aber damals wie jetzt die Kraft das
Nöthige durchzusetzen. Wie wenig er diese überhaupt in sich fühlte, zeigt die
Thatsache, daß er jenen Franz v. Sickingen, den er kurz vorher als den
mächtigsten Störer des Landfriedens in die Acht erklärt, 1518 zu Innsbruck
von 30 Reichsritter» ehrenvoll empfangen und in die Stadt geleiten ließ.
Mitten in den Verhandlungen, die deutsche Krone seinem Enkel Karl, dem
König von Spanien, zu sichern, starb er auf einer Reise zu Wels am 12. Ja¬
nuar 1519.
In Tirol war sein Tod das Zeichen zu einer allgemeinen Erhebung unter
dem Landvolk. Nichts hatte den gemeinen Mann so sehr erbittert als des
Kaisers strenge Jagdgesetze, woraus ihm beim ungehinderten Anwachsen des
Wildes und dem Verbote jeder Abwehr großer Schaden an den Feldfrüchten
entstand. Der Kaiser und seine zweite Gemahlin Bianca Maria von Mailand
hegten eine leidenschaftliche Vorliebe für die Jagd, der ritterliche Fürst konnte
auch im Frieden eine Art von Krieg nicht entbehren. Jeder Herzog von
Oestreich sollte nach einer Aufzeichnung in seinem Tagebuch in den Monaten
December und Januar in Innsbruck sein, um sich dort mit Pürschen, Falken¬
beize, Gemsenjagd, Vogelfang und Fischen zu erlustigen, und die Kaiserin fand
das Fleisch der Hirsche vom nahen Seltrain vorzüglich mürbe, weshalb ihr
Gemahl diese treffliche Race auch in andere Jagdbezirke verpflanzen wollte.
Als Pachtzins für die Jagd im Thale Wenden am Brennersee zahlte er dem
Kloster Wilten jährlich nebst 60 Fuder Salz 20 Gemsen und 80 Zcchlkarpfen,
und die Mönche von Stams und Marienberg konnten nicht laut genug über
die Kosten klagen, die ihnen des Kaisers Jagdgefolge verursachte. Er gerieth
um keiner Sache halber leichter in Zorn als wegen des Wildprets, und damit
er sich nicht hinreißen lasse die Wilddiebe am Leben zu strafen, mußte der
Landtag von 1518 eine strenge Abmahnung erlassen. Daß die Jagdlust zum
guten Tone seines Hofes gehörte, zeigt auch das Schreiben eines kaiserlichen
Raths, des Bischofs Christoph von Brixen. der dem Herzog Wilhelm von
Bayern zwei vorzügliche Jagdhunde zum Geschenk sandte. Bei dem Unmuth,
den die vom alten Herkommen abweichenden, drakonischen Gesetze gegen Jagd¬
frevel erregten, kann es nicht ausfallen, wenn bei der Kunde vom Ableben ihres
Urhebers Jung und Alt, ja selbst Frauen und Mägde über das Wild Hersielen
und eine ungeheuere Menge davon erlegten, zumal auch dessen Flucht durch
den in jenem Jahre gefallenen tiefen Schnee sehr erschwert wurde. Die Land¬
leute, die blos im Kaiser die von Gott bestellte Macht sahen, hielten sich nun
von allen gesetzlichen Banden frei; „da kein Landesfürst wäre," sagten sie,
„hätten die Herren des Regiments jetzt keine Gewalt mehr." Man verbreitete
das Gerücht, König Karl werde aus dem fernen Spanien gar nicht nach Tirol
kommen.
Der zu Innsbruck am 9. Februar versammelte, ständische Ausschuß ge¬
stattete zwar zur Beruhigung der Gemüther, daß jeder sein Feld mit gespaltenem
Holz einzäunen, Hunde halten und schädliche Thiere, wie Bären. Luxe, Wölfe,
lagen und fangen dürfe. Allein dies fruchtete so wenig, als die Bemühungen
der Abgeordneten, die man ins Unter- und Oberinnthal sandte, sie wurden
von den Bauern mit Spießen und Waffen umringt und entkamen nur mit
genauer Noth. Auch um Buxen war die Aufregung so stark, daß die von
Rodeneck ihren Richter verjagten, weil er einen Mann, der mit geladener
Büchse und brennender Lunte auf dem Markt umging, hart anließ, der Pfleger
brachte sie nur mit Mühe vom Sturm auf das Schloß ab.
Die Herren des Regiments und die Mächtigen vom Adel versuchten die
Unruhen dadurch niederzuhalten, daß sie auf den 24. Januar 1520 wieder einen
Landtag nach Innsbruck beriefen und auf diesem die Stände dem zum deutschen
Kaiser erwählten Karl von Spanien und dessen Bruder Erzherzog Ferdinand
die Erbhuldigung versprechen ließen. Dagegen sollte auch von Seite der Fürsten
die Bestätigung der alten Privilegien und Gebräuche, Besetzung der Regierung
mit Personen, die der Landschaft angenehm, Bewerthung der ausländischen
Münzen nach ihrem Gehalte, Abstellung der fremden Kaufmannsgesellschaften,
Aufhebung der neuen Zölle und Aufzeigung von Holz an die Gerichte des
Innthals zu ihrer Hausnothdurft zugesichert werden. Neben der Bestätigung
der von der Landschaft mit Rath der Regierung verfaßten Polizeiordnung wurde
an das Versprechen einer verbesserten Landesordnung erinnert, und ein Aus¬
schuß von vier ständischen Abgeordneten und je zweien der beiden Stifte vor¬
geschlagen, die über diese und die Beschwerden gegen die Geistlichen zu berathen
hätten. Betreffs des Wildes verlangte man, daß dessen Vertreibung aus den
Feldern gestattet, die Frevler begnadigt und das Verbot der Jagd auf das
Roth- und Schwarzwild beschränkt werde. Bei der ersten Übertretung wurde
blos eine Strafe von 10 Mark Perner oder zwei Monaten Gefängniß, bei der
zweiten die Landesverweisung beantragt. Ein Theil der Gerichte ließ sich auf
vieles Zudringen zur Huldigung herbei, andere hingegen, besonders die am
Eisack, wollten den Landtagsbescheid nicht annehmen und weder Zins noch
Steuern und alte Schulden zahlen, da der Landesfürst nicht komme.
Es trat eine völlige Auflösung aller Ordnung ein, .aus öffentlichen Straßen
und bei den Städten wurden die Leute erwürgt und erschlagen, keiner traute
dem andern. Vorzüglich im Fürstenthum Brixen zeigte sich ein Geist der Un¬
ruhe und Auflehnung. Seine Bischöfe hatten dem Kaiser Maximilian in einem
fort bedeutende Vorstreckungen gemacht, worunter jene des Cardinals Melchior
von Mekau sich so hoch beliefen. daß ihm Maximilan einmal an theilweiser
Zahlungsstatt drei Schlösser und für die Zinsen den Zoll in Kollmann auf
mehre Jahre anwies, trotzdem hinterließ dieser Kirchenfürst bei seinem
Tode 1509 noch eine Menge Gold- und Silbergeschirr, viele Barschaft und
eine Forderung an die Fugger.von 152,931 rheinischen Gulden, die auch
nach der Abrechnung bedeutend blieb. Selbst dem Klerus heischte er bald den
10. bald den 40. Pfennig ab, forderte die Liebessteuer und jährlich das
Kathedraticum, wogegen sich der Abt von Stams auf seine Exemtion berief.
Man gab zwar den Bergsegen als Quelle seines Reichthums an, allein sein
dahin bezügliches Schreiben vom 19. März 1504 spricht nur von der neu
aufgefundenen Goldader in Gastein und seine vielen Ankäufe und Geldgeschäfte
fallen schon in eine frühere Zeit. Eher könnte man an einen Antheil am Jubel -
geld denken, über dessen Einbringung und Aufbewahrung er mit den Herren
des Reichsregiments am 11. September 1501 einen Vertrag abschloß, hätte
er nicht in seinem eigenen Sprengel die reich gefüllten Opferstöcke ganz "gewissen¬
haft an die kaiserlichen Commissanen übergeben. Auch sein Nachfolger Christoph
von Schrofenstein wird als geldgierig geschildert, trieb neben den Kriegslasten
und während die Grenzen seines Bisthums unter den Raubzügen der Venetianer
litten, außerordentliche Steuern ein und erübrigte immer noch einen Sparpfennig,
den er dem Kaiser gegen gute Verzinsung darlieh. Wenn das Landvolk bei
alledem sah, daß der Klerus nur ausnahmsweise und auch dann blos geringe
Steuern zahlte, kann seine Erbitterung gegen die Pfaffen, die sich in den
Städten dem Wohlleben ergaben, nicht befremden. Schon Anfangs der Fasten
1520 rückten bei 600 Bauern gegen Brixen. die aber auf Zureden des dortigen
Bürgermeisters wieder heimzogen. Um Pfingsten kehrten sie, 800 Mann stark,
in fünf Fähnlein wieder, drohten die Pfaffenhäuser zu plündern, fügten sich
jedoch auch diesmal der Abmahnung zweier herbeigerufenen landesfürstlichen
Commissäre. Bei den später an verschiedenen Orten gehaltenen Versammlungen,
wozu Abgeordnete aus verschiedenen Landestheilen erschienen, konnte man sich
nur nicht über die Mittel einigen, das geistliche und weltliche Joch abzu¬
werfen.
Da verkündeten plötzlich die Regenten zu Innsbruck, König Karl sei am
1. Juni zu Vließingen ans Land gestiegen, und befahlen, das entscheidende Er-
eigniß durch Processionen, Aemter. Freudenfeuer und Abschießen des Geschützes
zu feiern. Kurz nachher zogen 45 der schönsten Pferde und viele Männer in
reicher Rüstung aus Neapel durch Tirol nach den Niederlanden, ein augenfälliger
Beweis, daß der König wirklich gekommen. „Dadurch erschraken die Bauern."
sagt der Chronist, und „glaubten zum Theil."
Noch eindringlicher mochten die Mittel wirken, die Erzherzog Ferdinand
zur Herstellung der Ordnung in Wien ergriff. Sein Bruder Karl hatte ihm
Ende April 1521 Ober- und Niederöstreich, Steiermark, Kärnthen und Krain
für immer, am 7. Februar 1522 auch Tirol und die Besitzungen in Schwaben
auf Lebensdauer abgetreten, der Vertrag sollte aber noch sechs Jahre geheim
bleiben, und Ferdinand nur als Statthalter seines Bruders gelten. Sein erstes
Beginnen bei seiner Ankunft in Oestreich war, daß er in Neustadt über die
Häupter der Bewegung, die sich der Regierung bemächtigt, am 10. Juli 1522
Gericht hielt, später zehn derselben hinrichten ließ und selbst ihren Vertheidiger
auf drei Jahre des Landes verwies. In Tirol nahm er. nachdem er bereits
im November 1521 durchgereist, erst in der Fasten 1623 seinen bleibenden
Ausenthalt, und ließ sich auf dem im April gehaltenen Landtage 145,000 si. zur
Ablösung des Kammergutes und 5000 si. als Geschenk für seine Gemahlin
versprechen. Er bestellte zu Innsbruck ein neues Regiment unter dem Titel
„Hofrath" und besetzte es gegen die von vielen früheren Landesfürsten und dem
kaiserlichen Commissär noch auf dem Landtag von 1515 gegebene Zusicherung,
nur Eingeborene zu solchen Stellen zu verwenden, meist mit Ausländern, welche
die tirolischen Gebräuche und „Freiheiten" nicht kannten oder nicht kennen wollten,
nicht nach den einheimischen Gewohnheits- sondern dem hier nie eingeführten
römischen Recht entschieden und sich hierdurch den Vorwurf der Gewalt und
Willkür zuzogen.
Der allgemeine und grimmigste Haß wegen seiner Tyrannei traf aber den
Generalschatzmeister Gabriel Salamanca, einen herrsch- und geldgierigen Spanier,
der alles nach spanischem Muster einrichten wollte. Alle wichtigen Händel
mußten ihm zugesandt werden, in allen sprach er das letzte Wort. Obschon
er noch zehn Jahre später einigen als Jude, anderen als Mahomed alter galt
und von seinen Untcrschleifcn nicht abließ, bis er sie in Eisen und Banden
büßte, wußte er sich doch jetzt seinem Herrn so unentbehrlich zu machen, daß
ihn selbst des Kaisers Auftrag nicht zu entfernen vermochte. Auf dem Landtag
benutzte er die Uneinigkeit des Adels und die unsichere Stellung der Bischöfe zu
seinen Zwecken. Die großen Herren, die in der Regentschaft saßen und Pfandschafte»,
Schlösser und Gerichte inne hatten, wollten diese und ihre Aemter nicht verlieren.
Ihnen gegenüber stand die Partei des Landeshauptmanns Leonhard v. Vels,
beide buhlten um die Gunst des Erzherzogs. Der Landeshauptmann, der früher
zu den Lutherischen gehalten, nun aber gleich dem fürstlichen Rath und Günstling
Dr. Faber wieder ein eifriger Katholik geworden, gab sich noch wahrend des
Landtags zur Anführung einer Hilfsschaar von 1000 Mann für den Erzbischof
Von Salzburg her, die seine lutherischen Unterthanen zur Ordnung brachte
Auch die Bischöfe von Trient und Brixen suchten ihr Heil bei Ferdinand. Der
erstere, Leonhard v. Clef, hatte in seinem Stift schlecht gehaust und hoffte,
der Fürst werde ihn wieder „ergötzen", der letztere. Sebastian Sperantius
hatte als ein vom Kaiser aufgedrungener Fremder niederer Herkunft sein ganzes
Kapitel und den Adel zu Feinden und war daher nicht minder auf die Unter-
stützung des Hofes angewiesen. Dieser Zwiespalt der Höhergestellten theilte sich
auch den Abgeordneten der Städte und Gerichte mit und machte es erklärlich,
daß man eine so beträchtliche Steuer bewilligte, wie bisher auf einmal noch
gar nicht gefordert worden. „Salamanca ist Herzog," berichtete der Agent
Reichartshofen am 17. Juni 1S23 dem Herzog Ludwig von Bayern, „und
wahrlich richtet er jetzo auf seine Hochzeit einen großen Pracht und Pomp, als
wär er selbst ein Herzog." Als er diese Ende Juli mit einer Gräfin von Eber-
stein feierte, schenkte ihm der Erzherzog 7000 si., Fugger die Herrschaft Ehren-
berg und 1000 Mark Silber, Sammt, Seide und goldene Stoffe kamen in
Menge aus Venedig und Augsburg, aus allen Plätzen und Gärten gab es
Turniere, so wie in den Häusern Tänze. Die Steuer, die mit 160 si. auf jede
Feuerstätte gelegt wurde, ging spärlich ein, die Bauern wollten vorher ver¬
sichert sein, daß sie gegen ihr altes gutes Herkommen nicht beschwert würden.
Viel Aufsehen machte die wider alles Recht vorgenommene Einziehung des
Ritters Michael von Neuhaus, der das Schloß Tolmezzo nicht herausgab, weil
er dafür Brief und Siegel hatte, ein so rechtswidriges Vorgehen ließ noch
fernere Gewaltstreiche fürchten.
Es ist begreiflich, daß gerade in Mitte dieser Bedrängnisse Bürger und
Bauern sich freudig einer Tröstung Hingaben, die ihnen von religiöser Seite
geboten wurde. Im Jahre 1621 verbreitete sich auch in Tirol der Ruf von
den Predigten und Schriften Luthers und dessen Auftreten aus dem Reichstage
zu Worms. Weit größeren Anklang fanden aber in diesen Bergen die Grund¬
sätze Thomas Münzers und seiner Genossen, die unter „christlicher Freiheit"
nicht nur eine geistige Wiedergeburt, sondern auch und zwar noch viel mehr
die Erlösung von irdischen Lasten verstanden.
Der erste Verkünder dieser Lehre war hier Dr. Jakob Strauß, ein Mönch
aus Bertholdsgaden, der 1621 in Hall erschien und damit begann, daß er
den dortigen Geistlichen das Evangelium Mathäi lateinisch vorlas. Bald fing
er auch öffentlich zu predigen an, wobei der Zudrang des Volkes so groß war,
daß die aus den umliegenden Dörfern zuströmende Menge keine Kirche mehr
fassen wollte, man trug die Kanzel auf den Platz oder in den Stadtgarten.
Sein angenehmer und beredter Bortrag, der die Mißbräuche der Geistlichen
schonungslos aufdeckte, mußte um so mehr anziehen, als dem Klerus jener
Zeit die Predigt über dem mechanischen Ceremoniendienst fast abhanden ge¬
kommen war. Als der Bauer nun vollends die Zinsen von Darleihen als
Wucher verdammen und das Jubeljahr der Jsraeliten verkünden hörte, wo
alle Knechte frei, alle Schulden aufgehoben, und jeder wieder zugelassen
würde zu den verkauften Erbgütern, mag es ihm wie himmlische Musik
geklungen haben. Auf Missionen und an Feiertagen begleiteten den geliebten
Prediger 30—40 Personen, andere hielten vor seiner Wohnung aus Argwohn
gegen die Geistlichen Wache. Als ihm dann in der Fasten 1S22 zwei Kapläne
auf offener Straße eine Vorladung des Bischofs zustellen wollten, wäre es bald
zu Aufruhr und Gewaltthat gekommen; zuletzt trat noch die Regierung da¬
zwischen und nöthigte ihn zur Abreise. Der Unwille erhob sich aber gegen die
Priesterschaft, die sich hinter die Herren zu Innsbruck gesteckt.
Stephan Seligmann, ein katholischer Kaplan, wollte es dem Entwichenen
nachthun, allein seine Predigten mißfielen den Bürgern so sehr, daß er sich ge¬
nöthigt sah, auf seine Pfründe zu verzichten. An seiner Stelle wurde der
Karmeliter Dr. Urban Negius vorgeschlagen und vom Bischof bestätigt. Ob-
schon ein Schüler Johann Ecks neigte er sich doch gleich seinen Ordensbrüdern
in Augsburg zur lutherischen Lehre, seine strenge Moral war aber nicht das¬
jenige was die Haller zu hören wünschten. Um so leichter gelang es dem
Bischof, bei den Regenten zu Innsbruck seine Ausweisung zu erwirken, und er
durfte froh sein, der von jenem verlangten Verhaftung zu entkommen.
Luthers Abhandlungen und Glaubenssätze fanden nun in Tirol selbst unter
dem einheimischen Klerus Anhänger. Mathias Messerschmied, Chorherr zu
Innichen, verbreitete dort und im Thale Villgraten lutherische Tractätlein, und
als er auf Befehl des Bischofs eingezogen wurde, versuchte es sein Küster, in
gleichem Sinne auf die Gemeinde einzuwirken, was dann als Empörung erklärt
wurde. Ein Cisterzienser zu Stams, der Frühmesser zu Heiterwang, ein Geist¬
licher im Zillerthal und ein Franziskaner zu Hall verkündeten in ihrer Um¬
gebung die vom Papste mit dem Bann belegte Lehre, in letzterer Stadt ver¬
kaufte man öffentlich lutherische Bücher, gleichwohl gewannen in Tirol eigentlich
nur die Wiedertäufer Anhang und Verbreitung. Ganz im Geiste dieser
Schwärmer dingte sich jener Franziskaner als Knappe zu schwatz ein, unfein
Brod nach dem Gebote Gottes im Schweiße seines Angesichts zu essen. Schon
im Jahre 1523 zählte man daselbst nach Sperges Bergwerksgeschichte 800
Wiedertäufer, und einer jener drei, die als solche 1624 zu Innsbruck hinge¬
richtet wurden, war beschuldigt, 400 Seelen zum Irrthum verführt zu haben.
Der träumerische, blos d«r inneren Stimme vertrauende Glaube sagte dem
Gemüth des einsamen Bergbewohners mehr zu als die scharfe Dialektik des
gelehrten Reformators zu Wittenberg, die Gemeinschaft der Güter unter den
Brüdern des tausendjährigen Reiches befreite den gemeinen Mann von den
schweren Lasten der Scholle, und das Ideal der Gleichheit aller vernichtete die
mittelalterlichen Privilegien. Sache der Geistlichkeit wäre es gewesen, diesen
Verirrungen Einhalt zu thun; allein nur dem Wohlleben ergeben, ohne geistige
Bildung und auf zeitlichen Gewinn bedacht, bedürfte sie selbst der gründlichsten
Reform. Im ganzen brixener Sprengel bestand keine wissenschaftliche Lehranstalt,
ja selbst in der Domschule reichte der Unterricht nicht über die Elementargegen¬
stände. Wie wenig Sebastian Sperantius sich um die Abstellung des ärger»
lichen Lebens der Priester kümmerte, zeigt sein Verhalten zur Synode von
Mühldorf 1522, wo darüber berathen werden sollte; er entschuldigte sein Aus¬
bleiben davon mit der baldigen Ankunft des Erzherzogs in Innsbruck, der ihn
auch später zu seinem Kanzler ernannte. Die nachgebornen Söhne des hohen
Adels verzehrten die Einkünfte ihrer fetten Pfründen fern davon in süßer
Gemächlichkeit und ließen sich in der Leistung ihrer Pflichten durch träge Mönche
vertreten; der niedere Klerus hielt Weinschänkcn, mischte sich in Raufhändel,
erlaubte gegen Bezahlung offenbare Sünden und war so unwissend, daß auf
einer zu Brixen 1528 gehaltenen Diöcesansynode selbst die Formel der Los¬
sprechung in der Beichte vorgeschrieben werden mußte. Nur gegen die auf dem
Reichstag zu Nürnberg beschlossene Türkensteuer, wozu die Pfaffheit den dritten
Theil ihrer Einkünfte auf ein ganzes Jahr beitragen sollte, erhob sie sich mit
großem Geschrei und sandte zwei Abgeordnete aus Brixen und Trient an den
Erzherzog zur Abwendung dieses Unheils.
Ferdinand, in dem strenggläubigen Spanien und der Schule absoluter
Herrschaft erzogen, glaubte den Irrthum blos durch Zwang und Abschreckung
unterdrücken zu können. Er befahl dem brixener Bischof, das wormser Edict,
über dessen Vernachlässigung sich auch der Kaiser beschwerte, auszuführen und
seine eigenen Befehle gegen die Verbreitung der lutherischen Lehre, die man
von jener der Wiedertäufer nicht unterschied, genau zu vollziehen. Diesem zu¬
folge sollten nur Verführte, die aus offener Kanzel im Beisein der Gemeinde
widerriefen und Buße thaten, begnadigt, Widerspenstige mit Fasten und Ruthen¬
streichen gezüchtigt. Unverbesserliche und Rückfällige mit dem Schwert gerichtet,
abtrünnige Weiber aber in einen Sack gesteckt, ertränkt und mit der Einziehung
ihrer Verlassenschaft bestraft werden. So strenge Maßregeln, womit der Erz¬
herzog hier wie in Schwaben den Abfall vom allein wahren Glauben aufzu¬
halten dachte, mußten das schon von der Last ungewöhnlicher Steuern und
anderen neuen Plagen schwer gedrückte Volk noch mehr erbittern. Nicht blos
herabgekommene Leute, die beim Umsturz des Bestehenden zu gewinnen hofften,
sondern auch die reichsten Bauern, wie der Pfefferer und Keferer in Neustift,
lehnten sich aus religiösem Fanatismus auf und kündeten den Richtern und
Gemeinden öffentlich Fehde an, oder sagten ihnen ab. wie man es nannte.
Der Chronist Kirchmayr versichert, daß derlei Friedensbrecher „gar wohlfeil"
gewesen. Wieder war es die Umgegend von Brixen, wo sie sich am meisten
hervorthaten, in jener Stadt allein wurden in drei Wochen 47 Menschen hin-
gerichtet. Nach den Aufzeichnungen des Dr. Angerer war es ebenfalls die luthe¬
rische Gesinnung, nach andern persönliche Rache, die Peter Päßler aus Antholz
im Juli 1524 antrieb, am Spital zu Bruneck einen Absagebrief anzuschlagen;
der Stadtrichter Ludwig Ochs wußte sich seines Lebens nicht mehr sicher. Eine
ganze Schaar von Mordbrennern hatte sich mit jenem vereinigt, und als er
mehre Orte bedrohte, befahl der Erzherzog dem Hauptmann Oswald von Wolken¬
stein, einen Preis von 60—100 si. auf seinen Kopf zu setzen. Noch im Herbst
desselben Jahres wurde er eingezogen, das Urtheil verzögerte sich aber wegen
der Menge von Mitschuldigen bis zum Mai 1525.
Der Erzherzog war zu Anfang dieses Jahres mit der ganzen bewaffneten
Macht, die er durch Darleihen der Welser in Augsburg aufgebracht, in Schwaben
beschäftigt, dort hatte sich der Aufstand vom Breisgau bis an den Bodensee,
vom Allgau bis ins Ries verbreitet, die Forderungen der Bauern beschränkten
sich in 16 Artikeln zwar nur auf Abhilfe weltlicher Beschwerden, doch schon am
23. September 1523 schrieb Wilhelm Truchzeß, der östreichische Statthalter zu
Stuttgart, an Salcnnanca: Der Ungehorsam entspringe allein aus der ver¬
fluchten lutherischen Secte. In Italien wurde das kaiserliche Heer durch König
Franz den Ersten von Frankreich in Schach gehalten. Tirol war von allem Kriegs¬
volk entblößt; so scharf Ferdinands Befehle lauteten, die er an seine Commis-
säre nach Stockach erließ, hier konnte er nur eine hinaufziehende Politik ein¬
schlagen. Durch einen Landtag, den er aus die Fasten nach Innsbruck berief,
dachte er die Ruhe wiederherzustellen. Allein noch vor dessen Beginn brachen
neue Unruhen unter den Knappen in Schwätz aus. Sie hatten einen Rück¬
stand Von 40,000 si. an Hilfs- und Gnadengeldern zu fordern, verlangten
deren Auszahlung, und die Schmelzer, die auf jede Mark Silber 21 Xr. einbe¬
halten durften, konnten bei Ermanglung dieser Zahlung in das Silber greifen.
Darüber war nun in der letzten Zeit vielfältiger Zwist entstanden, die Berg¬
leute verweigerten dem Richter und ihren Vorstehern den Gehorsam, viele da¬
von zogen Anfangs Februar 1525 gegen Innsbruck, um beim Erzherzog ihre
Klage anzubringen. Dieser ging ihnen bis Hall entgegen und ertheilte eine
tröstliche Antwort. Die unruhige Menge, der sie in einem Garten vorgelesen
wurde, fand sich dadurch nicht befriedigt, die Sturmglocke wurde geläutet, alle
waffenfähige Mannschaft ins Gewehr gerufen, man beschloß noch einmal nach
Innsbruck zu rücken, um einen bestimmteren Bescheid zu holen. Ferdinand eilte
in Begleitung des Bischofs Sperantius und mehrer Räthe der zu einigen
Tausenden angewachsenen Schaar wieder bis Hall entgegen und beschwichtigte
sie auch diesmal durch das feierliche Versprechen, ihre alten Rechte und Frei¬
heiten aufrecht zu halten. Damit ließen sie sich genügen und begaben sich
nach Hause.
Aus dem Landtag, der am ersten Sonntag in der Fasten eröffnet wurde,
setzte der Erzherzog eine provisorische Verwaltung ein, die aus dem Statthalter,
je zweien von der Negierung und der Kammer bestand, nahm dazu, weil man
über die Ausländer klagte. „Landleute" und ertheilte ihnen Gewalt, während
seiner Abwesenheit in Kriegsfällen und zur Erhaltung des Landfriedens zu
handeln. Diejenigen, die vom Rath als dem katholischen Glauben abtrünnig
erkannt würden, sollten dem Malesizrichter und den Geschwornen überantwortet,
ebenso die Uebertreter gemeiner Landessatzungen an Leib und Gut gestraft
werden. Um den Beschwerden über das Verfahren nach dem geschriebenen,
nämlich dem römischen Recht, und der Verletzung der Landesbräuche zu be¬
gegnen, wurde dem Statthalter, den Hofräthen und Landleuten, je vier aus
jedem Stande, aufgetragen, eine Landesordnung aufzurichten, auch stellte man
den Städten und Gerichten frei, eine Copie von den vorhandenen Landesfrei¬
heiten für 24 si. auf Pergament und für 12 si. auf Papier zu nehmen. Die
Austragung des Streites über den Auf- und Abzug im Viertel Eisack, den
die Stände nicht entscheiden wollten, wurde dem Statthalter und den Hofräthen
überlassen.
Auf die Siege des Aufstandes im Reiche, der sich durch das Allgäu mit
Tirol in Verbindung gesetzt, folgte nun auch hier der Ausbruch der Empörung.
Daß es da losgehen werde, war dort schon bekannt. Zuerst brach sie im Mai
zu Brixen aus, wo eine große Erbitterung gegen den Klerus herrschte. Am
8. begannen die Bauern bei Ratz einen See des Probstes zu Neustift gewalt¬
sam aufzufischen, und als zwei Tage nachher der oben erwähnte Peter Päßler,
von den weither geholten Geschwornen zum Feuertode verurtheilt, dann aber
zum Schwert begnadigt, auf den Richtplatz geführt wurde, befreiten ihn die von
Nodeneck und Andreasberg mit gewaffneter Hand aus den Händen der Richter,
welche die Flucht ergriffen. Durch so leichten Sieg übermüthig geworden, ver¬
sammelten sich die Bauern am 11. in der milander An und beschlossen, ihre
Beschwerden und großen Auflagen selbst abzuthun. Vergebens versuchte der
Pfleger von Rodeneck, Sigmund Brandeis, der sich unter den stürmischen
Haufen wagte, sie zu einer Vorstellung an den Landesfürsten zu bewegen, noch
in derselben Nacht, schwuren sie, gleich am nächsten Tage aus ein Glockenzeichen
wiederzukehren und im Einverständniß mit einigen Bürgern nach Brixen zu
rücken. Bei ihrem Einzug in die Stadt durch Zutrinken ermuthigt, sielen sie,
mehr als 6000 Mann stark, zuerst in die Pfaffcnhäuser. plünderten, zerschlugen
den Hausrath, ließen den Wein, dessen ihnen zu viel wurde, ausrinnen,
drangen in die Wohnungen der Adeligen, verschonten weder Weiber noch
Mädchen, und zogen, als es nichts mehr zu rauben gab, mit den Brixnern
vereint unter Anführung des Keserer, eines Bruders des letzthin Gerichteten,
gegen das Kloster Neustift. Der dortige Amtmann, jener Chronist Kirchmayr.
wollte zwar die Plünderung mit S000 si. abkaufen, die Bauern ließen sich
aber nicht davon abwendig machen und schädigten das Kloster um 26.000 si.
Vorzüglich war es auf die Vertilgung der verhaßten Urbarialbücher abgesehen,
Kirchmayr warf sie vor den Augen der betrunkenen Menge in einen großen
Unrathskanal, den er früher mit Stroh hatte füllen lassen, und entzog sie da¬
durch der Vertilgung.
Tags daraus wählten die Aufständischen den Michael Gaißmayr zu ihrem
Obersten, der schon lange insgeheim die Bewegung in der brixner Gegend ge¬
leitet. Als Sohn eines Knappen von Sterzing. ehemaliger Schreiber des
Landeshauptmanns Leonhard v. Vels, dann bischöflicher Secretär und zuletzt
Zolleinnehmer in Klausen stand er nach allen Seiten in Verbindung und zählte
auch unter den Bauern im Etschthal viele Anhänger. Am 13., also kurz nach
dem Ausbruch des Aufstandes in Brixen, überfielen die Bauern von Rentsch
und den umliegenden Bergen die Judenhäuser und die Deutschordcnscommenden
zu Bozen und Lengmoos, such an andern Orten wurde zu gleicher Zeit der
Befehl zum Aufstand gegeben, die Kälterer trugen denen von Traum die
Wegnahme der Urbarien des trienter Kapitels, die Ncumarkter den Königs¬
bergern die Besetzung des dortigen Schlosses und des Klosters Se. Michael,
der Oberkemmater. ein Mitglied des ständischen Ausschusses, jenen von Vels
die Plünderung der Beste Präsels auf, die dem Landeshauptmann gehörte.
Nach Fleims und Nonsberg wurde geschrieben, wenn die Gerichtsleute nicht
plündern wollten, würden es andere thun. In Brixen wurde zwar der Or-
ganisirung des neuen Regiments ganz unvermuthet dadurch Einhalt gethan,
daß am 15. Mai 600 vom kaiserlichen Heere aus Mailand zurückkehrende Reiter
eintrafen, unter Anführung des Hauptmanns Anton v. Brandes die rohe Masse
zeisprengtcn und den Rest davon bis zum Sterzinger Moos verfolgten, wo die
meisten theils durch das Schwert, theils in den Fluthen der Eisack ihren Tod
fanden; allein im Etschthal. von Bozen aufwärts nach dem Vintschgau, setzte
sich der Aufstand immer weiter fort. Am 14. wurden das Kloster der Clarissen
in Meran, die Pfarrhäuser zu Mais, Tirol und Algund, während der Nacht
das deutsche Haus in Lana, am 15. und 16. die Schlösser Mayen- und Zwin¬
genburg, sofort auch die Klöster der Karthäuser zu Schnals und der Benedictiner
zu Marienberg ausgeraubt. Was die Bauern am meisten suchten, waren die
Urbarbücher, aus jenem des Georg Votsch auf Tisens rissen sie ein Blatt nach
dem andern aus und schrieen höhnisch bei jedem: „veäit.". Im Pusterthal
wurde das reiche Frauenkloster Sonneburg bei Bruneck, im Oberinnthal die
Cistexienserabtei Stams heimgesucht, die Prämonstratenser von Wilten kauften
sich vom Schaden mit 17 Ähren Wein los. Um Innsbruck waren es vor¬
züglich die Gerichte Thaur und Rattenberg, wo es am unruhigsten herging
auch im nahen Sonnenburg, Axams, Stubai und der Probstei Ambras regten
sich Unwille und Raublust, der sich selbst die Wallfahrtskapelle zu Waldrast
nicht entziehen konnte, nur die Knappen von schwatz verhielten sich diesmal
ruhig.
Wer sich in Tirol am wenigsten sicher wußte, war Salamanca. Bereits
am 14. Mai entfloh er aus Innsbruck, „wäre er daselbst noch wenige Stund
geblieben," sagt ein Bericht, „so wäre er gewiß erschlagen worden." Bald
darauf entwichen auch Sebastian Sperantius nach Salzburg und Dr. Fabri, der
spätere Bischof von Wien, nach Oestreich; der Bischof von Treue, den die
Bauern daselbst belagern wollten, entrann nach Riva. Der tirolische Kammer-
fiscal Dr. Frankfurter meinte: „wo ein Aufruhr und Empörung beschehe, seien
die vier Mann deß allein eine Ursache." Dies spricht auch ein Schreiben ,>der
ganzen Geinaine der Grafschaft Tirol an die gemainen östreichischen Lande"
aus, das von einem der Leiter des Aufstandes, vielleicht von Gaißmayr selbst,
verfaßt scheint. Der Eingang knüpft an die Empörung der Bauerschaft im
deutschen Reiche, so wie den Abfall vieler Flecken der österreichischen Lande
und des Herzogthums Würtemberg an, die durch die Regierung der Fremden,
namentlich der Spanier und Pfaffen veranlaßt worden. Wenn die Tiroler daS
böse, eigennützige und verderbliche Regiment, das alle erschöpfen und von dem
Ihrigen bringen würde, noch nicht abgeschafft, hätten sie dies nur aus Mitleid
mit der Jugend des edlen Fürsten Ferdinand und seiner Gemahlin unterlassen,
jedoch an ihn geschrieben und ihm auch mündlich anzeigen lassen, wie das Land
von vier Männern nur diesen zum Nutzen, ihm selbst und dem Fürsten aber
zum Nachtheil regiert werde; diese seien die zwei Bischöfe, der „stinkende, ketzerisch,
asariamsch Jud und Pöswicht Gabriel v. Salamanca und der Cultrunen
Schmied, den man nennt Fabri." Salamanca habe sich in drei Jahren aus
ihrem Schweiß ein Fürstenthum errichtet, eine Herrschaft in Burgund um 10.000 si.
gekauft, eine merkliche Anzahl Gold und Silber von Innsbruck weggeschickt,
ihre edle Fürstin jetzt ihre königlichen Kleinode mit großer Beschwer zum Ein¬
schmelzen nach Hall gegeben, „der Prunnen aller von Oestreich ist gar ver«
schmelzt". Die Sonne, heißt es, soll uns nicht anscheinen und der Erdboden
nicht tragen, wenn wir solches von diesem asarianischen Böswicht leiden. Das
Schriftstück endet mit einem Aufruf an die Gerichte im Jnnthal, sich beim
Glockenstreich zu versammeln und den Fabri und Salamanca nicht entwischen
zu lassen.
Versucht nachzuweisen, daß die unter unsern Aesthetikern viel verbreitete Ansicht,
das classische Alterthum habe keine Freude an der schönen Natur gekannt, ein Irr¬
thum sei. Der Verfasser weist nach, daß dieser Irrthum auf nicht genügender Be¬
kanntschaft mit der Denkart des antiken Geistes und auf nur oberflächlicher Durch¬
forschung der betreffenden Literatur beruht. Er betrachtet die eigene Art, in welcher
die Alten empfanden und dachten, und geht hiervon zu seinem besondern Thema
über, indem er aus den antiken Schriftstellern die Beispiele hervorhebt und prüft,
in denen die Empfindung der damaligen Welt von der Schönheit der Natur sich
spiegelt. Dabei erkennt er zwar an, daß die natürliche geistige Begabung der beiden
Hauptvölker des Alterthums verschieden ist, und daß diese besondere Geistcsart der
Griechen und der Römer sich auch auf ihr Verhältniß zur Natur erstreckt, zeigt aber,
daß sie dem modernen Menschen gegenüber in dieser Beziehung doch zusammen¬
gehören. Die Alten empfanden, wie Fncdländcr schon hervorgehoben, allerdings
das Schöne in der Natur, aber erst die neueste Zeit begann in derselben eine
Seele, in den Erscheinungen der Sinnenwelt Spiegelbilder der wechselnden Zustände
des Menschcugemüths zu scheu und die Landschaft als ein in künstlerischer Absicht
geschaffenes und mit einer bestimmten Individualität begabtes Ganze aufzufassen.
Das ganze Alterthum hat keine Landschaftsmaler« in unserm Sinne und keine
ästhetische Naturbeschreibung gekannt. In den zahlreichen trefflichen Naturschilderungen
in den antiken Dichtern richtet sich immer die Aufmerksamkeit mehr auf das Ein¬
zelne, als auf den Zusammenklang und die Stimmung des Ganzen, und von dem
eigenthümlichen Charakter, den die Beleuchtung der Landschaft verleiht, von den
Wirkungen der Nähen und Fernen, des kalten und warmen Colorits ist nirgends
die Rede.
Der Herausgeber bietet hier zunächst eine Charakteristik des in nicht weniger
als 13V Quartbändcn in der k. Bibliothek zu Königsberg aufgestellten und sehr
werthvollen literarischen Nachlasses des großen Philologen und Mythologen, die ein
höchst interessantes Bild eines deutschen Gclehrtenlebens und zugleich höchst dankens-
werthe Winke für die Benutzung dieser Schätze von Wissen giebt. Dann folgt ein
Aufsatz über Lobeck als akademischen Redner, in welchem mir unter anderm erfahren,
daß derselbe von 1814 bis 1856 achtzigmal die ihm als Professor der Eloquenz
obliegende Verpflichtung, bei den Ncdeacten der Universität als Redner aufzutreten,
erfüllt hat, und hieran schließt sich eine Auswahl von 40 theils deutschen, theils
lateinischen Vorträgen dieser Art, von denen auch die frühesten mit geringen Aus¬
nahmen noch jetzt allgemeines Interesse der Philologen beanspruchen. Wir nennen
einige der interessantesten mit Angabe des Jahres, in welchem sie gehalten wurden:
Ueber die Symbolik des Scepters (1814) — Ueber den Glauben des Alterthums
an eine über den Geschicken der Völker waltende Nemesis (1815) —Ueber den Hang der
Völker des Alterthums zur religiösen Mystik (1821) — vomMi-irtio tadularum et super-
Ltitionum, yuas Lirascis ooinmunes sunt oum xriseis öorussis (1828) — vo xolitia
seersta vetsrum (1832) — Ueber Besteuerung der Literaten im Alterthum (1847) —
Ueber den Glauben der Alten in Bezug auf Fortschritt und Rückschritt der Welt (1848) —
Verfolgung des freien Wortes im Alterthum (1848) — Von der gelehrten Misan-
thropic (1849). In der Natur der Sache liegt, daß diese Reden, die zu dem Zwecke
ausgewählt sind, Lobecks eigenstes Wesen erkennen zu lassen, nicht durchaus neue
und selbständige Forschungen enthalten. Was er in ihnen vorträgt, das giebt er
anspruchslos zur flüchtigen Unterhaltung eines größeren Kreises, aber er giebt nur
Solches, was ihn selbst lebhabt interessirte, und sucht dafür eine lebendige Theil¬
nahme auch bei den Zuhörern zu wecken. Und das gelang ihm in ausgezeichneter
Weise, obwohl der Redner weder durch seine äußere Erscheinung noch durch glänzende
Action wirken konnte. Es war die innige Ueberzeugung und die tiefe Wahrhaftig¬
keit, welche die Reden so eindrucksvoll machte. Auch im feinen Spott, in der heitern
Ironie spiegelte sich dieses wahrhaftige Wesen des Mannes wieder. Diesen Zauber
der lebendigen Rede freilich kann die stumme Schrift nicht wiedergeben, aber sie
kann, wie der Herausgeber sagt, „die Erinnerung wecken und dazu beitragen, daß
die verehrte Gestalt, deren Umrisse allmälig verblassen, in dem Herzen derer, die
von ihr Anregung und Förderung empfingen, von Neuem sich belebe." Dies ist
der Hauptzweck, den der Herausgeber bei Veröffentlichung dieser Vorträge im Auge
gehabt hat, und dieser auf alle Fälle wird mit dem Buche erreicht werden. Denn
wenn auch, wie bemerkt, nicht alles, was hier dargeboten wird, an sich bedeutend
ist, für Lobecks Schüler und Verehrer wird es Werth haben, weil es ihnen den Ge¬
schiedenen wiederbringt. Aber auch im weiteren Kreise der Gebildeten können diese
Reden Theilnahme erwecken, einmal weil sie, leicht verständlich, dem der Sache
ferner Stehenden in mancherlei Gebiete des classischen Alterthums neue Einblicke ge¬
währen, dann, weil ein großer Theil der Reden dnrch Zeitereignisse veranlaßt ist und
so widerspiegelt, wie Lobeck sich zu der politischen und religiösen Strömung in der
Gegenwart stellte, und weil jeder Leser den Eindruck empfangen wird, daß hier ein edler,
hochfinniger Charakter aus der Fülle seines Herzens redet, nicht mit feierlicher Würde
und hocheinhcrstelzender Phrase, wie so mancher Professor der Beredsamkeit bei der¬
artigen Gelegenheiten, aber stets mit seinem Geist und natürlicher Anmuth und des¬
halb nie langweilig.
Ein wirkliches Tagebuch nach Form und Inhalt, ganz so gelassen, wie es bei
der Wanderung von Rom nach Athen und von dort durch den Peloponnes und Nord-
griechcnland, dann nach einigen Inseln und wieder nach dem Peloponnes niederge¬
schrieben wurde. Werth für die Wissenschaft haben diese Aufzeichnungen nur wenig.
Die Reise wurde im Jahre 1842 unternommen, und nicht zu dem Zwecke, gelehrte
Forschungen anzustellen, sondern einfach, um „Anschauung zu gewinnen von dem
Boden und Himmel und Erfahrung von dem Klima des Landes, das mich so viel
und so befriedigend beschäftigt hatte, und die merkwürdigsten Ueberbleibsel aus dem
Alterthum auch mit eignen Angen zu sehen." Seitdem aber ist Griechenland wieder¬
holt von deutschen Gelehrten zu jenem Höheren Zwecke bereist und gründlich nach
den verschiedensten Richtungen und Beziehungen hin untersucht worden. Der Werth
des Buches liegt in der Person des Reisenden. Es ist ein verehrter Veteran der
Philologischen Wissenschaft, der uns hier mit seiner Liebe zum Alterthum, die ihn
auch das Kleinste von den Resten classischer Zeit beobachten läßt, mit seiner Freude
an landschaftlicher Schönheit, die ihn anmuthige oder großartige Punkte ausführlich
und mit Berücksichtigung selbst der Details in der Vegetation schildern heißt, und
überhaupt mit einem Capitel aus seiner Selbstbiographie, mit einem Stück seines
bedeutungsvollen und fruchtbaren Lebens entgegentritt. Manche^von den Natur-
beschreibungen bedürfte nur der Feile, um — wir können nach eigner Beobachtung
das Meiste controliren — ein kleines Cabinetsstück zu werden. Auch die Schilde¬
rung des einen und des andern Erlebnisses ist hübsch. Doch muß bisweilen die
Pietät über Breiten hinweghelfen, und selbst diese Tugend vermag wenigstens bei
uns nicht ganz die Meinung zurückzudrängen, daß Einiges doch besser wegge¬
blieben wäre. Wir können vor einem Geiste, der die Wissenschaft gefördert hat, wie
der Verfasser des Tagebuchs, so hohe Verehrung empfinden, daß wir auch kaum
Wissenswerthes von ihm, z. B. was er da oder dort geträumt hat, uns mittheilen
zu lassen geneigt sind; um uns aber dafür zu interessiren, wie oft (vgl. Bd. 1. S. 10)
die Seekrankheit auf seinen inwendigen Menschen gewirkt hat, wohnen wir zu weit
weg vom Lande des Dalailama.
In dem in Ur. 27 der „Grenzboten" enthaltenen Aufsatze „Aus dem Leben
des Generals Haynau" ist S. 28 folgendes zu lesen. „Wäre übrigens der Feldzeug-
meister (nämlich Haynau) auch zur Milde geneigt gewesen, so hätten sicherlich einige
Personen aus seiner Umgebung seinen Sinn umgestimmt. Zu diesen gehörte vor»
züglich ein Auditor, welcher von den Ungarn mit jenen Blutrichtcrn aus der Zeit
der Generale Cciraffa, Spankau und Heister verglichen wurde und einem Fouquier
Tinville zur Seite gestellt werden konnte. Er our.de später in Lemberg aus
offener Straße erdolcht." —
Mit diesem „in Lemberg erdolchten" Auditor kann niemand anders gemeint sein,
als der hier am 28. October 1863 meuchlerisch ermordete Landesgerichtsrath L. K. Ritter
von Kuczynski. Unter den Auditoren, die sich in Ungarn in Haynaus Umgebung
befanden, mag sich einer befunden haben, welcher der von ihm eben gemachten
Schilderung entsprach, der in Lemberg ermordete Kuczynski war es aber nicht.
Dieser hat nie unter Haynau als Auditor in Ungarn gedient. Seine dienstliche
Carriere ist folgende. Im Jahre 1845 wurde er zum Auditoriatspraktikanten
ernannt und fungirte bei der nach den Vorgängen des Jahres 1846 in Wadowice
errichteten militärischen Untersuchungscommission als Dolmetsch und Actuar. Hierauf
kam er im Jahre 1849 als Oberlieutenant-Auditor zum italienischen Armeegcneral-
commando, avancirte beim Regiment Erzherzog Ludwig zum Hauptmann und fungirte
bei demselben in Vorarlberg und dann in Holstein und Hamburg, worauf er vom
März 1852 bis September 1854 in Wien beim Kriegsgericht Dienste leistete. Im
October 1854 verließ er den Militärdienst und kam als Landesgerichtsrath nach
Preßburg, wo er bis Ende März 1861 verblieb und dann in gleicher Stellung nach
Lemberg verseht wurde.
Die Behauptung, daß er hier von Ungarn wegen seiner Blutthaten in ihrem
Vaterlande ermordet worden sei, stammt aus polnischer Quelle. Der Ermordete,
welcher wie viele seiner Amtscollcgcn Untersuchungen gegen Insurgenten und Mit¬
glieder der Nativnalrcgierung leitete, zeichnete sich durch unermüdliche Arbeitskraft,
großen Scharfsinn und ein enormes Gedächtniß aus. Er konnte als ein solcher
Untersuchungsrichter gefährlich werdet und weitgehende Entdeckungen über die Na-
tionalrcgierung machen. Er wurde somit, nachdem ihn die Gehcimblätter längst
prosribirt hatten, auf dieselbe summarische Weise unschädlich gemacht, welche die
Nativnalrcgierung damals so häufig anwendete. Die Vertheidiger und Freunde der¬
selben in Lemberg, die diesen das größte Aufsehen und selbst von Polnischer Seite
Mißbilligung erregenden Mord nicht auf polnische Rechnung gesetzt wissen wollten,
sprengten mündlich und durch ihre besoldeten Federn das oben erwähnte Gerücht
aus, da« nun auch seinen Weg in den Artikel der „Grenzboten" fand, welcher es
wohl nur dem Aerke G. Hellers entnommen haben mag. Dieser hätte aber in
einem Falle, wo es sich um die Ehre eines Menschen handelt, in der Wahl seiner
Quellen vorsichtiger sein sollen.
Wenn man die breiten Marmorstufen hinaufgestiegen ist, welche im Trep¬
penhause des neuen Museums von dem mittleren, den Gipsabgüssen vorbe-
haltenen Stockwerk, an jene beiden mit den kaulbachschen Malereien bedeckten
Wände anlehnend, zur obern Höhe des mächtigen Raums führen, und nun an
der gipsernen Nachbildung der berühmten „Kapelle" vom athenischen Erechtheion
steht, welche hier, ziemlich befremdlich und seltsam, den schon so engen Gang
vor dem großen östlichen Fenster noch mehr beengend, den ganzen Treppenbau
krönt, so hat man zur Linken wie zur Rechten je eine jener schönen Thüren von
dunkelglcinzendem, polirtem. edlem Holz, welche sich vor jeder Abtheilung des
Gebäudes finden; die eine, neben dem Bilde deS babylonischen Thurmbaues,
offen stehend, die andere gegenüber, neben dem des Reformationszeitalters,
geschlossen. Jene führt zu den Sälen der Kunstkammer, lzunächst zu dem der
architektonischen Modelle und Kunsttischlerarbeiten; diese zum Cabinet der Kupfer¬
stiche und Handzeichnungen. Aus diesem schmalen Verbindungsgänge zwischen
beiden staut sich gewöhnlich die compacteste Masse von Museumsbesuchern.
naiven Fremden, von Lohnlakaien oder gebildeten Eingebornen geführt, und
gläubigen Berlinern, für welche der traditionelle künstlerische Heiligenschein um
Kaulbachs Haupt noch in ungeschwächtem Glänze strahlt. Hier läßt der Er¬
klärer dieser gemalten Rebus, welche den Entwickelungsgang der Menschheit in
gewaltigen Zügen zu schildern prätendiren, mit inniger Selbstbefriedigung sein
Licht leuchten vor den Augen seines Zuhörerkreises, und über der Genugthuung,
die „tiefsinnigen Ideen" des Meisters so geläufig herzählen und expliciren zu
können, schwingt er sich zu immer begeisterterer Bewunderung dessen auf, welcher
durch die Art seiner „weltgeschichtlichen" Gebilde ihm die Gelegenheit und Mög¬
lichkeit gab, sich jenes ziemlich wohlfeile Vergnügen zu verschaffen. Bei dem
Reformationsbilde wird dasselbe augenblicklich noch durch Gerüste und ver¬
deckende Papierwände behindert; der Maler Dettmers, ein echter, oder, wie
der hiesige Ausdruck lautet, „richtiger" berliner Colorist „pur savß", der sich
vor einigen Jahren schwerlich eine derartige monumentale Ausgabe hätte träu-
men lassen, ist dort noch thätig, des großen Autors „erhabene Gedanken¬
schöpfung" aus dem grauen Urzustande der Kohlenzeichnung in das farbige Leben
des Wandbildes zu rufen. Und man muß dem geschickten, fertigen, an Richters
eleganter und glänzend effectvoller Farbe und Behandlungsweise herangebildeten
Berliner den Ruhm lassen, daß er seine Ausgabe über jeden Vergleich besser
löst als seine Münchner Vorgänger, welche sich in der Mehrzahl der andern
Trcppenhausgemälde hier eben kein sehr rühmliches noch erfreuliches Denkmal
ihres malerischen Sinnes gesetzt haben. Doch es ist bei diesem Besuch, den
ich dem neuen Museum abstatte, nicht meine Absicht, hier, sei es vor oder
hinter dem Schirm, zu verweilen und die bis zum Ueberdruß besprochenen Wand¬
malereien, über welche nun die Acten wohl geschlossen sein dürften, an dieser
Stelle eingehend zu betrachten und zu erörtern. Wir lassen der davor versammelten
wohlgesinnten Menge gern diese erhebende Beschäftigung und suchen uns unsern
Weg durch sie hindurch nach der geschlossenen Thür zur Linken neben den Gerüsten.
Diese Thür hat für den Uneingeweihten etwas Abweisendes. Vergebens
drückt er die kunstreich ciselirte broncene Klinke — sie öffnet ihm die Pforte
nicht. Vergebens klopft er — kein gastliches „Herein" ladet ihn, näher zu
treten, und mancher geht mit einem schlecht verhehlten Aerger oder lautem
Murren wieder hinweg, ohne einen andern Blick als durch das Schlüssel¬
loch in den geheimnißvollen Raum dahinter geworfen zu haben. Wer aber
Bescheid weiß hier im Hause, der drückt auf einen rechts von der Thür in
der Wand nur wenig bemerklichen Griff, und sofort antwortet dem Schall
der Klingel der Hall der Tritte im Innern, das Umdrehn des Schlüssels im
Schloß, und ein Museumsdiener öffnet die Pforte, um sie unmittelbar hinter
dem Eintretenden wieder zu schließen. So zahllose Male ich diesen Klingelzug
gedrückt und diesem Pförtner meinen guten Tag geboten habe, so bekenne ich,
daß ich kein neues Mal dasselbe thun kann, ohne von einer ganz eigenthüm¬
lichen Empfindung reinen geistigen Behagens höchst angenehm ergriffen und er¬
füllt zu werden. Es müßte jemand schon mit einer verzweifelten Rohheit und
Stumpfheit ausgestattet sein, wenn nicht der Anblick des Raumes, der ihn
hier erwartet, bereits eine dem ähnliche Wirkung auf ihn hervorbringen sollte.
Wer aber genau weiß, was ihm hier geboten wird, muß in viel stärkerem
Grade meine Empfindung theilen. Reiner und unbedingter, von keinen stören¬
den, ableitender Einflüssen und Eindrücken beirrter Genuß ist uns, wie man
weiß, in dieser schönen Welt ziemlich karg zugemessen, so wenig Aehnlichkeit
sie auch mit dem Jammerthal der Theologen hat; wie sollte er daher in so
menschlich unvollkommenen Einrichtungen, wie Museen und Bibliotheken sind,
zu finden sein! Aber wenn überhaupt irgendwo, so ist er es im berliner
Kupferstichcabinet. Es ist eine Stätte der edelsten geistigen Schwelgerei, und jede
äußere Einrichtung ist, um deren voll und ganz froh werden zu lassen, mit einer
Weisheit, einer liberalen Großartigkeit, einer Anmuth in den Mitteln ge¬
troffen, welche nach der Behauptung nicht nur der principiellen Gegner und
Bekrittler unserer staatlichen und behördlichen Anordnungen preußischen In¬
stituten nicht eben durchweg eigen und charakteristisch ist. Und jene gute Mei¬
nung ist keineswegs nur das Resultat des bestechenden ersten Eindrucks, Ich
, kenne nichts Stichhaltigeres als dies Kupferstichcabinet. Jede genauere Kennt-
nisnahme, jeder in langen Jahren wieder und immer wieder darin erneuerte
Aufenthalt zu andauerndem Studium wie zu flüchtigem, leichten Genießen
bestärkt jenen und erhärtet mehr und mehr sein gutes volles Recht.
Sehen wir uns zunächst im Durchwandern der Säle die Disposition
der Räume und die äußere Einrichtung und Erscheinung des ganzen Locals
etwas näher an. Sie nehmen die ganze nördliche Hälfte des obersten Stock¬
werks im neuen Museum ein und umschließen dort in der Höhe denjenigen
der beiden von den Flügeln des Bauwerks umspannten Höfe, auf dessen Grund¬
fläche sich die bekannte architektonisch-ägyptische Spielerei des nachgemachten Tempels
von Karnak in Miniaturausgabe erhebt. Zunächst ein Entreezimmer mit einem
großen Fenster nach der östlichen, der Spreeseite hin, links daran anstoßend
parallel mit ihm, ein dunklerer, vom Hof her beleuchteter Raum für die Diener,
die Requisiten, Buchbinderarbeitsgcräth und dergl. Es folgt in der Breite dieser
vereinigten Zimmer ein Saal von mächtiger Ausdehnung mit drei Fenstern nach der
Hofseite und vier nach der des Flusses hin. Rechtwinklig an diesen stößt an seinem
Ende, die nördliche Seite des Hofvicrecks bildend, ein schmäleres Durchgangs¬
zimmer und daneben ein zweiter Saal von den stattlichsten Maßen. Aus seiner
Mittelthür wieder gelangt man durch einen dem andern entsprechenden kleineren
zwischenliegenden Raum in den größten von allen, der, zugleich vom Hof, wie
von der äußern West- (der Kupfergraben) Seite her, dort durch fünf, hier durch
acht Fenster erhellt, mit seiner Ausgangsthür sich wieder in das Treppenhaus an
jenem Ende der nördlichen Wand desselben öffnet, wo das Bild der „Hunnen¬
schlacht" die Reihe der Gemälde an ihr beginnt. Dieser Ausgangsthür gegen¬
über, am andern Ende des langen Saals führt eine von reicher Holzschnitzarbeit
eingefaßte Pforte zum Zimmer der Directoren mit der seitlich daran stoßenden
Bibliothek. In allen diesen Räumen ist die selten gelöste Aufgabe aufs Glück¬
lichste vollzogen, vornehme Weite und Größe, künstlerische Noblesse der Dimen¬
sionen und der Einrichtung mit der schönsten traulichsten, gemüthlichen Behaglich¬
keit zu verbinden. Es ist schwer zu sagen, wodurch das bewerkstelligt ist. Bei
dem kleinen Vorzimmer mit seinen nah zusammengerückten Wänden, die mit schönen
Pastellcvpien berühmter dresdner Originale und in derselben Technik delikat aus¬
geführten Genrebildern von der eigenen Erfindung der trefflichen Madame Tassaert
aus dem Ende des letzten Jahrhunderts völlig bedeckt sind, ist es nicht zu verwun¬
dern. Wohl aber bei dem ersten großen Saal. Unter seiner flach gewölbten, mit Cas-
fetten gemalten Decke spannt sich ein reiches Hängewerk von vergoldetem Zinkguß
aus. Ueber den Fensterbogen zeigt sich immer grau in grau ausgeführt daS Bildniß
eines der großen Meister des Grabstichels von zierlichen Arabesken umgeben.
Die Fenster selbst sind je zwei große klare Spiegelscheiben durch je einen schmalen
Zwischenpfeiler getrennt oder vielmehr zum Anschein eines ganzen mit zwei
Flügeln vereinigt. Sie beginnen niedrig genug vom Boden, um dem auf den
Tritt davor Tretenden einen schönen Blick über Häuser. Fluß und Gärten unten
zu gewähren, und hoch genug, um das herrlichste ruhige, gleichmäßige Licht durch
den ganzen Saal zu ergießen. Die Farbe des letztern ist ein sehr sein ge¬
stimmtes Mattroth. Längs der Wände bemerken wir Schränke von hellpolirtem
Eichenholz, zwei desgleichen, einen kleinern höhern und einen langen niedern,
in der Mitte deS Saalraums. Auf dem mittelsten Schrank an der Hinterwand
steht die Kolossalbüste Albrecht Dürers, wie eines Schutzheiligen dieses Orts.
Ueberall ringsum in die Thürflügel der obern Schrankaufsätze sind unter Glas
besonders auserlesene Werke des Kupferstichs oder Handzeichnungen großer
Meister eingelassen. Andre sind in kostbare Rahmen gefaßt an freien Stellen
der Wände placirt. Jener Schmuck der Schrankthüren steht in keiner Beziehung
zum Inhalt des betreffenden Behälter« und zu den Meistern der innerhalb be-,
wahrten Arbeiten. Er soll nur würdigster Schmuck des Raums, zur Freude
für den ihn Durchwandelnden sein. Wer sich aber mit dieser Art der Betrach¬
tung und diesen Gegenständen derselben nicht begnügen will, findet hier und da
im Saal, hier runde, dort lange und breite viereckige Tische und Tafeln mit
zierlich gearbeiteten Füßen und festen grünen Tuchdecken und entsprechende
Rohrstühle davor, alles zugleich von gefälligem und gründlich solidem Ansehn
und Wesen. Hat er auf einem dieser Sessel Platz genommen, so mag er sich
als König und allmächtigen Beherrscher dieser Räume und aller Schätze, welche
sie umhegen, fühlen. Denn es bedarf nur eines Wirth an einen der stets auf¬
merkenden, dienstbereiten und verbindlichen Beamten, nur daS Aussprechen
seiner Wünsche, welches Malers, Stechers oder Zeichners Arbeiten, welches
Gallerte- und Sammelwerk, welcherlei Handzeichnungen, welcherlei seltne Drucke
oder Porträts oder Ornamente oder Städteansichten oder Costümbilder oder
was es immer auf dem ganzen ungeheuren Gebiet der graphischen Künste
sei, das er zu sehn begehre, so legt es nach einer Minute der, an den er
die Forderung gerichtet, vor ihn hin. falls es sich in der enormen Masse
des hier Angesammelten findet, und aus eigner Erfahrung kann ich versichern:
das Meiste, was man zu verlangen ersinnen kann, findet sich wirklich. In
festen buchartigen Mappen, auf starken Cartons befestigt, hat man eS da vor
sich, und nun mag man sich am Sehen befriedigen, mag man copiren wollen
in Bleistift, Pastell, Aquarell, kein Reglement, das. kein Beamter, der uns be¬
hinderte; wohl aber jeder der letztern bereit, e« uns dabei bequem zu machen.
Stative für das steilere Auflegen der Originale herbeizuschaffen und schweigend,
höflich und unsern neuen Auftrag erwartend, ungerufen vor uns zu stehn, so¬
wie das Zuklappen des festen Banddeckels nach vollendeter Durchsicht einer
Mappe ihm angezeigt hat. daß wir mit der zuletzt gebrachten zu Ende sind.
Es gibt in keiner Stadt und keinem Lande der Welt eine Einrichtung von ähn¬
licher Liberalität; es ist nie genug darauf hingewiesen worden, was dem künst¬
lerischen und kunstliebenden Publikum und wie es ihm hier geboten wird. ES
ist recht hübsch in der großen Gallerie der Handzeichnungen im Louvre den
ganzen Schatz derselben in seiner unerschöpflich reichen Herrlichkeit so vor sich
massenhaft ausgebreitet zu sehn. Blatt für Blatt neben einander unter Glas;
man geht durch die Reihen und läßt den reizenden Zug an sich vorüberziehn.
Aber schließlich' wird man stumpf gemacht eben durch die Massenhaftigkeit. und
das unmittelbare Nebeneinander des Verschiedensten verflacht und verflüchtigt
den Eindruck des Einzelnen. Welch ein andrer Genuß ist es. welch ein andres
Studium, sich jedes dieser kostbaren Blätter für sich mit eignen Händen in bester
Beleuchtung vornehmen zu können, es zu prüfen, den feinsten Zug und Punkt
des Zeichners bequem zu verfolgen. Und nun gar das gänzlich von dem der
Handzeichnungen getrennte pariser Labinst äos estampes! Wie unwirthlich,
finster, raumbeschränkt der Saal der Libliotaöliuö impöriale in der Rue Ri¬
chelieu, den es einnimmt! Welche Umstände, welche Schritte sind nöthig, um
hinein, welche verwirrenden und complicirten Formen, um an irgendeins der
gewünschten Werke, ja welche Maßregeln sind gar erforderlich, um nachher
wieder hinaus zu gelangen! Zuerst die schriftliche stadtpostlich einzusendende Pe¬
tition an UyvLiöur 1ö vireewur um eine Zutrittskarte. Mit dieser ausge¬
rüstet betritt man den unbehaglichen Saal, wo eine Anzahl von Subdirectoren
und Secretären an einer gleichen Zahl von verschiednen Pulten schreiben. Aber
man verlange nur einmal schlichtweg von einem derselben die Herbeischaffung
eines gewünschten Werkes: „it taut xreinZre uns cardo", „dort am mittelsten
Tisch finden Sie Karten, um das Verlangte aufzuschreiben". Gut, man thut
es und giebt sie diesem Herrn des mittelsten Tisches. Wieder gefehlt: die
Wunschkarte darf nur dem Beamten übergeben werden, dessen Pult denselben
Buchstaben mit unsrer Karte trägt. Endlich hat man seinen Zweck erreicht, und
ein gewisses Kupferwerk durchgesehen, bewacht von scharflugenden Wächteraugen,
ob man nicht auch reglementswidrigerweise mit irgendeinem andern Material
als der erlaubten „ome as xlomd" seine Skizzen mache, oder sich gar als
schlimmster aller Verbrecher mit einem heimlichen Stückchen Pflanzenpapier und
dem Versuch durchzuzeichnen hervorwage. Man wünscht einen neuen Band:
dieselbe Reihe von Manövern, um dazu zu gelangen. Unsre Zeit ist um, wir
empfehlen uns den Herren und gehn hinaus über den stillen Hof mit seinen
säuselnden Bäumen und Brunnengeriesel, wollen nichts ahnend und gewifsens-
rein die Außenpforte öffnen, — da stürzt der Concierge aus seiner Loge auf
uns los: „on us passe pas eomms 9a; votrs passe avant s'it vous platt!"
Das scheint dem Begreifen eines Fremden schlechthin unfaßlich, man fragt,
man protestirt, aber das Resultat aller Verhandlungen ist doch nur, daß man
sich wieder den Weg. den man gekommen, zurück bemüht, um von dem Herren
am mittelsten Pult sich das fehlende Document zu erbitten, ohne welches der
schreckliche Pförtner Euch nicht ins Freie läßt. Diese neue „Larte" besteht in
einer Ermächtigung, daß wir mit dem. was wir in der Hand tragen, „avso
un rsgiströ, un album, une portöteuiUs" (denn an dem Skizzenbuch nahm
jener Anstoß) Passiren dürfen. Es mag diese scharfe Controle und Sicherung
gegen Entfremdungen durch schlimme Erfahrungen dort geboten sein, aber es
berührt, zumal den an unser heimathliches System Gewöhnten nichts empörender,
als da, wo ihn der reinste, geistigste, uneigennützigste Zweck hinführte, sich erst
bescheinigen lassen zu müssen, daß man auch nichts unterschlagen und gestohlen
hat. Der Pariser nimmt das als etwas ganz Natürliches, findet gar nichts
daran auszusetzen: die kleine und unausgesetzte Beamteneinmischung, Chikane
und Reglementirerei erscheint ihm durchaus als normaler Zustand. In dem
prächtigen Jardin de Luxembourg einmal nach der Natur skizzirend, nach jenen
unvergleichlichen Kastanienhccken und den Kindergruppen, die sich im fröhlichen
Spiel auf den Kicsplätzen dazwischen tummeln, wurde ich sofort von ein paar
„Lsaräiens" um meine „Oartö Ac pörmissiou" dazu gefragt. Nicht einen Strich
dürfte ich weiter zeichnen, ohne dieselbe vom „eommairäant irulitaire an
I^uxemdourZ" eingeholt zu haben. Vor ihm gab es wieder ein scharfes Examen:
wie lange, in welchen Tagesstunden, auf welcher Seite, in welchen Partien
des Gartens ich zu zeichnen beabsichtigte. Als ich das endlich erhaltene, mit
solchen Bestimmungen und Beschränkungen gespickte Document einem pariser
Freunde zeigte und meinem Erstaunen sowie meinem von patriotischem Stolz
auf die in diesen Punkten schrankenlose glückliche heimathliche Freiheit und un¬
bedingte polizeiliche Liberalität geschwellten Empfinden ziemlich unverhohlnen Aus¬
druck gab, entgegnete er ganz verwundert in vollem naiven Ernst mit den
großen Worten, die für den Franzosen nicht charakteristischer gedacht werden
konnten: „Hus vouls-i-vous! drei? vous pas ac libsrts?! a?aris vous poupe?
tairs tont que vous voules et eorrime vous 1s voulöü, s'it ri'est pas
iirtsrÄit!"
Verzeihung für die Abschweifung. Die Erinnerung an diese „organisirte"
französische Freiheit auch in diesen Dingen kommt wir wohl, wenn ich im voll¬
sten dankbaren Wohlgefühl dessen, was uns die Heimath gönnt, vor diesen
grünen Tischen sitze. Es bedarf freilich des Hinblicks auf jenen oben geschil¬
derten Zustand nicht, um des gegenwärtigen froh zu werden. Er ist an und
für sich reich genug an den nöthigen Bedingungen solcher Stimmung. Selten
ist der Saal besonders von Besuchern gefüllt; nur in den sonntäglichen Mittag¬
stunden, wo das Publikum ungehemmt durch die für jeden offen stehenden Säle
circulirt und dann freilich auf die Betrachtung der an den Wänden und außen
an den Schrankthüren planirten Blätter beschränkt bleibt. An den andern Tagen
nur hier und da ein Künstler, der nach dem ihm gerade praktisch Nothwendigen
in Costüm- und Porträtwerken herumspürt; eine junge Dame, die ein Hilde-
brandsches Aquarell oder einen reizenden alten Pastellkopf copirt; ein paar
„Kenner" und Sammler, die mit der Loupe in der Hand sich in die Untersuchung
solcher ganz entlegener Blätter, gewisser Drucke mit kleinen Besonderheiten, oder
„mit Einfällen" am Rande von gewissen Meistern, die sonst im ganzen Jahr
kein andrer profaner Mensch fordert, vergraben sitzen; hier und da eine Gesell¬
schaft von weltlichen Herren und Damen, die auf die verfängliche Frage des
Dieners, was sie zu sehen wünschten, verlegen irgendeinen mal gehörten
Künstlernamen ausgesprochen haben ^ und nun mit dem schlecht verhehlten und
unterdrückten Lachen des modernen „bis an die Sterne weit" vorgeschrittenen
berliner Civilisationsmenschen unter ihnen höchst komisch erscheinenden dürer-
schen Holzschnitten blättern; oder auch wohl bann und wann ein paar Fremde;
oder ein hoher Herr von So und So, mit der seiner Race eignen blitzschnellen
Fertigkeit im Auffassen aller Dinge und im Fertigwerden damit, flüchtig durch
alle Säle eilend, flüchtige Blicke auf die unsterblichen Meisterwerke an den
Wänden werfend, des begleitenden Dieners Erläuterungsversuche nur mit dem
vornehmsten unverständlichsten Schnarren der Erbweisheit erwidernd und nach
zwei Minuten bereits wieder wie ein glänzendes Meteor aus der Eingangsthür
verschwindend.
l Im Ganzen, während des größten Theils der Tageszeit, herrscht tiefste
Ruhe, kaum ein leises Flüstern, ein stilles Rauschen umgeschlagner Blätter, die
„verhüllten Schritte" der Beamten. Durch die klaren großen Fenster sieht man
das Wehen und Wechseln der Wolken; aber nichts, das uns zerstreute, dringt
auch von dort her auf uns ein. Lärm und Noth der Alltagswelt sind draußen
geblieben, hier finden sie uns nicht, hier stören sie nicht die schöne gesammelte
Beschaulichkeit, in die wir versinken, die rechte Stimmung, die feinsten Reize
der Kunst würdig zu genießen.
Der Beamte trägt die erste Mappe, die wir besahen, hinweg, eine zweite
herbeizuholen. Folgen wir ihm, zu sehen, wo er sie suchen wird.
Es hält schwer, von der Anordnung des ganz ungeheuren Besitzes von
Drucken und Zeichnungen, dessen sich das Cabinet rühmt, eine klare Anschauung
und Uebersicht zu geben. Ein ganz bestimmtes Princip, nach welchem jene
durchgeführt wäre, ergiebt sich nicht; so mag hier die Andeutung einiger der
dabei bestimmend gewesenen hauptsächlichsten Gesichtspunkte genügen. Haben wir
Von dem unsre Wünsche befragenden Beamten Handzeichnungen zur Be-
sichtigung verlangt, so wird er diese Forderung am schnellsten befriedigen; denn
vorzugsweise den Handzeichnungen sind die Schränke des ersten, des rothen, Saals
eingeräumt, in welchem wir uns befinden, ausschließlich ihnen die der hin¬
tern Hälfte seines Raums, die durch eine leichte Barriere von der vordem
geschieden ist, während letztere hauptsächlich Stichen nach solchen Meistern vor¬
behalten wurde, welche erfahrungsmäßig als die allerbekanntesten am häu¬
figsten zum Befehlt begehrt werden: Rafael (die 18—20 Bände kleinerer Blätter),
A. Dürer, Rembrandts Radirungen, Chodowiecki u. a. Stand unser Sinn
nach indischen) persischen, japanischen und chinesischen Malereien, Drucken und
Zeichnungen (von denen, zumal den japanischen, unsre ostasiatische Expedition
dem Cavinet eine Menge der interessantesten, oft genug durch ihre zuvor
bei uns nicht geahnte Vortrefflichkeit Staunen erregenden Proben zugeführt
hat), so wird der Beauftragte den niedern Schrank in dem engen Durch¬
gangszimmer öffnen, welches zwischen unserm ersten, dem rothen Saal,
und dem nächsten, dem grünen, liegt. Die den Blicken des hier Passirenden
durch eine bis zur Decke gehende Holztäfelung verdeckte, größere, tiefe und
schmale Abtheilung dieses Durchgangs birgt in riesigen Regalen einen künstleri¬
schen Schatz der eigenthümlichsten Art. der unter allen hier bewahrten vielleicht
am seltensten von der Neugierde des dilettantischen wie des Künstlerpublikums,
welches das Cabinet besucht, aus seiner verstaubten Ruhe gestört, aus seiner fried¬
lichen Lage gerissen wird. Es ist das die unter allen existirenden umfangreichste
Sammlung geschnittener Holzstöcke von den Meistern des Zeichenstists, des
Stichels und Messers seit drei bis vier Jahrhunderten. Da stehen die großen
und kleinen köstlichen Blöcke, ihre dem Laienauge so völlig unverständliche, räth¬
selhaft roh erscheinende, hier tief ausgegrabne, dort in tausend Lagen leicht
geritzte Oberfläche, in welche so viel Genie der Erfindung, so viel Kunst, Geschick '
und treuer ausdauernder Fleiß der beseelten Hand ihren unverlöschlichem Stempel
prägten, von dickem grauem Papier sorglich umhüllt, da stehen sie aufgespeichert
bis zur Decke und der Nützlichkeitsmensch könnte fragen, wem zu Liebe und
Lust, wem zu Gebrauch und Lehre? Im Grunde wohl um ihrer selbst willen;
denn die, welche ihnen vor allen jene beiden entgegenbringen, diese beiden bei
ihnen suchen und finden müßten, die heutigen Holzschneider, denken nicht daran,
es zu thun, in der handwerkenden Tagesarbeit und in dem eiteln Bewußt¬
sein von ihrer eignen Vollkommenheit und Unverbesserlichkeit, in welche sie mehr
wie alle andern Künstler versunken sind. Aber wie viele Abtheilungen von
Bibliotheken und Sammlungen sind nicht in dem gleichen Fall, wie diese Holz¬
stöcke, und doch wollen wir uns immerhin freuen, daß Regierungen, unbeirrt
von engen Nützlichkeitsprincipien, in deren Begründung, Vermehrung und sorg¬
lichen Hütung „um ihrer selbst willen" eine Art von idealer Pflicht sehen, der
sie genügen zu müssen glauben: „thu das Gute und wirfs ins Meer, sieht es
der Fisch nicht, sieht es der Herr." — Verlangten wir eines der großen Sammel¬
werke aller Art, welche das Museum besitzt, zu sehen, von Gallerien, Von
Architekturen (vorhandenen und Entwürfen), von Feierlichkeiten, von Militär¬
actionen, von Photographien, von Farbendrucken, von Reisebildern, von Alter¬
thümern, oder wollten wir uns am Genuß und Studium der größten und
prächtigsten Kunstdrucke erlaben, so sucht der Beamte das geforderte Werk oder
Blatt in dem genannten, an jenen Durchgangsraum grenzenden, grünen Saal,
wo drei niedere Schränke mitten in seinem Raum und achtundzwanzig in
fortlaufender Reihe sich an seinen vier Wänden entlang ziehende von gleicher
Höhe die zu jenen Abtheilungen gehörigen, in jene Rubriken einzuordnenden
Mappen und Bände enthalten. Der bereits geschilderte allgemeine Eindruck,
welchen das ganze Cabinet der Kupferstiche und Handzeichnungen aus den nur
einigermaßen dafür empfänglichen Besucher hervorbringt, muß in diesem Saal
eigentlich seine größte Stärke erreichen. Man kann hier mit vollstem Recht das
populäre Wort anwenden: „es geht Einem das Herz auf", wenn man hineintritt.
Die Wände, von einem milden lichtgrünen Farbenton, durchaus bedeckt mit Oel-
skizzen, Aquarellen, Pastellen, Handzeichnungen aller Art, die Einrahmungen,
deren unendlich mannigfaltige Schönheit, deren von Kunst und Geschmack ge¬
adelter Reichthum des Schnitzwerks, deren oft ganz originelle Seltsamkeiten der
Form und des Zierraths zuerst den Blick fast ablenken von den erlesenen Künstler¬
arbeiten, welche sie umfassen; die Decke, ein freiliegendes flaches Tonnengewölbe,
mit leichten Arabeskenmalereien geschmückt. Ranken mit schwebenden Gestalten,
Vögeln, Blumen :c., zwei wenig bedeutende allegorische auf Kupferstecherkunst
bezügliche Compositionen, und innen grau in grau gemalte Brustbilder großer
Meister derselben umgebend. Das mächtige eine Fenster in der nach Norden
gerichteten schmalen Wand läßt in diesen weiten schönen Raum das klarste,
ruhigste, reflcxlose Tageslicht strömen, das jedem der Blätter und Bilder an den
Wänden zur entsprechendsten Wirkung verhilft. Es ist, als ob sich alles ver¬
einigte, den „idealen Raum" dieses Saales mit Reiz zu schmücken. Selbst die
Aussicht draußen, welche ihm erst die neuste Zeit gegeben hat. trägt wesentlich
dazu bei. Es fügt sich nämlich so. daß jene brillante, goldglänzende maurische
Kuppel der von Knoblauch in der oranienburger Straße während der letzten
Jahre erbauten neuen Synagoge hier vor der Mitte des Fensters in nicht zu
entlegner Form aus der prächtigsten Baumgruppe des viel näher gelegnen Mon-
bijouparks gleichsam unmittelbar aufragend erscheint, ein landschaftlicher Blick
so reich, so eigenthümlich, so malerisch Stil- und effectvoll, so anscheinend mit
künstlerischer Weisheit componirt, wie ich wenige in Berlin kenne.
Die ganze überwiegende Masse der Stiche und Holzschnitte, darunter auch
die große Bildnißsammlung des Cabinets und noch manches Andre haben wir
in dem dritten großen Saal, dem blauen, von diesem grünen durch einen schmalen
dunkeln Durchgang ganz getrennt, zu suchen. Er ist, im Vergleich mit den beiden
andern, der am wenigsten zum Verweilen und Einnisten einladende Raum.
Seine Länge (so wie das vergoldete Hängewerk seiner flach gewölbten Decke)
entspricht der vereinigten Ausdehnung des correspondirenden rothen Saals mit
Vor- und Dienerzimmer jenseits des dazwischenliegenden Hofraums. Auf diesen
hin öffnen sich in seiner östlichen Längenwand fünf Fenster, nach außenhin an
der entgegengesetzten deren acht, durch schmale Zwischenräume von einander ge-
schieden. Das helle Blau seiner Wandfarbe giebt ihm schon von vornherein
etwas Ungemüthliches. In einer langen Reihe von abwechselnd höhern und
niedern Eichenschränken, welche, auf beiden Seiten seiner Längenausdehnung
folgend, einen mittleren Gang freilassen, und in einigen andern an den beiden
kurzen Wänden befindlichen sind hier die betreffenden Bände bewahrt. Nur
ein Tisch mit einem Paar imposanter grüner Sammetlehnstühle spätmittelalter¬
lichen Stils unterbricht hier jene Folge. Sie sind für etwaige Besuche kö¬
niglicher und anderer höchster Herrschaften reservut. An den Wänden hier wie
überall reicher Bildschmuck von Zeichnungen, Aquarellen, Oelbildem, Pastellen,
ja sogar von luinischen Fresken, die von ihrer Mauer abgelöst und auf Lein¬
wand übertragen wurden; dazu in zwei aufrechtstehenden weiten Rahmen an
Vorder- und Rückseite aneinandergereiht eine große Sammlung von Miniatur¬
porträts meist aus den beiden letzten Jahrhunderten; und in die Außenseiten
und des obern Aufsatzes' jedes der höheren Schränke eingelassen unter Glas
eine Folge von Kupferstichen und Holzschnitten von den ältesten Jncunabeln und
Versuchproben vom fünfzehnten Jahrhundert an bis fast zur Gegenwart, in
welchen man, ruhig von einem zum andern gehend, die ganze Entwickelungs¬
geschichte dieser beiden graphischen Künste an sich vorüberziehen lassen kann.
Wenn die Hauptmasse des Inhalts dieser Schränke auch die (nach Bartsch'
xeiotrv Zraveur geordneten) Stiche aller Schulen und Holzschnitte enthält, so
sind doch noch wiederum einige besondere unter andern Gesichtspunkten ver¬
einigte Sammlungen unter ihrem Inhalt mit aufzuführen. Z.B.: deutsche
Spielkarten, neuere deutsche Meister, Russen, Lithographien nach Dürer, Reibe¬
drucke, Monogrammisten, Costümwerke (ein kleiner Theil der vorhandenen), noch¬
mals Feierlichkeiten, Bildnisse, und wieder speciell solche brandenburgischer Für¬
sten, andrer regierender Familien nach Ländern geordnet, kalligraphische Werke,
Goldschmiedeverzierungen, Reisewerke, Handzeichnungen in Bänden, gestochne
Kupferplatten und Buchtitel. Und auch mit alle dem, was ich seither auf¬
führte, ist die Zahl der Sammlungen dieses Cabinets'keineswegs erschöpft. Sie
setzen sich selbst noch in dem Zimmer der Direktoren und feinem Seitengemach
fort, welche sich an die nördliche Wand dieses blauen Saales anschließen, mit
dem sie durch jene früher schon erwähnte Thür mit reich geschnitzter Holzeinfas-
sung und Krönung, von der Kolossalbüste Mareäntonios überragt, verbunden
sind; ersteres von der West-, letzteres, Wand an Wand mit dem grünen Saal
gelegen, von der Nordseite her durch je ein Fenster beleuchtet. Denn in diesem
Directorenzimmer haben die trefflichen, gelehrten und liebenswürdigen Herren
Professor Weiß und Professor Hotho. die für jeden Wunsch, jede Frage und
jede Anmuthung des kunstfreundlichen Publikums wie der Künstler jederzeit zu¬
gänglichen, freundlich hilfsbereiten Verwalter, Ordner und Leiter dieses Ganzen,
selbst kaum den nothdürftigen Arbeitsraum mehr übrig, so enge umdrängen sie
die wieder von andern großen Gallerie- und Sammelwerken über Costüme.
Ornamente, Geräthe, von allem, was Frankreich, England, Deutschland. Italien
in dieser Gattung zu irgendeiner Zeit producirt und edirt hat, ganz erfüllten
hohen Nepoßtorien. Eben solche Schränke ringsum an den Wänden des un¬
mittelbar angrenzenden Bibliothekzimmers, und zwar die vollständigste Bibliothek
der illustrirten Bücher seit circa vier Jahrhunderten.
Diese ganz ungefähre Inhaltsangabe mag einen allgemeinen Begriff davon
geben, was diese Museumsabtheilung uns zu bieten hat. Die Versuche der
Katalogisirung sind seither noch an der überschwenglichen Fülle des vorhan¬
denen Materials gescheitert. In Ermangelung eines solchen genauen und spe¬
ciellen Verzeichnisses sind inzwischen die bereits erreichten Resultate der mehr¬
jährigen hingebenden Arbeiten der gegenwärtigen Directoren behufs der Ordnung,
Sichtung, Rubricirung, Registrirung und Unterbringung dieser Schätze mit Dank
zu begrüßen. So vielfach verwirrend und widersprechend manches darin auch bei
einer derartigen Aufzählung, wie ich sie versuchte, noch dem Leser erscheinen
mag. so gründlich wissen die obersten Beamten dieses Instituts, wie die Diener
darin Bescheid, so daß kein Wunsch hier darum vergeblich gethan werden
könnte, weil man etwa das Begehrte nicht zu finden wüßte. Gerade Professor
Herman Weiß, der bekannte Autor der (Stuttgart bei Ebner und seubert
erschienenen) „Costümkunde, Geschichte der Tracht und des Geräths" ist in
den Vorstudien und Arbeiten zu diesem umfassenden Werk in jener Art
von Massen ordnender und gliedernder Thätigkeit gründlich geschult, die
hier erfordert wurde, und beweist es an der ihm vorliegenden Aufgabe täglich
von Neuem. Seine Bestrebungen, diese Schätze durchaus und unbedingt flüssig
und dem Publikum zugänglich zu machen, auf jede Gefahr hin, haben seitens
des Generaldirectors Herrn von Olfers eine Zustimmung zu erlangen ver¬
mocht, welche so gut wie jene Thätigkeit die wärmste Anerkennung verdient.
Für die Entstehungsgeschichte des Kupferstichcabinets fließen überraschender¬
weise die Quelle« sehr spärlich; die Chronik der Begründung, Entfaltung
und des mächtigen Gedeihens dieses trefflichen Instituts ist die an Nachrichten
ärmste, die ich kenne. Die Daten über den ersten Ursprung, so nahe in der
Zeit derselbe auch liegt, erscheinen trotz ihrer authentischen Wahrheit fast sagen¬
haft. Diese Kunstsammlung ist eine von König Friedrich Wilhelm dem Ersten
begründete, von dem Soldatenkönig; dem principiellen Hasser und Verächter
der Künste und alles feinen, geistigen und anmuthigen Lebensschmucks. Aber
das cur, guoinoäo, quibus auxiüis suchte ich immer noch vergebens in Er¬
fahrung zu bringen, selbst bei denen, die, sollte man meinen, von Amtswegen
genaue Kunde davon haben und geben können müßten. Genug, die Thatsache
besteht, und wir haben uns an ihr genügen zu lassen. Der mittelste Wand¬
schrank des rothen Saals, auf welchem die Büste Albrecht Dürers ruht, enthält
noch ungetrennt aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang jene als „Sammlung
Friedrich Wilhelm des Ersten" bezeichneten deutschen Und niederländischen Hand«
Zeichnungen. Unter den späteren Regenten wird sich im Lauf der Zeit mehr
und Neues aus diesem Keim entwickelt, um diesen ersten festen Punkt angesetzt
haben. Doch ist das Cabinet zu einem eigentlich großartigen und allseitigen
Besitz erst durch den im ersten Regierungsjahre Friedrich Wilhelm des Vierten
vollzogenen Ankauf der berühmten Privatsammlung v. Naglers gekommen,
ein Besitz, der durch die spätere Erwerbung der gleichfalls sehr umfangreichen
und vollständigen v. Derschauschen und durch fortwährende neuere Ergänzungen
und Vermehrungen allmälig zu seiner gegenwärtigen enormen Ausdehnung, wo
er weit über eine halbe Million Blätter umfaßt, gebracht worden ist. Erst
mit dem naglerschen Ankauf erhielt das so erweiterte Cabinet seinen besondern
Director in der Person des unvergeßlichen v. Schorn, des Bruders jenes be¬
kannten annahm-berliner GeschiHtsmalers und des weimarischen Kunstgelehrten
gleichen Namens, dessen (des letztern) Sohn gegenwärtig dort als Secretär der
neuen Kunstschule fungirt. Schorn, früher selbst auch Maler wie der eine
Bruder, war ein einsichtsvoller und leidenschaftlicher Kenner und Freund der Kunst,
von einer seltenen Allseitigkeit des Geschmacks und der Würdigungsfähigkeit
des Producirten, welche ihn befähigte, zu gleicher Zeit für Kaulbach und Adolf
Menzel fast eine gleichgroße Liebe und Bewunderung zu bewähren. Die
graphischen Künste kannte er aus dem Grunde, die Specialbildung des rechten
Kupferstichliebhabers und Sammlers, welche für profane Sterbliche etwas so
Unbegreifliches hat, war bei ihm durch seine Verwaltung des naglerschen Ca-
binets noch unter seinem ursprünglichen Besitzer zu einer erstaunlichen Ent¬
wicklung und Verfeinerung gediehen. Aber anders als die Mehrzahl der Spe¬
cialisten dieses Genres hatte er über dem Versinken in die kleinen Wichtig¬
keiten dieser Kunde und Bildung nicht den höhern freiern Sinn für die Haupt¬
sachen der Kunst verloren, denen gegenüber sich der meisterlichste Stich immer
doch nur wie Mittel zum Zweck verhält. Junggesell sein Leben lang, wie es
der rechte „Kenner und Sammler" xar exesllenee selbstverständlich sein muß,
hatte er sein eigenes Heimwesen zu einem kleinen Museum interessanter Kunst¬
schätze, künstlerischer Kuriositäten, erlesener Handzeichnungen, Drucke, Schnitz¬
werke, Möbel:c. gemacht, aus welchem nach seinem vor etwa 8—10 Jahren
erfolgten Tode viele Genossen seines edlen Ordens bei der Versteigerung
ihre lang gehegte Begierde stillen durften. So war Schorn durch Natur
und Geistesart zum Director eines solchen Instituts wie dieses Kupferstich,
cabinets. wie berufen, und er hat sich „wohl verdient gemacht darum".
Als ich in den ersten Vierziger Jahren nach Berlin kam. fand ich dasselbe
dem größten Theil des Publikums und den Künstlern kaum minder noch so
gut wie unbekannt. Es hatte damals in dem einen zwischen Platz und Garten
gelegenen Flügel des Schlosses Monbijou ein stilles, heimliches, von Wenigen
besuchtes Asyl. Gegen die Räume, die ihm gegenwärtig zugewiesen sind, war
jener lange Saal im Erdgeschoß mit seinen Nebenzimmern ein sehr beschränkter
Aufenthalt. Aber das Gefühl tiefer Befriedigung und schönen stillen geistigen
Behagens, von dem ich Eingangs sprach, überkam uns auch da gewiß in
nicht schwächerm Grade, als heute hier. Die beiden alten Diener, der
runde freundliche gradköpfige Herr Vogel und der hagere braune Franzose
Norisieur rissot kehrten wohl gegen jeden blos neugierigen Eindringling
eine keineswegs einladende Miene heraus und beeilten sich gerade nicht,
dem, der vergebens auf einen Maler- oder Stechernamen sann, den er auf
die stehende Frage, welchen Meister man zu sehen wünsche, nennnen sollte,
bei dieser schwierigen Gedächtnißarbeit zu Hilfe zu kommen. Aber wen die
Liebe zur Sache oder ein künstlerisches oder kunstgeschichtliches Bedürfniß, der
Wunsch, ein bestimmtes Werk oder Blatt zu finden, zu studiren, zu copiren,
hieher führte, der war immer sicher, in Abwesenheit SchornS selbst an diesen
beiden Herren die Helfer zur Erreichung seiner Zwecke zu finden, die stets bereit
und unermüdlich waren alles, damals noch nicht wie heute Geordnete zu durch¬
stöbern und nachzuschlagen, bis das Gesuchte herausgespürt war. Und ihre Schritte
klangen so weich und unhörbar auf dem Parquet, der Deckel des herbeige
brachten Bandes klappte nur einmal laut auf den Tisch auf. Draußen flüsterten
die Blätter der hohen Bäume des Gartens, und man verlor sich tief und tiefer
in das glückselige Träumen über der Meister Werke oder die noch beglückendere
Arbeit nach ihnen, und Zeit und Welt draußen war versunken und vergessen!
Von allen Abtheilungen des neuen Museums wurden die Säle, welche dann
das Kupferstichcabinet aufnehmen sollten, zuerst in Ausbau und Ausschmückung
vollendet, und die Uebersiedlung von Schloß Monbijou konnte daher bereits
stattfinden, als die untern Hallen und Räume noch im Zustand wilder bau¬
licher Verwirrung lagen, als Maleigerüste an allen Decken und Wänden hingen,
wo der Durchpasstrende von herabtropfender Farbe getroffen und befleckt wurde,
über halbangefangene Mosaikfußböden und verdrießliche Arbeiter an und auf
denselben in jedem Augenblick strauchelte, in höchster Gefahr gegen die überall
herumstehenden, eben eingebrachten Gipsabgüsse zu fallen und dort ein Unheil
anzurichten, dessen Gedanke schon Entsepen war. Um zu dieser Zeit eingelassen
zu werden, bedürfte eS einer im Secretariat erbetenen Eintrittskarte. Mit dieser
bewaffnet schweifte man dann erst in schönem Sicherheitsgefühl vor Verbot und
Zurückweisung durch die seltsam anzuschauenden Räume, durch deren chaotische
Wüstheit, durch deren ringsum verstreute Rudimente späterer Bildungen doch
bereits etwas wie eine Ahnung künftiger edler, kunstgestalteter Ordnung, har¬
monischer Schönheit und Pracht ging, die sich bald aus solchen Urzuständen
entwickeln und abklären sollte, schweifte man umher mit jener eigenen Art
von wonniger Schaubegierde, die sich immer so nur unter dergleichen, ihre Be¬
friedigung erschwerenden Umständen erzeugt. War man dann aber an den
Herren Echter und Muhr vorbei, die damals an Kaulbachs ersten Treppenhaus¬
bildern malten, oben vor der Thür deS KupferstichcabinetS angelangt, hatte
sich diese erst hinter dem Eintretenden geschlossen, so machte sich die heilige
Stille und Ordnung, die hier herrschten, nur um so lebhafter und angenehmer
fühlbar. Damals walteten Schorn, Herr Vogel und Mr. Tissot in den andern
Sälen genau wie ehedem in Monbijou. Dann aber sind die beiden ersten
schnell nach einander dahingegangen. Nur der letztere, braun und durchfurcht
wie eine der alten Jncunabeln oder frühsten Kupferdrucke selbst, wandelt noch
immer unter einem andern Geschlecht von Kollegen und trägt sogar freundlicher
und weniger verdrießliche französische Propos murmelnd, denn ehedem, die
schweren Mappen für ein neues und zahlreicheres Geschlecht von Schaulustigen
herbei. Ich bin sein und des Cabinets guter alter Bekannter, und so wird eS
mir verstattet sein, hier und da nach Belieben in einzelne Schränke hineinzu¬
sehen, einige Bände willkürlich herausgreifend, einige Blätter und die Bilder an
Wänden und Thüren noch einmal mit Muße zu betrachten.
Ferdinand sandte, als er von den im vorigen Abschnitt geschilderten Un¬
ruhen hörte, nach allen Gegenden Commissäre. um die Bauern zu beschwich¬
tigen und ihre Beschwerden zu vernehmen, ermächtigte die Negierung zur Auf¬
nahme von Anleihen und Verpfändung seines fürstlichen Kammergutes behufs
der Aufbringung von Kriegsvolk; als er aber 1000 Mann von außen an sich
ziehen wollte, wurden die Bauern darüber so unwillig, daß er dem östreichischen
Hauptmann Balthasar Tanradl, der am 15. Mai mit ISO Pferden von Ratten-
berg gegen Innsbruck zog, Befehl zur Umkehr ertheilte. Dafür dachte er nun
im Lande selbst 5—10,000 Mann gegen die Aufständischen auszurüsten. Der
Groll der Bauern traf nur Ferdinands Günstlinge, er selbst besaß noch das
Vertrauen der meisten. In Füssen, das dem Bischof von Augsburg gehörte,
schien er sich fast als dessen Gegner zu zeigen, da er die bischöflichen Wappen
abnehmen und die östreichischen aufpflanzen ließ, ja die Stadt für sich in Eid
und Pflicht nahm; einige ahnten freilich den versteckten Handel, wie er sich
denn auch vom Bischof 8000 si. für dich Aushilfe zahlen ließ. Die Knappen
von Schwätz hielten ihn aber alle« Ernstes für fähig, das Erzstift Salzburg ein¬
zunehmen und erboten sich, ihm dazu 5000 Knechte zu stellen, so wenig kannten
sie seine wahre Gesinnung. Nach Trient sandte er einen Ehrensold mit dem
obersten Feldhauptmann Georg v. Freundsberg, und wollte es auch dort zum
Schutz des Bischofs-dahin bringen, daß die Stadt sammt den dazu gehörigen
Gemeinden ihm persönlich als Fürsten von Oestreich und Grafen von Tirol
Erbhuldigung leiste. Um die Trienter dafür zu gewinnen, versprach er ihnen
eine gütliche oder rechtliche Entscheidung des Streites wegen der Ausfuhr ihrer
Weine. Die Etschländer wurden vom Angriff auf einige Schlösser zu Gunsten des
Adels abgemahnt, weil sie eigentlich dem Landesfürsten gehörten, und die
Brixner durch Versprechungen milden Verfahrens auf einer Versammlung zu
Neustift vermocht, einen Waffenstillstand zu machen. Als jedoch der Pfleger
Brandeis das Schloß Rodeneck mit Kriegsknechten besetzte, sahen dies die
Bauern als einen Bruch des Uebereinkommens an und achteten auch nicht mehr
der ferneren Briefe des Erzherzogs, die jene Beste als landesfürstliches Eigen¬
thum erklärten, ja die zu Pfeffersberg schmähten laut und öffentlich sein Siegel,
einer zu Rodeneck ritt mit der Aufforderung umher, seine Commissäre todtzu¬
schlagen, die Etschländer bemächtigten sich gegen hundert adeliger Schlösser.
Den Gemeinden von Thaur und Rettenberg in der unmittelbaren Um¬
gebung von Hall, wo früher die wiedertäuferischen Prediger gewirkt, lag vor
allem die Wahrung des neuen Evangeliums am Herzen. Wenn man ihre
Supplication mit den 12 Artikeln der Bauerschaft vergleicht, die um die Mitte
des März in Oberschwaben entstanden, scheint es unleugbar, daß diese auch
den Tirolern vorlagen und als Richtschnur dienten. Dort wie hier ist es das
erste und größte Anliegen, daß das Wort Gottes lauter und klar ohne mensch¬
lichen Zusatz verkündet werde. Die Verfolgung derjenigen, die ihm anhangen,
gilt ihnen als die nächste Ursache des Aufruhrs, da der Mensch nicht wisse,
was er thun oder lassen soll. S. fürstliche Durchlaucht wird daher gebeten,
die vertriebenen Geistlichen wieder im Lande wohnen und predigen zu lassen ;
auch soll eS der Gemeinde vergönnt sein, ihre Pfarrer selbst zu wählen und
einzusetzen. Die Supplication stimmt in diesen Forderungen oft fast wörtlich
mit dem ersten jener 12 Artikel überein, die bald das allgemeine Programm
der ganzen Bauerschaft wurden. Die übrigen Punkte paßte man dem Bedarf
des Landes an. Auch hier wurde beim Verkauf, wie dort bezüglich des Tod-
falls, die Abschaffung des Auf- und Abzugs, des doppelten Zehents und der
übermäßigen Grundzinsen, namentlich jener des Bischofs von Augsburg, die
Beschränkung der Forstknechte, Freigebung des Vogel- und Fischfangs, unge¬
hinderte Vertreibung des Rothwildes begehrt; der Rest der Beschwerden bezog
sich theils auf die Verletzung des alten Herkommens in Besetzung der Aemter
mit Fremden. Erhöhung des Schreib- und Siegelgeldes, Einmischung der
Obrigkeiten in die Vergleiche der Gemeinden, Beseitigung der Geschwornen
beim Strafverfahren, Errichtung von Weinschänken durch Richterund Gerichts¬
schreiber, Beseitigung der Fugger und anderer Kaufmannsgesellschaften, der
vielen Zölle und des vergrößerten Maßes, so wie die Absperrung des kreuter
Weins, theils auf die neuesten Ereignisse, die Ausfuhr von Pulver, Büchsen
und Geschütz und Heranziehung fremder Reiter. Auch die Ausschüsse des Jnn-
und Wippthales stellten als Ursache des Aufruhrs die Sorge des gemeinen
Mannes um die lautere Verkündung des Evangeliums, „wie das der Text an¬
zeigt", und den Eigennutz des dagegen wirkenden Klerus obenan und beklagten
sich nebenher über die Theilnahme der Geistlichen an der Negierung und die
Willkür des Schatzmeisters, der für sich allein alle Aemter leite und fremdes
Kriegsvolk kommen lasse. Die Bergwerksverwalter zu Schwätz und das Gericht
Freundsberg erklärten dagegen, daß sie ob solcher Empörung großes Mißfallen
trügen und bereit wären, ihr mit ganzer Macht zu steuern, ebenso anhänglich
lauteten die Eingaben aus Ehrenberg und Pusterthal. Am weitesten gingen die Be¬
schwerden der Bauerschaft an der Etsch. die, nachdem sie bei einer Versammlung
am 13. Mai beschlossen worden. Michael Gaißmayr selbst überbrachte. Alle Zinsen,
mit Ausnahme der an den Landesfürsten, vor allen jene an Klöster und Pfarrer,
sollten todt und ab sein, ebenso die Zölle, statt des Auf- und Abzugs, wie
von Alters her, dem Grundherrn nur eine Ehrung mit einem Pfund Pfeffer
gethan, und der Kornzehend der Gemeinde gereicht werden, doch nur so viel,
als nöthig, um den Pfarrer davon zu unterhalten; diesen möge sie selbst ein-
und absetzen. Vicare seien abgestellt, Edle und Unedle, Geistliche und Weltliche,
müßten fürder vor dem gemeinen Richter Red und Antwort geben, die Wei-
denei, Jagd und Fischerei seien frei zu geben, kein vergrößertes Maß mehr zu
dulden, insbesondere wurden die Aufhebung des Zolls in Ulten und das Ver¬
bot der Einfuhr von trienter Weinen gefordert.
Ferdinand versprach in seiner Antwort an die Gerichte Thaur und Netten-
verg, daß er das heilige Evangelium klar und lauter nach christlichem Verstand,
durch ehrbare, geschickte und fromme Priester wolle verkünden lassen; es schien,
als sei er mit ihrem Begehren völlig einverstanden; nur der Nachsatz, daß
die Gemeinden jene zu strafen verhilflich sein sollten, die durch ihre Predigten
zu unchristlichen Verstand, Aufruhr und Widerwillen unter dem Schein des
Evangeliums aufreizen, ließ seine wahre Meinung durchblicken. Jedenfalls
wollte er aber die Herstellung einer guten christlichen Ordnung auf einen
um Martini zu haltenden gemeinen Landtag aller Erdtaube verschieben, da
diesen sämmtlich daran läge. Auf die Beschwerde wegen der Besetzung der
Regierung mit Fremden wurde das Versprechen ertheilt, an den Landesfreiheiten
festzuhalten, einen Doctor oder zwei erfordere aber die Nothdurft, da in Sachen
der vordern, wälschen und görzischen Lande nach dem kaiserlichen geschriebenen
Rechte zu erkennen sei. Bezüglich des Auf- und Abzugs. Schreib- und Siegel-
geldes, des gerichtlichen Verfahrens und der Kaufmannsgesellschaften wurde auf
den nächsten tiroler Landtag und die bereits verfaßte Landesordnung, der
Zinsen, Zehenten, des Fischens und des trienter Weins halber auf die alten
Rechte gewiesen, nur der Vogelfang freigegeben und verstattet, das Rothwild
aus den Gründen wegzujagen, die Entscheidung wegen des Zolles zu Innsbruck
den Gerichten überstellt, das Wegführen des Pulvers und der Büchsen mit der
nöthigen Bewaffnung von Kufstein und Rattenberg gerechtfertigt und die Ver¬
sicherung ertheilt, daß das fremde Kriegsvolk! Befehl zum Rückzug erhalten
habe. In den meisten Dingen sollte es beim Alten bleiben, der Zugeständnisse
waren wenige und unbedeutende. Kein besseres Ergebniß hatte der „eilende
Tag", wozu der Erzherzog die Gerichte von Ober-. Unterm»- und Wippthal,
die drei Herrschaften Rattenberg, Kufstein und Kitzbüchel und die Bergwerts¬
genossenschaften von Schwätz, Sterzing, Gossensaß und Schneeberg auf den
23. Mai nach Innsbruck berief. Die meisten Beschwerden wurden auch hier
auf den Landtag verwiesen.
Um sür diesen „einen gleichseitigen christlichen Verstand" zu erzielen, hiel¬
ten die Aufständischen vom 22. Mai bis 1. Juni eine Vorberathung in Meran,
an der trotz der Abmahnungen des Erzherzogs und des innsbrucker Ausschusses
die meisten Städte und Gerichte Südtirols, einschließlich der Fürstentümer
Trient und Brixen teilnahmen, nur die Pusterthaler ließen sich durch das
Verbot abhalten. Die 106 Artikel, die hier beschlossen wurde», sind größten-
theils eine weitere Ausführung jener Beschwerden der Bauernschaft an der Etsch
und enthalten eine vollständige Aufzählung aller Reformen, die für Tirol ge-
wünscht wurden. Nicht gegen den Landesf-ürsten waren sie gerichtet, einzelne
Anordnungen zeugen vielmehr von der alten Anhänglichkeit, wohl aber gegen
den Klerus, die Hofbeamten des Erzherzogs, die Richter und Rechtsanwälte.
Das ganze Land mit allen Pfandschaften und dem Einkommen der Bischöfe
und Klöster sollte Sr. fürstlichen Durchlaucht gehören, dafür aber auch „die
Gesellschaft Tirol" frei sein". Kein Bisthum. sondern nur ein Pfarrer in
jedem Gericht, kein Frauen- oder Bettelklostcr, im nebligen nur 1—3 Stifte
wollte man mehr dulden, die Aufnahme selbst in diesen beschränken und nur
solche Ordensleute und Laicnpriester zulassen, die im Predigen des Wortes
Gottes ohne allen ungegründeten Zusatz geschickt, ehrbar und dem Trunke nicht
ergeben find. Den Geistlichen wurde untersagt, mehr als ein Benesicium zu
besitzen, der Pfarrer sollte von der Gemeinde gewählt sein, am Orte selbst
seinen Sitz haben und kein Ordensmann dazu befähigt sein. Die Stolgebüh¬
ren wurden abgeschafft, der Ueberschuß geistlichen Einkommens zur Gründung
von Krankenanstalten und zum Unterhalte der Hausarmen bestimmt.
Was diese Leute unter Freiheit begriffen, bestand zunächst in gleichem
Stecht für alle. Sämmtliche Bewohner eines Gerichts sollten vor demselben
Stab Recht nehmen, im ganzen Lande nur ein Brauch gehalten, alle Statuten
und Gebräuche an einzelnen Orten abgethan sein. Die Wahl, Ein- und Ab¬
setzung der Richter, Gerichtsschreiberund Frohnboten war den Gemeinden, nur
die Bestellung der Beamten zur Eintreibung der landesfürstlichen Einkünfte
dem Erzherzog eingeräumt, andere Rentenverwalter (Pfleger) dachte man auf¬
zuheben, ebenso die Antheile der Richter an den Strafen. Betreffs der Re¬
gierung zu Innsbruck war festgesetzt, daß sie mit ehrlichen Landleuten, nicht
mit Fremden, Geistlichen oder Doctoren besetzt, und alle Handlung sogleich
und mündlich vorgenommen werde. Insbesondere sprach sich der Unwille gegen
den Landeshauptmann Leonhard v. Vels und den Schatzmeister Salamanca
aus. Man drang auf Entfernung des ersteren von seiner Stelle, die nicht
wieder zu besetzen wäre, gegen den letzteren war in einem eigenen Artikel aus¬
gesprochen, daß er, seine Freunde, Diener und Anhänger gänzlich aus dem
Lande gewiesen und alle seine Schlösser, Gerichte und Herrschaften dem Erz¬
herzog eingeantwortet werden. Die Fugger, Hochstetter, Welser und andere
Kaufmannsgesellschaften, sie seien klein oder groß, wollte man abgestellt haben,
damit die Waare wieder den rechten Preis erhalte; fremdes Volk war nicht
mehr ohne Erlaubniß des Bürgermeisters oder Richters in den Städten zu
dulden, auch mußte es geloben, nicht wider Se. Durchlaucht und das Gericht
zu sein. Um das bürgerliche Wesen in guter Einigkeit zu erhalten, dachte
man alle Bürger dem Landesfürsten und der Obrigkeit ihren Eid erneuern zu
lassen, die Widerspenstigen ihrer Bürgerrechte zu entsetzen und in den Städten
nicht mehr zu leiden. Die Leibeigenschaft, die Roboten, Holzfuhren, Vogtei-
und Schaltjahrzinsen, das Siegelgeld, alle unbilligen Zölle sollten in der
ganzen Grafschaft Tirol ab und das Wild, Geflügel, die Fischerei und Weide
frei sein.
Am 11. Juni begann der Landtag zu Innsbruck, der als ein „offener"
oder allgemeiner angekündet war. Das Recht auf diesem zu erscheinen stand neben
den souveränen Bischöfen von Trient und Brixen und den Abgeordneten ihrer Dom-
kcipitel den tirolischen Prälaten. Pröbsten. Aebtissinnen und dem Deutschordens-
comthur. dann allen immatriculirten Adeligen, Städten und Gerichten zu. Nach
der Prüfung der Vollmachten hatten sie unter Vorsitz des Landmarschalls den
großen Ausschuß von 40 und den kleinen von 8 Mitgliedern zu wählen, die
dann über die vom Landesfürsten beantragten Gegenstände unter einander be¬
rathen und ihr Gutachten dem Landtag zur Entscheidung nach Curien vorlegen
sollten. Von den Bischöfen war diesmal keiner erschienen, da beide, jener von
Brixen sogar nach seiner Herrschaft Beides in Krain, flüchtig geworden, auch
die übrigen vom Klerus durften ihre Sitze nicht einnehmen, weil die Bürger
und Bauern weder sie noch den Adel zulassen wollten. Gleich anfangs wur¬
den sie darüber einig, von der Wahl der Ausschüsse und der Abstimmung nach
Curien abzugehen; mit dem Adel kam es aber nach zweitägiger Verhandlung
zu einem Vergleiche, wodurch sich dieser verpflichtete, in allen ziemlichen und
billigen Sachen zu ihnen zu halten. Das dagegen ergangene Verbot des
Fürsten hatte keine Wirkung, da ihm keine Macht zum Schutze der Ritterschaft
zur Verfügung stand und diese aus dem Lande verjagt zu werden fürchtete. Am
meisten war der Bauer über Salamanca erbost, wenn man ihn hörte, hatte
er die Empörung nur gemacht, um diesen zu vertreiben. Ferdinand hing an
diesem Günstling wie an seinem besten Freunde, tagtäglich wechselte er mit ihm,
der sich in Schmieden, einer fuggerschen Herrschaft im Gerichte Landsberg,
verborgen hielt, insgeheim Posten, einige von der Landschaft drangen in ihn,
sich seiner zu entschlagen, aber vergebens. Er sann nur darauf, die Bauern
durch Begütigung hinzuhalten, bis die Dinge im Reiche eine andere Wendung
nähmen. Die Allgauer, mit denen er sich durch einen zu Füssen errichteten
Vertrag geeinigt alle ihre Beschwerden gegen die Herren aus einem Tag zu
Kaufbayern entscheiden zu lassen, gingen in ihrem Zutrauen so weit, sich bei
ihm Abgeordnete von den ihnen freundlich gesinnten Städten Meran. Hall und
Glurns zu erbitten, was er dann freilich versagte. Schon lange hatten jene
mit den Tirolern und Salzburgern ein Bündniß verabredet, ihre Sache ge¬
meinschaftlich zu führen, dies ließ in Ferdinand, der davon Kenntniß hatte,
den Entschluß entstehen, sich des Erzstiftes für den Bischof zu bemächtigen.
Er hatte bereits Boten zu ihm geschickt, sich seiner Zustimmung zu versichern,
nichts schien leichter, als die Rebellen auf diese Weise zur Ruhe zu bringen,
doch eben der Verdacht einer Gebietserweiterung erweckte die Eifersucht der
bayerischen Herzoge. Gleich bei Eröffnung des Landtags sandten sie vier Ab¬
geordnete nach Innsbruck, um die Maßnahmen gegen Salzburg wahrzunehmen,
während sie vorgaben, nur ihre Herzoge gegen den Vorwurf der Wiederaufnahme
des Krieges mit den Allgäuern rechtfertigen und die Tiroler der guten Nachbarschaft
Bayerns versichern zu wollen. Ihre Berichte an den Hof zu München geben ein
treues Bild von der den Ständen gegenüber beobachtenden Haltung Ferdinands.
Die Landschaft hatte den Erzherzog ersucht, ihre Beschwerden anzuhören,
und als sich dieser hierauf am 22. Juni in Begleitung seiner Gemahlin, der
Botschafter der bayerischen Herzoge und des schwäbischen Bundes in ihre Mitte
begab, las ihm der Bürgermeister von Innsbruck jene 106 meraner Artikel
vor, mit der Bitte, sie entweder allein oder gemeinschaftlich mit den Gesandten
in Erwägung zu ziehen, nur die Einmischung des Kaisers wollte man beseitigt
wiesen. Am Ende trug er noch mündlich auf Vergebung alles Geschehenen
an. So unterwürfig auch dies alles lautete, die Gemüther waren deshalb nicht
weniger aufgeregt, und man konnte schon von den Bauern hören, daß sie bei
einer abschlägigen Antwort auf die Entfernung der mit Salamanca einverstan¬
dener Räthe dringen und im Verweigerungsfalle einige Gerichte aufbieten und
sie festsetzen würden. Gleichwohl ließ sich der Erzherzog, den der Klerus nicht
umsonst seine „einzige Zuflucht" nannte und mit Bitten bestürmte, in seiner
am 27. Juni der Landschaft vorgelesenen Antwort in einem sehr strengen Tone
vernehmen. Er warf den Städten und Gerichten vor, daß sie trotz der An¬
nahme des jüngsten Landtagsabschiedes und der aus Meran erfolgten Zusage,
nichts Unbilliges zu begehren, in seine fürstlichen Hoheitsrechte eingreifen, einen
neuen Gerichtszwang einführen und alle Stände gleich machen wollten, woraus
eine unsägliche Zerrüttung entspränge. Am meisten schmerzte ihn, daß der ganze
geistliche Stand, der seit Menschengedenken mit den andern so treuliches Mitleid
getragen, nebst allen alten Stiftungen abgethan, und wider deren Güter und
Freiheiten, wofür sie von seinen Vorfahren Brief und Siegel erhalten, ge¬
handelt werden sollte; ohne Vorwissen des Kaisers könne er, da er blos Gu-
bernator sei, keine neuen Statuten und Ordnungen machen. Die Hebung der
Mängel und Gebrechen der Geistlichen, wenn sie auch etwas größer als in
anderen Ständen, sei nicht Sache eines einzigen Landes, der Bischof von
Trient so wie jener von Brixen sei ein Fürst des Reiches, der Graf von Tirol
ihr Schirmvogt, die auswärtigen geistlichen Fürsten , Prälaten und Gotteshäuser,
die hier Güter besäßen, ständen unter dem Schutz des Kaisers, auch widerst ehe
es dem heiligen Evangelium, jemanden seines Besitzes mit Gewalt zu entsetzen.
Er rieth daher, die Ankunft des Kaisers abzuwarten oder eine Botschaft an
ihn zu senden und sich mit dem Adel auszugleichen. Eine allgemeine Amnestie
stellte er zuletzt mündlich erst dann in Aussicht, wenn man die aufrührerischen
Bündnisse ausgegeben, ihre Hauptleute sich unterworfen, die Feindseligkeiten
eingestellt und die eingenommenen Schlösser und Güter geräumt wären.
Die Stände dankten in ihrer Erwiderung für den gnädigen Nachlaß der
Strafe, meinten aber, durch den letzten Abschied seien von ihren Beschwerden
noch viele unerledigt geblieben. Die Abstellung dieser könne man um so eher
vom Erzherzog erwarten, als er in vielen Landessachen sich als Gubernator
so benommen, daß jene wohl in seiner Macht liegen müsse. Die Unterthanen
von Trient und Brixen seien von ihren Fürsten verlassen, es zieme also dem
Erzherzog als ihrem Schutzherrn, ihnen zu helfen, auch könne man Besitzungen
der auswärtigen Geistlichkeit im Lande schon wegen ihres Strebens, sich den
weltlichen Gerichten zu entziehen, nicht dulden, in der Grafschaft Tirol wolle
man nur nach einem Landesbrauch Recht nehmen und die vielen Ab¬
weichungen davon seien nicht die geringste Ursache der Empörung. Niemand
werde Sr. fürstlichen Durchlaucht wehren, in ihrem Lande bis auf ein allge¬
meines Concil oder die Entscheidung der Reichsstände Ordnung zu machen.
Die Rückstellung der besetzten Schlösser und weggenommenem Fahrnisse. Ent¬
lassung der Hauptleute und Auflösung des Bündnisses könnten erst nach Er.
ledigung aller Beschwerden erfolgen, man sei jedoch bereit, das Stift Brixen,
das der Erzherzog schon in Besitz genommen, bis zur weiteren Austragung der
geistlichen Sachen in seinen Händen zu lassen.
Bei Verfassung dieser Antwort war den Städten und Gerichten auch der
Adel behilflich, der aus Furcht vor den Bauern selbst in jene Punkte willigte,
die ihm offenbar zum Nachtheil gereichten.» Es fruchtete daher gar nichts, daß
sich der Erzherzog insgeheim bemühte, die Ritterschaft wieder auf seine Seite
zu ziehen; wenn er auch einige Pässe und die Feste Kufstein inne hatte, zu einem
Krieg im Gebirge fehlte es ihm an Fußvolk. Die Angst, die man bei Hofe
vor den Bauern hatte, beweisen unter andern die am 26. Juni von der Erz¬
herzogin unternommene Wallfahrt zum h. Blute nach Seefeld, die, weil man in
ihr eine Silberlieferung für Salamanca sehen wollte, bald einen Auflauf erregt
hätte, und die am S.Juli an den Herzog Wilhelm von Bayern gesandte Botschaft,
Wodurch dieser ersucht wurde, nach dem Abzug der Aufständischen von Memmin¬
gen auch den Truchseß stillestehen zu lassen, damit der Erzherzog aus den Bergen
komme. Die Bauern kannten bereits diese seine Absicht und fürchteten die
Herbeiziehung von Reisigen, worüber auf der am 2. Juli zu Thaur gehaltenen
Versammlung viel Geschrei erhoben wurde. Ferdinand glaubte dieser Aufregung
nicht besser begegnen zu können, als dadurch, daß er Tags nachher sich öffentlich
etliche von der Landschaft als Begleitung zu dem Tage nach Kaufbayern erbat,
wo er das den Allgäuern gegebene Versprechen lösen müsse. Zu gleicher Zeit
ließ er auch wieder in Gegenwart seiner Gemahlin und der Gesandten die
Antwort auf obige Erwiderung den Ständen vorlesen. Sie lautete betreffs der
geistlichen Dinge noch immer ablehnend, wiewohl er sich in weltlichen schon zu
bedeutenden Zugeständnissen herbeiließ und einige Tage später die ihm vor¬
geschlagene neue Landesordnung genehmigte. Freilich wurde auch diese mit
dem Beisatze eingeleitet, daß sie den gemeinen Landesfreiheiten unschädlich und
ihre Verminderung oder Vermehrung mit Vorwissen der Landschaft vorbehalten
werde. Lieber hätte er die Bauern für ihre unerhörte Auflehnung gestraft,
doch auch die bayerischen Gesandten riethen zur Mäßigung, ja sie hielten selb>t
seine Person für gefährdet, wenn er auf die noch unerledigten Artikel nicht eine
gnädige Antwort gäbe.
Die neue Landesordnung beruhte, insofern sie Vorschriften über das ge¬
richtliche Verfahren enthielt, im Gegensatz zum Kaiserrecht und mißliebigen rö¬
mischen „auf Gebrauch und Herkommen". Ueber bürgerliche Streitsachen wurde
in den Städten nach ihren Freiheiten von Rathsmännern, auf dem Lande von
Geschwornen Recht gesprochen, betreffs der Appellation aber, je nachdem die
Gerichte den Landesbrauch angenommen oder bei ihren Statuten geblieben, nach
jenem oder diesen vorgegangen. Die Adeligen, die kein Gewerbe trieben, be¬
hielten ihre eigenen Gerichte in Innsbruck, Meran oder Bozen nach Maßgabe
ihres Wohnsitzes. Den Rechtsanwälten beließ man die von Maximilian fest¬
gesetzten Taxen, bestimmte das Siegelgeld wie vor Alters, gab für den Schreiber¬
lohn neue Vorschriften und stellte die Sterbtaxe sowie das einigen Klöstern ge¬
gebene Besthaupte gänzlich ab. Auch bei Verlassenschaften war der alte Landes¬
brauch maßgebend, und dem Mit einem lebenslangen Nutzgenuß Bedachten blieb
noch immer die Wahl vorbehalten, ob er diesen oder das Eigenthum des dritten
Theils des ganzen Nachlasses nehmen wollte. Dem Verlangen nach Reformen
wurde insbesondere in Sachen der öffentlichen Verwaltung und der Bodcnlastcn
Rechnung getragen. Man führte im ganzen Lande mit Einschluß der beiden
geistlichen Fürstenthümer gleiches Maß und Gewicht ein, erneuerte das alte
Verbot des Vorkaufs von Eß- und anderen Waaren bei Strafe der Fälligkeit,,
unterwarf wunderliche Darleiher dem Verluste des Geldes oder noch strengeren
Bußen und setzte die besonderen Begnadbriefe, welche die Zünfte zur Steigerung
ihres Arbeitslohnes benutzten, außer Kraft. Ebenso wurden einige Zölle im
Pusterthal abgeschafft. Der gewerbtreibende Adel mußte von nun an zu den
Gemeindelasten gleich den Unadeligen beisteuern. Die Ueberbürdung der Bauern¬
güter sollte vor allen durch eine gerichtliche Untersuchung erhoben und nach
deren Gutachten die Abgaben zeitweilig oder für immer vermindert werden.
Hierbei machten die Urbarialbücher als einseitige Aufschreibungen des Zinsherrn
keinen Beweis mehr, die Verleihung mußte von nun an nach Landesrecht ge¬
schehen. Der Auf- und Abzug wurde, wo nicht eine geringere Ehrung ge¬
bräuchlich, auf ein Pfund Pfeffer beschränkt, zweifache oder Wispelzinsen und
der kleine Feldzehent für Rüben, Grünmabd, Obst und Hühner, sowie auch
Roboten, die nicht verbrieft und seit 60 Jahren erweislich waren, ganz auf¬
gehoben. Afterzinsen als ablösbar erklärt, Wehsathen (Abgaben von Nahrungs¬
gegenständen) erhielten einen mäßigen Geldanschlag, in Fehljahren trat ein be¬
stimmter Nachlaß ein. Die Jagd von Roth- und Schwarzwild. Fasanen und
Federspiel, nämlich Falken und Habichten, blieb zwar in der Regel verboten,
erstere war jedoch, wo es die Nothdurft erforderte, nach vorläufiger Bitte und
Anzeige und zur Abwendung von Schaden, also ausnahmsweise gestattet, un-
bedingt endlich die Haltung von Hunden. Vertreibung des Wildes aus den
Gütern und Erlegung der Raubthiere. Die Fischerei wurde außer den Bächen
zu des Hauses Nothdurft freigegeben. In den Vorschriften über peinliches
Recht bemerkt man mit einiger Befriedigung, daß das Gestandniß auch „ohne
Marter" vor 5 oder 7 ehrbaren Männern wiederholt werden mußte und gegen
das Strafurtheil der Geschwornen nur eine Nullitätsbeschwerde, aber keine Ap¬
pellation zulässig war. Der Gefahr eines Aufstandes sollte durch die „Em¬
pörungsordnung" vorgebeugt werden, wobei es vorzüglich auf Verhütung des
Glockenstreichs, des Schießens bei Nachtzeit und die sofortige Abstellung der
Unruheir durch die Viertelmeister und die ihnen zugeordneten Beisitzer ab¬
gesehen war.
Die Beschwerden gegen die Geistlichen hatten im neuen Gesetz keine Er¬
ledigung gefunden, weshalb der Bürger- und Bauernstand am 16. Juli ein
schließliches Begehren überreichte, worin auf der Wahl der Pfarrer durch die
Gemeinde und deren Bestätigung durch den Erzherzog als dem geringsten Zu-
geständniß bestanden wurde. Ferdinand mußte sich, wenn er anders aus dem
Lande kommen wollte, auch in Bezug hierauf zur Nachgiebigkeit verstehen; wie
sehr ihm aber diese vom Klerus verarge wurde, zeigt der Vorwurf des Amt¬
manns des Klosters Neustift, des Chronisten Kirchmayr, daß er Sachen gegen
die Vernunft und die guten Sitten, nämlich das, was damals die
Rechtgläubigen dafür nahmen, bewilligt habe. Freilich galt die diesfällige
„Ordnung des geistlichen Standes" nur bis zum nächsten Concil, und wie wenig
man ernstlich daran festzuhalten dachte, zeigt, daß sie nicht einmal gleich der
Landesordnung in Druck erschien. Durch die daselbst den Gemeinden betreffs
der Wahl und Absetzung der Geistlichen eingeräumten Rechte, wobei sich der
Landesfürst nur die Bestätigung vorbehielt, war offenbar das Ordinationsrecht
der Bischöfe und die Weihe als Sacrament verworfen, für ebenso ketzerisch hielt
man die Unterwerfung des Klerus in weltlichen Rechtshändeln unter die Gewalt
des ordentlichen Richters und die Befreiung der Laien vom geistlichen Gerichts¬
zwang, nur die Ehesachen und die Kirchenpolizei waren davon ausgenommen.
Zur Steuerung der Klagen über eingeschlichenc Mißbräuche sollte der Pfarrer
fortan im Sprengel der betreffenden Gemeinde seinen Sitz nehmen, für Sacra-
mente und Begräbnisse kein Entgeld abheischen und bei Seelenmessen niemand
übernehmen. Stiftungen und der Geistlichkeit verkaufte Güter waren fortan
für immer einlösbar, desgleichen die den Klöstern vermachten Liegenschaften, sie
durften dafür nur eine jährliche Gabe empfangen; die Verhandlung über den
Nachlaß der Geistlichen wurde der weltlichen Obrigkeit übertragen, in Erman¬
gelung von Erben traten als solche der Landesfürst, die Kirchen und Hausarmen
ein. Die Steuerfreiheit des Klerus war aufgehoben und keinem seiner Mitglieder
gestattet, ein Gewerbe, namentlich eine Wirthschaft, zu treiben oder Wein aus-
zuschcinken. Nur in einigen Dingen bestand Ferdinand auf Beibehaltung des
alten Brauches, wie z. B, rücksichtlich des Sammelns der Bettelorden, das er
ihnen auch für die Zukunft erlaubte, da durch dessen Verbot jeder geistliche
Orden von selbst abgethan wäre.
Kaum war der Landtag mit dieser letzten Entscheidung geschlossen, so eilte
der Erzherzog noch im Juli aus den Bergen, ritt nach Augsburg, um dort den
schwäbischen Bund gegen die rebellischen Salzburger anzuspornen, und später
nach Tübingen, wo er durch seinen Statthalter den Markgrafen Philipp Ver¬
handlungen mit den Bauern in Vorderöstrcich einleitete. In Tirol hatte er
noch während des Landtags seine Commissäre ins Fürstenthum Brixen gesandt
und sich als dessen Schirmvogt im EinVerständniß mit dem Bischof am 26. Juni
in Bruneck huldigen lassen. Ebenso nahm er die Deutschordenshäuser zu Bozen,
Lengmoos und Schlanders „bis auf gemeine Reformation" zu Handen. Brixen
und viele Schlösser des Stiftes waren aber von den Aufständischen besetzt, die
nicht weichen wollten. In der bischöflichen Burg lag Gaißmayr, der oberste
Hauptmann des Bundes an der Eisack, der sich einen „Mehrer des fürstlichen
Kammcrguts" nannte und nur zu Gunsten des Erzherzogs zu handeln vorgab,
mit 200 Knechten und hatte sich des aufgefundenen Silbers bemächtigt, zu dessen
Rückstellung er vergeblich aufgefordert wurde. Nicht minder widerspenstig ließen
sich die Brixener selbst an; denn als sie ihr Bischof von dem mit den Städten
und Gerichten zur Aufhebung der geistlichen Herrschaft geschlossenen Bündniß
abmahnte, ertheilten sie ihm am ö. Juli eine sehr frostige Antwort. Erst auf
den Erlaß des Erzherzogs vom 21. Juli, womit er die förmliche Besitzergrei¬
fung des Stiftes verkündete, den Georg von Firmian zum Verwalter, den
Hauptmann Anton v. Brandeis zu dessen Stellvertreter ernannte und nur noch
die geistliche Gerichtsbarkeit dem Bischof vorbehielt, gab man sich aus Furcht
vor strengeren Maßregeln in Brixen wieder zur Ruhe und nahm daselbst wie
auch in Neustift und Klausen den von den landesfürstlichen Kommissären ver¬
kündeten Landtagsabschied an. Nur die Gerichte um Brixen verweigerten noch
die Herausgabe der eingenommenen Häuser und Schlösser, und einige Gemeinden
an der Eisack wollten die Annahme der Landtagsbeschlüsse verzögern; als aber
mit der am 15. Juli erfolgten Auflösung des 20,000 Mann starken Heeres der
Allgauer alle Hoffnung auf die Hilfe der dortigen Bundesgenossen verschwunden
war, sank auch Gaißmayr und seinen Hauptleuten der Muth. Er selbst legte
den Befehl nieder, fügte sich der Vorladung nach Innsbruck, und die meisten
Gemeinden Deutschlands unterwarfen sich auf die Bekanntmachung Ferdinands,
daß diejenigen Gerichte, welche mit der Anerkennung der Beschlüsse säumten,
die Begnadigung verwirkten.
Die in Innsbruck zurückgelassenen Statthalter traten nun alsbald ent¬
schiedener aus. Unter den deutschen Gemeinden wagten es nur wenige, wie
Steineck, Dcutschnofcn, Vels, Kastelruth, Pfcffcrsberg und Tisens. neue Verbin¬
dungen einzugehen; drohender sah es in Wälschtirol aus, das auch an Venedig
einen starken Hinterhalt gewinnen konnte. Schon anfangs Juli hatten jene
von Castelfondo ihren Gerichtsherrn v. Thun entsetzt und die von Roni bei
Caliano den Richter Peter Bush in einem Taubenschlag verbrannt; nun hielten
auch wieder die Bewohner von Mais aufrührerische Versammlungen, setzten
neue Beamte ein, zogen unter ihren Häuptlingen Simon v. Padello und Nicolo
del Victor in bewaffneten Haufen umher; die Gerichtsleute von Strigno er¬
mordeten den dortigen Hauptmann, überfielen das fürstliche Schloß Jvano und
nahmen den ihnen zugesandten landesfürstlichen Commissär gefangen. Die Ge¬
richte von Valsugan, Nous- und Sulzberg verbündeten sich unter einander,
zogen gegen Trient, schössen in die Stadt, lenkten die Etsch ab und verheerten
das umliegende Land durch Raub und Plünderung. Schon hatten sie sich bei
einer Versammlung geeinigt, die zur Verkündung des Landtagsabschieds abge¬
ordneten Commissaire einzufangen und todt zu schlagen. Da bot man anfangs
die Landesverteidigung auf, weil man aber den Gerichten im Etschland nicht
traute und ihnen deshalb freistellte statt des Anschlags Geld zu geben, wurden
später 1600 Knechte unter Wittembach in Sold genommen und mit landes¬
fürstlichen Commissären nach Trient geschickt. Das kleine Häuflein vermochte
der vielen Aufständischen nicht Herr zu werden, die Statthalter schrieben daher
ein Zwangsanlehen aus, vertheilten es auf das Stift Brixen, die Städte,
Klöster und Kirchen, ließen das vorräthige Gold und Silber daselbst verzeichnen,
bewerthen und das entbehrliche gegen Schuldscheine abheischen und warben
eine neue Schaar von 2000 Mann, die unter Thomas von Freundsberg und
Sigmund v. Brandeis nach dem Schauplatz des Kampfes zog. Theils durch die
einzelnen kleinen Gefechte, in denen die Bauern ihre Kräfte versplitterten, theils
durch den Schrecken vor den schauderhaften Strafen, die an den Gefangenen
vollzogen wurden, lichteten sich ihre Reihen allmählig. Nasen- und Ohrenab-
schneiden, Viertheilen, Spießen, Verbrennen waren die Mittel, wodurch man
die milde Herrschaft des Krummstabs wieder befestigte; einigen riß man bei
lebendigem Leibe das Herz aus; dem Steinmetzmeister Philipp, der den Bauern
das Schloß von Trient binnen drei Tagen niederzureißen und zu schleifen ver¬
sprach, wurden, nachdem ihn der Henker vor dieses hingeführt, die Augen aus¬
gestochen; keiner, deren man habhaft wurde, entrann ohne Brandmal auf der
Stirne. Am 15, September erschien eine Sttafordnung, welche die Rädels¬
führer nach dem Kriegsgericht mit dem Strang zu richten, an Bäumen aufzu¬
knüpfen, ihre Häuser niederzureißen und andere besonders Schuldige zu köpfen
befahl. Die übrigen sollten an ihrem Vermögen mit drei vom Hundert ge¬
büßt, zu Schadenersatz und Ablieferung der Waffen verhalten, den Entflohenen
Weib und Kinder nachgesandt und ihre Habe eingezogen werden. In jedem
Gericht des Fürstentums Trient war befohlen einige Anführer zu hängen, da¬
mit ein ander Mal nicht so leicht zur Empörung gegriffen werde. Nachdem die
Belagerer sich zerstreut hatten, ging es an die Bestrafung jener von Roni,
Valsugan. Nonsberg und Primör, wovon sich jedoch viele ins Venetianische
gerettet. Erst zuletzt trat man an die deutschen Gemeinden heran, bei denen trotz
des Mißtrauens in die Unparteilichkeit der Geschwornen wieder das ordentliche
Verfahren in Anwendung kam. Auf die Theilnahme an der Befreiung des
Peter Päßler fand man die Amnestie nicht anwendbar, sechs der Betreffenden wurden
auf dem Platz zu Buxen enthauptet. Andere befragte man peinlich und zwang
sie zum Schwur, sich nicht mehr zu empören. Endlich im December, als zur
Abschreckung eine beträchtliche Anzahl geopfert, und die Flüchtigen mit den
nach allen Seiten ausgegangenen Ersuchschreiben nicht eingebracht werden
konnten, begnügte man sich, mit Vermögensstrafen und begnadigte selbst zum
Tode Verurtheilte zu Geldbußen. Mit der politischen wurde auch die religiöse
Bewegung gestillt, nur zu Meran, Sterzing und im Thale Lüsen zeigten sich
noch ein paar Verkünder der neuen Lehre, in Klausen soll sogar Karlsstadt
gepredigt, sich aber nach kurzem Aufenthalte schon im September geflüchtet
haben.
Der Gefährlichste aller Entronnenen war Michael Gaißmayr. Er wurde
wegen Aufreizung der Nachbargemeinden von Brixen gegen den Landtagsab¬
schied zur Rechenschaft gezogen und gelobte eidlich, sich nicht aus Innsbruck
zu entfernen, entwich jedoch angeblich wegen der Nachstellungen des Klerus am
27. September nach Klösterlein in der Schweiz. In einer von dort aus er¬
lassenen Vertheidigungsschrift erklärte er, das sichere Geleit schütze ihn nicht
vor den Geistlichen, und drohte mit der Hilfe von achtzehn Städten und Ge¬
richten an der Eisack, die ihm Gewährschaft angeboten. Nachdem er mit
Venetianern und Franzosen auf Verhandlungen eingetreten, um mit ihrer Hilfe
Tirol zu erobern, die Ausführung dieses Planes sich aber in die Länge zog,
wollte er mit mehren Bauern aus Brättigau, Davos und flüchtigen Schwaben
in Tirol einfallen, das Städtlein Glurns bei der Ostermette überrumpeln, sich
des dort verwahrten Pulvers, Geschützes und Waffenvorraths bemächtigen und
durchs Vintschgau nach dem Etschthal ziehen, wo er mit dem Glockenstreich
alles in Aufruhr zu setzen dachte. Um die Bauern darauf vorzubereiten, sandte
er einen Aufruf voraus, ermahnte sie darin, mit Gut und Blut zusammen¬
zusammenzustehen, und entwarf in 28 Artikeln die Grundzüge einer neuen
Ordnung. Vor. allem seien die Ehre Gottes und der gemeine Nutzen zu suchen,
die gottlosen Menschen, die das Evangelium verfolgen, zu verjagen und eine
neue ganz christliche Satzung aufzurichten. Zu dieser zählten die Aufhebung
der Freiheiten, die Wider das Wort Gottes sind und das Recht fälschen, die
Abschaffung der Messe, die „ein Grciuel vor Gott und ganz unchristlich" und
die Beseitigung der Bilder und aller Kapellen, die keine Pfarrkirchen. Der
Rest behandelte weltliche Dinge und sollte dem gemeinen Manne Schutz gegen
das noch nicht gehobene Unrecht gewähren. Die Ringmauern der Städte und
Schlösser wollte er abbrechen, nur Dörfer durften fürder im Lande bestehen.
Auch die Pfarren und Gerichte mußten besser. eingetheilt, in jeder Gemeinde
acht Richter bestellt, jährlich neu gewählt, alle Montage Gericht gehalten und
die Richter, Schreiber und Redner vom Lande besoldet werden. Der Sitz der
Regierung wurde nach Brixen verlegt, dahin jede Appellation gezogen, und
eine hohe Schule dort beantragt, die drei des Gotteswortes kundige Männer
für die Regierung zu stellen hatte. Alle Zinsen, die Zölle im Innern und die
Klöster dachte er aufzuheben, nur die Ausfuhr einheimischer Erzeugnisse mit
einer Abgabe zu belegen, die Prediger vom Zehenten zu erhalten, den Ueber¬
rest unter die Armen zu vertheilen, die Klostergebäude selbst und die deutschen
Häuser in Spitäler zu verwandeln. Mit der Austrocknung der Moose und
Auen zwischen Meran und Trient wollte er die Gesundheit und den Ackerbau
zugleich fördern und dem Mangel an Getreide durch dessen Anpflanzung, wie
in der Lombardei, abhelfen. Endlich sollten alle Kaufmannschaften abgeschafft.
Handwerke und Gewerbe an einen Mittelpunkt verlegt, die Preise in- und
ausländischer Waaren nach einer Taxe festgestellt, der Bergsegen zu Handen
des Landes genommen, nur eine schwere Münze geduldet, und ein oberster
Hauptmann über das Kriegswesen, die Wasserbaute», Wege. Brücken und
Landstraßen gesetzt werden. Man sieht daraus, daß die Reformen des Erzher¬
zogs vielen Grundübeln nur halbwegs oder gar nicht gesteuert hatten. Gsiß-
mayr hob sie hervor, um sich Parteigänger zu werben; seine Verbindungen ver¬
zweigten sich ins Obennnthal und Vintschgau, nach dem Nonsberg und Sterzing.
Die Regierung entdeckte sie aber noch rechtzeitig, namentlich den Briefwechsel
mit seinem Bruder Hans, der sofort eingezogen, darüber verhört und zu Inns¬
bruck im April 1526 geviertheilt wurde. Auch waren ihm die Davoser eben
zur Zeit des beabsichtigten Einfalls abtrünnig geworden, und als er hierauf
Ende April mehre Flüchtlinge nach Troger zu einer Versammlung beschied,
wurden die meisten von den Appenzellern im Namen des Erzherzogs gefangen
genommen, Gaißmayr selbst entrann nur mit Mühe einem gleichen Schicksal.
Seine Blicke waren jetzt auf Salzburg gerichtet, wo sich die Pinz- und
Pongaucr neuerdings gegen ihren Erzbischof erhoben hatten. Im Mai traf er
mit drei Fähnlein Landsknechten in ihrem Lager vor Radstadt ein und trat,
nachdem der frühere oberste Hauptmann Setzcnwein wegen Verraths in die
Spieße gejagt worden, an dessen Stelle. Mehre Wochen lang neigte sich das
Glück den Bauern zu; als aber der schwäbische Bund seiner früheren Kriegs¬
hilfe für den Erzbischof eine bedeutende Verstärkung nachschob, gab Gaißmayr
ihre Sache für verloren und zog in der Nacht vom 1. Juli mit 1600 Mann
über den täuriser Tauern nach Tirol, wo er durch das Pusterthal bis zur mühl-
bacher Klause unweit Brixen vordrang. Hier schlug ihn mit dem eilends zu¬
sammengerafften Aufgebot der Ritter Caspar von Künigl und verfolgte ihn mit
dem nachgerückten Georg v. Freundsberg durch Enneberg und Buchenstein, bis
er bei Agordo auf das Gebiet von Venedig übertrat. Die Republik sich ihn
mit seinem ganzen Volke willkommen und setzte ihm einen so reichen Jahrcs-
gehalt aus, daß er sich bei Padua ein Landgut kaufte und „glänzend wie ein
Cardinal" lebte. Sein unternehmender Geist ließ ihn jedoch nicht ruhen, bald
wollte er im Spätherbst 1527 über Vliland nach Salzburg, bald über Trient
ins Etschland einbrechen, im Jahre 1528 begab er sich nach Zürich, wo er das
Bürgerrecht erhielt und im Auftrag Venedigs mit dem vertriebenen Herzog
Ulrich von Würtemberg und den reformirten Cantonen über ein Bündniß gegen
den Kaiser unterhandelte. Die tirolischen Statthalter wußten sich vor seinen
Anschlägen nicht mehr sicher, und da auch der trienter Bischof Bernard ihnen
den Wink gab, sich dieses gefährlichen Mannes zu entledigen, setzten sie einen
Preis auf seinen Kopf und hatten nach zweimaligem fruchtlosen Versuche
endlich die Genugthuung, ihren erbittertsten Feind dem Dolche eines Meuchlers
zu überliefern. Ebenso endete Päßler, für den sie 200 Dukaten geboten
hatten. Die Regenten zu Innsbruck schälkelen wie mitten in der Zeit der hei¬
ligen Vehme.
Man meinte durch Härte und Grausamkeit die frevelhafte Erhebung gegen die
Kirche und das feudale Recht für immer gebändigt zu haben; aber auch ihre Errun¬
genschaften sollten aus dem Gedächtniß der Menschen völlig verschwinden. Das
Dringendste schien diesfalls die Aufhebung der „Ordnung des geistlichen Stan¬
des" . die sich am göttlichen Rechte selbst vergriff. Ferdinand erklärte infolge
der Beschwerden des Klerus der drei Hochstifte auf dem im November 1527
gehaltenen Landtag, daß jenes Libell, „falls solches wider die Geistlichkeit alle-
girt würde", bereits im vorigen Jahre durch den Reichstagsabschied von Speier
abgethan sei. Nach einem später zu Anfang 1529 gefaßten Landtagsbeschluß
wurde die ganze Landesordnung von 1525 einer Reform unterworfen, Ferdinand
bestimmte dazu mehre seiner Negierungsräthe und zwei Abgeordnete aus jedem
Stande, und als das neue Gesetz im Jahre 1532 erschien, rechtfertigte er den
Umsturz des früheren in der Vorrede damit, daß es viele Viertel entweder gar
nicht oder nur zum Theil angenommen, was er ihnen doch früher zum Ver¬
brechen angerechnet. Auch hätten zahlreiche Artikel Irrungen und Mißverständ¬
nisse veranlaßt, weshalb die „unlauteren" zu erläutern und die (für den Klerus
und Adel) beschwerlichen aufzuheben gewesen wären. Wie es Ferdinand mit
der Zulassung der neuen Lehre gemeint hatte, gegen die er sich nur durch glatte
Worte nachgiebig gezeigt hatte, bewies er durch eine am 20. August 1527 aus
Ofen erlassene Verordnung, worin er alle Ketzer, insbesondere die Wiedertäufer
durch Feuer und Schwert zu strafen befahl. Kirchmayr berichtet, daß in Tirol
und Görz bis zum Jahre 1532 bei tausend Menschen ihres Glaubens halber
verbrannt, geköpft und ertränkt wurden. Den kräftigsten Schutz gegen die
Neuerer suchte er zuletzt in den Jesuiten, die auf dem trienter Concil mit
ihrem Talent und Wissen den Irrthum so glänzend bekämpft hatten. Ihnen
hauptsächlich verdankt es Tirol, daß es bis tief ins neunzehnte Jahrhundert
befreit blieb vom Pesthauch der Aufklärung und selbst jetzt noch in kindlicher
Unschuld schwärmt für seine Glaubenseinheit. Auf die Länge wird sie gegen
den Strom der Zeit und die Macht der Cultur freilich nicht vorhalten; denn
auf eine Rückkehr zum Fanatismus des Mittelalters können nur jene hoffen,
die sich die Augen selbst verbinden.
In der That, eine eigne Zeit, dieser Sommer, und ein eignes Volk, diese
Deutschen von 1866. Als ob der Himmel unsres politischen Lebens so voll
Geigen hinge wie er voll Wolken hängt, feiert man Fest auf Fest und kann
sich kaum genug thun mit Schwärmen und Jubeln.
Es ist wahr, wir hatten in der letzten Zeit einige Ursache uns zu
freuen, die jedermann in die Augen siel: das vorige Jahr hat Schleswig«
Holstein befreit und für Deutschland gewonnen, und es hat den Zollverein
unter Umständen erneut, die dessen Unzerstörbarkeit verbürgen. Aber im
Uebrigen haben wir wenig Grund, uns besonders wohl zu suhlen. Die Bezie¬
hungen zwischen unsern beiden Großmächten ernstlich getrübt, wenn auch wohl
noch nicht, wie manche Zeichendeuter meinen, einem Conflict sich nähernd. Ueber
Preußen, über mehr als die Hälfte von Deutschland also, bedenklichste politische
Erkrankung gekommen, von der noch nicht abzusehen, wie und wann sie zu
heilen sein wird, dauernde Verletzung verfassungsmäßiger ssiechte auf der einen,
Unterordnung des Interesses des Staats unter die Ziele der Parteitaktik und
die Wünsche des Parteihasses auf der andern Seite, äußerste Erbitterung hüben
und drüben. Dann die nationale Partei gelähmt durch Mißgriffe und unglück¬
liche Beschlüsse ihrer Führer, die, um süddeutsche Idealisten sich nicht zu ent-
fremden, das alte verständige Programm verließen und damit einen Riß
zwischen sich und den Treubleibenden veranlaßten, welcher die Organisation zu
sprengen droht. Endlich die außerhalb der nationalen Bewegung Stehenden
durch eine Kluft geschieden, die seit Jahren nicht so weit geöffnet war wie
heute, wo der Grimm des Particularismus gegen Preußen an den Höfen wie
in den Bevölkerungen den Gipfel des Möglichen erreicht hat und nur die Macht
fehlt, um ihn in Waffen gegen die Gehaßten auftreten zu lassen. Alle Ursache,
so scheint uns, über die Gegenwart bekümmert zu sein und an die Zukunft mit
Sorge zu denken.
Und nun, bei alledem, im Volke weit und breit fröhlichstes Hurrahrufen
und Fahnenschwenker. Singen und Trinken, als ob uns die Sonne nie Heller
und verheißungsvoller geschienen hätte und die deutsche Welt nie gesünder,
freier und ihres Gedeihens sicherer gewesen wäre. Alle Tage des Monats im
Kalender roth angestrichen, und von nichts als Festlichkeiten die Rede. An den
Bahnhöfen schwärmt es von Hüten mit Festkarten, Bändern und Eichenlaub.
Tag für Tag schleppen keuchende Locomotiven Züge fideler Festbesucher nach Ost
und West, ziehen Paraden und Processionen von solchen durch bekränzte und
beflaggte Städte, malen die Zeitungen den patriotischen Schwung und Jubel,
der sich bei derartigen Gelegenheiten kund gegeben. Heute knallt am Ausfluß
der Weser das große Fest der grauen Schützenjoppen; über acht Tage singen am
mittleren Lauf der Elbe fünfzehntausend Sängerkehlen die unvermeidliche Frage
nach dem deutschen Vaterland so vergnügt in die Welt hinein, als ob sie die
Antwort nicht blos wüßten, sondern auch schon in gediegenster Verwirklichung
vor sich hätten, und wer damit noch nicht zufrieden gestellt ist, der mag in
weiteren drei Wochen nach der Saale reisen, wo sie das fünfzigjährige Jubi-
läum der Burschenschaft begehen werden und den Tag, wo man den hessischen
Zopf verbrannte, ohne sein und andrer in jener Zeit gekürzter Zöpfe Nach¬
wachsen verhindern zu können.
Daneben zahllose kleinere festliche Zusammenkünfte, überall Gesang und
Tvastiren, Böllerkiiall. Musik und Gläsertlingen, lustiges Gespräch und heitere
Gesichter. Fürwahr, wie das bayerische Bier sich im Laufe der letzten Jahre
unsern Norden erobert hat, so scheint ein anderes süddeutsches Product, die den
Wienern, wie man sagt, abhanden gekommne Gemüthlichkeit den gleichen Weg
angetreten und gleich wohlwollende Aufnahme gefunden zu haben. Im Wesen
des Norddeutschen lag davon bisher wenig, und ein Todter dieses Stammes
aus der strengen, dürftigen, freudlosen Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre
würde, wiederkommend und vor eine dieser freudenreichen Festhalten, einen dieser
Schützentempel, einen dieser Sängerchöre geführt, schweren Zweifeln unterliegen,
ob er wirklich zu Hause sei oder etwa im Phäakenlande.
In der That, die Noth muß nicht groß sein, bei der man so vergnügt sein
kann, sagen die Einen. Oder von dem Leichtsinn der Masse nicht stark em¬
pfunden werden, erwidern die Andern. Wir meinen, beide haben Recht, wenn
wir sie richtig verstehen. Ohne Zweifel ist unter der Menge mehr leichter
Sinn und weniger Verständniß der Lage, als für eine rasche Entwickelung gut
wäre, aber auch Ernstere und Tieferblickende dürfen aus einige Zeit die Sorge
dahinten lassen; denn trotz der geschilderten unerfreulichen Zustände auf der
Oberfläche unsrer politischen Existenz wächst das deutsche Volk in der Tiefe still
und unaufhaltsam weiter, der ihm beschiedenen Größe und Freiheit entgegen,
und gerade die Feste, die es feiert, sind in gewissem Maße einer der Factoren
dieses Wachsthums.
In gewissem Maße — das bedarf freilich starker Betonung den enthusiastischen
Sanguinikern gegenüber, die mit Toasten und Resolutionen den Himmel stür¬
men und die goldne Zeit herabnöthigen zu können meinen, und die. wie
allenthalben, auch hier nur die lichte Seite der Sache sehen.
Allerdings sind die großen Feste, welche die Deutschen seit einigen Jahren
feiern — nur von diesen ist hier die Rede — allerdings sind unsre National-
feste ein nicht unwesentliches Moment in unsrer Entwickelung aus politischer
Verkommenheit zu großem und freiem Dasein. Wie sie aus mächtig gesteiger¬
tem Wohlstand der Nation hervorgewachsen sind,, so führen sie, zeigend, was
diese oder jene Stadt gastfreundlich vermag, was diese oder jene Landschaft
oder Gesellschaft leistet, was die Gesammtheit zur Verherrlichung des Tages an
Menschen und Gaben sandte, jenen Wohlstand und die darin wurzelnde Kraft
zur Erringung auch idealer Güter dem Einzelnen, und zwar bei der Thätigkeit
der Presse nicht blos dem einzelnen Festgäste, vor Augen und mehren dadurch
dessen Selbstgefühl. Das Volk hält in diesen Festen gleichsam Revue über sich
selvst, sieht sich im Spiegel, zählt sich und mißt sich. Das Ergebniß wird
nicht von Allen als klarer Gewinn, sicher aber von der Mehrzahl als befrie¬
digende Empfindung bewahrt.
Nicht weniger bedeutsam für den Fortschritt der Nation ist, daß die Feste,
die von ganz Deutschland begangen werden, den Angehörigen des Kleinstaats
oder der Kleinstadt aus seiner beschränkten Sphäre herausheben, ihn in das
große Leben des Volkes führen und ihn gewöhnen, sich als Glied des Ganzen,
als Deutschen zu fühlen und darnach bei ernsteren Gelegenheiten zu handeln.
Unsre Nationalfeste tragen ferner durch die Bekanntschaften, die sie vermitteln,
und durch die Gastfreundschaft, die sie gebieten, wesentlich dazu bei, Vorurtheile
und Abneigungen der einzelnen Landschaften gegen einander zu gerechter Wür¬
digung der Betreffenden abzuklären. Endlich aber — und das ist nicht das Un¬
wichtigste — ist jedes von diesen großen Festen mit der Masse von Bedürfnissen,
die zu befriedigen, der Menge von Hindernissen, die zu überwinden, dem ge¬
waltigen Zudrang von Menschen in erregtem Zustand, der in Zucht zu halten
ist, ein neuer Schritt zur Selbstregierung, jedes wohlgelungne Fest ein Triumph
des zur Freiheit reifenden Volkes über den verwelkenden Polizeistaat und die
Vertheidiger desselben. Das Volk beweist damit nach oben hin, daß es des
Gängelbandes und der Beaufsichtigung nicht mehr bedarf, und gewinnt im
Rückblick auf die beobachtete Haltung für sich Selbstvertrauen und höheres Be¬
wußtsein von seiner Würde.
So weit darf man unsre Feste und die starke Betheiligung der Nation
an denselben als glückliche Zeichen der Zeit ansehen. Sie stellen unsern Wohl¬
stand zur Schau und steigern dadurch das Selbstgefühl der Massen, sie heben
empor aus kleinen Interessen und Bestrebungen, sie erweitern Vielen den
Horizont des Vorstellens und Strebens, sie ebnen Hindernisse der nationalen
Einigung, die in Mißverständnissen liegen, und sie helfen das Volk zur Aus¬
übung des Sclbstregiments erziehen. Was mehr von ihnen behauptet oder
erwartet wird, ist Täuschung oder Uebertreibung, und es ist an der Zeit, dies
in der Kürze zu sagen, auch auf die Schattenseite dieser Bewegung aufmerksam
zu machen und in Bezug auf die von ihrer Lichtseite gehegten Hoffnungen zur
Bescheidenheit zu mahnen.
Nicht zu läugnen ist, daß unter den Gästen dieser Feste immer eine gute
Anzahl bloßer Freudeniäger ist, für welche Fahnen und Kränze, lustiges Zechen
und Singen die Hauptsache ausmachen, und die sich zu den idealen Zwecken
durchaus gleichgiltig Verhalten, die man also, wenn es sich um Berechnung des
Gewinnes für unsre Zukunft nach der Zahl der Theilnehmer handelt, ohne
Weiteres abzuziehen hat. Ein Nationalfest ist für diese Classe nichts als ein
höheres dresdner Vogelschießen, höher nur. weil es mehr Menschen versammelt.
Wenig mehr werth ist eine gewisse Gattung von Politikern, die bei solchen
Zusammenkünften eine hervorragende Rolle zu spielen pflegen. Mit dem alt¬
gewohnten, viel gebrauchten Koffer voll patriotischer Phrasen beziehen sie alle
bedeutenderen Feste wie der Kaufmann die Messen, drängen sich zur Redner¬
bühne und bringen ihre Waare mit dem Brustton der echten Begeisterung an
den Mann. Der Zweck ist, von sich reden zu machen, sich in Erinnerung zu
dringen, Beifall zu ernten, der Erfolg bei der Zuhörerschaft, wenn der Rhetor
sein Handwerk gut versteht, ein angenehmer momentaner Rausch, wie überall,
wo der Cultus der Phrase herrscht, ein kurzes Schwelgen in Illusionen, die,
wenn sie überhaupt etwas wirken, nur die Meinung hervorrufen, man sei und
habe schon, was man sein und haben soll, und die somit nur eine Selbstzu¬
friedenheit fördern, welche die Pflicht zur Arbeit beeinträchtigt.
Auch Bessere und Wahrhaftigere werden leicht getäuscht. Der Anblick der
aufmarschirenden Massen, der Stimmendonncr der singenden Chöre, das Bravo
und Hurrah, welches Tausende dem glücklichen Redner zurufen, berauschen, und
das reichlich fließende Getränk trägt auch nicht gerade dazu bei, eine realistisch
nüchterne Betrachtung der Dinge zu fördern. Man überschätzt die Bedeutung
der Versammelten, die selbst mit Einrechnung der blos Vergnügten nur einen
kleinen Bruchtheil der Nution bilden, man sieht die Partei für das Volk, den
Stammesbrüder in der Festlaune für den wirklichen Werkeltagsmenschen aus
Bayern , Schwaben oder Oestreich an; man erblickt in dem Feste eine große
That, in den freiheitglühenden, vaterlandsrettenden Toasten, den oratorischen
Opfern von Gut und Blut ebenso viele kleine Thaten, und was schlimmer ist
als solche momentane Augentäuschungen, man nimmt häufig den Eindruck mit
nach Hause, als habe man in der That große Stunden verlebt, und neigt sich
darauf hin der Meinung zu, als ließe sich der deutsche Staat spielend aufrichten.
Hiergegen Protestiren wir als nüchterne Zuschauer. Wir haben tiefe
Achtung vor dem deutschen Gemüth, aber gar keine Achtung vor der bei un¬
sern Festen grassirenden Gemüthlichkeit und ihrem Bruder, dem vulgären Li¬
beralismus, der bei denselben ebenfalls mit zu Tische zu sitzen und die erste
Violine zu spielen Pflegt. Wir können uns, um ein Wort von den speciellen
Zwecken der beiden diesjährigen Hauptfeste zu sagen, für die Schützenbewegung
eine Zukunft denken, obwohl wir sie nicht ihrem Urbild in der Schweiz gleich¬
stellen können, wo jeder Schütze zugleich Soldat ist, während Deutschland noch
lange Jahrzehnte stehende Heere wird haben müssen. Für die Sänger dagegen,
die jetzt in Dresden sich zu patriotischen Chören vereinigen, wissen wir keine
Verwendung in der Oekonomie unsres politischen Lebens. Aber vielleicht läßt
sich für die Zwecke der Politik, die jetzt ein „reines Deutschland" neben Oest¬
reich und Preußen anzufertigen versuchen möchte, aus ihrer Stimmung einiges
Capital gewinnen, und es scheint, als sei man nicht abgeneigt, die Gelegenheit
nach dieser Richtung hin ein wenig auszunutzen.
Diese Korrespondenz wird nach einer Unterbrechung von mehren Monaten
wieder aufgenommen, während die heiße Julisonne auf ein friedloses Land her¬
niederscheint und eine bange Schwüle auf dem Volke lastet, wie sie dem Aus¬
bruch eines Unwetters vorauszugehen pflegt.
Die letzten Wochen sind verhängnifivoll für die preußische Politik gewesen.
Es ist leider genau so gekommen, wie zu befürchten war: die Spannung im
Innern Preußens ist zu einer Höhe gesteigert, welche eine Versöhnung zwischen
der gegenwärtigen Regierung und der Opposition im Volke nach menschlichem
Ermessen unmöglich macht, die Hoffnung des Ministeriums, durch einen großen
Erfolg in den Herzogthümern den Widerstand des eigenen Bürgerthums zum
Schweigen zu bringen, hat sich als irrig erwiesen. Man ist im eigenen Lande
zu einer Erbitterung gekommen, welche bereits mit dem Criminalgesetzbuch in
der Hand eifert, man ist Oestreich gegenüber trotz aller Versicherungen bezahlter
Federn am Ende ruhiger diplomatischer Verhandlungen. Durch die Entlassung
des Abgeordnetenhauses und das Octroyiren eines Etats sind die inneren
Schwierigkeiten der Regierung nicht vermindert. So lange die konservative
Partei diesen Act deS monarchischen Selbstwillens gut heißt und die unzu¬
friedenen Wähler ihre Steuern zahlen, mag der Mechanismus der Verwaltung
in gewohnter Weise fortgeführt werden, die innere Verstörung wirkt doch fort
und lähmt die Regierung von allen Seiten. Es wird ihr unmöglich, sich selbst
und dem Auslande zu verbergen, daß sie durch Gewalt herrscht, daß ihre Ad¬
ministration täglich mehr in Gefahr kommt als Dienerin einer Partei zu er¬
scheinen. Der alte Krieg gegen die Oppositionspresse, gegen liberale Stadt¬
räthe, Kreisrichter, Abgeordnete wird heftiger und schonungsloser, täglich größer
auch unter loyalen Freunden der Regierung die Unsicherheit, die Opposition
hat an Zahl und auch an Energie der Empfindung zugenommen, und das
Ministerium muß gänzlich auf die Aussicht verzichten, welche ihr durch einige
Monate gegeben schien, mit Schonung der leidigen Verfassungsparagraphen,
etwa durch Neuwahlen ein fügsameres Haus der Volksvertreter zu gewinnen.
Auch der Vortheil, welchen die kriegerischen Erfolge des vorigen Jahres
gebracht hatten, ist verloren. Viele Preußen waren geneigt, den Maßregeln
eines Regiments, welches ihnen persönlich feindselig erschien, in ihrem Gemüth
Amnestie zu ertheilen, weil sie die Hoffnung hatten, daß dieselbe Regierung
nach Außen die höchsten Interessen des Staates mit erobernder Kraft vertreten
werde. Der Verlauf der Schleswig-holsteinschen Händel hat diese Hoffnung
genommen, nur klein ist die Zahl feuriger Preußen, welche noch irgendeinen
überlegenen und unerwarteten Meisterzug in der Politik, oder eine plötzliche
Kraftentwickelung hoffen. Es war eine treuherzige Täuschung, welcher mancher
werthe Parteigenosse sich hingab. Die Ereignisse haben die bittere Lehre ge¬
bracht, daß es niemals möglich ist, zu gleicher Zeit klein und groß, unsicher und
fest, gereizt und überlegen zu handeln.
Es wäre nicht gerecht, dem Ministerpräsidenten alle Fehlgriffe, welche
preußischerseits in den Herzogthümern gemacht sind, zuzuschreiben. Ohne Zweifel
empfindet Herr v. Bismarck manche derselben sehr peinlich. Sie sind Folgen
seiner Parteistellung, denen er sich nicht mehr entziehen kann. Aber auch seine
Maßnahmen, soweit sie durch seine eigenen Erklärungen dem öffentlichen Ur¬
theil unterbreitet sind, erschweren ihm bei jedem Schritt guten Erfolg mehr und
mehr. Er hat die Forderungen, welche Preußen an die künftige Regierung der
Herzogtümer zu machen hatte, nach langem Zögern öffentlich formulirt. Einige
derselben waren allerdings für jeden künftigen Landesherrn strenge Zumuthungen
— preußischer Fahneneid. Preußische Administration der staatlichen Verkehrsan¬
stalten. Der Herzog von Schleswig-Holstein erklärte in einigen Hauptpunkten
seine Bereitwilligkeit und machte bei anderen — immerhin vorsichtige Vorstel¬
lungen. Sofort gab man ihn in sehr entschiedener Weise auf, Herr v. Bismark
sprach sich vor dem Abgeordnetenhause rückhaltslos gegen die Kandidatur des
Hauses Augustenburg aus und publiciite das Memorial über jene vielbesprochene
Unterredung mit dem Herzoge.
Wohl durfte ein Anhänger Preußens sich fragen, was war der Zweck
solcher offenherziger Aeußerungen, wie sie in schwebenden Geschäften ziemlich
unerhört sind. Man konnte dem Publikum die Ueberzeugung nicht bei¬
bringen, daß der Kampf gegen Dänemark mit dem überlegten Plan begonnen
sei, um die Herzogthümer durch Krieg von Dänemark zu lösen und es blieb
noch zweifelhaft, ob die Zurückhaltung des Augustenburgers bei jener be¬
rühmten Unterredung nicht vielleicht durch Aeußerungen des Herrn v. Bismarck
selbst hervorgerufen sei, welche derselbe in seinem Memorial nicht aufgezeichnet
hat. Wenigstens sprach man nach jener Unterredung von einem Memorial des
Herzogs, welches die Unterredung weit anders darstellen sollte, und daß ein
Hauptpunkt, auf dem Herr v. Bismarck damals bestanden. Aushebung der Ver¬
fassung Schleswig-Holsteins von 1848/49 gewesen sei. weil man in Berlin nicht
dulden könne, daß im Norden Deutschlands ein zweites Koburg etablirt werde.
Doch das ist jetzt in der That unwesentlich. Wir haben ohnedies genug der
Enthüllungen und persönlichen Angriffe gehabt und halten in der Noth der
Gegenwart für ziemlich bedeutungslos, was einmal der und jener über ver¬
gangene Situationen gemeint. Das Ministerium hatte mit den Ansprüchen des
Hauses Augustenburg öffentlich gebrochen, man nahm also wieder die Ansprüche
des Großherzogs von Oldenburg auf. Vielleicht fand man. daß auch dieser
nicht ganz so gefügig war, als man gehofft, es wurde offen hierauf hingearbeitet,
daß Preußen selbst die Herzogthümer zu erwerben habe. Man ging also auf
Ansprüche zurück, welche das Gutachten der preußischen Kronjuristen mit Auto¬
rität versehen sollte. Wie kommt es doch, daß dieses Gutachten wieder bei
Seite gelegt wurde? Man erfaßte den Plan, die Stände der Herzogthümer zu¬
sammenzurufen, weil man sich der Meinung hingab, bei ihnen eine Majorität
für Preußen zu gewinnen. Wie kommt es doch, daß auch dieser gute Plan
kalt geworden ist? Man verhandelte immer wieder mit Oestreich, und das öst¬
reichische Cabinet, ruhig, kalt, trat immer entschiedener den preußischen Ansprüchen
gegenüber, je erregter diese geltend gemacht wurden. Dazwischen gab es die
ärgerlichsten Händel in den Herzogthümern selbst, Reibungen der Commissäre,
Reibungen mit der Landesregierung und unglückliche Unternehmungen, wie jene
Sendung des Prinzen Hohenlohe, die allein schon hingereicht hätte, auch eine
wohlgeneigte Majorität mit Argwohn und Unzufriedenheit zu erfüllen. Endlich
kam man zu dem Letzten, man hoffte von einer Polizeimaßregel politisches Heil,
und forderte die Entfernung des Herzogs aus den Herzogthümern, weil man
entdeckte, daß seine Umgebung das Volk besser zu bearbeiten wußte, als die
eigenen Beamten. Jetzt zürnt man der Opposition im eignen Lande, d. h. dem
preußischen Bürgerthum, man zürnt den Wienern, man zürnt sehr den Mittel¬
staaten und den undankbaren Bewohnern der Herzogthümer.
Offenbar hat diese Art große Geschäfte zu behandeln ihre Uebelstände, und
es ist für einen, der nichts inniger wünscht, als daß Preußen für die Siege
seiner Soldaten den entsprechenden Zuwachs an Ehre und Macht gewinnen
möge, eine harte Sache, das auszusprechen. Aber auf dem Wege, den man
bis jetzt gegangen, ist kein Sieg, ja nicht einmal ein Krieg möglich. Es ist
nach allem, was versehen worden, vielleicht unmöglich, die günstige Stellung
wieder zu gewinnen, welche Preußen nach dem Friedensschlüsse hatte, aber es
ist noch nicht zu spät, wenigstens einen Theil dessen, was Preußen mit Recht
fordern darf, zu retten. Bis jetzt ist durch alle Versuche der preußischen Politik
nur das Ansehn und Selbstgefühl Oestreichs gesteigert, in den Herzogthümern
nur eine bornirte Erbitterung großgezogen worden, man ist mit den Versuchen
am Ende, und ist so weit gekommen, daß man entweder in der ungünstigsten
Lage mit dem Mitbesitzer in offenen Kampf treten, oder sich in ruhmloser Weise
resigniren muß.
Wenn man in den Herzogthümern durchsetzen wollte, was auch dies Blatt
wünscht, daß das preußische Principal die Bildung eines neuen Kleinstaats
überwinde, so hätte man sich preußischerseits vom ersten Tage des Besitzes hoch
über den Localpatriotismus und die Ansprüche des Herzogs stellen müssen, nie
aber so weit herabsteigen, um gegen sie mit Beschwerden, Drohungen und
kleinen Polizeimitteln anzukämpfen. Wenn der Schleswig-holsteinische Patrio¬
tismus den angestammten Herzog leben ließ, warum sollte die preußische Mili¬
tärmusik nicht den Tusch dazu blasen? Wenn der Kieler den Geburtstag des
gewünschten Fürsten feierte, warum in aller Welt sollte der preußische Commissär
und General dem beliebten Herrn nicht artig gratuliren? Wenn Flaggen auf¬
gesteckt wurden, die preußischen Beamten durften zuerst das Banner Schleswig-
Holstein» an ihre Fenster hängen und den Leuten von Schleswig und Holstein
die Courtoisie überlassen, ihrerseits mit den preußischen Farben zu flaggen.
Wozu in aller Welt die gereizte Stimmung gegen die Freude der Schleswig-
Holsteiner an ihrem Herzoge? Diese Loyalität ist in der That ein hübsches und
warmes Gefühl, es gilt ja nicht nur dem Herrn selbst, der ihnen gefällt, und
von dem sie Gutes hoffen, sondern noch mehr ihrem Recht den Dänen gegen-
über, und weil ihnen der Herzog immer noch die Idee vertritt, der sie vor
siebzehn Jahren das Geld aus der Truhe, die Pferde aus dem Stall und ihre
eigenen Kinder hingegeben haben. Es ist unrecht und unpraktisch, ein solches
Gefühl, wenn es einmal aufgezündet ist, durch Gegenschläge auslöschen zu
wollen, man facht es dadurch nur stärker an. Der Herzog ist jetzt die Poesie
des Volkes geworden, wie, kümmere die preußische Regierung nicht. Diese
Poesie mag man ruhig die Funken werfen lassen, und man soll unterdeß den
Ländern die kluge, wohlthätige Prosa werden. Nicht als Gegner des Herzogs,
sondern zunächst als freundlicher Vormund des Landes, sorgfältig jeden Conflict
mit dem Stammgefühl vermeiden, gut und billig regieren, auch die Schwächen
der Leute dort nachsichtig schonen, und jede Agitation durch die officiöse Presse
sorgfältig vermeiden. Hätte man das mit vornehmer Haltung gethan, dann
stand die Sache so, daß nach Jahresfrist der größere Grundbesitzer, der größere
Geschäftsmann, der Mann von politischer Intelligenz gut preußisch war, und
daß die gesammte Bevölkerung den Segen eines festen und gewissenhaften
deutschen Regimentes empfand. Wenn dann die Stände einberufen wurden,
lag für Preußen die Sache so. Der wesentliche Inhalt der von der preußischen
Regierung formulirten Forderungen, Hafen, Kanal, das Heer im engsten Ver¬
band mit dem preußischen, sind Forderungen, über welche Preußen den Stän¬
den der Herzogthümer keine Entscheidung zugestehen kann; denn es muß diese
Forderungen seiner geographischen Lage wegen nicht in seinem eigenen Interesse,
sondern wegen ganz Deutschland machen. Ihretwegen hat es sich leider mit
einem Mitbesitzer auseinanderzusetzen. Ueber das Herrscherhaus dagegen haben
die Stände Schleswig-Holsteins vor allem das Recht, ihren Willen zu erklären
und sich mit den hohen Landesbesitzern zu vereinigen. Wenn dann preußisch
Gesinnte unter den Ständen die Übertragung der Herzogskrone an die Majestät
von Preußen beantragten, dann dürfte Preußen erklären, daß es einen durch
die Majorität der Stände geforderten Anschluß acceptiren und die Einwilligung
seines Miteigentümers erwirken werde. Wenn daraus noch die Majorität der
Stände das Haus Augustenburg wählte, so hatte die Regierung, wie im ersten
Fall keine hastige Freude, so jetzt nicht nöthig, irgendeine Kränkung zu zeigen.
Sie konnte ruhig der Zeit überlassen, was zusammengehört, völlig aneinander-
zubinden.
War es so schwer, diesen Weg zu gehen? Auch er hätte vielleicht eine
schwierige Auseinandersetzung mit Oestreich nöthig gemacht, aber sie wäre unter
sehr günstigen Umständen erfolgt; denn niemand in Europa hätte der preußischen
Politik daS Prädicat einer weisen Zurückhaltung versagt. Was jetzt geschieht,
zeigt, daß das Cabinet von Berlin wohl auch solchen Gedanken in einzelnen
Stunden Raum gegeben hat. daß aber Verstimmung und der Zwang der innern
Parteitage immer wieder davon abgeführt haben. Bis zu dem verhängmß-
vollsten aller Gedanken, bis zu dem Einfall, den Herzog polizeilich von Kiel
zu entfernen.
Wir enthalten uns ganz des Urtheils, das wir als Liberale über ein solches
Beginnen zu fällen haben. Das Mittel, einen politischen Gegner dadurch un¬
schädlich zu machen, daß man ihn durch Polizei herausschafft, beurtheilen wir
in Kiel gerade so wie in Köln. Aber es ist auch gar keine Maßregel denkbar,
welche dem preußischen Interesse in den Herzogthümern so tödtlichen Stoß ver¬
setzen würde als diese. Der Herzog Friedrich hat jetzt nur das Eine gegen sich,
daß er noch keine Gelegenheit gesunden hat, irgendetwas für die Herzogthümer
zu thun oder zu leiden. Will man ihm denn diese Gelegenheit mit Gewalt
geben, indem man ihn zum Märtyrer macht? Der kennt die Bewohner der
Herzogthümer schlecht, der da meint, daß seine gewaltsame Entfernung die
Sympathien für ihn verringern und die Agitation zu seinen Gunsten schwächen
werde. Denn in diesem Fall wird er seinem Volke erst recht theuer werden,
in jeder Dorshütte wird man seine» Feinden fluchen, und über die Gewaltthat
wird sich ein lauter Schrei erheben, der nicht nur durch die deutschen Länder
gehen wird, die Proteste, Klagen und die unverblümten Versicherungen der
Entrüstung werden nicht aufhören. Den» wie kurzsichtig und widerwärtig uns
der Particularismus der Holsteiner zuweilen erscheint, die ihn bewahren, sind
keine Savoyarden, sondern zähe und dauerhafte niederdeutsche. Und was soll,
im Fall man den Herzog auch noch durch diese Beleidigung in Vortheil setzt,
was soll geschehen, wenn man endlich doch noch mit ihm verhandeln muß?
Durch alles Vergangene hat man ein gutes Zusammenwirken in der Zukunft
sich ohnedies so schwer als möglich gemacht. Und man wird doch wohl zuletzt
mit ihm abschließen müssen.
Der diese Zeilen schreibt, hat als guter Preuße die Ereignisse der letzten
Jahre mitgelebt, er würde einen Erwerb der Herzogthümer durch Preußen, wenn
er nicht in irgendeinem Stücke der Occupation Hannovers im Jahre 1805
gleicht, für das größte Glück halten, aber er hat, seit östreichische Truppen neben
den preußischen über das Dannewerk zogen, keine Stunde an die Möglichkeit
eines solchen Glückes geglaubt.
Manches von dem, was hier ausgesprochen wurde, wird den Männern,
welche als Wortführer des Schleswig-holstcinschen Particularismus für die
Presse schreiben, als Ansicht erscheinen, weiche mit ihrer eigenen sich berührt.
Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht immer dasselbe. Es ist ein Unterschied
zwischen denen, die über das Unglück Preußens trauern, während sie das Ver¬
trauen zu dem endlichen Sieg ihres Staates fest im Herzen tragen, und zwischen
denen, die, während sie mit der preußischen Regierung zürnen, den Beruf Oest¬
reichs für Deutschland erheben und von dem Cavinet in Wien für sich die
Befreiung von Preußen erwarten.
Unterdeß ist die Zeit gekommen, wo wir nicht allein daran zu denken haben,
daß wir Mitglieder der preußischen Partei, sondern auch, daß wir Liberale sind.
Was in diesen Tagen in der Rheinprovinz begonnen hat, muß uns allen eine
ernste Mahnung sein, daß die Parteigenossen vielleicht bald um anderes zu
arbeiten haben, was uns näher liegt, als selbst unsere Rechte an die Herzog-
Das Judenthum und seine Geschichte. Zweite Abtheilung: von der
Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. Nebst
einem Anhang: Offenes Sendschreiben an Herr Professor Dr. Holtzmann. Von
Dr. Abraham Geiger, Rabbiner der israelitischen Gemeinde zu Frankfurt a. M.
Breslau, Verlag der Schicklerschen Buchhandlung. 203 S. 8.
Dieser zweite Band, wie der erste in zwölf Vorlesungen zerfallend, führt den
Leser auf ein Gebiet, welches insofern schon von noch größerem Interesse als das
ist, auf welchem der Verfasser im ersten sich bewegte, als es dem nicht gelehrten
Publikum eine unbekannte Welt ist, aus der ihm bisher nur einige Namen und
Bücher — etwa Mischnah und Gemara, Rabbi Allda, die Karäer, Aben Esra
und Maimonides — schattenhaft entgegentraten, und dessen Bedeutung für die Ge,
schichte der Religionen und der Philosophie ihm hier von kundiger Hand aufgehellt
wird. Der Verfasser zeigt nach einer Einleitung, in welcher er seine Ansicht von
dem Beruf des Judenthums in der Diaspora ausspricht, zunächst die Auslösung des
jüdischen Staates und deren Folgen bis auf Allda, dann die Zustände und Verhält¬
nisse, aus denen die Mischnah und die babylonische Gemara hervorgingen, worauf
er die Stellung des Islam zum Judenthum erörtert. Eine fernere Vorlesung charak«
tcrisirt die Karäer, „die geistigen und leiblichen Nachkommen der Sadducäer", „die
Alterthümlcr der damaligen Zeit" (Mitte des achten Jahrhunderts n. Chr.), die er
als gegen den Fortschritt der Wissenschaft Protestirendc tief unter die Rabbanitcn
stellt, deren ersten bedeutenderen Vertreter uns ein nächster Abschnitt in dem Aegvpter
Saadias schildert. Dann folgt in vier Vorlesungen die spanische Periode, die Glanz»
zeit des mittelalterlichen Judenthums mit den Gelehrten- und Dichternamen Menachem
Bau Saruk, Samuel Halevi.(der Wcssir am Hofe des Chalifen von Granada war),
Gabirol (ein schwungvoller und gedankenreicher Dichter), Jehuda Halevi (gleichfalls
ein hochbegabter Poet), Aben Esra und Abu Aarau Musa Ben Abdallah. ge¬
wöhnlich Maimonides genannt, der größte und fruchtbarste jüdische Denker des
Mittelalters. Die vorletzte Vorlesung geht dann auf die jüdische Wissenschaft, wie
sie sich bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich
entwickelte, über, wobei Rabbi Gcrschom, der die Monogamie zum Gesetz erhob,
besonders ausführlich besprochen wird. Die letzte beschäftigt sich mit der mittel¬
alterlichen Zeit der Juden in Italien und Südfrankreich und schließt mit einem
Rückblick auf die Leistungen des jüdischen Geistes in den vorhergehenden Jahrhunderten
überhaupt und einigen schwungreicher Seiten über das, was der Verfasser für die
Mission seines Volkes in der Zukunft ansieht.
Diese Vorlesungen tragen ganz dasselbe Gepräge und ruhen völlig auf dem¬
selben Grundgedanken wie die des ersten Theils. Wir haben an ihnen dieselben
Vorzüge anzuerkennen, aber auch dieselben Irrthümer. Herr Geiger ist einer der
besten Kenner des weiten Bereichs der hier in Betracht kommenden Literatur. Er
ist ein Mann von nicht gewöhnlichem Scharfsinn. Er versteht die Ergebnisse seines
Nachdenkens und seiner Forschung klar und — wenn wir von gelegentlichen Aus-
brüchen einer gewissen Empfindsamkeit und einigen etwas pomphaften Stellen in
der Charakteristik der Spanier absehen — in gutem Deutsch vorzutragen. Er be¬
strebt sich endlich, möglichst unbefangen zu urtheilen, womit er sich sehr zu seinem
Vortheil von der Mehrzahl andrer jüdischer Schriftsteller über Geschichte des Juden-
thums unterscheidet. Völlig gelungen aber ist dieses Streben nicht, und wie oft
auch Stellen bei ihm vorkommen, wo er die neben dem Judenthum hergehenden geistigen
Mächte gerecht zu würdigen versucht, der Grundzug seines Raisonnements läuft doch auf
den Irrthum, daß die Juden und ihre Religion das edelste Element in der Geschichte der
Menschheit seien, und auf die Tendenz hinaus, dies zur Anerkennung zu bringen. Herr Geiger
ist kein Talmudjude, er nimmt fast durchaus den Standpunkt moderner Bildung
ein. In seine Betrachtung der Geschichte aber bringt er eine gewisse romantische
Neigung zu seinen Stammverwandten mit, in welcher diese sich verklären, und
welche auch die betreffenden einzelnen Persönlichkeiten und deren literarische Leistun¬
gen edler, geistiger und überhaupt bedeutender erscheinen läßt, als sie in Wahrheit sind.
Das Ganze erhält hierdurch eine stark apologetische Färbung, und dazu kommt noch
die Liebe des Gelehrten zu den Dichtern und Schriftstellern, mit denen er sich vor¬
zugsweise beschäftigt, eine Liebe, die ebenfalls leicht zur Ueberschätzung wird. Gewiß
ist Gabirol nach den hier mitgetheilten Proben seiner Poesien, die nicht die schlech¬
testen sein werden, ein Dichter nicht gewöhnlicher Art, ihn aber so hoch zu stellen
wie der Verfasser sind wir nicht im Stande. Gewiß war es ein Fortschritt, als
Gerschom die Monogamie zum Gesetz erhob, aber aus dem Judenthum, wie Geiger
meint, kam die Anregung dazu nicht, sondern der Rabbi gab abendländischer Sitte
damit die Ehre. Das Judenthum ist durch sein Leben in der Diaspora veredelt
worden, nicht umgekehrt die nichtjüdische Welt durch das nach der Zeit Jesu lebende
Judenthum, dem die moderne Bildung (wenn wir von Spinoza, der außerhalb der
Synagogcnsphcirc lebte, absehen) kaum mehr zu danken hat als die Kenntniß der
hebräischen Bibel.
„Beicht vom Hauche voller Freiheit" — so schließt Geiger seine letzte Vorle¬
sung — „immer mehr durchtränkt vom Geiste der den Blick erweiternden wie ver¬
tiefenden Wissenschaft, wird das Judenthum der Gegenwart immer mehr feiner Auf¬
gabe inne werden und ihrer Verwirklichung nachstreben, einer Aufgabe, die ebenso
allem tiefern Streben der Gegenwart entspricht, wie sie in seinem eignen Grund-
wesen tief wurzelt: daß es Religion der Menschheit werde." Wir können hierauf
nur wiederholen, was wir in der Anzeige der ersten Abtheilung dieser Vorträge
sagten: das Judenthum hat der modernen Bildung gegenüber keinen Anspruch mehr
auf eine besondere Mission zu machen. Es hat vielmehr auch die letzten von Gei¬
ger und ähnlichen jüdischen Denkern noch festgehaltenen Einbildungen von solcher
Aufgabe fallen zu lassen und damit in jene Bildung für die Zukunft aufzugehen.
Ä
Schon unter der Herrschaft der Karolinger bekanntlich bildeten sich zur
Förderung des bürgerlichen Verkehrs aus dessen beginnender größerer und ge¬
sicherterer Entfaltung Jahrmärkte zunächst in der Nähe von viel besuchten Stif¬
tern und Abteien, dann in den bei diesen oder anderswo erstellenden und er¬
starkenden Städten, zunächst an bestimmten kirchlichen Festtagen, dann auch zu
andern Zeiten, je nach der Vorschrift der Könige und Kaiser oder der weltlichen
und geistlichen Fürsten, welchen jene das Hoheitsrecht des Markthaltens unter
mannigfachen Rechtstiteln übertragen hatten. Solche'Märkte erhielten sich eine
lange Zeit hindurch natürlich nur an den alten Hauptstraßen des Handels in
Gallien und Deutschland, dort besonders im östlichen und südöstlichen Theile
des Landes, hier an den. Stätten der römischen und noch älteren Fahrten und
Niederlassungen in Süd- und Westdeutschland längs Rhein und Donau,
hinaus nach Italien, hinab gen Flandern.
Denn nur in diesen Gegenden hatte sich der Handel soweit, zumal unter
der Fürsorge der Könige und geistlichen Herren von ihren wechselnden Residen¬
zen (Pfalzen), ihren Klöstern und Stiftern aus, früh erhoben, daß er an den
Knotenpunkten des engern oder weitern Verkehrs ein Zusammenströmen der
Waaren, der Werthe, der Handelsleute aus kleinerer, dann größerer Ferne
nothwendig machte. Die Märkte und Messen erblühten hier um so schneller,
als sich die „Geschlechter" der Städte (die Patrizier) an dem Großhandel be¬
theiligten und ihn mit ihren einzelnen Geistes- und Geldmitteln oder mit
denen von weitverzweigten Handelsgesellschaften, sei es der Patrizierfamilien, sei
es ganzer Städte, erfaßten und betrieben.
Bereits seit dem 9. und 10. Jahrhundert lesen wir da in den Urkunden von
den Märkten Straßburgs und denen von Mainz und Köln. Mit dem Ausgange des
11. Jahrhunderts beginnen die Kreuzzüge in ungewohnter Stärke die Handels¬
verbindung zwischen Morgen- und Abendland zu beleben, die Erzeugnisse In¬
diens, Persiens. der Levante strömen in die Haupthandelsplätze Italiens und
von dort auf die Märkte von Augsburg und Nürnberg, oder sie ziehen die
Schweiz hinauf nach Konstanz, dann in breitem, gewohntem Zuge den Rhein
hinab. Dort sammeln sie sich in Frankfurt, sie lagern in Köln, sie häufen sich
endlich von hier aus oder durch Frankreich oder durch den Seeweg auf dem
großen Weltmärkte des Nordens in Brügge und warten hier, feilgeboten von
den italienischen Kaufleuten (Lombarden), der Käufer aus England und Frank¬
reich, aus Skandinavien und Dänemark, aus dem hanseatischen Norddeutsch¬
land und Rußland, die wieder die Rohproducte ihrer Länder, Holz, Asche,
Theer, Fische. Fett, Wachs, Honig, Pelze, Getreide, Eisen, gegen die gleich
kostbaren Waaren des Ostens und Südens neben den Tuch- und Linnenwaaren
aus, Flandern und England, dem Salze aus Frankreich und Spanien auszu¬
tauschen kommen. Ja der kaufmännische Unternehmungsgeist bewog die italieni¬
schen Handelsleute in Flandern, mit ihren Südwaaren sogar zu den Welt¬
märkten in Nordrußland, z. B. nach Nowgorod vorzudringen, bis die steigende
Macht der handelsklugen Hanseaten ihnen das gesetzlich untersagte.
Einen Theil der frühen Entwicklung solcher Markte in Süd- und West¬
deutschland muß man zweifellos der regen Verbindung danken, in welcher eben
dort die deutschen Zwischenhändler mit den in Handel und Handelsrecht so geübten
Kaufleuten Italiens seit dem 12. und 13. Jahrhundert standen. Zunächst
waren es die Waarenhändler Italiens, welche mit ihren gewinnreichen Ballen
und Fässern in den genannten Haupthandelsplätzen Süddeutschlands erschienen,
dann die Geldwechsler, welche allein oder als Vertreter der großen italienischen
Bankhäuser durch die Unruhen der Heimath oder durch Gewinnlust getrieben in
Ostfrankreich, in Flandern, später selbst in Süd- und Westdeutschland sich an¬
siedelten, Zweigbanken ihrer Haupthäuser gründeten und ihre Handctsgebräuche
und Handelsrechtssätze in den fremden Ländern heimisch zu machen strebten.
Nicht minder überzeugten sich die deutschen Kaufleute durch ihren häusigen Be¬
such auf den italienischen, französischen, flandrischen Märkten, wo sie überwie¬
gend italienische Handelsgrundsätzc vertreten fanden, von der Vortrefflichkeit
der letzteren.
Besonders hervorzuheben sind hier die Messen in der Champagne und
diejenigen, welche sich später in Südfrankreich, dann im Elsaß an erstere an¬
schlössen, weil neuerdings eine Reihe archivalischer Zeugnisse für die Verbindung
dieser Messen mit Handelsplätzen in Westdeutschland aufgefunden wurden.
Sie überraschen durch die strengen Meßordnungen, durch den ausgedehnten,
vorzüglich geregelten Betrieb, durch den enormen Werthumsatz. Sie bilden
Centralpunkte des Handels, vornehmlich der Geld- und Wechselgeschäfte, sie er¬
leichtern letztere, befördern ihre Ausbreitung, cultiviren das Wechselrecht.
Als Jahrmärkte, ganz wie in Deutschland, begannen die champagner Messen
(toires Ah OKamMMs) und zwar bereits so früh, daß man ihren Ursprung
nicht verfolgen kann. Haupthandelsartikel, wie noch heute, waren Tuch und
Leder, daran schlössen sich die Menge der Wechselgeschäfte. Eine große Zahl der
in der damaligen, zumal in der italienischen Handelswelt in Italien, Spanien,
Frankreich, England, Flandern cursirenden Wechsel war von den verschiedenen
italienischen Wechslern, Banken und Zweigbanken auf diese Messen ausgestellt,
die Aussteller erschienen daselbst persönlich oder durch regelmäßige Vertreter und
glichen die so auf die verschiedenen Bankiers wechselseitig gezogenen Wechsel
durch Umschreibung in ihren Büchern aus (das Jndossement kam erst seit dem
17. Jahrhundert in Gebrauch) oder erledigten baar ihre restirenden Wechsel-
Verbindlichkeiten gegen Bankiers und andere Gläubiger. In nach Zeit und
Ort verschiedener Weise theilte man die Dauer jeder Messe in feste Abschnitte
für die einzelnen Handelszweige, und bei der Abwicklung der Wechselgeschäfte
für die einzelnen Stadien derselben. Die Abschnitte bezeichneten öffentliche
Ausrufer durch ihren Ruf: tara, tara! Am Ende der Messe waren vier
Tage zum Skontriren der Wechsel bestimmt, dann folgten die Zahlungen, die
durch RückWechsel (Ritorno-) von den Messen auf die verschiedenen Plätze ge¬
leistet wurden. Ganz genaue Einsicht in die höchst interessanten und für die
Geschichte des Handels und Handelsrechts wichtigen Details dieser frühen
Messen gestatten die sehr vereinzelten Nachrichten darüber nicht. Solcher Messen
gab es höchst wahrscheinlich schon seit dem 12. Jahrhundert daselbst jährlich
sechs, zwei in Provins, eine in Bar, zwei in Troyes, eine in Laigny.
Mit diesen Messen standen Haupthandelsplätze Westdeutschlands, wie vor¬
nehmlich Köln — das ersehen wir aus vor Kurzem veröffentlichten neuen Ur¬
kunden zur Geschichte Kölns —, schon lange vor der Uebersiedelung der großen
italienischen Bankcommanditen nach Frankreich und Flandern derart in Geschäfts¬
verbindung, daß sie ihre bestimmten Vertreter auf die Messen sandten, welche die
auf diesen fälligen Handels(Wechsel-)verbindlichkeiten ihrer Mitbürger und Auftrag¬
geber abwickeln mußten. Das geschah besonders betreffs der in Italien übernomme¬
nen (Wechsel-)Geldschulden deutscher Geistlichen und schon seit 1213, 1221,
1228, d. h. seit der frühesten Zeit, aus der wir überhaupt etwas von den
champagner Messen wissen. Siebzig bis hundert Jahre später fehlen dann auch
für die Städte Südwestdeutschlands, so für Straßburg, Constanz u. in. a.
nicht die Nachrichten von enger und regelmäßiger Verbindung mit jenen Messen
im Waarenhandel und den Geldgeschäften.
Die große und steigende Bedeutung der champagner Messen errang denselben
bald, vom Anfange des 14. Jahrhunderts ab, wichtige Privilegien der französischen
Könige. Sie erhielten eine vom Könige eingesetzte und mit Gerichtsbarkeit für
die Meßgeschäfte ausgestattete Behörde, genannt eoriservatoreL (eustoäos) nun-
ämaruln, mattres Ach toires. Die Meßforderungen ferner sollten sich mehrer
Vorrechte erfreuen, u. a. allen übrigen Forderungen vorgehen, höhere, als nur
sonst ausnahmsweise gestattete Zinsen tragen, doch nur wenn ihre Urkunde
Von der eben genannten Behörde untersiegelt war. Mit diesem Siegel fielen
sie unter die Gerichtsbarkeit der eustoäöL selbst, d. t). man verhandelte über
sie in abgekürzten, schleunigen Processen mit prompter Execution. Daß Lands¬
leute des Schuldners, die sich gerade auf der Messe befanden, lediglich weil sie
Landsleute waren, für seine Meßschulden haften mußten, war in Deutschland
damals ein für die Executionspraxis ganz allgemeiner, auf Mcßschulben nicht
beschränkter Grundsatz. Die waitros ach toires konnten aber sogar den Kauf¬
leuten derjenigen Städte ganz den Mcßbesuch verbieten, deren Behörden sich
geweigert hatten, den Requisitionen der Meßrichter Genüge zu thun.
Neben solchen allgemeinen Privilegien gingen die nicht weniger wichtigen
her für die italienischen Kaufleute und Wechsler, welche seit der zweiten Hälfte
des 13. Jahrhunderts immer zahlreicher sich an den Messen betheiligten und
durch ihre weitgedehnten, großartigen Geschäftsverbindungen, durch ihre Kennt¬
niß des Handels und Handelsrechtes den Märkten vornehmlich zur Blüthe ver-
halfen. Sie durften in den champagner Messen und andern Märkten Frankreichs,
z. B. zu Nismes Wechselbänke halten und zwar — was uns völlig fremd er¬
scheint — als Landsmannschaften (universitates) organisüt unter ihren Vor¬
stehern (eollsules), je nach ihren einzelnen italienischen Heimathsorten. Ein
Capiiän vertrat sie alle vor dem König. Die sonst festgesetzten Abgaben der
Markivesucher vom Waarenhandel und Wechselgeschäft an die Krone, welche
wir sogleich auch bei den deutschen Märkten antreffen werden, wurden ihnen
ganz oder theilweise erlassen. Sie wählten und hielten ihre eigenen Makler.
Selbst die Gerichtsbarkeit in Meßprocessen zwischen Italienern übertrug man
ihren Consuln, die hierbei das italienische Handelsrecht selbstredend anwandten,
auch genügte die Unterschrift ihrer Notare zur Rechtsgiltigkeit der Meßverttäge
zwischen Italienern. Zahlungsunfähige italienische Schuldner freilich schloß man
Von der Messe aus, und nahmen die Landsleute sich ihrer an, so verbot man
die Messe der ganzen Landsmannschaft. Die Organisation der italienischen
Kaufleute und Wechsler in Frankreich ging übrigens schon 1297 so weit, daß
alle diese in Paris bleibend von einem Generalcapitän vertreten wurden. Wenn
nun eine Reihe von Notizen darüber beigebracht wird, daß Ludwig der Neunte
1256 von den Italienern in Frankreich 1S0 verhaften und an den Grafen von
Savoyen ausliefern, 800,000 Livres ihrer ausgeliehenen Beträge mit Beschlag
belegen ließ, daß er ferner alle in Frankreich lebenden Wechsler aus der Lom¬
bardei und Cahors 1268 verbannte, daß sich dieses Verfahren 1274 und 1277 wie¬
derholte, wobei die Krone 100,000 Goldgulden gewonnen habe, so beziehen sich
dergleichen Gewaltmaßregeln jedenfalls nur auf die in Frankreich ansässigen,
nicht auf die die Messen besuchenden italienischen Handelsleute, doch selbst gegen
die ersteren wurde obiges Verfahren wahrscheinlich nur angeregt, aber nicht
beschlossen, oder nicht völlig ausgeführt.
Noch um die Mitte des 14. Jahrhunderts stellten die florentiner
Bank- und Handelshäuser alle ihre Wechsel nach Frankreich, Flandern, England
auf die champagner Messen aus. Seitdem gründeten die Florentiner indeß in
Lyon Bcmkcommanditen, hoben so die dortigen Jahrmärkte erheblich und über¬
flügelten allmälig die Bedeutung der alten Messen der Champagne. 1419,
dann 1468 erhielten die lyoner Messen, deren es jährlich vier, jede einen Mo¬
nat lang, gab, dieselben Vorrechte wie ihre Vorgänger, vornehmlich zu Gunsten
der Florentiner, die hier seit 1419 schon ein Uebergewicht behaupteten und noch
1S48 daselbst 37 Bankcommcmditen besaßen. Auf diese Messen stellte man in
Frankreich, Italien und Flandern alle Arten von Zahlungen. Höchst interessant
und wichtig ist die Regulirung der Wechselvcrbindlichkeiten während der Me߬
zeit. Jeder Teilnehmer daran mußte sich für sich oder durch Procura für
andere zuvor beim Börsenvorstand melden. In der ersten Meßwoche wurde
acceptirt, jeder hatte dazu ein kleines Buch (bilan) mit ordentlichem Wechsel¬
conto für die Messe. Man acceptirte mündlich. In diesem Falle schrieb jede
Partei zu der betreffenden Post ein Kreuz; schwankte der Bezogene, ob er ac-
ceptiren solle oder nicht, so bezeichneten beide Theile die Post mit V (on); verweigerte
der Bezogene das Accept, so zeichnete man L, ?. ein, d. h. der Wechsel sollte
unter Protest gehen. Die Frist für das Protestircn lief erst am Ende des
Meßmonats ab. In den drei letzten Meßwochcn skontrirte man (viremönt)
mit Hilfe des Buches (dilav). Die Ueberweisung des acceptirten Wechsels
galt gleich Zahlung. Was man nicht in Skonto ausglich, bezahlte man baar
oder in Wechseln von der Messe auf einen Platz; für diese Wechsel bestimmten
am dritten Meßtage die Meßvorstcher und angesehensten Kaufleute den Curs,
gerechnet von Lyon. Für Deutschland galt später Aehnliches (vergl. unten).
Näher an Deutschlands Hauvtmärkte grenzte der dritte der Centralpunkte
für den europäischen Wechselverkehr, die Messen zu Besanyon in Burgund,
welche, getrieben durch ihre Eifersucht gegen die Florentiner in Lyon und durch die
dringenden Aufforderungen unsers Kaisers Karl des Fünften, die Genueser seit 1S37
errichteten. Ein großer Theil der Italiener folgte ihnen in den neuen Meßort
und fügte sich hier der genuesischen Leitung und der von Genua gesandten und
ergänzten Meßordnung, wie zuvor der florentinischen. Hier erst bildete sich nun
der reine Wechselmarkt, die eigentliche Wechselmesse aus. Kein Waarenhandel
war zugelassen, kein Wechsel, dessen Valuta in Waaren erhalten war, nur
Wechsler durften die Messe beziehen, Zahlung in Baar gestattete man nur unter
Beschränkungen. Wer diese beabsichtigte, mußte es nämlich in den ersten vier
Meßtagen melden, das Geld versiegeln lassen und dem Gläubiger es vorläufig
anzeigen, widrigenfalls letzterer die Annahme verweigern durfte. Deshalb
wickelte sich auch die Messe, die viermal im Jahre stattfand, jedesmal in
acht Tagen ab. Raphael de Tmre ist erstaunt über diese wunderbaren
Messen. In seinem Tractat von den Wechseln (1640) sagt er: „Man kann
geradezu behaupten, das baare Geld jeder Art ist von den Messen verschwun¬
den. Die Bankiers, welche viele Millionen Goldstücke umwechseln, bringen
kaum so viel Geld mit, als zum Leben in den wenigen Meßtagen nöthig ist.
Der Gläubiger müht steh um nichts weniger, ja er schreckt vor nichts mehr
zurück, als daß er Bacirzahlung annehmen soll. Aber alles seht er daran,
Wechsel auf Meßgold (vergl. unten) für die Orte der Welt zu erhalten, in
welchen er das baare Geld von Nutzen hält. Erst 1622 änderte sich das-
Den Gang der Messe können wir genau übersehen. Zunächst meldete sich jeder
Besucher mit seinen Vollmachten beim Meßvorstande und legte sein Wechsel¬
conto für die Messe (Lourtakaeeio) vor. Am ersten Meßtage wurde acceptirt,
man ging zu den Bezogenen oder rief sie auf. dann meldeten sie sich oder ihre
Procuristen. Je nach der blos mündlichen Erklärung des Bezogenen machte
man sein Zeichen in die Wechselliste. Aus dem ganzen Resultate zog jeder
seine Meßbilanz und benachrichtigte die Borsteher, wie viel er auf der Messe zu
fordern oder zu zahlen habe. Die Berechnung machte sich leicht, weil alle
Meßwechsel auf die für die Messe erfundene Rechnenmünze (seuäo al marelre),
deren Curs gegen die wirklichen Münzen der Hauptländer genau festgestellt
war, lauten mußten. Aus allen Einzelbilanzen zog der Vorstand dann eine
Generalbilanz. Darauf setzten die Meßvorsteher mit den angesehensten Me߬
besuchern den Curs fest für die Rückwechsel von der Messe nach den Haupt¬
handelsorten. Sodann skontrirte man in dem größern Theile der Meßzeit, trug
die Resultate der Gegenrechnungen in die Bilanzen und nahm und gab den
Werth des hierdurch nicht Ausgeglichenen in den eben erwähnten Rückwechseln
von der Messe auf die verlangten auswärtigen Orte. Bis zum achten Tage
der Messe mußte jeder seine ausgeglichene Bilanz den Vorstehern nachweisen,
im Nothfalle konnte ein neunter Tag gewährt werden, dann schloß der Markt.
Diese Messen der Genueser überflügelten betreffs des Wechselverkehrs die
Märkte von Lyon bedeutend, in den zwei ersten Jahrzehnten des siebzehnten
Jahrhunderts setzte man auf je einer Messe zu Piacenza. wohin die Genueser
seit 1597 den Markt von Beharren verlegt hatten, 16 Millionen Dukaten um.
Zum Beleg der Einwirkung jener Messen auf die Märkte Deutschlands
führt man nun Einzelheiten an aus Botzen, aus der leipziger Wechselordnung
von 1682, dem italienischen leipziger Kurszettel von 1711 u. drgl. In dieser
späten Zeit läßt sich der directe italienische Einfluß auf etliche deutsche Märkte
in der That, nicht bestreikn. Auch für die Hauptperiode des Mittelalters ist
oben bei dem Nachweis der Verbindung zwischen den Messen in Frankreich und
deutschen Handelsorten die Bedeutung jener für unsre Messen anerkannt. Mehr
als in der nur ganz vereinzelt nachweisbaren Uebertragung der äußern Meß.
ordnung wirkten jene durch Italiener blühenden Messen im Mittelalter und in
den ersten Jahrhunderten der Neuzeit auf das Emporkommen bedeutenden Waaren-
Verkehrs und Geldumsatzes unserer Märkte, was sich freilich sicherer folgern als
mit Zahlen und Namen begründen läßt. Dagegen darf man keineswegs so
weit gehn, den Italienern und ihren Messen in Italien, Frankreich und
Flandern nun die erste Gründung. Einrichtung, Leitung und Blüthe unserer
Märkte in Deutschland zuzuschreiben. Schon der im Verhältniß zu den Ita¬
lienern geringe Wechselverkehr der deutschen Kaufleute stand dem entgegen.
Aus dem steigenden Handel mühten sich bei uns, wie bei jedem cultur¬
fähigen Volke, naturgemäß Mittelpunkte des Waaren- und Gcldverkehrs. Messen
und Märkte an den HaupthandelsortH nothwendig erweisen und heranbilden.
Die alten Kirchenfesttage mit dem AblMz^d.le' Jahrmärkte boten geeigneten An¬
halt. Kaiser, weltliche und geistliche Herren sahen darin ihren uniMelbaren
und durch den steigenden Wohlstand der^Unterthanen ihren mittelbaren Vor¬
theil. Sie suchten die Entwicklung der Messen^u fördern, sie zweigten/hoheits-
rechte. wie das über die Marktzölle u. a. al^'um sie den unmittelbaren, Herren
des Meßgebietes zu gewähren u. a. in. WD"die Herrscher durch Ger6a-5tschritte
gegen die Besucher der Märkte sich sogleich Gewinn schaffen oder jene vom
Markte abhalten wollten, spornten sie die Kaufleute zum Widerstande und Me߬
betrieb um so energischer an.
In solcher Bildung von Märkten stellte sich seit dem Ende des dreizehnten
Jahrhunderts, wo die Kämpfe der deutschen Cultur gegen die Slavenherr¬
schaft endlich eine siegreiche Ausdehnung und Entwickelung der ersteren ge¬
statteten, der Norden und Osten Deutschlands dem Süden und Westen nicht
uncbenbürtig zur Seite. Denn seit dieser Zeit machten die weitverzweigten
Handelsgenossenschaften der nordischen Kaufleute, dann der vorzüglich für
den Zwischenhandel zwischen den Waaren des flandrischen Weltmarktes und
den Noherzeugnissen der nordischen Länder organisirte Hansabund ihren Ein¬
fluß — und zwar in völlig originaler Weise —- zum gewaltigen Empor¬
blühen des hanseatischen Handels geltend, welcher bald die nicht des Meeres
theilhaften, von neidischen Rivalen in Italien, Frankreich und Norddeutsch¬
land begrenzten Handelshäupter Süd- und Westdeutschlands überflügelte.
Von vornherein ausscheiden müssen wir hier von der Betrachtung der
Märkte die großen Niederlassungen (Faktoreien) der Hanseaten an den Haupt¬
orten ihres Handels, die cölner Gildhalle (Stahlhos) in London, die Faktorei
der Hanseaten in Brügge, den Sitz des „gemeinen deutschen Kaufmanns auf
Esthland" in Wisby, den Se. Petershof in Nowgorod und die Brücke in
Bergen. Sie waren ihrer Anlage, Organisation und Wirkung nach bleibende,
fortwährende Aufenthaltsorte der Hanseaten mit ihrer Behörde, ihren Geistlichen
und Dienern als Mittelpunkte für Ausbreitung und Schutz des hanseatischen
Handels in den nordischen Reichen. Ebensowenig gehört hierher der Stapel¬
zwang der einzelnen Städte, der die durchreisenden Kaufleute nöthigte, in diesen
ihre Waaren zum etwaigen Verkauf an die Einwohner auszulegen, noch das
Stapelrecht der Kaufleute, z. B. der Hanseaten, vermöge dessen sie in den
Haupthandelsorten, besonders des Auslandes ihre Waaren zum Verkauf feil¬
halten durften. Hier liegt kein Zusammenströmen von Waaren, Werthen, Kauf¬
leuten verschiedenster Gegenden, keine feste, periodisch wiederkehrende Marktzeit
vor u. a. in.
Hauptnachricht über die großen Waaren- und Geldmärkte erhalten wir —
wie uns die kürzlich veröffentlichten Untersuchungen eines Rechtshistorikers lehren
— aus den zerstreuten archivalischen Urkunden der deutschen Wechsler. Diese
trafen sich auf den Messen, hierhin dirigirten sie auch ihre Geschaftsgenossen.
ihre Diener, welche auf steten Reisen, wie ihre Herren, dem Wechselgeschäft
oblagen, hierhin stellten sie gegenseitig ihre Wechsel, ihre Schuldscheine aus,
hier beglichen sie ihre wechselseitigen Conti, hier nahmen und gaben sie Rück¬
Wechsel. Solche Märkte waren seit dem vierzehnten Jahrhundert hauptsächlich
Leipzig, Nürnberg, Frankfurt a. M., dann Augsburg, Naumburg, Breslau,
Posen, Thorn, Danzig; vornehmlich laufen Meßwechsel vom leipziger Oster-
markt auf die Michaelismessen der andern Städte. Die Märkte gewannen
eben, wie in der Champagne, zu der angegebenen Zeit einen besonderen Aus¬
schwung durch die größere Verbreitung der gezogenen Wechsel. Besondere
Marktprivilegien aus früherer Zeit sind allgemein für die ganze Zahl der
deutschen Märkte nicht aufzuführen. Specielle mMres ach toires mit Gerichts¬
barkeit in Marktprocessen gab es hier nicht; die Sachen wurden einfach vor
dem Rathe und Gerichte des Meßortes entschieden, das brachte die kleine Zahl
und die nicht hervorragende Stellung unserer Wechsler mit sich. Sehr spät erst,
im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert (mit einzelnen Ausnahmen, so von
Frankfurt a. M. schon im fünfzehnten Jahrhundert) trifft man auch hier die
genaue Eintheilung der Meßzeit für die einzelnen Zweige der Waaren- und
Geldgeschäfte, sowie eine Begünstigung der Meßwechsel durch kürzere Protest-
und Proceßfristen, schnelle Execution und höheres Wechselgeld. Letzteres sahen
selbst strenge Kanonisten als gerechtfertigt durch die Arbeit und Gefahr der
Wechsler, daher nicht als Wucher an; Luther dagegen, wie er in nicht wenig
Punkten über die Grenzen des kanonischen Rechtes hinaus eifert, ruft darüber
aus: „Der Wucher sitzt zu Leipzig, Augsburg, Frankfurt und dergleichen Städten
und handelt mit Geldsummen, auf jedem leipzigschen Markt nimmt man 30
aufs 100, in Naumburg gar 40, das sind nicht Jahr-, nicht Mond-, sondern
Wochenzins. Wer also von 100 si. 40 nimmt, das heißt einen Bauer oder
Bürger in einem Jahre gefressen. Hat einer 10,000 und nimmt 4000, das heißt
einen reichen Grafen, 1.000,000 und nimmt 400,000, einen großen König in
einem Jahre gefressen; und leidet darüber keine Fahr, weder an Leib noch an
Waare, arbeitet nichts, sitzt hinter dem Ofen und brät Aepfel. Pfui dich!
wo zum Teufel will das zuletzt hinaus?" Allgemein sei schließlich noch bemerkt,
daß die deutschen Märkte gerade während der Hauptzeit des Mittelalters ihre
volle Blüthe dadurch beeinträchtigten, daß man fremde Handelsleute, zu denen
aber auch die Süddeutschen auf den Märkten der Hanseaten und letztere auf
den süddeutschen Märkten gezählt wurden, möglichst von dem Mcßhandel aus¬
zuschließen strebte. Das hing mit dem großen Uebergewicht der verschiedenen
Gruppen von Kaufleuten in ihren Handclsgebieten zusammen und wurde so
weit ausgedehnt, daß die Hanseaten z, B. durch Privilegien der fremden Fürsten
sich zusichern ließen, daß sie allein fast die ganze Ein- und Ausfuhr von Eng¬
land, von Rußland u. a. besorgten. Solche jetzt uns unmöglich scheinende
Zustände entsprechen der bedeutenden Ueberlegenheit der Hanseaten in der Leitung
und Ausübung des ganzen Zwischenhandels in den Nordländern mit den Pro-
ducten von Asien, von Süd-, Westeuropa und Flandern und den Erzeugnissen
Englands, Skandinaviens, Rußlands u. s. s. Daher hielt sich ihre Handcls-
herrschaft auch nur so lange als letztere Ueberlegenheit. Darnach konnte man
auch auf den Märkten nicht mehr die Schranken gegen den Meßbesuch fremder
Handelsleute aufrecht erhalten, und die Märkte nahmen immer mehr den Cha¬
rakter der heutigen an.
Betrachten wir nunmehr eine der Hauptmassen des mittelalterlichen Deutsch¬
lands näher, diejenige zu Frankfurt ni. M., über welche uns Kriegk, einer der
besten Kenner des dortigen reichsstädtischen Archivs seit einigen Jahren archi-
valisches Detail in schätzcnswerthcr Menge vorgeführt hat.
Trotz der in unmittelbarer Nähe liegenden bekannten Märkte von Mainz
und Fnedbcrg hat sich die frankfurter Messe vom 14. bis, 18. Jahrhundert in
gleich großer Bedeutung erhalten. Schon im Mittelalter besuchten sie Handels¬
leute aus allen Theilen Deutschlands, auch aus Belgien und Italien, so aus
Breslau, Prag, Brüssel, Venedig (1367). Mailand (1389). doch scheinen letztere
kein großes Contingent von Kaufleuten gestellt zu haben, weil man diesen
Städten nicht, wie vielen anderen, den neuen Meßanfang anzeigte. Wir be¬
sitzen noch eine Tafelordnung der Mittagsmeßgäste im Nürnberger Hofe, einem
der vielen Gasthöfe zu Frankfurt, aus dem 16. JahrKundert. Sie weist von
1S87 —1620: 12S Unterschriften, darunter 33 Nürnberger. 12 Breslauer,
6 Lübecker, 5 Augsburger, 5 Danziger, 3 Polen, 1 aus Riga, 1 aus Thor»,
1 aus Zürich, 1 aus Mailand, 1 aus Lyon und aus vielen andern deutschen
Städten. Die Messe stieg seit 14S0 bis in das 16. Jahrhundert hinein an
Blüthe und sank dann, doch sehr allmälig, das 17. und 18. Jahrhundert hin¬
durch. Daher preist schon im Is. Jahrhundert Aeneas Sylvius Frankfurt als
das Bindeglied des Handels der sonst im Verkehre, wie gezeigt, feindlichen
Süd- und Norddeutschen, man veröffentlichte Bullen durch Anschlag in der
Meßzeit, man betete für die große Schaar von Meßsremden. Franz der Erste
von Frankreich nennt es 1619 schmeichelnd den berühmtesten Handelsplatz fast
der ganzen Welt, und Luther, dessen kanonistischen Eifer gegen die Messen wir
schon kennen, schilt Frankfurt „das Silber, und Gold-Loch, dadurch aus deutschen
Landen fleußt, was nur quillt, wächst, gemundet und geschlagen wird." Hen-
ricus Stephanus rühmt von der Messe besonders den Umsatz von Büchern,
Hans Sachs das Gewühl auf den Straßen. Noch um 1750 behauptet Keyß-
ler, die frankfurter Meßwaaren könnten nicht für 10 Millionen aufgekauft wer¬
den, Leipzig stehe hierin nach. Dem entsprechend schreibt der frankfurter Rath
1377 an den Kaiser: Frankfurt habe seinen Erwerb vornehmlich von den
Messen, in diese bringe zuweilen ein einziger nürnberger Kaufmann mehr als
tausend Stück Waaren, und viele Italiener verkauften hier jedesmal für mehre
Tonnen Goldes Werth Sammet und Seide. Jedenfalls gehörten die Erträge
der Messe zu den bedeutendsten Einnahmen der Stadt.
Auch diese Messe entwickelte sich wahrscheinlich aus einem bloßen Jahr¬
markte zu Ende des Sommers am Kirchweihfeste der Hauptkirche. 1240, wo
Kaiser Friedrich der Zweite allen Mcßbesnchern derselben für Hin- und Rück¬
reise den Rcichsschutz versprach, war die Umwandlung schon geschehen. Seit
1330 verdoppelte sie Kaiser Ludwig der Bayer, welcher wegen des Beistandes
der Stadt gegen den Pabst ihr eine Reihe von Wohlthaten zufließen ließ; sie
hießen „die zwei frankfurter Neichsmessen", unter welchem Namen dann Orth
im vorigen Jahrhundert seinen äußerst lehrreichen großen Quartband über sie
veröffentlichte, auch alte und neue, Herbst- und Fastenmesse und hatten gleiche
Rechte.
Die Zeit für Anfang und Ende der Messen schwankte indeß, entgegen¬
gesetzt ihren eben im Namen gegebenen festen Terminen, je nachdem Krieg,
Pest, Unwetter oder der unregelmäßige Heranzug der Handelsleute dies nöthig
machte. Bon einer strengen, für jeden Fall festgehaltenen Meßzeit ist hier weit¬
aus nicht die Rede, etwa gleich den französischen Messen. Wie man die noth¬
wendig hierdurch für die Meßzahlungen und Meßwechsel erwachsenden Stö¬
rungen ausglich, ist nicht ersichtlich, wahrscheinlich galt für sie die allgemein
regelmäßige Meßzeit in jedem Falle, wo nicht der Rath der Stadt zuvor aus¬
drücklich den> einzelnen auswärtigen Handelsplätzen eine Veränderung der Meßzeit
rechtzeitig kundgethan hatte. Daß es dem Rathe selbst höchst peinlich war, die
Meßzeit durch Lässigkeit der Handelsleute wiederholt schwanken, später beginnen
und enden zu sehen, ergiebt sich aus den Strafen, die er darauf setzte, aus den
Erlassen an fremde Städte seit 1382, worin er diese um geeignete Einwirkung
auf ihre Meßbesucher bat, aus den Berathungen mit den säumigen Kaufleuten
selbst. Alles, wie sich denken läßt, vergeblich. Regelmäßig sollte die alte Messe
dauern vom Is. August bis 8. September, also 24 Tage, die neue von Sonn¬
tag Oculi bis Sonntag Judica, also 14 Tage. Man läutete sie, was wohl
allgemein bei deutschen Messen üblich war, am ersten und letzten Tage der.
Messe Mittags ein und aus. in neuerer Zeit bezeichnete man diese Schluß
punkte und die ganze Meßzeit durch tätliche Schüsse aus Stücken an zwei Stellen
der Stadt.
Von unsern heutigen Märkten unterschied die damaligen, und so auch die
frankfurter, der Schutz, welchen die Meßstadt den Meßbesuchern nach und von
der Messe auf bestimmte Wegstrecken gewährte, das Meßgeleit. Im Mittelalter
brachte es der noch nicht genügend entwickelte Verkehr und die thatsächlich
und rechtliche Unsicherheit mit sich, daß die Kaufherrn mit ihren Waaren,
selbstproducirten oder eingetauschten und eingekauften, in eigner Person be¬
waffnet und von Dienern begleitet zu den Messen zogen. Sie vereinten sich dann
mit einer ganzen Karavane solcher Meßbesucher, kauften, mietheten oder bauten
gar in den Abfahrthäfen der Meere und Flüsse die nöthigen Schiffe, im Bin¬
nenlande die Wagen und Saumthiere und wanderten so dem fernen Ziele zu.
(Erst als die Verkehrslinien sich weiter ausdehnten, und oft die gleichzeitige
Anwesenheit des Geschäftshauptes an mehren entfernten Handelsplätzen nöthig
wurde, wuchs die Handelsgesellschaft — und bald in großartigsten Maßstabe —
hervor, zweigte sich der Commissions- und Spcdilionshandel ab.) Durch ihre
bewaffnete vereinte Anzahl, zuweilen durch gemiethete Söldner oder Kriegs,
schiffe suchten sie sich gegen die Seeräuber, die beutelustigen weltlichen und
geistlichen Fürsten, Ritter u. a., gegen deren zahlreiche willkürliche Zölle und
andere Zwangsmittel zu wehren. Der Kaiser hatte zwar allen Kaufleuten
sichres Geleit verheißen und geboten, die Fürsten und Ritter, durch deren Ge¬
biet die Meßstraßen führten, verkauften zwar für hohen Preis ihre Schutz¬
briefe (fehlten sie einem Kaufmann, so galt seine Waare schon deshalb für
vogelfrei); aber alle diese Vorsichtsmaßregeln sicherten keineswegs vor An¬
fällen. Und Strandrecht und Grundruhrrecht waren ja eingewurzelte Mi߬
bräuche, die fast Rechtskraft übten. Die Waare, welche aus dem See- oder
Flußschiffe siel, das gescheiterte Schiff, der auf der Achse liegende Wagen, das
von ihm heruntergefallene Gut gehörten in demselben Augenblicke, wo das Un¬
glück geschah, den Bewohnern des betreffenden Bodens, bargen es die Rei¬
senden selbst, sie mußten es doch herausgeben. Gegen diese krassen Mißstände
half die Vereinigung der Kaufleute, der Handelsorte mehr als alle Bullen
des Papstes und seiner Bischöfe, alle Befehle des Kaisers und der weltlichen
Fürsten. das beweist u. a. gerade die Hansa.
Solche Angriffe auf die frankfurter Mcßleute und auf das Marktschiff
zwischen Mainz und Frankfurt waren seit dem 14. Jahrhundert im Gange.
Ein kölner Domherr, Graf Heinrich von Nassau, begegnet unter den Freibeu¬
tern, er hatte sich durch seine Räubereien den Ehrennamen Graf Schindledcr
erworben. Der Erzbischof von Mainz beraubte sogar die Frankfurter, als sie
denWeßfremden entgegenzogen. Und auch Franz von Sickingen nahm 1617
unmittelbar vor einem der Stadtthore sieben Wagen mit Meßgütern fort.
Die Stadt Frankfurt sorgte hiergegen für Schutz. Sie erwirkte durch
ihre Schreiben das Geleit der ihr zunächst grenzenden Fürsten auf deren Ge¬
biet oder auch bis zur Stadt selbst, und gab ihr eignes Meßgeleit auf Land
und Flüssen bis zur oder von der Grenze des städtischen Territoriums. Die
Stadt geleitete ihre Meßgäste mit 16—20 Schützen zu Wagen, Pferd oder
Schiff, oder mit bezahlten benachbarten Rittern, mit einer Zunft oder mit rei>
sigem Volle, zusammen bis 110 Mann. Mitglieder des Richtercunts. des
Raths und die Pfeiffer der Stadt waren meist dabei. Die Geleitenden be¬
zahlte der Rath, selbst wenn sie an der Theilnahme des Geleits behindert
waren. Später, als das ganze Institut nur den Charakter eines Auszugs in
gleichförmig buntverzicrten Kleidern behielt, verwandelte der Preis sich in Ge¬
lage; so bestand es bis 1802, u. a., weil die fürstlichen Nachbarn von ihm
regelmäßiges Einkommen bezogen.
Die Mcßfrcmdcn wohnten bei Privatleuten und in Herbergen, die zum
Theil von den Gästen desselben Ortes ihre Namen Augsburger, Nürnberger,
Baseler Hof, Alt-Limburg und dergl. empfangen haben mögen. Feil bot man
in Straßenbudcn und Läden, die man auf eine Messe oder sogleich für viele
Jahre in Privat- und städtischen Häusern miethete. Die im Freien stehenden
Meßläden (Krämer, Hütten, Schreine), öfter unbedacht, waren bloße Tische, die
übrigens unter andern auch der Rath vermiethete, und auf die man auch be¬
stimmte Renten gründete, oder Läden im Hausthor, oder Lorbauten vor den
Häusern bis zu einer vorgeschriebenen Linie der Straße. Hierfür zahlten die
Fremden eine Abgabe an den Rath und oft eine an den Eigenthümer des da¬
hinter liegenden Hauses. Den Mittelpunkt des Marktverl'ehrs bildeten die
Hauptstraßen und Plätze der Stadt, entferntere Stadttheile konnten trotz vieler
Versuche nicht in den Meßbetrieb verflochten werden. Ganz frei vom Markte
waren bei Strafe die geweihten Höfe und Plätze rings an den Kirchen, Papst
Nikolaus der Fünfte selbst schrieb deshalb 1452 an den frankfurter Rath.
Zu den Hauptmeßwaaren gehörten daselbst Tuch, Wolle, Leinwand, Pferde
und Geld, seit dem 16. Jahrhundert Bücher. Das Tuch kam vornehmlich von
Löwen, Mecheln, Brüssel, Limburg, Speier, das feinste von Mecheln und
Brüssel; dieses verwendete auch der Rath zu Geschenken an den Kaiser. Auch
Papier und Pergament kam im 14. Jahrhundert aus den Niederlanden zur
Messe, und der Rath kaufte hier bisweilen selbst seinen Bedarf ein.
Das Geldgeschäft in der frankfurter Messe, als eines der größten und ge¬
winnreichste» für Privat- und Stadtkassen, mag hier noch näher betrachtet wer¬
den. Wegen der Bedeutung der frankfurter Messen datirte man in Südwest-
deutschland frühe schon Zahlungen von Städten und Privaten auf die Messen
sei es im örtlichen Sinne, oder auch nur als festes Datum. Ebenso stellte man
Wechsel in Deutschland, zumal solche, bei denen die betheiligten Personen weit von
einander wohnten, wiederholt auf diese Messen zahlbar aus, so einen in Prag
1391 ausgestellten domizilirten Eigenwechsel des Bischofs von Straßburg an
ein colner Handelshaus. Im 17. Jahrhundert ist dies ganz verbreitet. Ob
baare Zahlung in der Messe verlangt und Zahlung durch Wechsel gar bestraft
wurde, wie unter andern Kriegk behauptet, erscheint zweifelhaft. Dagegen sind
Anhalte für eine schon im Is. Jahrhundert übliche regelmäßige Abwicklung
und Ausgleichung der auf die frankfurter Messe» lautenden Wechselverbindlich¬
keiten, ähnlich wie in den champagner Messen, vorhanden. Für die Acccptcttion
sind hier die erste Mcßwvche und zwei Tage d'er zweiten bestimmt, für die
Zahlung die Frist bis Freitag der zweiten Woche, für den Protest die zweite
Woche. Seit 1550 etwa vereinbarten die „meisten und vornehmsten" Me߬
kaufleute hierselbst einen Cours für die Hauptmünzsorten der Meßwcchsel und
Meßzahlungen. Derselbe Cours wurde 1621 auch in den leipziger und naum-
burger Messen angenommen. Im 18. Jahrhundert setzten die Makler mit den
Hauptkaufleuten in der frankfurter Messe den Wechselpreis fest; wenn nicht, so
galt die Wechseltaxe der Obrigkeit. Diese vereinbarte im 17. Jahrhundert der
frankfurter Nath durch zwei Deputirte am Anfange der zweiten Meßwoche mit
den Wechslern und Maklern. Jener Wechselpreis oder Wechselcours wurde
lange Zeit von den Kaufleuten absichtlich schwankend erhalten. Daher befahl
das Rathscdict von 1625: am Anfange der Zahl- d. h. zweiten Meßwoche be¬
schwören die Makler vor dem Bürgermeister, wo die meisten Wechsel „hin und
wieder geschlossen". Danach versammeln sich die Kaufleute der verschiedenen
Orte und Nationen und machen mit den vornehmsten Mäklern „den Conto".
(Die leipziger Wechselordnung gestattete schon im 17. Jahrhundert übrigens
den Meßkaufleuten, von solchem Courszettel wieder abzugehn; in Frankfurt
trat dies erst später ein.) Den Wechselconto stellte man aber folgendermaßen
fest. Die vornehmsten dortigen Meßkaufleute versammeln sich in der zweiten
Woche und hören von den Mäklern Zahl und Höhe der Meßrückwechsel. Dann
vereinbaren sie deren „rechten Preis" und lassen ihn notiren. Die Makler
theilen diesen Conto den übrigen Meßkaufleuten, letztere wieder ihn den Korrespon¬
denten mit. Welchen Mittelpunkt des Geldhandels die frankfurter Messen bil¬
deten, geht vornehmlich noch daraus hervor, daß laut Beschluß des nürnberger
Reichstages von 1524 die Kosten des Reichskammcrgerichts in den zwei frank¬
furter Messen für Frankfurt, Augsburg, Nürnberg oder Eßlingen dirigirt wer¬
den sollten.
Die andere Seite des Gcldmeßvcrkehrs bildet das Geschäft der Umwechs-
lcr von Geldsorten. Dieses blühte, wie schon in einem früheren Aufsatze die¬
ser Zeitschrift über die Entstehung der deutschen Banken naher erörtert worden
ist, im Mittelalter besonders stark, weil die Zersplitterung des Münzprägeregals
unter die Masse geistlicher und weltlicher Herrschaften eine bedeutende Anzahl
von in Prägung, wirklichem und Gcltungswerthe höchst verschiedenen Mün-
zen auf die Märkte brachte, und weil der Neid der Prägeberechtigten und die
Finanznoth derselben in jährlicher Neuprägung und fast chronischer Verfehlens.
terung der Münzen sich Erleichterung suchte. Hierzu kommen die vielen cur-
sirenden Geldsorten des Auslandes. Da nun in jedem Orte nur das Geld
des dortigen Landes oder Ortes cursiren durfte, brauchte man Wechsler jeder¬
zeit, am meisten in de>, Messen. Das Umwechseln („Wesstl") war ein Hoheits¬
recht des Kaisers; er übertrug es vielfach auf die deutschen Machthaber. So
verlieh es 1364 Kaiser Ludwig dem frankfurter Rathe, und dieser behielt es
als Regal, während es an vielen andern Orten freigegeben wurde. Er übte
es durch einzelne selbständige Kaufleute (Wesseler), später, seit der großen
Wechselreform zu Frankfurt 1402 und 1403, auch im Verein mit den Ban¬
kiers aus, welchen er die Banken vermiethet hatte; und die Wechsler wogen
die fremden Münzen und sonstigen Werthstücke auf einer der drei Arten von
städtischen Wagen, der Gold-, oder Gulden- oder Silber- (Kleinodien)-Wage,
zahlten dagegen den Werth in frankfurter Münze und rechneten bestimmte Pro-
cente für ihre Mühwaltung und die Abgabe für die Stadtkasse davon ab
(Wiegegeld), welche allein sie für die Ausübung des städtischen Wessils zu ent¬
richten hatten. Natürlich war der Höhepunkt der Privat- und Stadteinnah¬
men aus dem Wessil die Zeit der Messen. 1402 bei Umgestaltung des Wech¬
sels und Etablirung der städtischen Bank betrieb der Rath das ganze Wechsel-
geschäft selbst mit seinen Dienern, hier flössen also alle Einnahmen daraus in
die Stadtkasse. 1403 gründete er alsdann vier Banken, über deren Natur
das Detail in dem oben genannten Aufsatze der Grenzboten zu finden ist.
Hier steigerte sich die Einnahme des Rathes und der Bankiers aus den Geld¬
geschäften, besonders in den Messen, bedeutend. Denn die Banken besorgten
nicht allein das Umwechseln der Münzen (Handwechsel), sondern bewirkten auch,
daß durch Meßanweisungen und Meßwechsel, dvmicilirt oder gezogen bei ihnen
und auf sie. Zahlungen von ihnen geleistet und empfangen wurden. Hierher
gehört, was oben von dem Geld- und Wechselverkehr auf der frankfurter Messe
gesagt ist. Endlich liehen die Bankiers und der Rath ihre eignen, auch private
und städtische Capitalien auf Zinsen gegen Pfänder aus, was sie als Wechsler
gegen das kanonische und weltliche Wuchervcrbot durften. — Aus alledem er¬
klärt sich, daß der Geldhandel der Messen für den frankfurter Rath das ein¬
träglichste der Meßgeschäfte war, ihm zunächst stellten sich die Einkünfte vom
Leinwandhandel, dann vom Unterkaufe von Pferden.
Viele Abgaben überhaupt mußten die Meßfremden zahlen, Land- und
Wasscrzölle, die Markt- (Handels-) Abgabe im Allgemeinen (genannt Merkitrccht,
d. h. Marktrecht), die Steuer von den Waaren und der Lagerung (Hausgeld),
die der Käufer auch entrichtet, die Abgabe vom Laden (Standgeld), vom Wiegen
der Waaren und den Unterlauf. Von den Meßzöllen waren etliche Städte
oder Fürsten befreit durch geschenkte oder erkaufte Privilegien, Kaiser Karl der
Vierte z. B> kaufte seinen vier begünstigten Städten Prag, Kollen, Breslau
und Sulzbach 1358 die Befreiung vom frankfurter Brückenzoll für 300 Gulden,
dafür mußte Frankfurt aber noch jährlich 10 Pfund Rente an die Stadtschult-
hcißen zahlen. Statt der festen Kaufsumme mußten viele Befreite Waaren
u. a. an bestimmte Personen in Frankfurt für die fernere Dauer ihres Vor¬
rechts geben; so das Kloster Arnsburg dem Stadtschultheißen ein Paar Stiefel
und Käse, später noch Tuch und Handschuhe, jedem Schöffen Käse; ein anderes
Kloster Hafermehl und Kuchen, oder bestimmte Wecke (Backwerk), Wein, Brödchen.
Bei dem Pfeiffergericht, das in jeder Herbstmesse tagte, gaben für ihre Zoll¬
freiheit dem Schultheißen: Werms einen aus Holz geschnitzten weißen Becher
mit 1 Pfund Pfeffer, 1 Paar weiße Handschuhe darauf, auf diesen 1 Rädcr-
Albus, 1 weißes Stäbchen und 1 Biberhut, statt dessen später 1 Goldgulden;
Bamberg und Nürnberg fast dasselbe, alle in feierlichem Auszüge. — Geschenke
andrer Natur erhielten aus der Stadtkasse wie zu Neujahr so auch in den
Messen die Rechenmeister im Rathe, d. b. die Finanzabtheilung mit ihren Schrei¬
bern und Pedellen in der Höhe von etwa 4'/s Gulden.
Die Sorge des Rathes für Ruhe und Sicherheit in der Stadt mußte sich
selbstverständlich in der Messe bedeutend steigern. Zunächst waren die unge-
pflasterten Straßen, auf denen vor jedem Hause der Unrath lag. der in der
Messe von den Hausbesitzern nicht entfernt zu werden brauchte, für den Ver¬
kehr frei zu halten. Daher die städtischen Ausgaben, um — wie es unverblümt
heißt — „in der messe den Dreg uzzufuren". oder für „Stroh in den Dreg
in der messe". Vor der Messe ernannte der Rath die Beamten für die Auf¬
sicht und Einsammlung der Gefälle in derselben. Auf Maß und Gewicht
mußte besonders geachtet werden, die Normalelle hing an der Hauptkirche, eigne
Beamte aichten die Maße und Gewichte. — Diebe. Räuber strömten mit den
Fremden herzu, die Landstraßen waren ja ohne Aufsicht, und für Geld gaben
auch ihnen Ritter das Geleit; ja die Ritter brachen wohl selbst während der
Messe zum Raube in die Stadt, und diese mußte den Gästen ihre Unsicherheit
verantworten. Daher standen viele Wächter Tags und Nachts auf der Stadt¬
mauer, am Mainufer, an den Schlägen, welche vor der Stadt die Landstraßen
sperrten. Bei größerer Gefahr öffnete man diese Schläge auch am Tage nur
gegen Legitimation. Schützen und städtische Söldner wachten an den Thoren
und umzogen die Stadt. Mitunter war eine specielle Schaar während der ganzen
Meßzeit zum augenblicklichen Kampfe gerüstet. Schon seit 1403 sperrte man
durch Ketten an den Brückenbogen den Main ab, besondere Kähne wachten dabei.
Für Bürger und Meßfremde waren während der Mcßzeit eine Reihe der
städtischen Ordnungsvorschriften aufgehoben. Bis 1668 gestattete man auch
Sonntags Kaufleuten und Handwerkern ihren Betrieb. Die Weinglocke zwang
dann nicht, wie außer der Meßzeit, Winters um 8 Uhr, Sommers um 9 Uhr,
das Trinken in den Wirthshäusern zu beschließen, sondern gab die Nacht den
Zechern frei. Jeder in der Stadt dürfte dann Schwerter und Messer von be¬
liebiger Form und Länge tragen, während sonst das am Römer vorgezeichnete
Maß nicht überschritten werden sollte. Die Kirche gestattete denen in der
Stadt während der Messen auch an Fasttagen Fleisch und andere verbotene
Speisen, und selbst, wo Gebannte zur Messe kamen, erlaubte sie Meßopfer und
Kirchengesänge. Auch die Wirkungen der Reichsacht hob Karl der Vierte für
die Meßzeit und acht Tage vorher und nachher innerhalb der frankfurter Bann¬
meile auf. Ja 1435 schreibt der Rath an einen mit dem Kaiser im Kriege
liegenden Fürsten, seine Unterthanen sollten mit Zustimmung des Reiches wäh¬
rend der Messe in Frankfurt vollen Schutz an Person und Waaren genießen.
Nun die Meßvergnügungen. Die Meßmusiker bezahlte die Stadt hoch,
dafür wurden musikalische Wettkämpfe vorgeführt. Neben ihnen zogen die
Dichter umher, einen Herold an der Spitze, von einer Trinkstube zur andern,
um ihren Wettgesang ertönen zu lassen. Hier hielt auch die Fechtergenossen¬
schaft der Marxbrüder ihre Schule und ertheilte die Würde eines Meisters des
langen Schwerts. Eine Spielbank auf dem Heißenstein in der Stadt lockte
1379—1432 die Meßbesuchcr an. Außer ihr gehörte zu den Meßbelustigungen
ein Spiel, das Drcnzelbrctt, schwarz und weiß, ähnlich unserm Damenbrett,
welches so in Schwung kam. daß es 1385—1394 für jede Messe SO Gulden
Miethe eintrug. — Die Messen lehren, daß auch die Freudenmädchen nicht ein
Erzeugniß der vorgeschrittenen Cultur und selbst im kirchlichstrengen Mittelalter
anerkannt sind. Das frankfurter städtische Rechenbuch führt 1354 und 1361
Ausgaben auf für das Besichtigen unreiner Frauen durch den Stadtarzt. Auf
die Syphilis kann sich dies nicht beziehen, weil erst 1496 diese entsetzliche
Krankheit nach Frankfurt vordrang. Wir besitzen ferner eine Verordnung des
dortigen Rathes aus dem 14. Jahrhundert über die frankfurter Frauenhäuser
und gemeinen Dirnen. Solcher Frauenhäuser standen damals in der Stadt
drei, nahe an derselben Stelle der Stadt gelegen; andere Freudenmädchen hatten
bleibende Wohnsitze in andern Stadttheilen. Zu ihnen strömten schon im 14.
Jahrhundert für die Meßzeit viele Dirnen von auswärts. Diese wohnten in
bestimmten Weinhäusern oder in Privathäusern, zahlten dem städtischen Stöcker,
dem Beaufsichtiger aller dieser Frauen, eine mit ihm vereinbarte Summe und
sicherten so ihren Gewerbebetrieb. Ihre Zahl war gewiß bedeutend; denn schon
zu dem frankfurter Reichstage 1394 fanden sich 800 von ihnen ein, und die»
Messe bot ihnen günstigere Erwerbsgelegenheit. Daher wünscht auch am An-
fange des 16. Jahrhunderts jemand seinem Freunde in den exiswla-e odscu-
rorum virorum mehr Glück, als öffentliche Dirnen in Frankfurt seien (selbst¬
verständlich zur Meßzcit). Außer der Messe wohnten 1479 in der Stadt 39.
Seit 1545 untersagte man den fremden Frauenzimmern dieses Gewerbes den
Meßbesuch, 1660 hob man alle Frauenhäuser der Stadt auf. Das wirkte
unter anderm die Reformation.
Sehenswürdigkeiten der Messe tauchen erst im Is. Jahrhundert aus. Zuerst
kamen ein Strauß und ein Elephant (1450. 1480). Wer den Strauß sehen
wollte, zahlte 1 Albus. Der Elephant begeisterte die Gemüther seiner Zeit¬
genossen so, daß man ihn an der Wand des Hauses, in dessen Garten er sich
sehen ließ, in Lebensgröße abconterfeite und das Haus nach ihm sogleich den
Ehrentitel „Zum Elephanten" erhielt. 1532 sah man dann einen Pelikan,
1545 und 1588 producirten sich Seiltänzer, 1556 bewunderte und bemitleidete
man eine händelose Frau in ihrer trotzdem erlangten Kunstfertigkeit. Ein Seil¬
tänzer ging in beiden genannten Jahren auf einem Seile vom Nicolaithurm
herab, das letzte Mal schoß er einen Pfeil hernieder, brannte ein Feuerwerk
auf dem Seile ab und fuhr einen Knaben in einem Schiebkarren vor sich her.
Der Rath fertigte ihm hierüber eine Urkunde aus und zahlte ihm 12 Reichs-
thaler. Zu Ende des 16. Jahrhunderts begann dann die Spielbank vom Heißen¬
stein wieder in anderer Form zu locken. Die Deutschherren (Geistliche) suchten
nämlich 1694 im deutschen Hause durch Aufstellung eines „Glückshafens", d. h.
eines Lotteriespiels, ihre Einnahmen zu bessern. Der Rath verbot den Me߬
besuchern das Spiel und verhaftete den von den Deutschherren angenommenen
Spielhaller, doch nicht aus sittlichen Gründen, sondern aus polizeilichen, da
die Deutschherren ihm nicht zuvor Anzeige von ihrem Plane gemacht hatten.
Die Deutschherren wiederholten die Sache noch oft, da sie in ihrem Territorium,
d. h. im Deutschen Hause, Souveränetät beanspruchten, z. B. 1756. Damals drohte
ihnen der Rath mit Verlust des Bürgerrechts. Später, 1799, vermietheten die
Deutschherren ihren Sandhof, und als der Rath hier hindernd eingriff, ein ihnen
gehöriges Haus in Niederrad zur Waarenlotterie. Hier kam sie denn auch zu
Stande. Endlich 1802 gaben sie ihren großen Saal im Sandhose zu Etabli-
rung des Hazardspieles Rouge se Mir und Liribi. Durch schnelles Einschreiten
des Rathes und Verhaftungen wurde die Ausführung der Sache verhindert.
Uebrigens verloren die frankfurter Messen bereits am Ende des Mittel¬
alters wesentlich an Bedeutung, als die Messen zu Leipzig. Braunschweig und
Frankfurt a. O. gegründet wurden. Denn die Polen, Böhmen und Preußen
sandten nun nicht mehr ihre zahlreichen Meßgäste, wie der frankfurter Rath
selbst 1577 an das Reich schreibt, bis Westdeutschland, sondern trafen sich aus
jenen nähergelegenen Meßorten.
Unter dreiviertel Millionen von Blättern (so viel ungefähr besitzt dieses
Cabinet) von denen ein so großer Theil das Schönste und Beste darstellt, was
Handzeichnung, Kupferstich und Holzschnitt überhaupt je und irgendwo leisteten,
fällt es schwer, Einzelnes zur Betrachtung herauszuwählen. Es geht mir
dabei ähnlich, wie denjenigen Besuchern dieser Säle, die kein bestimmter
Zweck, ein specielles Werk zu suchen, sondern nur der allgemeine Wunsch, Er¬
freuliches zu sehen, herführt: die Fülle des Vorhandnen macht die Entscheidung
über das zu Wählende schwierig. Am besten ist es, in solchem Fall etwas
dieser Sammlung allein Eignes, besonders Charakteristisches zu verlangen. Auch
die seltensten und vollkommensten Kupferdrucke sind doch mehr oder weniger
Gemeingut verschiedener Cabinete. Wirkliche Unica dieses Genres existiren
wohl nur wenige. Das Eigenste eines jeden Cabinets ist daher nur unter
den Handzeichnungen zu suchen. Freilich bleibt auch von diesen Zahl und Art
zu groß und verschieden, als daß die engere Wahl unter ihnen nicht auch wie¬
der ähnliche Schwierigkeiten mit sich brächte, wie die weitere unter dem gan¬
zen Bestände der Sammlung. Ohne langes Besinnen aber fordere ich das mir
unter allem, was diese Schränke enthalten, fast am meisten Liebe und Theuere,
die Handzeichnungen von Hans Holbein. Und zwar jene drei Bände mit den
70 Porträts aus einem Studienbuch von ihm. Es sind Köpfe von Geistlichen
aus dem Kloster Sanct Ulrich zu Augsburg und von einer Menge vornehmer
Patricier und Beamten derselben Reichsstadt, während seines dortigen Aufent¬
halts in den ersten Jahren des sechszehnten Jahrhunderts gezeichnet. Die
Blätter sind fast sämmtlich Pergament, das Zeichenmaterial Silberstift, hier und
da mit einem leisen Tuschton, auch wohl mit zarter Andeutung localer Farben
einzelner Gesichtstheile, mit weiß aufgesetzten höchsten Lichtern nachgeholfen, bei
einigen einzelne Contouren noch mit der Feder nachgezogen, wobei es indeß
zuweilen zweifelhaft bleibt, ob es nicht von der Hand eines Späteren nachträg¬
lich geschah. Die Namen der Gezeichneten sind von Holbeins eigner Hand auf
jedem Blatt neben oder über jedes Bildniß geschrieben; die Rückseiten der
Blätter hier und da noch mit „Einfällen", Arabesken oder Gestalten voll ge¬
zeichnet; alles zeigt, daß es die Seiten eines künstlerischen Notiz- und Skizzcn-
buchs waren, und Holbein diese Köpfe zur Erinnerung, zum Gebrauch für sich
hineinschrieb, während er in gutem Gespräch mit den Originalen beisammen¬
saß. Aber in dieser größten Unbefangenheit und Bescheidenheit — welche
höchsten Kunstwerke der Bildnißzeichnung. der Menschendarstellung haben wir in
ihnen vor uns! Kein noch so vollendetes Bild, selbst die dresdner Madonna
nicht, hat mir je so die volle Empfindung der Meistergröße Holbeins gegeben,
wie diese schlichten Köpfchen. Jeder giebt eine ganze Geschichte, ein Schicksal
und legt dessen innersten Keim und Urquell, den tiefsten Charakter des Dar¬
gestellten klar und bloß. Dabei erscheinen sie durchweg so, als wüßten sie kei¬
nen Augenblick, daß sie dem Maler sitzen, unverhohlen spricht ihre eigenste Natur
uns an. Nie ist einem Kops das sogenannte rechte Licht und die „geschmack¬
volle" oder bedeutende Stellung gegeben; alles ist immer nur wie zufällig er¬
griffen; aber dann nicht etwa mit der geistreichen Flüchtigkeit des Skizzisten
hingeworfen, der mit dem scharfen Treffen der prononcirtern Züge den Effect
der Aehnlichkeit und Lebendigkeit erzeugend, das Auge über die leichtfertige
Behandlung der feinern Formation, der intimeren Züge täuscht, sondern mit
der gründlichen Ehrlichkeit, die dieser große Realist so wenig im ausgesührtesten
Bilde wie in der simpelsten Contourskizze, so wenig in der Malerei der klein¬
sten Perle des Schmucks seiner Baseler Bürgermeisterstochter, wie in der deS
wunderbaren Jungfrauenantlitzes seiner „Mutter Maria" verläugnet. Solche
Ehrlichkeit ist nun wohl das Erbe der alten deutschen Schule überhaupt, wie
es das der altflandrischen war. Was aber Holbein so hoch über seine künst¬
lerischen Landesgenvssen erhebt, ist die herrliche geistvolle Freiheit, welche sich in
ihm mit dieser Grundeigenschaft verbindet, während letztere selbst bei so viel
Meisterschöpfungen Dürers in ihrer rührenden, ernsten Treue einzig und allein
für die kleinbürgerliche Beengtheit entschädigen muß, von welcher sie da un¬
trennbar erscheint. Bei diesen holbeinschen Köpfen ist alles da. Prüfen wir
den Zug jeder eine Form umschreibenden Linie, jede leise Tönung, welche jene
zu modelliren hingesetzt ist, so bestehen sie durchaus, es ist nie und nirgends
künstlerischer Schwindel, es ist überall, wie man wohl sagt, das Mark in den
Knochen gezeichnet. Aber wie fein untergeordnet ist das, in wie leichtem Fluß
auf dem Pergament entstanden, ohne jedes Betonen des eignen Wissens und
Könnens, eben ganz bescheiden und ohne Kraftaufwand hingespielt. Wie so ein
Auge in seiner Höhle sitzt, so ein Paar fein gekniffene oder vollschwellende oder
schlaff hängende Lippen gezogen sind; wie jenes blickt, wie diese zucken, lächeln,
reden; wie diese Stirn-, Wangen- und Nasenbeine, diese weichen vollen Backen
sich körperlich modelliren und zwar meist im vollen Licht durch ein anscheinendes
Nichts von Ton, einen kaum merklichen ganz leisen Hauch von Färbung, das
will eben gesehen sein. Das culturhistorische Interesse, das diese Bildnisse ge¬
währen, ist nicht geringer als das künstlerische. Es ist eine höchst eigenartige,
in sich abgeschlossene Menschenwelt, welche aus diesen Blättern wieder in vollem
Leben aus ihrer mehr als dreihundertjährigen Vergangenheit ans Licht steigt.
Den zahlreichen Mönchsköpfen meint man es anzusehen, daß die um jene Zeit
eben erwachenden Stürme und Kämpfe der Reformation noch kaum die Welt
zu durchtosen, die Geister durcheinander zu schütteln und sie selbst zu berühren
begonnen haben. Man vermißt in allen gänzlich den Ausdruck und das Gepräge
des Fanatismus, welches den Geistlichen-Physiognomien der zweiten Hälfte
desselben Jahrhunderts durchweg eigen ist. Die hagern, fleischlosen Gesichter
einiger sehen so mehr treuherzig als ascetisch aus, und die in der Mehrzahl
befindlichen vollen oder fetten und aufgeschwemmten, mit Doppelkinn und
Hängebacken vereinen mit der natürlichen Behaglichkeit des Temperaments meist
den Ausdruck des tiefen innern Friedens gläubiger Seelen oder einer heitern
und ruhigen Klugheit. Ebenso interessant ist es, die Physiognomien der Augs-
burger Patricier, die Fugger an der Spitze, zu prüfen. So viel Feinheit, über¬
legne kühle Ruhe und berechnender Verstand spricht uns aus dem Antlitz aller
Hauptträger dieses berühmten Bankiergeschlechts entgegen, daß die Erwerbung
und stete Vermehrung ihrer ungeheuern Reichthümer sehr erklärlich und verständ¬
lich aus diesen Gesichtern wird. An jugendlicher und besonders weiblicher
Schönheit nach unsern heutigen Begriffen fehlt es sehr auffallend. Hier und
da wohl ein langhaariger junger Patriciersohn mit einem Anfluge von der
ritterlichen oder der naiven Anmuth heiliger Jünglinge in altdeutschen Gemälden;
aber kaum eine einzige deutsche Frau oder Jungfrau, welche auch nur entfernt den
Phantasien der nationalen Romantiker entspräche. Stehen doch auch Holbeins
Madonnenkopf und Gestalt, und außer ihr einzelne dürersche Marien als
wirklich holde und reizvolle Frauen- und Mädchenbilder fast allein unter allen
weiblichen Erscheinungen, von denen uns die Kunst unsres Vaterlandes aus
jenem Jahrhundert Kunde giebt. Im Durchschnitt ist es ein Geschlecht mit breiten,
starken Backenknochen, gedrückten Augen, harten Kiefern, hölzernen Lippen, engen
und befangnen Ausdrucks und kümmerlicher Gestalt, was nicht ausschließt, daß
das reifere Alter, die Mutter- und Hausfrauenschaft doch noch das erfreuliche
Gepräge charaktervoller Tüchtigkeit, häuslicher Bravheit, Umsicht und Güte in
ihnen entwickelt, wie es in diesen holbeinschen Porträts der „frommen Haus¬
frau" manches Patriciers oft so liebenswürdig zur Erscheinung kommt. Jeden¬
falls aber waren in „teutschen Landen" im sechszehnten Jahrhundert die Män¬
ner der schönere Theil und mit gutem Grunde.
Diese kostbare Sammlung findet eine kaum minder kostbare Ergänzung
an einer ähnlich umfangreichen von Porträtzeichnungen von Albrecht Dürers
Hand. Sie sind durchweg größer als die holbeinschen, sämmtlich mit der
einfachen Kohle auf geleimtes Papier gezeichnet, und dann durch Erhitzung
desselben mit Dämpfen fixirt. Außer ihrer künstlerischen Bedeutung werden sie
dadurch noch wichtig, daß sie die treuesten Bildnisse aller aus einem Reichstag
zu Augsburg versammelt gewesenen deutschen Fürsten sind, vom Kaiser Maxi¬
milian dem Ersten beginnend. In solchen Arbeiten unmittelbar vor einer so
vielfach imponirenden Natur hat der Meister willig jene „Beengtheit" verloren,
von der ich oben sprach. Diese Köpfe zeigen bei aller schlichten Treue und
Naivetät doch durchweg eine wahrhaft großartige Auffassung der Persönlichkeit
und eine mächtige Behandlung jenes allereinfachsten ursprünglichsten Materials,
der Kohle, welcher nur die des auf Holz zeichnenden Stifts und keineswegs die
des Pinsels bei Dürer gleichkommt: breit, voll, scharf bestimmt, mit unfehl¬
barer Sicherheit umrissen, und zugleich mit dem geringsten Aufwand von
schlichtesten Tonlagen durchaus fleischig, rund modellirt. Die vollendete sou¬
veräne Meisterschaft des größten Künstlers, wie dort bei Holbein mit der ehr¬
lichsten Hingebung an die Sache und dem stillen tiefen Hineinversenken von
Seele und Auge in die Natur vor ihm gepaart. Auch darin gleichen diese
Blätter denen Holbeins, daß sie ganz den Eindruck des unmittelbar und wie
zufällig Aufgefaßten machen. Kein Stellen, kein Arrangiren zum Zweck des
Porträts; das Licht ist genommen, wie es gerade in das Zimmer einfiel, und
die stattlichen Herren sind gezeichnet, Wohl wie sie eben für sich am bequemsten
dasaßen. Um so echter, wahrer, überzeugender die Wirkung. Die Mehrzahl
ist im Profil genommen und im vollen Licht, und dann bedarf es für den
Meister doch keiner Schattenflächen und Massen; nur weniger leicht verwischter
oder gekreuzter Kohlenstriche an Schläfen, Wangenheim, Kiefern und Nase, um
das Bild in kraftvollem Relief, in runder Körperlichkeit aus der Fläche des
Papiers herauszuheben. Herrn Ulrich von Hütten finden wir auch unter diesen
Köpfen (diese Zeichnung ist unter Glas in die betreffende äußere Schrankthür
eingelassen): ein seines, geistiges Gesicht, das wenig gemein hat mit der derben,
fleischigen Sinnlichkeit so vieler andern der Standesgenossen und Fürsten seiner
Zeit, eine gestreckte, wenig und leise eingebogene Nase, um Wange, Kinn und
Lippen kurzer, nicht zu starker Vollbart, ein zugleich feurig und sinnend auf¬
blickendes Auge, über der Haube, welche das Haar umschließt, das breiträndnge
ausgezackte Baret der Landsknechte der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts tief
in die Stirn und schräg auf die rechte Seite gedrückt, so daß die Unteransicht
seines Randes den dunkleren Hintergrund fit das scharf absetzende lichte Profil
bildet. Besonders merkwürdig, ja wunderbar anziehend ist mir unter diesen
dürerschen Köpfen immer ein lebensgroßer weiblicher erschienen, der prachtvoll
eingerahmt an einer Wand des (geschilderten) grünen Saales hängt, wohin
ich den Leser noch besonders zu führen gedenke. Ebenfalls einfache Kohlen-
zeichnung, giebt er das Bild einer etwas vollen Frau von 35—40 Jahren in
der Dreiviertels-Ansicht. Als Kopfputz trägt sie die bekannte, das Gesicht eng
umschließende, das Haar völlig bergende, darüber ziemlich hoch ansteigende
Frauenhände jener Zeit. Ist sie blind auf dem einen Auge gewesen, oder ist
es nur eine Schwäche des Lides darüber? Genug, das Auge der rechten Seite,
der beschatteten, von welcher sie uns doppelt mehr als von der linken lichteren
zeigt, ist mehr als halb geschlossen, während das andere mit dem Ausdruck
einer innern Fröhlichkeit geradeaus blickt. Von dieser herzigen, guten, glück¬
lichen Gemüthsstimmung umspielt der gleiche Ausdruck nicht minder das ge¬
schlossene; aber das breite Lid legt sich darüber wie eine zart verschleiernde
Wolke über die heitere lachende Sommersonne, und nur unter seinem schattigen
Rande zuckt mit milderem Glanz die schöne Fröhlichkeit des Herzens hervor,
die so voll und erquicklich aus dem weitoffenen linken Auge strahlt.
Die neueste Zeit hat mit einer der jüngsten Erwerbungen des Cabinets
diesem einen würdigen Wettstreiter um die höchsten Ziele der Bildnißzeichnung
mit jenen beiden größten Heroen derselben, Holbein und Dürer, aus einem
Theile der Welt zugeführt, wo wir, ehe uns letzterer erschlossen wurde, unter
allen Landen wohl am wenigsten etwas dem Aehnliches vermuthet und ge¬
sucht haben würden: aus Japan. Die preußische Expedition nach Ostasien
brachte mit jeder Art von Proben japanesischen Kunstfleißes und damit eben-
sovielen Beweisen seiner glänzenden Entwicklung eine Menge von Bildern
und Holzschnittwerken dortiger Künstler mit herüber, welche uns nöthigten,
endlich den Vorurtheilen und der geringen Meinung gründlich zu entsagen, die,
von der Anschauung der kindischen Kunst der Chinesen abstrahirt, einen richtigen
Begriff von der jenes grundverschiedenen Volkes bisher bei uns nicht hatten
aufkommen lassen. Aber in noch höherem Grade als diese Arbeiten meist ge¬
wöhnlichster, populärster Bestimmung. Bilderbücher und Bilderbogen natur¬
geschichtlicher und menschlicher Gegenstände und Scenen, welche eine seltene
Fertigkeit in der Darstellung des Charakteristischen der natürlichen Erscheinungen
als ein allverbreitetes Gemeingut der japanesischen Zeichner bekundeten, in noch
höherem Grade wird unsre Anschauung von dem, was diese leisten können und
leisten, rectificirt durch jenes Skizzenbuch eines ihrer berühmtesten Maler, des
Towleskey, welches von der Expedition für unser Kupferstichcabinet mitgebracht
wurde. Auffällig und überraschend sind darin zunächst die mannigfachen Be¬
rührungspunkte und Aehnlichkeiten mit jener Sammlung der holbeinschen Porträt¬
köpfe. Die Zeichnungen des japanesischen Meisters sind von derselben Größe,
stellen Gesichter jedes Alters und Geschlechts dar und — es ist keine Uebertreibung
— zeigen oft genug keine geringere Höhe der Meisterschaft. Die abscheuliche
Uniformität der Haartracht und die andere, welche für ein an europäische
Mannigfaltigkeit der Gesichtsbildungen gewöhntes Auge der allgemeine nationale
Typus des Schädelknochenbaues bei den Japanesen hervorbringt, diese Unifor¬
mität, aus welcher sich das Persönlich-Individuelle des Gesichtscharakters und
Ausdrucks so viel schwieriger hindurchzuringen vermag, nöthigt uns, die Kunst
des Malers nur um so mehr zu bewundern, der es so wie dieser versteht, inner¬
halb solches Gesammttypus die besondre menschliche Persönlichkeit in solcher
Feinheit und Bestimmtheit in seinen Bildnissen zur Geltung und zur Anschauung
zu bringen. Die Art der Zeichnung ist merkwürdig genug. Mit der für uns
kaum begreiflichen Sicherheit der Hand, welche nur bei einem Volk möglich ist,
das mit dem Pinsel schreiben lernt, zieht er, ebenfalls mit diesem Griffel die
Contouren jedes Kopfes und seiner innern Theile in nie unterbrochenem freiem
Fluß der Linie auf sein Reispapier hin, ohne Absetzen, ohne Ausweichungen,
in der Gleichmäßigkeit einer mit Zirkel und Reisfeder geschlagenen Kreislinie
oder des Contours altgriechischer Vasenbilder, und doch dabei gleichzeitig mit
einer verständnißvollen Markirung auch der leisesten Schwingung der Formen,
welche er umschreibt, indem es das tiefste künstlerische Eindringen in das Wesen
derselben, in die innerste Construction der natürlichen Erscheinung bekundet,
auch jeden Gedanken des mechanischen und äußerlichen Mächens ausschließt, zu
welchem sonst der Anblick solches völlig geläufigen Hinschreibens der Contouren
nicht mit Unrecht veranlaßt. Dieser Umriß ist dann ganz leicht colorire, schein¬
bar mit einem einzigen Farbenton ausgefüllt, und doch ist jeder dieser ganz von
vorn beleuchteten schattenlosen Köpfe völlig körperlich und rund, dank einem
Reichthum der subtilsten unmerklich leisen Variationen und Uebergänge vom
höchsten Glanzlicht bis zum tieferen Mittclton innerhalb jener einheit¬
lichen Gesammtfarbe, die wieder ihrerseits — die wahre Kunst des echten
Coloristen — für jeden dieser mehr als hundert Köpfe eine andere und
individuelle ist. Aber bei aller Bewunderung des Künstlers ergreift uns
doch bald eine gewisse Beängstigung bei der Betrachtung dieser langen
Reihe seiner trefflichen Arbeiten. Die fürchterliche Häßlichkeit der dargestellten
Race, all diese lebendig-todten Alteweibergeflchter mit ihren eng geschlitzten
Augen, ihren wie zum Pfeifen zusammcngekrampften Lippen, ihren Runzeln
und kahlen Schädeln, erträgt unser Empfinden nicht lange, und mit welchem
Gesicht uns auch Gott gestraft oder gesegnet haben möge — mit einem innigen
Dankstoßgebet: „Herr, ich danke Dir, ,daß ich zur kaukasischen Race gehöre",
mag auch der Häßlichste unter uns diese Bände schließen. Es giebt hier noch
genug, um reineren unbedingterer Genuß zu gewähren. Ersuchen wir z. B.
lieber einen der gerade anwesenden Herren Directoren Prof. Weiß oder Hotho
uns aus ihrem Allerheiligsten jenes große kastenartige dunkelbraun-violette Le¬
deretui herauszureichen, über welches sie sich mit Recht die speciellste Wacht
Vorbehalten haben. In seinem sammetgefütterten Innern stecken vier längliche
schmale Bücher, wie Contobücher, in altes gelbes Schweinsleder gebunden. Es
mag uns ein Gefühl der Weihe überkommen, wenn wir sie anfassen, und es
ist, als hörten wir die Mahnung: „zeuch Deine Schuhe aus, denn hier ist
heiliges Land!" Diese Büchelchen steckten nacheinander in den tiefen Wamms¬
und Hosentaschen Paul Potters, wenn er hinausging auf seine niederländischen
Weiden und Tristen, aufs Dorf und in die Ställe; aus diesen Blättern
Von der Hand des größten Genies und des emsigsten treusten Arbeiters fixirt,
brachte er dann das Bild aller Dinge, die er draußen in freier Welt gesehn
und gefunden, heim zu seiner Werkstatt, das Material jener unschätzbaren Wun-
verwerte der Malerei, die sein kurzes neunundzwanzigjährigcs Leben mit dem
Glanz der Unsterblichkeit schmücken. Die Skizzenbücher Potters, vor etwa zehn
Jahren einem Stuttgarter Kunsthändler für das berliner Museum abgekauft,
sind nicht blos durch die wundervolle Schönheit ihres Inhalts, den unerschöpf¬
lichen Reichthum und die Mannigfaltigkeit ihrer Zeichnungen so köstlich, son¬
dern auch dadurch so mächtig und interessant, daß sie uns zeigen, wie ein
Meister dieses Schlages gearbeitet hat, nicht mehr, um es zu werden; denn
jeder Strich in diesen zahllosen Studien zeigt von einer künstlerischen absoluten
„Machtfülle", welche in allen Zeiten nur wenige der Auserwählten erreichten
— sondern aus bloßem inneren Bedürfniß, sich jede Naturform zu eigen zu
machen, um einer jeden durchaus Herr zu sein, wo es der künstlerische Zweck
erfordert, und daneben aus der uneigennützigen Freude und Lust an den tau¬
sendfachen Reizen der schönen Schöpfung, der offenbarsten, wie der verborgen¬
sten, bescheidensten, die sich der Beachtung und Schätzung des profanen Sinns
gänzlich entziehn. Zeichnungen, diesem letztern Motiv entsprungen, füllen mehr
als die ganze eine Hälfte des größten und stärksten dieser Bücher. Es sind
Blumen, Gräser und einzelne Zweige, Blüthen und fruchttragende Büsche,
Kinder sorgsam und künstlich gepflegter Gärten wie des Feldes, des Ackers
und der Wiese, an denen Tausende ihr Leben lang achtlos vorübergehn. Wer
die Fülle zarter Schönheit und Lieblichkeit nicht kennt, womit gerade diese an¬
spruchlosesten Gebilde der freigebig spendenden Erde geschmückt sind, der müßte
es vor diesen ihren Abbildern bewundernd inne werden. Von der prachtvoll¬
sten Rose, Hyacinthe, Tulpe und fremdländischen Zierpflanze bis zur Haferähre,
zum simpeln Grashalm hat der Meister jeder Form die gleiche Hingebung
und Liebe zugewandt, sie mit gleich treuem Fleiß, der jede kleinste Besonder¬
heit aufmerkend beobachtet, und mit einem unbewußten Schönheitsgefühl
nachgebildet, welches unter seinen Händen jede dieser Studien wie eine in
sich geschlossene Kunstschöpfung erscheinen läßt. Fast alle sind aus derbes
geripptes Papier mit der Feder, mit einer unerhörten Sicherheit umrissen, hin¬
gezeichnet, welche sich nur dem contourenden Pinselzüge jenes Japanesen ver¬
gleichen läßt, Blüthen, Knospen, Dolden, Aehren und jedes Blattwerk in jeder
Verkürzung und all den tausend immer andern neuen und reizvollen Ueber-
schneidlungen und Verschiebungen, welche die Erscheinungen der gleichen Pflan¬
zengebilde so unerschöpflich an Mannigfaltigkeit des Reizes machen. Die so
meist in natürlicher Größe Gezeichneten sind dann mit ein paar ganz leichten
Localtönen colorire, diese aber mit so feinem Sinn aufgefaßt, so richtig in der
Karbe, so sehr an der rechten Stelle angebracht, daß sie den vollen Eindruck
natürlicher Wahrheit und einer viel weitern malerischen Durchführung hervor-
rufen, als sie wirklich vom Meister erhalten haben. Wie die Blüthen und
Gräser, so studirt er die Stämme und Aeste jeder heimischen Baumart, die
Details ihrer narbigen und bemoosten Rinde, mit der Zeichenfeder und zwei
bis drei Farbentönen das schärfste Bild davon in der Totalwirkung wie in
allen charakteristischen Einzelheiten und scheinbaren Zufälligkeiten auf grau¬
getöntes Papier bringend. Dann folgen wieder Hunderte von Bauernhäusern
nach der Natur und zusammengesetztere malerische Motive von Dorfstraßen,
ländlichen Wegen u. f. w. Interessantere Nester boten sich seinem Auge frei¬
lich als dem heutigen Maler! Welche Giebel, welche Thüren und Fenster,
welche offenbare Verhöhnung der Vertikallinie, welche unmögliche und malerisch
nur um so prächtigere ländliche Architektur! Mit diesen Studien untermischt
die allergenausten Zeichnungen jeder Art des ländlichen Geräths, der Acker¬
werkzeuge, Gefährte, Eimer, Brunnen, und jedes dieser Dinge in allen denk¬
baren Verkürzungen, Ansichten, Stellungen, eine Art des Studirens, wie ich eS
nur noch bei Adolf Menzel, dem heutigen großen Fortsetzn der alten Realisten,
kenne. All diese Zeichnungen betonen immer die Lichtmassen mit ausgesetzten
Weiß und fassen höchst effectvoll und anschaulich machend die Schattenpartien
in einen darüber gelegten gemeinsamen Tuschton zusammen. Den Hauptschatz
aber von allen Büchern enthält das vierte: die Studien nach Schafen und
Rindern, also von seinem vorzugsweise eigensten künstlerischen Gebiet. Das
Princip des Arbeitens ist dasselbe, wie den Pflanzen und den Geräthen gegen¬
über: was die Natur seinem Auge bietet, will er ganz und aus dem Grunde
sich zu eigen machen; so findet er kein Ende, die Ansichten der Objecte zu va-
riiren, abgeschnittene Kalbsfüße direct auf die Sohlen ihrer gespaltnen Hufe
angesehn, Hammel- und Ochsenköpfe ganz von unten und dergl. mehr. Diese
aber meist in der weitestgehenden Ausführung in Aquarell- und Deckfarben, er¬
staunlich in ihrer miniaturartigen Detailvollendung und nicht minder in der
leuchtenden Energie ihrer Farbe. Und wie das Todte, so das Leben, wie die
Ruhe, so die Bewegung, die weidenden Kühe und Schafe, die Scenen der
Wäsche und Schur — wir fänden kein Ziel des Schilderns und Berichtens;
denn eines solchen Künstlers Schaffen ist reich wie die große Natur; aber wir
fürchten, die ermüdete Geduld unserer Leser hat es uns längst schon gesagt.
Vielleicht muß man selbst Maler oder Zeichner sein, um sich von der Betrach¬
tung gemalter Kalbsfußstudien so hinreißen zu lassen, wie es uns passirte.
Sicherer dürften wir schon auf die Sympathie auch der Nichtkünstler rechnen,
wenn wir sie in den grünen Saal führten und sie auf den Bilderschmuck sei¬
ner Wände hinwiesen. Aber auch hier heißt es erst recht: wo anfangen, oder
schwieriger noch, wo enden? Also vorüber an all diesen Herrlichkeiten, in
deren Anblick und Studium uns keine Zeit zu lang werden würde, an dieser
lebensgroßen Untermalung von Graffs Selbstporträt, diesen Kopf-, Figuren-,
Thierstudien in Kohle und Aquarell von Holbein und Dürer, diesen unbe¬
schreiblich geistvollen und delicaten Porträtzeichnungen mit farbigen Stiften von
dem großen Stecher Georg Schmidt, dieser schönen Studie des Mannes mit
dem spitzen Hut von Rembrandts Hand, den Miniaturen, den Federzeichnungen
von Mantegna und Signorelli, den Blättern vom alten ehrwürdigen Meister
Schongauer, den Farbenskizzen Karl Blechens, dem süßen kleinen Roccocoköps-
chen eines jungen Mädchens im Häubchen von einem Unbekannten, dem stolzen
Prachtbilde Louis des Fünfzehnten in einer Pastellausführung, welche an
Glanz und Kraft der Farbenwirkung dem besten Oelbilde nahe kommt.
Aber vor einem Bilde an dieser Wand bleibt auch der sehensmüdeste Beschauer
stehen, und das Gefühl der Abstumpfung weicht dem innigen Interesse, der
herzlichen Freude an der Betrachtung. Es ist das lebensgroße Brustbild einer
jungen Frau, ein bereits etwas ausgebleichtes Pastell aus den letzten siebziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts,' wie Tracht und Frisur andeutet. Auf
schmalen feinen Schultern und schlankem Halse, dessen Kleidausschnitt noch den
zartesten jugci Uichen Busen dem Blick zeigt, ein Köpfchen von einer holdseli¬
gen Lieblichkeit, von einem süßen Reiz, an dem jede Schilderung erlahmt.
Das überschwänglich üppige, anscheinend blonde, leicht gepuderte Haar, ist zu
der ungeheuerlichen Frisur jener Tage, aber in freiern Wellen, nicht dem stei¬
fen künstlichen Lockenbau, von der feinen Stirn aufwärts gethürmt und in der
Höhe von einem blauen Bande umschlungen. Diese über die Schulterbreite
noch hinausschwcllende Masse läßt durch den Gegensatz die delikaten Formen
und Züge des Gesichts noch feiner und zierlicher erscheinen. Das Köpfchen ist
leicht auf die linke Seite geneigt, als wäre dem zarten Halse die holde Last
zu schwer, und wirft dorthin aus einem Paar großer dunkelbrauner Augen voll
feuchten Schmelzes und süßen Feuers einen wahrhaft Sinn und Seele bethö¬
renden Blick. Weh dem, den er trifft! Glücklicherweise ist es nicht der Be¬
schauer selbst, aber man begreift vor diesem Bilde mancherlei oft wiederkehrende
romantische Sagen von der tödtlichen verzehrenden Leidenschaft, welche entzünd¬
bare Gemüther für irgendein gemaltes Idol, ein meisterliches Frauenbild er¬
griffen. Wenn wir dies holde Gespenst beschwören wollten, so könnte es von
einer glänzenden Vergangenheit, von leidenschaftlichen Abenteuern, von heißer
Fürstenlicbe, von versunkner Tagen übermüthiger freier Lust und viel heitern
Noccocosünden erzählen; denn im Leben nannte es sich Generalin Witt und
Gräfin Potocka. Aber der Maler, der dies wunderbare Bildniß geschaffen, ist
nicht genannt, und unsere sonst zum Taufen so bereiten Kunstgelehrten, wo es sich
um Meister früherer Jahrhunderte handelt, geben sich bei Werken aus dieser
sogenannten „Zeit des tiefen Verfalls" (!) nicht die gleiche Mühe.
Vorbei an der köstlichen Federzeichnung der Madonna mit dem Kinde von
Francesco Franc!«, die vom kunstvollsten Rahmen umfaßt im Durchgang zum
rothen Saal hängt, treten wir wieder in diesen, da die Zeit zum Verlassen des
Cabinets drängt. Noch einige Minuten des Verweilens vor einer seiner Schrank¬
thüren und vor der Wand nahe der Pforte, durch die wir eben von dorther
kamen. Dort an der Rückseite des ersten höhern Schrankes zunächst der oben
erwähnten Barnöre ist es ein kleines da eingelassnes Blättchen, das uns in
immer gesteigerter Bewunderung fesselt. Ein winziger elender Garten mit dün¬
nen niedern Bäumchen, mit der Feder skizznt, in den wir von oben hinein¬
blicken, umstanden von alten Hinterhäusern mit hohen, spitzansteigenden, grauen
Dächern. Ein Ton für diese vom Licht getroffnen Flächen, eine wechselnde
Mischung von Gelb, Roth und Grau für die Schattenmassen der Hausmauern,
nur oben ganz dünn angetuscht, das ist das ganze Bild. Aber durch welches
Wunder der Kunst und Meisterschaft ist hier damit die volle Sonne selbst ge¬
malt, und zwar die Frühlingssonne in all ihrer Lieblichkeit, welche über die arm
seligste irdische Wirklichkeit, über verschimmelte Hofwände und kümmerliche
Gärtchen einen so lachenden Zauber hinbrcitet, daß er eines großen Künstlers
Seele zu solchem Werk begeisterte. Dieser Künstler war Ruysdael. Am 1. Mai
1641 lag er „wo Naastridit" (so sagt die Schrift oben rechts in der Ecke)
wohl in seinem Fenster und sah hinab in den alten stillen Hof davor, und
was er da sah, hat er uns hier „ZetooKent". An der Wand neben der Thür
hängt ein ganz verbranntes Papier mit einigen kühnen mächtigen Federzügen.
Wir kennen die erhabne Schöpfung, deren ersten Gedanken Rafael Sanzio in
diesen großen Zügen darauf hinwarf, wie er vor seines Geistes Auge aufstieg:
der Fischzug Petri, aus dem Reiche der vatikanischen Tapeten. Man sieht, er
sah dies Wunderwerk bereits ganz so vor sich, wie es auf dem Carton zu
Hamptoncourt in übermenschlicher Größe und Herrlichkeit später vollendet da¬
stand. Nur die Wasservögel im Vorgrund und die Landschaft hinten am See¬
ufer fehlen noch im Entwurf. Dieser zeigt keinen Namen, keine Chiffer, kein
Monogramm; und keine Zeichnung bedürfte weniger eines solchen zu ihrer Le-
gitimirung als diese. Denn der rafaelische Genius i» dieser Periode seiner
vollsten Reife, in der Fülle seiner ernsten Gewalt, seiner stillen Größe, seiner
schlichten Anmuth hat sich darin mit einer Kraft und Nachdrücklichkeit jedem Sehen¬
den offenbart, vor welcher noch nie ein Zweifel sich auch nur zu erheben wagte.
Mit diesem Eindruck in der Seele verlassen wir den Saal und seine an¬
dern Schätze. Um das, was wir davon in uns aufgenommen, nicht den hier
draußen sofort ringsum andrängenden, nun doppelt mißtönig verwirrenden,
modernen Kunsteinwirkungen hinzugeben, schließen wir am liebsten im Treppen¬
hause die Augen und wollen sie erst unten im Saale links vor dem Meoiceer-
grabmal Michelangelos oder rechts vor den erhabnen Resten phidiasscher Kunst,
den parthenonischen Giebeltrümmern und Culter-Friesen öffnen. Da athmen
Wir wieder dieselbe Luft „und Du Spürst keinen Uebergang/.
„Mein Herz brummet über Moab wie eine
Harfe, und mein Inwendiges über Kirhcrcs."
Wissenschaftliche Arbeiten Peter Forchhammers haben nicht selten das
Schicksal, von Laien mit ernstem Kopfschütteln, von Fachgenossen mit sicherer
Heiterkeit bei Seite gelegt zu werden. Die von ihm bei der Geburtstags¬
feier deS 6. Juli 1865 in Kiel gehaltene akademische Festrede verdient ausnahms¬
weise größere Beachtung. Einerseits, weil sie unter der Aegide der Landes¬
universität erschienen ist, die damit einen Theil der Verantwortlichkeit für die
Ansichten des Festredners übernimmt; andrerseits wegen der auf Wissenschaft¬
lichkeit kaum Anspruch machenden Haltung der Rede, die von der Rhetorik,
mit der in den Schleswig-holsteinischen und in den Kampfgenossenvereinen ge¬
wirkt wird, ein recht anschauliches Bild giebt. Die ofsiciöse Haltung der au-
gustenburgischen Partei gegen das Ausland kennt man genügend durch Leit¬
artikel namentlich des Hamburger Korrespondenten und der Deutschen Reichs-
zeitung: das ist aber nur das Brod für wohlgesinnte, gläubige Deutsche; soll
die Kenntniß der Politik jener Partei keine einseitige bleiben, so muß man auch
von den Steinen Notiz nehmen, die dem zähen Gaumen des eigenen Volkes
geboten werden. Wem Zeit und Lust fehlen, sich zu diesem Behufe durch ein
Dutzend Nummern der Schleswig-holsteinischen Zeitung durchzuarbeiten, dem
kommt die genannte Festrede in erfreulicher Weise zu Hilfe. Ausgetheilte Pa¬
rolen, demagogische Lockspeisen, Parteischlagwörter, politische Feigenblätter,
Verheißungen, Klagen, Hoffnungen — alles das mit den ureigenen Phrasen
der Schleswig-holsteinischen Zeitung auf 17 oder eigentlich nur ö Quartseiten!
Denn der ganze Anfang, ein trivialer Rückblick auf die Stellung des Landes
unter den Dänen, ist nichts als ein Anhängsel, welches Herrn F. durch
das akademische Decorum aufgenöthigt worden ist. Was will man mehr? Der
ganze augustenburgische Apparat in der Westentasche! Bei der Verworrenheit,
mit der dieses reiche Material bei Herrn F. durcheinanderwirbelt, glaube ich
mir um Ihre Leser ein Verdienst zu erwerben, wenn ich es nach gewissen Ru¬
briken ordne und die nöthige Gebrauchsanweisung hinzufüge.
Seitdem das Zusammentreten einer nationalen
Partei in den Herzogtümern sich nicht länger hatte verhindern lassen, ist das
Not ä'orllre ausgetheilt worden, die Liberalen, welche für Unterordnung unter
Preußen sind, nach Kräften einzuschüchtern und als Verräther zu brandmarken,
schwache Aecker durch Bedrohung ihrer materiellen Existenz in möglichst großer
Anzahl zum Abfall zu verleiten, den Rest der Partei in das feudal-anne¬
xionistische Lager zu treiben. Von den Haupthebeln der augustenburgischen
Maschinerie thaten die Schleswig-holsteinischen und die Kampfgenossenvereine
reichlich ihre Schuldigkeit; das lange Säumen der Universität hat Herr F.
jetzt durch einen ganz besonders kräftigen Angriff gegen die nationalen gründ¬
lich wieder gut gemacht. Gleich der Eingang zieht los gegen „die, welche in
Verblendung nach unbeständigen Sinn die Erfolge ausnützen möchten, zu deren
Erreichung sie größtentheils kein Opfer gewagt, welche aber heute als untreu
dem Recht, das sie kannten, welche als untreu dem, der um des Vaterlands
willen und in seinem Gottvertrauen trotz allen Unglimpfs das Recht vertritt,
welche als untreu sich selber mit dem harten Eisen der ethischen Poine sich selber
müssen gebrandmarkt fühlen" (es folgen Verse); und der Schluß beschäftigt sich
wieder mit den macchiavellistischen Bestrebungen, „die eine Anzahl revolutionärer
Tendenzen, eine Elite unklarer Köpfe, unzufriedener Gemüther und unsocialer
Naturen an sich gezogen haben." Wir erlauben uns, hierbei auf dreierlei auf¬
merksam zu machen. 1) Wer eines klaren deutschen Satzbaues selbst so wenig
mächtig ist, wie Herr F., würde wohl thun, nicht vom Glashause aus mit
Steinen zu werfen; 2) der erste Satz klingt zwar wie eine Rückübersetzung aus
dem Griechischen, ist aber trotzdem nichts als traurige Verballhornung einer
feinen und witzigen Wendung der Schleswig-holsteinischen Zeitung, die wieder¬
holt von den beiden zur nationalen Partei gehörigen Universitätsverwandten
als von Männern gesprochen hatte, welche die schwere Krise des Landes kaum
noch mit durchgemacht hätten (der eine kam nämlich vor, der andere nach der
Krise ins Land); 3) in den ernsten Tagen nach dem Tode Friedrichs des Sie¬
benten haben alle Mitglieder der nationalen Partei, die im Lande waren, ihre
Schuldigkeit gethan und gerade so wenig und so viel auf das Spiel gesetzt,
als Herr Forchhammer; wir wollen ihm die Lüge, daß es größtentheils nicht
der Fall gewesen sei, nicht zu hoch anrechnen: ist sie doch in der schleswig¬
holsteinischen Zeitung und ähnlichen Blättern so oft wiederholt worden, daß
die Erfinder jetzt wahrscheinlich selbst daran glauben. — Natürlich hören wir
auch hier wieder, daß hauptsächlich fremde Abenteurer, Glücksritter es sind, die
die Holfientreue zu Falle bringen wollen; getroffen fühle sich, wer sich in dem
großen Strafgerichte über das preußische Volk S. 14 unter den „Einzelnen"
wiedererkennt, „die sich zu der Unwürdigkeit bekennen, so viel von dem Rechte
des Andern zu streichen, als sich dem eigenen Vortheil zulegen läßt." Aehn-
liches war in Blättern der augustenburgischen Partei schon bei Gelegenheit der
mommsenschen Brochüre gesagt und geschickter gesagt worden als hier.
„Die Bevölkerung in ihrer Gesammtheit
bekundet es bei jeder Gelegenheit, daß sie der Rettung sich erfreut, wie sie
soll", das heißt, wie sie nach Ansicht der augustenburgischen Maschinisten es
soll: durch gründlichen Undank gegen die Retter. Leider nur zu wahr! Wer es
noch nicht weiß, wie man ein von Haus aus tüchtiges Völkchen durch Benutzung
seiner schwachen Seiten in eine so verkehrte Bahn drängen kann, wie wir dies
jetzt in Holstein sehen, dem giebt unsere Festrede die nöthigen Fingerzeige.
Jedes Bauernvolk ist von sich selbst eingenommen. Bei den Holsteinern ist ein
angebornes Selbstbewußtsein durch den tapfern Widerstand gegen Dänemark in
berechtigter Weise gehoben, durch die ausschweifenden Lobsprüche, mit denen
sie von ihren deutschen Brüdern für ihr langes Märtyrerthum getröstet wurden,
krankhaft hinaufgeschraubt worden: in der That, die Holsteiner hätten eine über¬
menschliche Selbsterkenntniß besitzen müssen, wenn im Laufe von 17 Jahren
davon nicht etwas hängen geblieben wäre! Die Besten des Volkes sind hierüber
nicht verblendet und hüten sich, dem verhängnißvollen Fehler Vorschub zu leisten:
das ist aber so recht der Tummelplatz, auf dem die höfische Demagogie mit
bestem Erfolg operirt. Der Redner, der, wie Herr F., den Preußen den Rath
giebt, „sich nicht für besser und klüger zu halten, als uns", ist des Beifalls
immer gewiß, und wenn er nun gar erst hinzufügt: „wir haben nie die Sünde
auf uns geladen, in unserem früheren staatlichen Verhältnisse unsere Eigenthüm¬
lichkeit einem Andern aufdrängen zu wollen", da wird wohl kein Zuhörer so
undankbar sein, den salbungsreichen Pharisäer durch die Frage außer Fassung
zu bringen: ob es ein Verdienst ist, nicht zu sündigen, wenn man nicht die
Macht hat zu sündigen? Selbstverständlich wird uns von Herrn F. auch die
„sprichwörtlich gewordene Holstentreue" nicht geschenkt, die hoffentlich in Zu¬
kunft dem Synonym „deutsche Treue" weichen wird; oder sollte jene specifische
Treue gemeint sein, welche die 40 Turner von Gravenstein begeisterte, sich in
das Joch zu spannen: dann wird mehr als ein Landsmann Herrn Forchhammers
das zweifelhafte Lob ablehnen.
.Mein Recht ist eure
Rettung", lautete das erbprinzliche Teztwort, das Herr F. seiner Rede un¬
tergelegt hat, ohne zu fragen, inwieweit es sich an den Ereignissen bewährt
hat, und wie wohl das abstracte Recht, nur vom deutschen Bunde fecundirt, über
das Dannewerk, die düppler Schanzen und den Alsensund hinübergekommen
wäre! Es ist eine freilich sehr ketzerische, aber bei aller Ketzerei schwer zu
widerlegende Behauptung, daß wir mit dem Rechte der Augustenburger als
alleinigem Palladium jetzt hinter 1863 zurückgeworfen sein würden: ohne
Preußen würde der deutsche Bund sich unter Wahrung seines Rechts zurück¬
gezogen haben, es wäre ein zweiter Tag von Bau und schlimmer als dieser
erfolgt, die besten Patrioten wären jetzt von den Dänen außer Landes gejagt,
und Peter Forchhammer — würde vielleicht den Plan des Schlachtfeldes von
Troja wieder hervorgesucht haben, durch dessen Erklärung er sich seiner Zeit bei
der Frau Reichsgräfin von Donner beliebt zu machen verstand. Nun es anders
gekommen ist, thut er-, als wenn dies das Verdienst der augustenburgischen
Partei wäre, und wird wie Shylock nicht müde, in allen Tonarten zu wieder¬
holen, daß die Schleswig-Holsteiner nur ihr Recht, ihr ganzes Recht wollen.
Sachte, sachte! auf diesem Rechte werden sie erhalten, weis Shylock erhielt. —
..Die Herzogtümer, ihrer eignen Art sich bewußt, wissen sich zugleich völlig
frei von allem kleinlichen Particularismus, den ihnen nur größere Particula-
risten kleinlichst vorwerfen." „Wie keine Eiche oder Buche eine Tanne werden
kann ... können die Schleswig-Holsteiner nicht Preußen werden, auch nicht halbe
Preußen." Das eben hat jeder Particularist mit einer gewissen Classe von
Irrsinnigen gemeinsam, daß so wenig wie diese ihren Irrsinn, so wenig er sei¬
nen Particularismus eingestehen will: ein sicheres Zeichen, daß unserer Klein¬
staaterei die nothwendigste Lebensbedingung. der Glaube an sich selbst, abhanden
gekommen ist. Die Faselei vom preußischen Particularismus hat Herr F. An¬
deren nachgesprochen, wird aber dafür hoffentlich selbstlos genug sein, die Phrase
von Buche und Tanne, die um so schöner klingt, je weniger man sich hinter
ihr etwas denken kann, künftigen Vereinsrednern zu erwünschtem Gebrauche zu
überlassen.
AIs Mitglied einer gelehrten Körperschaft
hat auch unser Festredner das Bedürfniß gefühlt, seinen Particularismus mit
Hilfe einer Theorie vom Staate unter Dach und Fach zu bringen. Er ver¬
sichert, in Deutschland könne auf Grund der „gegebenen Zustände" nur der
Bundesstaat bestehen; der Einheitsstaat könne nur „durch die Gewalt der
Waffen und durch die Partei, welche die Waffen in Händen hat", hergestellt
werden: „wird diese Partei die Waffen niederlegen zu Gunsten der Freiheit des
deutschen Volks?" Nun kommen wiederholte Warnrufe, daß die Freiheit der
deutschen Stämme, die Herrn F. mit der Freiheit des deutschen Volks gleich¬
bedeutend ist, in Gefahr sei; freilich müsse der deutsche Bundesstaat aus Staaten,
nicht aus Cabineten, gebildet sein: er werde aber um so stärker sein, je freier
in ihrem Bereich die einzelnen Staaten, sobald nur bei den Einzelnen der Wille
da sei, eine starke Bundescentralmacht zu schaffen. Lauter Dinge, die man
längst von den gu'ßdentschen Theoretikern bis zum Ueberdruß zu hören bekom¬
men hat: dieselben Phrasen, dieselben Tascheiisvielereien! Als wenn die heutige
deutsche Kleinstaaterei mit der frühere» Stammesverschiedenheit des deutschen
Volks das Geringste gemein hätte, als wenn Staatenbund und Bundesstaat
dasselbe wäre, als wenn die Verwandlung der Cabincte in Staaten und
der Wille der Staaten, sich einer Centralgewalt unterzuordnen, sich einfach
decretiren ließen und anders als durch die gründlichste Umwälzung der „gege¬
benen Zustände" zu erreichen wären! Kurz, lauter abgenutzte Redensarten:
das einzige Neue ist der forchhammersche Grund gegen die deutsche Einheit:
„daß jener göttliche Mann, den der griechische Weise forderte, und jener gött¬
liche Stamm fehlen, denen die andern sich willig unterordnen". Also Deutsch¬
land soll so lange ohnmächtig und zerrissen bleiben, bis das aristotelische
Staatsideal verwirklicht werden kann! Der Redner beruft sich mit Emphase
auf den Ausspruch seines Weltweisen, daß der Mensch, nur im Staate seine
Aufgabe erfüllen könne: als ob unsere deutschen Mittel- und Kleinstaaten, der
künftige Schleswig-holsteinische nich't ausgenommen, auch nur die einfachsten Er¬
fordernisse eines wirklichen Staatswesens zu leisten im Stande wären!
„Bereit, unsere ganze Kraft für Deutschland zu ver¬
wenden, fordern wir, auch die Kleineren von den Größeren, eine auf Vertrauen
gegründete Freundschaft." Rührend, aber nicht neu! in seiner bekannten
Unterredung mit Herrn v. Bismarck hatte unser gnädigster Herr Preußen
bereits Aehnliches als Surrogat für diesseitige Garantien empfohlen. „Oft
genug haben die Herzogthümer es ausgesprochen, daß sie für Deutschland, für
den deutschen Bundesstaat zu jedem gerechten Opfer an der eignen Entscheidung
bereit sind." In demselben Athemzuge, wo der wohlbekannte Wechsel auf das
in den Wolken schwebende schwarzrothgoldne Deutschland der Zukunft von
Neuem ausgestellt wird, durch den Bauernpffigkeit sich mit den berechtigten An¬
sprüchen Preußens abzufinden gedenkt, in demselben Athemzuge klagt Herr F.,
„daß unser Volk und sein Herzog willig Preußen gewisse materielle Bordseite
einzuräumen bereit seien, und daß es nicht ihre Schuld sei, wenn man den
übereinstimmenden Erklärungen beider kein Vertrauen schenken wolle!"
Hieran schließt sich ein Weheruf über jene, „welche zur
Trauer Deutschlands mit unnatürlicher Freude täglich schadenfrohe Verläum-
dungen in die Welt senden, vergessend, daß ein Schandfleck wohl von ihrem
Gewand abzuwaschen, aber der Schmutzfleck einer absichtlichen schadenwollenden
Lüge nie von der Seele zu tilgen ist". Sachte, sachte: im Hause des Gehenkten
spricht man nicht vom Strick! Dachte denn ein so gewiegter Diplomat wie
Peter Forchhammer wirklich, als er so sprach, nicht an die unermüdlichen De-.
mentis der augustenburgischen Partei hinsichtlich des bekannten Zwischenfalls
in der Unterredung mit Bismarck, die ein volles Jahr lang fortgesetzt wurden,
bis der Herzog selbst durch die nienstedtner Erklärung weitere Lügen seiner
Getreuen abschnitt? Fiel ihm denn nicht ein, daß einem der herzoglichen Räthe
die stricte Befolgung der talleyrandschen Lehre nachgerühmt wird, daß die Zunge
dem Menschen gegeben sei, um seine Gedanken zu verheimlichen? Wahrscheinlich
verließ er sich auf die jüngste, eine tiefe sittliche Entrüstung athmende Abläug-
nung Herrn Geheimraths Francke, daß je an ihn von Herrn Schleiden ein
Brief über die Nützlichkeit einer Preisgabe Nordschleswigs geschrieben wor¬
den sei. wie die nationalen behaupteten: ließ sich ein schlagenderer Beweis für
die Verläumdungssucht dieser schwarzen Seelen beibringen? Ach, der Festredner
ahnte nicht, daß schon das morgende Zeitungsblatt zugleich mit dem ersten
Bericht über seinen oratorischen Triumph auch den verhängnißvollen Brief
selbst, und mit diesem Actenstück von jetzt eingestandener Echtheit aus dem
Schooße der eignen Partei eine vernichtende Kritik seiner diplomatischen Lei¬
stungen bringen sollte! Armer Fest-und Strafredner! so schnell mußtest auch du
mit dem harten Eisen der Poine dich gebrandmarkt fühlen!
In bekannter Weise muß auch bei dieser Gelegenheit das
Wort des Königs von Preußen, daß Preußen überall für das Recht eintrete,
zum Beweise dafür herhalten, daß Schleswig-Holstein sein Recht, sein ganzes
Recht und Preußen wenig oder nichts zu erhalten habe. Auch hier das schüch¬
terne Schielen nach dem Auslande in dem wiederholten Hinweise auf „die
großen europäischen Verhältnisse", „die europäische Politik", die mehr als den
Bundesstaat in Deutschland nie zugeben werde: man kennt ja sattsam die
Schmerzensschreie aus dem auaustenburgischen Lager bald an Oestreichs, bald an
Frankreichs Adresse! Herr F. scheint sich aber hiervon selbst nicht viel Erfolg zu Ver¬
sprechen; darumwirdmitdemdeutschenBürgerkriegegedroht, der unfehlbar eintreten
werde, wenn man „die Freiheit der deutschen Stämme" nicht respectire! Die be¬
treffenden frommen Wünsche der in Schleswig-Holstein herrschenden Partei sind nicht
neu, ebensowenig aber, daß ihre Aussichten auf eine deutsche Vendee äußerst
gering sind. Es ist kein Geheimniß, daß vielmehr die UnPopularität des Ministe¬
riums Bismarck und das Band des gemeinsamen Hasses, das die Fortschritts¬
partei mit der herzoglichen Partei in Kiel verbindet, der wahre Nothanker
der letzteren ist. Auch Herr F. ermangelt nicht, über „die beispiellose innere
Zerwürfniß", die Preußens Action hemme, schadenfroh die Hände zu reiben
und sich über den „vaterländischen Hauch" zu freuen, „der gottlob auch aus
Preußen zu uns herüberwehe"; das heißt, in schlichte Prosa übersetzt, über den
beispiellosen Compromiß, den ein Theil der Fortschrittspartei mit den kieler
Legitimisten geschlossen hat, um einen persönlichen Feind zu ärgern und die
deutsche Machtstellung des preußischen Staats auf Decennien hinaus zu schädigen.
Seit der Besiegelung jenes unnatürlichen Compromisses fließen die Höfischen in
den Herzogthümern über von Lobsprüchen für die preußische Opposition: man
sollte meinen, manchem braven preußischen Patrioten müßte die Scham über
solches Lob von solcher Seite wie höllisches Feuer auf den Wangen brennen.
Wer in Preußen noch etwa in Zweifel sein sollte, wie die herrschende Partei
in Schleswig-Holstein jenen Compromiß auffaßt, der möge die dreisten Hohn¬
worte Herrn Forchhammers S. 16 beherzigen, die einzigen in der ganzen Rede,
wo etwas von den Pflichten der Schleswig-Holsteiner gegen ihre Retter vor¬
kommt: „Sie haben den Dank, den wir als Mitkämpfende zu leisten begehrten,
verschmäht. Sie werden es nicht als Undankbarkeit auslegen, wenn wir uns
selbst gehören wollen, damit unser Dank um so freier und wahrer sei".
Wir sind mit Herrn Forchhammer zu Ende: auch nicht ein neuer Gedanke!
mit schulmeisterlicher Unbeholfenheit werden die hundertmal gehörten Phrasen
wiedergekäut, über das Ganze ist von dem heidnischen Panegvriker das Salböl
einer affectirter Frömmelei ausgegossen, zu einer wissenschaftlichen Begrün¬
dung der Parteidogmen ist kaum ein schwacher Anlauf genommen, und wo
das geschieht, zeigt sich die ärgste Flüchtigkeit. Der Festredner scheint keine
Ahnung davon zu haben, daß der städtische Staat des Alterthums etwas von
dem modernen gänzlich Verschiedenes ist und Lehren des Aristoteles auf diesen
nicht ohne Weiteres anwendbar sind, und da, wo er seinen Abscheu über Mac-
chiavelli ausspricht, verräth er völlige Unkenntnis) der neueren Forschungen. In.
Kürze, es ist ein Skandal, wie er in den Annalen der deutschen Hochschulen
lange nicht dagewesen ist. In den Zeitungen ist berichtet und bis jetzt nicht
widerlegt worden, daß die akademische Feier des 6. Juli durchaus ein Staats¬
streich des dermaligen Rectors Prof. Behn gewesen ist. Möglich, daß sich da¬
durch die unglückliche Einseitigkeit in der Wahl des Festredners erklärt; im¬
merhin hat die kieler Universität durch Gutheißung des Drucks der Rede den
krassen Parteistandpunkt derselben gut geheißen, und damit alle die bitter ent¬
täuscht, die nach dem patriotischen Verhalten derselben im November 1863
sich eines Besseren von ihr versehen hatten. Als die Universität damals
für das Recht der Augustenburger eintrat, glaubten wohl die Meisten in
Deutschland, daß man in Kiel sich dieses Mediums bediente, um die viel höhe¬
ren Zwecke, die Losreißung der Herzogthümer von Dänemark und die Gewin¬
nung ihrer reichen Hilfsquellen für Deutschland, zu erreichen; und als dann
die Losreißung von Dänemark auf ganz anderem Wege bewirkt worden war,
achtete man es, daß die Universität das Medium nicht fallen ließ. Jetzt aber,
wo das Medium, das sich zur Erfüllung des einen Zweckes als untauglich er¬
wiesen hatte, thut, was in seinen Kräften steht, um die Erreichung des andern
Zwecks zu vereiteln, jetzt das Medium in solchen Bestrebungen eifrigst unter¬
stützen, heißt das sich selbst treu bleiben? Man begreift, daß Männer, die
dem Herzog in der Zeit der Krise nahe getreten sind, jetzt nicht gegen ihn
auftreten mögen. War aber in solcher Lage Schweigen nicht das der Univer¬
sität einzig Würdige? Im augustenburgischen Lager gilt es jetzt, gegen Preu¬
ßen zu Hetzen, mit Oestreich und allen Preußen feindlichen Bestrebungen zu
kokettiren, die zu Preußen Hinneigenden zu verlästern, die der Hinneigung Ver¬
dächtigen bange zu machen. Die Räthe des Herzogs begnügen sich längst
nicht mehr, Ansprachen, die von Injurien gegen Preußen wimmeln, huldreichst
entgegenzunehmen: in öffentlicher Versammlung bekommt man von ihnen selbst
in officiellen Reden, abgesehen von den unvermeidlichen Ausfällen gegen die
Arroganz der nationalen, die plumpsten Angriffe auf die preußischen Kron¬
juristen u. dergl. zu hören. Wenn dieses Abbrechen der Brücken zu einer Ve»
ständigung überhaupt einen Sinn hat, so kann es nur den haben, die Stellung
der Schleswig-Holsteiner zu Preußen für die Zukunft nach Möglichkeit zu ver-
giften. Man sollte meinen, selbst vom legitimisiischen Standpunkte hätte sich
ein ernstes Mahnwort diesem selbstmörderischen Treiben gegenüber rechtfertigen
lassen, und es ist die Frage, ob ein solches Mahnwort, an der rechten Stelle
in der rechten Weise im Namen einer im Lande so geachteten Corporation
wie die dicker Universität gesprochen, unbeachtet verhallt wäre. Es sollte nicht
so kommen: die Universität hat es vorgezogen, in brüderlicher Eintracht mit
den Schleswig-holsteinischen und den Kampfgenossenvereinen für den augusten-
burgischen Mechanismus zu arbeiten! Wir wissen nicht, ob ihre Mitglieder
wirklich lauter particularistische Fanatiker sind; die es nicht sind, werden dem
Vorwurfe schwer entgehen, daß sie socialen Rücksichten oder einem Corporations-
dunkel, der lieber eine schlechte als gar keine Rolle spielt, ihre bessere Ueber¬
zeugung geopfert haben und mit dem Strom geschwommen sind. Verhält es
sich anders, ist der Druck der Festrede nur aus Schonung gegen den eigen¬
mächtigen Veranstalter der Festfeier beschlossen worden, nun so versäume die
kieler Universität die Gelegenheit nicht, es bei ihrer demnächst bevorstehenden
200jährigen Stiftungsfeier zu zeigen, der ersten, die sie auf freiem deutschen
Boden begehen wird! Möge sie in feierlicher Weise es aussprechen, daß sie
der hohen Bedeutung dieses Umstandes sich dankbar bewußt ist, möge sie Zeug¬
niß ablegen von ihrem Berufe, ein Hort deutschen Geisteslebens im Norden zu
sein, möge sie vor allem jene schmähliche Erniedrigung, welche die Festrede
Peter Forchhammers ihr angesonnen hat, Hüterin zu sein des kläglichsten Par-
ticularismus. möge sie diese offen und entschieden von sich weisen! —
Längere Zeit haben Sie keinen politischen Bericht aus unserm angulus terrarum
erhalten. Was hier vorgeht, kann im kleinen Kreise gut und nützlich sein, für
die draußen Stehenden hat es wenig zu bedeuten. Wo dann gleichwohl ein Streben
nach Größerem hervortritt, ist es selten erfreulich, sofern es doch nur das Mißver¬
hältniß von Wollen und Können ans Licht stellt, am allermeisten dann, wenn die
handelnden Personen selbst dieses Mißverhältniß nicht in Rechnung gezogen haben.
Sie werden es dem Localpatriotismus Ihres Berichterstatters zu Gut halten, daß
^ sich in Schweigen hüllte, als die würtenbergische Kammer ihre berühmte That-
resolution faßte. Man durste hoffen, daß das große Wort, welches sie damals ge¬
lassen aussprach, in Kurzem vergessen und zu den übrigen gelegt sein werde, und
in der That hat die Erfahrung gezeigt, daß die Bewegung, welche in jener Zeit in
unserer Armee stattfand, keineswegs kriegerischen Ursprungs war, fondern rein ästhe¬
tische Motive hatte. Unsere Landesvertheidiger wurden nach reiflicher Berathungen
an Allerhöchster Stelle mit einer kleidsamen Uniform bedacht, dies war alles.
Die Volksvertreter hatten es ja auch gar nicht fo schlimm gemeint. Was sie
wollten, war eine einfache Ncchtsverwahrung aussprechen, ihre juridische Ueberzeu¬
gung salviren, und wenn der Ausdruck dieser Manifestation etwas ungeschickt her¬
auskam, nun, wer wird denn die Worte so zudringlich auf die Wagschale legen!
Hatten sie doch selbst ungern genug sich zu dem entschlossen, was sie nun einmal
für ihre Pflicht hielten, und dessen Eindruck auf die Mitwelt ihnen kaum zweifel¬
haft sein konnte. Froh, eines peinlichen Geschäfts entledigt zu sein, enthielten sie
sich denn auch, später wieder Nachfrage zu halten, wie denn die Negierung ihrer
Aufforderung zur That nachgekommen sei. Jetzt ist die Session ihrer sechsmonat¬
lichen Dauer müde, die Sommerhitze beginnt die Sitzreihen zu entvölkern, die drin¬
gendsten Geschäfte aber und der langsam reifende Etat nehmen immerhin noch einige
Wochen in Anspruch, und so wird die Kammer wohl keine Gelegenheit mehr auf¬
suchen, sich mit einer Sache zu beschäftigen, welche nur jedesmal aufs Neue die
Unmacht der kleineren Staaten, d. h. des staatlich nicht organisirten Deutschlands
illustrirt.
Uebrigens ist unser Etat unerwartet noch mit einem kleinen Andenken an den
Schleswig-holsteinischen Krieg bedacht worden, so unschuldig wir auch an der Erobe¬
rung der düppler Schanzen und der Einnahme Athens sind. Die Negierung brachte
nämlich den Antrag ein, die Apanage für den Herzog Wilhelm von Würtemberg,
der im Dienste des Hauses Habsburg in den italienischen Feldzügen sich auszeich¬
nete und im vorigen Jahr als Oberst des Regiments Belgien bei Oeversee verwun¬
det wurde, namhaft zu erhöhen. Man hatte für diese Erigcnz auch einen juridi¬
schen Grund auszufinden versucht. Der Herzog war nämlich zur Zeit als im
Jahre 1828 ein neues Gesetz die Apanagen für die von da auf die Welt kommen¬
den Prinzen sparsamer regelte, zwar noch nicht geboren, aber doch in hohem Grad
vasoitnrus. Es fehlten nur wenige Wochen, so wäre des Prinzen Gehalt noch nach
dem älteren günstigeren Gesetze zu bemessen gewesen. Indessen konnte die Regierung
selbst auf die Rechtsfrage kein ernsthaftes Gewicht legen; um so mehr appcllirte sie an
das Billigkeitsgesühl, welches verlange, daß dem verdienten General, der durch das
zufällige Datum seiner Geburtsstunde so eigenthümlich verkürzt sei, ermöglicht werde,
standesgemäß zu leben und eintretendenfalls sich ebenbürtig zu vermählen. Ganz
besonders aber appcllirte sie an die stets bewährten patriotischen Gesinnungen der
Stände, sie beschwor die Anhänglichkeit an das angestammte Fürstenhaus, dessen
Großthaten auch auf die Heimath einen erlauchten Schimmer zurückwerfen, sie er¬
innerte an die Thaten seines Vaters, des Helden von Kulm und Wachau, und
sprach von einer Ehrenschuld des Landes gegen das um Deutschland so verdiente
Mitglied des würtembergischen Herrscherhauses. Da es sich nicht etwa um eine
Dankadresse, sondern um eine reelle Etatsposition handelte, so konnte es nicht feh¬
len, daß in der Kammer hiergegen sehr nüchterne Erwägungen sich geltend machten.
Man prüfte die rechtliche Verpflichtung die man verneinen mußte, die That von
Ocvcrsce schien nicht hervorragend genug, um einen außerordentlichen Act der Er¬
kenntlichkeit zu rechtfertigen, und die Unverbesserlichen, kalt gegen die beweglichen
Gründe der Minister und Ministeriellen, beleuchteten die patriarchalische Anschauung,
welche aus der Vorlage der Regierung sprach, und fügten hinzu, wenn der Herzog
in östreichischen Diensten Außerordentliches geleistet, so sei es ja'wohl an Oestreich,
ihn außerordentlich zu belohnen. Allein nach hitzigem Gefecht erwies sich die An¬
hänglichkeit an die Angestammten und der Glanz des Tages von Oeversee, wohl
auch die unbestrittene persönliche Tüchtigkeit und Liebenswürdigkeit des Prinzen,
über welche im Foyer der Kammer anmuthige Anekdoten vertraulich in Umlauf ge¬
setzt worden waren, mächtiger als jene ökonomisch-kritischen Bedenken. Die Er¬
höhung der Apanage wurde beschlossen, freilich nur mit winziger Mehrheit und
auch dann nicht in dem von der Negierung gewünschten Betrag.
Es war dies nicht das einzige Mal, daß die Negierung unerwartet einen Sieg
erfocht. Damals als der Landtag gewählt wurde, ergab die Abzählung der Stim¬
men unstreitig ein Uebergewicht der Linken. Aber man muß gestehen, daß diese so¬
genannte Kammermehrhcit nicht selten großmüthig genug ist, keinen Gebrauch von
ihrer numerischen Ueberlegenheit zu machen. Namentlich hat man in neuerer Zeit
diese Bemerkung machen wollen, und böse Stimmen, offenbar nicht darauf bedacht,
das Ansehen der Landesvertretung zu mehren, behaupten, es hänge dies mit der
verbindlichen und gewinnenden Art zusammen, mit welcher Herr v. Varnbüler als
Minister der Verkehrsanstalten die verschiedenen Bezirke des Landes theils mit Eisen¬
bahnen zu erfreuen, theils inzwischen wenigstens mit gnädigen Versprechungen in
dieser Beziehung zu vertrösten wußte. Die Eisenbahnen spielten während dieses
Landtags eine große Rolle. Projecte häuften sich in der Presse, Deputationen in
der Hauptstadt. Zwischen den Kirchthürmen nächstbcnachbarter Städtchen entspann
sich heftige Fehde, einzelne Landestheile waren hoch erregt von den wechselnden Ge¬
fühlen der Furcht und Hoffnung. Die Verdienste des Ministeriums um die Eisen¬
bahnsache sind unbestreitbar. Nicht nur gelang es ihm, gestützt auf die Vorarbeiten
seiner Vorgänger, endlich die lange schwebenden Anschlußverhandlungcn mit Baden
und Preußen glücklich zu Ende zu führen, sondern zum ersten Mal wurde, nach¬
dem bisher viel dilettantisch herumgcbaut worden war, ein umfassendes Bahnnctz
für das ganze Land vorgelegt. Dieses Netz ward mit allgemeiner Genugthuung
aufgenommen, in den bisher verkürzten Landestheilen steigerte sie sich zuweilen bis
zum Enthusiasmus, und Hr. v. Varnbüler genoß mit Stolz die Süßigkeit einer
ihm neuen Popularität. Wer in jenen Tagen die Dcmkrcsolutionen, die Danktoaste
und Dankdeputationcn zählte, mußte Hrn. v. Varnbühler für den populärsten aller
Minister halten. Und er war es. Er war es so sehr, daß bei einer heftig bestrit«
denen Bahnstrecke, nach einem langen publicistischen und nach hartnäckigem parlamenta¬
rischen Kampfe, der anfangs einen ganz andern Ausgang versprach, schließlich die
Wünsche des Ministers siegreich ans Ziel gelangten. Ihr Berichterstatter hat kein
Interesse daran, die große Streitfrage, ob Bodungen oder Leonberg wieder aufzu¬
nehmen. Der Schlachtruf, eine Zeit lang nicht minder hitzig als einst die Losung:
Hie Wels. hie Naivlingen! ist verstummt. Genug, Hr. v. Varnbüler wußte eine
Bahn durchzusetzen, für welche er sich außerordentlich zu interessiren schien; denn.
er hatte für den Fall einer Niederlage — unerhört in unsern parlamentarischen
Annalen — mit seinem Rücktritt gedroht.
Ein auf dem Landtag angefangenes, aber voraussichtlich nicht mehr zu Ende
gelangendes Werk ist die durchgreifende Revision unserer Landesverfassung. Da»
Verlangen nach derselben war schon in der Antwortsadresse auf die Thronrede aus¬
gesprochen, später in einem Antrag von Hölder eingehend formulirt und einem
Ausschuß zur Berichterstattung übergeben worden. Offen gestanden, die öffentliche
Meinung hat den Antrag mit größerer Gleichgiltigkeit aufgenommen, als man er¬
warten sollte. Es scheint das Gefühl allgemein zu sein, daß die Verbesserung der
Einzelverfassungen zu einer Zeit, da die Gemeinsamkeit der nationalen Interessen
sich immer stärker fühlbar macht, doch nur ein untergeordneter Punkt ist, eine Me¬
dicin, welche die Hauptgcbrechcn gar nicht trifft, eine Hühncraugenoperation, wo der
ganze Organismus krankt. Wäre doch die Lage unserer Mittelstaaten in den letz¬
ten Jahren genau ebenso traurig gewesen, und wenn sie pure Ideale als Staats¬
verfassungen gehabt hätten. Indessen, das staatliche Leben hat nun einmal keine
andere Form als diese Einzclverfassungen, und es ist begreiflich, daß man sich darin
so gut als möglich einzurichten sucht. Auch ist ja, was in dieser Beziehung ge¬
schieht, nicht verloren; die Gesetzgebung wird sich im künftigen deutschen Staat nicht
nach denjenigen Ländern richten, welche bis dahin am weitesten zurückgeblieben sind,
und auch die vorbereitende nationale Arbeit kann, soweit die Einzelparlamente An¬
theil daran haben, nur gewinnen, je mehr diese zu wirklichen Organen des Volks¬
willens werden. Es sind bis jetzt über die hölderschen Anträge zwei Kammcr-
veschlüsse zu Stande gekommen, beide die Wahlen zur Abgeordnetenkammer betreffend.
Der eine spricht sich für geheime Stimmabgabe aus, der andere für liberale Abän¬
derung des Wahlgesetzes, welches bisher einzig den grundbesitzenden und je orts-
bürgcrlichen Theil der Bevölkerung zu diesem Act berufen, also gerade die gebildeten
Classen zum großen Theil ausgeschlossen hatte. Ob die Regierung Gesctzcsentwürfe
in diesem Sinne einbringen wird, steht noch dahin; ob weitere Beschlüsse zu Stande
kommen werden, z. B. die Entfernung der Ritter und Prälaten aus der zweiten
Kammer betreffend, ist zum Mindesten höchst unwahrscheinlich geworden.
Erwählte ich ferner einen in social-politischer Beziehung nicht unwichtigen Be¬
schluß der Kammer, durch welchen die Negierung gebeten wird, die Ehcbeschränkungen,
welche ein reactionärcs Gesetz vom Jahr 1852 wieder einführte, und welche auf die
niederen Classen bisher schwer drückten — bekanntlich gehören unsere Bevölkerungs-
verhältnissc seit Jahren zu den ungünstigsten innerhalb des Zollvereins —, so werde
ich meine Pflicht als Chronist der letzten Monate unsers parlamentarischen Lebens
so ziemlich erfüllt haben.
In neuester Zeit ist es namentlich der Handelsvertrag mit Italien, welcher
Bewegung in die Gemüther gebracht Hot. Diesmal sind wir nicht wie beim fran¬
zösischen Handelsvertrag die Letzten, welche sich rührten, die Sache ist rasch mit
Eifer aufgenommen worden. Die Presse that ihre Pflicht, die Handelskammern be¬
leuchteten eingehend die materielle Frage, in Stuttgart wurde eine Versammlung
von Interessenten gehalten, an der sich eine Reihe bedeutender Firmen und Gewerbs-
zweige betheiligte, i» der Kammer wiederholte Anfrage an den Minister gerichtet.
Hölder hat insbesondere mit unbarmherzigen Strichen eine Politik gezeichnet, welche
um einer dynastischen Marotte willen wider den gesunden Menschenverstand sündigt
und aus Ergebenheit gegen das Haus Habsburg die eigenen Landesintcressen zu
schädigen im Begriff steht. Dem Hrn. v. Varnbüler ist der ganze Handel sichtlich
höchst ärgerlich. Er sprach schon früher sich sehr gereizt über das verhaßte König¬
reich Italien aus, neuerdings war er gar nicht zu einer Antwort zu bewegen. Sind
wir recht unterrichtet, so ist der Regierung, zumal sie doch von der Nothwendigkeit
schließlich nachzugeben überzeugt ist, blutwenig an dem Widerstand gegen das König¬
reich Italien gelegen. Aber sie will sich nicht von ihren Bundesgenossen trennen,
von Sachsen und zumal von Bayern, mit welchem sie schon einmal in Freud und
Leid so treulich ausgeharrt hat. Von Bayern und Sachsen begreisen sich allerdings
die dynastischen Motive. Aber wunderbar bleibt es doch, wie ein halbes Jahr nach
Wiederherstellung des Zollvereins die damals so bitter gewitzigten Regierungen aber¬
mals einen ungleichen Kampf aufnehmen mögen, dessen Ausgang so wenig zweifel¬
haft ist als damals. Indessen, wenn diesen Regierungen so wenig daran liegt, daß
ihre Politik den Völkern als ein Hinderniß ihrer materiellen Entwicklung erscheint,
wenn sie fortfahren sich in Unternehmungen zu gefallen, welche doch nur ihre Un»
macht documentiren können, so ist es ja nicht unsre Sache, uns darüber zu be¬
trüben.
Nicht minder erfreulich ist eine andere Bemerkung. In keinem Land war seiner
Zeit die Begeisterung für Oestreich in seinem Kampf gegen Italien, in keinem Land
der schutzzöllnerische Widerspruch gegen das System der Handelsverträge so stark und
hartnäckig als bei uns. Man konnte erwarten, beide Motive werden auch jetzt sich
wieder hervordrängen und einem unbefangenen Urtheil über die Regelung der Han¬
delsbeziehungen zu Italien Abbruch thun. Nichts von dem ist der Fall gewesen.
Nicht nur ist selbstverständlich das Königreich Italien von der öffentlichen Meinung
längst anerkannt, nicht nur verfolgt man mit besonderem Interesse das Schauspiel,
wie dort auf den Trümmern der Particularsouveränetäten der nationale Einheits¬
staat sich aufbaut und mehr und mehr consolidirt — nur eines unsrer demokratischen
Blätter erwartet mit Sehnsucht den Moment, wo der Einheitsstaat wieder zerschlagen
und in die bekannte Schablone eines Bundes freier Cantone umgegossen wird —
sondern auch die Umwandlung der handelspolitischen Ansichten ist unter dem Ein¬
druck der überstandenen Krise auffallend rasch vor sich gegangen. Man glaubt an
eine längst vergangene Zeit zurückzudenken, wenn man sich der schutzzöllnerischen
Agitation erinnert, welcher doch erst vor Jahresfrist in der modischen Riesenarbeit
'hr letztes Denkmal inAknti mole aufgerichtet worden ist. Der unerbittliche Gang
der Ereignisse hat den neuen Ideen rascheren und allgemeineren Eingang verschafft
als jahrelange Belehrung durch Wissenschaft und Presse vermocht hätte. Noch ehe
wie Ziffern in der Hand die Prophezeiungen vom Ruin der deutschen Industrie be¬
leuchtet werden können, ist die öffentliche Meinung längst mit dem „Nationalunglück"
ausgesöhnt. Die Ueberzeugung, daß nun, nachdem der Weg der Handelsverträge
betreten, die Ausdehnung dieses Systems nach allen Richtungen, und folglich die
fortschreitende Annäherung an das Princip der Freiheit im Interesse des Handels
wie der Industrie angestrebt werden müsse, ist die allgemeine geworden. Italien
gegenüber lag freilich die Benachtheiligung der deutschen Industrie ohne den Abschluß
eines Zollvertrags auf der Hand. Eifrige Gegner des französischen Handelsver-
trags von gestern stehen heute an der Spitze der Agitation für den Vertrag mit
Italien.
Dies sind Resultate, die mit Freuden zu constatiren sind, und wenn hier die
vollendete Thatsache Wunder gewirkt hat, so darf wohl die Hoffnung ausgesprochen
werden, daß auch in der Frage Schleswig-Holsteins vollendete Thatsachen dem erst
sehr schüchtern beginnenden Umschwung der öffentlichen Meinung wirksam und rasch
nachhelfen werden. Die Aehnlichkeit des Falls ist nicht zu verkennen. Wie damals
steht das allgemeine Urtheil unter dem Zwang einer vorgefaßten Meinung, die sich
in Tagen der Aufregung stürmisch aufdrängte. Eine falsche Scham zwingt hart¬
näckig , das" alte Programm nachzusprechen und die Dinge genau ebenso anzusehn,
wie sie unläugbar am 15. November 1863 lagen, heute aber nicht mehr liegen.
Die bessere Einsicht, eingeschüchtert durch den Terrorismus der öffentlichen Meinung,
hält zurück, und was in vertraulichem Gespräch von Hunderten zugestanden wird,
ja von Anfang an zugestanden worden ist, scheut noch das unbequeme Licht der
Oeffentlichkeit. Aber die Dauer dieses Terrorismus, wie geschickte Schlagworte ihm
zu Gebot stehen, hat ihre Grenzen. Irren wir nicht, so ist die Gemeinde.derer im
Wachsen, welchen die Errichtung eines neuen Particularstaatcs ein zweifelhaftes
Glück erscheint, und welche wenig bekümmert sein werden, wenn es Preußen gelingt,
den Hcrzogthümerstreit anstatt nach gemüthlichen, vielmehr nach politisch-nationalen
Von A. E. Brehms „Jllustrirtes Thierleben" liegen uns die
Schlußhefte der Abtheilung, welche die Säugethiere behandelt (28—34) und die ersten
fünf Hefte der Vögel vor. Die Illustrationen sind vortrefflich, der Text ist nicht
überall gleich sorgfältig geschrieben, doch können wir im Ganzen unsere frühere
Empfehlung des Werkes wiederholen.. — Der „Globus" Karl Andrces, der
jetzt bis zur Hälfte des achten Buchs erschienen ist, fährt fort, charakteristische und
wohlausgeführtc Holzschnitte zu großentheils guten geographischen Mittheilungen zu
bringen, leider spuken aber darin auch noch immer der zur Monomanie gewordene
Verdruß des Herausgebers über die Existenz der Uankccs und seine wunderlichen
Ansichten über die schwarze Menschheit. Man darf annehmen, daß Herr Andrae
mit solchen Ansichten, die er sich übrigens nur durch übel gewühlte Lectüre zuge¬
zogen haben kann — er schreibt und predigt gegen Amerika, ohne je mit einem
Fuße dort gewesen zu sein — in Deutschland ziemlich allein steht, und so ist sein
Eifer mehr komischer als schädlicher Natur. — Von Meyers „Handatlas der
neuesten Erdbeschreibung" sind wieder 6 neue Hefte mit je 2 Karten erschie¬
nen und nähert sich das in Betracht seiner Wohlfeilheit und der vortrefflichen Aus¬
führung des größten Theils der Karten empfehlenswerthe Werk nunmehr seiner Voll¬
endung. Gegen den Herbst hin soll die Schlußlieferung ausgegeben werden. —
Bei Decker in Berlin erscheint eine Ausgabe von „Friedrich Bodenstedts ge¬
sammelten Schriften" in 12 Bänden, von denen der erste uns vorliegt.
Bekanntlich wird ein Haupteinwand gegen die Einverleibung der Herzog-
thümer in Preußen oder einen engern Anschluß derselben an den letztgenannten
Staat von den so viel bedeutenderen Staatslasten hergenommen, welche ihnen,
gegenüber ihren bisherigen Lasten, als Bestandtheilen des preußischen Staates
erwachsen würden. Man verweist auf die Höhe des preußischen Militärbudgets,
der preußischen Grundsteuern, auf die eventuelle Theilnahme an der preußischen
Staatsschuld u. s. w. Prüfen wir diese Behauptung. Es wird sich der Mühe
verlohnen, zu untersuchen, welche Lasten Schleswig-Holstein als souveräner
oder halbsouveräner Staat zu tragen haben wird. Wir können dabei ganz
von dem Standpunkte absehen, welchen wir in Bezug aus die künftige politische
Gestaltung der Herzogtümer einnehmen. Wir blicken in dieser Frage nicht
lediglich auf die materiellen Interessen; wenn ein enges Verhältniß Schleswig-
Holsteins zu Preußen die moralischen Interessen der Elbhcrzogthümer und die
nationalen Interessen Gesammtdeutschlands beeinträchtigte, so würde selbstver¬
ständlich auch um den Preis des niedrigsten Steuersatzes nicht für ein solches
engeres Verhältniß zu sprechen und selbst die höheren Lasten eines souveränen
oder Halbsouveränen Staates vorzuziehen sein — und wenn andrerseits die
moralischen und geistigen Interessen Schleswig-Holsteins und die nationalen
Interessen Gesammtdeutschlands ein engeres Verhältniß der Herzogthümer zu
Preußen als rathsam oder gar nothwendig erscheinen ließen, so würden wir
dasselbe befürworten, selbst wenn es größere Anforderungen an die Steuerkräfte
des Landes mit sich brächte, als ein anderes Verhältniß. Wir unternehmen die
folgende Untersuchung eigentlich zum Nutzen derer, welche um jeden Preis gegen
eine nähere Stellung der Herzogthümer zu Preußen sind, indem ihr Vortheil
je nach dem Ausfall der Untersuchung darin bestehen wird, daß sie entweder
einen unbegründeten Einwand fallen lassen, oder einen durch Detaillirung
fester begründeten Einwand mit um so größerem Erfolge in die Schlachtlinie
führen können.
Ist nun von Schleswig-Holstein als souveränem Staate die Rede, so ver¬
stehen wir darunter einen Staat, wie die andern Glieder des deutschen Staaten-
buntes, wie etwa Preußen oder Kurhessen, mit einem souveränen Fürsten an
der Spitze, einer landständischen Verfassung und denjenigen Rechten und Pflichten
gegenüber dem deutschen Bunde, welche dessen Grundgesetze ihm gewähren oder
auferlegen. Dabei kann für Schleswig-Holstein ein Unterschied eintreten. Ent¬
weder wird Schleswig, das sich bekanntlich außerhalb des deutschen Bundes
befindet, nicht in diesen aufgenommen, dann haben wir in Schleswig-Holstein, oder
eigentlich Holstein-Schleswig, einen Bundesstaat, dessen Fürst zugleich Souverän
eines nicht zum deutschen Bund gehörenden Gebietes ist, wie die Souveräne
von Preußen oder Oesterreich, — oder Schleswig wird in den deutschen Bund
aufgenommen, dann haben wir den einfachern Fall, reines Bundesgebiet, wie
etwa in Kurhessen. Dieser politische Unterschied muß hervorgehoben werden,
weil er auch einen finanziellen Unterschied im Gefolge hat, schon deshalb, weil
ein nicht zum Bund gehöriges Schleswig an den Bundesmatrikularbeiträgen
und den Kosten der Bundesversammlung keinen Theil hat.
Ist von Schleswig-Holstein als halbsvuveränem Staate die Rede, so ver¬
stehen wir darunter einen deutschen Bundesstaat mit einem eigenen Fürsten,
der gewisse Hoheitsrechte, wie etwa vie Oberanführung der Land- und See¬
macht, die diplomatische Vertretung des Landes, die Verwaltung einzelner
Zweige des Staatswesens an einen andern Bundesstaat abgetreten hat, wie
Liechtenstein ein gemeinschaftliches Zollgebiet mit Oesterreich bildet und seine
letzte Gerichtsinstanz in einem österreichischen Obergerichte findet, wie Waldeck
die Anführung seiner Truppen, seine diplomatische Vertretung, die Oberverwal¬
tung seiner Post und seiner Finanzen an Preußen abgetreten hat und seine
letzte Gerichtsinstanz in Berlin findet.
Es fragt sich, wie werden sich in beiden Fällen die Kosten der Staats¬
verwaltung stellen? Um diese Frage zu beantworten, werden wir zunächst, weil
Schleswig-Holstein in modernen Zeiten, deren Verwaltungsart für unsere Unter¬
suchung allein in Betracht kommt, auf die Dauer keinen Staat für sich gebildet
hat. feststellen müssen, welchen andern deutschen Staat wir mit ihm in gleiche
Linie setzen können, um die Lücken, welche das Budget Schleswig-Holsteins an-
noch für Civilliste, auswärtige Vertretung, Krieg, verschiedene Ministerien bietet,
nach den Budgets in gleichen Verhältnissen stehender Staaten auszufüllen.
Nimmt man die drei Elbherzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg
zusammen, so ergiebt sich eine Bodenfläche von etwa 341 Quadratmeilen mit
1.004,000 Einwohnern, so groß, der Bodenfläche nach, etwa wie Würtemberg
mit 354 Quadratmeilen. Bei dieser Vergleichung stimmt aber die Bevölke¬
rungszahl zu schlecht; denn Würtemberg zählte 1861 1,720,708 Einwohner,
1864 sogar 1,748,328 Einwohner. In der Bevölkerungszahl stimmt aber eben
kein deutscher Staat mit den drei Elbhcrzogthümern; selbst das in der Boden¬
fläche bedeutend unter ihnen stehende Baden hat ca. 300,000 Einwohner mehr
Und das ihnen in der Bevölkerungsz^si am nächsten kommende Großherzog-
thum Hessen ist an Bodenfläche nicht halb so groß. Eine bessere Vergleichung
ergiebt sich, wenn man Lauenburg außer Berechnung läßt. Da erhält man
Schleswig mit 167 und Holstein mit 15S Quadratmeilen, zusammen also 322
Quadratmeilen und nach den Zählungen vom 1. Febr. 1860 (408,997 4- 544.419)
953,416 Einwohner; dann entspricht an Bodenfläche Schleswig-Holstein ziemlich
genau den beiden Hessen zusammen mit (Kurhessen 173,07 und Großherzog-
thum Hessen 152.30 Quadratmeilen) etwa 325 Quadratmeilen; während, be¬
sonders wenn man den Seelenverlust von ca. 8000 Seelen, den Schleswig
durch die Grenzregulirung nach dem wiener Frieden vom 30. October 1864 er¬
leidet (953,416—8000—945,416 Einwohner), in Abzug bringt, die Bevölke-
rungszahl des Großherzogthums Hessen mit (1861)*) 856.907 Einwohnern
allein schon der Schleswig-Holsteins sehr nahe kommt. Wir erhalten dann einen
Mitteldurchschnitt, indem wir Schleswig-Holstein betrachten wie 1'/- Großherzog-
thum Hessen, so daß bei gleicher Bodenfläche, was Schleswig-Holstein weniger
an Seelenzahl hat als beide Hessen, ausgeglichen wird durch das, was es an
Quadratmeilen mehr hat als eines der beiden Hessen. Diesen Durchschnitt
aber suchen wir, weil die Dichtigkeit der Bevölkerung von so wesentlichem Ge¬
wicht bei der Vergleichung der Staaten ist, wie denn das nicht ganz 6V-
Quadratmeilen große Hamburg, das eine Seelenzahl fast wie Sachsen-Weimar
hat, ein Budget aufweist, viel größer, als das 85 Quadratmeilen enthaltende
Nassau, und beinahe so groß als das 173 Quadratmeilen enthaltende Kurhessen.
Unser Ruckschluß von diesem Verhältniß bei Schleswig-Holstein ist, daß die
durch die geringere Dichtigkeit der Bevölkerung im Vergleich mit beiden Hessen
verminderte Steuerkraft gegenüber der so viel größeren Bodenfläche Schleswig-
Holsteins (als die des Großherzogthums Hessen) dadurch ausgeglichen wird, daß
wir die Elbherzogthümer nicht den an Bodenfläche fast gleichen beiden Hessen,
sondern nur dem dichter bevölkerten Großherzogthum Hessen, vermehrt um die
Hälfte desselben, gleichstellen.
Zur Vervollständigung unserer Staatenvergleichung wollen wir übrigens
noch hinzufügen, daß der Grundfläche nach Schleswig-Holstein auch an die
preußische Provinz Westfalen (mit 367 Quadratmeilen) erinnert, hinter der
es aber in der Seelenzahl wieder bedeutend zurückbleibt, da Westfalen (1861)
1.618,065 Einwohner zählte. Am meisten entspricht, in Grundfläche und Be¬
völkerungsdichtigkeit zugleich, Schleswig-Holstein der östreichischen Provinz
Se el er mark, welche letztere nicht ganz 100 Quadratmeilen größer eine fast
entsprechende Seelenzahl auf der Quadratmeile ausweist: Steiermark 2896,
Schleswig-Holstein 2630 Einwohner auf 1 Quadratmeile. — Beide Vergleichun-
gen können zu lehrreichen Schlüssen führen.
Kommen wir nun zu den Lasten, welche auf Schleswig-Holstein seit seiner
Befreiung von Dänemark durch den wiener Frieden vom 30. Oct. 1864 zu
liegen haben, so ergiebt zunächst das Budget der Bundescommissare für Holstein
und das der preußisch-östreichischen Jnterimsverwaltung für Schleswig im Fi¬
nanzjahr 1864/66 Folgendes:
Holstein trägt vorab an Apanagen 136,760 Mrk> Cre. und Bundesausgaben
220,000 Mrk. Cre.,*) welche beide Posten für Schleswig noch wegfallen, zusammen:
Für Holstein stellt sich so in Thalern und Gulden berechnet die Ausgabe
auf 2,460.165 Ü)ir. 16 sgr. 8 Pf. oder 4.304.118 si. 18 kr.
Für Schleswig auf 2.053.258 thir. 6 sgr. 10 Pf. oder 3,693,201 si.
64 kr.
Für Schleswig-Holstein zusammen auf 4.513,413 thir. 23 sgr. 6 Pf. oder
7.897.316 si. 12 kr.
Hier haben wir nun die Budgets zweier verschiedener Verwaltungen vor
uns; vielleicht läßt ein unter einer Verwaltung vereinigtes Schleswig-Holstein
voraussetzen, daß die Kosten der Centralverwaltung eine Ermäßigung erfahren.
Diese Voraussetzung läßt sich indessen nach in einigen Zeitungen stattgehabten
Veröffentlichungen über das für 1865/66 festgestellte Budget der östreichisch-
preußischen Civilcommissäre kaum aufrecht erhalten. Der Apanageposten, der
oben für Holstein allein angegeben ist, erhöht sich auf 230,000 Mrk. Cre.; das
Bureau der obersten Civilbehörde ist mit 40.000 Mrk. Cre. angesetzt, ein Posten,
der oben noch nicht verrechnet ist; die Kosten der Landesregierung sind mit
280.000 Mrk. Cre. fast genau so hoch angesetzt, wie oben, ebenso die für
geistliche und Unterrichtsangelegenheiten mit c. 600,000 Mrk. Cre. und die für
innere Verwaltung; das Pensionswesen erfordert l^/s Mill. Mrk. Cre. Das
Budget der Civilcommissare der beiden deutschen Großmächte für 1865/66 deutet
also bereits an, daß nicht nur keine Ermäßigung der Kosten der Verwaltung
durch die Vereinigung der beiden Verwaltungen eingetreten ist, sondern die
Kosten des weiter constituirten Staates sich noch vermehren werden. Wir blei¬
ben also in unseren Berechnungen bei den oben angegebenen Sätzen, als durchaus
mäßigen, stehen.
Rechnen wir nun zu diesen die in einem souveränen deutschen Staate von
entsprechender Bedeutung herkömmlichen Ausgabeposten hinzu, so tritt uns zuerst
die Civilliste entgegen. Haben wir auch festgestellt, daß wir die Lücken im Allge¬
meinen durch die um die Hälfte vergrößerten Sätze des großherzogl. hessischen
Budgets ersetzen wollen, so werden wir doch von keiner Seite her Widerspruch
erfahren, wenn wir bei diesem Posten den einfachen Betrag des hessischen Budgets
„Bedürfnisse des großh. Hauses und Hofstaates 783,467 si." mit rund 700,000 si.
oder 400.000 Thlr. nehmen. Das Ministerium der auswärtigen An¬
gelegenheiten braucht in dem genannten Staate 133,146 si. Diesen Posten
dürfen wir für ein souveränes Schleswig-Holstein gewiß reichlich IV2 mal nehmen,
weil seine maritime Lage und sein Seehandel die Anstellung vieler Consuln
bedingt; Hamburg z. B., dessen Budget für auswärtige Angelegenheiten 36,200 Thlr.
setzt, verwendet für Handel und Schifffahrt noch einmal besonders über400,000 Thlr.;
wir würden nach unserem Maßstabe also einen Satz von 200,000 si. oder
114,285 Thlr. annehmen und behalten ihn. obgleich er sicher zu niedrig ge¬
griffen ist. Eine andere uns vorliegende im Hamb. Corresp. veröffentlichte
Berechnung z. B. nimmt den Antheil, der nach der dänischen Staatsrechnung
von 1861/62 in Bezug auf den Posten Pensionen und auswärtige Vertretung
auf Schleswig-Holstein fällt, in der Höhe von 1 Mill. Mrk. Cre. oder c. 722,000 si.
oder 413,000 Thlr. Für die Kriegsausgaben würden wir ferner nach dem
Satze von IV2 Großherzogthum Hessen auf die Summe von c. 2,370,000 si.
oder 1,468.572 Thlr. kommen; diese Berechnung ist indeß unter allen Umständen
zu mäßig. Ein neu errichteter souveräner Staat Schleswig-Holstein wird auf
diesem Gebiet ganz besondere Anstrengungen zu machen haben. Nehmen wir
den Fall an, der, wofern Preußen seine an Schleswig-Holstein gestellten Forderungen
nicht zugestanden erhielte, der wahrscheinliche ist, daß Schleswig nicht in den
deutschen Bund aufgenommen würde und Dänemark zunächst nur Schleswig
""griffe, so wäre der neue Staat auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen;
es können, wie schon einmal dagewesen, äußere Verwickelungen eintreten, in-
folge deren der deutsche Bund, selbst wenn er trotz seiner NichtVerpflichtung
helfen wollte, dies nicht könnte. Für diesen Fall ist ein souveränes Schleswig-
Holstein zu besonderen Knegsanstrengungen zu Lande und zu Wasser genöthigt.
Nehmen wir nur die Erfahrungen der Jahre 1848 und folgende. Der Aufwand für
das Kriegswesen betrug 1848: 8.937,100 Mrk. Cre.; 1849: 18,180.780 Mrk. Cre.;
18S0: 14,920,431 Mrk. Cre. Rechnet man diese Summen zusammen und zieht
daraus das Mittel, so erhält man rund 14,000.000 Mrk. Cre. oder S.778,900 Thlr.
oder 10.413.07S si. pro Jahr. Das ist ein Kriegsbudget gerade 4mal so groß
als das IV2 großh. hessische, 2V-- mal so groß als das k. sächsische oder würten-
bergische. 2>mal so groß als das hannoversche. Die Schleswig-holsteinsche Armee
zahlte am 1. Jan. 1860 34.318 Mann Fußvolk. 2996 Mann Reiterei. 4054 Mann
Artillerie und 446 Mann Genie, zusammen 41,814 Mann mit im Ganzen
4984 Pferden, eine Stärke, welche der Sollstärke des ganzen 9. Armeecorps
des deutschen Bundes (Königr. Sachsen, Kurhessen, Nassau und Luxemburg-
Limburg) — 42,110 M. entspricht. Daß ein souveränes Schleswig-Holstein,
wie schon erwähnt wurde, auf bedeutende Anstrengungen auch zur See ange.
wiesen ist, da es ohne Seemacht sich gegen das seemächtige Dänemark nicht
zu schützen vermag, geht ebenfalls aus den Erfahrungen der Jahre 1848—50
hervor, während welcher Schleswig-Holstein durchschnittlich eine Summe von
c. 500,000 Mrk. Cre. jährlich auf die Marine verwandte. Nach diesem gehen
wir auf keinen Fall fehl, wenn wir ein Mittel zwischen unserm ersten Satze
(IV» großh. Hess. Kriegsbudget) und dem Durchschnittssatz aus den Jahren
1848—50 für das Schleswig-holsteinische Kriegsbudget nehmen mit, rund ange¬
geben. 7 Mill. Gulden oder 4 Mill. Thaler.
Hiermit sind aber die Ausgabesummen nicht vollständig erschöpft, es kommt
noch hinzu die Verzinsung der Schuld der Herzogthümer. Die Schuld
beträgt:
Diese Schuld*) zu verzinsen, rechnen wir nur 4"/<„ und so ergiebt sich zu
obigen Ausgabesummen noch ein Betrog von 2.800.000 Thlr. oder 4.900,000 si.,
und wir können nunmehr das zu erwartende Gesammtbudgct des souveränen
Staates Schleswig-Holstein zusammenstellen: in Thaler und Gulden und runde
Summen.
Mit dieser Summe gelangen wir etwa aus den Ausgabenstand des König¬
reichs Sachsen; auf den Kopf der Bevölkerung der Herzogthümer würde damit
aber eine weitaus größere Summe fallen, als auf den Kopf der sächsischen Be¬
völkerung. Während diese (1861: 2,223.240 Einw.) mit 5.» Thlr. per Kopf
an den Ausgaben bisher theilnahm, würde in Schleswig-Holstein nach der
oben angegebenen Berechnung der Bevölkerung der Kopf mit 12,^ Thlr. belastet,
ein Verhältniß, welches unter den deutschen Staaten bis 1864 und zwar den
') Die besondere Schuld der Herzogthümer aus den Jahre» 1848—1850 wird vou der
Kiel. Ztg. wie folgt berechnet:
Der hier als unverzinsliche Anleihe bezeichnete Theil der 1848er Schuld ist von uns
als verzinslicher berechnet worden. Wenn auch die Bezeichnung als unverzinsliche richtig sein
sollte, so glauben wir doch nicht, daß bei den großen Verlusten, welche die Inhaber der be¬
treffenden Werthpapiere erlitten haben, die Unvcrzinslichkeit aufrecht erhalte» werden kann.
monarchischen nur von Anhalt mit 17 Thlr. per Kopf und den Freistädter
Hamburg, Bremen und Frankfurt übertroffen wurde, während selbst Oest¬
reich mit 9 Thlr. und Preußen mit 7,g Thlr. per Kopf reichlich unter jenem
Verhältniß bleiben. Von den andern europäischen Staaten gehen zwar Frank¬
reich mit 16,g Thlr., Großbritannien mit 15,z Thlr. und die bekanntlich eben¬
falls sehr hoch besteuerten Niederlande mit 13,4 Thlr. per Kopf über jenes Ver¬
hältniß hinaus, dagegen bleiben Spanien mit 10,«. Belgien mit 8,«, Dänemark
mit nicht ganz 6 Thlr. per Kopf Ausgaben wieder dahinter zurück. Ganz be¬
sonders stark drückt dabei die Schuldenlast auf die Herzogthümer; in diesem
Betreff ergiebt eine Vergleichung mit einer Anzahl andrer Staaten nach einer
amtlichen Berechnung des Ministeriums des Auswärtigen in London folgende
Reihe:
Ueber die Schuldenlast Schleswig-Holsteins gehen hinaus: Großbritannien
und Irland mit über 187 Thlr. xro Kopf Staatsschulden; die Niederlande
mit über 137 Thlr. pro Kopf; Frankreich (1863) mit über 93 Thlr. pro Kopf.
Gleich stehen etwa Schleswig-Holstein nur die Vereinigten Staaten
von Nordamerika, letztere im Finanzjahre 1864/65 mit über 74 Thlr.
pro Kopf. Darnach folgen Oestreich (1862) mit 44 Thlr., Italien (1862) mit
38 Thlr.. Dänemark (18Z5) mit (48,3 Rcichsthlr) 36 Thlr. 23V» Sgr., Rußland
mit 24 Thlr., Preußen (1863) mit 14—18 Thlr. Von den deutschen Staaten
insbesondere überschreiten nur die freien Städte das Staatsschuldverhältniß
Schleswig-Holsteins, wobei aber in Anrechnung zu bringen ist, daß ihre Schuld
zum guten Theil in productiver Eisenbahnschuld besteht, von den übrigen Staaten
nähert sich nur Anhalt mit c. 49 Thlr. pro Kopf in bedeutendster Weise dem
Satze Schleswig-Holsteins, die übrigen alle bleiben weit unter demselben.
Es erübrigt uns noch mit diesem Stand der Dinge, in Bezug auf die
Ausgaben und Lasten eines souveränen Schleswig-Holstein den Einnahmestand
der Herzogthümer seit ihrer Befreiung von der dänischen Herrschaft zu vergleichen.
Während die Ausgaben also nach den Budgets der provisorischen Verwaltung
mit 10,934,224 Mrk. Cre. oder 4.313,413 Thlr. oder 7.897.316 si. beziffert
waren, betrugen die Einnahmen 15,988,248 Mrk. Cre. oder 6.599,393 Thlr.
oder 11,549,289 si. und lieferten daher einen Ueberschuß von 5,054,024 Mrk. Cre.
oder 2,086,180 Thlr. oder 3.651,973 si. über die Ausgaben. Dieser Ueberschuß
reicht indeß bei Weitem nicht aus, den Ueberschuß der Ausgaben eines fertig
constituirten Staates über die bisherigen Ausgaben der intermistischen Ver¬
waltung zu decken. Zwar rechnet eine andere uns vorliegende Aufstellung zu
dem oben benannten Ueberschusse noch extraordinäre, nicht wiederkehrende Aus¬
gaben für Holstein 740,750 Mrk. Cre. und für Schleswig 1,300,000 Mrk. Cre.
hinzu, die wir in unseren Budgetquellen nicht finden, allein sie bringt auch
sofort wieder einen 1,600,000 Mrk. Cre., betragenden durch den wahrscheinlichen
Eintritt der Elbherzogthümer in den deutschen Zollverein zu erwartenden Ausfall
in den Einnahmen in Abrechnung, so daß sich der Ueberschuß dieser Aufstellung
mit unserem Ueberschuß bis auf einige hunderttausend Mark schließlich deckt.
Dieser letztere aber wiederum deckt nicht ein Dritttheil der nothwendigen Mehr¬
ausgaben von 7.314,285 Thlr. oder 12.800.000 si.. wie sie sich aus der auf
Seite 12 befindlichen Aufstellung berechnen. Nehmen wir die 1864/65 erzielten
Einnahmen als maßgebend für die bisherigen Lasten der Herzogthümer. so er¬
halten wir bei Vertheilung auf die Bevölkerung genau 6,9g xro Kopf, ein
Satz, der etwa mit dem von Baden, Großherzogthum Hessen, Kurhessen,
Nassau. Schwarzburg, Rudolstadt stimmt, der aber in einem souveränen Schleswig-
Holstein, wie wir oben sahen um ein Geringes weniger als das Doppelte,
auf 12,4 gesteigert werden muß.
So steht es also um die Lasten eines zukünftigen souveränen Staates der
Elbherzogthümer. Betrachten wir nun noch, welche Lasten ein halbsvuveränes
Schleswig-Holstein zu tragen haben wird, und nehmen wir dazu als Muster ein
Schleswig-Holstein mit eignem Landesherrn. aber so wie es sich nach den preu¬
ßischen Forderungen vom 22. Februar 1866 gestalten würde. Diese Forde¬
rungen stellen bekanntlich eine Verschmelzung des Heeres und der Flotte einer¬
seits und der Post und des Telegraphcnwesens andrerseits mit denen Preußens
auf und fordern die Abtretung gewisser Gebietstheile. Die Verschmelzung des
Heeres und der Flotte würde sicher die finanzielle Folge haben, daß die Her¬
zogthümer auf den Satz der Ausgaben für das Kriegswesen zurückkämen, der
in Preußen auf den Kopf fällt und nach dem regelmäßigen Kriegsbudget (Land¬
heer und Flotte ineinandergerechnct) des Voranschlages für das Jahr 1864
2^ Thlr. beträgt. Dieser Satz aber ergiebt für Schleswig-Holstein ein Jahres¬
budget von 2.127.186 Thlr. oder 3.722.S74 si. und steht um fast 2 Millionen
Thlr. oder 3V-- Mill. si. unter den wahrscheinlichen Kriegsausgaben eines sou¬
veränen Schleswig-Holstein. Ferner wird, wenn wir auch die Ersparnisse in¬
folge einer Verschmelzung der Post und des Telegraphenwesens als unbedeu¬
tend nicht in Anrechnung bringen, eine bedeutende Verminderung der Schulden¬
last durch die Abtretung von Gebietsteilen zur Anlegung von Kriegshafen
und des Nord-Ostseekanals in Preußen erzielt werden und endlich die Folge
des ganzen Verhältnisses auch eine Uebertragung der auswärtigen Vertretung an
Preußen sein, welche weitere nicht unbedeutende Summen ersparen lassen würde.
Da sich die für Abtretung von Gebietstheilen zu zahlenden Summen nicht im
Voraus berechnen lassen, so bleibt uns hier nichts als eine reine Wahrschein¬
lichkeitsrechnung übrig, die zu festen Anhaltspunkten nur das Minder der
Kriegsausgaben mit 3,277,426 si. und den Wegfall der Kosten der auswär¬
tigen Vertretung mit 200,000 si. im Ganzen gegen 3'/- Mill. si. oder 2 Mill.
Thlr. hat. Wenn nun aber etwa Preußen gegen die Abtretung Schleswig-holsteinischer
Gebietstheile und des Herzogtums Lauenburz seine Kriegskostenrechnung striche,
so würde das eine Erleichterung der Zinsenlast um nahezu 900,000 Thlr. sein.
Rechnen wir nunmehr für alle Ersparnisse zusammen, auch die noch nicht an¬
geschlagenen im Post- und Telegraphenwesen mit eingerechnet, 3 Mill. Thlr., so
gelangen wir zu einem Budget von nur 9 Mill. Thlr. und einer Last auf den
Kopf von etwa 9^2 Thlr. Das Verhältniß würde noch unter dem Hannovers
mit 10,g und Lübecks mit 10,2 bleiben.
Das hier gezeichnete Verhältniß eines souveränen Schleswig-Holsteins ist
aber bereits nicht ohne Analogie in Deutschland. Das Fürstenthum Waldeck
hat durch eine Militärcvnvcntion seine Kriegsmacht mit der preußischen ver¬
bunden, seine auswärtige Vertretung ganz Preußen übertragen, preußische Post¬
Verwaltung, findet seine letzte Gerichtsinstanz im Obertribunal zu Berlin und
bildet der Obcrcvntrole wegen einen Theil einer preußischen Steuerprovinz-
Doch wollen wir auch noch den Fall erwägen, daß Schleswig-Holstein zwar ein
halbsouvcräner Staat, aber nicht nach den Forderungen Preußens vom 22. Fe¬
bruar 1865, sondern nur durch eine Militär- und Flottenconvcntion mit Preußen
verbunden wäre. In diesem Falle würde das oben aufgestellte Budget
wesentlich maßgebend bleiben und vielleicht nur das Kriegsbudget um einen,
doch schwerlich bedeutenden Betrag, vermindert erscheinen.
Das Gesammtcrgebniß unserer Untersuchung ist in materieller Hinsicht kein
günstiges für die Errichtung eines souveränen Staates Schleswig-Holstein.
Von der geringeren Kostspieligkeit eines solchen läßt sich kein Beweismittel gegen
einen engern Anschluß an Preußen hernehmen. Ob ein solcher aus andern
Gründen zu empfehlen, ist nicht Aufgabe dieser Untersuchung; wir wünschen
am Schluß derselben nur, daß sie zu einer allseitigen und gründlichen Erwä¬
gung der besten Lösung der Schleswig - holsteinischen Frage das Ihrige bei¬
Zwei Abhandlungen dieser Sammlung beschäftigen sich mit Peter v. Cor¬
nelius, seinen Cartons und der Stellung, die Berlin zu den Werken des .Künst¬
lers eingenommen hat, eine dritte charakterisirt den amerikanischen Philosophen
Emerson oder giebt vielmehr den Eindruck wieder, den dieser eigen geartete Geist
und seine Auffcissung von Welt und Menschen auf den Verfasser gemacht haben.
Andere Essays behandeln Raphaels Disputa, seine Sonette und seine Geliebte,
den Verfall der Kunst in Italien, Alexander v. Humboldt, Varnhagens Tage¬
bücher, die Akademie der Künste und das Verhältniß der Künstler zum Staate
(ein Aufsatz, in welchem der Nachweis geführt wird, daß es auf ein Mißver¬
ständniß hinausläuft, wenn man auf Akademien Künstler zu bilden meint, wie
auf Universitäten Aerzte und Juristen), Goethe in Italien (wohl das Beste,
was der Verfasser hier bietet, und begreiflicherweise, da in ihm ein mit jenem
Triebe, der Goethe nach Italien führte, verwandtes Empfinden lebt), endlich
Dante und die letzten Kämpfe in Italien, wo Grimm Wildes Meinung wider¬
legt, nach welcher Dante ein Gegner der politischen Richtung gewesen wäre, die
jetzt in Italien zum Ziele ihrer Bestrebungen zu gelangen im Begriff ist. Bei
den meisten dieser Arbeiten kann man mit den Resultaten, zu denen der Ver¬
sasser kommt, einverstanden sein, so namentlich mit der Klage über die Ver¬
nachlässigung, welche in Berlin die corneliusschen Cartons erfahren. Bei allen
erfreut ein für das Lichte, Hohe und Schöne lebhaft empfindendes Gemüth und
eine edle Sprache voll Anmuth und Wohlklang, voll Ruhe und Klarheit, ein
Stil, den man als.einen sonnigen bezeichnen kann, und in dem die betreffenden
Gegenstände wie Bilder auf Goldgrund erscheinen. Bisweilen freilich vermißt
man in der Stimmung, aus der dieser Stil hervorgeht, die kritische Begabung,
und es scheint, als tauche der Verfasser seine Feder mehr, als erlaubt, in Liebe
und Bewunderung. Seine Bilder ermangeln dann der Schatten, seine Urtheile
der Objectivität, es ist ein lyrischer Zug darin. Wir erfahren mehr von dem
warmen Wohlgefallen, welches die Gegenstände dem zu uns Redenden einflö߬
ten, als von den Gegenständen, wie sie an und für sich sind. Solche Stellen
sind nicht gerade sehr häufig, und selbst da, wo wir ihnen begegnen, kommt es
nicht leicht zu völlig irriger Auffassung, da ein so feiner Kopf und ein so ge¬
bildeter Geschmack wie der des Verfassers dieser Essays selten fehlgreift. Aber
der rein beschauliche Ton. das starke Vorwiegen der Bewunderung giebt dein
Ganzen etwas Weiches und Weibliches, und wenn man das Buch weglegt,
bleibt von den Gegenständen, die es bespricht, mehr die Erinnerung eines
Genusses als ein festes reales Bild zurück. Es wird auch solche Naturen geben
müssen, und man kann sie in ihrer vornehmen Weise beneiden, aber die Wahr¬
heit verlangt, um erkannt und dargestellt zu werden, doch mehr als diese edle
Einseitigkeit.
Ein wenig zu burschikos und zu binnen- und bilderreich für die Sprache
der Kritik, aber im Ganzen von gesundem Urtheil und gutem Geschmack. Einen
Ton tiefer gestimmt etwa, würden die meisten seiner Charakteristiken der deut¬
schen Lyriker von 1848 bis heute mit dem übcreintrcffcn, was wir über diese
Poeten zu sagen hätten. Wilhelm Hertz würde» wir höher stellen als er, seine
Meinung über die Münchner Schule unterschreiben wir, Gustav Kühnes und
Arnold Schloenbachs zu erwähnen würden wir unterlassen haben.
Der Geschmack, der sich in der Einleitung äußert, ist ein sehr toleranter
und weitherziger, das Urtheil unsicher und unselbständig. Unter den 144 deut¬
schen Lyrikern, von denen die Blumenlese Gedichte mittheilt, befinden sich eine
nicht geringe Anzahl, die, wenn das, was hier doch wohl als ihre beste Leistung
abgedruckt ist, besser nicht von den Todten erweckt worden wären. Man ver¬
gleiche z. B. die Gedichte von Julie Burow, Albert Traeger, Ferdinand Stolle,
Marie Clausniher. W. Constant (v. Wurzbach), Adolf Peters. Theodor Apel.
die doch kaum ein Anrecht haben, über die engsten Kreise hinaus bekannt zu sein.
Oder war es dem Sammler etwa darum zu thun, von allem, was seit fünf¬
zehn Jahren als lyrische Dichtung gedruckt worden, eine Probe zu geben?
Sonette, Oden meist in classischen Versmaßen, alcäische, sapphische Stro¬
phen, Distichen u. s. w. so rein und schön, wie Pisten sie je gemacht hat.
Der Inhalt meist schwermüthige Gedanken und Empfindungen, Seufzen und
Sehnen empor aus dieser nichtigen gemeinen Welt in die Heimath der idealen
Liebe, aus der Natur hinaus in das hinter derselben Verborgene, wie sich
Schopenhauer ausdrückt, dessen Schüler der Dichter zu sein scheint. Wir be¬
dauern diesen Irrweg und wünschen aufrichtig Anstoß und Kraft zur Umkehr
in gesundes Empfinden; denn diese Gedichte bekunden nicht blos, was hcutzu<
tage eben nichts Ungewöhnliches mehr ist, ein schönes Talent für die Form.
sondern in mehr als einem Beispiel wirkliche poetische Begabung, tiefe Gedanken
und ein warmes wahres Gefühl.
Auch dieser Dichter gehört mit einem Theil seiner Poesien nicht zu den
alltäglichen mit Reminiscenzen aus Heine und Lenau oder Herwegh hantieren¬
den lyrischen Phrasenmachern. Vielfach geht er seinen eignen Weg, und na¬
mentlich seine poetische» Erzählungen zeigen schöne Begabung. Seine Menschen
haben Fleisch und Blut, seine Naturschilderung ist originell, vortrefflich giebt
er oft Farbe und Stimmung wieder. Dagegen sind die lyrischen Versuche der
Sammlung meist nur mittelmäßig gelungen, es mangelt an echtem Schwung,
und die rhetorische Kunstblume muß häusig die aus natürlicher Empfindung
aufblühende ersetzen.
Witiko ist ein junger böhmischer Ritter, der im Jahre 1138, um sein
Glück zu machen, aus dem Böhmerwald an den Hof des Herzogs Sobeslaw
zieht, sich hier durch Tüchtigkeit empfiehlt, dem Herzog, als derselbe am Sterben
ist, durch Erkundung der Beschlüsse der in'Prag zusammengetretenen Adclsvcr-
sammlung über die Wahl des Nachfolgers einen werthvollen Dienst leistet und
dann sich im Kampfe an der Seile des neuen Herzogs Wladislaw, gegen den
sich ein Theil des Adels erhoben, durch Umsicht und Tapferkeit neue Verdienste
erwirbt. Wir haben also hier den Versuch eines historischen Romans vor uns,
und zwar hat sich der Verfasser, wenn wir nicht irren, dabei Scheffels „Ekke-
hard" zum Muster genommen und seiner Arbeit umfassende Studien der alt-
böhmischen Kulturgeschichte zu Grunde gelegt, die ihn das Colont der Zeit bis
in die kleinste» Details schildern lassen. Darin liegt aber auch der Hauptwerk
dieser Erzählung, so weit sie bis jetzt geführt ist, und ein Bild von der Lebens¬
weise, den Sitten und der Denkart der Böhmen im zwölften Jahrhundert zu
geben war wohl auch der Hauptzweck des Verfassers. Viele der auftretenden
Personen sind offenbar nur zu diesem Ende da, ebenso Viele von den Aus¬
flügen, die der Held des Romans in der Zeit unternimmt, wo er dicnstlos
auf seinem väterlichen Hofe lebt. Die Charaktere sind, wie immer bei Stifter,
trotz des großen Aufwands von äußerlichen Zügen, die uns von ihnen mit¬
getheilt werden, nicht viel mehr als Schemen. Der Gang der Entwickelung
ist schleppend, die Erlaubniß zu epischer Breite bis zur Ermüdung ausgebeutet.
Mehr als ein halb Dutzend Mal wird, um nur Eins anzuführen, ausführlich
berichtet, wie und warum Witiko für sein graues Pferd sorgt. Bis ins Kleinste
werden die Anzüge der Lenden und Zupanc ausgemalt. Ihre Gespräche sind
dagegen meist ziemlich inhaltlos, und das, was sie innerlich sind, hervortreten
ZU lassen, ist der Verfasser nur hin und wieder im Stande. Recht gut sind die
Naturschilderungen, auch die Schlacht am Berge Wysocka am Schluß des Ban¬
des ist lebendig und anschaulich beschrieben. Der Held selbst dagegen ist ein
recht wackrer, gewissenhafter und verständiger Mensch, aber uns recht erwärmen
für ihn, an seinem Geschick theilnehmen können wir nicht, ja wenn wir's offen
gestehen sollen, wir finden ihn wie die Mehrzahl der übrigen Personen eigent¬
lich langweiliger als billig. Wir glauben, er hat ein hölzernes Herz unter
seinem Lederwamms, er ist wohl gar ganz von Holz und nichts anderes als
eine Marionette. So ist unsre Begierde zu erfahren, wie es ihm weiter gehen
wird, nicht sehr stark, und nicht einmal die endliche Wiederanknüpfung der im
ersten Abschnitt begonnenen Liebesgeschichte, von der dann im ganzen Bande
nicht weiter die Rede ist, wie denn die Composition überhaupt große Mängel
hat. läßt uns besonders sehnlich nach sich verlangen. Zum Schluß mag noch
erwähnt werden, daß der Verfasser bisweilen nicht deutsch, sondern östreichisch
schreibt (z. B. S. 279- „Die Geladenen können sich nun in ihre Heimath be¬
geben, und nehmen eine Freude und ein Vergnügen mit auf den Weg", oder
S. 364: „Es wird ein Bischen Abcndkost bei mir bereitet, und wohl auch noch
ein Wein wird vorhanden sein") und daß man nicht, wie S. 222 sagt:
„Sämmtliche Männer trugen keine Waffen", sondern: „Keiner von den Män¬
nern trug Waffen".
Laube ist ein Schriftsteller, der seine Verdienste hat, aber mehr ein Talent
für den Salon als für den Roman und am wenigsten ein Talent für den
historischen Roman. Wer sich darüber noch nicht klar war. der mußte dessen
inne werden, als Laube zuerst mit einer größern Arbeit auf diesem Gebiete
auftrat. Einige wenige Kritiker ausgenommen, war man einig darüber, daß
„Der deutsche Krieg" zwar eine aus guten Studien geschöpfte, sorgfältig und
mit Beachtung aller Regeln der Technik gebaute Leistung war. daß ihm aber
das Beste fehlte, die natürliche Begabung für die Aufgabe, die sich der Verfasser
gestellt hatte. Der Roman ist infolge dessen auch, soweit wir sehen können,
ziemlich spurlos über den Markt gegangen und bald vergessen worden. Dem
„Waldstein", welcher die Fortsetzung bildet, wird es kaum besser ergehen. Wie
dort ein großer Aufwand von Personen, eine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit
von Situationen, geschickte Anlage, allerlei kunstvoll mit einander verschlungene
Intriguen, wie dort aber auch wenig, was fesselt, überall Berechnung, fast
nirgends natürliche Gestaltung, wahres Leben, echtes Colorit und die Stimmung
der Zeit, in welcher der Roman sich bewegt, fast nirgends ein deutliches Her¬
vortreten des Charakters dieser Zeit voll Noth und Gewaltthat. Statt dessen
werden wir in das Spiel der Diplomatie eingeführt, welches mit feiner Feder
gezeichnet ist. aber nur einen untergeordneten Theil dessen bildet, was wir hier
zu verlangen berechtigt sind. Gerade das aber scheint der Verfasser nicht dar¬
stellen zu können.
Der Verfasser setzt sich ein umfassendes Ziel, er will uns am Schicksal
seiner Personen den Charakter der Uebergangsepoche vom Leben für ästhetische
Aufgaben zu politischem Leben, welche unser Volk gegenwärtig durchmacht, dich¬
terisch vergegenwärtigen, und er hat sich dabei offenbar Goethes Wilhelm Meister
zum Muster genommen. Die Absicht war lobenswert!), aber die Kraft, dre der
Verfasser zu ihr mitbrachte, nur mäßig. Herr Wilbrandt erzählt gut, seine
Sprache ist sorgfältig gewählt, seine Helden wissen in ihren Gesprächen gebildet
und selbst geistvoll zu sprechen, das Ganze aber läßt uns kalt. Es fehlt an
'Wärme und Leidenschaft, allenthalben tritt hervor, daß der Verfasser mehr re-
flectirt als schöpferisch thätig ist, die Personen ermangeln der plastischen Greif¬
barkeit, wir glauben nicht recht an sie, und da uns dieser Mangel nicht durch
andere Vorzüge ersetzt wird, langweilen wir uns und bedauern, daß das Wissen
und die Gesinnung, welche der Verfasser bekundet, nicht zu einer seinem Wesen
angemesseneren Arbeit verwendet worden sind.
Die beste von diesen fünf Novellen möchte „Des unseligen Jakob seliges
Ende" sein. Der ziemlich fruchtbare Verfasser ist in seiner Art zu schreiben
und in seinem Geschmack eine Mischung von Clemens Brentano und Hoffmann,
Romantiker mit einer humoristischen Aber und zugleich mit Vorliebe für das
Groteske, Wilde, Grauenhafte und Phantastische in der natürlichen und geistigen
Welt. Mit einer gewissen Virtuosität weiß er oft die rechte Stimmung zu
treffen, und wir würden ihn zu den bessern Schriftstellern dieser Richtung zählen,
wenn er sich mehr auf das Maß zu halten verstände.
Ein hübsches Erzählertalent, das keine großen Ansprüche auf Originalität
Macht und auch nicht gerade viel mit dem Humor zu thun hat, von dem man
aber immerhin ein paar Novellen lesen kann, ohne sich zu langweilen. Am
besten gelingen ihm Neinstädtische Geschichten und Charaktere. Bisweilen mischen
sich politische Tendenzen liberaler Art ein, wie in „Fräulein Emma", wo der
Humor darin liegt, daß ein harmloser Schauspieler von einem kleinstädtischen
Polizeigenie durchaus zu einem gräflichen Hochverräther gestempelt wird.
Anekdoten aus der Rococozeit, deren Ton und Wesen recht gut wieder-
gegeben ist. Besonders hübsch ist die Geschichte vom weimarischen Hofkoch
de Goullon, dem Verfasser eines Kochbuchs, für dessen Herausgabe sich Goethe
interessirte.
Byron muß man im Original lesen, wenn man ihn ganz genießen will.
So sagte man sich bisher bei einem Vergleich der Werke des Dichters mit den
vorhandenen Übertragungen, namentlich mit den Böttgerschen, und vorzüglich
wenn man die lyrischen und epischen Poesien ins Auge faßte. Es schien bei
dem Charakter der englischen Sprache nicht leicht, uns den Dichter in diesen
Stücken viel näher zu bringen. Gildemeister hat dies geleistet. Feines Ver¬
ständniß beider Sprachen, Eingelebtheit in das Empfinden und Denken des
großen britischen Poeten, Beherrschung des Deutschen in vollkommenster Weise,
ein Ohr für Witz und Wohlklang, ein reicher Wortschatz, um alle Schönheiten
seines Gegenstandes, Stimmung, Farbe, Schwung und Gluth, Kraft und
Weichheit wiederzugeben, befähigten ihn, uns Byron in einer Weise zu ver¬
deutschen, die in der großen Mehrzahl der von ihm übersetzten Gedichte bis an
die Grenze des Möglichen geht und seine Arbeit als Ganzes den besten Leistungen
deutscher Uebcrsetzerkunst anreiht. Nur in wenigen Fällen scheint Böttger oder
Hilscher (der überhaupt überschätzt worden ist) an' einer Stelle mehr Glück im
Copiren gehabt zu haben. Bei Weitem in den meisten halten die Vorgänger
keinen Vergleich mit dem neuen Uebersetzer aus. Auch daß derselbe uns hier
nicht alles, was Byron gedichtet hat, darbietet, indem er Unreifes, Mittel¬
mäßiges und Ephemeres wegläßt, ist durchaus zu billigen. Selbst die Weg-
lassung mehrer Dramen, wie „Werner", „Marino Fallen", „die beiden Fvs-
cari" und „der umgestaltete Mißgestaltete" finden wir gerechtfertigt; sie gehören
eben auch nicht zu den Schöpfungen des Dichters, auf die Macaulays Aus¬
spruch Anwendung leidet, nach welchem „selbst bei sorgfältigster Prüfung noch immer
vieles von Lord Byrons Poesien übrigbleiben wird, was nur mit der englischen
Sprache selbst vergehen kann". Die bisher erschienenen vier Bände bringen
die poetischen Erzählungen vollständig, dann den „Ritter Harold", die Mehr¬
zahl der lyrischen Gedichte Byrons und die vier Dramen „Manfred", „Kain",
„Himmel und Erde" und „Sardanapal".
Ein dänisches Seitenstück zu Tegners Frithiofssage, in vortreffliche deutsche
Verse übertragen, aber an innerem Werth dem schwedischen Romanzencyklus
nicht gleich, wie denn die Zeit überhaupt vorbei ist, wo man auch in Deutsch¬
land in Oehlschläger den „nordischen Goethe" sah.
Enthält „Die Knegsgcfangncn". „Die Zwillinge" und den „Hausgeist"
und zeigt dieselben Vorzüge, die wir den drei Stücken des ersten Bandes nach¬
zurühmen hatten.
Die neue Auflage, von der Verlagshandlung elegant ausgestattet, ist ihrem
Inhalt nach theils passender geordnet, theils wesentlich bereichert, letzteres zu.
nächst durch Einfügung verschiedener bisher in Zeitschriften zerstreuter oder noch
völlig ungedruckter Gedichte, dann durch Ausfüllung von Lücken in den Ban¬
den, welche das Leben und die Correspondenz des Dichters enthalten. Zu
letztgenanntem Zweck war dem Bearbeiter dieses Theils der neuen Auflage ein
reiches Material, namentlich in dem Nachlaß Chamissos dargeboten, und so
geben die betreffenden Bände hier einen beträchtlich vollständigeren Ueberblick
über das Leben des Dichters als in der früheren Gestalt.
Neue culturhistorische Bilder aus der Schweiz von Eduard Osenbrüggen. Leipzig,
Verlag der Noßbergschen Buchhandlung. 209 S. 8.
Mit vielem Interesse lasen wir s. Z. die erste Sammlung dieser Bilder,
namentlich das, was der Verfasser darin von noch lebenden Rechtsalterthümern
in der Urschweiz mittheilte, und mit nicht geringerem Interesse folgen wir ihm
hier, wo er uns weiter, durch das Wäggithal, nach Schwyz und dann nach
Gersau, nach dem Seelisberg, Uri, Luzern und zuletzt nach Solothurn führt.
Recht anmuthig sind seine Schilderungen von den Landschaften, die er im Lichte
vergnügter Ferienlaune durchstreift, und noch lieber begleiten wir ihn, wo er
uns, vom großen Touristenwcg abbiegend, mit der Sitte und Denkweise des
Volkes bekannt macht, mit dem er sich gern in Gespräch einläßt, und von
dessen Leben er manches charakteristische Bild für seine Mappe gewinnt. Ganz
besonders werthvoll aber sind auch hier wieder die Mittheilungen, die er uns
von dem Rechts- und Verfassungslcben der Bergcantone macht. Wir treffen
,
darunter Einrichtungen und Zustände, die, mit den verwandten Dingen in den
übrigen Kantonen verglichen, wie Einrichtungen und Zustande einer anderen,
zweihundert Jahre jüngeren Welt erscheinen, Ueberlieferungen, um die man die,
welche sie Pflegen, beneiden kann, aber auch Anachronismen, die seltsam ab¬
stechen von dem Namen der freien Schweiz und dem Ruhme raschen Fortschritts
zu humanen Leben, welcher ihr von vielen in Bausch und Bogen gespen¬
det wird.
Die Culturströmung, die in jeden Winkel Europas hineinspült, wird in
wenigen Jahren solchen Alterthümern auch hier ein Ende gemacht haben, und
so ist es verdienstlich, zu sammeln, was im fünften und sechsten Decennium des
neunzehnten Jahrhunderts hier noch lebt und noch möglich ist.
Das Jnteressanteste, was unser Sammler entdeckt hat, ist unstreitig seine
Schilderung der socialen und politischen Eigenthümlichkeiten des Cantons Uri,
aus denen wir im Folgenden das Wichtigste mittheilen.
Wer in Uri einfährt, überzeugt sich sogleich, daß er in das Land der
Ordnung gekommen ist; denn alles rasche Reiten und Fahren durch die Flecken
und Dörfer ist durch Warnungstafeln bei Strafe verboten, ganz ebenso wie in
einem deutschen Kleinstaat. Für die Ordnung spricht ferner, daß das Ländchen
reichlich mit Beamten versehen ist. was namentlich von der Verwaltungssphäre
gilt. Dies hat dann ein starkes Titclwesen im Gefolge, worin die Schweiz
überhaupt der großen Schwesterrepublik in Amerika gleicht, nur daß unter den
Aankees die militärischen Titel (schon vor dem letzten Kriege beiläufig) über¬
wiegen. Angenehm berührt dabei, daß in Uri nicht wie sonst vielfach in der
Schweiz jeder Vorsteher einer Behörde, sei sie auch noch so wenig bedeutend,
Herr Präsident titulirt wird, sondern mit guter altdeutscher Bezeichnung Land¬
amman, Schultheß u. s. w. heißt. Wunderlich dagegen klingt es, wenn hier
die Aerzte „Herr Excellenz" genannt werden, was vermuthlich aus Italien
stammt.
Fällt die Zahl von Behörden und Beamten auf, so giebt es doch kein
Schreibstubenrcgiment im Canton. Davor schützt schon die Bestimmung der
Verfassung, nach welcher niemandem ein Amt auf Lebenszeit übertragen werden
kann. Die Aemter geben zwar Ehre, sind aber der Mehrzahl nach Lasten, die
jeder nach dem Grundsatz zu übernehmen hat, daß jeder Bürger wie zur Ver¬
theidigung auch zur Verwaltung des Vaterlandes verpflichtet ist, sofern er dazu
Befähigung hat. Gegenüber der Aemterjagd in manchen andern Ländern nimmt
es sich daher eigen aus, daß Uri ein Gesetz (aus dem Jahre 1851) über den
Amtszwang hat. Nach demselben ist jeder Wahlfähige genöthigt, jedes Amt,
welches ihm durch Volkswahl oder von dem Landrathe oder den Bezirksräthen
übertragen wird, anzunehmen; erst das zurückgelegte fünfundsechzigste Lebens¬
jahr befreit von diesem Zwange. Wer sich einem Amte, daS er übernehmen
verpflichtet ist, beharrlich entzieht, macht sich des Vergehens der Amtsverwei¬
gerung schuldig und hat für die Dauer der betreffenden Beamtung entweder
den Canton zu verlassen oder eine suae von 200 bis 1000 Fransen zu be¬
zahlen. Weigert er sich ferner, so wird er für die erwähnte Zeit in der Nutz¬
nießung des Gemeingutes den Hintersassen gleichgestellt. Die Dauer der Be¬
amtenstellungen ist verschieden: der Negiemngsrath hat seinen Posten vier,
andere Beamten haben den ihrigen zwei oder ein Jahr lang zu versehen.
Die Gehalte der Beamten sind äußerst unbedeutend, der höchste derselben,
der regierende Landamman bezieht jährlich nicht mehr als vierhundert Franken.
Aehnliches findet sich auch in anderen Cantonen. Vor dreißig oder vierzig
Jahren war der Landamman von Zug zugleich Aufzieher der Stadtuhren. Ja
viele Beamte erhalten gar keine Gage, sondern nur mäßige Tagegelder. Als
daher ein Bürger von Buochs sechs Jahre hindurch als unbesoldeter Rathsherr
von Nidwalden fungirt hatte, verbat er sich an der letzten Landesgemeinde die
Wiederwahl folgendermaßen: „Liebe Landsleute, wenn einer sechs Jahre Raths¬
herr und dabei kein Verschwender gewesen ist und alles ordentlich zusammen¬
gehalten hat, so hat er hoffentlich so viel erübrigt, daß er fortan ohne dieses
Amt leben kann, und so verzichte ich auf diese Stelle."
Wieder zu verwundern hat man sich bei dieser kargen Besoldung der Aemter
in Uri, daß es dort neben dem Amtszwang in einem Artikel des Landbuchs
eine Bestimmung giebt, welche Bestechungen bei der Bewerbung um Aemter
untersagt. „Keiner soll." so heißt es da, „in unserm Land um Aemter oder
Botheyen (Gesandtschaften) prakticiercn, und wer hierum selbst oder durch an¬
dere prakticierte, Mieth oder Gaben geben, verdenken oder versprechen würde,
sei es vor oder nach vergebenen Amt, der soll um 100 si. gestraft und des
Amtes entsetzt werden, und so einer hierin gar zu weit ginge, mag ein Lands¬
rath ihn nach Umständen noch ferner strafen." Diese alte Bestimmung ist 1846
durch eine Verordnung wieder eingeschärft worden, die uns eine sonderbare, nur
aus den einfachen Verhältnissen der Bevölkerung erklärliche Form des „Prakti-
cierens" zeigt, indem es in ihr heißt, das bisher üblich gewesene Tabaksaus¬
theilen sei von jetzt an nur dem Bewerber um ein erledigtes Amt selbst und
höchstens noch einem aus der nächsten Verwandtschaft gestattet. Als Mißbräuche
werden verboten: das Anstellen mehrer Personen zur Vertheilung von Tabak
im Namen des Candidaten, die Bildung von Gesellschaften zu gemeinschaftlicher
Bewerbung um ein Amt, Versprechungen von Gaben auf Schießständen und
Trinkgelagen oder freie Zechen in Wirthshäusern.
Der Canton ist in zwei Bezirke und diese wieder sind in politische Ge¬
meinden getheilt. Die Bezirke sind Uri und Ursern. jenes mit dem Hauptort
Altorf. dieses mit dem Hauptort Andermatt. Altorf ist zugleich der Sitz sämmt¬
licher Cantonsbehörden. Der Bezirk Uri hat 16 politische Gemeinden, der
Bezirk Ursern nur eine, die vier Dorfschaften, darunter Zumdorf, die kleinste
Dorfgemeinde der Schweiz, umfaßt. Urscru ist zwar mit Uri zu einer politischen
Einheit verbunden, sucht sich aber so viel Selbständigkeit als möglich zu wahren
und fügt sich nur ungern den Herren in Altorf. Ja früher maßte sich der
Bezirksrath in Andermatt, zum nicht geringen Verdruß dieser Herren auch wohl
in seinen Ausfertigungen das Prädicat „hohe Regierung" oder „hoher Thal-
rath" an, was dann Zurechtweisungen und 18S1 die Androhung einer Ord¬
nungsstrafe für Wiederholungsfalle zur Folge hatte.
Die 18S0 revidirte Verfassung von Uri enthält in ihren allgemeinen Bestim¬
mungen folgende das Staatswesen des Cantons besonders charakterisirende Sätze:
„Der schweizerische Canton Uri ist, Bundespflichten vorbehalten, ein sou¬
veräner Freistaat mit rein demokratischer Verfassung. Die Souveränetät beruht
im Volke, welches dieselbe unmittelbar in seinen verfassungsmäßigen Versamm¬
lungen durch Stimmenmehrheit ausübt. Das Volk giebt sich in diesen unmittel¬
bar selbst Verfassung und Gesetze."
„Die Religion des Cantons ist die christlich-römisch-katholische. Die
Ausübung des Gottesdienstes anderer anerkannter christlicher Konfessionen ist
jedoch frei."
„Alle Cantonsbürger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte. Es giebt keine
Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte, weder des Orts, der Geburt noch der
Familien oder Personen. Alle Cantonseinwohncr, welche Schweizerbürger sind,
sind vor dem Gesetze gleich."
„Die persönliche Freiheit eines jeden Cantonseinwohncrs ist gewährleistet.
Niemand kann verhaftet oder im Verhafte behalten werden außer in den vom
Gesetze bestimmten Fällen und auf die vom Gesetze vorgeschriebene Art."
Die oberste gesetzgebende Gewalt Uns ist die Landsgemeinde. Der Land¬
rath hat die Jninative in der Gesetzgebung, so daß alle Gesetzvorschläge von
ihm oder durch ihn und mit seinem Gutachten begleitet an die Landsgemeinde
komme». Die vollziehende Gewalt hat der Regierungsrath. Die ordentliche
Landsgemeinde versammelt sich jedes Jahr am ersten Sonntag im Mai zu
Bözlingen an der Gard, eine kleine Stunde von Altorf unter freiem Himmel.
Außerordentliche Landsgcmeinden werden vom Landrath berufen, und dieser
kaun dazu durch ein „Sicbengeschlechtsbcgehren", d. h. durch wenigstens sieben
„aufrechtstehende" (unbescholtene) Männer aus sieben verschiedenen Familien,
veranlaßt werden. '
Die Formen der Landsgemeinde hat die neueste Zeit zwar mehrfach ver¬
ändert, immer aber hat eine solche Versammlung des Urnervvlks noch die Haupt¬
züge eines derartigen Volksrathcs in altgermanischer Zeit. Von bewaffnetem
Erscheinen der Theilnehmer an derselben, wie in Appenzell, ist nicht mehr die
Rede. Nachdem der Hauptgottcsdienst in Altorf beendet ist, sammeln sich auf
dem dortigen Rathhausplatze die Beamten und die hier wohnenden übrigen
Cautonsbürger zum feierlichen Zuge. Die höheren Beamten erscheinen in
schwarzer Kleidung mit seidnen Mänteln und Degen, die Rathsherren, Land¬
schreiber und- Fürsprecher treffen zu Pferde ein. Um Mittag setzt sich der Zug,
Mußt und die von Militär escortirte Landesfahne voran, in Bewegung. Zwei
Männer in alter Schweizertracht, die große mit Silber beschlagene Büffelhörner
tragen, folgen der Fahne. Daran reihen sich zwei Bediente mit den Land¬
gemeindeprotokollen, dem Landbuch und einem schwarz und gelben Sammet¬
beutel, der die Siegel und die Schlüssel zu den Archiven enthält. Der Groß-
weibcl in einem schwarz und gelben Talar von aller Form trägt den Stab mit
dem Reichsapfel, über welchem noch ein kleiner Apfel von einem Pfeil durch¬
bohrt angebracht ist. Der zweite trägt das mit schwarz und gelben Bändern
umwundene richterliche Schwert. Dann folgen die übrigen Weibel und eine
Anzahl Läufer, alle in den Landessarbcn, hiernach die berittenen Beamten und
zuletzt die Menge des Volkes.
In Bözlingen angelangt, macht man eine Pause, während welcher die
Musik auf dem Hügel über dem Laudsgemeiudcplatz die Melodie des alten
Tellenliedes spielt. Dann nehmen die Regierungsgliedcr, die Geistlichen und
wer sonst noch Raum findet, auf der innersten Bank des aus Balken und
Bretern erbauten Amphitheaters Platz. Der regierende Landammann stellt sich
an den in der Mitte des Kreises stehenden Tisch, ihm folgen der erste Land-
schreiber und zwei Bediente mit Schirmen gegen Sonne und Regen. Auf dem
Tische liegen die Gesetzbücher und Protokolle, der Beutel mit den Siegeln, und
Schlüsseln und Schrcibmaterial, unter demselben die beiden Büffelhörner, durch
welche zuvor das Volk „zum Ring" gerufen worden ist, daneben auf Trommeln
die zusammengewickelte Landesfahne. Die Weibel besteigen eine über dem
„Ring" befindliche Bank, und das Volk stellt sich frei und nach Belieben auf
die Flügel der kreisförmigen Bühne oder plaudert noch außerhalb derselben in
Gruppen, bis der Großweibel mit starker Stimme ruft: „Was Räth' und
Landleut' sind, zwanzig Jahr und. darüber, sollen zusammen am Ring stehen,
und das bei ihrem Eid!" Dieser Eid verpflichtet sie, „das Wohl des Vater¬
lands zu mehren und dessen Schaden zu wenden, zu stimmen und zu han¬
deln". Nun eröffnet der Landammann, der, wenn er redet, immer steht, mit
kurzen Worten die Versammlung und fordert dann auf, Gott um Beistand
und Segen für die Verhandlungen anzurufen, welchem vom Volk entblößten
Hauptes mit fünf Vaterunsern und gleichviclen Ave Maria entsprochen wird.
Sind über einen zur Abstimmung angesetzten Gegenstand verschiedene An¬
sichten geäußert, und hat der Landammann dieselben resunürt, so erfolgt die
Abstimmung, „das Mehreu" so, daß gefragt wird: „Wem also wohlgefällt,
daß--zum Gesetz erhoben sein soll, der hebe die Hand aus", oder: „Wem
da wohlgefällt, daß der Antrag verworfen werden und es beim Alten verbleiben
soll, der hebe da die Hand auf". Ist nach wiederholter Probe das Mehr noch
zweifelhaft, so treten zwei Männer aus dem Ring heraus, reichen sich die
Hände und halten dieselben empor, worauf die Stimmender einer nach dem
andern darunter hindurchgehen müssen, auf welche Weise die Zählung der für
die eine oder die andere Ansicht Votirenden mit Zuverlässigkeit beschafft wer¬
den kann.
Nach Beendigung der Abstimmung giebt der Landammann, auf das richter¬
liche Schwert gelehnt, Rechenschaft von den Geschäften und den politischen Ver¬
hältnissen des verflossenen Jahres und legt dann sein Amt in die Hände des
Volkes nieder, indem er das Schwert zu den Siegeln und Büchern auf dem
Tische deponirt und sich zu den Alt-Landammännern setzt. Hat er den Posten
erst ein Jahr bekleidet, so wird er in der Regel für ein zweites wiedergewählt.
Der Gewählte tritt dann an den Tisch und spricht den vom Landschreiber vor¬
gelesenen Eid nach: „Des Landes Ehre und Nutzen zu fördern, Schande,
Schaden und Laster zu wenden, vorzubringen, was vorzubringen ist, und ein
unparteiischer Richter zu sein und zu richten nach dem Recht, dem Armen wie
dem Reichen, dem Reichen wie dem Armen, dem Fremden wie dem Einheimi¬
schen, und hierum weder Geschenke, Geld noch Geldeswerth zu nehmen, außer
dem gewohnten Lohn, auch hierin nicht zu handeln aus Freundschaft noch
Feindschaft, noch aus andern Beweggründen, sondern allein nach dem Recht.
Alles getreu und ohne Gefährde".
Darauf hält der Landammann seine Antrittsrede und dann läßt er sich
von dem Ring durch den sogenannten Vaterlandscid Gehorsam schwören.
Weiterhin folgt die Berichterstattung des Seckelmeisters über den Zustand der
Finanzen, worauf auch dieser Beamte sein Amt niederlegt, aber auch gewöhn¬
lich wiedergewählt wird. Unter den Verhandlungsgegenständen nehmen die
Wahlen des Landammanns, des Landesstatthalters, des Pannerherrn, Landeshaupt¬
manns, Bauherrn u. s. w. die Hauptstelle ein, und die Betheiligung an diesen
ist sehr allgemein, wogegen sich bei anderen Gegenständen manche Bürger ent¬
fernen oder „die Hände im Sack behalten", d. h. sich der Abstimmung enthalten.
Ueber die Wichtigkeit oder UnWichtigkeit solcher Verhandlungsobjccte hat das
Volk oft seine ganz eigenthümliche Meinung. Ein von dem Verfasser ange¬
führtes Beispiel dafür ist sehr charakteristisch, so daß wir es wörtlich wieder¬
geben.
„Das Landbuch hat in Art. 202 die der jungen Welt sehr lästige Bestim¬
mung: das Tanzen nach neun Uhr Abends wie auch an Sonn- und Feiertagen
und an derselben Vorabenden und an Festtagen wie auch an den Markttagen
ist bei zehn Gulden Buß für jede Person und den Wirth verboten, wovon dem
Angeber der dritte Theil gefolgen soll. Auch ist das übertriebene sowie das
cillzunahe Walzen bei zehn Gulden Buß verboten. — Um die Tanz-Polizeistunde
zu beseitigen, movirte sich die junge Welt seit fast zwanzig Jahren in jeder
Landsgemeinde, aber vergebens, gegen die Alten und die Geistlichkeit. Ais ein
völliger Sieg unmöglich schien, wollte jene sich mit der Tanzfreiheit bis zwölf
Uhr begnügen, fand aber hierin denselben energischen Widerstand, bis 1863
nochmals ein Siebengeschlechtsbegehren für die Zugabe der drei Stunden an
die Landsgemeinde gebracht wurde. Zahlreich versammelte sich das souveräne
Volk auf dem Kampfplatze. Die Regierung unterstützte das Begehren, aber der
bischöfliche Commissarius trat mit seiner Rede dagegen auf und wurde vom
Altnationalrath Lusser mit Gründen der Moral und der Nationalökonomie
fecundirt. Sechs Redner traten für das Tanzen in die Schranken, und wie
ernst der Kampf war, zeigt die Mühe, mit welcher ein Resultat erlangt wurde.
Erst nach dreimaliger Abstimmung, bei welcher es laut und drohend herging,
ergaben sich 671 Stimmen für und S82 gegen das Begehren der tanzlustigen
Jugend. Es war das Haupttractandum. des Tages gewesen, und das weitere
Geschäft verlief rasch. Um Mitternacht aber schaute der Vollmond sichtbar ver¬
gnügt auf die vom Tanze heimkehrenden jauchzenden Gruppen der Jünglinge
und Jungfrauen von Uri herab."
Die Rechtspflege in Uri hat starke Schattenseiten. Zu den formalen Be¬
sonderheiten gehört, daß jede Gerichtssitzung nach dem Reglement von 1851
mit Anrufung des heiligen Geistes und Abbetung von fünf Vaterunsern er¬
öffnet werden soll. Das Strafverfahren ist der modernen Anschauung theil¬
weise noch sehr fern. In dem Reglement für das Verhöramt, welches 1842
erschien, liest man: „Das Verhöramt ist ermächtigt, den Inquisiten im Läug-
nungssall bis auf drei Tage in jeder Woche an die magere Kost zu verordnen
und bis zehn Stockstreiche auf das Mal durch den Bettelvogt anzuwenden.
Wenn man jedoch in den Zwangsmaßnahmen dieses Maß zu überschreiten
nöthig fände, so sollen die weiteren Vollmachten beim Rathe eingeholt werden/'
Worin die das Normalmaß überschreitenden Zwangsmaßnahmen bestehen können,
erfährt man in dem Reglement nicht, doch belehrt darüber ein Straffall aus
dem Jahre 1861 zur Genüge. Caspar Zurfluh hatte seine Geliebte ermordet.
Obwohl starke Jndicien gegen ihn vorlagen, läugnete er hartnäckig, bis der oben
citirte Paragraph des Reglements ihn anderen Sinnes machte. „Was viel-
wöchige Gefangenschaft und mehrmalige Confrontationen und was selbst
schmale Kost bei dem rohen Verbrecher nicht vermochten," schrieb die Schwyzer
Zeitung, „das gelang durch die in jüngster Zeit gegen denselben in Anwendung
gebrachten territiolles reales." Diese törritiovos waren nun nicht ganz in dem
Sinne zu verstehen, wie in der alten guten Zeit der Folterkammern und
Daumenschrauben. Aber Tortur war es doch auch, was die altorfer Herren
beliebten, als sie das Verhöramt ermächtigten, die magere Kost (Wasser und
Brod) auf vier Tage in der Woche auszudehnen und die Zahl der Stockstrciche
„wo gehörig" auszudehnen.
Die Eigenthümlichkeit des materiellen Strafrechts in Uri besteht vorzüglich
darin, daß das Capitel des Landbuchs über „Malefiz und Friedbrucb" außer¬
ordentlich kurz ist und so wenig alle vorkommenden Verbrechen behandelt oder
auch nur berührt, daß dem Ermessen des Richters der weiteste Spielraum ge¬
lassen ist. Der alte Begriff des Friedbruchs dominirt, so daß die Formen, in
denen er auftreten kann, am sorgfältigsten behandelt sind. Schon die bloße
Drohung, einem andern an Leben oder Habe schaden zu Molken,, ist mit einer
Geldstrafe von zehn Gulden bedroht; auch soll der Drohende dem Richter an¬
geloben, dem andern auf keine Art Schaden zuzufügen und, wofern er das Ge-
löbniß bricht, als Meineidiger bestraft werden.
Sehr stark tritt im urnar Landbuch die Strafe der Ehrlvsmachung in den
Nordergrund. So heißt es im Art. 256: „Jedes als Malefiz bestrafte Ver¬
gehen macht den Schuldigen ehrlos; bei andern Strafurtheilen über Criminal-
fälle soll allemal erkannt und beigesetzt werden, ob der Bestrafte der Ehre ent¬
setzt sein solle und wie lange, oder aber nicht. Zu den Ehrenstrafen, bei denen
die Betreffenden nach Verlauf einiger Zeit um Nehabilitirung nachsuchen dürfen,
gehört auch das überhaupt in der Schweiz sehr verbreitete Verfahren, nach
welchem als Strafe über jemand das Verbot, Wirthshäuser zu besuchen, ver¬
hängt wird. Dieses Verbot ist eine Ehrenschmälerung verschieden von der Ehr¬
losigkeit und tritt nicht nur als Zugabe zu cnminellen Strafen, sondern auch
als selbständiger Bann für liederliche Leute ein. Uebertretung desselben kann
nach Umständen mit zwölf Ruthenhiebcn geahndet werden.
Auch der Pranger ist in Uri noch im Gebrauch, und zwar ist in der Aus¬
stellung Variation: 1862 wurde Johann Krieg von Altendorf im Canton
Schwyz wegen Diebstahls mit Einbruch mit einviertelstündigcr Ausstellung
durch den Polizeidiener, sechstägiger Gefangenschaft, zwanzig Ruthenstrei-
chen, lebenslänglicher Verweisung aus dem Canton und Ehrenentsetzung be¬
straft, und in demselben Jahre stellte der Scharfrichter Josepha Arnold von
Bürglen ebenfalls eine Viertelstunde auf dem „Lasterstein" aus, wobei sie eine
Tafel mit den Worten „Meineid und Unzucht" am Hals tragen mußte.
Das Verfahren in bürgerlichen Rechtssachen ist durch eine moderne Pro-
ccßordnung geregelt, doch sind aus alter Zeit die sogenannten „Gassengerichte"
herübergenommen, die ihren Namen davon hatten, daß jeder Cantvnsbürgcr, der
eben auf der Gasse daherkam, von dem unter dem Rathhausthor stehenden Weibel
zum Richter herangezogen werden konnte, bis die Zahl von sechs solchen Hilfs¬
richtern voll war. Zweck und Veranlassung dieser Maßregel sind noch in der
Civilproceßordnung von 1862 deutlich angegeben, indem es da heißt: „Als
Schiedsgericht ist auch das sogenannte Gassengericht zu betrachten, wo der Be-
zirksamtmann bei Streitigkeiten zwischen Fremden oder zwischen einem Fremden
und Einheimischen, wo beide schnellen Entscheid wünschen oder die Sache keinen
Verzug leidet, sechs ehrenwerthe, unparteiische Männer. die zu erscheinen
schuldig sind, zusammenruft und ihnen präsidire." „Wir dürfen," sagt unser
Verfasser, „den Kern dieser Einrichtung darin sehen, daß durchreisende Fremde
nicht aufgehalten werden sollten, aber auch ein Einheimischer, der in eine Dif¬
ferenz mit einem Fremden gekommen war, nicht durch dessen Abreise gefährdet
werden sollte." Gassengerichte waren eine in alter Zeit auf deutschem Boden
weitverbreitete Einrichtung. Durch Uri aber ging schon vor Jahrhunderten die
große Heerstraße von Deutschland nach Italien, daher trat hier das Bündniß
rascher Justizpflege ganz besonders hervor.
Uri ist kein reiches Land. Die Alpenwirthschaft nährt einen großen Theil
der Bevölkerung zur Genüge, doch giebt es auch häusig Familien, die in ärm¬
lichster Hütte leben, als Viehstand nur ein paar Ziegen haben und für gewöhn¬
lich im Sommer Ziegenmilch und Mehlbrei und im Winter Mehlbrei, Zieger
und Kartoffeln, Fleisch aber nur in dem traurigen Fall auf dem Tisch haben,
wo ihnen eine Ziege verunglückt ist. Einigen bringt das Suchen nach Kry¬
stallen Erwerb, an der Gotthardsstraße verdienen sich Fuhrleute, Spediteure
und Wirthe ihr Brod, aber doch giebts immer noch viele im Canton, welche
Unterstützung bedürfen. „Dennoch bin ich," sagt Osenbrüggen. „in Uri, abge-
gcsehen vom Seelisberge» wo halberwachsene, gut gekleidete Knaben sich nicht
scheuen, um Geld zu Tabak zu bitten, nur selten angebettelt worden, während
bekanntlich in manchen Gegenden der Schweiz die Bettelei recht systematisch
betrieben wird. Ein hübsches Stück aus diesem System ist es, was mir ein
Mann erzählte, der vor mehren Jahren sich die Hauptkirche in Schwyz hatte
besehen wollen. Als er eben eingetreten war, kam ein älterer Mann und bat
um eine Gabe. Auf die Frage des Fremden an den Bettler, wer er sei und
was er treibe, antwortete dieser: i bi z' Schwyz im Zuchthus."
In Uri wurde schon seit langer Zeit dem Armenwesen große Sorgfalt
gewidmet, und in dieser Richtung ist zunächst die Einrichtung der „Verwandt¬
schaftssteuern" bemerkenswerth. Die natürliche Pflicht der Familien, den Hilfs¬
bedürftigen aus ihrer Mitte die zur Existenz nothwendige Unterstützung zu ge¬
währen, ist von der Gesetzgebung geregelt. Nach dem Landbuch sollen vater¬
lose Kinder oder solche, deren Vater sie zu ernähren unfähig ist, desgleichen an¬
dere zur Erwerbung ihres Unterhalts untaugliche Personen von ihrer Verwandt¬
schaft verpflegt werden, und zwar soll stets der nächste Verwandtschaftsgrad
väterlicher Seite für sie eintreten, falls aber dieser unvermögend ist, von Grad zu
Grad weiter gegriffen werden. Die neuere Gesetzgebung hat zu Gunsten der
Familie die Gemeinden stärker in Anspruch genommen, deren Armenpfleger
sorgen sollen, daß alle Armen, auch Wittwen und Waisen. Allmendgärten bckom-
men; auch ist jede Pflege berechtigt, 24 Bäume auf die Allmend zu setzen,
die ihr so lange zu eigen verbleiben, als sie dieselben gehörig unterhält. Den
Armenpfleger ist endlich auch ein Strafrecht eingeräumt, nach dem sie solche,
die sich unehrerbietig gegen sie betragen, lügen, die Armenpflege mißbrauchen,
sich „dem Gassenbettel ohne Noth ergeben", die Predigt und Christenlehre ver¬
nachlässigen, liederlich ihr Geld im Wirthshaus verthun, mit Einsparung bei
Wasser und Brod und selbst mit Prügelstrafe belegen dürfen.
Die Verwandtschaftssteuer der Urner, ein Gegenstück zum Erbrecht, und
daS Fortrücken der Unterstützungspflicht von der Familie zur Gemeinde, öffnet
einen interessanten Blick in das Verhältniß von Familie, Gemeinde und
Staat. Die Familie, in welcher der Einzelne zunächst seinen Werth hat, bildet
die natürliche Grundlage des Staates, und sie erscheint als solche in den
Schweizercantonen deutlicher als anderwärts. Sie erweitert sich zum Geschlecht,
dem noch der gemeinschaftliche Name Zeichen der Zusammengehörigkeit ist. Das
Zusammenwohnen der verschiedenen Familien und Geschlechter, die Nachbar¬
schaft, ist ein anderes natürliches Band, und die darauf gebauten Gemeinden
haben in der Schweiz eine so feste staatenähnliche Organisation, daß sie sicht¬
bar die Brücke von der Familie zum Staate bilden. „In der Tüchtigkeit des
Gemeindcwesens," sagt unsre Schrift, „ruht die Kraft der Schweiz, und alle
Schwankungen in den verschiedenen Kreisen des politischen Lebens vermögen
nicht, diese Grundfeste zu erschüttern." — „Wie sehr die Schweizer wissen, was
ihnen die Gemeinde ist, das zeigt ihr Festhalten an dem Gemeindebürgerrccht
der Heimath, wohin sie auch in den beiden Hemisphären verschlagen werden,
das zeigt die jahrhundertlange Seßhaftigkeit der Familien in denselben Ge¬
meinden. Hört man den Namen Zwicky, so weiß man, daß er nach Glarus
und speciel nach Mollis hinweist, Kamenzied muß von Gersau sein, Lusser von
Altorf, Elsinger ist von Menzingen, Merian von Basel, Escher von Zürich.
Eine ganz eigenthümliche Erscheinung bietet Unter-Aegeri im Canton Zug.
Wie Adam auf Hebräisch Mensch heißt, so ist dort Jtem fast gleichbedeutend
mit Mensch, da von den 2423 Bürgern der Gemeinde der Clan Jtem die
Hälfte, ja ich möchte fast glauben, noch mehr umfaßt."
Kehren wir nach Uri zurück, so dient schließlich zu dessen Charakteristik
noch das strenge Sittenmandat von 1860, welches „zur Vermehrung der Ehre
Gottes, Abschaffung schädlicher Mißbräuche, Handhabung guter Ordnung und
besserer Beobachtung der Gesetze" erlassen wurde und alljährlich einmal in den
Gemeinden vorgelesen werden soll. Dasselbe beginnt mit Einschärfung eines
regelmäßigen Kirchenbesuchs und einer christlichen Sonntagsfeier und geht dann
auf den Schulbesuch und ähnliches über. Bei dem Gottesdienst, vor der
Obrigkeit und in der Landsgemeinde soll jedermann anständig gekleidet er¬
scheinen, „beinebens sind sowohl Manns- als Weibspersonen jeden Standes »ach-
drucksamst gemahnt, sich standesgemäß in Gebühr und Ehrbarkeit zu be¬
kleiden und alle unanständige und für ihren Stand zu koftsp ielige Kleidung
zu vermeiden." Die Polizeistunde — zehn Uhr — ist eingeschärft, doch sind
zweckdienliche Ausnahmen gestattet. Für die Nachtruhe ist in eigenthümlicher
Weise gesorgt: „Das leichtfertige Ncdverkehren, ungebührliche Jolcreien. Licht¬
auslöscher, sich niederducken und alle dergleichen Unfuge und Lärmereien zur
Nachtzeit sind bei 23 Franken, schwere Bübereien, als Thüren und Fenster ein¬
schlagen und andere solche sträfliche Handlungen bei 46 Franken Buße verboten;
in schweren Fällen dieser Art ist der Thäter noch schärfer, allenfalls mit Ge¬
fangenschaft und körperlicher Züchtigung zu strafen."
Sowohl den Landeseingcsessen als den Fremden ist befohlen, „Frieden
zu bieten und Frieden aufzunehmen" und nach Möglichkeit dahin zu wirken,
daß es nicht zu Schlägen und Thätlichkeiten komme. Maskeraden sind in ge¬
hörige Grenzen gewiesen, auch für die Gesundheit des durstigen Publikums ist ge¬
sorgt, indem es heißt: „Es soll keinerlei schlechtes oder unwerthschaftes Getränk
bei 46 Franken Buße ausgewirthschaftet werden, und dem Kläger soll die
Hälfte dieser Buße zukommen." Mit großem Eifer kehrt sich Art. 7 des Mau¬
bads gegen die Glücksspiele und läuft in die Drohung aus: „Das Flißlen und
Oberländer, das Roulett- und Würfelspiel sowie andere bietende Spiele sind
bei 176 Franken Strafe verboten." Eine sehr schöne Bestimmung, aber wie,
wenn man damit die berüchtigte urner Lotterie vergleicht?
Im Jahre 1803 unternahmen einige Privatleute in Altorf die Errichtung einer
Lotterie „ausschließlich zum Besten der Armen", und die Regierung ertheilte der¬
selben die hochobrigkeitliche Bewilligung und Garantie. Darauf aber wurde
die Lotterie gegen eine jährliche Pachtsumme von 130 Gulden vergeben, welche
später auf 390 Gulden und zuletzt aus 7,200 Franken stieg, die theils in
die Ccntralarmenkasse, theils in die Staatskasse des Cantons fallen. Gleich¬
mäßig steigerte sich das garantirte Spielcapital, welches jetzt jährlich mehr als
drei Millionen beträgt. An der Spitze des Plans steht immer noch „zum
Besten der Armen", aber die Armen erhalten von dem Ertrag nur wenige
tausend Franken, während die Besitzer mit ihrer Lotterie für die Armuth „lord¬
reiche Leute geworden sind". Der jährliche Prosit der letzteren oder mit an-
dern Worten die Summe, um welche diese Lotterie alljährlich das schweizerische
Publikum besteuert, beträgt nach der Berechnung eines deutschen in der Schweiz
lebenden Statistikers 646,918 Franken, und auf die Frage, welchen Beitrag
das Institut an den Staats- und Gemeindehaushalt leiste, lautet die Antwort,
daß jene Pachtsumme von 7.200 Franken über die 14.800 Köpfe zählende
Bevölkerung des Cantons Uri vertheilt auf den Kopf nur etwa 48 Centimes
ergiebt.
Die schweizerische gemeinnützige Gesellschaft hat sich in der Jahresver-
Sammlung. die sie im September 1862 zu Tamm in Obwalten hielt, sehr ein¬
gehend mit diesem Mißbrauch beschäftigt, aber wenn bier die Vertheidiger der
Lotterien in Uri und Schwyz wieder darauf zurückkamen, daß dieselben ja zum
Besten der Armen errichtet seien, so durften die Gegner dabei nicht einmal an
den heiligen Schuster Crispinus denken, da von diesem nicht geschrieben steht,
daß er aus dem entfremdeten Leder vor allen Dingen für sich Schuhe ge¬
macht habe.
Der Kampf der gemeinnützigen Gesellschaft, für welche Dr. Elim, Statt¬
halter von Obwalten, einen vortrefflichen Bericht über die Sache zusammenge¬
stellt hatte, der dann in einer Volksausgabe verbreitet wurde, ist nun schon in
erfreulicher Weise von der Seite aufgenommen worden, von wo der Sieg kommen
muß. vom Volke selbst. Der Landrath von Nidwalden gestattet schon seit ge¬
raumer Zeit den Directionen der Lotterien von Uri und Schwyz die Ausgabe
von Loosen im Canton gegen eine Leistung an die Staatskasse, die früher
200 Franken für jede Ziehung betrug und jetzt auf 1000 Franken erhöht ist.
Um die öffentliche Meinung zu beschwichtigen, beschloß man, diese Summe unter
die Gemeinden zu vertheilen. Die meisten nahmen ihren Antheil. Die sehr
zahlreich besuchte Gemeindeversammlung von Beckenried aber (3. Mai 1863^
faßte beinahe einstimmig den Beschluß: der wohlweise Landrath möge dieses
Biutgeld für sich behalten, die Gemeinde Beckenried weise ein solches Geschenk
entschieden zurück.
„Wenn das schweizerische Volk," so sagt der Verfasser am Schluß dieses
Abschnitts, „auf dieser Bahn fortschreitet, so hat ohne Zweifel die national¬
ökonomische Behandlung der Sache in dem genannten Referat (dem etlinschen
Bericht an die gemeinnützige Gesellschaft) die Augen geöffnet, und der Satz, daß
Zahlen die Welt regieren, kann sich hier bewähren. Wenn die in Beckenried
gewurzelte Ansicht allgemeiner wird, so läßt sich hoffen, daß die Sparkassen in
demselben Grade aufblühen, als die Lotterien zurücksinken."
Unter den größeren Städten Deutschlands war bis vor Kurzem keine an
architektonischen Zierden und Merkwürdigkeiten ärmer als die zweitgrößte derselben,
das die Kräfte eines Reiches von fast vierzig Millionen in Contribution Setzende
und überdies durch eine ungemein glückliche Lage begünstigte Wien. Das hier
refidirende Fürstenhaus hatte eben für Baukunst wenig Interesse, und sehen
wir von der Stephanskirche und einigen Palästen reicher und vornehmer Pri¬
vatleute ab, so war in der Bevölkerung ebensowenig von diesem Interesse vor¬
handen. Weder Maria Theresia, noch Joseph der Zweite, noch Kaiser Franz
dachten an Nachholung des früher Versäumter, und wenn unter Ferdinand ein
dahin gehendes Bestreben sich bemerkbar machte, so konnte bei der pedantischen
noch aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Bauordnung, bei den zahl¬
reichen Bauverboten und der durch nichts gerechtfertigten Beibehaltung der
Stadt- und Linienwälle, bei den für unantastbar geltenden Privilegien der
Aristokratie und des Klerus, hauptsächlich aber weil es an einer Vereinbarung
über das zu erreichende Ziel fehlte, sowohl von der Regierung, als von den
Privaten nur Unvollständiges oder Vereinzeltes geschaffen werden. Gleichwohl
fallen gerade in jene Epoche mehre auf Staatskosten unternommene und eben
so zweckmäßig als schön ausgeführte Bauten, z. B. die kaiserlichen Stallungen,
das Hauptzollamt, das Ständehaus, die Münze und mehre Kasernen, wäh¬
lend die damals von Privaten oder Actiengesellschaften errichteten Gebäude sich
fast durchgehendes durch ihre Unzweckmäßigst und Geschmacklosigkeit auszeich¬
neten, ein Urtheil, für welches die Johanneskirche, das Karltheater, das Wie-
dener Spital und der nunmehr umgebaute Nordbahnhof Belege lieferten.
Seit den letzten fünfzehn Jahren aber hat sich die Sache geändert. Die
Wälle sind gefallen, viele alte und unschöne Gebäude und manche wüste Räume
sind verschwunden, und in jedem Stadttheile trifft der Besucher zahlreiche, meist
ebenso umfangreiche als durch ihre Kostspieligkeit bemerkenswerthe halb oder
ganz vollendete Staats- und Privatbauten. Der Negierung sowie der verschie¬
denen Unternehmungen und der wohlhabenden Bürger schien sich eine wahre
Bauwuth bemächtigt zu haben, und wenngleich diese Manie jetzt nachgelassen
hat, so dürfte doch Wien gegenwärtig nach Paris die das meiste Baumaterial
verwendende Stadt sein.
Aber wie steht es mit dem Geschmack und dem Sinn für Zweckmäßigkeit,
den diese Bauten bekunden? Die Lobredner der Regierung wissen beides nicht
genug zu preisen. Nach ihnen wären die betreffenden Gebäude der neuesten
Aera das Beste, was die neuere Baukunst auszuweisen hat, und selbst die
Schöpfungen Karls des Vierten von Böhmen, Mathias Corvinus' oder Rudolfs
des Stifters blieben dagegen weit zurück. Man entblödete sich nicht zu be¬
haupten, „wenn Karl der Vierte die prager Neustadt angelegt und die steinerne
Moldaubrücke erbaut habe, so habe der Befehl zur Niederreißung der Basteien
mit einem Schlage Wien zur Weltstadt ersten Ranges gemacht"; das fünf¬
hundertjährige Riesenwerk, welches die beiden Hälften der Böhmcnhauptstadt ver¬
bindet, wurde allen Ernstes mit den beiden kurzen Kettenbrücken über den schmalen
Donauarm zwischen der Leopoldstadt und der innern Stadt verglichen; der
ofner Königspalast, fuhr man fort, der Vyssegrad bei Gran und der mächtige
Karlstcin seien auch zur Zeit ihrer größten Herrlichkeit mit dem wiener Arsenal
nicht in Parcillele zu bringen gewesen, und die Stephanskirche habe erst jetzt
die ihr mangelnde Vollendung erhalten.
Prüfen wir diese großen Worte an den Thatsachen.
Wie die Regierung des nachmärzlichen Oestreich mit der Säbelherrschaft
begann und dann an deren Stelle das noch drückendere Joch des Priesters und
des Bureaukraten treten ließ, Vieles anfing und nur Weniges consequent durch¬
führte, wie sie fast überall mehr an den Effect als an den wahren Nutzen
dachte, so nehmen auch unter den seit dem Jahre 1848 ausgeführten Gebäuden
Kasernen und Kirchen den ersten Platz ein, wurden bereits in Angriff ge¬
nommene Projecte aufgegeben, und findet man endlich wohl viele große und
verzierte, aber nur wenige vollkommen zweckmäßig eingerichtete und schöne
Gebäude.
Man hatte mit Aufbietung aller Kräfte und indem man die Nationalitäten
gegeneinander ins Treffen führte, die Revolution besiegt, aber man fürchtete
die Wiederkehr derselben und suchte sie durch alle möglichen äußerlichen Mittel
zu verhindern. Die alten Bergschlösser und Castelle bei den größeren Städten
wurden, nachdem sie Jahrhunderte hindurch fast nur als Ausenthalt für Eulen
und Fledermäuse gedient hatten, mit großem Kostenaufwande wiederhergestellt
und armirt, und die Zahl der in den amtlichen Ausweisen als „Festungen"
aufgeführten Plätze wurde binnen Jahresfrist ziemlich verdoppelt. Wien hatte
keine Citadelle, und da die Vollendung einer solchen viel Zeit erfordert hätte,
beschloß man, die Wälle der eigentlichen Stadt zu verstärken und in einen
Sammelplatz für deren Besatzung zu verwandeln. So entstanden denn aus
Geheiß des Generals Melden jene famosen — nunmehr spurlos verschwundenen
— Wachthäuser und Gallerten, welche sich auf den kolossalen Wällen wie
Schwalbennester ausnahmen und wohl nur von den furchtsamsten Spießbürgern
als etwas Besorgnis) Erregendes angesehen werden konnten. Auf Anregen
desselben Offiziers, der beiläufig manchem als ein besonders gelehrter Militär
galt, der aber bekanntlich staunenerregende Proben von Unkenntnis; im Artillerie-
und Geniefache geliefert hat, sowie aus Betrieb des damals bereits alters¬
schwachen Generals Augustin wurde der Bau des Arsenals begonnen.
Die Arsenale und Waffenfabriken sollten — das war der Hauptzweck dieses
Baues — auf einem gegen den Angriff der Bevölkerung leicht zu vertheidigen¬
den Platze angelegt werden, und da man ohnedies eine Zwingburg bauen
wollte, so lag eine Vereinigung dieser Idee mit jener nahe. Man fand auf
den ziemlich erhöht gelegenen Feldern über der Bclvedürclinie neben der Süd¬
bahn die passendste Stelle. Das Gebäude sollte Zeughaus, Waffenfabrik, Ka¬
serne und Citadelle zugleich sein, dabei aber mit dem höchsten Prunk ausge¬
stattet werden, um — wie gewisse Patrioten sich ausdrückten — „ein ewiges
Wahrzeichen der k. k. Armee und ein Denkmal an die glorreiche Bekämpfung
der Hydra der Revolution zu bilden".
Die Mittel, welche man hierzu aufwendete, hatten — wenn die dabei Be¬
theiligten mehr Erfahrung, Geschmack und Redlichkeit besessen hätten — zur
Errichtung eines weit großartigeren und zweckmäßigeren Gebäudes hingereicht.
Man spricht von zwölf Millionen, welche verwendet wurden. Diese Angabe
ist absurd. Die doppelte Summe würde kaum ausreichen, um nur die un¬
mittelbaren, d. h. für den Bau selbst gemachten Ausgaben zu bezeichnen. Und
Wer berechnet die indirecten Auslagen, welche durch die Besoldung der bei dem
Bau beschäftigten Offiziere und Soldaten, durch die bis zur gänzlichen Be¬
endigung des Arsenalbaues erforderlich gewesenen Jnterimsbauten und auf an¬
dere Weise erwuchsen? Und mit alledem wurde nur Ungenügendes geschaffen.
Der ursprünglich gutgeheißene Plan erhielt nachträglich von verschiedener Seite
störende Zusätze und Veränderungen, so daß man neben wirklich schönen For¬
men das widersinnigste Flickwerk, neben verschwenderischer Pracht Spuren arm¬
seliger Knickerei findet. So ist das Museum weitaus der prachtvollste und
Zierlichste Theil des Arsenals. Die Zinnen dieses Gebäudes sollten mit kolossalen
Trophäen aus feinem Sandstein oder aus Marmor geschmückt werden und schon
hatte man hierüber mit einigen Bildhauern unterhandelt. Die dafür gefor¬
derte Summe aber erschien zu hoch, man wollte jetzt, nachdem das ganze Ge¬
bäude beinahe vollendet war, zu sparen anfangen und ließ diese Figuren aus
Thon verfertigen. Zu den erst später verfügten Aenderungen gehörte die Um¬
wandlung des projectirten, Spitales in eine luxuriös gebaute Kaserne für Offi¬
ziere und Militärbeamte — eine den über dem Ganzen schwebenden Geist sehr
bezeichnende Umwandlung. Die Magazine sind zum Theil finster und feucht,
die Werkstätten genügen dem Bedarf für Kriegsfälle nicht, und bei aller Weit¬
läufigkeit des Ganzen fehlt es an Platz für etwa nöthig werdende Zubauten.
Noch übler steht es mit der fortisicatorischen Wichtigkeit des Arsenals aus.
Vor diesem Zwing-Uri kann Wiens Bevölkerung ruhig schlafen. Die wenigen
Kanonen, welche man etwa auf den Terrassen der einzelnen Kasernen und Ma¬
gazine (zum nicht geringen Schaden derselben) aufstellen könnte, würden von
den Dämmen der Südbahn genau denselben Effect hervorbringen. Gegen einen
Pöbelauflauf sind die Wasservorräthe des Arsenals allerdings gesichert, wenn
nämlich die Besatzung rechtzeitig allarmirt wird und die Thore zu schließen ver¬
mag; doch würde derselbe Zweck auch durch eine solide mit einigen Schießlöchern
versehene Umfassungsmauer erreicht worden sein, und es hätten darum einige
Millionen erspart werden können. Gegen einen äußeren Feind oder gegen eine
allgemeine Volkserhebung aber ist das Arsenal wehrlos. Nicht nur wird das¬
selbe dergestalt von naheliegenden Anhöhen eingesehen und beherrscht, daß selbst
tüchtige Festungswerke einem mit schwerer Artillerie versehenen Angreifer in
einigen Stunden erliegen müßten, sondern die ganze Bauart des Arsenals ist
von der Art, daß einige leichte Feldbaiterien durch in die riesigen Fenster hin¬
eingebrachte Granaten und durch Herabstürzen der zahlreichen minaretartigen
Thürmchen und Zinnen die Besatzung zur Flucht oder Uebergabe zwingen wür¬
den. Und dann hat der Feind nicht nur die kolossalsten Wasservorräthe aus
einem Punkt vereinigt vor sich, um sie bequem fortschaffen zu können, sondern
er kann bei nur kurzem Verweilen durch Zerstörung der Maschinen die östrei¬
chischen Kriegsrüstungen für lange Zeit völlig lähmen.
Die Anstrengungen, welche der Bau des Arsenals erforderte, hinderten
wenigstens in den ersten Jahren die Inangriffnahme anderer größerer Bauten.
Was demungeachtet geschaffen wurde, waren wieder Militärbauten. So wurde
das Palais der ehemaligen italienischen Garde ,den Offizieren der Cavallerie-
equitation eingeräumt und dem Palais gegenüber eine riesige Reitschule erbaut.
Eine andere Reitschule wurde für die Artilleriecquitation in einem Hofe der
großen Artillerielaserne gebaut. Dieses Gebäude war wirklich zweckmäßig
und an sich geschmackvoll, konnte aber keinen Effect hervorbringen, da es in
dem Kasernenhofe steckte wie ein Weinkrug in einem Kühleimer.
Man mochte erkannt haben, daß das Arsenal seinem Zwecke nicht genügend
entspreche, und wünschte darum ein noch näheres und stärkeres Zwing-Uri zu
besitzen. Und ein solches meinte man in der aus zwei Theilen bestehenden
Franz-Josephskaserne zu schaffen. Das nicht unschöne Thor, welches als eine
(vielleicht für die Zukunftssiege von Magenta und Solferino gewidmete) Sieges-
pfvrte betrachtet wurde, contrastirte seltsam mit der in dem düstersten Block¬
hausstil aufgeführten Doppelkaserne, die namentlich seit der Demolirung der
ihren unteren Theil umgebenden Wallmauer und von dem gegenüberliegenden
Donauufer gesehen eine frappante Aehnlichkeit mit der Bastille besitzt.
Mit Stolz blickte man auf die erwähnten vier Gebäude! Kamen fremde
Prinzen, Generale oder Diplomaten nach Wien, so stand die 'Besichtigung
dieser Etablissements unausbleiblich auf der Liste der den Besuchern zu bereiten¬
den Freuden, Bei nicht fürstlichen Personen machte ein General oder Hof¬
adjutant, bei Prinzen und regierenden Häuptern der Kaiser selbst den Führer.
Eine Parade, eine Production der Zöglinge der Hofreitschule, die Besichtigung
einer gewöhnlichen Kaserne und der Franz-Joscphskaserne, eine Fahrt in das
Arsenal, Productionen der Offiziere der Cavallerie- und Artillerieequitation. ein
Familiendiner und ein Galladiner, dann eine Revue der in den kaiserlichen
Stallgebäuden befindlichen Pferde und Equipagen waren die Herrlichkeiten,
welche die höchsten und allerhöchsten Gäste zu Gesicht bekamen. Mochten sie
auch das alles bei früheren Besuchen genügend kennen gelernt haben, immer
wieder mußten sie denselben Becher bis zur Neige leeren. Dafür wurden sie
aber auch mit dem Besuche der verschiedenen Bildergalerien. Antikensammlungen,
oder gar der Naturaliencabinete und Bibliotheken verschont, wenigstens ist uns
kein Beispiel bekannt, daß einem Gaste des Hofes der Besuch irgendeiner
dieser Anstalten zugemuthet worden wäre.
Die Universität wurde bekanntlich noch 1848 in eine Kaserne umgewandelt,
freilich nur provisorisch, aber das Provisorium dauerte so lange, daß man,
als endlich an Aufhebung desselben gedacht wurde, den früheren Zustand ver¬
gessen hatte. Bei Räumung der „Universitätskciserne" wurde sie der kaiserlichen
Akademie eingeräumt und nur ein Theil des Gebäudes den Studirenden über,
geben. Die Kirche dagegen wurde den ehrwürdigen Patres der Gesellschaft
Jesu geöffnet. Da jedoch die Männer des Schwertes einen Theil der Woh¬
nungen der Wissenschaften für sich occupirt hatten, wollte man großmüthig auch
den letzteren wieder ein Plätzchen gönnen, und so räumte man der medicinischen
Facultät einen Theil der ehemaligen Gewehrfabrik ein. während der andere
Theil dieses alten, fehlerhaft gebauten Gebäudes in eine Polizeikaserne umge¬
schaffen wurde. In den niedrigen, dunkeln und feuchten Räumen, in welchen
früher die kaiserlichen Büchsenschmiede mit dem Blasbalg und Hammer hantiert
hatten, hielten Oppolzer und Nokytansky ihre Vorträge, während draußen vor
den Fenstern die slowakischen und ruthenischen Rekruten des k. k. Polizei¬
wachcorps nach dem „Eins, Zwei" ihrer Abrichter gedrillt wurden!
Endlich sollte auch ein nicht für militärische Zwecke bestimmtes Gebäude
zur Ausführung kommen, die aus Anlaß des auf den Kaiser verübten Attentats
Projectirte Botivkirche. Erzherzog Maximilian, der nunmehrige Kaiser von
Mexiko, suchte seiner Freude über das Mißlingen des Attentats Ausdruck zu
geben und ein gewaltiges Denkmal zur Erinnerung an dieses Ereignis; aufzu¬
richten. Er eröffnete die Sammlung für den Bau der Kirche. Eine ansehnliche
Summe — nahe an zwei Millionen — wurde zusammengebracht, Concurse
Wurden ausgeschrieben und Contracte abgeschlossen; dennoch vergingen über drei
Jahre, bevor der Bau begonnen werden konnte.
Bei den zu jener Zeit und mit geringen Ausnahmen noch jetzt herrschenden
Ansichten war es ganz natürlich, daß man jede Verfügung der Regierung,
mochte die Sache auch durch die Nothwendigkeit geboten oder gar von
der früheren Negierung beschlossen und begonnen worden sein, als einzige Folge
allerhöchster Huld und Gnade darstellte und die Masse der Bevölkerung von der
Nichtigkeit dieser Anschauung durch verschiedene gewöhnlich sehr kostspielige
Mittel zu überzeugen suchte. Daher wurde die Grund- und Schlußsteinleguug
selbst geringfügiger Bauten mit Pomp in Scene gesetzt, ja es geschah,
daß, obgleich man bei einem Gebäude schon eine Grundsteinlegung gefeiert
hatte und auch eine Schlußstcinlegung vorbereitet wurde, auch noch die
einzelnen Theile des Gebäudes oder bestimmte Räume desselben, z. B. Kapelle,
Empfangsaal u. tgi. feierlich eingeweiht oder eröffnet wurden, worauf es zum
Schlüsse unter irgend einem Vorwande noch eine letzte außer dem Programm
stehende Cardinalfestlichkeit gab. Auch kam es vor, daß man die Jahrestage
derartiger Festivitäten auf gleiche Weise feierte.
Man wird das Gesagte nicht übertrieben finden, wenn man sich z. B. nur
daran erinnert, daß im Jahee 18S6 im Mai die Grundsteinlegung der Votiv-
kirche, im Juni die Schlußsteinlegung des Arsenals, einige Wochen später die
Einweihung der Kirche, dann die Eröffnung des Sitzungssaales des Arsenals
und — wenn wir nicht irren — die Grundsteinlegung des Karlsmonumcntes
stattfand. Gleichwohl stehen noch die feierliche Eröffnung des Museums in dem
Arsenal und die Enthüllung der Bildsäule des Kaisers Franz Joseph bevor.
Ebenso wurden bei der Stephanskirche die einzelnen Giebel, einzelne Ka¬
pellen und schließlich der Adler auf dem Thurme geweiht und selbst die Besich¬
tigung eines oder des andern noch im Bau begriffenen Theiles machte man zum
Gegenstand einer besondern Festlichkeit. Bei dem Bau dieser beiden Kirchen,
mit welchen die Regierung eigentlich nichts zu schaffen hatte, zeigte sich das
Bestreben der „Gutgesinnten", alles Verdienst nur der einen Sonne zuzuwenden
und alles Glück und Heil nur von dort empfangen zu wollen, in auffälligster
Weise. Für die Stephanskirche bestand ein eigener Dombaufond, welcher aus
den Erträgnissen einiger noch aus früherer Zeit datirenden Stiftungen und aus
freiwilligen Beiträgen gebildet wurde. Der Bau war also eine Angelegenheit
des Dombaucomites oder höchstens der Gemeinde, und wenn auch der Kaiser
einen Beitrag aus den Staatskassen anweisen ließ, so war diese Summe streng
genommen nur der Gabe jedes andern Privatmannes gleichzurichten. In noch
höherem Grade war dieses bei der Votivkirehe der Fall, deren Bau ganz von
den durch Sammlung zusammengebrachte» Geldern bestritten werden sollte.
Freilich war diese Quelle ziemlich bald erschöpft, worauf der erlauchte Patron
des Unternehmens andere Fonds zu eröffnen suchte und den Bau des auf seine
Anregung begonnenen Gotteshauses wenigstens nicht ganz ins Stocken gerathen
ließ, was nunmehr wahrscheinlich geschehen dürste, da die aus dem sogenannten
Stadterweiterungsfond ausgeworfene Summe kaum hinreicht, um das bereits
Beendete zu erhalten.
Die dringende Nothwendigkeit, bei der durch die Festungswälle und die
zahlreichen Bauvcrbote, sowie durch die an sich überaus engen und unregelmä¬
ßigen Gassen der innern Stadt herbeigeführten Hemmung des Verkehrs eine
Abhilfe zu treffen, wurde allgemein gefühlt und wiederholt mündlich und
schriftlich der Regierung mitgetheilt. Die kaum glaubliche Ueberfüllung mancher
Quartiere hatte die nachtheiligsten physischen und moralischen Folgen, und na¬
mentlich mußte die andauernde Heftigkeit der von 18S4—18S5 grassirenden
Cholera- und mehrer Typhusepidemien nur dieser Ueberfüllung zugeschrieben
werden. Die Micthszinse stiegen auf unerschwingliche Höhe, und es wurden,
da viele Aemter in gemietheten Legalitäten untergebracht werden und ungeach-
tet aller Kasernenbautcn die meisten Offiziere und Beamten Privatwohnungen
beziehen mußten, auch die Finanzen in fühlbarer Weise mitgenommen. So
überstieg z. B. zu jener Zeit die Gage eines Lieutenants das demselben aus¬
gezahlte Quarticrgeld nur um wenige Gulden.
War man nun von der Nothwendigkeit überzeugt, daß in dieser Sache
wirklich einmal Etwas geschehen müsse, oder war es der Gedanke, die Gründe
um die Stadt, welche, da ihr Eigenthumsrecht zweifelhaft, als Eigenthum des
,,k. k. Acrars" angesehen wurden, bestens zu verwerthen, oder trieb endlich Nach¬
ahmungssucht an, zu der von Napoleon dem Dritten unternommenen Umge¬
staltung der Seinestadt ein Gegenstück an der Donau zu schaffen: genug, es
geschah wirklich etwas. Am ersten Wcihnachrstagc 1857 wurde ein kaiserliches Decret
veröffentlicht, durch welches Wien ans der Liste der östreichischen Festungen ge¬
strichen wurde. Mit der Entwaffnung und Demolirung der Stadtwälle sollte
sogleich begonnen und in geregelter Weise fortgefahren werden, wobei auf die
beschränktesten Passagen vorzugsweise Rücksicht genommen werden sollte. Die
Bauverbote und Beschränkungen, soweit ihnen fortisicatorische Rücksichten zu
Grunde lagen, wurden aufgehoben. Aus dem Erlös für die an die Meistbie¬
tenden verkauften Bauplätze und das bei der Demolirung der Wälle gewonnene
Baumaterial wurde ein eigener Stadtmveitcrunzssond gebildet, über dessen Be¬
stimmung und Verwaltung übrigens noch jetzt nichts Genaues und Befriedi¬
gendes bekannt geworden ist. In späterer Zeit sollten auch die Linienwälle
um die Vorstädte niedergerissen werden. Zugleich wurden Ingenieure und Ar¬
chitekten aufgefordert, Pläne über die Anlage der neuen Stadttheile einzusenden
und hierauf mehre ziemlich bedeutende Preise ausgeschrieben. Doch sollte
unter allen Umständen an der Beibehaltung des dermaligen Exercierplatzes in
seiner vollen Ausdehnung und an der Anlage zweier die Stadt umgebender
Straßen, der Ringstraße und der Lastcnstraße. sowie an einigen anderen, min>
der bedeutenden Bestimmungen festgehalten werden. Außerdem mußte ungefähr
ein Drittheil der durch die Auflassung der'Esplanade oder des Glacis geschaf¬
fenen Bauplätze zur ausschließlichen Verfügung der Negierung reservirt bleiben;
die übrigen Baugründe konnten an die Baulustigen, deren Eifer durch verhei¬
ßene vieljährige, jedoch nicht für alle Fälle gleiche Steuerfreiheit gesteigert
wurde, verkauft werden. Indeß behielt sich die Negierung (oder vielmehr der
Hof) auch da ein entscheidendes Volum vor. So geschah es. daß ein Platz,
auf welchem die Gemeinde une Schule erbauen wollte, trotz wiederholter Bitten
des Gemeinderathes der Stadt verweigert wurde, weil das Oberstallmeisteramt
diesen Platz — nebenbei bemerkt, einen der schönstgelegenen Punkte am Rande
der Vorstadt Mariahilf — als Futtermagazin der kaiserlichen Hofmarställe be¬
nutzte und nicht entbehren zu können vorgab. Ebenso wurden, während Pri¬
vatunternehmer die von ihnen beanspruchten Bauparzellen um sehr hohe Preise
erstehen mußten, große Plätze um ein wahres Spottgeld an gewisse Begünstigte
verkauft. Ein.Prinz, welcher ein vor seinem Palais befindliches kaum einige
Quadratklaftern messendes Fleckchen der Stadt überließ, erhielt von derselben
als Entschädigung einen an der Ringstraße liegenden freien Platz zur Erbauung
eines neuen Palais, verkaufte aber denselben später um eine enorme Summe
und sing auf einem Platze zu bauen an, welcher ihm unter irgendwelchem
Lorwande von der Regierung geschenkt worden war.
Gleichzeitig wurde eine neue Bauordnung veröffentlicht, wodurch allerdings
mancherlei lästige Beschränkungen aufgehoben wurden, andrerseits aber der Schlendrian
und der Betrug freieren Spielraum erhielten. Die Erdgeschosse brauchten fortan
nicht mehr gewölbt zu werden, die Thür- und Fensterstöcke konnten aus be¬
liebigem Material verfertigt sein, die Höhe der Häuser und die Zahl der Etagen
wurden gar keiner Beschränkung unterzogen, und so stiegen denn alsbald thurm-
artige Kolosse in die Höhe, deren Inneres häufig gegen das Licht und die
frische Luft fast hermetisch abgeschlossen war, und welche daher von einer be¬
rühmten medicinischen Autorität mit Recht Plantagen des Typhus und der
Tuberkulose genannt wurden. Doch war die Gestattung der vermehrten An¬
wendung des Eisens und die Beseitigung mehrer polizeilicher Sicherheitsma߬
regeln oder besser gesagt Plackereien immerhin ein Fortschritt.
Da nun aber auch in Oestreich nichts vollkommen sein kann, so wurde
auch das Wenige, was man gegeben, beschnitten und durch verschiedene Zusätze
und Nebenbedingungen verunstaltet. Man hatte allerdings schon früher den
Belagerungszustand aufgehoben, aber die Wahrzeichen desselben noch immer bei¬
behalten. Welches Unglück konnte durch ein Zuviel von Freiheit oder wenigstens
durch die Aussicht auf ein solches Zuviel gestiftet werden! Man durfte zwar
„von dem Tacte", d. h. von der Zähigkeit und volksfeindlichen Gesinnung der
mit der Vollziehung dieser Maßregeln beauftragten, unter dem schütze des Ab-
solutismus emporgestiegenen Männer erwarten, daß sie sich keiner Uebereilung
hingeben und jeden Anlaß zur Verzögerung benutzen würden, und irrte sich auch
nicht, da z. B. die Kanonen auf den Basteien, vor der Franz-Josephkaserne
und namentlich vor der Burg, bis zum letzten Moment stehen blieben und die
erwähnten kleinen Blockhäuser und Rcduits nur wenige Stunden vor ihrer
Demolirung geräumt wurden. Aber endlich mußte doch auch der letzte Ueber¬
rest der Apparate des Belagerungszustandes fallen, und man halte also bei
Zeiten daran zu denken, die Bäume nicht in den Himmel wachsen zu lassen.
Daher sollte an dem andern Ende der Stadt ein Gegenstück der Franz-Joseph¬
kaserne, eine die Stadt, die nördlichen Lorstätte und den Donaukanal be¬
herrschende befestigte Kaserne für einige Tausend Mann erbaut, der äußere
Umfang der Stadt aber alle 500 Schritte mit blockhausartigen und mit eisernen
Gitterzäunen umgebenen Wachthäusern bespickt werden. Auch wollte man von
einer Pflasterung der Ring- und Lastenstraße nichts wissen, weil man durch die
Macadamisirung derselben das Errichten von Barrikaden unmöglich zu machen
glaubte, und ebenso wollte man durchaus einige Bollwerke fortbestehen lassen,
um wenigstens einige dominirende Punkte zur Ausführung von Geschützen
zu besitzen.
Die allgemeine Einführung der gezogenen Geschütze und die daraus ge¬
folgerte Gewißheit, daß man die Stadt auch mit außerhalb der Barrieren auf¬
gefahrenen Kanonen in Schutt schießen könne, brachten von diesem Projecte ab.
Nach dem Jahre 1859, als man der Bevölkerung auf allen Seiten Zugeständ¬
nisse machen und besonders alle Drohungen vermeiden zu müssen glaubte, wurde
erklärt, „daß von der Errichtung befestigter Objecte längs der Ringstraße ab¬
zusehen sei", wobei einige jener in der Noth so beliebten Phrasen von Ver¬
trauen, Herstellung der gesetzlichen Zustände, bereitwilligem Eingehen auf die
Anschauungen der Bevölkerung aufgetischt wurden. Der Wiener glaubte na¬
türlich unter jenen „befestigten Objecten" nicht nur die mehr komischen als ge¬
fährlichen Wachthäuser, sondern vorzüglich die Kasernen verstehen zu müssen,
sollte aber sehr bald eines Anderen überzeugt werden.
Giebt abgesehen von der eigentlichen Biographie, aus der wir unter anderem
sehen, daß Simon aus ursprünglich jüdischer Familie stammte und im Jahre 1805
geboren war, daß er als Referendar in Brandenburg das Unglück hatte, einen
Gegner im Duell zu tödten, und daß er daraus mehre Jahre Festungshaft zu er¬
dulden hatte, eine große Anzahl interessanter Notizen über die politische Entwickelung
Preußens, besonders in den vierziger Jahren und über die damaligen Verhältnisse
in Breslau, wo der Verfasser von ,,Annehmen oder Ablehnen" bald zum Mittel¬
punkt der Opposition wurde. Bei der Schilderung des Charakters Simons darf
man freilich nicht vergessen, daß es ein Freund und Parteigenosse ist, der sie giebt.
Indeß sind so viele Materialien von Simons eigner Hand, Tagcbuchsblättcr, Reise-
skizzen, Briefe u. d. in. eingefügt, daß der Leser sich ein eignes Urtheil bilden kann,
und dieses wird dahin gehen, daß der Hingeschiedene als Mensch die Liebe, die ihm
viele bewahren, allerdings in reichem Maße verdient hat. Auch als Politiker war
er ein ehrenwerther tüchtiger Mann, gewissenhaft und furchtlos, nur daß bei ihm,
vorzüglich in der Zeit nach den Februartageu von 1848, Gefühl und Phantasie die
verständig realistische Betrachtung der Dinge beeinträchtigten, und daß er später in
die Fehler aller Flüchtlinge verfiel, die sich darin concentriren, daß man die mit
über die Grenze genommene Vorstellung von dem, was möglich und erstrebenswerth,
mehr oder minder für immer festhält und so in einer Welt lebt, die sich mit jedem
Jahre mehr von der wirtlichen im Vaterlande entfernt. Eins indeß erfreut hier unter
manchem schiefen Urtheil: zu allen Zeiten und bis zuletzt ist Simon in der Ver¬
bannung ein guter Preuße geblieben. Recht unmuthige Beiträge zur Culturgeschichte
Deutschlands sind die Mittheilungen aus dem Hause des Großvaters und der Eltern
Simons, welche den größten Theil des ersten Capitels im ersten Bande ausmachen.
Diese zweite Auslage ist eine mehrfach veränderte und verbesserte, auch umfaßt
sie achtzehn Jahre mehr als die erste, indem sie die Ereignisse vom Ableben Friedrichs
des Zweiten bis zum Tode Conradins hinzufügt. Die Auffassung der Hohenstaufen
von Seiten des Verfassers trifft im Wesentlichen mit der unseren zusammen, die
Darstellung ist lebensvoll, anschaulich und von der Art, daß das Werk sich auch
für das größere Publikum eignet.
Ein gutes Nachschlcigcbuch, welches die wichtigsten Daten der Neuzeit von 1492
bis 1864 mit besonderer Berücksichtigung der hauptsächlichsten Friedensverträge bringt,
deren Hauptartikcl in der Sprache der Originale mitgetheilt werden.
Lescfrüchte aus Sybel, Hauffer, Pertz, Droysen u. a. in die Form von Vor¬
lesungen gebracht, geschickt verbunden, anschaulich vorgetragen, eigene Urtheile nicht
darunter.
Eine sehr ins Einzelne gehende, ungemein lebendige Schilderung des Bastillen -
Sturms von einem Augenzeugen aus den Memoiren Pitras von Lyon, welcher 1789
zu den pariser Wählern gehörte. Das Original befindet sich im großherzoglichen
Archiv zu Oldenburg in der aus Briefen an den Herzog Peter Friedrich Ludwig be¬
stehenden und nach dem Ableben desselben zu einem Ganzen geordneten „Kevus
lit>t.6ro,ire als ?aris°'. Die Anführer der Bastillenstürmcr waren Helle, ein Offizier
vom Regiment der Königin, und Hulin, ein Freund der Fran von Staöl, der später
(1813) Gouverneur von Berlin war.
Eine Geschichte Odoakcrs und der von ihm geführten Rugier und Heruler bis
jun Untergang Odoakers durch Theodorich, aus gründlicher Forschung beruhend,
aber nur für gelehrte Fachgenossen geschrieben.
Feuillctonartikcl über das Leben und Treib«» in Berlin, dessen Aeußerlichkeiten
ziemlich hübsch geschildert sind. Wo der Verfasser sich über die Sphäre der Kon¬
ditoreien, Schcnkwirthschaftcn und Theater hinaus wagt, will sein Referat nicht viel
bedeuten, und wo er sich im Ton der Satire über politische Gegenstände versucht,
läuft es meist auf Plattheiten hinaus.
Eine gute, auf Studium und eigene Erfahrung sich gründende Kenntniß des
französischen Wesens und Lebens lassen den Verfasser mancherlei Neues sagen, und
der Geist des Feuilletons, den er in nicht gewöhnlichem Maße besitzt, läßt ihn das
Neue auch in amüsanter Weise sagen. Recht gut ist, was er über die Parteien,
den Chauvinismus und über den gesellschaftlichen Verkehr des heutigen Paris mit¬
theilt. Sehr interessant ist seine ausführliche Charakteristik der Rachel. Auch was
» über Victor Hugo, Scribe und Flaubcrts Romane sagt, läßt sich seinem wescnt-
wichen Inhalt nach unterschreiben. Ganz besonders hübsch endlich ist sein letztes
Capitel! die Geschichte von Wagners „Tannhnuser" in Paris. In dem Abschnitt
über die Parteien indeß geht er offenbar zu weit, wenn er das Vorhandensein
eigentlicher Parteien in Frankreich läugnet. Es ist gewiß eine arge Uebertreibung,
wenn er sagt: Frivoles Schäkern bilde den Grundzug des französischen National-
charakters, dieses leichtfertige Vcrgnügenfinden an hunderttausend Kleinigkeiten be¬
dinge eine gänzliche Gleichgiltigkeit gegen alle Dinge von ernsteren Gehalt, und die
Franzosen seien besonders deshalb Patrioten, weil sie der Patriotismus amüsirte.
Das paßt doch höchstens auf das Quartier Ladin und ähnliche Kreise.
Eine Schrift, die allerdings nicht darauf Anspruch macht, den Gegenstand
wissenschaftlich zu erschöpfen, die aber eine große Anzahl interessanter Beobachtungen
der Physiologen und Psychologen der letzten Jahrzehnte zusammenstellt, und deren
Ansichten über den Unterschied zwischen der Menschen- und der Thierseele, über das,
was man bei den Thieren Gemüth und Willen nennen kann, über Jnstinct und
Kunsttrieb der Thiere, über den psychologischen Charakter der einzelnen Classen der¬
selben u. s. w. sich hören lassen. Recht gut klingt namentlich, was der Verfasser
in Bezug auf den Unterschied zwischen der Menschenseele und der Seele der (höheren)
Thiere sagt. „Die Thiere werden körperlich und geistig früher reif als der
Mensch. Die meisten größeren Landsäugethiere sind in wenigen Jahren ausgewachsen
und fortpflanzungsfähig. Die meisten kommen in Uebereinstimmung hiermit in viel
kürzerer Zeit auch in den vollen Besitz ihrer seelischen Kräfte, zum Theil, weil die
körperlichen Bedingungen, namentlich die Ausbildung von Hirn-, Nerven- und
Sinnensystcm, früher vollständig gegeben sind als im Menschen. Dafür ist aber
auch ihre Vorstcllungswclt früher abgeschlossen und damit die Größe der möglichen
Vervollkommnung sehr beschränkt. Die meisten Vorstellungen der Thiere beziehen sich
auf das eben Gegenwärtige, und die Zahl ihrer Erinnerungsbilder ist nur klein.
Das Thier verhält sich etwa wie ein Kind oder ein ungebildeter Mensch, indem es
leicht, aber nur vorübergehend durch sinnliche Interessen aufgeregt wird und nach
deren Befriedigung wiederum in seine Gleichgiltigkeit zurücksinke, ohne daß Erregung
und Befriedigung ein Nachdenken hierüber veranlaßten und eine Erhöhung seines
geistigen Wesens anbahnten. Nur fragmentarisch gereizt, ist das Thier nicht wie der
Mensch im Stande, zuerst eine reiche Menge von Erfahrungen in sich anzusammeln
und festzuhalten und so zu verarbeiten, daß sich daraus Beweggründe zu zusammen¬
hängendem Handeln bilden. Während der Mensch in sich das ganze Universum
aufnimmt, nimmt das Thier nur einen kleinen Theil der äußeren Welt in seine
innere auf, und so sehlt seinem Seelenleben auch der Charakter der Allgemein¬
heit, indem es nicht zu umfassenden Begriffen fortschreiten, überhaupt nicht im
höhern Sinne denken, daher auch nicht sprechen kann.
Dies Blatt hat lange vermieden, über die Schillerstiftung zu berichten.
Das Beschaffen der Hauptsumme durch eine Lotterie, welche ihre Thaler meist
von Solchen erhielt, deren Erwartungen auf einen entsprechenden Gewinnst
getäuscht wurden, die unbehilfliche Verbindung des gewonnenen Capitals mit den
Schillervereinen, die Beschaffenheit der Statuten, die Wahl der leitenden Per¬
sönlichkeiten aus den Schillervereinen, die heimliche Verkeilung, die Patronage,
legten ein abschätzendes Urtheil über den zeitweiligen Werth der Stiftung nahe.
Aber dies Urtheil durfte nicht über die mögliche Bedeutung der Stiftung ver¬
blenden und nicht die Hoffnung nehmen, daß sich allmälig eine befriedigende
Organisation und Verwendung der Rente aus den Vereinen selbst herausbilden
werde. Grade jetzt, wo eine heftige Polemik divergirender Ansichten zu einem
vorläufigen Resultat geführt hat, dürfte an der Zeit sein, unsern Lesern eine
Darstellung des Sachverhältnisses zu geben und der Schwierigkeiten, mit denen
die Stiftung noch ringt. Wir haben dafür das Referat eines verehrten Mit¬
arbeiters erbeten, welcher dem Unternehmen seit seiner Gründung nahestand,
und theilen dies im Folgenden mit, indem wir uns vorbehalten, demnächst Vor¬
schläge zu machen, welche uns zur Förderung des Instituts wünschenswert^
^scheinen.
Der Verfasser der folgenden Darstellung theilt nicht die Wünsche derer,
Welche durch die letzte Generalversammlung und durch die Wiederherstellung des
Heimlichkcitsparagraphcn die Schillerstiftung nunmehr für lange Zeit wieder
der Zeitungspolemik entzogen zu sehen hoffen. Es liegt uns eine Broschüre
vor, welche der Vorstand des breslauer Schillcrvercins als Manuscript hat
drucken lassen, und die wir, vielleicht mit einigen mildernden Aenderungen, als
einen wichtigen Beitrag zum Verständniß der in der Schillerstiftung sich gegen¬
überstehenden Meinungen, durch den Buchhandel allgemeiner zugänglich gemacht
Zu sehen wünschten. Es würde dies, auch ohne die Oeffcntlichl'an, welche
Wien, Berlin, Leipzig und andre Zweigstiftungen ihren polemischen Nund-
schreiben ähnlicher Art längst gegeben haben, durch den Werth der sorgfältigen
Arbeit durchaus gerechtfertigt erscheinen.
Für jetzt müssen wir von einer nähern Bezugnahme aus diese Schrift
Abstand nehmen und wir können dies um so mehr, als anderweitiges Material
über den nämlichen Gegenstand, wenn auch zerstreut, doch in hinreichender
Menge vorhanden ist, um uns die Einzelnheiten des Conflicts mit Deutlichkeit
überblicken zu lassen.
Borausgeschickt sei aber in Betreff der jetzigen Verwaltung der Stiftung
(wir meinen die seit dem 1. Juli in Function getretene), daß diese Verwaltung,
der Majorität nach, sich zu den Grundsätzen der vorigen Verwaltung bekennt.
Im jetzigen Verwaltungsräthe sitzen nämlich abermals Berlin, München und
Weimar, ferner deren Bundesgenosse Wien. d. h. von sämmtlichen sieben Ver¬
waltungsrathsstimmen gehören nicht weniger als fünf der alten Richtung an,
indem unter diesen vier Zweigstiftungen der Vorort begriffen ist, dieser aber
satzungsgemäß zwei Verwaltungsrathsmitglicder stellt. Die weiter neu hinzu-
gekommenen Stiftungen sind Köln und die badische Landesstiftung, von denen
die letztere zur Opposition zählt, ohne übrigens bis jetzt in dem Kampfe eine
hervorragende Stellung eingenommen zu haben, während Köln sich auf der
letzten Generalversammlung sogar im Wesentlichen auf Seiten des Verwaltungs-
raths hielt. Im günstigsten Falle stehen die bisher von der Opposition geltend
gemachten Gesichtspunkte also auch jetzt, nachdem durch den Einspruch des
sächsischen Ministeriums die Rückkehr zu den alten Statuten und die Wahl
eines neuen Vororts durchgesetzt worden ist, im Verwaltungsrath wie 2 zu 5.
Was den neuen Vorort Wien betrifft, so hat er nicht nur Weimar auf der
vorigen Generalversammlung bei seiner Candidatur für die abermalige Vororts¬
ehre mit unterstützt, er hat auch in mehrmaligen Circularen den Standpunkt
Weimars verfochten; und schließlich hat er der Generalversammlung, nachdem
er mit 13 gegen 9 Stimmen selbst Vorort geworden war, die Absicht zu er¬
kennen gegeben: sein Amt „im Geiste Weimars" verwalten zu wollen.
/ Die letzte Generalversammlung ist überdies unter leidenschaftlichen An¬
griffen gegen das sächsische Ministerium und unter nicht minder leidenschaftlichen
Ausfällen gegen den Verfasser der vorerwähnten Oppositionsbroschüre zu Ende '
gegangen. Es heißt also nicht Oel ins Feuer gießen, sondern einfach den wirt¬
lichen Thatbestand wiedergeben und zur Klärung desselben beitragen, wenn die
nachfolgende Darstellung sich mit dem Zwiespalt als einem noch fortdauernden
beschäftigt.
Worin besteht derselbe?
Wir glauben, seinen Grundzügen nach, in der verschiedenen Ausfassung
des Stiftungszwecks, in der Art also, wie die Jahreszinsen des großen Stif¬
tungsfonds zu verwenden seien.
Hier ist der betreffende Paragraph s§ 1) der alten, jetzt wieder allseitig
anerkannten Sahungen:
„Die Schillerstiftung hat den Zweck, deutsche Schriftsteller und Schrift¬
stellerinnen, welche für die Nationalliteratur (mit Ausschluß der strengen Fach¬
wissenschaften) verdienstlich gewirkt, vorzugsweise solche, die sich dichterischer
Formen bedient haben, dadurch zu ehren, daß sie ihnen oder ihren Nächstange¬
hörigen Hinterlassenen in Fällen über sie verhängter schwerer Lebenssorge Hilfe
und Beistand darbietet.
„Sollten es die Mittel erlauben, und Schriftsteller oder Schriftstellerinnen,
auf welche obige Merkmale nicht sämmtlich zutreffen, zu Hilfe und Beistand
empfohlen werden, so bleibt deren Berücksichtigung dem Ermessen des Verwal-
tungsraths überlassen."
Es ist schon bei der ersten Gründung auf die Gefahren aufmerksam gemacht
worden, welche Stiftungen dieser Art in ihrem Schooße bergen. Ohne Zweifel
fehlt es uns in Deutschland nicht an Personen, welche ansprechende Gedichte
machen, obschon sie nicht eigentlichen Dichterberuf haben, und obschon sie und
die Ihrigen sich ohne jene Fertigkeit weit besser befinden würden. Die Enge
unsrer politischen Verhältnisse und die große Verbreitung von allerlei im Leben
uicht immer verwerthbaren ästhetischen Kenntnissen sorgen dafür, daß nach wie
bor das deutsche Gemüth sich mit Vorliebe, wenn auch häufig ohne alle Hörer,
im Blasen der Pansflöte gefällt. Diese friedliche Beschäftigung ist nun leider
weniger harmlos, als es scheinen möchte. Goethe sagt einmal in seinem Brief¬
wechsel mit Schiller: „Die poetische Thätigkeit ist doch nun einmal der beste
Zustand, den Gott den Menschen hat gönnen wollen". Es braucht niemand
Goethe zu sein, um sich der Gunst der Musen mit gleich gehobener Empfindung
Zu erfreuen. Dem Gestalt zu geben, was in unsrer Seele lebt, ist in der
That ein Endbinden unsrer besten Kräfte, ein Freiwerden vom Drucke des
Stoffes, und wer athmete nicht gern einmal in dem feinen Aether des idealen
Schaffens? Dennoch wird nicht ungestraft vom Tische der Götter gespeist. Die
gewöhnliche Tageskost verliert an Reiz. Die Nüchternheiten der Berufspflichten
beginnen abstoßender zu wirken. Unmerklich spannen sich Saiten ab, welche
einen kräftigen, wenn auch rauhen Ton versprachen, und andere straffen sich,
deren vielverheißender Klang bald genug sich als trügerisch und ohne auf-
haltende Dauerfähigkcit erweist. Aber die neue Lebensbahn ist einmal be¬
teten, die alten Gleise lassen sich nicht wiederfinden. Kleine Erfolge reizen
zum Erstreben großer. Die goldnen Ernten der Mittelmäßigkeit erwecken.
Wenn nicht den Neid, so doch, im Bewußtsein reinerer Ziele und edlerer Be¬
gabung, den Zorn des Anerkennungerzwingenwollens, den Wahn des Siegen-
wüssens auf Grund des besseren Könnens. Eine Hoffnung vertröstet die andere,
eine Selbsttäuschung belügt die andere, und endlich versinkt die Wirklichkeit
und ihre herben Ansprüche hinter die nebelhaften Schleier einer traumartig
krankhaften Lebensauffassung, die mit der einen Hand streichelt und mit der
andern ins Elend stößt.
Eine Stiftung, welche die Zahl dieser verfehlten Existenzen vermehren hälfe,
wäre ein Fluch und kein Segen.
Man hat sich daher mit Recht gefragt: Wird die Schillerstiftung nicht
eine Pflanzschule der Mittelmäßigkeit werden? Wird sie und ihre Prämien die
Kunst des bloßen Versemachens nicht noch epidemischer machen? Werden Leute,
die das Zeug zu etwas Besserem als zum schlechten Poeten in sich tragen, nicht
durch diese Versorgungsanstalt bei der Wahl ihres Lebensberufs auf die Wege
Apolls abgeleitet werden, unbekümmert darum, ob diese Wege in einen Sumpf
auslaufen?
Und weiter hat man sich gefragt: entgeht die Stiftung dieser Gefahr nicht
am einfachsten dadurch, daß sie sichs zur wesentlichen Aufgabe macht, das Loos
solcher Dichter zu verschönern, welche sich bereits als Geister bevorzugter Art
bewährt haben? kaun sie nicht, indem sie denselben annehmbar große Jah»
gehalte aussetzt, die vielleicht zeitweilig erwerbsmäßige Thätigkeit dieser Erlesenen
wieder in freies dichterisches Schaffen verwandeln und solcher Art der deutschen
Dichtung zu neuem Aufblühen verhelfen? — Rückert, Geibel, Paul Hevse,
Bodenstedt und andere Dichter deutscher Zunge erfreuen sich mehr oder minder
ansehnlicher Pensionen aus Fürstenhänden. Sollte die Ehre, hat man gefragt,
durch die Hand des Volkes als Dichter über die Sorge des Lebens hinausge¬
hoben zu werden, eine geringere, eine zweifelhaftere sein können?
Aus Erwägungen solchen Charakters ist der weitere Gedanke hervorgegangen,
durch Gründung einer Akademie die Finanzseite des Gegenstandes in die zweite
Linie zurückzudrängen, und vor allem „Akademiker" zu ernennen, eine Würde,
an welche sich dann in weniger neu scheinender Form der Bezug eines ent¬
sprechenden Jahrgehalts anknüpfen ließ.
Wir behalten uns vor, unsere Meinung über dieses Thema der weitern
historischen Darstellung folgen zu lassen.
Insoweit der Veranstalter der Nationallotterie vor allem für den Geld¬
zuwachs der Stiftung von entscheidender Bedeutung gewesen ist, mag hier er¬
wähnt werden, daß der verstorbene Major Serre der Gründung einer Akademie
im angedeuteten Sinne mit großer Begeisterung das Wort redete, wennschon
nach glaubwürdiger Versicherung der Gedanke selbst nicht sein Eigenthum war.
Harmlos und zugleich phantastisch erregt, wie man in den ersten Jahren der
werdenden Stiftung und ihren Aufgaben gegenüberstand, hatte sich wohl aller¬
dings in vielen poetischen Gemüthern der schöne Traum einer neuen Literatur¬
epoche aus dem bunten Durcheinander der mannigfachsten Hoffnungen heraus¬
gesponnen, und schon der erste Anreger des ganzen Schillerstiftungsplanes trug
sehr bald den Wunsch im Herzen, sein Beginnen schließlich'durch die Gründung
einer Akademie gekrönt zu sehen. Wir citiren die eigenen Worte Julius
Hammers, indem wir aus seiner „Geschichte der Schillerstiftung 2. Abth. 18S9"
den Schluß hierher setzen: „Dann aber . . . (nach Einführung der Oeffentlich-
keit) möchte die Zeit gekommen sein, wo das Institut der Mildthätigkeit sich zu
einer Kunst und Wissenschaft umfassenden deutschen Akademie erweitert
haben wird. — Das walte Gott!"
Aber auch Julius Hammer war in diesem Punkte wohl kaum ohne eine
gewisse zeitgeistige Beeinflussung geblieben. Weimar hatte durch die Gründung
einer Malerakademie den Geschmack für Veranstaltungen dieser Art eben erst
auf einen ähnliche» Weg hinzuleiten verstanden. Frankfurt trug sich mit aller¬
hand Hochstiftprojecten. In sehr luftigen Gebilden begannen der Gemüther
sich Vorstellungen und Ahnungen zu bemächtigen, die von einigen als der
Keim einer völlig neuen, jeder Staatsbeeinflussung entzogenen Art von Uni¬
versität aufgefaßt wurden, während andere sich darunter etwas wie die Ver¬
schmelzung von Belriguardo, Versailles und Sabinum denken mochten, eine
Pflanzstätte des Schönen und Hohen, welcher die Tassos, die Racines, die
Horaze nicht fehlen würden.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die mit der Nationallotterie in erster
Linie beschäftigte» Persönlichkeiten, je größer die Einnahme zu werden begann,
desto öfter von solchen Dingen reden hörten, und daß sich in ihnen selbst allmälig
der Wunsch festsetzte, über die bloße Mildthätigkeit hinaus die Grundsteine zu
einem Bau so vielverhcißender Art legen zu dürfen. Als dann der Abschluß
des Lottogeschäfts heranrückte, die statutenmäßig aber nicht zulässige Ueberant-
Wertung deS erworbenen Capitales an die sieben Verwaltungsräthe allerlei
Abwickelungsvvrschläge hervorrief, da folgte es von selbst, daß von dem soge¬
nannten Hauptverein der Nationallotterie die ÄkadeMiefrage zuerst förmlich zur
Sprache gebracht wurde.
Von diesem, durch die Verhältnisse naturgemäß gegebenen äußern Anstoß
datirt die Sage, das Akademieproject sei vor allem Dresdens geistiges Eigen¬
thum. Die Wahrheit ist, es wurde von allen Seiten zu jener Zeit dem Un¬
ternehmer der Nationallotterie zugetragen, und als er nun nach einer Form
suchte, um die für die Schillerstiftung erworbenen 300.000 Thlr. der Stiftung
zu übereignen, glaubte er dem Wunsche aller zu begegnen, indem er mit dem
Vorschlag kam: 100,000 Thlr. von jener Summe für die Gründung einer
deutschen Akademie abzutrennen. — Nach den seitdem in der Schillerstistung
ZU Tage getretenen Sympathien scheint es zweifellos, daß dieser Vorschlag in
nichts Anderem verfehlt war, als in der höchst unglücklich gewählten Form.
Ließ man ihn aus dem Schoße der Stiftung hervorgehen, statt ihn von außen,
gewissermaßen wie eine Forderung, in die Stiftung hineinzuwerfen, so kam
die Sache damals zur Ausführung. Es ist sehr bezeichnend, daß selbst die
heftige frankfurter Gegenschrift, welche gleich darauf die Rechte der Stiftung
gegen Major Scrre — jetzt auf einmal ihr vermeintlicher Becintrcichtigcr —
zu verfechten unternahm, sich lediglich mit der Frage beschäftigte, ob Major
Serie die 300,000 Thlr. nicht ohne weiteres an jene sieben Herren (einer war
in Frankfurt) zu überantworten habe, daß diese Schrift aber gegen den Aka¬
demieplan auch nicht einen einzigen Pfeil zu verschießen für nöthig fand. Der
weitere Vorschlag Serres. die Oeffentlichkeit einzuführen, verletzte in gleicher
Weise. Wohl hatte sich das Heimlichkcitsverfahren bereits als nur mangelhaft
durchführbar erwiesen, und die Mehrheit der Stiftungsmitglieder hätte sich gern
durch Einführung der Oeffentlichkeit unter die Controle der Nation gestellt;
aber als Bedingung des Major Serre trug dieser Vorschlag den Charakter des
Mißtrauens und erbitterte die Gemüther. Inzwischen hatte der Verwaltungs-
rath die Abhaltung einer außerordentlichen Generalversammlung ausgeschrieben
und sich, wie um einen Mittelweg zu finden, des verketzerten dresdner Akade-
mieprojects in folgender Weise bemächtigt: es sollten etwa SO Ehrenmitglieder
ernannt werden; von diesen wären 10 bis 12, ohne Rücksicht auf Bedürftigkeit,
zu besolden und zwar mit 600 Thalern jährlich. Herr v. Dingelstedt hat sich
einige Monate später in einem bereits anderweitig veröffentlichten Schreiben
an Major Serre (October 1862) sehr rückhaltslos über diesen Gegenstand aus¬
gesprochen. Der Verwaltungsrath, heißt es darin, habe sich selbst bereits mit
dem Akadcmicplan seit längerem beschäftigt gehabt. Ein sehr ausgeführter
Plan zu einer Akademie sei fertig gewesen, so daß also die An- und Absichten
des Hauptvcreins und des Verwaltungsraths auf das Erfreulichste sich begegnen.
„Leider," fährt das Schreiben fort, „war es mit der Generalversammlung nicht
derselbe Fall. Abgesehen davon, daß dieselbe von vornherein festhielt an der
einen formellen Bestimmung der Geschäftsordnung, laut welcher nur Zwcig-
stiftungen Anträge an die Generalversammlung zu bringen berechtigt sein sollten,
glaubt sie u. s. w. Mit den Satzungen," schließt er, „mag dann aller¬
dings weder der Akademicgcdanke, noch das Oeffentlichkeitsprincip leicht in
Einklang zu bringen sein . . ." Diese letztere Ansicht des Vorsitzenden
des Verwaltungsraths hat sich, wie bekannt, im Verlauf seiner weitern Ge¬
schäftserfahrungen geändert.
Es bleibt hier nun noch des Compromisses zu erwähnen, welcher zwischen
dem Hauptvercin der Nationallottcrie und dem Verwaltungsrath am 15. Juli
1862 vereinbart wurde, insofern der, wie oben gezeigt worden ist. beiden
Contrahirenden gemeinsam gehörende Gedanke einer deutschen Akademie darin
ausdrücklich als einer künftigen Verwirklichung vorbehalten hingestellt worden
ist. Der betreffende Paragraph 3 lautet folgendermaßen: „Sollte die vom
Lotteriehauptverein beantragte Abzweigung eines Capitals bon 100,000 Thlrn.
zur künftigen Gründung eines.akademischen Instituts die Genehmigung der
Generalversammlung finden, so wird an den . . . Bestimmungen in Betreff
der . . . Zinsen etwas nicht geändert". — Das Wesentliche hierbei ist, daß
sich das sächsische Cultusministerium damals herbeigelassen hat, auch diesen
Paragraphen des Kompromisses zu bestätigen. An sich hat diese Bestätigung
für die Form der künftigen Akademie zwar noch keinerlei Bedeutung. Es ist
dadurch aber später möglich geworden, das sächsische Ministerium in den Ver¬
dacht einer besonderen Parteinahme für dieses Project zu bringen und die
Gründe seines neulichen Verhaltens darauf zurückzuführen.
So viel über die ersten Stadien, welche diese Angelegenheit durchlaufen
hat. Dresden ist durch die Schuld des Lotterievereins zu dem ostensiblen An¬
stifter des Akademieplans geworden, und was der Verwaltungsrath in derselben
Richtung befürwortet hat, erscheint lediglich als um des lieben Friedens willen
befürwortet. Wir glauben allerdings annehmen zu dürfen, daß einige Mit¬
glieder des Verwaltungsraths dem großen Plane, wenn er sich in Weimar
verwirklichen ließ, noch weit günstiger gestimmt waren, als selbst der Major
Serre.
Und dies bringt uns auf die Stellung Weimars und sein Verhältniß zu
der Schillerstiftung.
Man ist hier -und da der Meinung, dies Verhältniß sei überhaupt ein so
ursprüngliches, daß die Stiftung früher oder später ihr Wanderleben in Wei-
war beschließen müsse. Was jetzt dagegen geschehe, seien nur kleinliche Intri¬
guen der Mißgunst. Dem ist indessen doch wohl folgendes entgegenzuhalten.
Der erste Ausruf zur Gründung der Schillerstistung datirt bekanntlich von 18SS.
Er ging von Julius Hammer in Dresden aus und fand in dieser Stadt die erste
Unterstützung. Im Juni 1857 waren in Dresden bereits 7000 Thlr. gesam¬
melt worden, und es hatten sich Filiale in Berlin, München, Stuttgart, Frank¬
furt, Hamburg und Darmstadt gebildet. Weimar war noch ohne Zweigstiftung.
Erst im Mai 1868 wurde das Versäumte nachgeholt, und von da an bleibt
das Interesse Weimars für die jetzt allerdings bereits sehr ansehnlich fundirte
Stiftung im stetigen Wachsthum. Die schwierigsten Arbeiten sind also ohne
Weimar geschehen. Dennoch gaben sein endliches Hinzutreten, die rege bekun¬
dete Theilnahme des weimarscher Staatsoberhauptes, die geschäftskundige Per¬
sönlichkeit Herrn v. Dingelstedts, die allgemeine Dankbarkeit endlich für die
von Weimar damals grade veranstaltete monumentale Verherrlichung Goethes
und Schillers, alles dies, sagen wir, gab der weimarscher Filiale sofort eine
schwer wiegende Bedeutung. Bis dahin hatte Dresden für die bleibende (Zen¬
tralstelle der Stiftung gegolten. Jetzt regte sich in der Mitte des dresdner
Vorstandes der Wunsch, durch ein Wechseln des Vororts auch andere Stiftungs-
orte an der Ehre des Vorsitzes theilnehmen zu lassen und der Stiftung dadurch
vor allem einen allgemein deutschen, keinen blos provinziellen Charakter zu
sichern. Als diejenige Stadt, an welche Dresden die Vorortswürde nach der
Beendigung seiner eigenen provisorischen Thätigkeit für die nächste fünfjährige
Periode verliehen zu sehen wünschte, schlug der dresdner Vorstand selber dann
Weimar vor. Dies geschah in der Form eines Antrags an die constitnirende
Versammlung von 1859, welche in Dresden abgehalten wurde.
Es geht ziemlich augenfällig aus diesen Thatsachen hervor — einmal: daß
Weimars Verdienst um die Stiftung ein geringeres ist als dasjenige Dresdens,
dann aber auch, daß Dresden die Stiftung nicht im specifisch sächsischen In¬
teresse festhalten wollte, eine damals wohl kaum sehr schwierige Sache.
Wir haben schon erwähnt, daß die während des ersten Jahres dieser Ver¬
waltungsperiode ohne das Verdienst der Schillerstiftung sich ins Riesige ent¬
wickelnde Nationallotterie dem Akademicgedanten neue Nahrung gab; daß er
immer und immer wieder empfohlen wurde, bis Major Serra sich desselben
endlich als kategorische Bedingung bemächtigte; daß er dann in dieser wenig
anheimelnden Form durchfiel, von dem Verwaltungsrath indessen wenigstens
in das schließliche Cvmpromiß hinübergerettet wurde. Dies geschah 1862,
nachdem man ein hervorragendes Mitglied des dresdner Vorstandes durch die
Creirung der Generalsekretariatsstelle nach Weimar herübergezogen hatte. Das
Akademieproject war nun zwar, als mit dem Statut der Stiftung nicht ver¬
einbar, von der Generalversammlung von 1862 abgelehnt worden, doch hatten
die Begünstiger dieses Plans ihn damals wohl nur aus der Besorgnis;. die
Verständigung über die Lotterieerträgnisse durch tiefgreifendere Erörterungen zu
erschweren, ohne ernsten Kampf beseitigen lassen. Nun der Vertrag über die
jährlich an den Vorort zu entrichtenden Zinsraten abgeschlossen worden war,
empfahl sich für die dem Akademieproject Geneigter ein allmäliges aus dem
Wege Räumen der ihm entgegenstehenden Hindernisse.
Diese waren im Grunde nicht sehr groß. Derjenige Paragraph, welcher
den Grundgedanken der Stiftung ausdrückte, bediente sich allerdings zu zweien
Malen der Worte „Hilfe und Beistand"; von Vergabungen an Nichthilfsbe¬
dürftige konnte also nicht wohl die Rede sein. Aber § 11 der nämlichen Sta¬
tuten enthielt die Bestimmung: die Generalversammlung entscheidet in höchster
Instanz über alle Angelegenheiten der Stiftung. Sie konnte also den Para¬
graphen 1, sagte man sich, Andern. Es kam nur darauf an, eine Mehrheit
zusammenzubringen, welche ^ des Gesammtvermögens besitze.
Was diese diplomatische Aufgabe betrifft, so standen auch hierfür einige
Hebel zu Gebote, die nicht wohl versagen konnten. Zuerst: Wenn der Ver¬
waltungsrath in sich nur einig ist -- und Dresden, die vermögendste Stiftung,
gehörte ja zum Verwaltungsrath — so bildet er bei der Generalversammlung
schon einen hinreichend festen Kern, um gegen eine etwaige Opposition den
Vortheil cntschiedner Anziehungskraft geltend zu machen. Denn da jedes seiner
Mitglieder wieder in dem Vorstande seiner Zweigstistung Sitz und Stimme hat,
und in den meisten Fällen, schon wegen seines fortwährenden Zusammenhanges
mit den täglichen Stiftungsobliegcnheiten, als das geschäftskundigste, also ein¬
flußreichste Mitglied seiner Zweigstistung zu betrauten ist. so hat bisher wenig¬
stens die Erfahrung gelehrt, daß der Verwaltungsrath diejenigen Zweigstiftungen,
aus welchen er selbst gebildet ist, zu seinen unbedingten Anhängern zählen
kann. Nun sind bisher aber vorzugsweise die größeren Stiftungen im Ver-
Waltungsrath vertreten gewesen — Dresden. Berlin, Frankfurt, München,
Stuttgart, Weimar — jetzt wieder Wien, so daß die Anhänger des Ver¬
waltungsraths zugleich die größeren Stiftungen umfaßten. Durch das unbe¬
dingte Eintreten dieser für ihre im Verwaltungsrath sitzenden Kollegen finden
sich also schon sechs ministeriell gesinnte Stimmen zusammen, denen das Ge-
bahren des Verwaltungsraths ein ganz festes Programm bietet. Ferner be¬
willigen die Statuten auch Verwaltungsmitgliedern und namentlich dem Vor¬
orte das Recht, andere Stiftungen zu vertreten, und zwar kann jedes Vor¬
standsmitglied eine Zweigstiftung und ebenso jedes Verwaltungsrathsmitglied
sogar (§ 96) durch solche Uebertragungen zur Führung von zwei Stimmen
gelangen. Der Vorstand Weimars (der Vvrortsstiftung also) besteht aber aus
nicht weniger als 10 Personen; der Verwaltungsrath, wie schon erwähnt,
aus 7. Umfaßt der letztere nun, wie es in der ersten Periode der Fall war,
so ziemlich alle bedeutenderen Stiftungen — nur Wien, das aber keine Oppo¬
sition machte, war ja noch draußen geblieben — hat ferner der Vorort durch
den nur ihm möglichen Ueberblick über die in der Stiftung auftauchenden
Meinungen, Begehrlichkeiten, Persönlichkeiten und durch deren gewandte Be¬
nutzung oder Umstimmung sich einen entscheidenden Einfluß gesichert, so wird
es begreiflicherweise keine großen Anstrengungen kosten, sich die wenigen Stim¬
men noch zu sichern, durch deren Beistand eine ministerielle Majorität die
etwaige Opposition lahm legt. Bei Fragen, welche nicht Statutenveränderungen
betreffen, braucht diese Majorität im ungünstigsten Falle, nämlich wenn alle
22 Zweigstiftungen vertreten sind, nur aus 12 Stimmen zu bestehen. Doch
räumt der 100. Paragraph der (Neschäftsordnung auch hier dem Vorort noch
eine nicht zu verachtende Begünstigung ein. „Bei Stimmengleichheit." besagt
dieser Paragraph, „entscheidet die Stimme der vorörtlichen Zweigstistung".
Wenn man schließlich noch die leicht zur Regel werdende Sitte, den Vorsitzenden
der Stiftung zugleich durch die Übertragung der Präsidcntenwürde bei den
Generalversammlungen zu ehren, berücksichtigt, so bedarf es keines Nachweises,
daß der Opposition eine ziemlich schwere Rolle zufällt.
Es braucht das Capitel der Orden- und Titelverleihungen hier natürlich
Nur insofern verübrl zu werden, als die besondern Verhältnisse der Stiftung
zur weimarscher Residenz in Frage kommen. Der Gedanke, die deutsche Schiller¬
stiftung überhaupt unter ein fürstliches Protectorat zu stellen, ist gleich in den
Anfangsphasen der Stiftung mit Lebhaftigkeit bekämpft worden. Als ein
natürliches Gefühl der Dankbarkeit gegen den Protector der Nationallotterie
später eine Art innigeres Verhältniß auch zwischen der Schillerstistung und
Weimar anzubahnen begann, wäre es vielleicht wünschenswerth — wenn auch
nicht gerade höflich — gewesen, die im Uebrigen ja republikanische Verfassung
der Stiftung durch einen Paragraphen zu vervollständigen, welcher die Ver¬
leihung von Titeln und Orden an die Mitglieder der Stiftung, event, deren
Annahme, für nicht statthaft erklärt hätte. Da nichts Derartiges geschehen ist,
lag es im natürlichen Lauf der menschlichen Dinge, daß die weimarische Vor¬
ortsperiode auch nach dieser Seite hin Herzen zu erobern wußte; ein der
deutschen Loyalität, wie bekannt, im allgemeinen durchaus nicht anstößiges
Gebe- und Nehmeverhältniß, das aber, wo sichs um Majoritäten und Mino¬
ritäten handelt, jedenfalls zum Verständniß der Waffengleichheit oder Ungleich¬
heit einen beachtenswerthen Beitrag liefert.
Wir kommen nun zu demjenigen Acte des Verwaltungsraths, welcher,
nach der Ansicht der Opposition, das Akademieproject in veränderter Form
plötzlich als in voller Ausführung begriffen erkennen ließ, wir meinen die so¬
genannten „Darbietungen von Ehrengaben". Wie viel und wie oft dergleichen
namhafte Summen verabreicht worden sind, das ist der Oeffentlichkeit nicht
bekannt geworden. Da die „Darbietungen" in einer Zeit begonnen haben,
wo der Heimlichkeitsparagraph 10 noch Geltung hatte, so müssen wir uns auf
den seitdem wiederholt in der Presse zur Sprache gekommenen desfai'lsigen
Passus des in der Octobcrgeneralversammlung verlesenen amtlichen Verwaltungs¬
berichts beschränken. Es heißt darin nach dem Protokoll: „Der Verwaltungs¬
rath sei in Gewährung einer Darbietung nicht aus seinen Befugnissen heraus¬
gegangen, denn sowohl an V. Auerbach als an Baucrnfeld und Freiligrath,
die zum 10. November 1863 Ehrengaben erhalten hätten, sei vom Verwal-
tungsrath eine Anfrage vorher ergangen, ob sie die ihnen dargebotene Ehren¬
gabe annähmen. Alle drei genannten Schriftsteller aber hätten geantwortet,
daß sie die ihnen in Aussicht gestellten Gaben annähmen. Materiell sei vom
Verwaltungsrath je nach den vorhandenen Mitteln gegeben worden, und wenn
diese nicht hätten erschöpft werden können, habe man Darbietungen gemacht".
Diese Rechtfertigung dürfte jedenfalls, wenn eine solche überhaupt nöthig
war. keine glückliche sein. Einer der drei Genannten, B. Auerbach. hat seit¬
dem, wie bekannt, durch ein Schreiben an R. Waldmüller, die ihm von Weimar
zugesandten 600 Thaler in die Hände der Wittwe Otto Ludwigs überantwortet
und dadurch die Meinung widerlegt, als habe er, ein Nichthilfsbedürftiger, sich
in der Lage geglaubt, an den Unterstützungen der milden Stiftung participircn
zu dürfen. Er betont sogar ausdrücklich, er habe nur auf eine Gelegenheit
gewartet, die ihm gewordene Gabe passend zu verwenden. Ganz gleichgiltig
aber muß es für die Kritik dieser Darbietungen erscheinen, wie der zufällige
Empfänger sich einen Paragraphen auslegt, dessen strenge Observanz nicht seine,
sondern die Sache der Stiftungsmitglieder und vor allem des Verwaltungs¬
raths ist. Ob die Gaben angenommen wurden, das ist eine völlig irrelevante
Frage. Ob sie angeboten werden durften, daraus kommt es an. Dies ist aber
zweifellos grade in dem vorgenannten Falle nicht der Fall. Wo keine Hilfs¬
bedürftigkeit vorhanden ist. kann nicht von „Hilfe und Beistand" darbieten die
Rede sein. Der Zweck der Stiftung ist aber, wie erwähnt, einmal „in Fällen
schwerer Lebenssorge Hilfe und Beistand" darzubieten; demnächst auch
solche Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu „berücksichtigen, auf welche obige
Merkmale nicht sämmtlich zutreffen" (verdienstliches Wirken für die National-
titeratur und zwar in dichterischer Form, sowie das Borhandensein schwerer
Lebenssorgen), wenn diese Personen nämlich „zu Hilfe und Beistand empfohlen
werden". Beide Kcuegvrien tragen also den Stempel der Hilfsbedürftigkeit
an der Stirn. Einem bemittelten Autor fünfhundert Thaler aus dem Fond der Stif¬
tung zu überlassen, war demnach eine flagrante Verkennung des Stiftungszweckes.
Wenn man nun bedenkt, daß der Plan der Ernennung besoldeter und
unbesoldeter Ehrenmitglieder der Schillerstistung im Jahre 1862 von der Ge¬
neralversammlung abgelehnt worden war, so muß es allerdings befremden,
bereits im folgenden Jahre den Berwaltungsrath über die Grenzen seiner Be¬
fugnisse so sehr im Unklaren zu sehen. Die Worte Akademie und Ehrenmit¬
gliedschaft — das war jedenfalls aus den früher über dieses Capitel gepflo¬
genen Debatten deutlich genug hervorgegangen — galten nicht für das einzig
Verwerfliche des ganzen Vorhabens; vielmehr sollte vor allem unter den Kenn¬
zeichen der Anwartschaft auf Unterstützungen die Hilfsbedürstigkeit, weil
in den Statuten ausgesprochen, nicht als unerläßliche Bedingung beseitigt wer¬
den. Es konnte daher nicht fehlen, daß grabe diese Vergabung, sobald sie
bekannt wurde, mannigfache Mißbilligung fand und von vielen als ein Ver¬
such ausgelegt ward, die Beschlüsse der Generalversammlung sowohl, wie das
Grundgesetz der Stiftung selbst in willkürlicher Weise zu interpretiren. Da der
mehrerwähnte Empfänger am Sitze einer Verwaltungszweigstiftung (Berlin)
domicilirt war und überdies für eine Umgestaltung der Schillerstiftung im ver¬
wandten Sinne öffentlich gewirkt hatte, so lag sogar die — wie wir glauben,
irrige — Vermuthung einer vorausgegangenen Verabredung nahe, und es ward
der Argwohn rege, der Verwaltungsrath habe in seiner Begeisterung für dich¬
terische Leistungen, gleichviel ob Nothleidender oder Nichtnothleidender, durch
einen recht in die Augen springenden Act allem weiteren Streite über die Frage
selbst ein Ende machen wollen.
Es ist später bei der amtlichen Vertheidigung dieser Vergabung — wir
fürchten nicht zum Vortheil der Stiftung — die Unmöglichkeit behauptet wor«
den, das viele vorhandene Geld auf andere Weise unterzubringen. Da das
Verzeichnis; der Abgewiesenen den Zweigstiftungen nicht übersandt wird, Viel¬
mehr ein persönlicher Einblick in die desfallsigen Acten zur Beurtheilung dieses
Gegenstandes nöthig wäre, zu welcher zeitraubenden Prüfung den Abgeordneten
der Generalversammlung begreiflicherweise aber keine Muße bleibt, so ist es
schwer, sich über jene Behauptung eine Meinung zu bilden. Oeffentliche Samm¬
lungen für die Hinterlassenen mehr oder weniger verdienstvoller Schriftsteller
sind indessen um dieselbe Zeit nöthig geworden, auf welche jene Ueberflußklage
ihre Anwendung finden soll. Wir erinnern nur an die Aufrufe für die Hinter¬
lassenen Hermann Margraffs und Otto Ruppius, welcher letztere Aufruf sogar,
wenn wir nicht irren, von einem stellvertretenden Mitglied? des berliner Ver¬
waltungsrathes mitunterzeichnet war. Nicht minder datirt aus dem nämlichen
Jahre des Ueberflusses eine von den Bekannten und dem Arzte Otto Ludwigs
beim Verwaltungsrath eingereichte Vorstellung, in welcher neben der Erhöhung
des unzureichenden Jahrgehalts die Abtragung einer während der Krankheit
des längst für unheilbar Erklärten ausgelaufene, ihn entsetzlich drückende Schul¬
denlast von siebenhundert Thalern warm und eingehend befürwortet wurde.
Es ist bekannt, daß der Verwaltungsrath der Schillerstiftung diese Schuldenlast
dem Erliegenden nicht abgenommen hat. Private Sammlungen und eine Vor¬
lesung Lewinslys waren erst nach und nach im Stande, das von der Schiller¬
stiftung Verabsäumte gut zu machen. Jene Vorstellung aber datirte vom Januar
1863; die „Darbietungen", deren wir erwähnten, tragen den 10. November
des Mauchen Jahres als Datum. Sie wurden gemacht, sagt das Protokoll,
„weil die vorhandenen Mittel nicht Härten erschöpft werden können".
Es wird, wenn nöthig, wahrscheinlich möglich sein, manche verwandte Fälle
aus derselben Zeit nachzuweisen. Für unsern gegenwärtigen Zweck mögen die
erwähnten Vorkommnisse genügen. Gleich hier sei indessen noch einer, wie es
scheint officiösen, Auslassung in der Nationalzeitung gedacht, nach welcher der
Verwaltungsrath es gar nicht als seine Aufgabe betrachten dürfe, Wittwen „mit
zehn Kindern" sorgenfrei zu stellen. Dieser Protest gegen eine allzuzahlreiche
Nachkommenschaft der im Uebrigen als unterstützungswürdig Erscheinenden ist
ein charakteristischer Fingerzeig für die wunderliche Vielseitigkeit der über die
Zwecke der Schillerstiftung umlaufenden Meinungen.
Vergleichende Zusammenstellung der europäischen Staatsausgaben von Eduard Pfeiffer.
Stuttgart und Leipzig. Verlag von A. Kröner. 1865. 100 S. 8.
In den kleineren Staaten giebts weniger Steuern als in den großen, also
ists besser, einem von jenen als einem von diesen anzugehören — Nassau und
Würtemberg, Sachsen und Bayern geben weniger aus als Preußen, also muß
dort wohlfeiler regiert werden können als hier — so oder in ähnlicher Weise
hört man häusig nicht blos von politischer Einfalt, sondern auch von Klügeren
raisonniren. Prüfen wir das einmal mit den Augen des Verfassers obiger
Schrift. Zahlen sollen ja nach Goethe beweisen, wie die Welt regiert wird,
und das thun sie auch, nur kommt es auf das Arrangement an.
Nicht viele Dinge nämlich giebt es. mit denen so leicht und so oft Mi߬
brauch getrieben wird, als mit statistischen Begleichungen. Ohne daß man
eine Zahlensälschung vorzunehmen braucht, lassen sich doch immer durch die
Art der Anordnung solcher Tabellen, durch Gegenüberstellung gleichnamiger,
aber nicht gleichartiger Größen u. d. in. diejenigen Ergebnisse herausdemonstriren,
die man dem Leser oder Hörer vorhalten zu können wünscht, und so erklärt
sich, wie nicht selten der Versuch gemacht wurde, die allerentgegengesetztesten
Dinge mit denselben Ziffern zu beweisen.
Erfordert nun schon an und für sich jede statistische Vergleichung die größte
Sorgfalt und Unparteilichkeit, wenn es nicht zu grober Täuschung kommen soll,
so ist eine solche, die sich mit Budgetzahlen beschäftigt, noch mit der ganz be¬
sondern Schwierigkeit verbunden, daß die Abfassung des Budgets fast in jedem
Staate nach andern Grundsätzen vorgenommen wird.
Die obenangeführte Arbeit vermeidet diese Schwierigkeit auf eine Weise,
die ebenso neu als zweckentsprechend ist. Sie ist der erste Versuch einer finanz¬
statistischen Vergleichung im größern Maßstabe, der nicht auf blos oberflächlicher
Zusammenstellung der in den EinzelnbudgctS ausgeworfenen Hauptsummen be¬
ruht, sondern auf Grund möglichst genauen Eingehens in die Details und mit
strenger Einhaltung derselben Methode ganz unabhängig von der Verschiedenheit
unternommen wird, die in der Behandlung der einzelnen Budgetanlagen ob¬
waltet. Nur so war es möglich, auch wirklich Gleichartiges zur Vergleichung
nebeneinanderzustellen, und so viel auch in dieser Richtung ohne Zweifel
noch zu leisten ist, übertrifft doch das hier Gegebene die nach der bisher üb¬
lichen Methode gelieferten sinanzstatistischen Vergleichungen im Allgemeinen*)
beträchtlich an Genauigkeit und weicht in wesentlichen Punkten so sehr von
den herrschenden Vorstellungen ab, daß es wohl lohnt, weitere Kreise auf die
Von dem Verfasser gewonnenen Resultate aufmerksam zu .machen. Die Tabellen,
ans denen er dieselbe» zieht, bitten wir die Leser selbst nachzusehen.
Die erste Tabelle zeigt das Verhältniß, in welchen bei den fünf mittel¬
europäischen Großstaaten: Frankreich, Großbritannien, Italien, Oestreich und
Preußen, dann bei acht mittelgroßen und kleinen deutschen Staaten, endlich bei
der Schweiz die Gesammrsumme der Staatsausgaben zu der Summe dessen
steht, was der Verfasser „eigentliche Regierungsausgabcn" nennt. Unter letz¬
teren versteht er die Kosten für Hofhaltung, Verzinsung und Tilgung der Schuld.
Justiz. Militär, Auswärtiges. Cultus, Polizei, Förderung von Handel, Ge¬
werbe und Landwirthschaft, kurz für alle wesentlichen Staatsfunctionen, wogegen
er die Verwaliungskosten der Domäne» und Forsten, der Pohle», Telegraphen
und Eisenbahnen, der Hüttenwerke und aller übrigen Staatsgewerbe als nicht
eigentliche Regicrungsausgabcn bezeichnet. Blicken wir auf die Tabelle, so finden
wir, daß von den Gesammtausgaben auf die wirklichen und eigentlichen Rc-
gierungsausgaben in England 93, in Italien fast 85, in Frankreich 83. in
Preußen immer noch 66, in Sachsen dagegen nur SO, in Würtemberg 45 und
in Hannover gar nur 44 Procent fallen, daß also in den letztgenannten Staaten
noch nicht einmal die Hälfte der Staatsausgaben für eigentliche Regierungs¬
zwecke verwendet wird. Kein Wunder, wenn man weiß, um was die betreffenden
Regierungen sich alles kümmern, und wie sie eine ganze Menge von Geschäften
besorgen, die durchaus nicht Staatsgeschäfte genannt werden können. Während
England und Frankreich schon längst mit den Domänen ziemlich aufgeräumt
haben, kauft man in den Mittelstaaten von den Ueberschüssen neue Domänen.
Während jene Großstaaten nichts von Staatseisenbahnen wissen, möchten Mittcl-
staaten alle Bahnen in die Hände'der Regierung bringen. Aehnlich steht es
mit den Berg- und Hüttenwerken und verschiedenen Gewerbs- und Handels¬
unternehmungen, ja in Nassau giebt sich die Negierung sogar mit Eifer dem
Geschäft des Lumpensammelns hin. Staatsanstalten aber wie Domänen und
Eisenbahnen oder gar monopolisirte Gewerbe, wie der nassauische LnmpenHandel,
die der Regierung reine Überschüsse lassen, sind nichts Anderes als eine indirecte
Besteuerung, die von den Staatsangehörigen im Preise der betreffenden Pro-
ducte oder in den. Fracht- und Fahrtaxen entrichtet wird.
Sicht man sich die dritte Tabelle, eine Zusammenstellung der wirtlichen
Regierungsausgaben, berechnet nach der auf jeden Kopf fallenden Summe,
oberflächlich an, so kann man, namentlich im Hinblick auf Frankreich und Eng¬
land, sich leicht zu einer Bewunderung der verhältnißmäßigen Wohlfeilheit der
mittelstaatlichen Regierungen hinreißen lassen. Aber man bedenkt dann nicht,
daß diese Wohlfeilheit großentheils daher rührt, daß diese Staaten ihre Staat-
liebe Aufgabe theils schlechter, theils gcir nicht erfüllen, und daß dieselben einen
funfzigjährigen Frieden genossen haben, und man Übersicht ferner, daß in Preußen,
dem Großstaat, diese Ausgaben im Ganzen verhältnihmähig geringer sind als
in den kleinen deutschen Königreichen mit Ausnahme Würtembergs, und sehr
viel geringer als in Baden, Hessen-Kassel und Nassau.
Um nun herauszufinden, worin der Grund der großen Verschiedenheit in
den Bedürfnissen der einzelnen Staaten liegt, zerlegt der Verfasser die in seiner
ersten Tabelle angeführten Gesammtausgaben in ihre hauptsächlichen Posten,
wobei er die Ausgaben für die Verzinsung, Tilgung und Verwaltung der
Staatsschulden und dann diejenigen für Militär und Flotte voranstellt, weil
in diesen Posten der Schwerpunkt aller neueren Budgets liegt.
Aus der Tabelle über die Ausgaben, welche die Staatsschulden verursachen,
sehen wir, daß, während England fast 6, Frankreich beinahe 4 und Oestreich
ziemlich 3 Thaler per Kopf für diese Ausgaben zu verwenden hat, die deutschen
Königreiche nur bis 1 Thaler per Kopf für Schulden verausgaben, wobei
wieder Preußen, Hannover und Würtemberg günstiger gestellt sind als Sachsen
und Bayern. Berücksichtigen wir den Antheil, welchen die Erfordernisse der
Schuld an der Gesammtsumme der eigentlichen Regierungsausgaben haben, so
rückt Oestreich in die erste Linie, indem hier nicht weniger als 42 Procent
sämmtlicher Staatsausgaben, die als eigentliche Regierungskostcn zu betrachten
sind, von der Staatsschuld verschlungen werden. In den deutschen Staaten
fallen 7 bis 20 Procent aller Staatsausgaben auf jene, wobei Würtemberg
mit ungefähr 7, Baden mit etwa 8, Preußen und Hannover mit circa 11 Procent
am günstigsten, Bayern mit etwa 17 und Sachsen mit 19 Procent am un¬
günstigsten gestellt sind.
Betrachten wir die Tabelle über die Kosten für das Militärwescn. so finden
wir, daß sich dieselben in Preußen und Oestreich auf 2,z Thlr. pro Kops be¬
laufen, in England auf mehr als das Doppelte und in Frankreich immer noch
auf S,i, in den deutschen Mittelstaaten dagegen nur auf ungefähr IVs Thlr.
Das scheint verhältnißmäßig wenig zu sein, ziehen wir aber mit dem Verfasser
in Betracht, was mit dieser Ausgabe hier geleistet wird, so überzeugen wir
uns sofort, daß die gebrachten Opfer unverhältnißmäßig groß sind. Oder was
helfen diese mittelstaatlichen Armeen, wenn es sich um deren Selbständigkeit
handelt? Kein einigermaßen Verständiger wird sich darüber täuschen können,
daß diese Selbständigkeit nicht durch jene Heere, sondern lediglich durch die ge¬
stimmten europäischen Verhältnisse gesichert ist. Der eigentliche Zweck der
stehenden Heere: Schulz gegen äußere Feinde zu gewähren wird durch das Mui>
tärsystem der Mittelstaaten so gut wie gar nicht erfüllt. Man werfe nicht den
deutschen Bund ein. der von Oestreich bei der Einladung zum Fürstencongreß
für eine Null erklärt wurde, und der sich im darauf folgenden Zähre als solche
erwies. Die Selbständigkeit unsrer Mittelstaaten bleibt immer eine imaginäre,
so lange sie mit Staaten zusammengrenzen, die zehn- und zwanzig-, ja dreißig¬
mal so große Heere ins Feld führen tonnen, als so ein Staat. Weder die
28,000 Würtenberger, noch die 108,000 Bayern können hindern, daß die be¬
treffenden Staaten aufhören müssen zu bestehen, sobald die Großmast, an die
sie sich anlehnen, es nicht mehr für geeignet hält, sie zu desabuser. „Wenn
also die Ausgaben," sagt der Verfasser, „welche die Großmächte für militärische
Anstalten machen, ungeheuer erscheinen, so sind die der Klein- und Mittelstaaten
in gar keiner Weise zu rechtfertigen, weil nicht einmal der erste und wichtigste
Zweck der staatlichen Selbständigkeit damit erreicht wird."
Sollen nun etwa die Mittelstaaten ihre Heere vergrößern? Sie könn¬
ten es durch Einführung des schweizerischen Systems, meint der Verfasser,
aber wir vermuthen, sie wissen, daß diese Methode nicht die rechte sein würde.
Sie könnten es durch Nachahmung der preußischen Militäreinrichtungcn. aber
wo bliebe dann die behagliche Existenz der Steuerpflichtigen in diesen Ländern,
die wir zu Anfang dieses Aufsatzes preisen hörten?
Sehr interessante Aufschlüsse giebt die siebente Tabelle unsrer Schrift, die
wir deshalb ausnahmsweise ganz mittheilen:
Diese Nebeneinanderstellung zeigt, daß fast im gleichen Verhältniß, wie
die Zahl der Einwohner eines Landes abnimmt, die auf jeden Kopf fallenden
Kosten für den Hof steigen, und in demselben Maße nimmt auch ihr verhält¬
nißmäßiger Antheil an den allgemeinen Staatsausgaben zu. Jeder Nassauer
zahlt also, wie wir sahen. 0,?. der Bürger der größeren Mittelstaaten 0,4. der
Preuße nur 0,2 Thaler für den Hofhalt des regierenden Hauses. Während in
England nicht ganz ein volles Procent der eigentlichen Regierungsausgaben zu
diesem Zwecke verwendet wird und in Preußen etwa 3 Procent genügen, ver¬
schlingen in den Mittelstaaten Hofhaltung, Civilliste und Apanagen bis zu 12
Procent sämmtlicher Regierungsausgaben. Wenn wir dann weiter bemerken,
daß in Anhalt 22, in Schwarzburg 24, in Mecklenburg-Strelitz 34 und in
Reuß 35 Procent der jährlichen Gesammtciusgaben für den Hof gemacht wer¬
den, so mag dies Anlaß geben zu höchst lehrreichen Schlüssen, besonders auch
in Betreff der staatlichen Zersplitterung des Landes der Deutschen.
Noch mehr tritt der Uebelstand deutscher Kleinstaaterei an der Tabelle der
Ausgaben für auswärtige Angelegenheiten hervor. Wenn der Mittel- und
Süddeutsche sich Rechenschaft darüber zu geben sucht, welchen Vortheil er aus
der Vertretung seines Octav- oder Duodezstaates im Auslande zieht und dieser
ganze Vortheil sich dann vielleicht auf eine Einladung zu einem Hoffest in den
Tuilerien oder der wiener Burg beschränkt, die einem bevorzugten Landsmann
durch Vermittelung seiner Gesandtschaft zu Theil wird, und wenn der Sachse,
Würtenberger oder Hannoveraner dem entgegenhält, wie sorgsam und kräftig
die Interessen eines jeden Engländers und Franzosen selbst in den entferntesten
Gegenden gewahrt werden, und wie die consularische Thätigkeit dieser Staaten
sich nicht darauf beschränkt, dem Einzelnen den nöthigen Schutz zu verschaffen,
sondern auch den ganzen auswärtigen Handel eifrig zu fördern sucht, so muß
selbst dem verhärtetsten Particularisten ein Licht aufgehen über die Kläglichkeit
solcher Zustände. Und dabei kostet diese mangelhafte, beinahe unnütze Einrich-
tung den deutschen Mittclstaaten im Verhältniß zur Bevölkerung fast ebenso
viel, als die Leitung und Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten Eng¬
lands und Frankreichs. Preußen und Oestreich leisten selbstverständlich auf
diesem Felde weit mehr als die Mittelstaaten, aber weil sie Großstaaten sind,
leisten sie dies mit der Hälfte der Kosten, die jene aufwenden. Und die Schweiz,
welche sich auf ein weises Maß beschränkte und durch ihre Vertretung im Aus¬
lande nicht den Glanz einer Krone zu erhöhen, nicht hungrigem Adel Sine-
curen zu schaffen hatte, sondern ihr Hauptaugenmerk darauf richtete, die Handels¬
und Verkehrinteresscn zu fördern, konnte die auswärtigen Angelegenheiten mit
noch weit weniger Aufwand bestreiten als die deutschen Mittelstaatcn. Die
meisten Ausgaben hat in dieser Beziehung das Herzogthum Nassau, welches
für seine Vertretung im Auslande mehr als noch einmal so viel wie England,
fast dreimal so viel wie Frankreich, über fünfmal so viel wie Preußen und gerade
sechsundzwanzigmal so viel ausgiebt wie die Schweiz. Von den vier kleinen
deutschen Königreichen verschwendet in dieser Richtung Würtemberg am meisten
welches sich seine Gesandten und sonstigen Diplomaten beinahe so viel wie Eng¬
land kosten läßt; wohlfeiler, aber immer noch so theuer wie Frankreich, wirth¬
schaftet in dieser Beziehung Hannover, noch etwas wohlfeiler, aber immer noch
sechsmal so theuer wie die Schweiz Sachsen, am wohlfeilsten, wenn auch genau
so theuer als Preußen, Bayern. „Sollte", so fragen wir mit dem Verfasser,
„das Beispiel der Eidgenossenschaft uns Deutsche nickt wenigstens in dem einen
Punkte zum Muster dienen und uns anspornen, ähnlich wie dort die Vertretung
der deutschen Interessen im Auslande durch ein einziges und nicht wie bisher
durch zweiunddreißig verschiedene Organe besorgen zu lassen?"
Aehnlich wie mit den Ausgaben für das Auswärtige geht es mit den
Civilpensioncn, die auch in den einzelnen Ländern fast im gleichen Verhältniß
mehr erfordern wie die Größe des Staates abnimmt — beiläufig ganz natur¬
gemäß, denn je kleiner das Land, desto größer wird in der Regel verhältni߬
mäßig die Zahl der Staatsbeamten, und je mehr im Verhältniß Aemter da
sind, desto größer wird auch die Menge der Pensionsberechtigten sein. Betrachten
wir die betreffende Tabelle, so sehen wir, daß England auf diesem Gebiet am
wenigsten ausgiebt, was sich aus dem dort vorherrschenden Selfgovernment
erklärt, bei dem es wenig Staatsbeamte giebt, daß Preußen schon dreimal
viel für Civilpensionen verausgabt, und daß die deutschen Mittelstaaten
so für die Pensionirung ihrer Beamten vier- bis sechsmal so viel ausgeben
müssen als England. Scheinen Sachsen, Würtemberg und Hessen-Darmstadt,
wo sich die Sache ungefähr wie bei Preußen stellt, eine günstige Ausnahme
zu machen, so ist der Grund hiervon nicht in einer größeren Vereinfachung
des Verwaltungsorganismus oder in einer verhältnißmäßig geringeren Beamten¬
zahl in diesen Staaten zu suchen, sondern einfach darin, daß hier die Pensionen
ganz außerordentlich niedrig angesetzt sind.
Auch die Ausgaben für die Volksvertretung, welche die elfte Tabelle unsrer
Schrift bringt, müssen natürlich verhältnißmäßig um so größer sein, je unbe¬
deutender der Staat ist, schon deshalb, weil in den kleinen Ländern im Ver¬
hältniß zur Bevölkerungszahl viel mehr Volksvertreter ernannt oder gewählt
werden müssen. Denn fänden die Wahlen überall im gleichen Verhältniß wie
etwa für den gesetzgebenden Körper Frankreichs statt, so müßte die Volksreprä¬
sentation in vielen unsrer deutschen Staaten aus einem oder zwei, in einigen
sogar nur aus einem halben Abgeordneten bestehen. Natürlich kommen also in
den kleineren Staaten auf dieselbe Zahl Einwohner weit mehr Repräsentanten
als in den Großstaaten, und damit wachsen selbstverständlich auch verhältni߬
mäßig die Kosten der Volksvertretung. Sachsen giebt dafür doppelt, Hannover
dreimal, Würtemberg gar viermal so viel aus als Preußen, und der Kosten¬
unterschied zwischen den Mittelstaaten und dem Großstaat Preußen würde hier
noch größer sein, wenn jene sich nicht dadurch helfen wollten, daß sie ihre
Kammern nicht alljährlich, sondern nur alle zwei oder drei Jahre zusammen¬
treten lassen, was allerdings dem Staatsseckel. keineswegs aber der constitu-
tionellen Praxis zu Gute kommt. Geradezu komisch nimmt sichs aus, wenn
man in der Tabelle sieht, wie die nassauischen Kammern noch um ein Drittel
mehr kosten als die beiden englischen Häuser, und wenn man die Bedeutung
dieser verschiedenen parlamentarischen Versammlungen und deren Leistungen
miteinander vergleicht. Aber, wie der Verfasser sagt, man braucht ja nur kurze
Zeit die Verhandlungen unsrer Mittel- und Kleinstaats-Landtage zu verfolgen.-
um einzusehen, daß hier, obwohl sichs um weit kleinere Interessen handelt, doch
am Geschäftsgang nichts vereinfacht und die Rede ebenso lang gesponnen wird,
als in den großen Parlamenten.
Sehen wir uns die Tabelle an, welche die Ausgaben für die Finanzver-
waltung in den verschiedenen Staaten verzeichnet, so finden wir wieder Ursache,
uns zu wundern. Am billigsten werden die Finanzen in England und in
Preußen verwaltet. Dann folgt in aufsteigender Richtung Italien, hierauf
Baden, der Canton Bern, Frankreich, Hannover, Bayern, Sachsen. Hessen-
Kassel, Hessen-Darmstadt, Würtemberg, Nassau und zuletzt Oestreich. Die nas¬
sauische Finanzverwaltung kostet im Verhältniß SV« Mal, die würtenbergische 5,
die bayerische 4V-, die sächsische 4, die hannöversche 3V» Mal so viel als die
preußische. Im Allgemeinen und mit Ausnahme von Oestreich und Frankreich,
die unter besonderen Verhältnissen leiden und deren Finanzverwaltung ziemlich
achtmal so theuer ist als die Englands und Preußens, folgen in der Tabelle
die verschiedenen Staaten fast genau nach der Größe ihrer Einwohnerzahl auf¬
einander, d. h. je größer diese, desto wohlfeiler die Finanzverwaltung. Nur
dem Canton Bern und dem Großherzogthum Baden ist es gelungen, durch
möglichste Vereinfachung ihrer Finanzverwaltung einen viel bessern Platz in der
Reihenfolge einzunehmen, als ihnen vermöge ihrer Bewohnerzahl zukommen
würde, wogegen Würtemberg neben Nassau und fast auf gleicher Stufe mit
Oestreich steht, was bei den gutgevrdneten Finanzen dieses Landes auffallen
müßte, wenn es sich nicht durch Uebermaß von Schreibereien bei den betreffenden
Regierungsbehörden erklärte.
Von den übrigen Tabellen können wir hier nur noch zwei betrachten, die,
welche die Ausgaben der verschiedenen Staaten für Förderung von Handel,
Gewerbe und Landwirthschaft, und die, welche die Ausgaben für Unterrichts¬
zwecke und für Wissenschaft und Kunst zusammenstellt. Was jene betrifft, so
gilt freilich der Satz: am besten sorgt der Staat für Gewerbe, Handel und
Landwirthschaft, wenn er alle diejenigen Schranken wegräumt, welche der freien
Entwickelung der Kräfte entgegenstehen, also z. B. durch Einführung voller
Gewerbefreiheit und durch möglichste Annäherung an das Freihandelssystem.
In diesem Sinne kann er am besten auf dem Wege der Gesetzgebung für das
Wohl seiner Angehörigen sorgen und braucht fast gar keine Ausgaben dafür zu
machen. So wurde in England und in den verständiger verwalteten Cantonen
der Schweiz vorgegangen, und beide haben sich eben nicht übel dabei gestanden.
Dies ist aber nicht der Geist, in welchem diese Frage von den übrigen Regie¬
rungen behandelt wird, vielmehr nehmen diese nach den verschiedensten Richtungen
hin Anläufe, um Handel und Industrie ihres Landes direct zu unterstützen,
und da muß es allerdings überraschen, so verschwindend kleine Summen für
diese Zwecke ausgesetzt zu sehen, Summen, die meist nur 0,<>i bis O.gz Thaler
und nirgends mehr als 0,^ Thaler per Kopf der Bevölkerung ausmachen.
Nach der Tabelle leisten von den deutschen Staaten Baden und Hannover in
dieser Richtung am meisten, dann folgt Sachsen, hierauf Preußen; am wenigsten
aber geschieht — und das ist gewiß charakteristisch — von Kurhessen, Oestreich
und Bayern.
Was die Ausgaben für Unterricht, Wissenschaft und Kunst angeht, so würde
nach der Tabelle des Verfassers die Reihenfolge der deutschen Staaten, wenn
man nach dem Grade ihres Eifers für jene Zwecke fragte, Hessen-Kassel an die
Spitze stellen, und dann würden nach einander Würtemberg, Nassau, Baden,
Hannover, Sachsen. Bayern, Hessen-Darmstadt, Preußen und Oestreich folgen.
Indeß herrscht zwischen den einzelnen Staaten große Verschiedenheit in der Art
und Weise, wie sie die Gemeinden zur Sorge für den Volksunterricht heran¬
ziehen oder wie diese ungezwungene Leistungen nach dieser Seite hin übernehmen.
Außerdem aber bestehen hier zahlreiche Stiftungen, deren Erträge zur Bestreitung
von höhern Schulen und Universitäten bestimmt, und die häusig in den Budgets
nicht aufgeführt sind, über die also der Verfasser authentische Nachrichten zu
sammeln nicht vermochte. Die hier gegebenen Zahlen dürfen also nicht zum
absoluten Maßstab für das genommen werden, was in den verschiedenen deutschen
Ländern für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft geschieht. Immer aber be¬
halten sie Interesse, weil wir daraus wenigstens einigermaßen ersehen, was die
einzelnen Regierungen in dieser Beziehung zu thun für nöthig halten, und in
-welchem Verhältniß dies zu den Ausgaben steht, die sie für andere Zwecke machen.
Steht Preußen hier ziemlich tief, so ist zu bedenken, daß es außerordentlich
viel mehr als seine deutschen Nachbarn in den Mittelstaaten für Militärzwecke
ausgeben muß, also für Unterricht und Wissenschaft nicht so viel thun kann, als
wenn diese Nothwendigkeit nicht bestände. Es hält sein starkes Heer mit für
die Mittclstaaten und wenn nicht für diese, für Deutschland, und um diesen
Beruf erfüllen zu können, muß es an der Schule sparen — kein gesundes und
erfreuliches Verhältniß und darum ein solches, welches Abhilfe verlangt und
über kurz oder lang Abhilfe finden wird, wie sehr man sich auch in gewissen
Kreisen dagegen entrüsten mag.
Wir empfehlen die Schrift angelegentlich, besonders den Schleswig-Hol¬
steinern, denen jetzt so viel Sand in die Augen gestreut wird, und die man so
eifrig über das, was ihr wahres Interesse ist. zu täuschen sucht. Wollen sie
durchaus bei ihrem selbständigen Staat beharren, so mögen sie wenigstens
wissen, daß er ihnen, selbst abgesehen von den Kriegsschulden, erheblich mehr
kosten wird als das Ergebniß eines Arrangements, welches Erfüllung der preu¬
ßischen Forderungen zum Ziel hat.
Es ist ja wohl Schopenhauer, der irgendwo in seinen Schriften die bittre,
aber nicht unzutreffende Bemerkung macht: „Der Franzose verbindet mit dem
Worte la<Zö. der Engländer mit iclsa einen sehr alltäglichen, aber doch ganz
bestimmten und deutlichen Sinn. Hingegen dem Deutschen, wenn man ihm
von Ideen redet, fängt an der Kopf zu schwindeln, alle Besonnenheit verläßt
ihn, ihm wird, als solle er in den Luftballon steigen/' Mir fällt dieser Aus¬
spruch immer wieder ein. wenn ich die Art und Weise prüfend mustere, mit
welcher der Deutsche, über den Ideen von Recht und Macht sich erhitzend, das
Einfachste in der politischen Krisis der Gegenwart außer Augen verliert, um
das Entlegenste festzuhalten. „Alle Besonnenheit verläßt ihn. ihm wird, als
solle er in den Luftballon steigen." Seit das Bewußtsein eines feindlichen
Gegensatzes zwischen Recht und Macht in steigender Beängstigung die Gemüther
ergriffen hat, kann man dies in Wahrheit von den Deutschen sagen. Die
Macht geräth in die Gefahr für rechtlos erklärt zu werden, blos deshalb, weil
sie mächtig ist, wie andererseits manches sogenannte Recht sich nicht vollgiltiger
legitimiren zu können glaubt, als indem es auf die Schwäche seines Trägers
verweist. Zwischendurch wird zuweilen mit Emphase und mit größter Begeiste¬
rung erklärt, daß doch dem Recht eine ungeheure, alles besiegende Macht inne-
wohne, aber an den unzähligen diesem Capitel gewidmeten Toasten und Tisch¬
reden nagt der nüchterne Zweifel, der sich aus dem Bewußtsein der Gegenwart
nicht mehr verdrängen läßt, ob tausend mit papiernen Rechten ausstaffierte
Existenzen nicht dadurch rechtskräftig zum Tode verurtheilt sind, daß sie nicht
die Macht haben sich aufrecht zu erhalten. Denn Existenzfragen sind Macht-
und keine Rechtsfragen — das ist, was jeder im Privatleben erfahren kann
und erfährt, und was auf politische Vorgänge zu übertragen den Deutschen so
unendliche Mühe macht. In seiner Anwendung auf die Vergangenheit geben wir
jenen Satz allerdings alle ohne Anstand zu. Wir sind alle bereit, gemeinschäd-
lich gewordene und unserer Anschauungsweise entfremdete Rechte zu confiscircn
und aufzuheben, womöglich ohne Entschädigung, wir sind alle daran thätig, mit
Schöpfungen früherer Zeiten aufzuräumen, deren rechtlicher Bestand oft gar nicht
zu läugnen ist, denen wir aber, wie einzelne wilde Stämme ihren Kranken,
deshalb ohne Bedenken den Gnadenstoß geben, weil sie hinfällig und uns zur
Last geworden sind.
Aber in Betreff der lebendigen Gegenwart, wo eben das Maß der poli¬
tischen Einsicht und der Fähigkeit zum Handeln am schärfsten zu Tage tritt,
liegt die Sache anders. Hier vergessen wir allzu leicht, daß auch das Recht,
um existent zu sein, eines Anderen bedarf als seines abstracten Inhalts, nämlich
eben der Macht, sich gegen die zu behaupten, welche ihm das Recht zu existiren
streitig machen. Es ist sicher etwas Schönes, für das Recht, wie man es eben
versteht, zu erglühen, auch da, wo es gebunden am Boden liegt, aber es ist
eitel hohle Abstraction, zu verkennen, daß, wo es sich um Fragen politischer
Existenz, wo es sich um Rechtsexistenzen handelt, die Lösung nur auf dem
Wege der Macht, des Vermögens, der Kraftentwicklung zu suchen und zu
finden ist.
Vergeblich sieht man sich in dem Gewirr und dem Widerstreit der Mei¬
nungen nach einer bestimmten, deutlichen Antwort auf die noch immer ungelöste
Räthselfrage um, wie denn die deutsche Kleinstaaterei jemals beseitigt werden
soll, wenn nicht auf dem Wege der Machtentfaltung desjenigen Staates, für
den diese Beseitigung eine Bedingung der vollen Entfaltung seiner Kräfte ist.
Im Namen des Rechts, sagen eifrige und aufrichtige Freunde der deutschen
Einheit, soll diese Frage gelöst werden, nicht auf dem Wege der Gewalt, Be¬
drückung und Ueberhebung eines Theils über den andern, der uns nur immer
weiter vom Ziele abführt, im Namen des unverjährbaren und unverlierbaren
Rechtes der Nation, Eins zu sein und auf dem Wege der Freiheit. Denn nur
der Freiheit ist es eigen, die Geister zu einem gemeinsamen Dienst zu vereinigen,
während dem Zwange wohl die Herrschaft über die Leiber, doch nicht über die
Seelen gelingen wird.
Unverkennbar geht durch diese und ähnliche, von der Tagespresse tausend¬
fältig variirte Auslassungen ein verwandter Zug des Idealismus, wie er in
unserer Philosophie trotz alles angeblichen Materialismus vorherrschend geblieben
ist. Wie sich in dieser die Erkenntniß weniger nach den Dingen als die Dinge
nach der Erkenntniß zu richten haben, so fragen jene Freunde der Einheit we¬
niger nach dem, was ist und sein kann, als nach dem, wie es gewissen für
richtig gehaltenen Voraussetzungen nach sein sollte. Weniger die Naturnoth-
wendigkeit, die auch in der Politik herrscht, wird ins Auge gefaßt als gewisse
Forderungen des sittlichen Bewußtseins, die unabhängig von der umgebenden
Welt der Thatsachen construirt sind.
Aber wie dort so halten auch hier die Voraussetzungen nicht Stich vor
einer nüchternen Untersuchung oder mindestens wird diese aus ihnen zu anderen
Schlußfolgerungen kommen. Denn fragen wir, wo denn jenes unverlierbare
und unvcrjährbare Recht der Nation, Eins zu sein, aus der Abstraction sich zu
einer geschichtlichen Thatsache erhoben hat, wo es der Nation gelungen ist, das¬
selbe — wie unvollkommen immer — zu realisiren und es zu mehr als einem
sittlichen Postulat, zu einer That zu gestalten, so ist die einzige Antwort darauf:
im Staate Preußen. Preußen ist in der That der Beweis für die Berechti¬
gung jenes Anspruches; denn die lebendige Existenz des Rechtes mißt sich am
Vermögen dasselbe zur Erscheinung zu bringe». Vergessen wir nicht, was so
leicht vergessen wird, daß, indem ich dem Individuum oder der Nation im
Allgemeinen ein Recht zugestehe, damit für dieses bestimmte Individuum,
diese bestimmte Nation noch gar nichts ausgesagt ist, sondern daß ich nur
zugestanden habe, daß in dem Begriff des Individuums, der Nation jenes
Recht mit einbedungen liegt. Wie weit dasselbe dieser bestimmten Nation zuzu¬
gestehen ist, hängt von dem Grade der Energie ab, mit der dieselbe sich den
abstracten Inhalt des Rechts individuell anzueignen und in Fleisch und Blut
umzusetzen vermocht hat, hängt mit einem Worte von ihrem Vermögen, dasselbe
zu realisiren, ab.
Hätten die Deutschen ihr vielbcredetes Recht auf eine einheitliche nationale
Existenzform in nichts Anderem zur Erscheinung zu bringen vermocht als in
den ihm gewidmeten Leistungen unserer Dichter und Tischredner und in den
Beweisführungen gelehrter Abhandlungen, so würde dasselbe mit Grund als
ein problematischer Anspruch erscheinen, für den der Beweis der vollen Rechts¬
fülle, die politische Gestaltungskraft, noch erst zu erbringen wäre. Nun haben
sie aber in der That etwas Anderes vermocht, nämlich inmitten des Zerfalls
des mittelalterlichen Lebens den Staat Preußen zu bilden, ihn mit einem
deutschen Inhalt zu erfüllen, ihn mit einer Machtfülle auszurüsten, die den
Schwerpunkt der deutschen Geschicke in ihn verlegt und ihm jenen zähen staat¬
lichen Egoismus einzupflanzen, der schon die ersten Anfänge dieses Staates auf
s» bemerkenswerthe Weise kennzeichnet und der vielleicht mehr wie alles Andere
das Gelingen der deutschen Einheitsbestrebungen für die Zukunft verbürgt.
Denn der Egoismus pflegt als mächtige Potenz noch vorzuhalten, wenn alle
anderen Triebfedern ihre Dienste versagen.
Es ist ganz im Geiste jenes politischen Idealismus gelegen, der in der
gegenwärtigen Bewegung der Geister in Deutschland so laut das Wort führt,
wenn man die Fehler und Gebrechen des preußischen Staates gegen ihn, gegen
seinen Beruf, gegen die einfache Wahrheit verwerthet, daß in ihm trotz alledem
das politisch organisüte Deutschland — soweit Deutschland sich eben politisch
zu organisiren vermocht hat — vorhanden ist. Denn wie es dem philosophischen
Idealismus eigen ist, das im Sinne der Natur Erste an die zweite Stelle zu
rücken, das Ursprüngliche für das Abgeleitete, das Abgeleitete für das Ursprüng¬
liche zu erklären, so wird auch bei jenem Verfahren nichts weniger als das
übersehen, daß die Mängel des preußischen Staatswesens vor allen Dingen
Ursprungszeugnisse sind, daß keine Anklage gegen Preußen erhoben werden
kann, die nicht im verstärkten Maße auf Deutschland zurückfiele. Denn das ist
dem logischen und am Zusammenhang der Dinge festhaltenden Denken doch
unverlierbar, daß ein anders gestalteter Genius der deutschen Nation auf poli¬
tischem Gebiet ein anderes Preußen geliefert haben würde, so gut wie der ab¬
weichende französische Genius die straffe Concentratio» Frankreichs bewirkt und
der polnische den Zerfall Polens möglich gemacht hat. Und was folgt denn
überhaupt aus der Totalsumme aller Mängel Preußens, gegen die wir in
Norddeutschland doch wahrhaftig auch um so weniger blind sind, je mehr sie
uns unsere Aufgabe erschweren, wenn wir sie auch vielleicht weniger als es in
Süddeutschland geschieht, mit vorübergehenden Zuständen identificiren, was
folgt aus ihnen weiter als das, was den Grundgedanken der grobpreußischen
oder richtiger nationalen Partei ausmacht: Preußen von diesen Mängeln zu
befreien, es der Freiheit zu erobern.
Ich meinestheils halte es in der That für keinen Verlust, daß das Capitel
der moralischen Eroberungen einstweilen von der Tagesordnung abgesetzt ist.
Im Zusammenhang mit ihnen hatte sich der deutschen „Stämme" die eigen¬
thümliche Vorstellung bemächtigt, daß Preußen für seinen Beruf, an die deutsche
Spitze zu treten, noch besondere Prüfungen durchzumachen habe. Bestand
Preußen diese Prüfungen schlecht, so sonnte sich jeder Stamm in der Ueber¬
zeugung, daß nicht er, sondern offenbar nur Preußen die Schuld trage, daß
noch immer an kein Vorwärtskommen zu denken sei; bestand Preußen wie unter
der neuen Aera cum lauäe, so war das belobigende Zeugniß guter Führung,
welches zu weiteren Hoffnungen für die Zukunft berechtige, sowie das Anwachsen
des Nationalvereins um einige Dutzend Mitglieder in Württemberg oder Bayern
schon als ein bemerkenswerther, im Ganzen aber doch sehr schwindsüchtiger
Erfolg zu registriren. Wehe aber, wenn in Preußen ein Rückfall eintrat. Die
Entrüstung im übrigen Deutschland war dann um so stürmischer, als sich jeder
Einzelne, der sich von dem liberalen Preußen hatte moralisch erobern lassen,
nun wie schnöde betrogen und als ein Verräther an seinem engeren Vaterlande
erschien.
Dieser ganze, man kann wohl sagen kleinstaatliche Charakter unserer in
meren deutschen Volkspolitik, an deren unerquicklichen Zügen der Nationalverein
meines Ercichtens einen nicht ganz unerheblichen Antheil hat. beruht auf einem
Gemisch von halbwahren Vorstellungen, unklaren Ansprüchen, unbegründeten
Voraussetzungen und übertriebenen Erwartungen.
Wer sagt uns denn überhaupt, daß Preußen in der Lage, in der Ver¬
fassung, wenn man dies gegenwärtig noch sagen kann, ist, um moralische Er¬
oberungen zu machen? Der Erfolg spricht doch wenigstens nicht dafür und die
Meinung derer von der extremste» Gegenseite, welche dasselbe rundweg ver¬
neinen, hat gewiß ungemein viel für sich. Was folgt nun daraus? Die guten
Freunde eines idealen Preußens, wie die Herren vom Nationalverein, lassen
ziemlich rathlos die Flügel hängen, andere ziehen sich im Unmuth völlig zurück,
andere werfen sich der blauweißen Demokratie in die rettenden Arme, alle aber
sind sich einig in der großen Resolution, daß das preußische Volk seine Pflicht
nicht erfülle, während jede Andeutung von Pflichten, die das übrige Deutsch¬
land gegen Preußen habe, mit hochgetragener sittlicher Entrüstung als preu¬
ßische Arroganz zurückgewiesen wird.
Wir aber erlauben uns dies die verkehrte Welt zu nennen und aus den
beiden Prämissen der Wichtigkeit Preußens für Deutschland und der thatsäch¬
lichen Erscheinung seines häusigen Rückfalls in überwundene Zustände die
Schlußfolgerung zu ziehen, daß es dem höchsten deutschen Interesse entspricht,
daß in Preußen ein dem vielgestaltigen Leben der Freiheit günstiger Boden
besser als es bis jetzt der Fall war, hergerichtet werde. Auch hier scheiden sich
freilich die Wege der politischen Idealisten und der Realisten. Erstere verlegen
den Ursprung der Freiheit meistens so hoch hinauf, daß das, was man die
Ackerwirthschaft derselben, die richtige Bestellung des Grund und Bodens, nennen
könnte, nicht zur vollen Geltung und richtigen Würdigung kommt.
Noch unlängst grüßte ein berühmtes Mitglied der preußischen Verfassungs¬
partei die am Rhein versammelten Festgenossen mit den Worten: „Der Wille
ists, der uns frei macht" — ein Ausspruch von schönem tröstlichen Klang und
doch so allgemein hingestellt, von gefährlicher Einseitigkeit. Denn im Staats¬
leben, wo ein Wille dem anderen gegenübersteht und mit ihm um Einfluß
ringt, ist nicht, daß der Wille vorhanden, sondern wie und unter welchen Be¬
dingungen er wirkt, das entscheidende Moment. Mit andern Worten: je mehr
ich quantitativ und qualitativ die Gewalt derjenigen Interessen — geistiger
und materieller — verstärke, die nur in der Freiheit, nur im Rechtsstaat, nur
da gedeihen können, wo sie die maßgebenden Factoren der Entwicklung ge¬
worden sind, desto mehr stärke ich das Schwergewicht der auf ein und dasselbe
Ziel gerichteten, durch das Band der Interessen vereinigten Willen, desto ge¬
wisser erzeugt sich aus ihnen alsdann der Gcscnnmtwille, „der uns frei macht".
Hierin liegt der letzte ausschlaggebende Grund für alle diejenigen, die in jedem
wahrhaften materiellen Größezuwachs Preußens einen unendlichen Fortschritt
erkennen, die in dieser Anschauung auch durch alle Widerwärtigkeiten, welche
sich mit der Lösung der Herzogthümerfrage in ihrem Sinne verknüpft haben,
nicht zu erschüttern sind. Nicht die mittelbaren, die unmittelbaren Folgen sind
hier vor allem ins Auge zu fassen. Die Frage ist von zu großer Natur, um
nach dem Maßstab der Strafe eines den Wünschen der liberalen Partei nicht
entsprechenden Ministeriums bemessen werden zu können. Nur wer jedes Blickes
für die realen Verhältnisse entbehrt, kann verkennen, daß die Herzogthümerfrage
unter der theils activen, theils passiven Antheilnahme aller betheiligten Factoren
sich zu der Frage, ob Preußen ein neues Olmütz davontragen solle, herausgebildet
hat, und nur der gänzlichen politischen Urteilslosigkeit mag es unbenommen
sein, nachdem dies einmal so weit gekommen, sich für diese Alternative zu
erklären und darin einen Sieg der Volksfreiheit und der Volksinteressen zu
erblicken.
Ein eigenthümliches Verhängnis) läßt die jetzige für Preußen und Deutsch¬
land, wie auch der Würfel fallen mag, so hochwichtige Entwicklung unter den
Auspicien eines Mannes vor sich gehen, der entschlossen und kühn speculirt,
aber alle Sympathien mit souveräner Geringschätzung von sich stößt.
Es ist als sollte die deutsche Nation mit Gewalt aus der Gcmüthsselig-
keit ihrer Jdealpolitik aufgerüttelt werden. Die idyllische Vorstellung eines
Entwickelungsganges der Dinge, bei dem das außerhalb Preußens befindliche
Deutschland im Wesentlichen nichts weiter zu thun hatte, als abzuwarten, bis
dort die Saaten der Freiheit in üppiger Blüthe standen, und dann sich mora¬
lisch erobern zu lassen, ist tief erschüttert und von selbst drängt sich eine ernst¬
haftere geschichtliche Auffassung von dem Wesen der Aufgaben, die Deutschland
in Bezug auf Preußen obliegen, in den Vordergrund. Ein Symptom dieser
sich langsam vollziehenden Umwandlung tritt in den Anfängen einer Partei¬
bildung im Sinne des so heftig geschmähten Großpreußenthums zu Tage. In
ihm lebt der auf einer realen Erkenntniß von der Natur der Dinge fußende
Gedanke, daß Preußen nicht, wie die Gegenpartei meint, von einem Größer¬
werden abgehalten werden müsse, weil es seinen Beruf schlecht erfülle, sondern
daß es dies eben großentheils infolge seiner ungenügenden Machtentwicklung
thut, daß für diesen Staat, seiner ganzen Geschichte und Entwicklungsstufe nach,
das Wort gilt: je mächtiger, desto freier, und daß Deutschland, indem es jeden
dahin zielenden Schritt unterstützt, am besten seinen wahren politischen Interessen
dient. Diesem Gedanken aber, so scheint mir, so sehr ihn die Gegenwart an¬
feindet, wird die Zukunft Recht geben, eben weil er sich auf diese und die
dauernden Verhältnisse des Staatslebens stützt.
Die Demoluung der Wälle begann. Doch ging man im Anfange so lang¬
sam und beinahe tändelnd vor. daß man es den Wienern nicht verübeln konnte,
wenn sie trotz ihrer früheren Klagen die ihnen nunmehr gestattete Abhilfe nur
zögernd benutzten. Nur besonders kühne oder von den Absichten der Regierung
genauer unterrichtete Speculanten wagten sich an den Kauf der übrigens nur
Periodisch und vereinzelt aufgebotenen Bauplätze.
Vielleicht glaubte man, wie in allen übrigen Angelegenheiten, auch bei der
Demolirung der wiener Stadtwälle durch die Verwendung des militärischen
Elements am frühesten zum Ziele zu gelangen. Es wurde daher, als mit der
Niederreißung des Stubenthores und der anstoßenden Wallstrecke der Anfang
gemacht wurde, neben dem eigentlichen Stadterweiterungscomits noch ein eigenes
militärisches, größtentheils aus Genieoffizieren bestehendes Conn6 aufgestellt
und demselben ein zahlreiches Truppendetachement beigegeben. Man sprengte
die Mauern mit Pulver und Schießbaumwolle und machte viel Aufhebens von
den auf diese Weise unternommenen wissenschaftlichen Experimenten und den
durch dieselben erlangten mittelbaren und unmittelbaren Vortheilen. Bei näherer
Betrachtung aber erwiesen sich diese „wissenschaftlichen Experimente" als mili¬
tärische Spielereien und unverhältnißmäßig kostspielige Spectakelstücke. In das
zu sprengende Wallstück wurden eine Reihe Sprenglöcher gegraben und je nach
Belieben mit Pulver oder Wolle gefüllt. Die ganze Manipulation wurde ge-
wöhnlich nach der herkömmlichen Handwerksmethode ausgeführt und ging so
gemächlich vor sich, daß eine den hierbei zugewiesenen Militärs gleich starke
Taglöhnerabtheilung den Wall in der gleichen Zeit vollständig abgetragen und
auch das Material fortgeschafft haben würde. Das Schlußexperiment, die
Sprengung wurde auf pomphafte Weise in Scene gesetzt. Von den Männern
der Wissenschaft war entweder nichts zu sehen, oder wenn deren einige zugegen
waren, so geschah es nur zur äußern Verherrlichung des Festes, da sie keine
Stimme hatten und als bloße Figuranten irgendeine schickliche Stelle in der
Suite unter „den eingeladenen Civilisten" zugewiesen bekamen. Desto zahlreicher
war die Schaar der Offiziere, Hofchargen und sonstigen Uniformirten, welche
die Ankunft der betreffenden höchsten Persönlichkeiten erwarten mußten. Dann
geschah es auch wohl, daß irgendein Adjutant auf dem Platze erschien, um
sich von der Ausgiebigkeit der getroffenen Empsangsvorkehrungen zu über¬
zeugen, die Truppen zu besichtigen und allenfalls zum Schlüsse in herab¬
lassender Weise an einen der anwesenden Fachgelehrten eine denselben recht ver¬
blüffende Frage über Hunde oder Pferde zu richten. Trommel- und Trompeten-
Wirbel verkündeten dann die Annäherung Sr. Majestät, der zunächst die Trup¬
pen besichtigte und dann nach Begrüßung der anwesenden Notabilitäten sich zu
dem für ihn aufgestellten Thronsitze begab. Dann verschiedene Meldungen, ein
zustimmender Wink, ein Hornsignal, endlich von einigen Offizieren gebracht ein
Kästchen mit einem elektrischen Zündungsapparat. Die Bitte der Offiziere, den
Apparat gebrauchen zu wollen, wird huldvoll angehört und Erfüllung verheißen.
Hierauf ein zweites Hornsignal, unter unzähligen Verbeugungen stellt man das
Kästchen vor den hohen Herrn und giebt ihm die beiden Drähte in die Hände,
ein Dutzend züngelnde Flammen, eine riesige Staubwolke steigt empor, ein dem
Pelotonfeuer ähnliches Krachen erschallt, und alles ist vorüber. Der Staub
zertheilt sich, die Mauer ist in einen Hausen großer Steinklumpen verwandelt
worden, zu deren Verkleinerung und Wegschaffung die nun an die Stelle der
Soldaten tretenden slowakischen Taglöhner so ziemlich dieselbe Zeit benöthigen,
welche zur Demolirung der Mauer erforderlich gewesen wäre, und man verläßt
unter den Klängen der „Nationalhymne" den Platz.
Dieses Spiel wiederholte sich einige Male. Dann hatte man den Ge¬
schmack daran verloren und ließ die übrigen elf Zwölftel des Walles nach alt¬
herkömmlichen Brauche durch Haue und Spaten demoliren. Man hatte mit
jener Tändelei nichts gewonnen als die Wahrscheinlichkeit der Annahme, „daß
unter gewissen Umständen die Schießbaumwolle zuweilen mit größerem Bordseite
als das Schießpulver bei Sprengungen verwendet werden, ein ganz verläßlicher
Anhaltspunkt in dieser Beziehung aber jetzt noch nicht angegeben werden könne".
Zu diesem Ausspruch echter Mandarinenweisheit hätte man wahrlich auf wohl¬
feilere Art gelangen können.
Nun war zu beweisen, daß man nicht nur einreihen, sondern auch auf¬
bauen könne. Und die ersten Gebäude, welche die Regierung aufführen ließ,
waren fast ausschließlich militärischen Zwecken gewidmet. Später kamen noch
einige Kirchen und Brücken hinzu. Die meisten dieser Bauten der Regierung
erweckten nur den Wunsch, daß sie niemals gebaut worden wären, so übel
war der mit ihnen bekundete Geschmack. Und was schlimmer war. das mit
ihnen gegebene Beispiel blieb nicht ohne Nachahmung: die auf Kosten der
Commune oder von verschiedenen Korporationen aufgeführten Gebäude litten
theilweise an so auffälligen Gebrechen, daß das beißende Witzwort eines be¬
kannten Architekten, welcher Wien in dieser Beziehung mit Schilde, und
Lalenburg in eine Reihe stellen wollte, keineswegs ganz ungerechtfertigt er¬
schien. Freilich muß man bedenken, daß auch zu dieser Zeit nicht in erster
Linie die Befähigung des sich um die Ausführung irgendeines für allgemeine
Zwecke bestimmten Werkes bewerbenden Mannes, sondern dessen Familicnbc-
zichungen, seine Beliebtheit bei den betreffenden Bureauchefs, seine Geschmei¬
digkeit und seine unverdächtige politische Gesinnung maßgebend waren. Thürme,
in welchen die für sie bestimmten Glocken keinen Platz hatten, Brücken, von
welchen man, ohne deren augenblicklichen Einsturz^herbeizuführen, die Gerüste
nicht entfernen dürfte, Kanäle mit verkehrten Gefälle, Gebäude, die nach ihrer
Vollendung schon einfallen wollten, andere, bei denen wichtige Räumlichkeiten
vergessen waren, und die man deshalb umbauen mußte. Verwechslung der für
Gebäude verschiedener Bestimmung gehörenden Statuen und Ornamente. Kary¬
atiden, welche sammt den von ihnen getragenen Portalen ohne äußere Ver¬
anlassung stückweise auf die Vorübergehenden hinabbröckelten, gehörten beinahe
zu den alltäglichen Vorkommnissen. Der zahlreichen in Bild und Schrift, so¬
wie in dem Stil der Gebäude begangenen Anachronismen und sonstigen Mi߬
griffen soll hier gar keine Erwähnung geschehen.
Alle Stände und Provinzen hatten auf die Geburt des Kronprinzen die
Verschiedensten Hoffnungen gesetzt, da früher bei ähnlichen Anlässen umfassende
Gnadcnacte erlassen und großartige wohlthätige Stiftungen gegründet worden
waren. Diesmal schien nichts Derartiges geschehen zu sollen. In der letzten
Stunde aber wurde zur immerwährenden Erinnerung an das freudige Ereigniß
die Erbauung eines Spitales, und zwar eines Civilspitales angeordnet. Es
war dieses die erste wahrhaft und allgemein nützliche Schöpfung, welche von
der gegenwärtigen Regierung ins Leben gerufen wurde, und das betreffende Ge¬
bäude ist bis dato das letzte dieser Art geblieben, welches auf Staatskosten
aufgeführt wurde. Denn die seit den letzten acht bis zehn Jahren in Wien
und in den Provinzen entstandenen Humanitätsanstaltcn sind theils von An¬
fang an reine Privatunternehmungen, theils ist zwar ihr Bau von der Ne¬
uerung angeordnet oder auf vielfaches Drängen wenigstens genehmigt worden,
aber die Mittel dazu wurden nicht aus den gewöhnlichen Einnahmen des Staats¬
säckels bestritten, sondern mußten auf außerordentlichem Wege — entweder
durch eine Lotterie oder durch directe Sammlung — zusammengebracht werden.
Die Idee des Spitals war gut, aber man ging keineswegs mit besonderer
Eile an ihre Ausführung. Und zum Schlüsse wurde das Geld, welches man
zum vollständigen Ausbau des Nudolfspitales benöthigte, auf eine Weise her¬
beigeschafft, welche mit vollem Recht von dem Abgeordnetenhause und von der
öffentlichen Meinung für einen offenbaren Berfassungsbruch erklärt wurde. —
Das Gebäude wurde nachträglich mit allem nur denkbaren Pompe eingeweiht
und eröffnet, und es wurde, wie bei derartigen Gelegenheiten immer, Weihrauch
in übermäßiger Menge verbraucht. Bauverständige und Aerzte sind über die
Schönheit und zweckmäßige Einrichtung dieses Spitals ziemlich einig, aber «und
darüber, daß vieles Unnöthige hinzugefügt worden sei, sowie daß bei besserer
Verwaltung und Leitung und bei größerer Energie noch Vorzüglicheres zu bil¬
ligeren Preise und in kürzerer Zeit hätte geschaffen werden können.
Auf irgendeine Weise darauf aufmerksam gemacht, daß Wien an hervor-
ragenden Werken der Bildhauerkunst arm sei, und daß es namentlich an Stand¬
bildern berühmter Männer fast gänzlich fehle, suchte man diesem Mangel mit
einem Schlage abzuhelfen und that auch diesmal des Guten zu viel. In der
That waren bis dahin die Reiterstatue Josephs des Zweiten und das ebenso
kolossale als unschöne Standbild des Kaisers Franz, das Grabdenkmal der
Herzogin Christine in der Burgkirche und die herrliche Gruppe „Theseus" von
Canova die einzigen größeren Leistungen der plastischen Kunst in Wien. Und
diese genannten vier Werke befanden sich sämmtlich innerhalb oder nahe bei
der Burg, waren also auf einen Fleck zusammengedrängt, so daß die übrige
Stadt und die Vorstädte jeder derartigen Zierde entbehrten.
Die ersten Männer, denen man Standbilder zu setzen beschloß, waren
Männer des Schwertes. Und selbst unter diesen hätte eine bessere Auswahl
troffen wsro en können. Für das Arsenal wurden gleich bei fünf Dutzend
bestellt, gewiß eine vollkommen ausreichende Zahl, wenn man bedenkt, daß
wirklich große Feldherrn in der Geschichte Oestreichs ziemlich spärlich vorkommen.
Bei den in der Stadt aufzustellenden großen Standbildern aber mußte schon
ihrer geringeren Zahl wegen die Auswahl noch sorgfältiger getroffen werden.
Als Verwandter des kaiserlichen Hauses kam Erzherzog Karl natürlich zu¬
erst an die Reihe. Die Ausführung dieser schönen Reiterstatue macht dem
Meister Fernkorn alle Ehre. Aber leider wurde auch dieses Standbild un¬
mittelbar vor der Burg aufgestellt, und ihm gegenüber wird auch das gegen¬
wärtig noch unvollendete Standbild des Prinzen Eugen, dem diese Ehre un¬
zweifelhaft vor allen andern gebührt senkte, seinen Platz finden. Wie man
vernimmt, werden nach beendeten Umbaue des einen Burgflügels noch einige
andere Generale auf diese Weise verewigt werden, so daß dann ungefähr eben¬
so viele bronzene Schildwachen die Burg umgeben werden, als gegenwärtig
lebende Grenadiere und Gendarmen davor auf- und niederschreiten. Doch nicht
allein die Burg, auch die Stadt soll auf diese Weise beglückt werden, und wenn
es bei dem ursprünglichen Entwürfe bleibt, wird auf alle Stadttheile ein sanfter
Regen von bronzenen und steinernen militärischen Unsterblichkeiten niederfallen.
So soll an der Wien eine Statue des Fürsten Schwarzenberg, an welchem
selbst die eifrigsten Lobredner stets nur seine diplomatische Gewandtheit und
seine besondere Verträglichkeit — eine bei einem Feldherrn etwas zweideutige
Tugend — zu rühmen wissen, errichtet werden. Der Grundstein wurde am
funfzigsten Jahrestag der leipziger Schlacht*) gelegt, bei welcher Gelegenheit
es natürlich an Uebertreibungen nicht fehlte. Von einem Standbild Radetzkys,
der nicht nur als Feldherr Oestreich weit größere Dienste geleistet, sondern als
Generalstabschef der verbündeten Armeen der eigentliche Leiter des Ganzen und
die Wunderlampe war. zu welcher der dicke Fürst seine Zuflucht zu nehmen
pflegte, ist dagegen vorläufig noch nichts zu sehen. Ja es geschah sogar, daß
die für die nächstgelegene Wienbrücke bereits votirten Statuen wieder abbestellt
wurden, weil — nach dem wirklich einzigen Ausspruch eines einflußreichen
und in höheren Kreisen sehr beliebten Ingenieurs — „diese Statuen dem nahen
Schwarzenbergmonument eine zu nachtheilige Concurrenz machen würden!"
Dafür wurde eine andere Brücke desto reichlicher mit Statuen bedacht.
Doch ist man dabei seit zwölf Jahren erst bis zu der Berathung über die An¬
nahme einiger eingesendeten Modelle gekommen, vermuthlich weil sich unter den
Auszuhauenden auch einige Nichtmilitärs befinden. Ebenso hat das Ansuchen
der Gemeindevertretung um die Überlassung eines schicklichen Platzes für ein
bereits 1859 polirtes Schillermonument noch keine Antwort von Seiten des
betreffenden Ministeriums erhalten. Und obschon eine Gesellschaft „zur Er¬
haltung vaterländischer Baudenkmäler" besteht, wurden doch bei der jüngsten
Renovirung des Stephansdomes die äußerst kunstreichen und an sich schon
merkwürdigen Grabdenkmale mehrer berühmten Künstler und Gelehrten auf un¬
verantwortliche Weise verstümmelt oder gänzlich zerstört. Die Grabsteine
Friedrichs des Dritten und mehrer Bischöfe wurden dagegen verschont und sogar
mit bedeutenden Kosten restaurirt. Einigen liberalgesinnten Bürgern, welche
dem im fünfzehnten Jahrhundert Hingerichteten braven Bürgermeister Vorlauf
ein Denkmal oder wenigstens eine Erinnerungstafel widmen wollten, wurde in
vertraulicher Weise bekannt gegeben, „daß man hohen Ortes durchaus keinen
Einfluß auf derlei Angelegenheiten nehmen wolle, jedoch annehmen müsse, daß
die Absicht, einem wegen Rebellion Hingerichteten, wenn auch sonst ganz un¬
bescholtenen Manne auf diese Weise eine Ovation zu bringen, nur einer Ueber-
«ilung, von welcher der loyale Verstand der Bittsteller gewiß bald zurückgekehrt
sein dürfte, beizumessen sei".--
Das verhängnißvolle Jahr 1859 ertheilte auch in diesen Dingen manche
beherzigenswerthe Lehre. Indeß abermals zeigte sich, daß höheren Orts nur
im äußersten Nothfall und auch dann nur so viel nachgegeben wurde, als
unumgänglich nothwendig war. Alle Welt verlangte eine durchgreifende Re¬
form und verwünschte zugleich die bisherige Soldatenspielerei, welche im Frieden
das Mark des Landes vergeudet hatte. Bereitwillig sagte man Abhilfe zu,
aber wie kam man der Zusage nach! Wir bleiben bei unserm Gegenstande.
Ueberall entstanden neue militärische Bauten. Auch in Wien wurden sofort
einige Kasernen ganz neu gebaut, ältere Gebäude dieser Alt aber erweitert
und rcnovirt. Man sollte annehmen, daß hierdurch, sowie durch den Bau des
Arsenals und mehrer anderer Etablissements viele früher zu gleichen Zwecken
benutzte Gebäude entbehrlich geworden wären, und daß man durch die zweck¬
mäßige anderweitige Benutzung derselben oder durch deren Bermiethung oder
Verkauf wenigstens einen Theil der aus die Neubauten verwendeten großen
Kosten hätte einbringen können. So war es auch ursprünglich bestimmt wor¬
den, und in späterer Zeit noch bildeten die für Bermiethung oder Verkauf der¬
artiger Gebäude zu erwartenden Summen einen namhaften Posten in dem von
dem Minister vorgelegten EntWurfe des Budgets. Kam es aber wirklich dazu,
so wußte man für jedes Gebäude, welches auf diese Weise entbehrlich wurde,
sofort irgendeine Verwendung für andere Staatszwecke auszumitteln, und zwar
geschah dies gewöhnlich in sehr wenig zweckentsprechender und den Grundsätzen
vernünftiger Oekonomie widerstreitender Weise. Sogar leere Plätze, welche der
Militärverwaltung gehörten, wurden lieber unbenutzt gelassen oder zu gering¬
fügigen Zwecken verwendet, als daß man sie der Industrie, dem Handel oder
zu irgendeiner andern gemeinnützlichen Verwendung hingegeben hätte, mochte
auch der dafür gebotene Preis noch so beträchtlich sein. Verwaltungsbehörden,
deren sämmtliches Personal früher ganz bequem in drei bis vier kleinen Stuben
Platz gesunden hatte, erhielten jetzt Räume zugewiesen, in denen bis dahin
ganze Bataillone untergebracht worden waren.
Man wird das Gesagte nicht übertrieben finden, wenn man erfährt, daß
ein am Rande des ehemaligen Glacis befindlicher Platz, für welchen von meh-
rern Bauunternehmern nahezu eine Million angeboten worden war, als Park¬
platz für die alten Wagen des Militärfuhrwesens und zur Aufbewahrung einiger
Bieter und Stangen verwendet wird. Zwei ehemalige Artilleriekasernen sind
für die Bureaux des Tabcckamtcs und eines Bezirksgerichtes eingerichtet worden,
welche beiden Aemter sich früher mit weit bescheidnern Räumen begnügten und
auch wirklich begnügen konnten.
Das Aergsie aber, was zu dieser Zeit geschah, war der Bau der Kaffee¬
fabrik. Man hatte gesehen, daß die französischen Soldaten, auf deren pünkt¬
liche und reichliche Verproviantirung mit Strenge geachtet wurde, sich besser
schlugen, wenigstens Strapatzen leichter ertrugen als die östreichischen Sol¬
daten, welche ihre ungenügenden und schlechten Lebensmittel unregelmäßig oder
gar nicht bezogen und unter allen Umständen nur eine Hauptmahlzeit erhielten,
während die Franzosen im Fall eines frühzeitigen Aufbruchs wenn nichts An¬
deres, wenigstens eine Tasse schwarzen Kaffee erhielten.
Die Schlußfolgerung übereilt ziehend, kam man dahin, daß man dem
Kaffee eine übergroße Wichtigkeit beilegte und beinahe zu glauben schien, die
Nichtvcrsorgung der östreichischen Soldaten mit Kaffee sei eine der Hauptur-
sachen des unglücklichen Ausganges des Feldzuges gewesen. Der damalige
Kriegsminister Graf Degenseld, welcher dieser Sache besondere Aufmerksamkeit
schenkte, ging daher auf das Anerbieten eines ihm bekannten Chemikers und
unermüdlichen Projcctenmachers, eine Fabrik zur Bereitung von comprimirten
Kaffee zu erbauen, ohne weiteres ein. Die Fabrik wurde erbaut und mit allem
Luxus eingerichtet und lieferte, wenn man alles berechnete, die Kaffeetäfelchen
gerade doppelt so theuer und von weit schlechterer Qualität, als sie bei dem
nächstbesten Chemiker zu erhalten gewesen wären. Man überhörte alle Klagen
der Truppen, denen das mit Gewalt aufgezwungene, einem gewöhnlichen Kaffee
sehr unähnliche Getränk nachgerade zum Ekel wurde. Endlich aber wurde die
Sache doch zu arg, und der ganze Handel nahm ein klägliches Ende. Als
Denkmal dieses Mißgriffs existirt nur das leere Fabrikgebäude noch, mit wel¬
chem man nichts anzufangen weiß.
Ein Seitenstück zu der verunglückten Ausführung des absurden Kaffeefabrik-
projectes dürfte seiner Zeit das noch im Baue begriffene „Musterverpflegs-
etablissement" werden. Durch viele bittere Erfahrungen belehrt, beschloß man
endlich, keinen zur Verprvviantirung gehörenden Artikel mehr selbst zu erzeugen,
sondern alles durch contractmäßig geregelte Lieferung zu beziehen. Nur das
Brod sollte, so lange die hier und da bestehenden Backöfen noch aushalten würden,
von dem Personal der sogenannten Proviantbäckereien bereitet werden. Aber
kaum war dieser löbliche Entschluß in zwei oder drei Fällen ausgeführt, als
auch schon ein neuer Vorschlag zur Errichtung eines nach den kolossalsten Di¬
mensionen entworfenen Etablissements zur Erzeugung und Aufbewahrung der
verschiedennamigsten Verpflegsartikel auftauchte. Und man ging auf diese Idee,
bei deren Ausführung offenbar nur Einzelne sich bereichern wollten, die Staats¬
kasse und die Armee aber leiden mußten, mit Bereitwilligkeit ein. In Italien,
wo die Sache noch eher einen Sinn hatte, weil bei der entschieden feindseligen
Stimmung der Bevölkerung der geregelte Bezug der Lebensmittel von Privat¬
lieferanten sehr leicht in Frage gestellt werden kann, wollte man eine solche
Anstalt nicht errichten, wohl aber in Wien, und dazu in dem Herzen der Stadt,
wo jede Klafter Baugrund um einen fabelhaft hohen Preis hätte veräußert
werden können, und wo unter allen Umständen Hunderte von Producenten sich
um die Lieferung der verschiedenen Verpflegsartikel bewerben werden. Große
Summen wurden zuerst auf die Verschönerung und den theilweisen Umbau des
alten Verpflegsamtes, des nächst dem alten Polizeihause häßlichsten Gebäudes
in Wien, verwendet, und erst als man erkannte, daß selbst ein totaler Umbau
nicht viel helfen würde, gab man es auf, auf diesem eingeengten, unebenen,
durch die Ausmündung verschiedener Kanäle feuchten Platze einen Prachtbau
herzustellen. Eine weitläufige Cavallcriekaserne, welche recht gut noch viele
Jahre zu ihrem bisherigen oder zu einem andern Zwecke hätte benutzt werden
können, wurde niedergerissen und an ihrer Stelle ein neues mit besonderem
Luxus ausgestattetes Gebäude zur Erzeugung und Aufbewahrung der verschie-
denen Proviantartikel aufgeführt. Damit jedoch die in dieser Anstalt beschäf¬
tigten Beamten nicht allzusehr angestrengt werden, wird eben nur ein geringer
Theil dieser Artikel in dem neuen Etablissement verfertigt, das Uebrige aber bei
Privaten eingekauft und nur bis zu seiner Ausfolgung an die Truppen aufbe¬
wahrt werden. Und manche Gegenstände, namentlich die Fourage, werden von
den Soldaten direct bei den Lieferanten bezogen, deren elende, bis an das
Dach mit Heu und Stroh gefüllte Breterbaracken in den schönsten Stadttheilen
man trotz der dringenden Klagen der Bürger über die Verunzierung der be¬
treffenden Gassen und der drohenden Feuersgefahr duldet, während der geringste
Verstoß gegen die von der Regierung erlassene Bauordnung mit sofortiger Nie¬
derreißung des betreffenden Gebäudes und außerdem mit empfindlichen Geld¬
strafen geahndet wird und man einigen Fabriken — die übrigens weder in
gesundheits- noch in feuerpolizeilicher Hinsicht Bedenken erregten — ohne Umstände
den weiteren Betrieb untersagte. Ebenso verfuhr man bei der Expropriirung
von Privatgebäuden auf die rücksichtsloseste Weise, oder man bereitete, wo das
Expropriationsgesetz nicht anwendbar war, den Eigenthümern der betreffenden
Gebäude so viele Unannehmlichkeiten, daß sie ihr Eigenthum bereitwillig um
den ihnen gebotenen Preis abtraten. Gehörte der Besitzer jedoch einem der
privilegirten Stände an, oder war das Gebäude gar ein sogenanntes „ärarisches",
so änderte sich die Sache, mochte das Haus dann die Passage noch so sehr
hemmen, durch seinen verfallenen Zustand den Stadttheil verunzieren oder auf
andere Weise das Publikum belästigen, so mußte letzteres entweder die über¬
triebensten Forderungen des Eigenthümers erfüllen, oder es geschah auch, daß
die begründetsten Forderungen der ganzen Gemeindevertretung rundweg abge¬
schlagen oder gar keiner Antwort gewürdigt wurden. So waren alle Bitten
und Vorstellungen des Gemeinderathes, welcher eine Straße über den Exercier¬
platz anlegen wollte, erfolglos, obgleich die Nothwendigkeit dieser Straße selbst
von vielen Militärs erkannt wurde. Aber der General, welcher über die An¬
gelegenheit in erster Instanz zu entscheiden hatte, war dem Plan abgeneigt,
und dem Civil gegenüber mußte er nun durchaus Recht behalten. Die von
der Leopoldstadt zu der Nordbahn, bekanntlich der frequentesten Bahn, sowie in
den Prater führenden Straßen sind je nach der Jahreszeit mit knöcheltiefem
Koth oder Staub bedeckt, aber sie dürfen niG gepflastert werden, weil die Er¬
laubniß dazu von dem Oberstjägermeisteramt verweigert wird. Man muß dem
gegenwärtigen Gemeinderäthe Wiens volle Anerkennung für seine Bemühungen
zur Reinhaltung und Beleuchtung der Stadt zollen, wenn auch mitunter Grö¬
ßeres geleistet und dabei mehr erspart werden könnte. Auch fügt sich die Be¬
völkerung willig allen diesfälligen Anordnungen, und von der Polizei werden
die Dawiderhandelnden auch mit ziemlicher Strenge zur Verantwortung gezogen.
Dennoch giebt es Gebäude, deren Aeußeres und deren nächste Umgebung alle
jemals erlassenen Reinlichkeits-, Ordnungs-, Sicherheits- und Gesundheitsvor¬
schriften verhöhnen. Und unter diesen Gebäuden sind die Militär« und anderen
Staatsgebäude, die Stammhäuser einiger besonders bevorzugten Adelsfamilien
und einige Klöster, kurz Gebäude, deren Besitzer oder Bewohner über dem Ge¬
setz, zu stehen vermeinen, und gegen welche auch gewiß kein Aufsichtsorgan von
einer Verbindlichkeit zur Erfüllung allgemeingiltiger Vorschriften zu sprechen sich
erkühnen wird. Geschah es doch, als der Gemeinderath mehre Magnaten
und Prälaten ersuchte, ihre nach altmittelalterlicher Weise ringsum mit schweren
Ketten umschlossenen und vielfach mit scharfen Eisenspitzen besetzten Häuser so
viel als möglich dieses die Passage hemmenden und gefährlichen Eisenschmuckes
zu entkleiden, und mehre liberaldenkende Cavaliere sich beeilten, diesen Wunsch
ihrer Mitbürger zu erfüllen, einige andere das im bescheidensten Tone vorge¬
tragene Ansuchen mit den Worten beantworteten, daß „es ihnen eben nicht
genehm sei, den wiener Herren zu Gefallen zu stehen". Ja, als man auf dem
Ausläufer des laaer Berges einen neuen Friedhof anlegen wollte und der
Kriegsminister jede Benutzung dieses Platzes untersagte, weil derselbe bereits
zur Anlage eines Befestigungswerkes ausgewählt worden sei, die intelligentesten
Vertreter der Stadt aber und mehre Parlamentsmitglieder gegen jede Be¬
festigung der Stadt überhaupt und insbesonders gegen die Ausführung dieser
unglücklichen Idee während der gegenwärtigen Finanznoth sprachen, so wurden
diese Redner mit Schmäh- und Drohbriefen überschüttet, und zwei besonders
eifrige Verfechter der Militärherrschaft vermaßen sich sogar zu der Aeußerung: „daß
sich jetzt bereits Schuster und Schneider ein Urtheil über die Befestigung Wiens
angemaßt hätten" und „daß diese Leute nur darum die militärische Kraft des
Staates untergraben und die Todesstrafe abschaffen wollten, weil die erstere
ihren finsteren Absichten entgegenstehe und die letztere ihnen als ein noch vom
Jahre 1848 her drohendes Gespenst lästig falle."
Auch in der neuesten Zeit fehlt es nicht an ähnlichen Übergriffen der
Militärbehörde, Die seit Langem angestrebte und vorbereitete Erweiterung und
Regulirung einer Gasse bei der Franz-Josephstaserne muß wegen der von dem
Kriegsminister gestellten Forderung, daß der Eingang derselben von zwei Fen¬
stern jener Kaserne eingesehen werden müsse, unterbleiben. Man fürchtet sich
also noch immer vor der Revolution, bedenkt aber nicht, daß eine starke, gut
bewaffnete, wohl geführte und zu allem entschlossene Volksmasse — und nur
eine solche wird an die Bestürmung einer von zwei- bis dreitausend Soldaten
besetzten Kaserne gehen — sich durch die hinter jenen zwei Fenstern drohenden
sechs bis acht Musketen nicht wird zurückschrecken lassen. Die große Furcht,
welche man vor einem möglichen Volksaufstand hegt, läßt sich übrigens auch
aus manchen andern Dingen erkennen. So ist z. B. diese Kaserne nicht nur
durch elektrische Telegraphenleitungen mit der Burg und dem Arsenal verbunden,
sondern es ist auch auf dem einen Thurme der Kaserne ein optischer Telegraph
angebracht, welcher mit einem gleichen Apparat auf der der Stadt zugekehrten
Ecke des Arsenals correspondiren soll, wenn etwa im Falle einer Erhebung die
elektrische Leitung zerstört werden sollte. Würde aber ein Angriff gegen die
Burg ausgeführt, so würde diese Vorsichtsmaßregel dennoch nutzlos sein, da die
in der Kaserne befindliche Garnison keine Nachricht von der Lage der Dinge
an jenem Punkte, der ihr doch der wichtigste sein sollte, erhalten würde. Ebenso
hat man zur weiteren Sicherheit der Kaserne und ihrer Bewohner den nach
Abtragung der umgebenden Festungsmauer sich ergebenden freien Raum mit
einem eisernen Gitter umschlossen und allen Civilpersonen die Passirung dieses
Gitters auf das strengste untersagt.
Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört sodann, daß zur selben Zeit,
als das Abgeordnetenhaus gebaut wurde, der in das erste Programm der
Stadterweiterung aufgenommene Bau einer zweiten wiener Zwingburg, jenes
bereits erwähnten Gegenstückes der Franz-Joscphskaserne nicht nur in Erinnerung
gebracht, sondern dessen unverzügliche Ausführung anbefohlen wurde. Woher
schließlich das Geld dazu genommen werden soll, ist freilich noch unbestimmt,
aber schon die Existenz dieses kaum fünfhundert Schritte (also gerade im Bereich
des ausgiebigsten Kartätschenschusses) von dem Abgeordnetenhause entfernten
und dasselbe vollkommen beherrschenden Gebäudes scheint 'in den Augen der
Militärpartei die beste Garantie der steten Willfährigkeit der Volksvertreter zu
sein. Die Kosten dieses Baues belaufen sich schon nach dem wie gewöhnlich
äußerst niedrig gestellten Voranschlage auf vier Millionen, und man kann er¬
messen, wie hoch die Kaserne in Wirklichkeit zu stehen kommen wird, besonders
wenn man den Luxus und die Solidität betrachtet, womit auch die unbedeu¬
tendsten Nebentheile ausgeführt werden. Einen traurigen Gegensatz bildet da¬
gegen das Abgeordnetenhaus, welches nun seit vier vollen Jahren in seinem
Provisorium als ein armseliges, aus dünnem Fachwelt aufgeführtes und noth¬
dürftig übertünchtes, mit schlechten Bretern gedieltes und nur in einigen Räu¬
men heizbares Gebände dasteht und wahrscheinlich noch mehre Jahre in diesem
Zustand wird verbleiben müssen. Zum Bau eines neuen Parlamentsgebäudes
aber sind nicht nur noch keine Anstalten getroffen, sondern es ist sogar der
Plan, nach welchem gebaut werden soll, noch nicht vollendet und in allen
Einzelheiten genehmigt, ja selbst der Platz ist noch nicht mit Bestimmtheit aus¬
gewählt worden. Doch theilt das Parlamentshaus in diesem Punkte das
Schicksal mehrer andrer Gebäude. So erhielt die Gemeinde trotz wiederholter
Bitten nicht den für das künftige Stadthaus gewünschten Platz und mußte sich
mit einer ungünstig gelegenen und beschränkten Baustelle begnügen. Und für
die Universität ist auch noch kein Winkel aufgefunden worden. Ebenso ergeht
es dem Museum, über dessen eigentliche Wesenheit durch die bisher erflossencn
Anordnungen wohl noch niemand aufgeklärt worden sein wird. Denn bald
scheint dieses künftige „Reichsmuseum" eine Vereinigung aller im ganzen Reiche
aufzutreibenden Natur- und Kunstmerkwürdigkeiten werden zu sollen, bald will
man nur die derzeit vereinzelten Gallerten und Sammlungen Wiens in ein
Ganzes vereinigen, ja zuweilen betrachtet man das Institut nur als eine Art
von permanenter Kunst- und Industrieausstellung. Sehr wahrscheinlich ist,
daß von alledem gar nichts erreicht werden wird. Man wollte sich hier wie
bei noch andern Gelegenheiten das Ansehn geben, als beabsichtige man nicht
nur den „Wohlstand und die Schönheit der Stadt, sondern auch das Aufblühen
der schönen Künste und Wissenschaften zu befördern"; aber die Eilfertigkeit, mit
weicher man an das Werk ging, und alle übrigen Anordnungen zeigten nur
zu deutlich das geringe Verständniß für derlei Dinge bei dem Anordnenden,
und welche verkehrten Vorstellungen derselbe einerseits von seiner Machtvoll¬
kommenheit und andrerseits von dem Endzweck bei der Gründung von In¬
stituten dieser Art hegte. Aus Ungeduld, da man bis zur Vollendung eines
zweckentsprechenden Gebäudes hätte zu lange warten müssen, vielleicht auch aus
gewohnter Anhänglichkeit an provisorische Zustände, errichtete man vorläufig
ein proviforisches Museum. Es ist kein Zweifel, daß sich unter den daselbst
befindlichen Gegenständen mehre an sich recht merkwürdige Stücke befinden.
Wurden doch von den verschiedenen Privat- und öffentlichen Sammlungen
Beiträge begehrt und auch gesendet, aber bei dem ersten Blicke in eines der
fünf Gemächer muß sich jedem die höchst armselige Auswahl, die durch den
beschränkten Raum bedingte schlechte Zusammenstellung, kurz die Werthlostgkeit
des Ganzen als Ganzes klar vor Augen stellen. Und erst die äußere Hülle
dieses Kunstinstituts! Dieselbe wurde noch vor wenigen Jahren als Stall für
die Pferde und als Remise für die Wagen irgendeines Hvfbediensteten ver¬
wendet und in einigen Tagen mit ganz unbedeutenden Kosten in ein „k. k. östrei¬
chisches Museum für Kunst und Industrie", wie auf einer über dem Eingange
angebrachten riesigen Tafel zu lesen ist, umgewandelt. Und doch wimmelt diese
armselige Baracke stets von Besuchern, weil es eben das einzige Institut dieser
Art oder wenigstens die einzige Sammlung in Wien ist, in welcher die ge¬
nauere Betrachtung und das Abzeichnen der ausgestellten Gegenstände ge¬
stattet wird.
Desto freigebiger und bedächtiger verfuhr man dagegen bei dem Bau des
noch immer unvollendeten Opernhauses. Die riesigen Dimensionen desselben
und der zu dessen Ausschmückung bewilligte Aufwand sowie die Preisaus¬
schreibungen für die von den Architekten, Malern und Bildhauern einzusenden¬
den Entwürfe und Modelle hätten auf eine ernstgemeinte Absicht zur Beför¬
derung der schönen Künste schließen lassen, wäre es nicht auch hier mehr das
Handwerk als die Kunst gewesen, worauf man Tausende verwendete, und hätte
man nicht die Künstler selbst in der rücksichtslosesten Weise behandelt. Man
schrieb nämlich für die Ausführung der für das Opernhaus bestimmten Statuen
einen Concurs aus, an welchem sich jedoch nur die Bildhauer des Auslandes
betheiligen durften, wodurch selbstverständlich die inländischen Künstler sich zu¬
rückgesetzt fühlten. Als sich nun mehre Meister von Ruf meldeten, hatte man
sich eines Andern besonnen und übertrug ihnen nur die Ausführung der ein¬
fachsten, in das Ressort des Stcinmetzhandwerkes einschlagenden Verzierungen
und erklärte, daß die Ausführung der Statuen bereits befähigten Händen über¬
geben worden sei, womit man wieder die außeröstreichischen Meister beleidigte.
Und so verfuhr man in vielen andern Fällen. Kam aber ausnahmsweise ein¬
mal die wirkliche Kunst zur Geltung, so geschah es sicher nur zur Verherrlichung
Taschenbuch der politischen Statistik Deutschlands. Von Dr. Wil¬
helm Kellner. 270 S.
Wenn die Politiker im Volke auf eine gleiche und richtige Fährte kommen
wollen, so müssen sie ihr Programm nach den gegebenen staatlichen Verhältnissen
einrichten. Das Stichwort „liberal" leistet es nicht mehr. Lange nannte man
alles liberal, was Opposition machte, was in irgendeiner Richtung der Regierung
eines einzelnen Staates oder der Bundesversammlung die Wahrheit sagte; es war
eine rein negative Bezeichnung, das einzige Positive an der Opposition war meist nur
die Forderung, diese oder jene Institution des Versassungsmustcrstaates England
oder eines andern konstitutionell eingerichteten Staates aus die heimischen Zustände
zu übertragen. So hatten wir den Kampf für die Jury, die Anhänger der fran¬
zösischen Charte von 1830, der Nationalgarde u. s. w. Sogar Theoretiker nach
alten griechischen und römischen Mustern fehlten nicht. Es kam aber eine Zeit, wo
sich die Zustände der Musterläudcr nicht mehr so empfehlenswert!) darstellten. Man
fand, daß Louis Philipp in Frankreich ein reines Bourgcoisthum hergerichtet hatte,
und später, daß Napoleon der Dritte den ärgsten Polizeistaat einführte, den man
noch je gesehen. Man entdeckte an England, daß es doch im Grunde nur das
Land der Aristokratie, nicht der Demokratie sei, daß die Gerichte ungeheuer theuer
und schwer anzugehen u. d. in. Die fremden Ideale erblichen, und die alten Libe¬
ralen wurden mit ihnen verbrauchte Größen. Demokraten, Socialisten, Communisten
traten gegen die Liberalen auf, aber auch sie und ihre Versuche waren exotische
Pflanzen. Die Bewegung von 1848 führte ein anderes Element in den Vorder-
grünt, den Gedanken der deutschen Einheit, und damit einen neuen Gegensatz:
Nationale und Liberale aneinander, und noch heute giebt es Politiker, die vor allem
liberal, dann erst national, und andere, die erst ,,einheitlich" und nur nebenher
„freiheitlich" sein wollen. Wir untersuchen nicht, wie viel solche Stichworte be¬
deuten, sondern freuen uus einfach des aus dieser Entwickelung hervorgegangenen
Guten, daß wir nun dahin sind, zu versuchen, auf eignen Füßen zu gehen, daß
wir vor allen Dingen deutsch sein wollen, ehe wir griechischen oder römischen,
englischen oder französischen Mustern nachjagen. Nur die großen Entwickelungs¬
gesetze bleiben sich gleich für die Staaten, welche sich die Menschen zurechtzimmern,
die einzelnen Bestandtheile müssen für den Grundbau von dem genommen werden, was
der heimische Boden bietet. Wo kein Granit und Sandstein in der Erde gewachsen ist.
da formt und brennt man aus Lehm Backsteine, und wo keine Ceder wächst, da
baut man mit Eichenholz und Fichten. Solche und ähnliche Gedanken haben offen¬
bar den Verfasser einer kleinen Schrift, betitelt: Taschenbuch der politischen
Statistik Deutschlands von Dr. Wilhelm Kellner, bis vor Kurzem Re¬
dacteur des Frankfurter Journals, bewegt, als er versuchte, in einer gedrängten
Uebersicht der privaten deutschen Staatsbanmeister das Material für einen deutschen
Staat, wie es jetzt vorhanden ist, vor Augen zu führen, um dazu anzuregen, es
in ihren Kreisen nach den allgemeinen Regeln der Staatsbaukunst, aber in der aus
der Art des Materials erwachsenden eigenthümlichen Weise zu verwenden, vorerst
aber ihre bisherigen Ideale damit zu vergleichen. Der Gedanke ist gut und die in
dem genannten Werkchen vorliegende Ausführung auch insofern zu loben, als sie
durch Gedrängtheit die Uebersicht erleichtert. Für das große Publikum ist diese
Arbeit allerdings wohl nicht überall verständlich genug. So finden wir auf Seite
65 eine Auseinandersetzung über die Gruppirung der europäischen Staaten mit
mittelalterlichen, absolutistischen und grundgcsctzlichcm Staatswesen oder Patrimonial-,
Polizei- und Rechtsstaaten, die ein genaues Eingehen verbunden mit größter Kürze
nicht vermissen läßt, aber ein sehr aufmerksames Lesen erfordert, wenn sie von dem
Nichtgeschnlten begriffen werden soll. Die ganze Anlage des Buches ist zwar nach
allgemeinen, dem Politiker geläufigen Grundeinthcilungcu gemacht, mit dem ersicht¬
lichen Zweck, die verschiedenen deutschen Staaten einmal theoretisch fix und fertig
unter eine politische Glasglocke zu stellen; das hätte aber nicht auszuschließen
brauchen, daß z. B. die Einnahmen, Ausgaben und Schulden der einzelnen Staaten
bei einander stehen, oder wenigstens in derselben Ordnung ausgeführt werden konnten.
Die vorhandene Ordnung führt sich offenbar auf den typographischen Grund der
Raumersparnis; zurück und kann einigermaßen damit entschuldigt werden, daß das
Register gut eingerichtet ist, auf dessen Benutzung wir deshalb die Leser hinweisen.
Von dem, was sonst zu rühmen ist, sei nur das Wichtigste erwähnt. Offenbare
Druckversehen find es, wenn Seite 9 unter den zu Oestreich gehörenden nichtdeutschen
Ländern Venetien ausgelassen ist, wenn S. 93 Absatz 2, Zeile 3 statt des rich¬
tigen ,,gewählt werden" wählen steht, wenn S. 177 beim Oberappellationsgericht
Kassel die Untergeriehte (erster Instanz) als die dritte Instanz bezeichnet werden;
wenn serner S. 179 die neue bayerische Gerichtsorganisation in das Jahr 1862 statt
in das Jahr 1861 verlegt und wenn S. 196 von Mark Banko statt Mark Courant
. beim Budget von Lübeck die Rede ist.
Fehler ernsterer Art, welche dem Verfasser zur Last fallen, sind hauptsächlich
folgende- Unrichtig finden wir S. 19 die Durchschnittsprvccntzabl der Rittergüter
für Preußen angegeben; man sieht auch nicht ein, warum die Rechnung nur an
einem Orte ausgeführt ist, wo sie an vieren ausgeführt sein konnte. Die Be¬
völkerung der Städte S. 22 stimmt nicht überall mit den amtlichen Angaben;
abgesehen von der sonst zweckmäßigen Abrundung scheint die Militärbevölkerung
nicht gleichmäßig eingerechnet zu sein. S. 44 läßt der Ausdruck „Diese Magistrats¬
mitglieder ze, (Preußen) müssen von der Staatsregierung bestätigt werden" einen
Doppelsinn zu; der Sinn ist offenbar: sie bedürfen der Bestätigung; denn leider ist
die Regierung nicht gezwungen sie zu bestätigen; am besten wäre es freilich, es
bedürfte gnr keiner Bestätigung. Unrichtig ist, was S. 53 von dem Gerichtswesen
der k. sächsischen Stadtgemeinden gesagt ist; das Gesagte kann nur auf die Ver¬
gangenheit Anwendung finden - die richterlichen Befugnisse der Sachs. Gemeinden sind
aufgehoben. S. 96 scheint es so, als ob alle Vertreter der sonder-Landtage von
Gotha und Coburg den gemeinschaftlichen Landtag bilden; es sind einige aus jedem
Sonderlandtag, welche den Gcsammtlandtag besuche». S. 103 wäre es angezeigt
gewesen, wie den auf dem mecklenburgische» Landtage vertretenen Rittergutsbesitzern
der Name Ritterschaft beigelegt wirb, so den landtagsfähigcn Städten den Namen
„Landschaft" beizufügen.- S. 119 ist das Wahlgesetz zum gesetzgebenden Körper der
freien Stadt Frankfurt insofern ungenau angegeben, als man nicht ersieht, daß die
Wahl eine indirecte, durch Wahlmänner der drei Classen geschehende ist; S. 121
sollte gesagt sein, daß der frankfurter Senat „im Ganzen" aus 21 Senatoren be¬
steht: nach dem vorhandenen Wortlaut ist man versucht anzunehmen, es seien 27,
was denn doch gar zu viel wäre. S. 140 ist vom östreichischen Gewcrbcgcsetz nur
der Einführnngstermin, nicht das eigentliche Datum des Gesetzes vom 20. Decbr.
1859 aufgeführt. S. 142 sollte unter dem Capitel Ccntralbehörden es wohl heißen,
daß sich in Preußen nur zum Theil die nämliche Einrichtung wie in Oestreich finde,
S. 151 unter den Staaten der Selbstverwaltung mit Hinblick auf das auf derselben
Seite Folgende auch Weimar aufgeführt sein. S. 193 stimmt das preußische Ein-
nahmcbudgct nicht ganz mit der amtlichen Angabe; es fehlt der Posten des Mi¬
nisteriums des Auswärtigen mit l 1,800 THIr., wie auf S. 211 der Posten der Eivil-
liste mit 2,573,099 Thlr. unter den Ausgaben fehlt. Daß bei den Angaben der
preußischen und östreichischen Seemacht nicht alles genau angegeben ist, erscheint bei
dem Schwanken selbst der amtlichen Angaben nur zu natürlich; doch sind hier die
Angaben noch richtiger, als wir sie irgendwo anders fanden, offenbar nach den
verschiedenen Quellen im Ganzen richtig combinirt.
Das sind die hauptsächlichsten Fehler. Wir notiren sie nicht, um vom Gebrauch
des Buches abzuschrecken, sondern wollen dasselbe im Gegentheil bestens empfohlen
haben; denn was auf 270 Seiten über die Politische' Statistik Deutschlands gesagt
werden konnte, ist von dem Verfasser in der That gesagt worden. Bis in das
kleinste Detail hinein ist der Stoff skizzirt, aus dem sich ein eigenthümlich deutscher
Staatsbäu aufführen ließe; bei den verschiedenen Gruppen des Stoffes ist hervor¬
gehoben, was ihnen Mangelhaftes anhaftet; die Eigenheiten und Schwächen unseres
Adels, die Punkte, wo die Stärke unsres Bürgerstandes zu finden, die Wurmbrüchig-
kcit des deutschen Bundes und seines obsoleten Organs, des Bundestages, die Bunt-
schcckigkcit des Stände-, Vcrwaltungs- und Gerichtswesens der einzelnem deutschen
Staaten, die Nachtheile der diplomatischen Vertretung im Auslande, die Mängel der
deutschen Bundeskricgsverfassung, alles dies ist sorgfältig angegeben.
Wirrer und weniger einfach als im östlichen Preußen liegen im westlichen
die Parteiverhältnisse. Wenn der „Junker" fehlt, so tritt der „Pfaffe" in beiderlei
Gestalt, katholischer und evangelischer, desto anspruchsvoller auf. Dazu kommt
die stärkere, an Frankreichs und Belgiens Nähe gemahnende Ausbildung der
gesellschaftlichen Unterschiede und Gegensätze, die es bekanntlich so mit sich ge¬
bracht hat, daß hier von jeher die eigentliche Brutstätte des deutschen Socialismus
gewesen ist.
Die Verhinderung des rheinischen Abgeordnetenfestes hat allerdings das
Ihrige dazu gethan, die übergroße Mannigfaltigkeit für den Augenblick wieder
etwas einzuschränken. Ein eigenwilliger, die Regierungspolitik kreuzender Act
des Hofes ohne alle vernünftige Berechnung, hat sie die einzelnen Schattirungen
des Liberalismus einander aufs neue genähert. Sie schließt die Epoche ab,
während welcher die militärisch-diplomatischen Erfolge der Regierung auf die
'Oppositionsstimmung der Massen mildernd einwirkten, und knüpft für das öffent¬
liche Bewußtsein die Gegenwart und nächste Zukunft wieder an jene Vergangen¬
heit an, in welcher der Kampf wider die Reaction das vornehmste politische In¬
teresse des Tages war. Insofern hat der Hof der liberalen Partei die gün¬
stigste Gelegenheit verschafft, sich durch eine wirksame Organisation zu Wider¬
stand und Angriff in die beste Verfassung zu setzen. Aber freilich, was wenig¬
stens Rheinpreußen angeht, so hat die Gewaltmaßregel gegen das Abgeordneten¬
fest zugleich eine Frciction der liberalen Partei in den Vordergrund gezogen,
welche schwerlich berufen erscheint, dem gesammten rheinpreußischen Liberalismus
leitend voranzumarschiren.
Herrn Classen-Kappelmanns Persönlichkeit verdient ohne Zweifel die Po¬
pularität, welche die wetteifernden Bemühungen eifriger Freunde und unver¬
ständiger Gegner ihm neuestens verschafft haben. Seine thätige Nächstenliebe,
seine Hingebung an das öffentliche Wohl, seine aufgeklärte Denkungsart und
sein praktischer Sinn, die Lauterkeit und Uneigennützigkeit seiner Beweggründe
haben bisher weder von klerikalen, noch von reactionären, noch von aristokra¬
tisch-liberalen Gegnern mit Wirkung angefochten werden können. Niemand kann
ihm den Titel des „ersten Bürgers von Köln" streitig machen. Aber weder
aus dem Aristoteles noch aus dem Montesquieu oder Bentham läßt sich der
Nachweis führen, daß der „erste Bürger" und der Parteiführer Begriffe seien,
welche sich decken, — während es nicht schwer ist zu erkennen, daß sowohl in
der Person als in der Stellung des Genannten Mängel stecken, die mit der
Borstellung von einem rechten politischen Führer unvereinbar sind.
Sprechen wir, als von dem mehr Aeußern und Anerkannten, zunächst von
der Stellung. Wir sehen einen bürgerlichen Parvenü vor uns, den Sohn
wenig bemittelter Eltern aus dem unbedeutenden Rheinstädtchen Sinzig, der
nach Köln kommt, ein Geschäft begründet, es in Flor bringt und stufenweise ein
Vermögen erwirbt; aber ohne sich deshalb, gleichviel aus was für Ursachen,
wie die meisten andern Seinesgleiches mit aristokratischen Ansprüchen und Ge¬
sinnungen zu erfüllen. Vielmehr wird es bald sein Ehrgeiz und am Ende sein
Ruhm, den Wortführer des mittleren und niederen Bürgerstandes in jeder Art
von Opposition zu machen. Als solcher hat er nicht am seltensten die großen
bürgerlichen Familien Kölns zu bekämpfen gehabt, deren exclusive Stellung so
häufig Haß und Neid herausfordert. Der Liberalismus dieser Optimaten oder
„Potenten", wie man sie am Rhein nennt, ist zwar niemals sonderlich kraftvoll
gewesen und hat sich schon seit Jahren völlig auf sein eignes glückliches Selbst¬
bewußtsein zurückgezogen; allein sie hängen natürlich vielfach mit den ent¬
sprechenden Kreisen anderer rheinischen Städte und Gegenden zusammen, in
denen der Freiheitsgeist ein weniger latentes Leben führt, und durch diese Ver¬
bindung entsteht für ihre örtlichen Widersacher eine Gefahr, die uns gleichgiltig
lassen könnte, wenn es sich lediglich um die Stadt Köln handelte. Solche
städtische Demokraten mögen leicht den Gegensatz, in welchem ihre communale
Thätigkeit sich vorzugsweise bewegt, auf die größeren Verhältnisse des Staates
übertragen und so dieselben einseitig, ja engherzig beurtheilen und behandeln.
Es ist nicht anzunehmen, daß sie die Bundesgenossenschaft liberaler Aristokraten,
so sehr dieselbe sachlich geboten sein mag, jemals unbefangen und loyal er¬
greifen. Läge solche Erhebung zu hohen und weiten Gesichtspunkten aber auch
im Bereich ihres Gcistesvermögcns, so ist es immer noch fraglich, ob Bundes¬
genossen der bezeichneten Art als gemeinsamen Führer einen Demokraten accep-
tiren würden, der sich daheim grade im Kampfe gegen sie erst überall einen
Namen gemacht hätte. Und das ist genau der Fall des Herrn Classen-Kappel¬
mann.
Mit geringer Zuversicht sprechen wir natürlich von den Talenten, die unter
dem „schlichten grauen Rocke" stecken sollen, welchen der Biograph Herrn Classen
in der „Gartenlaube" ein für alle Mal angezogen hat. Manche schöpferische
Geister entfalten sich früh, andere spät; warum sollte Herr Classen nicht zu den
letzteren gehören? Nur scheint es uns erstens nicht eben ein Zeichen emporstrebenden
Sinnes, daß der Mann, auch nachdem er zu Wohlstand gelangt ist, keinen Sitz
im Abgeordnetenhause einzunehmen wünscht, sondern sich in seinem Comptoir
zu Köln behaglicher und mehr an seiner richtigen Stelle fühlt. Und fürs zweite
will es uns so vorkommen, als stehe hinter ihm ein anderer, der eigentlich alle
diese.großen Entwürfe ausheckt, aus welchen Herrn Classens junge Berühmtheit
sich ihre Staffeln gebaut hat.
Das erste, zur Ausführung gekommene Abgeordnetenfest auf dem Rheins
und das zweite, gewaltsam vereitelte, die Bürgerkrone, welche Präsident Grabow
empfing, als er die versöhnlich klingenden Phrasen der Thronrede im letzten
Januar mit einer bittern Aufzählung der Beschwerden des Landes beantwortete
— alle diese politischen Maßregeln werden in eingeweihten Kreisen, so viel sich
ermessen läßt, auf eine andere Quelle als Herrn Classen-Kappelmanns Gehirn
zurückgeführt. Sie sollen von Herrn Heinrich Bürgers herrühren, der einst
neben dem sogenannten „rothen Becker" obenan auf der Anklagebank des zu-
sammengcschwindelten kölner Cvmmunistenprvcesses saß und jetzt, nachdem er
einige Strafjahre auf verschiedene» preußischen Festungen elend genug verbüßt
hat, in Köln als Schriftsteller sein Brod verdient. Besucher der Generalver¬
sammlungen des Nationalvereins kennen ihn von Koburg 1862 und von Eisenach
1864 her, seine glühende, lebhaft gesiiculirende, an romanische Vorbilder er¬
innernde Beredsamkeit, seine wiederholten Versuche, den Nationalverein auf aus¬
geprägte revolutionäre Bahnen zu drängen. In der Rheinischen Zeitung, deren
stehender Mitarbeiter er ist, vertritt er neben dem ruhigeren und zu Trans¬
actionen aufgelegteren Dr. Becker — seinem früheren Schicksalsgenossen — die
Schärfe und Gluth politischer Leidenschaft. Seiner inneren Disposition nach
ist er nicht Fortschrittsmann, sondern unbedingter Demokrat. Ja, man mag
noch zweifeln, ob er seine ehemalige socialistisch-revolutionäre Weltanschauung
so rückhaltlos wie Becker mit einer nationalökonomisch-liberalen vertauscht hat,
wenn er auch die unzeitigen Angriffe Lassalles auf die Fortschrittspartei öffentlich
gemißbilligt und zurückgewiesen hat. Bei allem Parteihaß hat Herr Bürgers
jedenfalls die Besonnenheit, seine eigne kampfbereite Person nicht ohne Noth
in den Vordergrund zu schieben, sondern läßt es geschehen, ja befördert es sogar,
daß sein Freund Classen-Kappelmann zeitweilig allen Ruhm allein erntet. Ideen,
welche mit dem Namen Bürgers behaftet vielleicht schon im mittleren Bürger¬
stande keinen Curs mehr gewinnen würden, erhalten weittragenden Credit,
wenn der Stempel des „ersten Bürgers von Köln" auf ihnen zu erblicken ist.
Das Popularitätscapital wird nicht verzettelt, das die Männer der Rheinischen
Zeitung aufzubringen im Stande sind, vielmehr auf ein Haupt gehäuft und
dieses so über alle anderen Köpfe im politischen Israel erhöht. Zur rechten
Zeit wird Herr Bürgers seinen vorgeschobenen Freund schon abzulösen wissen.
Herr Classen für die langweilige Zeit der Vorbereitungen, wo man mehr des
Credits und Capitals als persönlichen Vermögens bedarf, — Hr. Bürgers, der
feurige und schlagfertige Tribun, für die Tage der Eruption. Wie wir ihn da
nachträglich alles Vertrauen für sich in Anspruch nehmen hören werden, das
ein absichtliches Maskenspiel jetzt Herrn Classen-Kappelmann zuwendet!
Die Revolution ist indessen blos eine einzelne unter den Möglichkeiten der
Zukunft, und solange sie nicht ausgebrochen ist und hundert Stellungen von
Grund aus verwandelt hat, darf auch Hr. Bürgers verlangen, daß man ihn
nach seinem heutigen Verhalten messe. Da mag der einfache Beobachter sich
denn freilich freuen, daß doch an einem Punkte in Preußen ein Stück Führer¬
schaft — dieses unentbehrliche Erfordernis; entwickelten öffentlichen Lebens —
sich herauszubilden angefangen hat. Aber der liberale Patriot kann darum doch
noch nicht mit Wohlgefallen zuschauen, wie grade diese Richtung sich in einer
wichtigen Provinz der Zügel des activen Liberalismus zu bemächtigen droht;
und zum Glück hat es damit, bei Lichte besehen, denn auch noch gute Wege.
Die kölner Demokratie, wie sie sich in Herrn Bürgers verkörpert, ist zwar
keiner landesverrätherische» Hinneigung zu Frankreich mehr verdächtig. Allein
ihre Auffassungsweise ist noch immer stark französisch gefärbt; französische Kate¬
gorien und Schablonen bestimmen ihr Denken, sie erwartet das Heil Deutsch¬
lands nach wie vor von einem in Paris gegebenen moralischen oder physischen
Anstoß. Was ihr im Vergleich zu der Demokratie der älteren Landestheile an
preußischem Patriotismus abgeht, das ersetzt sie mehr noch durch kosmopolitische
Reminiscenzen ihrer socialistisch-radicalen Vorzeit als durch deutsch-nationale
Regungen. Sie ist allemal sehr bereit, mit den Gegnern Preußens im übrigen
Deutschland zu sympathisiren, selbst wenn man sich zu dem Ende einmal einer
fürstlichen Legitimität annehmen muß; die schwäbischen Particularisten, deren
Stammesbcwußtsein bekanntlich unheilbar ist, stehen ihr vermöge des absoluten
Freiheitscultus, welchem sie huldigen, immer noch näher, als die norddeutschen
Führer des Nationalvereins. Ginge es unter preußischen Landsleuten nur eben
an, sie würde wahrscheinlich die Kolb-Mayersche Sehnsucht nach der Föderativ-
rcpublik auch zu ihrem nationalen Glaubensbekenntnis; erheben. Solche Ten¬
denzen können und werden in Nheinpreußen niemals die herrschenden werden.
Zumal die Demokratie weit weniger durch eigene überlegene Kraft, als
durch die Fehler und Schwächen der übrigen liberalen Fraktionen obenaufgc-
kommen ist. Nicht immer herrschte sie auch nur in Köln, der altkatholischen
Bischofsstadt, die so mancherlei Stoff für eine revolutionäre Parteibildung in
sich enthält. Es gab eine Zeit, wo der Name Mevissen dort fast denselben
Klang hatte, wie heute der Name Classen-Kappelmann. Aber Hr. Mevissen
hat den Politiker, der ihn nicht rasch genug zum Minister und großen Manne
machte, ausgezogen und ist wieder in den Rock des Geschäftsmannes geschlüpft,
in welchem er es so erklecklich weit gebracht hat. Alle die reichgewordenen
Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers, deren glänzender und erfolgreicher
Gattungsvertreter er ist, haben der Politik mehr oder weniger den Rücken ge¬
kehrt, seitdem sie aufgehört hat, die Domäne kleiner auserlesener Zirkel zusein,
und angefangen, ernstliche Mühen und Opfer zu erheischen, Sie agitirlen auf
ihre Art und ließen sich nach Berlin abordnen, so lange das Ding unter guten
Freunden, „anständigen Leuten" abzumachen war und nicht allzu große Unan¬
nehmlichkeiten von oben eintrug, es sei denn, daß eine nachhaltige Popularität
dafür zu entschädigen versprochen hätte. Die Zeit vor 1848, die Zeit vor 1859
waren die goldenen Tage dieser Sonnenscheins- und Garien-Politiker. So oft
sich hingegen Wind erhob und Staub aufwirbelte, oder wenn man unter Krethi
und Plethi hinaus auf die Straße mußte, zogen sie sich eilig in ihr wohlver¬
wahrtes Haus zurück. Je länger desto mehr wurden Erwerbs- und Genußsucht
die beiden Pole, zwischen denen ihre abgeschlossene Existenz sich auf und ab
bewegte. Mit den reichsten äußeren Mitteln um Einfluß zu iibeu versehen,
kamen sie so nach und nach um jeden politischen Einfluß. Das war das Schicksal
einer Bourgeoisie, welche die Grundlage politischen Wirkens, materielle Unab¬
hängigkeit erlangte, bevor feste Traditionen oder große hinreißende Beispiele
ihr den Geist der Hingebung und der Arbeit für den Staat einzuhauchen
vermochten.
Allein was die Väter versäumten, das mögen die Söhne nachholen. In
der That erwächst heute in den Comptoiren der rheinischen Fabrik-und Handels¬
städte schon ein anderes Geschlecht. Dasselbe ist natürlich in aristokratischen
Lebensgewohnheiten sogar bereits groß geworden, aber es begreift seine Lage
hinlänglich, um der Demokratie das Feld der öffentlichen Wirksamkeit nicht
ausschließlich zu überlassen oder um zu gemeinschaftlichen staatlichen Zwecken
ein Bündniß mit der Demokratie nicht zu scheuen. Jüngere Vettern des Mi¬
nisters Simons, Neffen des Ministers v. d. Heydt stehen in Elberfeld an der
Spitze der Fortschrittspartei und haben die Wahl von Schulze-Delitzsch gegen
die des vormaligen vielgefeierten Handclsministcrs, des geborenen Elberfelders,
durchgesetzt. Ebenso ist es in Barmer, Crefeld und anderen Centren der In¬
dustrie. In wenigen Jahren wird dieser neue lebenskräftige Schoß den abge¬
storbenen alten aller Orten vollends überwuchert haben. Auch unter den
Tcägcrn des vormärzlichen Verfassungs- und Freihcitskampfes fehlt es übrigens,
Wie man sich denken kann, nicht gänzlich an solchen, welche die neue Entwicklungs¬
stufe innerlich mitbeschrittcn haben. Heinrich v. Beckerath in Crefeld z. B.
würde sich voraussichtlich als einen Politiker der Gegenwart ausweisen, wenn
die Schwäche des höheren Alters ihn nicht abhielte, sich noch einmal in den
Vorderen Reihen dem Dienste des Vaterlandes zu widmen. Auch so hat er sich,
U'dem er gleich nach der Rückkehr Heinrich v. Sybels von München nach
Bonn dessen Wahl zum Abgeordnetenhause in Crefeld durchsetzte, das Ver-
dienst erworben, die Provinz auf ihr bedeutendstes politisches Talent auf¬
merksam zu machen.
Dieses Vermächtniß des alten Liberalismus an den jungen ist leider noch
nicht zur vollen Geltung gekommen, — hoffentlich mehr aus zufälligen als aus
bleibenden Ursachen. Theils ein sehr hartnäckiges und die Nerven mitangreifen-
dcs Augenleiden, theils eine gewisse Unfähigkeit oder Abneigung, mit den Massen
zu verkehren und sich die kleinen Sorgen der Agitation aufzuladen, hat H.
v. Sybel bisher verhindert die Rolle zu spielen, zu der seine Gesinnung und
Tüchtigkeit ihn sonst befähigen würden, und die dringend nach einer solchen
Besetzung verlangt.. Sein Wohnort Bonn, der durch die Universität zu Rhein¬
lands geistigen Mittelpunkten gehört, sein Amt als Professor, das ihn außer¬
halb der allzu schroff geschiedenen socialen Classen stellt, vollenden die in seinen
persönlichen Gaben liegende Befähigung zum Führer der rheinischen liberalen
Partei. Aber freilich, ohne den Willen, sich dieser verwaisten Aufgabe ernstlich
anzunehmen, ohne überzeugende Hingebung an die Sache der Partei und ohne
frisches muthiges Hervortreten gewinnt man sich solchen Einfluß nicht. H. v. Sybel
hat seinen activen Antheil an der Tagespolitik bisher mehr oder weniger aus¬
schließlich in Berlin auszuüben gesucht; es wäre ein sicherer zum Ziel führender
Weg, wenn er zunächst einmal, um so mehr als er augenblicklich ja doch keinen
Abgeordnetensitz innehat, die Elemente einer patriotisch-liberalen Partei im
Rheinland sammeln, ordnen und eintretenden Falls zum Kampf führen wollte.
Einen solchen Führer würden viele weit freudiger anerkennen, als die
Häuptlinge der kölner Demokratie. Schon auf den Zusammenkünften des
letzten Provinzial-Wahlausschusses der Fortschrittspartei hat sich ergeben, daß
die Nichtkölner. namentlich aus den bedeutenderen Provinzialstädten, nur aus
Nott, sich die Geschäftsführung der Herren Classen-Kappelmann und Bürgers
gefallen ließen. Der Bund in Sachen Schleswig-Holsteins, den die liberalen
Professoren der Universität vor bald zwei Jahren mit eben dieser Demokratie
eingingen, ist längst in der Stille wieder gelöst worden. In der That hält nur
die Gemeinsamkeit des augenblicklichen Kampfes für Verfassung und Freiheit
diese Fractionen zusammen, die ebenfalls brennende Schleswig-holsteinische Frage
aber, die anfangs ebenfalls einigte, trennt sie jetzt vielmehr. Die kölner Fort¬
schrittsmänner wollen mehr oder weniger, daß Preußen ohne allen dauernden
Gewinn aus den Herzogthümern abziehe und daß aus dem Erwerb der preu¬
ßischen Waffen ein neuer vollsouveräner Kleinstaat geschaffen werbe. In Bonn
hingegen, in Crefeld, Elberfeld, Barmer und den übrigen gleichgesinnten Orten
der Provinz mag man hinsichtlich der Annexion oder des bloßen bundesstaat¬
lichen Anschlusses auseinandergehen, aber in Betreff der Verneinung jener beiden
Forderungen der Demokratie ist man einig. Diese einander bestreitenden Stim¬
mungen spiegeln sich in dem Verhalten der Rheinischen Zeitung einerseits, der
Kölnischen und der Elberfelder Zeitung andererseits. Wenn das große, durch
Alter, Lage und Mittel einzig begünstigte kölner Blatt nur nicht so durchaus
zu den Altliberalen gehörte! sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, ein unpar¬
teiisches Weltblatt zu sein, anstatt es mit seiner örtlichen und provinziellen
Aufgabe ernst zu nehmen! Es könnte der Bildung einer neuen liberalen und
nationalen Partei in beiden westlichen Provinzen den mächtigsten Vorschub thun.
Eine Verjüngung dieses nicht zu entbehrenden noch zu umgehenden Organs,
ein Entschluß in dem zum Führer berufenen ausgezeichneten Mann, und die
Reorganisation des activen Liberalismus, diese dringendste aller Forderungen
der Zeit, könnte in Nheinpreußen mit den besten Aussichten auf Erfolg vor¬
genommen werden.
Nach der altkirchlichen Ansicht ist das Alte Testament ebenso heilig und
ebenso sehr Grundlage der christlichen Religion, wie das Neue; und diese
Ansicht hat eben im letzteren, welches sich überall auf jenes beruft, ihre gute
Begründung. Da aber das Alte Testament dem praktischen religiösen Bedürfniß
des Volkes ferner liegt und da die Schwierigkeit seiner Sprache und seines
Inhalts eine rein wissenschaftliche Behandlung desselben nöthiger macht, so hat
Man sich früher an den Gedanken gewöhnt, das Alte Testament und seinen
Inhalt einer freien kritischen Untersuchung zu überlassen, so wenig förderlich
eine solche Toleranz der Kirchenlehre sein konnte. So ist es denn gekommen,
daß gewisse Anschauungsweisen, welche von denen der Kirche stark abweichen,
"uf dem Gebiete des Alten Testaments schon längst zu ganz allgemeiner Herr¬
schaft gelangt sind, so daß sich selbst die Vertreter der Rechtgläubigkeit, wie
Delitzsch und Hengstenberg, ihnen nicht ganz mehr entziehen können, während
sich daraus ergebenden Folgerungen für das Neue Testament erst seit wenigen
Jahrzehnten gezogen sind und noch allgemein als frevelhaft gelten. Im Fol¬
genden gedenke ich den Lesern eins von den Resultaten der neueren alttesta.
merklichen Kritik vorzulegen, welches in allen wesentlichen Punkten als gesichert
^"Zusehen ist. Mit Ausnahme einiger apologetischer Eiferer stimmen alle wissen¬
schaftlichen Forscher schon seit längerer Zeit in der Beurtheilung des Buches
Daniel in allen Hauptsachen überein. Wir müssen daher freilich fast ganz auf
die Befriedigung verzichten, dem Leser neue Ansichten vorzutragen; nur hinsicht¬
lich einiger untergeordneter Fragen kann neue Untersuchung hier noch neue
Ergebnisse hervorbringen.
Das Buch Daniel zerfällt in mehre, von einander mehr oder weniger un¬
abhängige Abschnitte, theils mehr erzählenden, theils weissagenden Inhalts, von
denen wir zunächst eine Uebersicht geben wollen.
Cap. 1 dient als Einleitung. Nebukadnezar. König von Babel, befiehlt
nach der Einnahme Jerusalems aus den Gefangenen einige junge Männer von
gutem Geschlecht auszuwählen, um sie in der Wissenschaft der Chaldäer zu er¬
ziehn und zum Dienst bei dem König auszubilden. Unter diesen zeichnen sich
Daniel, Misael, Hananja und Asarja aus, welche sich mit ängstlicher Gesetzes¬
treue vor unreiner Speise hüten, aber doch schöner und kräftiger als ihre Ge¬
nossen werden und an Kenntnissen alle Weisen Babels überragen. So findet
es der König selbst, seit sie ihm nach Vollendung der dreijährigen Erziehung
vorgestellt sind.
Cap. 2. Nebukadnezar hat einen Traum gehabt, auf den er sich nicht be¬
sinnen kann. Da die chaldciischen Weisen ihm weder den Traum noch seine
Deutung sagen können, so befiehlt er im Zorn sie alle umzubringen. Da nun
auch Daniel getödtet werden soll, verlangt er, vor den König geführt zu wer¬
den und erfüllt das Verlangen desselben. Nebukadnezar hat von einem großen
und schrecklichen Bilde geträumt, dessen Haupt von Gold, Rumpf oben von
Silber, unten von Erz, Beine von Eisen, Füße theils von Eisen theils von
Thon gewesen, und das plötzlich von einem durch unsichtbare Gewalt bewegten
Stein zertrümmert und dann verschwunden ist, während der Stein zu einem
großen Berg geworden. Diesen Traum deutet Daniel auf eine Folge von vier
Weltreichen, deren erstes (das goldne Haupt) das des Nebukadnezar sei. deren
letztes (eiserne und thönerne Füße) ein getheiltes sein würde. Eine himmlische
Macht würde alle diese Reiche vernichten und ein göttliches, ewiges Reich stiften.
Verwundert beweist der König dem Daniel Ehren wie einem Gott, macht ihn
zum Obersten der chaldäischen Weisen und seine drei Freunde zu Verwaltern
der Provinz Babel.
Cap. 3, 1—30. Nebukadnezar richtet ein ungeheures goldnes Bild auf,
welches von allen hohen Beamten angebetet werden soll. Misael, Hananja
und Asarja weigern sich an diesem Götzendienst theilzunehmen. Zur Strafe
werden sie in den feurigen Ofen geworfen. Die Männer, welche sie hinein¬
werfen, kommen von der Gluth um. aber die drei Frommen werden durch einen
Engel beschützt. Der König, der dies bemerkt, heißt sie selbst herausgehn, preist
ihren Gott und wird ihnen wieder gnädig.
Cap. 3, 31 bis Cap. 4. Nebukadnezar berichtet selbst allen Völkern, wie
er zur Strafe für seine Ueberhebung in die ihm vorher verkündete göttliche
Strafe verfallen sei, seinen Verstand zu verlieren, unter die Thiere des Feldes
gejagt zu werden und mit ihnen zu leben, bis er endlich nach sieben Zeiten
(Jahren) seinen Verstand wiederbekommen habe, in sich gegangen und zu der
Erkenntniß gekommen sei, daß Gott allein der Mächtige, worauf er seinen Thron
wieder erlangt habe.
Cap. 6. Belsazar, Nebukadnezars Sohn, giebt seinen Großen und Weibern
ein Mahl, bei dem sie aus den heiligen Gefäßen trinken, die aus dem Tempel
in Jerusalem fortgeführt sind, und dabei die Götzenbilder loben. Plötzlich er¬
scheint eine Hand, welche räthselhafte Worte an die Wand schreibt. Der König,
aufs tiefste erschüttert, verspricht dem, welcher die Zeichen deuten könne, die
höchsten Ehren, aber kein Weiser kann die Deutung finden. Da wird er end¬
lich auf den weisen Daniel aufmerksam gemacht; dieser deutet die schrecklichen
Worte Neitö Nous 'kekek Hplrai-sin („gezählt, gezählt, gewogen und
die Zerreißenden"), auf den. nah bevorstehenden Sturz des unwürdigen Königs
und seines Reichs durch die Mever und Perser. Er empfängt die versprochenen
Ehren, aber noch in derselben Nacht wird der König getödtet.
Cap. 6. Darius, der Meder, der jetzt das Reich einnimmt, macht den
Daniel zum ersten der drei höchsten Beamten, welche er über die von ihm ein¬
gesetzten 120 Satrapen setzt. Die auf diese Stelle neidischen Großen bewegen
den König zu einem Gebot, daß 30 Tage lang Niemand von irgendjemand
etwas bitten solle, als vom König, bei Strafe, in die Löwengrube geworfen zu
werden. Wie sie erwartet haben, läßt sich Daniel dadurch nicht abhalten, seine
regelmäßigen Gebete offen an Gott zu richten. Mit traurigem Herzen muß
der König an Daniel die Strafe vollziehen lassen. Als er aber am andern
Morgen zusieht, erfährt er zu seiner großen Freude, daß Gott die Löwen ver¬
hindert hat, ihn zu fressen. Nun läßt er den Daniel herauskommen und seine
Feinde hineinwerfen, welche, noch ehe sie an den Boden kommen, schon ver¬
schlungen sind. Darauf befiehlt Darius allen seinen Unterthanen, Daniels
Gott zu fürchten.
Cap. 7. Traumgesicht Daniels im ersten Jahre Bclsazars von vier reißenden
Thieren, deren letztes zehn Hörner hat; zwischen diesen steigt ein kleines aus.
Von dem drei von jenen vernichtet werden; das kleine Horn redet frevelhaft,
bis daß ein himmlischer Greis erscheint und Gericht hält. Nun wird das vierte
Thier getötet, auch die andern werden ihrer Herrschaft beraubt und eine aus
den Wolken herabgekommene menschenähnliche Person bekommt eine ewige Herr¬
schaft. Dieser Traum wird dann gedeutet aus vier nach einander folgende
Reiche, welche zuletzt durch die Herrschaft des heiligen Volks abgelöst würden.
Das vierte, schlimmste Thier wird noch besonders besprochen: die zehn Hörner
sind zehn Könige, das kleine Horn der letzte, welcher drei andre Könige
niederwerfen und 3V« Zeiten das Aergste verüben, nämlich wider Gott
reden, die Frommen bedrängen und das göttliche Gesetz abschaffen wird, bis
das Gericht über ihn kommt und das heilige Volk zur ewigen Herrschaft
gelangt.
Cap. 8. Im dritten Jahre Belsazars sieht Daniel ein Gesicht von einem
zweihörnigen Widder, der durch einen einhörnigen Bock aus Westen vernichtet
Wird. An der Stelle dieses einen Hornes, welches zerbrochen wird, erheben
sich vier, aus deren einem ein kleines Horn hervorgeht, das gegen die Mächte
des Himmels ankämpft, die täglichen Opfer abstellt und das Heiligste entweiht;
erst nach 2,300 Abend und Morgen (d. h. nach 1.1S0 Tagen oder etwas über
38 Monaten) soll es gehemmt werden. Daniel erhält die Deutung, daß der
Widder das medisch-persische, der Bock das griechische Reich bedeute; die vier
Hörner sind die vier großen Reiche, welche aus diesem hervorgehen, aber doch
nicht so start sind, wie das Mutterreich; das letzte Horn ist ein König, weicher
die ärgsten Frevel begehen wird bis zum Ablauf der angegebenen Zeit. Diese
Offenbarung soll Daniel geheim halten.
Cap. 9. Im ersten Jahre des Meters Darius fleht Daniel zu Gott um
Ausschluß über das Räthsel, daß Jerenua die Dauer der Noth Israels auf 70
Jahre angegeben habe (Jer. 25, 11. 29, 10), während sie noch immer nicht zu
Ende sei. Der Engel Gabriel belehrt ihn, daß mit den 70 Jahren 70 Jahr¬
wochen (also 7 x 70 — 490 Jahre) gemeint seien. Nach Ablauf der ersten
sieben Wochen werde ein fürstlicher Gesalbter aufstehn, unter dem Jerusalem
wieder aufgebaut würde; aber die Herstellung werde eine sehr nothdürftige sein.
In der letzten Woche werde es am schlimmsten stehn; die letzte halbe Woche
(3'/s Jahr) werde ein Fürst die Opfer einstellen und Greuel der Verwüstung
aufrichten, bis er hingerafft werde.
Cap. 10—12. Eine große Offenbarung über die Zukunft aus dem dritten
Jahre des Cyrus. Ein Engel stärkt den trauernden Daniel, belehrt ihn übe-r
die Kämpfe, die er mit dem Schutzengel von Persien und Griechenland zu
führen habe und giebt ihm dann eine ausführliche Enthüllung über die folgende
Zeil. Noch drei Perserkönige sollen auf den Cyrus folgen, der vierte wird
Krieg gegen Griechenland beginnen. Ein großer König wird ausstehn, dessen
Reich aber bald zertheilt wird. Die Verhältnisse der aus diesem hervorgehenden
Reiche des Südens und Nordens werden dann genau vorhergesagt, bis auf
einen König des Nordens, welcher der ärgste Frevler sein wird. Zuletzt wird
die Noth schlimmer werden als je, dann aber kommt für Daniels Volk Rettung;
viele Todten werden auferstehen, je nachdem zur ewigen Strafe oder zur ewigen
Seligkeit; die Gerechten werden dann ewiges Heil erlangen. Als Zeit der
Drangsal von der Abschaffung des täglichen Opfers an hört Daniel 1,290 Tage
(d. i. 43 Monate oder 3V-Jahre mit Einschluß eines Schaltmonats) nennen;
glücklich sollen die sein, welche 1,333 Tage (d. i. IV2 Monat länger) ausharren.
Diese Verkündigung soll Daniel geheim halten.
Zwar wird in den ersten Abschnitten des Buches von Daniel in der
dritten Person geredet, aber da in den spätern von ihm die erste gebraucht
wird, so ist kein Zweifel darüber, daß das ganze Buch als Werk des Daniel
angesehen werden soll. Wer nicht einem groben Supranaturalismus huldigt,
wird freilich die Echtheit des Buches sofort bei einer auch nur oberflächlichen
Betrachtung bezweifeln, doch wollen wir uns die hier geschilderten großen Er¬
eignisse und ihr Vcchältniß zu der uns bekannten Geschichte etwas genauer be¬
trachten, um nicht blos ein negatives, sondern auch ein positives Resultat über
die wirkliche Entstehung des Buches zu erlangen. Zu dem Ende betrachten
wir die hier gegebenen Enthüllungen über die Zukunft.
Die verschiedenen Visionen über die zukünftigen Reiche stimmen in wesent¬
lichen Stücken überein, und die ausdrücklichen Deutungen bestätigen dies voll¬
kommen. Die vier Reiche in Cap. 2 sind dieselben wie die in Cap. 7. Da
nun der Ausgang der Vision in Cap. 7 (das frevelhafte Horn) derselbe ist,
wie der in Cap'. 8, in dem uns geradezu die Namen der Reiche gegeben werden,
und da hiermit die Andeutungen und Ausführungen im 11. Cap. übereinstimmen,
so können wir den Hauptsinn der Bilder leicht fassen. Die Weltreiche sind
1) das babylonische, unter dem Daniel zuerst weissagt; 2) das medische; 3) das
Persische; 4) das griechische oder macedonische. Die nähere Verbindung des
medischen und persischen Reichs wird in Cap. 8 durch das Bild des zrveihö»
nigen Widders ausgedrückt. Alexander wird in Cap. 11, 3 und 8, 3 deutlich
hervorgehoben; ebenso die Zertheilung seiner Monarchie sofort nach ihm, 2,41 f.,
8, 6 und 11, 4. Die vier Reiche, weiche durch die nach den vier Himmels¬
gegenden gerichteten vier Hörner anstatt des einen (Alexanders) bezeichnet werden,
sind wahrscheinlich Thracien (5l.), Macedonien CA>), Syrien (0.), Aegypten (S.).
Cap. 11 schildert die Kämpfe der Scleutiden (Reich des Nordens) und Aegyptens
(Reich des Südens). Der König, auf den alle speciellen Schilderungen von
Cap. 6 an ausgehen, das frevelhafte Horn, das Lästermaul, der Tyrann, der
die Heiligthümer entehrt, die Opfer abschafft und das Volk Gottes aufs ärgste
drückt, ist Antiochus Epiphanes, den man beschuldigt, drei von seinen zehn Vor¬
gängern umgebracht zu haben (7, 8). Nach diesem erwartet der Seher
unmittelbar das Gottesreich.
Obgleich sich nun über die Bedeutung einiger Nebenpunkte namentlich in
dem sehr speciellen Cap. 11 streiten lave. so ist doch aus dem Gesagten die
Fiction ganz klar. Schon der Neuplatoniker Porphyrius (5 304 n. Chr. G.)
hat diese vollkommen erkannt. Er war durch genaue Studien zu der Ueber¬
zeugung gekommen, daß der Verfasser die Zeit bis auf den Epiphanes richtig
angegeben, von da an aber, weil er der Zukunft so wenig kundig gewesen
wie ein andrer Mensch, sich geirrt habe. Er verwandte dieses Ergebniß zur
Polemik gegen das Christenthum; die apologetischen Bemühungen der Kirchen¬
väter gegen ihn haben uns glücklicherweise noch einiges aus diesen seinen Unter¬
suchungen erhalten.
Sehr genau stimmt die Schilderung der griechischen Zeit mit der wirklichen
Geschichte überein, und zwar wird sie immer specieller, je mehr sie sich der Zeit
des Verfassers nähert. Die Geschichte des Epiphanes wird uns hier nicht blos
in seinem Verhältniß zu Israel, sondern auch zu Aegypten sehr eingehend ge¬
schildert. Sein wahnsinniger Eifer gegen die Religion Israels tritt hier eben¬
so deutlich hervor, wie in den beiden Makkabäerbüchern. Aber der Verfasser
steht noch inmitten der Verwüstung, welche er von der Abstellung der täglichen
Opfer an (im Jahre 168) auf 3Vs Jahr (das Schwanken der Zahlen ist sehr
gering) anschlägt. Da er unmittelbar nach Ablauf derselben den Eintritt des
Gottesreichs erwartet, dieses aber in Wirklichkeit damals nicht eingetreten ist,
so müssen wir schließen, daß er noch vor Ablauf dieser Jahre geschrieben hat,
und zwar, da seine Hoffnungen auf Rettung rein ideale, ohne allen Anhalt in
den wirklichen Ereignissen sind, noch vor den Siegen des großen Judas Makka-
bäus und der Reinigung des Tempels und der Wiederherstellung der Opfer
durch denselben im December 165. Ein so bedeutsames Ereigniß, wie das
letztere, welches seit der Zeit immer durch ein jährliches Fest gefeiert wurde,
hätte der Verfasser sicher auf irgendeine Weise hervorgehoben, wenn er es
schon erlebt hätte; den Umstand, daß es genau drei Jahre nach der Entweihung
des Altars stattfand, hätte er sicher nicht verschwiegen. Aber er steht noch in
der schrecklichsten Finsterniß und trauert über die Abstellung der Opfer. Also
schrieb er im Jahre 167 oder 166 v. Chr. Geb.
Sehr erklärlich ist es nun, wenn der Verfasser die Geschichte der alten
Reiche nicht so genau kennt, wie die der griechischen, und hinsichtlich ihrer mehre
Fehler begeht. Wenn er das babylonische Reich nicht durch Cyrus, sondern
durch den Meder Darius, den Sohn des Ahasverus (Terxes), einnehmen läßt
(6.1; 9,1). so hat man in neuerer Zeit vergeblich gesucht, hierin die Spur
einer richtigen Tradition zu finden. Das Verhältniß des medischen Reichs,
welches nur durch den einen König Darius «präsentirt wird, zum persischen
ist dem Verfasser unklar. Diesen Darius scheint er mit Darius Hystaspis zu
verwechseln, da er ihm die Einrichtung von 120 Satrapien beilegt (6, 1), wie
jener wirklich das Reich in solche theilte, freilich nur in 20. Das Buch Daniel
kennt nur vier Perscrkönige (11.2); vermuthlich kommt dieser Irrthum daher,
daß in den sonstigen Büchern des Alten Testaments allerdings zufällig nur vier
Namen persischer Könige vorkommen (freilich mehr Personen), nämlich Cyrus,
Darius. Xerxes und Artaxerxes. Cap. 11 V. 2 wird deutlich der Zug des Xerxes
nach Griechenland mit dem Kampfe des letzten Darius gegen Alexander ver-
wechselt. Sehr auffallend ist der Fehler gleich im Anfang des Buchs, nach
welchem Nebukadnezar als König von Babel im dritten Jahre Jojakims Jeru¬
salem belagert und erobert haben soll, während er nach Jer. 28,1 und 2 Kön.
26,8 erst im vierten Jahre Jojakims zur Regierung kam.
Unter diesen Umstanden werden wir uns nicht wundern, wenn dem Ver¬
fasser keine Chronologie der älteren Ereignisse zu Gebote stand. Bis zur Auf¬
stellung der seleucidischen Aera haben die Jsraeliten immer nach den Jahren der
regierenden Könige gerechnet. Die Gesammtdauer der Zeit von der Zerstörung
Jerusalems bis Alexander wäre daher nur durch Addition der Regierungsjahre
der babylonischen und persischen Könige zu ermitteln gewesen, welche dem Ver¬
fasser, welcher sich über die Zahl der Könige so sehr irrte, schwerlich möglich
War. Wir brauchen uns deshalb nicht auf künstliche Erklärungen einzulassen,
um die Zahl der 70 Jahrwochen von Jerusalems Untergang bis zum Epiphanes
mit der Geschichte in Einklang zu bringen. Der Verfasser kam auf die seltsame
Ausdeutung der unerfüllten, aber dennoch als prophetisches Wort keinem Zweifel
unterworfenen Verheißung Jeremias wahrscheinlich durch die Stelle 3 Mose
26, 34, wo den Jsraeliten gedroht wird, wenn sie fortwährend Gottes Gebote
nicht hielten, so solle ihr Land verwüstet werden und „seine Sabbate feiern"
d. h. keinen Ertrag geben, wie im Sabbatjahre, in dem das Land nicht bebaut
werden darf. Der Verfasser deutete imm so, daß die 70 Jahre der Verwüstung
lauter Sabbatjahre seien; dazu gehören dann aber je 6 gemeine Jahre, mithin
bedeuten ihm die 70 Jahre 70 Jahrwochen. Wir haben hier das älteste Bei¬
spiel einer Erklärungsweise, welche wir bei Juden und Christen wenige Jahr¬
hunderte später in üppiger Blüthe finden.
Innerhalb dieser 490 Jahre der Noth macht die Wiederherstellung Jeru¬
salems unter dem „fürstlichen Gesalbten" (Cyrus) einen wichtigen Punkt aus;
war auch wenig von den Hoffnungen erfüllt, welche die damaligen Propheten
an die Beendigung des Exils geknüpft hatten, so war hier doch immer ein
erster Anfang zur Wiederherstellung des Gottesreiches gegeben. Da dies Er-
"gniß aber vom Standpunkt des Verfassers aus ein sehr altes war, so mußte
^ es in den Anfang der 70 Wochen legen und da war die Periode von 7
Jahrwochen eine ganz sich von selbst ergebende. Da nun aber- wirklich zwischen
der Zerstörung Jerusalems*) und dem Anfang der Rückkehr gerade 49 Jahre
verflossen sind, so mag der Verfasser hier eine wirkliche chronologische Angabe
über diese Zeit gehabt haben. Dagegen würden die 490 Jahre uns von Jere-
mias Verkündigung (597 oder S98) aus viel weiter führen, als bis auf die
Zeit des Epiphanes. Daß der Versasser die letzte Woche und in dieser wie! er
letzte Hälfte (die hier und da etwas variirten 3V- Jahre) als die Zeit der
ärgsten Drangsal besonders abtrennt, ist in den Verhältnissen seiner Zeit ganz
begründet.
Wollten wir übrigens die Möglichkeit einer so directen Vorhersagung der
Zukunft durch einen Propheten einmal zugeben, so dürste dann doch kein Fehler
in derselben sein: dann müßte das Gottesreich wirklich sogleich mit dem Sturz
des Epiphanes begonnen haben! Die Späteren haben sich freilich mit unserm
Buche abgefunden, indem sie seine Aussagen auf ähnliche Weise umdeuteten,
wie in diesem selbst die Worte Jeremia's umgedeutet werden. Zu bemerken
ist übrigens noch, daß ein Prophet im ersten Regierungsjahre des Eroberers
Von Babel noch gar nicht in der Lage war. an der buchstäblichen Erfüllung
der Weissagung Jeremias zu verzweifeln, indem damals die 70 Jahre noch
nickt abgelaufen waren. Aber freilich zur Zeit des Verfassers mühte ein gläu¬
biger Jsraelit den Widerspruch der Verheißung mit der Wirklichkeit aufs
schmerzlichste empfinden.
Aus dem Gesagten folgt die Unechtheit und wirkliche Abfassungszeit unsers
Buches mit Sicherheit, und wir brauchen die zahlreichen sonstigen Schwierig¬
keiten, welche der Annahme der Endeken gegenüberstehen, nur ganz kurz zu
berühren. Dahin gehört die Märchenbaftigkeit und Unmöglichkeit der meisten
in dem Buche erzählten Begebenheiten. Man denke an die Bewahrung der
drei Männer vor dem Feuer und andere grelle Wunder, an den siebenjährigen
Wahnsinn Ncbukadnezars, sein Leben unter den Thieren und sein Grasfressen,
an die seltsame Weise, wie er diese seine Schicksale den Unterthanen verkündet,
das ungereimte Verbot, daß Niemand im Reiche einen ganzen Monat lang von
irgendjemand etwas bitten soll, als vom König, und noch mancherlei anderes.
Einige aus den Ideen des Buches z. B. über die Auferstehung der Todten
zu nehmende Einwände gegen seine Echtheit wollen wir als weniger handgreif¬
lich nicht hervorheben. Dagegen wollen wir auf zwei innere Widersprüche
aufmerksam machen, welche man vergeblich durch gezwungene Auslegungen hat'
beseitigen wollen. 1, 21 heißt es, Daniel „sei gewesen" (d. h. habe gelebt) bis
zum ersten Jahre des Cyrus, während er 10, 1 noch im dritten Jahre dieses
Königs ein Gesicht schaut. Und nach Capitel 1 sollen die von Nebukadnezar
fortgeführten Jünglinge 3 Jahre lang erzogen werden (V. 5) und werden wirk¬
lich so lange erzogen (V. 18). während die Erzählung des Cap. 2, die hinter
jener Erziehung liegt, schon ins zweite Regierungsjahr des Königs gesetzt wird.
Auch sprachliche Gründe sprechen gegen das Alter des Buchs. Daß das¬
selbe zum Theil (von 2.4 bis Cap. 7) nicht hebräisch, sondern aramäisch ge¬
schrieben ist, würde freilich noch nicht gegen die Echtheit zeugen. Man könnte
sich eben denken. daß ein unter Aramäern in Babel lebender Jsraelit leicht
dazu habe kommen können, mit beiden Sprachen abzuwechseln. Erst die richtige
Erkenntniß der Abfassungszeit unseres Buches setzt uns vielmehr in den Stand.
sprachgeschichtliche Folgerungen aus dem Sprachewechsel innerhalb desselben zu
ziehen, Folgerungen, die auch von andern Seiten her bestätigt werden. In
dieser Periode starb nämlich die alte hebräische Spraye als Volkssprache aus,
und machte der nahverwandten aramäischen Platz, der sich die Nachbarvölker
bedienten. Als Literatur- und Gesetzessprache lebte aber die hebräische noch
fort, und so ist es erklärlich, daß ein Schriftsteller sogar mitten in einer Er¬
zählung aus einer in die andre überging, ähnlich wie der Kompilator des jetzigen
Esrabuches, je nach der Sprache seiner Quellen, bald hebräisch bald aramäisch
schreibt. Das Hebräische zeigt in unserm Buche im Wesentlichen denselben
Charakter, wie in den andern jüngsten Schriften des Allen Testaments. Trotz¬
dem daß der Verfasser mitunter absichtlich Archaismen aus der Sprache des
Pentateuchs anbringt, verstößt er doch öfter gegen den feinen Sprachgebrauch
der älteren Zeit und aramaisirt auch, wo er hebräisch schreibt. Doch auch diese
Erscheinung ließe sich zur Noth wohl bei einem ältern, unter Aramäern lebenden
Schriftsteller erklären. Vollkommen unerklärlich wären aber bei einem solchen
die griechischen Wörter, welche im dritten Capitel vorkommen. Solche deuten
entschieden auf die Zeit nach Alexander. Das Schwanken der Aussprache und
Orthographie bei diesen Wörtern — es sind die Namen der musikalischen In¬
strumente KitKaris, SÄinb^Kö, symptrouig, und psalterion — ist
für Fremdwörter charakteristisch, während übrigens die ländliche Umwandlung,
die sie hier erleiden, ganz der Art entspricht, welche bei den zahllosen griechischen
Wörtern in den nachbiblischen Schriften der Juden angewandt wird.
Wo die Unechtheit so klar vorliegt, brauchen wir uns bei Nebengründen,
wie der Nichterwähnung des Daniel im Sirach, der doch die großen Propheten
so sehr preist, nicht aufzuhalten.
Aus dem Gesagten ist Veranlassung und Zweck unseres Buches schon
deutlich. Bei den furchtbaren Religionsverfolgungen des Antiochus Epiphanes
erhob sich ein kühner Geist, um sich selbst und seinen Religionsgenossen Muth
einzuflößen. Die sichere Hoffnung, daß die alten Weissagungen erfüllt werden
büßten, die allgemein menschliche und speciell israelitische Anschauung, daß
Gottes Hilfe dann am nächsten, wenn die Noth am größten, entflammten ihn
Zu Aussichten auf die Zukunft im Geiste der alten Propheten. Aber da die
alte Prophetie längst für erloschen galt (Ps. 74,9; 1 Matt. 14.41), so hätte er.
wenn er in seinem eigenen Namen redete, nicht auf einen Glauben rechnen
können, wie ihn der Prophet verlangt. Darum verhüllt er sich hinter dem
Namen eines alten heiligen Mannes. Um die Glaubwürdigkeit vollständig zu
Zacher, schildert er die Vergangenheit als ferne Zukunft, theils in leicht durch¬
schaubaren Bildern und Andeutungen, theils ganz deutlich. Einem Scher, der
Zukunft bis auf die Tage der Leser gekannt hatte, konnte man auch für
d'e fernere Zeit vertrauen. Die daraus hervorgehende Gewißheit vom nahe
bevorstehenden Ende des Drucks und vom Anbruch des himmlischen Reiches
mußte den Geist derer stählen, welche auch in der höchsten Noth treu am Glau¬
ben festhielten. Dieselbe Absicht ward mit den erzählenden Stücken erreicht,
welche zeigten, wie Gott die Frommen nie verläßt, wenn auch alle irdische
Hoffnung aufhört, und wie diese sich freudig zum Martyrium drängen, wie
ferner menschliche Hoffahrt von Gott sofort aus das nachdrücklichste ge¬
straft wird.
Das Buch Daniel eröffnet die Reihe der apokalyptischen Schriften, welche mit
den alten Prophetenbüchern die Richtung auf die Zukunft und die glühende Sehn¬
sucht nach der Erlösung aus dem jetzigen Leide theilen, aber ihre Grundgedanken
in Bilder und Räthsel oft höchst künstlich verstecken. Sie zeigen, wie unser
Buch, oft eine höchst eigenthümliche Verbindung von schwärmerischer Begeisterung
und nüchterner Berechnung. Die Fiction älterer Verfasser ermöglicht es den
wirklichen Verfassern oft, die Vergangenheit als Zukunft zu schildern und da¬
durch ihre Glaubwürdigkeit zu erhärten. Sehr oft haben sie noch allerlei be¬
lehrende, ernährende oder erzählende Abschnitte. Stets sind sie auf die Zeit¬
genossen berechnet, so geheimnißvoll sie auch ihre Zeit verhüllen mögen.
Von diesem Standpunkt aus verstehen wir das Buch Daniel ganz. Der
Verfasser will keine Historie schreiben, darum kommt es ihm nicht auf Verstöße
gegen die geschichtliche und natürliche Möglichkeit an. Je wunderbarer seine
Erzählungen, desto mehr konnte er auf Eindruck bei seinen wundergläubigen
Lesern rechnen. Die Selbständigkeit der einzelnen Stücke, von denen jedes dem
Hauptzweck des Buches in seiner Weise diente, ist nun erklärt, und die kleinen
inneren Widersprüche fallen nicht mehr auf. Selbst das erste Capitel, welches
doch als Einleitung nothwendig ist, hat noch einen selbständigen Werth, indem
es zeigt, wie die strenge Gesetzlichkeit nicht schadet, sondern Gottes besondere
Fürsorge hervorruft. -
Ueberall hat der Verfasser seine Zeit im Auge. Nebukadnezar, der bei
Todesstrafe few Bild zur Verehrung aufstellt. Belsazar. der bei seinen Orgien
die heiligen Gefäße benutzt, sie sind ihm ebenso sehr Typen des seleucidischen
Tyrannen, wie das frevelhafte Horn in den apokalyptischen Bildern. Daniel
und seine drei Freunde sind Vorbilder für die Märtyrer seiner Zeit. Freilich
erheischt die poetische Gerechtigkeit bei ihm überall einen glücklichen Ausgang,
durch den selbst die Tyrannen von Gottes Obmacht überzeugt werden, wie ja
der jüdische Volksglaube selbst den Epiphanes vor seinem Tode zur Reue und
Erkenntniß Gottes kommen ließ (vgl. beide Mattabäerbücher).
Der Verfasser benutzte gewisse geschichtliche und sagenhafte Ueberlieferungen
in ganz freier Weise. Von einem Daniel als einem Muster der Frömmigkeit
und Weisheit spricht der Prophet Ezechiel (14.14.20; 28.30). Da er ihn
aber zwischen Noah und Hiob nennt, so muß er ihm ein Mann der Vorzeit
gewesen sein, sicher kein Zeitgenosse, wie der Daniel unseres Buches hätte ge¬
wesen sein müssen. Was dem Ezechiel von diesem Daniel überliefert war und
ob noch etwas von dieser Ueberlieferung auf die Späteren und selbst auf den
Verfasser unseres Buches gekommen ist, entzieht sich unsrer Beobachtung. Wahr¬
scheinlich nahm derselbe aber den Namen aus Ezechiel. Nun kommt außerdem
der Name Daniel nur noch vor bei einem Zeitgenossen Esras (Esra8, 2; Reh.
10. 7). Da nun auch die Namen Misael, Asarja und Hananja, von denen der
erste ganz selten ist, gleichfalls Von Zeitgenossen Esras geführt werden (Reh.
8.4; 10,3; 10,24), so ist es wahrscheinlich, daß der Verfasser an diese Männer
dachte, wobei er sich allerdings um IV« Jahrhundert geirrt haben muß.
Außer manchen geschichtlichen Thatsachen werden im Buche Daniel wohl
einige jüdische und vielleicht auch babylonische Sagen benutzt. Eine Stelle bei
dem babylonischen Schriftsteller Abydenus läßt den Nebukadnezar auf sein Haus
steigen und da plötzlich Unglück über sein Reich prophezeien, worauf er stirbt.
Die Stelle hat auch im Einzelnen Ähnlichkeit mit Daniel Cap. 4, und es ist
möglich, daß der Verfasser hier eine babylonische Sage auf seine Weise gestaltet
hat. Und so mag er noch anderes Derartige benutzt haben. Aber er waltet
mit dem überlieferten Stoff ganz frei, und gerade die wesentlichsten Züge der
Erzählung sind sein Eigenthum.
Wie allen religiösen Schriftstellern dieser Zeit schweben auch ihm die alten
Muster der heiligen Schriften vor. In Sprache und Gedanken zeigt sich eine
Einwirkung des Pentateuchs, Ezechiels. Jeremias, Esras, Nehemias und Wohl
noch andrer Bücher. Das nächste Vorbild ist ihm der Prophet Ezechiel, der
zuerst die Zukunft in systematischer Folge von Bildern und Zahlen dargestellt
hat, aber er übertrifft diesen nüchtern reflectirenden Propheten bei weitem.
Das Buch Daniel ist eine der bedeutendsten Erscheinungen der hebräischen
Literatur. Wenn man von den UnVollkommenheiten der Zeit absieht, muß man
das Geschick und den hohen Sinn des Verfassers bewundern. Namentlich die
erzählenden Theile sind bedeutend, vor allem die Erzählung vom Gastmahl
Belsazars. Wir haben hier eine originelle Phantasie wie in wenigen Stücken
des Alten Testaments, und dabei viel Geschick in der ganzen Darstellung.
Freilich muß man nicbt den Maßstab der geschichtlichen Erzählung anlegen und
die supranaturalistische Richtung der Zeit stets im Auge behalten. Man darf
sich auch nicht zu sehr daran stoßen, daß der Verfasser unter falschem Namen
schrieb. Eine derartige Fiction war bei den Hebräern seit alter Zeit etwas gar
nicht Ungewöhnliches. Wer sich bewußt war, im Geiste der alten Lehrer und
Seher zu schreiben, hielt sich auch für berechtigt, ihren Namen seiner Schrift
vorzusetzen, um ihnen dadurch eine ebenso große Wirksamkeit zu verschaffen, als
wenn sie wirklich von jenen abstammten.
Für die Anschauungen und Gesinnungen der Kreise, aus denen die makka-
bäischen Glaubenskämpfer hervorgingen.' ist unser Buch von sehr hohem Werth.
Wenn der Verfasser auch ein sehr origineller Geist war, so ist doch gewiß,
daß er viele fand, welche seine Gesinnungen theilten. Der Märtyrergeist, die
unerschütterliche Gesetzestreue selbst im Kleinsten, die feste Hoffnung auf das
Bevorstehen der Erlösung und der Haß gegen alles Heidnische, die wir im Buch
Daniel finden, erfüllte sie alle und trieb sie zu dem ewig denkwürdigen Kampf
für ihren Glauben. Dogmatisch wichtig ist die hier zum ersten Mal deutlich
austretende Anschauung von der Auferstehung vieler (nicht aller) Todten und die
eigenthümliche Gestaltung der messianischen Hoffnungen, welche von einem per.
fortleben Messias nichts sagt und alle Herrlichkeit der Zukunft auf das ganze
heilige Volk vertheilt. — Selbst für die äußere Geschichte des syrischen und
ägyptischen Reichs haben einige Abschnitte unseres Buches einen bedeutenden
Werth.
Wie die Thatsache, daß manche Schriften des Alten Testaments aus mehren
Stücken nach und nach zusammengesetzt sind, früher überhaupt zu manchen
Uebertreibungen geführt hat, so hat man auch bei unserem Buche wegen der
Selbständigkeit der einzelnen Theile eine solche Entstehung aus Stücken ver¬
schiedenen Ursprungs angenommen. Aber da die Selbständigkeit der Theile sonst
motivirt ist, da in allen dieselben Grundanschauungen und Tendenzen erscheinen,
da Sprache und Stil in den verschiedenartigen Theilen dieselben sind, da endlich
auch nicht einmal der Umstand ins Gewicht fällt, daß der erste Theil des Buches
erzählend, der zweite apokalyptisch ist, indem auch im ersten Theil das zweite
Capitel eine apokalyptische Schilderung ganz nach Art derer im zweiten Theil
enthält — aus allen diesen Gründen ist jene Hypothese zu verwerfen und jetzt
auch allgemein verworfen. Da der Uebergang vom Hebräischen zum Aramäischen
mitten in einer Erzählung vor sich geht und da das Aramäische bis zum 7.
Capitel geht, mithin in den zweiten Theil übergreift, so ist natürlich an eine
Zerlegung des Buches in heterogene Bestandtheile nach den Sprachen nicht zu
denken. Uebrigens ist die Ähnlichkeit des Stils und der Darstellung zwischen
den aramäischen und hebräischen Abschnitten so groß, wie sie nur zwischen
Stücken sein kann, die in zwei verschiedenen, aber nah mit einander verwandten
Sprachen geschrieben sind.
Trotzdem daß die glänzenden Aussichten des Buches sich nicht so vollständig
erfüllten, scheint dasselbe frühzeitig zu hohem Ansehen gelangt zu sein. Die
angebliche Abkunft von einem heiligen Seher und die Uebereinstimmung mit
den besten Gedanken und Gefühlen der Zeit verschafften ihm eine große Autorität.
Mit den unerfüllten Weissagungen fand man sich ab, indem man sie durch kühne
Deutungen wieder in die Zukunft schob. Das Buch Daniel hat sehr viel
Einfluß auf die dogmatischen Ansichten der Späteren gehabt; freilich wurde ihm
dabei oft ein andrer als der ursprüngliche Sinn beigelegt. Dies gilt besonders
von dem Gericht in Cap. 7, bei dem man die Personificirung des israelitischen
Volks als den Messias (Christus) selbst auffaßte.
Schon die dem sterbenden Matthathias 1 Mcikk. 2, S9 f. in den Mund ge¬
legte Rede spricht von der Geschichte Daniel's und seiner drei Gefährten ganz
wie von den sonstigen Erzählungen der heiligen Schrift. So verkehrt es nun
ist, wenn man diese Stelle als ein Zeugniß für die Echtheit des Buches hat
ansehen wollen, da dies nur in dem Falle anginge, daß wir jene Rede als mit
stenographischer Treue aufbewahrt ansehen könnten, so folgt doch daraus, daß
der Verfasser des ersten Makkabäcrbuchs (im Anfang des letzten vorchristlichen
Jahrhunderts), der diese Rede componirte, das Lues Daniel als ein heiliges
ansah. Und während wir von mehren Büchern des Alten Testaments wissen, daß
ihr kanonisches Ansehn lange bestritten worden ist, fehlt uns eine derartige Nach¬
richt über dies jüngste Buch des hebräischen Kanons ganz und gar. Die Ver>
muthung, daß die Sadduccier unser Buch wegen der darin ausgesprochenen
Lehre von der Auferstehung der Todten verworfen hätten, läßt sich durch kein
Zeugniß belegen; mit ein bischen Auslegekunst konnten sie auch wohl diesen
Anstoß beseitigen.
Ein äußerer Fingerzeig für das spätere Alter des Buches liegt nur noch
in seiner Stellung in der hebräischen Bibel. Seiner Art nach hätte es in die
zweite Classe des Kanons gehört, welche unter dem Namen „Propheten" nicht
blos die eigentlich prophetischen, sondern auch die älteren geschichtlichen Bücher
von Josua bis zu den Königen enthält. Diese Reihe war aber zur Zeit der
Abfassung des Buchs schon abgeschlossen, und daher konnte es nur in die dritte
kommen, welche „die (heiligen) Schriften" (Hagiographa) genannt wird und aus
verschiedenartigen Büchern minderen Ansehens oder späteren Alters besteht.
Vergeblich haben orthodoxe Schriftsteller durch Sophismen nachweisen wollen,
daß das Buch Daniel, obwohl es echt sei, nicht unter die prophetischen Bücher
habe gestellt werden dürfen, während doch selbst das erzählende Buch Jona
mitten unter diesen steht.
Erst in der griechischen Bibel ist Daniel zu den prophetischen Büchern
gestellt, und daher ist es in allen abendländischen Kirchen Sitte geworden,
Daniel zu den großen Propheten zu rechnen.
Der griechische Uebersetzer scheint freilich das Buch Daniel noch nicht mit
ängstlicher Scheu betrachtet zu haben. Er behandelt sein Buch noch Willkür-
licher, wie der des Buches Esther das seinige. Kein Buch der griechischen Bibel
'se so flüchtig und schlecht übersehe, wie Daniel. Je weiter nach hinten, desto
schlechter wird die Uebersetzung, welche oft baren Unsinn enthält. Bald läßt
sie nothwendige Dinge aus, bald hat sie kleinere oder größere, zum Theil störende
Zusätze. Dazu kam noch das Geschick, daß gerade diese Uebersetzung durch
Hinzusetzung anderer, zum Theil noch freierer Uebersetzungsfragmente und son-
feiger Anhängsel sowie durch Versetzungen und andere Korruptionen aufs ärgste
entstellt wurde, so daß es schwer war. aus diesem Text das ursprüngliche Buch
zu erkennen. Namentlich ist hier die wichtige Stelle 9, 2S ff. zu beachten, welche,
auch wenn man die versetzten Worte wieder an ihre richtige Stelle bringt und
die Glossen ausscheidet, immer noch sinnlos bleibt.
Aus diesem Grunde ist es nicht zu verwundern, daß die Kirche diese Ueber¬
setzung verwarf, nachdem durch Theodotivn (im zweiten Jahrhundert nach Chr.)
eine neue lesbare Uebersetzung oder vielmehr eigentlich eine sorgfältige Revision
jenes nach dem Grundtext geliefert war. Schon um 200 wird Daniel nach
Theodotivn citirt, und die ältere Übersetzung war allmälig ganz verschollen,
bis sie im vorigen Jahrhundert wieder ausgefunden warb.
Die griechische Uebersetzung Daniels enthält, wie die des Buches Esther,
außer mehren kleinen einige größere Zusätze verschiedenen Ursprungs. Aus dem
Hebräischen konnten möglicherweise übersetzt sein die beiden Gebete im
3. Cap. Es sind dies zwei gutgemeinte aber schwache Versuche frommer Seelen.
Das Gebet des Asarja (V. 24—45) ist jedenfalls von einem andern Verfasser,
als der aus einem rein liturgischen Formular bestehende Gesang der drei Männer
(V. 46—90), welcher in seinem Eingang eine neue Umschreibung von V. 22 des
Originals giebt.
Schlecht erfunden und schlecht erzählt ist die Geschichte von der keuschen
Susanna, welche ursprünglich selbständig war. Daß sie von Anfang an grie¬
chisch geschrieben, erkannte schon der scharfsinnige Julius Africanus aus den
darin vorkommenden griechischen Wortspielen. Vergeblich suchte er freilich durch
diese und andere Gründe seinen großen, aber weniger kritischen Freund Ori-
genes von der Unechtheit dieser und der andern Zusätze zum Daniel zu
überzeugen.
Noch schlechter ist die ganz alberne Nachahmung der Geschichte vom feurigen
Ofen und von der Löwengrube in der Erzählung vom Bel und Drachen zu
Babel. Auch dieses Stück, welches wegen des darin auftretenden Propheten
Habakuk den Titel führt „aus der Prophetie des Habakuk" ist ursprünglich
griechisch und selbständig.
Wann diese Nachwüchse unseres Buches entstanden sind, läßt sich nicht
sagen. Sehr alte christliche Schriftsteller betrachten sie als integrirende Theile
des Buches Daniel, und selbst Theodotivn wagte sie nicht ganz auszuscheiden,
sondern bearbeitete sie, nicht ohne Geschick, indem er im Einzelnen etwas daran
besserte, namentlich an der Geschichte von Susanna, und sie in einen etwas
innigeren Zusammenhang mit dem eigentlichen Buche brachte. — Luther hat
diese Zusätze mit Recht ausgeschieden; er hätte noch besser daran gethan, wenn
er sie ganz ausgelassen hätte, statt sie wenigstens in die Apokryphen aus¬
zunehmen.
Wir haben im vorhergehenden Abschnitt bereits einer wesentlichen Seite des
Zwiespalts, wie derselbe auf der Generalversammlung vom vorigen October in
Flammen ausbrach, Erwähnung gethan. Es bleibt uns in Betreff dieser
stürmischen Versammlung noch übrig, die mit dem Stiftungsgrundgesetz vo>-
genommenen Aenderungen naher zu beleuchten.
Das alle Statut datirt vom October 1869. Es enthält in 12 Paragra¬
phen die Grundbestimmungen über die Zwecke der Stiftung und über die
Mittel und Formen zu deren Erfüllung. Zum bessern Verständniß der ganzen
Organisation hier einige der wesentlichem Bestimmungen des Statuts. Die
Schillerstiftung, am 9. Mai 1855 in Dresden ins Leben gerufen, hat sich da¬
selbst am 10. November 1859 als eine Bereinigung von 15 (jetzt 22) Zweig¬
stiftungen constituirt (Dresden, Berlin, Wien, München, Graz, Stuttgart,
Weimar, Darmstadt, Leipzig. Frankfurt, Breslau, Hamburg, Offenbach, Nien-
burg, Koburg). Aus ihrer Mitte wählen die Zweigstiftungen von fünf zu fünf
Jahren eine der Zweigstistungen als Vorort. Zwei Mitglieder dieser zum
Vorort erwählten Zweigstiflung treten in den Verwaltungerath, eins dieser
Mitglieder wird zugleich Vorsitzender der ganzen Stiftung. Aus den übrigen
Zweigstiftungen werden ferner fünf zur Theilnahme an der Verwaltung insofern
beauftragt, als sie zur Completirung des Verwaltungsraths je eins ihrer
Mitglieder zu bezeichnen haben, so daß diese fünf, sammt jenen zwei Mitgliedern
des Vororts, während der nächsten fünf Jahre die Geschäfte der Stiftung zu
besorgen haben. Alle fünf Jahre muß der Vorort wechseln. Sobald eine
Zweigstiftung 2000 Thlr. Vermögen besitzt, kann sie ein Drittel ihrer Zinsen
selbständig verwenden. Die übrigen Zinsen erhält der Verwaltungsrath zur
Verwendung, resp, die am Lorort befindliche Centralkasse. Alle fünf Jahre
findet eine Generalversammlung statt. Nur die Vorstände der Zweigstiftungen
^fahren die Namen der Unterstützten.
Dies Grundstatut enthält ferner im K 4 die Vorschrift für jede Zweig,
Stiftung, bei ihrer Regierung das Recht der moralischen Körperschaft zu er-
werben. Es ist dies die vielbelcumdete „Reginungsbcstätigung". Dieselbe ist
begreiflicherweise der Stiftung keineswegs aufgedrungen, sondern vielmehr von
für unentbehrlich erachtet worden, und sie kann dieser Bestätigung auch schon
aus dem einen Grunde nicht entrathen, weil Schenkungen von einigem Belang,
wenn sie von Gerichten überantwortet werden sollen, nur an staatlich bestätigte
Körperschaften ausgefolgt werden dürfen. Was nun die Form dieser Bestä¬
tigungen betrifft, so ist sie je nach der Landesgesetzgcbung der einzelnen Stif¬
tungen eine verschiedene gewesen, ohne daß sie darum in ihrem Wesen nicht
allenthalben ungefähr auf das Nämliche hinaufliefe. Einige Zweigstiftungen
haben sich, scheint es, freilich gar nicht bestätigen lassen, Köln z. B. trotz der
Statutenvorschrift. Die wiener Bestätigung ist am 3. Juni 1861 unter dem
Hinzufügen erfolgt, jede spätere Aenderung sei zur Kenntniß des k. k. Mi¬
nisteriums zu bringen; die preußische unter dem Vorbehalt, daß Aenderungen
der Bestätigung angemeldet werden. Auch die sächsische Regierung hat jene
Bestätigung der Statuten am 14. December 1861 bewilligt und vorgenommen.
Da aber §. 11 des Grundstatuts die Worte enthält: „sie (die Generalversamm¬
lung) entscheidet in höchster Instanz über alle Angelegenheiten der Stiftung",
so daß es scheinen könnte, als ständen den Pflichten der zur Bestätigung an¬
gerufenen Regierungen keinerlei Rechte gegenüber, so hat die sächsische Regie¬
rung gleich damals an ihre Bestätigung den schriftlichen Vorbehalt geknüpft,
„daß jede künftige Aenderung oder Ergänzung der Staturen für die sächsischen
Zweigvereine und den sächsischen Behörden gegenüber nur dann Geltung er¬
langt, wenn solche die Bestätigung der k. sächsischen Oberaufsichtsbehörde
erlangte".
Wir werden auf diesen Vorbehalt zurückzukommen haben, gehen aber jetzt
auf die Tagesordnung der Octobergeneraiversammlung über, welche letztere be¬
kanntlich durch die extreme Auslegung des Paragraphen von der „höchsten In¬
stanz" den Zwiespalt im Schoße der Stiftung zum Ausbruch brachte und der
sächsischen Regierung eine Veranlassung zum Einsprüche gab. Die Tagesord¬
nung einer Generalversammlung muß laut H. 101 „soweit möglich" den Zweig¬
stiftungen „zum voraus mitgetheilt werden". Man sollte denken, daß, wo es
sich um eine vollständige Umarbeitung des Grundgesetzes einer Stiftung handelt,
dies „soweit möglich" wohl kaum zu der Meinung verleiten könnte: der Ver"-
waltungsrath habe seinen desfallsigen Entwurf im voraus mitzutheilen oder
auch nicht mitzutheilen, je nachdem es ihm grade „möglich" sei. Da nun
aber die an die Zweigstiftungen gelangte Tagesordnung weder diesen Entwurf,
noch eine Ankündigung desselben, wohl aber bei den Worten „Revision der
Statuten" als den scheinbar einzigen Gegenstand dieser Revision eine Bezug¬
nahme auf den schon im Mai angekündigten Oeffentlichkeiisantrag des Ver¬
waltungsraths enthielt; da ferner von der bereits im Juli von Lübeck in An¬
regung gebrachten Aenderung dreier Paragraphen in jener Tagesordnung keinerlei
Erwähnung geschah, diese Aenderung also für diesmal als vertagt angesehen
werden durfte; da endlich die schon vor Jahren von der sächsischen Regie¬
rung den sächsischen Stiftungsvorständen unterbreiteten Desidcrien über einige,
im Laufe der Zeit sich empfehlende Statutenänderungen, wenn sie überhaupt
berücksichtigt werden sollten, längst der mühevollsten Erörterung zwischen dem
Verwaltunqsrath und den Zweigstiftungen überantwortet hätte werden können;
so fehlte den zu der Generalversammlung Abgeordneten begreiflicherweise der
Anhalt jeder mehr als oberflächlichen Instruktion. Sogar der von der Ver-
waltungsrathsstiftung München am 30. September beim Verwaltungs¬
rath eingebrachte Antrag auf Beseitigung des Vorortswcchsels gab dem Vor¬
sitzenden, Herrn v. Dingelstedt, keine Veranlassung zu einer ergänzenden Mit¬
theilung an die Zweigstiftungen, obschon die Generalversammlung erst am 17.
October bevorstand. Alles, was in Betreff dieses Vorortswechsels Seiten des
Verwaltungsraths an die Zweigstiftungen gelangt war, beschränkte sich auf
einen scheinbar wieder jeden derartigen Aenderungsplan von der Hand weihenden
Ausdruck in dem Umlaufschreiben vom 24. Mai 1864: der Verwaltungsrath
spreche seine frohe Zuversicht aus. „daß die bevorstehende Generalversammlung
«n der wichtigen Grenzscheide des ersten und zweite» Lustrums der Stiftung.
Voraussichtlich zum letzten Male auf Weimars heiligem Boden.
----einmüthig .... sich begegnen werde."
Die Ueberraschung der nicht Eingeweihten, als der Verwaltungsrath am
Zweiten Sitzungstage dennoch einen ganz neuen Entwurf von Satzungen in die
Versammlung brachte, war somit wohl eine gerechtfertigte. Aus 12 Para-
Araphen waren überdies nicht weniger als 31 geworden; es fehlte jede Er¬
leichterung zum Vergleichen; Einholen von Instructionen war unmöglich; eine
einzige Nacht sollte zum Prüfen dieses Verbesserungsergebnisses einer fünfjährigen
Verwaltungsperiode genügen, während das Vorhandensein grundverschiedener
Ansichten im Schoße der Stiftung doch längst constatirt war und also kein
blind sich hingebendes Vertrauen verlangt werden durfte.
Das Protokoll vom 18. October läßt aber auch jeden thatsächlichen Grund
M Erklärung dieser auffallenden Hast, nach so langem Schweigen und Zurück¬
halten, vermissen. Das ganze vielsagende „soweit möglich" des §. 101 wird
wie den Worten abgethan „man habe sich im Verwaltungsrath zu dem der
Generalversammlung leider heute erst — die Zeit habe ein Früheres nicht
gestattet! — vorgelegten EntWurfe geeinigt."
Auch am Tage der Debatte über die Zulässigkeit einer so späten Vorlage
'si nicht der entfernteste Versuch gemacht worden, die Unmöglichkeit einer recht-
^eigen Mittheilung des Entwurfs wirklich nachzuweisen.
Nach dem nun. was wir über die Stellung des Verwaltungsraths und
ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Bildung einer geschlossenen »n-
"isteriellen Majorität gesagt haben, kann es nicht grade befremden, daß gegen
e'ne Minderheit von fünf Stimmen die Durchberathung des ganzen Entwurfs
dennoch beschlossen wurde. Höchstens erscheint das Präsidium, Herr v. Dingel-
stete, im Scheine einer nicht ganz parteilosen Unbefangenheit, indem er, trotz
mehrseitiger Berufung auf §. 101, einer Majoritätsentscheidung die Frage an¬
heimgab: ob auf eine specielle Revision eingegangen werden solle oder nicht.
Denn eine Versammlung steht unter, nicht über der Geschäftsordnung, die sie
sich einmal gegeben hat, und wenn sie auch das Recht besitzen wird, ihre Ge¬
schäftsordnung zu ändern, so bietet die letztere selbst dock die bindende Form,
innerhalb welcher allein diese Aenderungen vorgenommen werden können. Es
hieße die Willkür an die Stelle des Gesetzes stellen, wollte man „die höckste
Instanz" von Generalversammlungsmajoritäten dahin auslegen, daß wenn 11
von 21 es so wollen, für alle 21 das Wort Geschäftsordnung nun nichts mehr
bedeutet. §. 101 erscheint aber als ein sehr wesentlicher Theil der Geschäfts¬
ordnung, insofern er den Zweigsiiflungen die einzige Garantie gegen mangelhaft
vorbereitete Generalversammlungen bietet, und die Commentirung seiner Be¬
stimmungen dem Zufall einer oder mehrer Stimmen preisgeben, hieß in diesem
Falle nichts Minderes, als die Legalität der sämmtlichen weitern Berathungen
gefährden.
In der That ist die Majorität durch dies ihr Aufgeben des gesetzlichen
Bodens sehr bald an die weitere Frage gelangt: ob ihre Allmacht nicht nach
dem Paragraphen von der „höchsten Instanz" überhaupt ohne alle Grenzen sei?
Daß dergleichen Vorstellungen an sich etwas Einschmeichelndes, Bestechendes
haben, liegt auf der Hand, vollends müßte dies aber denjenigen Stimmen ge¬
genüber der Fall sein, welche, statt einzig an die Reckte der nicht gehörten
Zweigstiftungen, an die Rechte und Pflichten der Regierungen zu erinnern
wagten. Die bloße Erwähnung solcher Bedenken gab den Autonomsten sofort
gewonnenes Spiel. Sie verfochten nun nicht mehr ihre subjective Meinung,
sie verfochten „die Unabhängigkeit der Schillcrstiftung".
Nachdem man in so gehobner Stimmung, dann im Sinne des Berwal-
tungsraths, die allgemeine, unerläßliche Bedingung der „Hilfsbedürftig-
keit" durch das Wort „insbesondere" zu einem vereinzelten Attribut herabge¬
drückt, nachdem man das Wort „Unterstützungen" aus dem alten K. 1 in der
neuen Fassung (§. 11 und 17) zu „Gaben" umgeformt; nachdem man in der
historischen Einleitung die Bezeichnung der Stiftung als „für verdienstvolle
und hilfsbedürftige Schriftsteller ?c." beseitigt; nachdem man endlich daS
Wort „Geldunterstützungen", in K. 2, dem frühern Ausdrucke „Zinsertrag
des vorhandenen Vermögens ze." substituirt hatte, so daß nun die sich ihm
anreihende weitere Kategorie: „Hilfeleistung zu Förderung materiellen Wohl¬
ergehens" als nicht mehr ebenfalls einzig im Sinne der Unterstützung ge¬
meint sich darstellte, sich vielmehr den mannigfachsten Auslegungen anschmiegte;
nachdem man aber auch noch — immer im Namen der Freiheit — der Ge¬
neralversammlung das Recht zurückerobert hatte, denselben Vorort, so oft man
wolle, am Nuder zu lassen; nachdem man ferner die Erblichkeit der Verwal¬
tungsrathswürde dadurch befördert hatte, daß man fünfen von sieben (statt
sonst nur dreien von sieben) das Recht zuerkannte wieder gewählt zu werden;
nach allen diesen, im Sinne des Verwaltungsraths vorgenommenen Aende¬
rungen, kam nun jene Hauptfrage aufs Tapet: sind wir allmächtig oder sind
wirs nicht? — Es versteht sich, daß sie sich nicht in so unverhüllter Form bot
Sie gab sich vielmehr in der bescheidneren Fassung: können wir auf Grund
der zuletzt vorgenommenen Statutenänderung (Aufhebung des obligatorischen
Vorortswechsels), ohne die Bestätigung der Revision Seitens der Regierungen
abzuwarten, Weimar sofort wieder wählen oder können wir es nicht? —
Aber man hatte ja bereits einen Paragraphen der Geschäftsordnung auf
dem Wege der Abstimmung unschädlich gemacht; K 11 sprach den Generalver¬
sammlungen das Entscheiden überdies ja „in höchster Instanz" zu; also auch
die Wiederwahl oder NichtWiederwahl Weimars, so folgerte man, war durch diese
höchste Instanz allein zu bestimmen.
Hiermit stand indessen doch noch ein Hinderniß im Widerspruch, welches
Zwei Tage früher durch den Vorort Weimar selbst geschaffen worden war —
Weimars eigner Verzicht auf die Wiederwahl. Dieser Verzicht lautete laut
Protokoll vom 18. October:
„Nachdem die beabsichtigte Satzungsrevision als nur von der Absicht aus¬
gehend, Weimar wiederum zum Vorort zu wählen, dargestellt worden sei. so
verzichtet die weimarsche Zweigstistung unter allerhöchster Genehmigung ihres
durchl. Protectors, des Großherzogs, königl. Hoheit, auf eine Wiederwahl, wenn
durch eine solche Spaltungen in der allgemeinen Stiftung hervorgerufen werden
sollten, deren Interessen sowohl bei Sr. königl. Hoheit, wie bei der Zweig-
Kiftung Weimar fortwährend jedem andern Interesse Weimars vorangesetzt
werden sollen*.'
Die Generalversammlunghatte diesen Verzicht durch Aufstehen von ihren
Sitzen mit Dank acceptirt, und wennschon der seitdem desavouirte Abgeordnete
für Köln erklärte, sich dadurch nicht als gebunden zu erachten, so war die dann
Wirklich vorgenommene Revision der Statuten und namentlich die Aufhebung
des obligaten Vorortswechsels doch ohne allen Zweifel im Allgemeinen von
dem guten Glauben geleitet gewesen: Weimars Verzicht sei aufrichtig gemeint
und die bereits ausgebrochen gewesene Spaltung habe dadurch ihre Erledigung
gefunden.
Ueber die Bündigkeit dieses Verzichts zeigten sich aber, nun die Frage der
Wiederwählbarkeit entschieden werden sollte, unter den Rechtskundigen in der
Versammlung widersprechende Meinungen. Das spätere nienburger Rund¬
schreiben, durch welches, nach dem Ausdruck eines Verwaltungsrathscirculairs
die Gründe der Opposition „schlagend widerlegt" sein sollten, nennt — zur Ver<
theidigung Weimars— den Verzicht „verclausulirt und zweideutig". Man
wird dem wohl unbedenklich beistimmen können, ohne daß diese Qualifikation
darum die moralische Bündigkeit des Verzichts aufheben dürfte. Es ist ein
Anderes, ob aus der VcrclausMrtheit und Zweideutigkeit eines alten Gesetzes
das Recht abgeleitet wird, dasselbe so oder so auszulegen, oder ob eine lebende
Person von einem Gelöbnisse freigesprochen werden soll, weil sie dasselbe in
verclausulirtcr und zweideutiger Weise abgegeben habe. Nach unsrer Meinung
könnte einzig der Fall einer einstimmigen Wahl den Verzicht einigermaßen
entkräftet haben und zwar im Sinne seiner moralischen Bedeutung; denn auf
die juristische kann es überhaupt ja nur da ankommen, wo kein Ehrenpunkt
den Vortritt hat. Das war hier aber wohl um so mehr der Fall, als die ab¬
gegebene Erklärung den hohen Protector persönlich bloßstellte.
Es ist hinlänglich bekannt, daß Weimar die Sache bei weitem leichter ge¬
nommen hat. Obschon die „Spaltungen", eben um der bekämpften Wieder¬
wahl Weimars willen, eine bedenkliche Höhe erreicht hatten, obschon der Ver¬
zicht nicht zurückgenommen worden und sogar die ministerielle Majorität über
dieser Kontroverse in rascher Auflösung begriffen war; obschon endlich die ganze
Slatutenrcvision durch die heraufbeschworene Gefahr eines Regierungsvetos
bedroht erscheinen mußte — gewann es Weimar dennoch über sich, für sich
selbst zu stimmen, die ihm übertragenen Stimmen von Laibach und Königsberg
ebenfalls zu seiner eigenen Wiederwahl zu gebrauchen und endlich, als dennoch
nur drei Stimmen Mehrheit herauskamen, die Vorortswürde dankend zu
acceptiren.
Es hat sich dann später herausgestellt, daß sowohl der Abgeordnete für
Frankfurt wie auch der für Köln und Danzig gegen Instruction gehandelt
hatten, so daß auch diese geringe Mehrheit nicht einmal Stich hielt. Da in¬
dessen die Verletzung des § 101 und die Außerachtlassung derjenigen Bedingun¬
gen, unter welchen die Schillerstistung die Recht! einer moralischen Person er¬
worben hatte, den Arbeiten der Generalversammlung an sich schon den Stempel
der Hinfälligkeit ausdrückten, so haben wir uns bei diesen Nebendingen nicht
aufzuhalten.
Wir übergehen ebenfalls den auf beiden Seiten nunmehr in die Form
von mehr oder weniger spitzfindigen, wohl auch zum Theil unnachsichtlich
scharfen Circulairen hinübergreifenden Kampf. Die sächsische Regierung hatte
Einspruch erhoben, und es war begreiflicherweise von diesem Augenblicke an
eine Herzensangelegenheit aller bei Weimars Wiederwahl betheiligt Gewesenen,
den Nachweis zu führen, daß die Generalversammlung als höchste Instanz
weder von einer prvtestirenden Minorität noch von Herrn v. Falkenstein Notiz
zu nehmen brauche. Besonders lebhaft äußerte sich die wiener Zweigstiftung,
deren Vorstand hier gleichzeitig, als das Personal des gegenwärtigen Vorortes,
vorgestellt werden mag; es sind die Herren v. Münch-Bellinghausen, Mosen-
thal. Kompert. Wcißel und Moritz Gerold. Uneingcdenk der langen Geburts-
wehen dieser Zwcigstiftung, die sich, doch wohl aus k. k. Regierungsängstlichkeit,
bis ins Jahr 1889 in ihrer Constituirung behindert gesehen hatte und auch
dann nur die Erlaubniß zum Dasein erhielt, weil C. V. Holtet inzwischen in
Graz die Gründung einer Zweigstiftung beim Statthalter von Steiermark
durchgesetzt h'atte; uneingedenk dieser trüben heimischen Erfahrungen und der
Verhältnißmäßig großen Jugendlichkeit des ganzen kümmerlichen Vereinslebens
Neuöstreichs schwang Wien sich beherzt in den Sattel einer staatsrechtlichen
Zurechtweisung des sächsischen Cultusministers. Nicht viel glimpflicher, wenn
auch weniger geistreich, verfuhren Berlin, Hamburg, Frankfurt und die ihren
Zweigstiftungen affiliirten Zeitungen, wogegen die Oppositionsstiftungen ihrer¬
seits und ebenso ein überwiegender Theil der Tagespresse die ganze Statuten¬
revision schlechtweg im Sinne einer Ueberrumpelung behandelten, während der
Verwaltungsrath selbst auf der einen Seite die glänzenden Erfolge der General-
Versammlung zu retten und gegen die Opposition in der Stiftung mit kühner
Ueberlegenheitsmicne als unwiderruflich hinzustellen suchte, auf der andern
Seite mit Herrn v. Falkenstein gemüthlich sich zu verständigen bemüht war.
Um ihrem Einspruch größeren Nachdruck zu verleihen, zugleich aber auch,
um ihren Pflichten als Aufsichtsbehörde über die sächsischen milden Stiftungen
vollständiger zu genügen, hatte nämlich die sächsische Regierung sich nicht auf
"nen bloßen Einspruch beschränkt; vielmehr hatte sie der dresdner Zweigstiftung
die Ausfolgung der nächstfälligen Zinsrate förmlich untersagt. Die Berechtigung
nu diesem Jnhibitorium erkennt der Verwaltungsrath nun — wie um die Un¬
Höflichkeit mancher übrigen Aeußerungen durch officielle Courtoisie gutzumachen
in seinem Decembercirculair ausdrücklich an und bedauert nur den Vorbe¬
halt. aus welchem sich diese Berechtigung unzweifelhaft ableiten lasse, nie er¬
fahren zu haben. Diese letztere Angabe hat Leipzig seitdem durch Rundschreiben
vom 31. Januar 1865 auf eine muthmaßliche Vergeßlichkeit zurückgeführt, in¬
dem in der That ein Rundschreiben des VerwaUungaraths selbst (vom 9. Mai
1862) gerade dieses Vorbehalts mit den Worten erwähnt: die betreffenden
Noten des k. s. Ministeriums hätten in der Verwaltungsrathsconferenz „die
eingehendste Prüfung gefunden". Da Unkenntniß aber ja überhaupt keine
Zulässige Ausrede ist, so fällt weder deren Vorschützung noch deren Widerlegung
vier ins Gewicht. Auch blieben die dem sächsischen Cultusministerium seitens
des Verwaltungsraths vorgetragenen Bedenken ohne andere Folge als daß
Herr v. Falkenstein einerseits die Ausfolgung der letzten Zinsrate (bis nie. De¬
cember 1864) guthieß, andrerseits sich bereit erklärte, den alten Verwaltungs-
„zur Erledigung der gegenwärtigen Differenzen, jedoch nur
ZU diesem Zweck", noch auf weitere sechs Monate für legitimirt anzusehen.
Was unter diesen Differenzen zu verstehen sei und daß dieselben nicht etwa in
Differenzen außerhalb der Stiftung (also zwischen dem sächsischen Kultusmini¬
sterium und dem Verwaltungsrath) zu suchen seien, erhellt noch deutlicher aus
den im nämlichen Erlaß gebrauchten Ausdrucke: das Jnterimisticum solle dienen
„zu friedlicher und freundlicher Verständigung der einzelnen Zweigstiftungsvor-
ständc". Empfohlen endlich wird zur Erreichung dieses Ziels: nachträgliche
Mittheilung des Revisionsentwurfs an die einzelnen Zweigstiftungen (keines¬
wegs Berathung darüber mit dem sächsischen Ministerium) und demnächst Zu¬
sammenberufung einer außerordentlichen Generalversammlung.
Dieser Erlaß datirt vom 31. December 1864. Was jetzt zur raschen Be¬
seitigung der Geldebbe sich thun ließ, war, sollte man denken, nicht gar weit
zu suchen. Nachdem man das Jnhibitorium einmal als im Rechte begründet
anerkannt hatte, auch durch die ablehnenden Erklärungen mehrer in den neuen
Verwaltungsrath gewählten Zweigstiftungen das Completwerden dieses neuen
Verwaltungsraths bereits unmöglich erschien, die „Spaltungen" überdies im
besten Gange und von Weimar selbst als leider vorhanden constatirt waren,
nach allem diesen empfahl sich ohne Zweifel als kürzester Weg zur Verstän¬
digung — das endliche ernstliche Zurücktreten Weimars. War es bei diesem
versöhnenden Schritte etwa im Verwaltungsrath überstimmt, so konnte es sich
aus dem Verwaltungsrath ganz zurückziehen und dessen Ergänzung denen über¬
lassen, welche den Krieg fortzusetzen verlangten. Jedenfalls lag es in Weimars
Hand, durch Veranlassung einer neuen schriftlichen Vorortswahl und durch
schriftliche Herbeiführung eines Beschlusses über vorläufige Wiederherstellung
des alten Statuts jeden Vorwand zur Zurückhaltung der Gelder sofort zu be¬
seitigen. Niemand brauchte darum von seiner Rechtsanschauung abzulassen.
Man wich einfach einer tores wirjizui-ö.
Was ist statt dessen geschehen? — Handelte es sich nicht um das Wohl
und Wehe einer Menge auf die Gelder der Stiftung angewiesenen Personen,
so könnten die Herzensbedenken, mit denen Weimar, statt diesen Versöhnungs¬
weg kurzweg zu betreten, während der nun folgenden fünf Monate augen¬
scheinlich zu ringen hatte, in der That ergreifend genannt werden. Es war
als sei ihm die Stiftung wie eine liebe Tochter während des kurzen Lustrums
ans Herz gewachsen; als habe es. unter dem Eindruck einer flüchtigen Wallung
auf sie verzichten wollen, aber als sei im entscheidenden Augenblicke die Un-
zerreißbarkcit des Bandes dennoch über die gefaßten Entschließungen Herr ge¬
worden. Es war als habe es das verpfändete Wort über der Freude der
Wiedervereinigung seitdem vollends vergessen gehabt und nun schon wieder der
neuen Hoffnung nachgehangen, die nächste Revision werde Weimar und die
Schillerstiftung für ewig untrennbar erklären. — Wie sehr in der That solche
Gefühle schon vor der Octobergeneralversammlung zum Ausdruck drängten, er-
hellt nicht allein aus dem schon erwähnten Umlaufschreiben, worin von dem
„voraussichtlich letzten Male auf Weimars heiligem Boden" die Rede war,
eine dichterische Uebertreibung, wie das Pathos des ungeduldigen Verlangens
sich deren so gern bedient; denn Weimar konnte ja schon nach den nächsten fünf
Jahren wieder gewählt werden-, — noch weit unverkennbarer bricht die Ueber¬
zeugung, man dürfe und werde das Kind nicht von der Pflegemutter trennen,
in den Worten durch, mit welchen der amtliche Januarbericht des letzten Ver¬
waltungsjahres die Idylle der vorörtlichen Häuslichkeit schilderte: „Dort, an
geweihter und denkbarlich würdigster Stätte", so singt dieser Bericht, „in den
Gleisen eines durch vierjährige Erfahrung gefundenen und befestigten Geschäfts¬
ganges, pflegen wir gewissenhaft und getreulich des uns gewordenen Ehren-
und Vertrauenamtes". — An „denkbarlich würdigster Stelle", man sieht, der
ganze Verwaltungsrath hatte schon vor Jahresfrist sich wenn nicht in dem
Wunsche begegnet, so doch in der stilistischen Netzmasche seines Vorsitzenden
zusammengefunden- nie wieder von Weimar lassen zu müssen. Und nun sollte
dennoch geschieden sein?
Es ist nicht ganz zu Tage getreten, wie viele Mitglieder der Verwaltungs¬
rath in den sechs Monaten seiner letzten interimistischen Thätigkeit gezählt hat,
und ob auch Dresden und Stuttgart bei diesem Jntenmisticum unbetheiligt
waren. Am Verwaltungstischc der letzten Generalversammlung sind sie nicht
Zu sehen gewesen, obschon § 9S der Geschäftsordnung die Bestimmung enthält:
„Die Mitglieder des Verwaltungsraths sind verpflichtet, in der Generalver¬
sammlung zu erscheinen". Aber indem wir überhaupt vom Verwaltungsrath
sprechen, müssen wir ihn uns natürlich als ein Ganzes denken, dessen mög¬
licher innerer Zwiespalt sich unsrer Würdigung entzieht. Ohne Zweifel sind
nicht alle sieben Mitglieder der Meinung gewesen, man dürfe Ehrengaben an
wohlhabende Schriftsteller spenden oder man thue gut. Weimars Wahl um
jeden Preis durchzusetzen. Aber wenn die im Verwaltungsrath Ucberstimmten
bei solchen Satzungewidrigkeitcn ihre Demission nicht einreichten, so bleiben sie
selbstverständlich für die wider ihre Ueberzeugung vorgenommenen Verwaltung/.
Handlungen mitverantwortlich.
Und so können auch die bei der letzten Generalversammlung nicht anwesend
gewesenen Verwaltungsmitglieder die Mitverantwortlichkeit für die Thatsache
uicht ablehnen, daß während jenes ganzen langen Jnterimisticums die Herbei¬
führung einer „friedlichen uno freundlichen Verständigung unter den Zweig¬
stiftungen" nicht einmal versucht worden ist.
Denn so zeigt sichs jetzt leider in Wirklichkeit. Der Verwaltungsrath h.it
Zwar in seinem Rundschreiben vom letzten Mai die Versicherung abgegeben, es
sei „nicht gelungen, eine Verständigung über die bekannten und beklagens-
werthen Zerwürfnisse in verdeutschen Schillerstiftung herbeizuführen", irgendein
Versuch zu solcher Verständigung ist aber von Seiten des Verwaltungsraths nicht
gemacht worden, und Herr v. Dingelstedt hat auf der letzten Generalversammlung
in seiner schließlichen historischen Würdigung des Jnterimisticums sogar geradezu
erklärt, die Differenz zwischen dem Verwaltungsrath und dem sächsischen Mimi>
sterium sei natürlich als die überhaupt allein in Frage kommende anzusehen
gewesen. Immer der nämliche Ton erhabner Überlegenheit, der von einem
Meinungsrccht der Minorität nichts weiß und, trotz nachgewiesener capitaler
Gedächtnißfehler und sonstiger Nachsicht heischender Mißgriffe auf die Opposition
wie von dein Wollenthron eines Nvcocoministers hinabblickt. Was nun in
jener Richtung der „auswärtigen Angelegenheiten" geschehen ist, beschränkt sich
auf eine dem sächsischen Cultnsministerium gegenüber erfolglos gebliebene Dar¬
legung derjenigen Gründe, welche eine Anerkennung der Vorortswahl und
eine Zurücknahme des Jnhibitoriums oder aber eine Gutmachung etwaiger
Formversäumnisse Plausibel machen sollten; demnächst auf einen ähnlichen
mündlichen Versuch. — Hiermit ist die ganze fünfmonatliche Vcrsöbnungs-
thätigkcit des „lediglich zum Zwecke einer friedlichen und freundlichen Ver¬
ständigung unter den Zweigstiftungen" prolongutcn Verwaltungsraths
erschöpft.
Höheren Orts gethane Schritte, die, wie es scheint, sich angereiht haben,
entziehen sich begreiflicherweise der eingehenden Erwähnung, sind auch nicht
Sache des Verwaltungsraths, sowie überdies von ihnen nicht bekannt ist, daß
sie auf eine Verständigung im Schoße der Stiftung abgezwcckt haben.
Vergeblich sind auch sie geblieben.
Dennoch hat Herr v. Dingelstedt in jenem Rückblick auf das Jnterimisticum
das wirkliche Hereinbrechen des im Decemberrundschreibcn schon von ihm pro»
phczeihten Nothstandes nachgewiesen. Einem berühmten Novellisten. hat er
beispielsweise versichert, seien die Mittel zu einer Genesungsreise nach Karlsbad
verweigert worden, weil die Centralkasse unter dem Druck des Jnhibitoriums
sich nicht in der Lage befunden habe, neue Verpflichtungen auf sich zu nehmen.
Aber auch ohne diese, ausdrückliche Bestätigung würden sich mit Leichtigkeit
Fälle nachweisen lassen, aus denen hervorgeht, daß verdienstvolle Schriftsteller
in dieser Zeit trotz warmer Befürwortung in Noth verblieben sind.
Kennzeichnet sich hiernach das Jnterimisticum als eine Maßregel, welche
leider nichts genützt, wohl aber dem sächsischen Ministerium in weitesten Kreisen
den lauten oder stillen Groll der vielen „deshalb" Abgewiesenen eingetragen
hat, so können wir doch — außer dieser letzteren Rückwirkung, deren absichtliche
Herbeiführung wir dem Verwaltungsräthe einer milden Stiftung natürlich nicht
zutrauen — keinerlei Ergebnisse erblicken, um deren Möglichkeit willen der
Verwaltungsrath überhaupt inmitten der Stiftung so lange noch zu cimtiren
für gut fand. Schon im Januar konnte man resigniren. Es war zum Seba-
den der Unterstützungsbedürftigen und zu keinem Nutzen der Stiftung, daß man
den Zustand um sechs traurige Monate verlängerte.
Wir gelangen zu der letzten Generalversammlung. Wer das im Vorstellen¬
den Geschilderte, auel von der günstigsten Seite > überblickt, wird nicht wohl
umhin können, eine Geschäftsführung, die solche Stürme herbeiführte, für keine
ganz glückliche zu erklären. Vergabungen wider den Buchstabe» des Statuts;
Majoritälsentscheidungen statt der Geschäftsordnung; Verzichte, die. weil ver-
clausulirt und zweideutig, nickt gehalten werden; vom November bis zum
Mai dann angesichts der Noth einer Menge Unterstützungswürdiger, kein Ver¬
such, den Frieden in der Stiftung selbst herzustellen; dennoch Ausnutzung des
^"zig zu solchem Versöhnungszwecke bewilligten Jntcrimisticums, bis auf den
letzten Tag; — so heftig die Spracke der Opposition auch in der October-
generalversammlung gewesen war. es hatte nach dem Sturme sick eigentlich
erst recht gezeigt, wie manches denn doch wohl anders hätte sein sollen. —
Demungeachtet auch bei der Junigeneralversammlung dieses Jahres, der nun
die sämmtlichen Hergange klar vor Augen lagen, wieder ministerielle Majorität.
Nur Dresden, das bei der vorigen Generalversammlung Weimar und den
Verwaltungsrath durchweg unterstützt hatte, half diesmal die Opposition ver-
stärken. Was dann beschlossen wurde, war begreiflicherweise weniger das Er¬
gebniß neu entbrannten Kampfes als das von der Sachlage unabweislich Ge¬
botene. Die Revision wurde annullirt und damit die Vorortswahl Weimars
sür ungiltig erklärt. Statt seiner trat Wien ein, das in seinem Maicirculair
steh durch eine abermalige Philippika gegen das sächsische Cultusministerium
empfohlen hatte, und von welcher Zwcizstiftung der Vorschlag herrührte, „in
der Unterwerfung unter die Befehle des königl. sächsischen Ministeriums nun
auch »och weiter zu gehen als dieses selbst verlange", d. h. jede Statuten-
Verbesserung und also auch die Einführung der Oeffentlichkeit von sich zu
weisen.
Dies ist geschehen. Obschon die Oeffentlichkeit bei der vorausgegangenen
Generalversammlung einstimmig beschlossen und von keiner Seite beanstandet
worden war, hat die Opposition auf der letzten Generalversammlung sich ver¬
gebens bemüht, dieses beste Schutzmittel gegen Mißregierung und allzu kühne
^atzungsauslegungen im Interesse der Stiftung zu retten. Die Oeffentlichkeit
'le von neuem beseitigt worden.
Dies ein ungefährer Abriß des Zwiespalts, welcher so viel von sich reden
gemacht hat. Wir haben der Verwaltung nicht alle ihre Versäumnisse nach¬
zählt, da wir ja auch des Anerkennenswertben, das sie leistete, nicht weitere
Erwähnung zu thun veranlaßt sind. Ehrenämter bringen bekanntlich immer
den Anspruch mit sich, für die mannigfachen Opfer an Zeit und guter Laune
dies und das mit in den Kauf zu nehmen. Vielleicht daß wir später einmal
der neuen Verwaltung Gelegenheit geben, über einige von der alten Verwaltung
bisher völlig vernachlässigte Seiten der Stiftungsaufgaben nachzudenken. Daß
wir dem jetzigen Vorsitzenden, Freiherrn v. Münch-Bellinghausen. den Willen
zutrauen, durch Unparteilichkeit gut zu machen, was die wiener Circulaire und
die Haltung der wiener Abgeordneten bisher gesündigt haben, wollen wir ihm
hier bereitwillig zu erkennen geben. Die Verwaltungsperiode des Herrn
Dingelstedt hat bewiesen, welche Macht der Vorsitzende dieser Stiftung besitzt.
Zum Glück für die Stiftung und zur großen Erleichterung für Herrn v. Münch.
Bellinghausen hat der Kaiser von Oestreich keine Zeit, die Schillerstiftung bis
zur Zärtlichkeit liebzugewinnen. Auch Wien kann es zur Noth verschmerzen,
wenn die Stiftung nach fünf Jahren der Kaiserstadt mit einem Bhüt-i-Gott!
den Rücken wendet. Die Aufgabe des jetzigen Borsitzenden ist also keine gar
zu schwierige. Er braucht nur ein Auge darauf zu haben, daß die während
seiner Verwaitungspcnode bevorstehende abermalige und besser vorzubereitende
Revision nicht im Sinne von Bestrebungen ausgebeutet wird, welche die ur¬
sprünglichen Zwecke der Stiftung verfälschen. Je eher er eine Veranlassung
findet, das Fortregieren „im Geiste Weimars" in einem Sinne zu erläutern,
dem auch die Opposition beizustimmen vermag, desto besser für ihn und die
Stiftung.
Und dies führt uns zum Schluß auf die Akademiefrage zurück. Die säch¬
sische Verfassung enthält in ihrem sechzigsten Paragraph die Bestimmung, daß
die Fonds milder Stiftungen einzig zu den der Stiftung vorgezeichneten Zwecken,
und zwar unabänderlich nur zu diesen, verwendet werden dürfen. Im Gleichen
schützt das preußische Landrecht, II. Tit. 6. §§ 74, 193, die ursprünglich einer
Stiftung gegebene Bestimmung so lange es irgend möglich ist. diese Bestim¬
mung zu erfüllen. Wie schon nachgewiesen wurde, ist die Schillerstiftung aber
in der Form, wie sie die staatliche Bestätigung nachsuchte und empfing, aus¬
drücklich den hilfsbedürftigen Dichtern oder Schriftstellern und deren Ange¬
hörigen oder Nachkommen gewidmet. Es liegt also die rechtliche Möglichkeit:
nicht-hilfsbedürftige Dichter aus den Mitteln der Schillerstiftung durch Ehren¬
spenden auszuzeichnen, nur in dem einzigen Falle vor, daß die jährlich bei der
Centralkasse zur Verkeilung kommenden 15,000 Thlr. keine hinreichende An¬
zahl von verdienstvollen und zugleich hilfsbedürftigen Dichiern vorfänden, immer
auch dann natürlich nur nach entsprechender Aenderung des auf den Stiftungs¬
zweck bezüglichen Paragraphen. Man ist nun in der vorigen Vcrwaltungspenode,
wie wir gezeigt haben, mit diesem wichtigsten Gegenstande der ganzen Stif¬
tung sehr rasch fertig geworden. Man hat einfach die Mittel der Stiftung für
zu groß erklärt, um durch Unterstützung der in Deutschland vorhandenen Zahl
verdienstvoller und hilfsbedürftiger Schriftsteller erschöpft zu werden, und hat
sich dann ohne weiteres die Vollmacht zur Amendirung des Stiftungszweckes
selbst ausgestellt. Ohne Zweifel wird die Definition des Begriffes „verdienst¬
voll" immer ein schwankender bleiben, und selbst wenn ein Verzeichnis; der ab¬
gewiesenen Bittsteller vorgelegt werden könnte, ließe sich über die Besten unter
ihnen noch lange rechten. Aber, wie Rückert sagt:
Und darum auch wird diese Frage wohl als diejenige Hu bezeichnen sein,
Welche, allem Partbeihadcr entzogen, mit der größten Gewissenhaftigkeit er¬
wogen und beantwortet sein will. Denn hier kommt man mit dem Maßstabe
einer mehr oder weniger großen Klassicität nicht durch. Es können Dichter
verdienstvoll genannt werden, insofern sie den rechten Ton für eine in ihrer
Zeit grade wichtige, wenn auch niedrigstehende Bildungsclasse trafen und da¬
durch, trotz ihrer Ungenießbarkeit für feiner gewöhnte Naturen, in große Kreise
das Bedürfniß nach poetischer Erhebung oder geistiger Ansprache hineintrugen.
Es können eine Menge Mittelbegabungen, ganz abgesehen von ihren absoluten
Leistungen, durch die Art, wie sie wirkten, bei genauer Prüfung dieses von
ihnen geübten Einflusses als durchaus förderungsberechtigt erscheinen.
Wir brauchen hiernach die Weite des Begriffs „verdienstvoll" kaum noch
nach andern Seiten hin zu erläutern. Es liegt auf der Hand, daß die richtige
Abschätzung eines Autors, im strengen Verständniß der Stiftungsvorschrifr, eine
Aufgabe ist, welche sehr breite Kenntnisse und sehr weiten Blick erfordert. Wer
ober auch nur einige Ahnung von der ungeheuren geistigen Arbeit hat, die sich
ohne Unterbrechung in unserm Vaterlande vollzieht, von den unzähligen Kräften,
welche die Fähigkeit für den Genuß des Bessern und des Besten erst vorbe¬
reiten helfen; von der verhältnißmäßig großen Wichtigkeit dieser Zwischenthätig-
reit und dem unverhältnißmäßig geringen Lohne, welchen ihre Dienste ihr ein¬
tragen; wer überhaupt nur einigermaßen den geheimen Quelle» nachforscht,
aus denen die allmälige geistige Fvrtentrvickclung eines Volks sich speist; —
der wird sich gewiß wenigstens zum zweiten Male Bedenkzeit nehmen, wenn er
beim ersten Mal den Ueberfluß der Schillerstiftung nicht an die rechte Adresse
bringen zu können meinte.
Es kommt hierbei noch die geschäftliche Einrichtung der Stiftung als eine
die richtige Verwendung erschwerende in Betracht. Zwei Drittel aller Zinsen
soll der Vorort spenden dürfen. Aber er ist eben nur an einem einzigen
Punkt und sehr häufig nicht in der Lage, seine Augen überall zu haben. Dort,
wo doch auch Bedürftige sind, in dem Gesichtskreise der übrigen 21 Zweig¬
stiftungen, fehlt es jahraus jahrein an Mitteln, um reichlich zu geben, oder
aber die Vorstände der Stiftungen vereinfachen sich ihre Aufgabe gar noch,
indem sie das ganze Vertheilungsgeschäft dem Vorort anheimgeben. Der Januar-
bericht des Verwaltungsraths erwähnt nur vier Zweigstiftungcn (Dresden,
Berlin. Wien und Weimar) als von ihrem Rechte selbständiger Verwilligung
Gebrauch machende. Nun ist aber die Umfrage bei sechs Verwaltungsratbs-
stiftungcn natürlich eine höchst weitläufige. Der Vorsitzende des alten Verwal¬
tungsraths hat, bei der schon berührten Besprechung des Jnterimisticums zu
verstehen gegeben, daß über dem zweimaligen Rundlaufe der vorörtlichen Vor¬
schläge acht Wochen verstrichen seien. Man urtheile danach, wie lange die
Petition eines wenig bekannten Schriftstellers unterwegs sein wird, zumal wo
noch das dichterische Material zu seiner Abschätzung mitreisen muß. Was sich
in derjenigen Zweigstiftung, die dem Petenten näher steht, vielleicht in einer
einzigen Sitzung erledigen ließe, kommt solcherart durch die schwerfällige Ge¬
schäftscentralisation der Verwaltung nach vieler Mühe und vielem Hin- und
Herschreiben wohl gar erst zum Austrag, wenn die Hilfe nichts mehr nützen kann.
Und überdies — was ist denn bis jetzt geschehen, um den wirklich Ver¬
dienstvollen und Bedürftigen ihrer Versorger», die Schillerstiflung, näher zu
bringen? — Eine frühere Kundgebung des Verwaltungsraths — wenn wir
uns recht erinnern — fügte den statutenmäßigen Bedingungen der Würdigkeit
und Bedürftigkeit auch noch das Requisit der Höflichkeit hinzu; man solle im
artigen Tone anklopfen, wenn man berücksichtigt sein wolle. Hinwider haben
wir nie eine Zeile gelesen, welche die Freunde oder Bekannten verschämter
Dichter zu desfallsigen vertraulichen Mittheilungen an die Schillerstiftung einlud
oder ihnen auch nur die wünschenswertheste Form für dergleichen Verwendungen
und die Personen, an welche solche zu richten seien, nachwiesen. Das Publikum
ist über Eins wie das Andere so selten aufgeklärt worden, daß es die Lösung
der Schillerstlftungsaufgabe fast ausschließlich den damit amilich Betrauten über¬
lassen zu sollen glaubte und wahrscheinlich sehr erstaunt sein wird, sich hier an
eine versäumte Pflicht gemahnt zu sehen. Die natürliche Folge einer solchen
Abschließung ist aber das Unbekanntbleibcn einer großen Anzahl untcrstützungs-
würdiger Fälle, wogegen die Zudringlichkeiten von Unwürdigen den Verwaltern
der Stiftung die Freude an ihrem Beruf nur zu rasch verkümmern. Das wirft
dann wieder einen Schatten der Bcttelhaftigkeit auf den ganzen Stand und
macht auch da mißtrauisch und zögernd, wo der Schmerz des Nehmenmüssens
ohnehin nur durch die entgegenkommendste Theilnahme einigermaßen gelindert
werden könnte.
Nach allem diesen glauben wir, daß von einem Ueberflusse bei der Schiller¬
stiftung nicht die Rede sein kann. Am wenigsten wird ein solcher nachweisbar
sein, wenn man sich die ausreichende Versorgung von Hinterlassenen
verdienstvoller Schriftsteller zur ernsten Aufgabe macht. Die Seinen
dereinst vor der Noth des Lebens geschützt wissen, das ist ohne Frage eine Be¬
ruhigung der wohlthuendsten Art, und wenn die Grundideen der Schillerstiftung
einmal so unbeirrbar zur Geltung gekommen sein werden, daß ein verdienst-
voller Dichter mit solcher Beruhigung vom Leben scheiden kann, da ist die
mildeste Form gefunden, in welcher auch den Lebenden schon wohlgethan wer¬
den kann.
Der Wortlaut der gastciner Uebereinkunft wird seit einigen Tagen von der er¬
staunten Presse commentirt,, Krieg ist nicht geworden, auch keine Revanche für Olmütz.
wie ein ausländisches Blatt die Paragraphen rer Uebereinkunft deutete. Wir ver¬
gessen, wenn dies möglich ist, auf eine Stunde, daß jetzt ein diplvmalisches Schachspiel
auch über unsere theuersten Interessen entscheiden soll, und betrachten den Vertrag
mit der ruhigen Kritik, welche der Preuße noch oft geübt hat, seit die preußische
Jugend auf den Schlachtfeldern von 1813 die umhcrhüpfende Politik der Herren von
Haugwitz und Lombard führte.
Zunächst rühmen wir, was den Preußen in dem Vertrage unzweifelhaft vor-
theilhaft ist , den definitiven Erwerb Lauenburgs. Das kleine Territorium hatte im
Jahr 1689 das Schicksal,'seine alte Dynastie der Askauicr zu verlieren, es schwankte
seitdem wie ein herrenloses Gut aus einer begehrlichen Hand in die andere, Kur-
Achsen. Oestreich, am längsten Hannover, dann Frankreich, wieder Hannover, end¬
lich Preußen legten die Hand darauf. Es wurde nach dem Pariser Frieden den
Dänen fast zufällig — als Aequivalent für schwedisch-Pommern — übergeben,
bat im Uebrigen lange fast gcschichtslos fortgelebt als stilles Land, in welchem der
Kantönligeist die stärkste politische Empfindung war. Es hat geringen Eifer für die
Schleswig-holsteinische Erhebung von 1848 bewiesen, und hat sich seit 1852 wieder
ohne erkennbares Mißbehagen von den Dänen regieren lassen. Zwar sind die Für¬
stenhäuser zahlreich, welche seit zwei Jahrhunderten aus sehr entfernter Verwandt¬
schaft und Erbverträgen mit der ausgestorbenen Familie Sachsen-Lauenburgs An¬
sprüche herleiteten, und sie haben, wie schon oft. auch jetzt diesen Ansprüchen durch
Proteste am Bunde Ausdruck gegeben, doch gelten ihre Anrechte — selbst der von
Anhalt — bei den Weisen des longobardischen Lchnrechts und fürstlicher Hausge-
schc für sehr undeutlich, und man hat wohl behauptet, daß von den Wenigen,
denen diese Erbfolgefragc in ihren Einzelheiten durchsichtig ist, nicht Einer die Mei¬
nung des Andern theile. Die Laucnburgcr selbst haben sür uns Liberale diese Frage
völlig erledigt, indem sie im vorigen Jahre ihren herrenlosen Stand betrachtend mit
Gemüthsruhe den Wunsch aussprachen. vor der Welt Preußen zu werden, in ihrem
Lande Lauenburger zu bleiben. Wenn die beistimmende Erklärung der preußischen
Regierung in Kraft verbleibt, was man allerdings bei dem schnellen Wechsel der Auf¬
fassungen nicht wissen kann, so würde der Staat Lauenburg zu dem Staat Preußen
in ein Verhältniß der Personalunion treten. Dies ist allerdings nach der preußi¬
schen Verfassung nicht möglich und wird wahrscheinlich neuen Conflict zwischen Re¬
gierung und Volksvertretung in Preußen veranlassen.
Und doch ist sehr wünschenswerth. daß eine gesetzliche Grundlage gefunden
Wird, auf welcher das kleine Herzogthum vorläufig seine Gesetze und hergebrachte
Einrichtungen behalten kann, bis in Preußen selbst der Tag einer innern Um¬
gestaltung aufgeht.
Die wiener Zeitungen haben, verstimmt durch den letzten Systemwechsel, aus
den für Oestreich unerwartet günstigen Bestimmungen des gastciner Vertrages den
Verkauf Lauenburgs herausgehoben, um ihrer Regierung patriotische Vorwürfe zu
machen. Die Abtretung an Preußen und der Verkauf um Geld, beides machte
ärgerlich. In der That ohne Grund. Etwas mußte man immerhin dem begehr¬
lichen Preußen bewilligen, es war jedermann klar, daß Lauenburg ihm in Wirklich¬
keit nicht zu nehmen war, und man ist in Wien bei diplomatischem Handel selten
in Nebcnpnnktcn kleinlich gewesen. Fünfzigtausend Menschen waren keine Machtcr-
wciterung des Nachbars. Auch der Kaufpreis, der an Oestreich gezahlt wurde, sollte
von der Presse ohne Unwillen betrachtet werden. Die Lauenburg«r sind ja nach
ihrem freien Wunsch und Willen preußisch und nicht erhandelt worden. Die Summe
von circa 1,800,000 prcuß. Thalern ist nur die capitalisirte Hälfte der Dvmänenrente,
welche das Herzogthum abwirft, eine Entschädigung für die Revenüen, welche für
Oestreich aus dem Herzogthum fließen konnten, nicht eine Entschädigung für Auf¬
gabe der Hoheitsrechte. Wenigstens hätte die östreichische Negierung dies Geschäft fo
darstellen können.
Der Erwerb Lauenburgs hat aber für Preußen immerhin eine Bedeutung,
welche etwas größer ist als das Territorium, weil dasselbe nicht nur an Holstein
grenzt, sondern auch fast bis an die Thore Hamburgs und Lübecks reicht, und weil
dasselbe den Knotenpunkt zweier wichtiger Schienenwege enthält. Preußen erhält in
dem kleinen Terrain eine Stellung zwischen Hamburg und Lübeck, welche wenigstens
in merkantiler Rücksicht wichtig ist. Da das Herzogtum auch seiner Quote an den-
Kriegskosten enthoben ist. so hat Preußen durch den Vertrag in so fern ein gutes
Geschäft gemacht, als die Kaufsumme in der That nicht von Preußen, sondern von
den Herzogtümern bezahlt wird. Denn wenn man die Kriegskosten der Herzogthümer
auch nur mit 30 Millionen berechnet, so würde auf Larunbnrg immerhin der Be¬
trag von 1,300,000 Thalern gefallen sein.
Das Erfreuliche des Erwerbs soll uus durch diese und andere Rechnungen nicht
verkümmert werden. Nicht so freudig kann man die Hauptpunkte des Vertrages
begrüßen. Als die erste Nachricht vom Abschluß der gasteincr Uebereinkunst in die
Oeffentlichkeit trat, wurde angedeutet, daß diese vorläufigen Stipulationen nur Ein¬
leitung sein sollten zu weiteren Verhandlungen, welche eine definitive Erledigung der
großen Streitfrage bewirken würden. Die Situation war nicht von der Art, daß
man solcher Hoffnung guten Ausgang prophezeien konnte, es ist jetzt kein Geheim¬
niß mehr, daß die beiden Mächte von einer endgiltigen Vereinigung mindestens
ebenso weit entfernt find, als vor dem Vertrage; die Anerbietungen Preußens sind
abgewiesen, die Auffassung Oestreichs perhorrescirt worden. Der neue Vertrag ist
ein Nothbehelf, dem sich beide Theile fügten, weil sie die Entscheidung durch Waffen
vermeiden wollten. Um das Unerträgliche des bisherigen Zustandes abzuschaffen,
hat man etwas ganz Neues erfunden, welches die bestehenden Uebelstände zum Theil
aufhebt, dafür neue einführt. Jeder der beiden hohen Contrahenten weiß sehr gut,
daß der neugeschaffene Zustand auf die Länge schwer zu erhalten sein wird, jeder
hofft für seine Interesse» von einer unsichern Zukunft das Beste. Prüfen wir die
Hauptpunkte des Vertrages.
Oestreich war beim Beginn der Schleswig-holsteinischen Campagne an dem po¬
litischen Geschäft ungefähr mit einem Drittel des Einsatzes betheiligt. Auch dieser
Antheil an einem Unternehmen, welches ganz in dem Machtkreise Preußens lag, er¬
schien in Wien als ein großer Vortheil. Als vollends die Entscheidung durch Siege
der preußische» Waffen herbeigeführt war, fühlte sich Oestreich ganz zufrieden, etwa
in demselben bescheidenen Verhältniß an dem Condvniinium teilzunehmen. Die
Masse des aufgewandten Blutes und die ausgegebenen Kosten wirkten fort. Die
Preußen behielten den militärischen Oberbefehl; auch in der Civilverwaltung war
thatsächlich Preußen der disponirende Staat, allerdings durch das Einreden Oestreichs
zuweilen gehindert. Man räumte in Wien ohne Bedenken ein, daß die Herzog¬
tümer ganz in dem Gebiete preußischer Machtwirkung lägen und daß es Preußens
Recht und Aufgabe sei, für alle Zeit die Hand über den Ländern zu halten. Nur
um die Grenzen einer Schutzhoheit, welche Oestreich auf die Dauer durchaus nicht
für sich beanspruchte, wurde gestritten. Jetzt aber hat Preußen ein Recht, welchem
es niemals auch nur vorübergehend entsagen durste, in dem Vertrage geopfert, es
hat die Oberherrlichkeit räumlich mit Oestreich getheilt, Macht und Einfluß des
Kaiserstaates zu selbständiger Wirkung etablirt. Die Oestreicher find thatsächlich die
Herren Holsteins geworden, sie haben erreicht, was seit länger als zweihundert
Jahre» die preußische Politik auf jedem Punkte mit den größten Opfern zu verhin¬
dern gesucht hat."
„Es ist der Schein der Macht, und nicht das Wesen, sagen wohl auch die
Freunde in Preußen. „Diese Stellung Oestreichs im Norden ist innerlich doch un¬
haltbar, sie wird bei einem Kriege augenblicklich den Preußen zufallen, auch ist durch
andere Punkte des Vertrages dafür gesorgt, daß dieser Besitz den Einfluß Preußens
so wenig als möglich hemmt, endlich ist Oestreich in so verzweifelter finanzieller
Bedrüngniß, daß ihm zuletzt in der Stunde der Noth doch eine Abfindung durch
Geldsummen erwünscht sein muß."
Diese Annahmen sind nichts als gute Wünsche; mit so vagen und zweifelhaf¬
ten Voraussetzungen darf nach unserm Dafürhalten kein Politiker sein Gewissen be¬
ruhigen. Zunächst ist nicht der Krieg, sondern der Friede der gewöhnliche Zustand
cultivirter Staaten. Und für diese Friedenszeit wenigstens ist Oestreich in Holstein
Regent geworden. So lange durch Verträge und diplomatische Verhandlungen die
Interessen der Staaten bestimmt werden, wird Oestreich seinen Vortheil in Nord¬
deutschland wahrnehmen. Das Cabinet zu Berlin hat, bevor es sich zur Reise nach
Gastein entschloß, gefunden, daß ein Krieg mit Oestreich nicht thunlich sei. Welches
Recht haben wir anzunehmen, daß dieselbe Regierung in irgendeiner Zukunft diesen
Krieg für eher thunlich halten wird? In jedem Fall wäre die Politik seltsam, einen
Gegner erst in einem Lande festzusetzen, um ihn dann herauszuschlagen. Also hohl
und eitel ist die neue Herrschaft Oestreichs über Holstein gar nicht, sie hat ziemlich
dieselben realen Grundlagen wie die Herrschaft Preußens in Hohenzollern und
Schleswig.
Zuverlässig war die Genugthuung groß, mit welcher man in Wien diesen Ge¬
winn des Vertrages ansah. Der östreichische Doppeladler, östreichische Verwaltung
und ein Hecresihcil war wieder an der Nord- und Ostsee eingeführt; man vermag
holsteinsche Rekruten auszuheben, und holsteinsche Matrosen erhalten Gelegenheit,
«uf östreichischen Kriegsschiffen zu dienen; man fühlt sich wieder an der Nordgrenze
Deutschlands heimisch eingerichtet, und man ist sicher, daß von einem Preußischen
Principal auch nur über Norddeutschland nicht die Rede sein kann, so lange"die
Salutschüsse östreichischer Geschütze an Eider und Elbe den Geburtstag des Fürsten
feiern, dessen Vorfahren auch in Holstein vor Zeiten als Herren des heiligen römischen
Reiches deutscher Nation durch den Herold ausgerufen wurden. Es ist.wahr, man
dachte für diesen Fortschritt in Deutschland an Preußen Concessionen. Es war
nur in der Ordnung, daß Preußen Militärstraßen, eine Telegraphen- und Postvcr«
bindung für das Hinterland Schleswig erhielt, ohne solche Verbindung wäre die
Theilung ja überhaupt nicht möglich gewesen. Wenn Preußen durch Holstein Eisen¬
bahnen bauen wollte, so war das ganz willkommen, man behielt ja doch die specielle
Landeshoheit darüber und konnte die Schienen auch für die eigenen Zwecke benutzen.
Man hatte nichts dawider, auch Preußen zu der Besatzung Rendsburgs zuzulassen,
denn diese Festung ist jetzt gegen einen auswärtigen Feind in Wahrheit nicht viel
wehr als eine militärische Antiquität; für die Preußen freilich war der Zutritt unent¬
behrlich, weil sie ihnen den Weg nach Schleswig sperren konnte; Oestreich aber konnte
die Unbequemlichkeit der gemeinsamen Besatzung leicht ertragen, denn es erhielt den
einzigen Punkt von hoher militärischer Bedeutung in den Herzogthümern, die Stadt
Mona und mit ihm Hamburg in seine Hand geliefert. Mit Hamburg verband
manche alte Sympathie, jetzt wurde der Kaiser Kriegsherr über die unübertreffliche
Position, welche den Unterlauf der Elbe beherrscht, einen feindlichen Stoß in da«
Herz Preußens möglich macht, und welche in Wahrheit die gesammten Herzogthümer,
vor allem den kieler Hafen souverain beherrscht.
Es ist nickt unsere Sache, die militärische Bedeutung dieser Stellung hervor¬
zuheben, aber zu dem vielen Ueberraschenden des Vertrages von Gastein gehört auch,
daß bei dem Abschluß desselben kein preußischer Militär zugezogen wurde, der an die
Bedeutung dieser Position mahnte. Den ganzen Besitz Holsteins konnte Oestreich
ruhig rede» dem Herzogthum Schleswig an Preußen überlassen, wenn es nur durch
den Besitz Monas souveräne Disposition über Hamburg und die Unterelbe erhielt.
Diese Stellung macht im Fall eines Waffcncvnflietes zwischen den hohen Besitzern
ein Abschneiden des östreichischen Heeres in Holstein sehr unwahrscheinlich, ein Bünd-
niß Oestreichs mit Dänemark könnte das preußische Contingent in Schleswig ge¬
fährden, von dem Fall eines Bündnisses zwischen Oestreich und Frankreich ganz zu
geschweigen.
Indeß, der gewöhnliche Zustand der bürgerlichen Gesellschaft ist ja nicht der
kriegerische, und für die Jahre des Friedens wenigstens hat Preußen, — so möchte
man meinen — sich gut vorgesehen. Es erhält den Kriegshafen Kiel, es erhält.
das Rcchi, anch in Holstein den Kanal zu bauen, und die Herzogthümer treten zum
Zollverein. Den letzten Erfolg begrüßen wir mit der reinsten Freude. Wahrschein¬
lich war der Vertrag von Gastein nicht nöthig, grade diesen Punkt durchzusetzen.
Aber wie wir auch dazu gekommen sind, in dem Beitritt der Herzogthümer zum
preußischen Zollverein liegt immer noch die beste Bürgschaft für alles, was wieder
Halbinsel und uns Deutschen von der Zukunft wünschen. Wenn der Tag kommt,
wo über den Beitritt der Herzogthümer zum Zollverein verhandelt wird, dann frei¬
lich wird ein östreichischer Bevollmächtigter im Auftrage seines Souverains Holstein
vertreten. Preußen übernimmt ferner, den Nord-Ostseckancil zu bauen, Oestreich
gestattet ihm als dem Bauunternehmer die Führung durch das holsteinsche Gebiet,
aber Preußen erhält nur die Aufsicht und Einnahme des Fahrgeldes darüber, wie
jede Actiengesellschaft dieselbe in ihrem Etablissement übt. Die Neglemcntbcstim-
mungcn, welche bei dergleichen Unternehmungen sonst der Regierung zustehen, erläßt
Oestreich (allerdings wohl nur für den holstcinschcn Theil) und Preußen hat nur
das Zustimmungsrcchl. Wenn nun Oestreich ein Reglement erläßt, dem Preußen
nicht zustimmen kann? Von preußischen Befestigungen an den holsteinischen
Endpunkten und dem holsteinischen Laufe des Kanals ist nicht mehr
die Rede, was man damals dem Angnstcnbnrgcr gegenüber so stark betonte, ist
gänzlich aufgegeben. Wir fürchten sehr, der ganze Kanalbau wird unter den
gegenwärtigen Verhältnissen Project bleiben, denn weder preußische noch ausländische
Capitalien werden dem Unternehmen reichlich zufließen, so lange die unheimlichen
Verhältnisse des Provisoriums dauern.
Auch in dem kieler Hafen darf Preußen einen Kriegshafen anlegen. Es erhält,
Kommando und Polizei über den Hafen, aber nicht Ho seits recht, es darf zur
Vertheidigung der Einfahrt gegenüber Friedrichsort Befestigungen anlegen, aber
es erhält nicht Hoh eilf rechte über das dazu gehörige Terrain, und was
am bedenklichsten ist, es wird durch den Vertrag nicht berechtigt, ,die zur
Sicherung des Hafens nöthigen La n db cfcstigun gen auf der Westseite
anzulegen. Diese Sicherung übernimmt also Oestreich von Altona aus. Der
Hafen aber, welchen Preußen mit seinem Gelde baut, einrichtet, behütet, erhält,
steht unter der Landeshoheit Oestreichs, unter der Controle des deutschen Bundes, er
wird nicht preußischer Hafen, sondern Bundeshafen.
Es war seit Gründung des Zollvereins ein Axiom preußischer Politik, die
Fortschritte in Deutschland neben und außerhalb des Bundes durch Separatverträge
wie den einzelnen deutschen Staaten durchzusetzen. Es ist wahr, nur wenige der
vierzig Jahre, welche seitdem vergangen sind, war die preußische Regierung in der
Lage, mit Nachdruck dieser Politik Erfolge abzugewinnen, doch was bis jetzt er¬
reicht worden ist, Fall der Zollschranken, Freiheit des innern Verkehrs in Deutschland,
die Anfänge einer Consolidirung des deutschen Heerwesens ist durch diese Politik
erreicht, bei größeren Versuchen blieben die beiden letzten Monarchen vor der That
stehen. Wie unvollständig man aber auch das Princip zur Anwendung brachte,
wan erreichte doch dadurch, die UnHaltbarkeit der bestehenden Bundesverhältnisse
vor aller Welt deutlich zu machen. Hr. v. Bismarck selbst hat eifrig das Seine
gethan, die Nichtigkeit des Bundes zu erweisen. Seit zwei Jahren hat Oestreich
denselben Weg betreten. Wenn man jetzt plötzlich el» altes und richtiges
Princip aufgegeben hat, so ist dies ohne Zweifel in der Annahme geschehen, daß
der Bund thatsächlich eine Null geworden sei, und daß man ihm jetzt ohne jede
Gefahr den Schein einer Macht einräumen könne, deren Wesen man selbst besitze.
In dieser Rechnung aber ist, wie uns scheint, ein Irrthum. Der Bund bedeutet
ur innern deutschen Angelegenheiten wenig, so lange Oestreich ebenso wie Preußen
außer ihm seinen Vortheil sucht; er wird allerdings eine Macht, sobald die Späne
Zwischen Oestreich und den Mittelstaatcn weggeräumt sind. Für das preußische Ge¬
fühl hat es gegenwärtig nichts schmeichelhaftes, daß der einzige Kriegshnfcn Preußens
"uf einem Territorium angelegt wird, über welches Oestreich herrscht, daß preußische
Fregatten auf Werften gezimmert werden, über welche das Signalhorn östreichischer
Vundestruppcn schallt. Wo blieben hier die Fcbruarfordcrungen Preußens?
Aber Rendsburg als Bnndcsfcstung, der linker Hafen als Bundcshafen sind
Uur Folgen eines preußischen Zugeständnisses von weit größerer Bedeutung, welches
wem sich gehütet hat in den Paragraphen des Vertrages aufzuzeichnen. Holstein
wenigstens wird in den deutschen Bund eingefügt, sein Militär eine Bundeslruppe.
Die Oestreicher werden dort doch wohl mit ihrem Exercitium und ihrer Adjüstirung — ein
holstcinschcs Bundcscontingent errichten. Man bedenke, daß jede organische Einrich¬
tung in Civil und Militär, welche jetzt in Holstein durch Oestreich getroffen wird, ein
Präjudiz gegen eine etwaige Annexion Holsteins bildet. In dem Jnterimisticum, welches
"is jetzt ertragen wurde, hat Preußen in seinem Interesse verhindert, daß etwas Neues
^schaffen wurde, jetzt giebt man ganz Holstein den neuen Organisniionen einer fremden
Macht anheim und gestattet dem Bunde, das durch preußische Waffen eroberte Land
Unter seinen hohen Schutz zu nehmen. Wie er dieses Schützcrrecht gebrauchen wird,
das allerdings hängt nicht von den kleinen Staaten des Bundes ab, wohl aber von
dem Nachdruck, welchen die Majorität des Bundes durch stille oder öffentliche Bei-
stwrmung Oestreichs erhält. Man hat prcußischerseits einen neuen Rechtstitel gegen
steh geschaffen und fremde organische Einrichtungen in Holstein sanctionirt, damit
aber ein neues großes Hinderniß für den Erwerb wenigstens des einen der beiden Länder.
Freilich, wer den ganzen Vertrag genau prüft, mag wohl zu der Ansicht
kommen, daß Preußen überhaupt seine Anncxionswünsche in Betreff Holsteins aus¬
gegeben habe und jetzt auf eine Trennung der Herzogtümer hinarbeite, wahrschcin-
"es mit dem Hintergedanken, daß das widersetzliche Vorderland doch in irgendeiner,
Wenn auch entfernten Zukunft dem Schicksal Schleswigs folgen werde. Wie die
-^estrcicher sich zu Herzog Friedrich stellen werden, ist fortan ihre Sache. Ob sie
°"s Bundesland Holstein für ihn einrichten und durch die alte Majorität des Bundes
leine Einsetzung decretiren lassen, ob sie es für rathsam halten, selbst das Herzog¬
tum so zäh als möglich zu behaupten, wer mag darüber entscheiden. Zuverlässig""de mehr Preußen, welches trotz seinem jetzt in Ruhestand gesetzten Condominium,
'yettsächlich Holstein aus der Hand gegeben hat.
Vergleicht man die jetzt geschaffene Situation unbefangen mit der Lage der
Dinge vor der gastciner Zusammenkunft, so ist sür einen Preußen das Resultat
nicht erfreulich. Wenn man mit dem Haus Augustenburg abschloß, so erhielt man
in Wahrheit das Principal über beide Herzogtümer, für Oestreich blieb nichts
übrig als sich zu resigniren. Dann war die Voraussetzung wohl berechtigt, daß
die »och jetzt lebende Generation die allmälige, geräuschlose und gefahrlose Vereinigung
der Hcrzogthünicr mit Preußen erleben konnte. Immerhin war ein Uebelstand, daß
ein neuer Kleinstaat eingerichtet werden mußte, aber Preußen hatte durch seine
Haltung bei dem Tode des Königs von Dänemark sich die Chancen für einen
schnelleren Erwerb genommen, der langsamere Weg war ihm sicher. Jetzt hat man
entweder einen Kleinstaat Holstein, oder, was wahrscheinlicher und schlimmer ist,
eine östreichische Provinz neben sich etablirt, man hat sich in die Gefahr gesetzt,
eine Bnndcsslotte unter Oestreichs Führung in der Nordsee schwimmen zu sehen,
man ist, wo man das Ganze haben konnte, auf die Hälfte zurückgeworfen, auch
der Besitz dieser Hälfte ist in Wahrheit unsicher geworden, er wird in militärischer
Beziehung eine Last, er gewährt auch für die Stärkung preußischer Flvttenkraft
nur die Hälfte der Matrosen u. f. w., welche man in jedem Fall ganz hätte haben
können, er üvcrgiebt mit Mona den Hauptort Hamburg, den Schutz des Kanals
und Hafens, welche durch preußische Anstrengungen gebaut werden sollen, den
Oestreichern.
Aber gesetzt, alle diese Uebelstände werden durch die Oestreicher selbst beseitigt,
und alles geht weit besser als die Paragraphen des Vertrages wahrscheinlich machen,
gesetzt, Oestreich verzichtet gegen eine starke Summe — etwa 20 Millionen — auf
sein Condominium, gesetzt auch der Bundesstaat Holstein wird in Jahr und Tag
den Preußen ausgehändigt, ohne Opfer, welche die Interessen und die Existenz des
Staates tödtlich gefährden, also z. V. ohne Abtretung der Grafsckaft Glatz, ohne
Abtretung Nordschlcswigs an Dänemark u. f. w., gesetzt dieser günstige Fall tritt
ein, was hat Preußen dann gewonnen? Es hat die ganze Verantwortung für eine
höchst willkürliche und höchst herausfordernde Politik vor Europa allein zu tragen.
Dann hat sich Oestreich von dem Bündnis; und der Mitvertrctung still zurückgezogen,
dann wird die Stellung des neuen Bcsitzergreifenden zum Ausland plötzlich eine total
andere. Denn dann hat Preußen zu fremder Einmischung reiche Veranlassung gegeben,
und es steht in Europa allein. Gesetzt endlich aber auch diese Gefahr wird durch
günstige Zufälle beseitigt, wie steht man dann zu der Bevölkerung der Herzogtümer
selbst und zum eigenen Lande? Man hat außer dem östreichischen Theil der Kriegs¬
schulden noch 20 Millionen hergegeben, um ein bestrittenes Eigenthumsrecht zu
kaufen. Kann die preußische Regierung hoffen, daß die Leute in den Herzogtümern,
jetzt aufs Neue'durch die Trennung erbittert, in Holstein unter anderem Regiment
dem preußischen Einfluß entfremdet, sich schweigend und duldend einem solchen
Handel um ihre Häupter werden gefallen lassen? Und wird eine preußische Volks¬
vertretung, wie stolz sie auch den Vorzug empfinde, das preußische Volk zu repräsen-
tiren, jemals gutheißen, daß man Land und Leute aus ihrem Beutel wider den
Willen derselben kaufe? —
Immer wieder nach jedem Umwege wird man darauf zurückkommen müssen,
daß ohne den guten Willen der Bevölkerung eine Behauptung dieser Länder auf
die Länge nicht wohl möglich ist. Diesen guten Willen für sich zu gewinnen, hat
sich aber Preußen durch den neuen Vertrag beträchtlich erschwert. Und wir sind
jetzt von einer Lösung der leidigen Frage in preußischem Interesse weiter entfernt,
^- ac loequizvillo oeuvres et eorrespvnÄÄncklZ inSäitös put)Il6Sö et xr6co66os
Ä'uns noties xg.r Kuswvs ac Log-umont, mentre Ac 1'institut. ?aris.
Unter allen französischen Schriftstellern und Staatsmännern der neueren
Zeit ist Alexis von Tocqueville vielleicht der einzige, der mit voller Klarheit die
Grundübel erkannt hat, die seit Jahrhunderten, unter dem alten Regime wie
unter der Republik, unter dem Despotismus des Kaisertums wie unter der
Herrschaft des constitutionellen Systems, zerstörend an dem Körper des franzö¬
sischen Staates genagt haben. Er zuerst hat mit überzeugender Klarheit dar¬
gelegt, wie die Gestaltung der Centralgewalt, d. h. die Verfassung des Staates,
von verhältnißmäßig geringem Einfluß auf den Geist der Verwaltung und die
politische Selbständigkeit der Nation gewesen ist, wie vielmehr jedes Regime
sofort die Erbschaft seiner zu Grunde gegangenen Vorgänger angetreten und
den überreichen Besitz an'Macht und Einfluß, soweit seine Kräfte dies gestatteten,
vermehrt hat; wie es zu allen Zeiten das Bestreben der Regierung gewesenist,
die unbedingte Verfügung über die gesammten Kräfte der Nation durch Ver¬
mittelung der in möglichster Abhängigkeit gehaltenen) der Controle der Justiz
entzogenen Verwaltungsorgane zu gewinnen; wie infolge dessen dem Ein¬
zelnen das einseitige Streben eingepflanzt wurde, nicht in stolzer Unabhängigkeit
seine Kräfte pflichtmäßig dem Wohle seiner Mitbürger zu widmen, sondern auf
der Stufenleiter der Beamtenhierarchie sich über das Niveau der socialen Gleich¬
heit zu erheben, nicht frei zu sein und die Pflichten des Freien zu erfüllen,
sondern einen Antheil an den Vortheilen und Ehren der Herrschaft zu gewinnen.
Wir sehen, wie der Gleichheitstrieb, nachdem er den Freiheitssinn überwuchert
hat, jeden Augenblick in sein Gegentheil umschlägt und einen fortdauernden
erbitterten Kampf um Macht und Ehre hervorruft, indem jeder Einzelne, sobald
er sich, dem allgemein menschlichen Streben nach persönlicher Geltung folgend,
über die Masse emporgearbeitet hat, sofort der Gegenstand der Angriffe derer
wird, die sich an seine Stelle setzen wollen, ihnen gegenüber sich aber zu der
'ücksichtsivsesten Anwendung der Mittel, die der Staatsorganismus im Uebermaß
den Regierenden zu Gebote stellt, genöthigt sieht. Alle Kräfte drängen sich
unausgesetzt nach dem Mittelpunkt des Staates, da nur die Staatsgewalt im
Stande ist, ihrer Thätigkeit ein Feld anzuweisen. Vom Centrum aus laufen
die Fäden der straffster Verwaltung in jedes Departement, in jede Gemeinde.
Jede Gewalt, die durch einen kühnen Streich in den Straßen der Hauptstadt
die Regierung besiegt, beherrscht sofort den ganzen ungeheuren Verwaltungs¬
apparat, wie er vollkommener und wirksamer schwerlich erdacht werden kann.
Ein glücklicher Straßenkampf in Paris entscheidet über das Schicksal des Reiches.
Es ist daher durchaus nicht zu verwundern, wenn die Leichtigkeit, durch eine
Ueberrumpelung die Staatsgewalt zu stürzen, allen Oppositionen eine revolu¬
tionäre Tendenz eingepflanzt und den Aufstand zu einem regelmäßigen Factor
der staatlichen Entwickelung gemacht hat. Wie aber die Fluth rasch und un¬
erwartet, überwältigend eintritt, so auch die Ebbe. Die fieberhafte Spannung
führt zum gewaltsamen Ausbruch der Leidenschaften, dem Ausbruch folgt die
Erschlaffung, die zu cousequenter politischer Arbeit unfähig ist, unter deren
ruhiger Oberfläche sich aber im Stillen und unbemerkt neue Elemente der Mi߬
stimmung bilden, die, sobald sie kräftig genug sind, um sich in den Stürmen
des öffentlichen Lebens zu bewegen, alsbald den verhängnißvollen Kampf auf
Tod und Leben mit der bestehenden Gewalt beginnen.
Die klare Erkenntniß der Bedingungen, unter denen allein, bei der Ein¬
wirkung der unbeschränkten socialen Gleichheit, die Errichtung eines dauerhaften
freien Staatswesens sich erreichen lasse, hat Tocqucvilles literarischen und poli¬
tischen Ruhm begründet. Von dem Erscheinen seines ersten Werkes, 1,3, <Z6mo-
eratis ^meriML datirt seine hervorragende Stelle unter den französischen
Publicisten. Die Gedanken, durch Erweckung eines kräftigen, thätigen Ge-
mcindelebens den gänzlich erschlafften Freiheitssinn neu zu beleben, der Allmacht
des Staates das individuelle und communale Leben möglichst zu entziehen,
und mit der Macht zugleich die bis zu einem unerträglichen Grade gesteigerte,
im Großen und Kleinen von allen Seiten in Anspruch genommene Verantwort¬
lichkeit der Staatsgewalt zu vermindern, die Gefahr der beständigen politischen
Conflicte durch Ueberweisung der Streitigkeiten zwischen Privaten und dem
Staate an die durchaus unabhängig zu stellenden Gerichte zu beseitigen, diese
Gedanken konnten nicht umhin, auf das politische Publikum Frankreichs einen
tiefen Eindruck zu machen. Der literarische Erfolg war ein glänzender. Bei
weitem geringer war der Erfolg, der für Tocqueville den höchsten Werth ge¬
habt haben würde. Eine Einwirkung seines Werkes auf die bestehenden Zu¬
stände ist bis aus den heutigen Tag nur in sehr geringem Grade zu bemerken: die
von Tocqueville geschilderten Gefahren haben sich nur gesteigert. Das Uebel,
welches er bekämpft, war zu tief gewurzelt, es hatte den politischen Charakter
der Nation zu sehr corrumpirt, um eine rasche Heilung zu ermöglichen. Dazu
kam, daß die administrative Centralisation, die unvergleichliche Verwaltung als
eine der herrlichsten und wesentlichsten Errungenschaften der Revolution und
des Kaiserreichs angesehen wurde: an diesen Errungenschaften hält der Franzose
mit einer Zähigkeit fest, die stark genug ist. um den Wechsel aller politischen
Systeme zu überdauern. Nun ist die Meinung allerdings irrig, daß die Cen¬
tralisation ihren Ursprung dem neuen Frankreich verdankt; sie ist bereits im
ancien ivgims in hohem Grade ausgebildet. Sie ist grade deshalb in Frank¬
reich tiefer begründet als irgendein anderes Institut; denn sie hat ihre Wurzel
M der That im alten Frankreich und gilt dabei doch dem politischen Bewußt¬
sein als eine der theuersten Errungenschaften der Revolution. Sie ist von der
Revolution mit in die neue Zeit hinübergenommen und von Napoleon zu dem
kräftigsten lnsel-umenwm regni ausgebildet worden, dessen irgendeine Monarchie
sich rühmen kann. Dies nachgewiesen zu haben ist das Verdienst des zweiten
großen Werkes von Tocqueville, 1'avoiLir r6Ziin<z et 1a revolution. Die Be¬
deutung dieser Thatsache ist aber außerordentlich groß. Während der Geist des
französischen Volkes in socialer Beziehung völlig umgestaltet ist, ist der politische
Geist desselben sehr wenig verändert. Dieselben Regierungsmaximen, welche
die legitime Monarchie befolgte, um jede widerstandsfähige Kraft im Lande auf
das Maß der gleichen, unbedingten Unterthänigkeit zurückzudrängen, sind von
der Republik wie vom Kaiserthum acceptirt worden; und wenn Thiers mit
Entzücken von der napoleonischen Verwaltungshierarchie spricht, so vergißt er,
daß Napoleon eben nur ein tief in den Geist des Staates eingewurzeltes In¬
stitut weiter ausgebildet hat. Hieraus ergiebt sich aber ganz von selbst die
Folgerung, daß eine nicht scheinbare, sondern wirkliche Verbesserung der Zustände
Frankreichs von einer Reform der Verwaltung auszugehen hat; daß weder
ein Dynastienwechsel noch eine Verfassungsänderung, sondern nur eine den
Grundsätzen des Selfgovernment entsprechende Vertheilung eines Theils der
administrativen Functionen auf locale Verwaltungskörper den Geist der Revo¬
lution verdrängen und den Geist politischer Freiheit an seine Stelle zu setzen
vermag. Es gilt eben, den Bruch mit dem alten Frankreich vollständig zu voll¬
ziehen. Will oder kann man dies nicht, so bleibt nichts übrig, als das System
weiter und weiter zu entwickeln und es mit der äußersten Energie und Span¬
nung zu handhaben; denn jedes Nachlassen an dem gewohnten Druck entfesselt
sofort die Geister zum Angriff, nicht gegen diesen oder jenen Mißbrauch, son¬
dern gegen die Gesammtheit der bestehenden Zustände, da. was als vereinzelter
Mißbrauch erscheint, eben nichts ist als eine nothwendige Konsequenz des
Systems. Daher hat die constitutionelle Monarchie in Frankreich keinen dauern¬
den Bestand gewinnen können; denn da sie weder intelligent und entschlossen
genug war. das System völlig umzugestalten, noch auch stark genug, um dem
Andringen der öffentlichen Meinung und der freien Discussion gegenüber es in
voller Strenge aufrecht zu erhalten, so mußte sie die Grundlagen ihrer Macht
untergraben lassen, sie mußte, während sie in der vollen Handhabung der Ge¬
walt durch Rücksichten auf Gegner und Freunde beschränkt war, doch die volle
Verantwortung für jeden Fehler und jeden Mißgriff übernehmen. Das Princip
des Imperialismus ist das entgegengesetzte: die Organe der Verwaltung bis
aufs Aeußerste anzuspannen, die Verantwortung für alles zu übernehmen, aber
jeden Versuch, den Träger der Gewalt zur Verantwortung zu ziehen, zu unter¬
drücken. Daher die charakteristische Furcht des antiken wie des modernen Cäsa¬
rismus vor jeder freien Regung und Kritik der Publicistik. Aber sobald die
Spannung ihren höchsten Grad erreicht hat, der Druck nicht mehr gesteigert
werden kann, sobald die Maschine so weit ihre Dienste versagt, daß das Hervor¬
treten der öffentlichen Meinung nicht mehr unterdrückt werden kann, beginnt
für ihn die Krisis, die er nur in dem Fall Aussicht hat zu überstehen, wenn
es ihm gelingen wird, seine administrative Allmacht durch rechtzeitige Begrün¬
dung communaler Verwaltung zu beschränken; eine Nachgiebigkeit im Einzelnen
dagegen würde nur Schwäche verrathen und die Gegner ermuthigen, ohne sie
zu versöhnen.
Die von Gustav von Beaumont, dem Freunde Tocquevilles, herausgegebene
Sammlung von Fragmenten und Briefen ergänzt in trefflicher Weise das Bild
des Verfassers, wie es uns in den beiden großen Werken entgegentritt; sie
lassen uns einen Blick in die Werkstätte des bedeutenden Geistes thun, dessen
gereifte Erzeugnisse wir in jenen beiden Büchern bewundern. Eine sehr will¬
kommene Zugabe ist die von Beaumont dem Werke vorangeschickte biographische
Charakterschilderung. Die Fragmente sind theils den Aufzeichnungen des Ver¬
fassers über seine Reisen entnommen, theils die in unvollendeten Zustande hin¬
terlassene Fortsetzung des ancien reglos. Unter den Aufsätzen der ersten Classe
heben wir die „Fünfzehn Tage in der Wüste" hervor, eine überaus anmuthige
Schilderung eines in Gemeinschaft mit Beaumont unternommenen Ausflugs in
einen nordamerikanischen Urwald: eine Schilderung, die uns einen hohen Be¬
griff von der ungewöhnlichen Darstellungsgabe Tocquevilles auf einem Gebiete
giebt, auf dem wir ihm bisher noch nicht begegnet sind. Die beiden Fragmente
aus der Fortsetzung des „aneiM rögime" (1) Oomment 1a repudlilMö 6kalt>
M-ceo a trouvsr un irmiti-e. 2) Lorriiriönt is, Nation, <zu esssant ä' vero rexu-
blieaiue, plait restvv rüvolutioniMi'c; ? — tragen alle Vorzüge der Tvcquc-
villeschen Darstellung an sich. Eine sprudelnde Fülle politischer Ideen reiht
sich ohne Unterbrechung an einander; jeder Gedanke ist bedeutungsvoll, dabei
in der Form so klar, präcis und bestimmt, daß die Wahrheit und das Gewicht
desselben sofort und oft überraschend in die Augen springt. Von unbestimmten,
verschwimmenden Wendungen keine Spur: wie überhaupt sich wenige Schrift¬
steller finden dürften, die mit gleicher Tiefe des Gedankens die gleiche Durch-
sichtigkeit der Form vereinigen. Ein Engländer bewunderte ein der äömoeiirtio
en ^.muriciuö ganz besonders, daß Tocguevillc die allgemeinen Ideen so völlig
vermieden habe. Nun braucht man aber nur das erste beste Capitel des Buches
zu lesen, um von der Fülle allgemeiner Gedanken überrascht und gefesselt zu
werden. Das Wahre ist. wie Beaumont richtig sagt, daß die allgemeinen
Ideen in reicher Fülle vorhanden sind, daß ein minder aufmerksamer Leser sie
aber nicht bemerkt, weil sie stets in individuelle Form (t'i^eng partteuliörv)
"ngekleidet sind, daher das Schlagende, Einleuchtende seiner Beweisführung, die
außerordentliche Schönheit der Entwickelung, die. mag sie auch zum Theil im
Charakter der französischen Sprache und Darstellungsweise begründet sein, doch
Tocqueville vorzugsweise eigen ist. Jeder Gedanke regt unser Nachdenken an;
über den Sinn und Zusammenhang des Gedankens sind wir dagegen fast nir¬
gends in Zweifel, wir folgen der tiefsinnigsten Entwickelung mit demselben,
obigen und sicheren, durch keinen Anstoß an stilistische Schwierigkeiten oder
logische Dunkelheiten unterbrochenen Interesse, mit dem wir eine gut geschriebene,
spannende Erzählung verfolgen; wir verstehen sofort, aber das leicht und sicher
gewonnene Verständniß setzt unsere ganze Denkthätigkeit zu einer erneuten Be¬
schäftigung mit dem rasch Verstandenen, zu immer tieferen Eindringen in das¬
selbe an. Diese Eigenschaft der vollendeten Klarheit, der absoluten Bewältigung
des Stoffes, in der die Classicitcit des Tvcquevilleschen Stiles beruht, tritt in
diesem Fragmente aufs glänzendste hervor. Eine Analyse ihres trotz ihrer Kürze
sehr reichen Inhalts zu geben, würde uns hier zu weit führen; vielleicht findet
sich später eine Gelegenheit dazu; für diesmal beabsichtigen wir vorzugsweise
seine Briefe zum Gegenstand einiger Erörterungen zu machen. .
Die Sammlung der Briefe zerfällt in zwei Abschnitte. Der erste enthält
die an seinen Vetter Ludwig von Kergorlay und einen seiner Jugendfreunde
Eugen Stoffels und zwei an dessen Sohn gerichteten Briefe. Die Briefe an
seine übrigen sehr zahlreichen Freunde und Freundinnen") folgen in chronolo¬
gischer Ordnung im zweiten Bande.
Zuerst die Bemerkung, daß die Sammlung keineswegs vollständig ist, daß
der Herausgeber vielmehr ans der sehr ausgebreiteten Korrespondenz Tocque-
villes nur einen verhältnißmäßig geringen Theil gegenwärtig zur Veröffentlichung
geeignet gesunden hat. Die Discretion, mit der Urtheile über noch Lebende
f»se ganz'fortgelassen sind, ist an sich lvoenswcrth und macht, dem Mißbrauch
gegenüber, der mit der Herausgabe von Korrespondenzen gelegentlich getrieben
Wird, einen günstigen Eindruck. Dessenungeachtet wollen wir nicht läugnen,
de>ß wir oft in Versuchung waren, die zarte Rücksicht des Herrn Herausgebers
-u bedauern. Wir stoßen sehr häusig auf Censurlücken, wo unser Interesse sich^
bis zur lebhaftesten Spannung steigert. Es sind in den ausgelassenen Stellen
der mitgetheilten Briefe, wie der Zusammenhang ergiebt, oft Urtheile über
bedeutende Personen und Ereignisse ausgefallen, die ohne Zweifel scharf, aber
ganz gewiß von großer historischer Wichtigkeit sind. Wie weit die Selbstcensur
durch freiwillig auferlegte Rücksichtnahme, wie weit sie durch den Druck der
gegenwärtigen Preßzustände Frankreichs veranlaßt ist, vermögen wir nicht zu
ermessen. Eine wenn auch nur als Möglichkeit, für eine entfernte Zukunft in
Aussicht gestellte FortseMng der Veröffentlichung wird wahrscheinlich dem
Historiker eine noch größere Ausbeute gewähren als die vorliegende Sammlung,
die weniger für das Studium der Zeitgeschichte, als für die Charakteristik des
Verfassers wichtig ist; sie ist ein biographisches Denkmal, in dem neben dem
großen Schriftsteller und edlen Staatsmann auch der Mensch in allen Bezie¬
hungen des privaten Lebens zu Worte kommt.
Es ist verhältnißmäßig nicht schwer, den einheitlichen Punkt in dem Leben
Tocquevilles zu erfassen. Denn schon an der Grenze der Jugend und des
Mannesalters schwebte dem Frühgereisten ein ganz bestimmtes Lebensziel vor.
Dies Ziel war weder ausschließlich theoretisch, noch ausschließlich praktisch. Es
galt zunächst eine Erkenntniß zu gewinnen, deren Bedeutung für Tocqueville
jedoch vorzugsweise in ihrer praktischen Verwerthung für Staat und Gesellschaft
bestand: die Erkenntniß der Bedingungen, unter welchen eine demokratische, ganz
von dem Princip der Gleichheit beherrschte Gesellschaft sich zu einem freien
Staatswesen gestalten und die erworbene Freiheit behaupten könne. Denn die
Freiheit war und blieb ihm bis an das Ende seines früh abgelaufenen Lebens
das höchste und edelste Gut; ein unfreies Staatswesen war ihm höchstens ein
nothwendiges Uebel, die Gleichartigkeit gegen die Freiheit ein Zeichen des
tiefsten politischen Verfalles. Diese Gleichgiltigkeit berührt ihn tiefer als der
Verlust der Freiheit selbst, sie ist ihm das Symptom einer tiefliegenden Krank¬
heit, sie hat den von ihm klar vorausgesehenen Staatsstreich des 2. December
ermöglicht, sie ist so tief in das Wesen der Franzosen eingedrungen, daß man
sich fragen kann (so schreibt er am 21. Februar 1866), ob es in Frankreich je¬
mals parlamentarische Versammlungen und politisches Leben gegeben habe-
Man sehe keine Spur davon. — Dieser Gedanke, also eine Vermittelung anzu¬
bahnen zwischen der unerschütterlich begründeten socialen Gleichheit, die antasten
zu wollen eine Absurdität sein würde, und der politischen Freiheit, war der
Mittelpunkt seines politischen, wir können sagen seines gesammten geistigen
Lebens. Es galt, wie schon angedeutet, die auf socialem Gebiet vollendete
Revolution auch auf dem Boden des Staates zum Abschluß zu bringen. Hierin
lag die einzige ersprießliche Aufgabe für eine wahrhaft schöpferische politische
Thätigkeit in Frankreich. Dies erkannte er mit voller Klarheit, und dem klar
erkannten, mit fester Ueberzeugung ergriffenen Gedanken war sein Leben geweiht.
Aeußere und innere Eigenschaften befähigten ihn zur Durchführung der
selbstgewählten Aufgabe. AIs jüngster Sproß eines alten Adelsgescblechtes
im Jahre 1808 geboren, stand er der großen Revolution zeitlich zu fern, um
von den Leidenschaften, die sich nach verschiedenen Richtungen in den Gemüthern
der Zeitgenossen entzündet hatten, noch unmittelbar berührt zu werden. Daß
n den Haß gegen den Adel nicht theilte, war natürlich, weisen ihn doch alle
Familientraditionen auf das alte Regime zurück; aber auch von einer wirklichen
Anhänglichkeit an die alte Dynastie finden wir keine Spur. Er hätte den
Sturz der älteren Linie nicht gewünscht, weil er von einer Revolution keine
dauernden Früchte für die Freiheit hoffte. Er bedauerte daher die Thorheit
und Verblendung Karls des Zehnten aufrichtig, weil er deren verhängniß-
volle Folgen mit einem für seine Jugend bemerkenswerthen Scharfblick voraus¬
sah. Nach der Julirevolution schloß er sich ohne Bedenken der neuen Regie¬
rung an. ohne Begeisterung, ohne irgendwelche persönliche Zuneigung für die
Orleans, aber mit vollster Aufrichtigkeit, weil seine klare Einsicht ihm dies Ver¬
halten gebot. Er stand so sehr außer den Parteien, daß er den Versuch wagen
konnte, sich in gewissem Sinne über sie zu stellen, sie seiner Kritik zu unter¬
werfen. Seine Kritik war aber — und darin liegt seine Größe — nicht negativ,
nicht mäkelnd und bemängelnd, sie war durchaus positiv; sie führte ihn nicht
in ein hochmüthiges, beschauliches, tadelsüchtigcs Stillleben, sie warf ihn viel¬
mehr mitten in die Stürme und Wogen des politischen Lebens hinein; sie be¬
stand eben nur darin, daß er der alten Routine seine neuen schöpferischen Ideen
entgegenstellte, allerdings nicht in der Gestalt eines fertigen Systems; denn so
positiv er auch war, politischer Doctrinär ist er niemals gewesen. Frei von
a»en Leidenschaften und Vorurtheilen der Parteien, besaß er, wie er es selbst
ausspricht, nur die Leidenschaft für die Freiheit, die ihm recht eigentlich die
Substanz des politischen Daseins, nicht blos eine angenehme Aufregung war.
Daß ihm die politische Doctrin als solche wenig galt, hängt aufs engste
Susannen mit der durchaus praktischen Richtung seiner ganzen Natur. Die
ästige Thätigkeit um ihrer selbst willen, der Forschergeist, der aus innerem,
unwiderstehlichem Triebe sich selbst einsetzt, um ein dunkles Räthsel des Welt¬
rufs zu enthüllen, dem die Wahrheit selbst ohne besondere Rücksicht auf ihre
Verwerthung für das sociale und politische Wohlergehen der Menschheit das
höchste erstrebenswertheste Ziel ist. dieser Geist der Einkehr in sich selbst lag
ihm fern. Alle seine Studien, so umfassend und eindringend sie waren, der
ganze Schatz von Bildung, den er mit unermüdlichem Eifer theils in der ein-
sanren Arbeit des Studirzimmers, theils im ausgebreitetsten lebendigsten Um¬
gange und brieflichem Verkehr mit hervorragenden Personen der verschiedensten
Richtungen bis zum Ende seines Lebens vermehrte, die Leichtigkeit, mit der er.
durch ein außerordentliches Gedächtniß unterstützt, die Masse des buntesten De-
dans zu combiniren und zu gestalten, die Meisterschaft, mit der er dem Gedanken
den klarsten und schärfsten Ausdruck zu geben wußte, alle diese Gaben dienen
dem politischen Gedanken, den er früh in seinen Umrissen erfaßt und den er
dann später nach allen Seiten hin zu immer größerer Klarheit durchgearbeitet
hat. So kommt es, daß wir denselben Mann bald wegen seiner großen Viel¬
seitigkeit bewundern, bald nicht umhin können, an gewissen einseitigen Auf¬
fassungen desselben Anstoß zu nehmen, wie denn eine kräftige Concentraiion
nach einer Richtung hin immer der Gefahr ausgesetzt ist, der Erörterung ge¬
wisser Punkte gern auszuweichen, zuweilen selbst gegen Berechtigtes sich ab¬
wehrend zu verhalten. Die Schranke im Tocquevilleschen Geist ist, wie auch
sein Biograph, wenngleich nicht im tadelnden Sinne, hervorhebt, die Abneigung
gegen die philosophische Spekulation. Man wird in seinen größeren Schriften
nicht leicht an diesem Mangel Anstoß nehmen. Die außerordentliche Klarheit
und Schärfe seines Anschauungsvermögcns, die Energie, mit der er die ge¬
wonnene Anschauung in schlagenden Gedanken niederlegt, die Genialität, mit
der er das Individuelle verallgemeinert, ersetzen bei ihm meist den Mangel der
eigentlichen Speculation, ja wir möchten fast behaupten, daß die eigenthüm¬
lichen Vorzüge seiner Darstellung zum Theil in dem angegebenen Mangel ihren
Grund haben. Ein Mangel bleibt es indessen immer. Wir wollen nicht all¬
zuviel Gewicht darauf legen, daß er an dem Studium des Aristoteles keinen
Geschmack findet. Wir sind zu wenig Griechen, schreibt er an Corcelle, um
großen Nutzen aus ihm zu ziehen. Das wird auch manchem so gehen, der
nicht offenherzig genug ist seine barbarische Ketzerei zu bekennen, wenn es auch
immerhin auffallend bleibt, daß ein Mann wie Tocqueville nicht im Stande
ist, die Bedeutung des Altmeisters der politischen Wissenschaft richtig zu wür¬
digen. Wichtiger ist, daß dieselbe Einseitigkeit, die ihn von dem Studium und
einer Würdigung des großen Griechen zurückschreckt, ihn auch gehindert hat, zu
einem Verständniß des deutschen Wesens zu gelangen. Bei der durchaus prak¬
tischen Richtung seines Geistes, war es natürlich, daß seine ganze Aufmerksam¬
keit sich auf die Länder richtete, in denen ein freies Gemeindewesen seine Wurzel
geschlagen hatte, auf England und Amerika, daß dagegen das Land der Phi"
losophen für ihn wenig Anziehendes hatte. Von Interesse ist für ihn eigentlich
nur Preußen, dessen Verwaltung ihm imponirt. Erst spät faßt er den Ent¬
schluß, Deutschland in den Bereich seiner Studien zu ziehen, nicht etwa no
die gegenwärtigen Verhältnisse kennen zu lernen, sondern um die Spuren aus"
zusuchen. die das ancien rvFime dort gelassen habe. Zu dem Zwecke erlernt
er in reiferen Alter die ihm bis dahin fremde deutsche Sprache mit großcw
Eifer und bereitet sich mit gewohnter Gründlichkeit für die übernommene Auf"
gäbe vor. Die Erfolge seiner deutschen Reise, die mit ihren sorgfältigen Vor¬
bereitungen eine bedeutende Rolle in dem Briefwechsel spielt, dürfen wir >U"
dessen nicht sehr hoch anschlagen. Es scheint, daß er den Plan, auf deutschem
Boden die alten zu Grunde gegangenen Zustände zu studiren, sehr bald aus¬
gegeben hat, wie eS denn für den Ausländer völlig unmöglich sein möchte, in
dem neuen Deutschland die Spuren des alten, wie es vor 1789 bestanden,
aufzufinden. Längere Zeit hielt er sich in Bonn auf. wo er mit den Univer-
sitätsprofessoren, namentlich auch katholischen, alsbald in lebhaften Verkehr trat:
die Briefe aus Deutschland zeigen indessen, daß ihre Unterhaltungen sich viel¬
mehr um die Gegenwart, als um die Vergangenheit gedreht haben. Seine
unmittelbaren Beobachtungen über die geistige und politische Stimmung in
Deutschland sind fein und scharf. Er beklagt die politische Abspannung und
Gleichgültigkeit, die auch in Deutschland sich der Geister bemächtigt bade; aber
er erkennt sehr richtig, daß unter der ruhigen Oberfläche der Freiheitssinn fort«
glimme. Das wissenschaftliche Leben, der Gedanke, sei unaufhörlich thätig
(diese Bewegung vermißt er in Frankreich besonders schmerzlich); und selbst die
politische Erschlaffung schien mehr aus einer gewissen Verwirrung infolge der
Thorheiten, die man im Streben nach der Freiheit begangen habe, hervorge¬
gangen zu sein, als aus einer Erkaltung des Freiheitssinnes. Man bewahre
den Glauben an die freien Institutionen, dessen Abwesenheit in Frankreich ein
so schreckliches Symptom sei. Trefflich ist auch die Bemerkung, daß man in
Deutschland keine Furcht vor dem Socialismus habe, während in Frankreich
die Furcht die herrschende Leidenschaft sei. In einem andern Brief tadelt er
die Deutschen, daß sie nicht die Mittel zur Erwerbung der Freiheit in Anwen¬
dung zu bringen wissen, so in Preußen, wo man eine wahrhafte Verfassung und
alle Bedingungen für eine politische Thätigkeit besitze. Wenn er bei dieser Ge¬
legenheit die Verwaltung in Preußen als wahrhaft unabhängig von der Staats-
gewalt bezeichnet, so ist er zu diesem Ausspruche, dessen Nichtigkeit in Preußen
schwerlich allgemeine Anerkennung finden möchte, wahrscheinlich wohl nur durch
den Eindruck verlockt worden, den das städtische Communalleben und der Gegen-
s"dz. in dem dasselbe zu dem von ihm so unablässig bekämpften französischen
Bevormundungssystem steht, auf ihn gemacht haben wird. Daß er das deutsche
Einheitsstreben als eine große Chimäre bezeichnet, sei beiläufig erwähnt. Wir
können, so lange wir unfähig sind, die Bedingungen zu begreifen, die allein
Zur Einheit führen können, nicht Anspruch machen auf die Achtung des Aus¬
landes, die immer nur der That zu Theil werden wird.
Bemerkenswerth und im engsten Zusammenhange stehend mit seiner Ab¬
neigung gegen jede philosophische Spekulation ist seine Stellung zur Religion
und Kirche. Tocqueville ist niemals Voltairianer gewesen. Seinem 'durchaus
positiven Geiste erschien schon in früher Jugend der Zweifel als eines der
größten Uebel, die den Menschen betreffen können. Sein religiöses Bedürfniß
scheint in der Unterwürfigkeit unter die Satzungen der katholischen Kirche vollste
Befriedigung gefunden zu haben. Von einer eigentlich religiösen Wärme oder
gar Begeisterung finden wir dagegen keine Spur in seinen Briefen. Die ernste,
gemüthliche Vertiefung in das Problem über das Verhältniß des Menschen zum
Übersinnlichen, das alle Seelenkräfte in Anspruch nehmende Forschen und
Ringen nach der höchsten Wahrheit, welches eins der bedeutsamsten Merkmale
des deutschen Charakters ist, war ihm, dessen ganze Denkthätigkeit von frühester
Jugend an auf die Lösung einer ganz bestimmten Frage des politischen Lebens
gerichtet war, fremd. Der Glaube der katholischen Kirche ist ihm etwas Ge¬
gebenes, das er annimmt, ohne Zweifel, aber auch ohne Fanatismus. Sein
Katholicismus hindert ihn durchaus nicht, mit dem Protestanten, mit dem Frei-
denker in das engste Freundschaftsverhältnis) zu treten. Dennoch nimmt die
Betrachtung der kirchlichen Verhältnisse eine sehr bedeutende Stelle in seinen
Briefen ein, aber seine Betrachtung ist eine vorwiegend politische. Dies ist
aber nicht so zu verstehen, als ob er die Religion und Politik hätte vermischen
wollen: im Gegentheil war er überzeugt, daß die Kirche ihrer sittlichen Aufgabe,
die sie an dem Individuum und der Gesellschaft zu erfüllen habe, nur in dem
Falle gewachsen sei, wenn sie einerseits von jeder Theilnahme an der Lenkung
des Staates sich zurückzöge, andrerseits das Vorurtheil aufgäbe, daß die Pflicht
des katholischen Christen eine Parteinahme gegen die in der Gesellschaft le¬
bendigen, freiheitlichen Bestrebungen erfordere. Die Kirche mit der Freiheit zu
versöhnen, das war eine der Aufgaben, die er sich gestellt hatte. Die Unab¬
hängigkeit der Kirche vom Staate verstand er durchaus nicht im ultramontanen
Sinne als Abhängigkeit des Staates von der Kirche. Der Einfluß des Klerus
aus die Staatsverwaltung ist in seinen Augen ebenso verderblich für die Kirche
als für den Staat. Sehr ausführlich äußert er seine Ansichten über diesen
Punkt in einem Briefe an Lord Radnor vom Jahre 1836. Die Feindschaft
gegen die Religion, dies ist der wesentliche Inhalt seiner ausführlichen De-
duction, unter der Restauration war eine Folge des politischen Einflusses der
Priester. Grade diese Verbindung mit dem Klerus hat viel zum Sturze der
älteren Linie beigetragen. Unter der Julimonarchie, die gegen den Klerus an¬
fangs eher unfreundlich als günstig gestimmt war, wenn sie sich auch jeder
Feindseligkeit gegen denselben enthielt, trat alsbald eine Reaction zu Gunsten
der Kirche ein. Die irreligiösen Schriften sind äußerst selten geworden. Religion
und Priester sind gänzlich von den Karikaturen verschwunden. Nicht als ob
alle, die schwiegen, Liebe für die Religion gewonnen haben, aber sie haben
wenigstens keinen Haß mehr. Die Mehrzahl der Liberalen, welche früher grade
der Haß gegen die Religion an die Spitze der Opposition getrieben hatte, be¬
klagt jetzt die Schwäche des religiösen Geistes im Volke. In der Jugend aber
ist ein vollständiger Umschwung zu Gunsten der Religion eingetreten. Diese
Gedanken, vielfach modificirt und nach verschiedenen Richtungen hin ausgeführt,
kehren häufig wieder, besonders in den Briefen an Corcelle. Bald tadelt er
die Herrschsucht der Geistlichen, bald ihr Anschmiegen an die Staatsgewalt (in
der ersten Periode des Kaiserthums) und ihre Gleichgiltigkeit oder gar Feind¬
schaft gegen die politische Freiheit. Er mißbilligt, daß das Urtheil der
Priester über politische Angelegenheiten ausschließlich von Ideen und Gefühlen
abhängig sei, die einem anderen Gebiete als dem politischen angehören. In
dieser Beziehung habe der Klerus deS aneierr rögimö, der keineswegs für die
Freiheit unempfänglich gewesen sei, viel höher gestanden.
Freilich ist ihm so wenig wie irgendeinem andern Staatsmanne ge¬
lungen, feste Normen über das Verhältniß der katholischen Kirche zum Staate
aufzustellen; ja wir finden in seinen Briefen kaum Andeutungen, die uns einen
Schluß aus seine positiven Ansichten über dies Verhältniß gestatten. Zwischen
der aristokratisch organisitten Kirche mit ihrem sichtbaren, lebendigen, außerhalb
des Bereiches jedes weltlichen Rechtes gelegenen monarchischen Mittelpunkte und
den einzelnen katholischen Staaten besteht einmal ein principieller Gegensatz,
den bis jetzt noch kein Concordat, keine Legislation gelöst hat. Außerdem han¬
delt es sich hierbei zum Theil um Fragen, die weit über die Kirchenverfassung
hinaus auf daS Gebiet des Dogma führen, indem die Lehre der Kirche in ge¬
wissen Punkten, z. B. hinsichtlich der Gewissensfreiheit, mit den Forderungen
des civilisirten Staates in directem Widerspruche steht. Man kann überzeugt
sein, daß der Syllabus Tocqueville mit tiefster Indignation erfüllt haben würde:
und doch würde er es sich nicht haben verhehlen können, daß derselbe, einige
überflüssige Zuthaten abgerechnet, ein prägnanter Ausdruck dessen ist, was die
Kirche seit Jahrhunderten gelehrt hat, und woran sie unbedingt festhalten muß,
Weil ihr Lehr- und Bcrfassungsgebäude keine Lücke duldet. Es ergeht Tocqueville
wie den neuerdings in Frankreich aufgetretenen liberalen Vertheidigern der
päpstlichen Gewalt: sie fordern und hoffen vom Papstthum Reform und Ent»
Wicklung, d. h. Bewegung, bedenken aber nicht, daß die Unbcweglichke.it der Kitt
ist. der den stolzen Bau der Hierarchie zusammenhält, und daß die Kirche, wenn
sie mit der äußersten Schroffheit an den für den Glauben scheinbar unwesent¬
lichsten Lehren festhält, für die Existenz ihres Gesammtorganismus kämpft. Die
Kirche mag in einem bestimmten Falle sich geschmeidig unter der Gewalt einer
unbequemen Thatsache beugen; sie mag unter Umständen die politische Freiheit
begünstigen; die Forderung Tocquevilles aber, die politischen Dinge vom poli¬
tischen Standpunkt aus zu betrachten, diese Forderung wird sie niemals erfüllen,
j» selbst die Forderung, die Politik als ein neutrales, außer dem Bereich ihrer
Wirksamkeit liegendes Gebiet anzusehen, wird sie ihren Grundsätzen gemäß mit
voller Entschiedenheit abweisen müssen.
ES kann auffallend erscheinen, daß ein Mann von so überlegener politischer
Einsicht wie Tocqueville, der ein klareres Bewußtsein als die meisten seiner
Zeitgenossen von der entschiedenen Wichtigkeit der organisirenden und verwal¬
tenden Thätigkeit hatte, eine, wir können durchaus nicht sagen, unbedeutende,
aber doch seiner persönlichen Bedeutung nicht völlig entsprechende Rolle in den
parlamentarischen Kämpfen Frankreichs gespielt hat. Eine Ursache für diese
Erscheinung giebt Beaumont selbst an: der wesentliche Unterschied zwischen der
Thätigkeit, der Gewöhnung und den unmittelbaren Zielen des Schriftstellers
und des praktischen Politikers. Der Redner will eine augenblickliche Wirkung
erzielen: die Ziele grade des bedeutenden Schriftstellers liegen in der Zukunft;
der eine wirkt auf die Leidenschaften, der andere auf den Verstand: die zur
anderen Natur gewordene Gewöhnung an ein sorgfältiges Feilen des Ausdrucks,
für den Schriftsteller eine unabweisliche Pflicht, kann für den Redner, den der
entscheidende Augenblick stets bereit finden muß, das entscheidende Wort zu
sprechen, gradezu ein Hinderniß in der Führung der parlamentarischen Waffe
werden. Nun ist ferner zu bedenken, daß die ihm eigenthümlichen Ideen ganz
außerhalb des Gesichtskreises der politischen Routine lagen, daß er selbst dem
tiefsten Kern seiner Ansichten nach keiner der bestehenden Parteien angehörte,
in einzelnen Punkten dagegen sich mit jeder von ihnen berührte, so daß bald
die Aristokraten, bald die Demokraten ihn zu den Ihrigen rechneten. Er hatte
die Eigenschaften eines Staatsmannes der Zukunft; als solcher aber war er
ganz und gar nicht geeignet, die Rolle eines Parteiführers in den Kämpfen der
Gegenwart zu übernehmen. Er ist vom Beginne seiner parlamentarischen
Laufbahn an, die ebenso sehr seine ganze Geisteskraft in Anspruch nahm, wie
vorher und nachher seine literarische Thätigkeit, ein hochgeachtetes, oft einflu߬
reiches Mitglied, niemals aber ein Leiter der Opposition gewesen. Die fran¬
zösische Geschichte wird ihn als den Träger einer großen politischen Idee
preisen; ein sicheres, unumstößliches Urtheil über seine praktische staatsmännische
Fähigkeit zu fällen, wird ihr versagt bleiben. Denn seine nur wenige Monate
dauernde Verwaltung des auswärtigen Ministeriums während der Präsident¬
schaft und die hohe Achtung, die Napoleon ihm auch nach seinem Rücktritt
erwies, reichen nicht aus, um ein sicheres Urtheil zu begründen.
Einige Eigenschaften des praktischen Staatsmannes besaß er ohne Zweifel
in hohem Grade, vor allem einen scharfen und sicheren Blick in die Zukunft,
sowie eine unerschütterliche Festigkeit des Charakters und Treue der Ueberzeu¬
gung. Die Casscmdragabe der Voraussicht hat er vor allen großen Katastrophen,
die während seiner politischen Laufbahn sein Vaterland erschüttert haben, aufs
glänzendste bewährt, so in einer am 27. Januar 1848 gehaltenen, ihrem wesent¬
lichen Inhalt nach von Beaumont mitgetheilten Rede; so ferner in der Kor¬
respondenz aus der Zeit vor dem Staatsstreich des Präsidenten. Das Inter¬
essante an diesen Briefen ist nicht das lebhast hervortretende instinctive Gefühl
xiner herannahenden Katastrophe (denn das Gefühl hatte damals jeder), sondern
i>'e klare und sichere Berechnung, mit der er die Momente, die für eine Be-
schleunigung oder eine Verzögerung der Katastrophe sprachen, gegen einander
abwägt. — Was ferner seine Charakterfestigkeit betrifft, so wurzelt dieselbe
durchaus nicht etwa in der Vorliebe für eine bestimmte politische Doctrin,
oder in der Anhänglichkeit an eine bestimmte Person, sondern, was ihn
von der Mehrzahl der französischen Staatsmänner unterscheidet, in seinem
stolzen Unabhängigkeitssinne. Er verzichtet auf die Aussicht gewählt zu
werden (1837), nur um seine Wahl nicht der wider seinen Willen ihm ge¬
währten officiellen Unterstützung des ihm nahe befreundeten Ministers Mol6
-u verdanken; er will von officiellen Kandidaturen (die jedenfalls sehr viel zu
der Untergrabung des constitutionellen Systems in Frankreich beigetragen und
une gesunde Parteibildung gehindert haben) nichts wissen. In seiner parla¬
mentarischen Opposition wird er stets durch sachliche, nicht durch persönliche
Gründe bestimmt. Nach dem Falle der Monarchie schließt er sich der Republik
an. die er nicht gewünscht hat, und zu deren Dauer er sehr geringes Vertrauen
hat. in deren Consolidirung, wofern sie möglich sei, er aber doch noch die letzte
Aussicht für die Freiheit in Frankreich steht. Unversöhnlich ist er gegen den
Napoleonismus; mit einer Negierung. deren Princip die Unterdrückung der
Freiheit ist. kann er sich nicht vertragen.
'
Innerhalb dieser Linieaber, an der er unerschütterlich festhält, hat er
vielmehr die Neigung, sich zu verständigen und auszugleichen, als zu bekämpfen.
Es tritt dieser Zug. der für sein ganzes Wesen besonders charakteristisch ist. in
seinen Briefen aufs klarste hervor. Mit der energischsten Concentration seiner
Bestrebungen auf ein bestimmtes Ziel vereinigt sich in ihm eine seltene geistige
Elasticität, die ihn befähigt, sich mit Persönlichkeiten der verschiedensten Rich¬
tungen in einen nahen und oft innigen Verkehr zu setzen. Ueberall weiß er
sich, ohne seine Ueberzeugung zu verläugnen. der fremden Anschauungsweise
anzuschmiegen und mit jedem die Gegenstände zu verhandeln, für die er bei
'hin el» besonderes Interesse glaubt voraussetzen zu können. Mit dem Einen
bespricht er die politischen Zustände Englands, mit dem Andern die großen
socialen Fragen der Gegenwart, mit einem Dritten verhandelt er über die
Stellung, welche die Kirche in den Verwickelungen der Politik einzunehmen hat.
Der briefliche Verkehr ist für ihn ein fortgesetztes Studium, ein beständiger
Austausch oft erst in der Bildung begriffener Gedanken. Er gestattet den ver¬
schiedensten Ideen die freieste und weiteste Entwickelung, sobald sie nur nicht
seinen Freihcitsidcalen feindlich gegenübertreten. Die Leichtigkeit, mit der er
'n fremde Anschauungsweisen eingeht, ist für ihn durchaus bezeichnend; niemals
aber erscheint diese Anbequemung als schwächliche oder charakterlose nachgiebig,
keit. vielmehr spricht sich grade' in ihr seine hohe geistige Überlegenheit, die
Gewalt, die er über alle Gemüther ausübte, vermöge deren er die verschieden-
artigsten Charaktere in den Kreis innigsten Verkehrs zu ziehen wußte, aufs
glänzendste aus.
Wir können nicht umhin, an dieser Stelle noch mit einigen Worten auf
die Briefe an Kergorlay zurückzukommen. Tocqueville war mit Ludwig von
Kergoriay durch die Bande der Verwandtschaft und Jugendfrcundschaft ebenso
nahe verbunden, als durch die Politik von ihm getrennt. Der Gegensatz war
so schroff, daß eine Discussion der Tagespolitik unfehlbar zu einer Erkaltung,
wenn nicht zu einem Bruch ihrer Freundschaft geführt haben würde. Grade
diese eigenthümliche Situation verleiht der ununterbrochen fortgesetzten Cor-
respondenz einen besonderen Neiz. Tocqueville bespricht nicht nur seine persön¬
lichen Verhältnisse aufs offenste mit ihm. Kergoriay ist in allen Dingen außer
in der Politik sein intimster Vertrauter; er hält ihn unausgesetzt in Kenntniß
über den Gang seiner Studien, fordert seinen Rath in wichtigen und unwich¬
tigen Dingen; sein Urthel! über seine schriftstellerischen Leistungen gilt ihm mehr
als das jedes Andern. Aber auch auf die Verhältnisse Kcrgorlays geht er mit
warmer Theilnahme ein. Vor allem sucht er den offenbar sehr begabten und
gebildeten, aber, wie es scheint, zu energischer, auf ein bestimmtes Ziel gerichteter
Arbeit wenig disponirten Freund dahin zu bringen, seine Studien zu concentriren
und literarisch zu schaffen. Man bedauert sehr, daß die Briefe Kergorlays
nicht mitgetheilt sind, indessen gewinnen wir von der jedenfalls anziehenden
Persönlichkeit desselben schon aus Tocquevilles Briefen ein sehr lebendiges Bild.
— Der eine Punkt aber, der sie trennt, wird unerwähnt gelassen; Tocqueville
berührt den Gegensatz nur einige Male, um die Besorgniß des Freundes dar¬
über zu beruhigen, daß derselbe jemals auf ihre Freundschaft einen ungünstigen
Einfluß gewinnen könnte, und die gleichen beruhigenden Versicherungen von
Seiten Kergorlays hervorzurufen. Gewiß ist diese Correspondenz eines der
merkwürdigsten Beispiele, wie bei der systematischen Zurückhaltung über einen
Gegenstand, der bei dem Einen der Mittelpunkt der ganzen Mannesthätigkeit,
bei dem Andern jedenfalls ein voll in<z wirgöro war, eine Jugendfreundschaft
nicht nur äußerlich fortbestehen, sondern im Laufe der Jahre innerlich vertieft
in stets gleicher Festigkeit sich erhalten und in einer immer reicheren Fülle des
Seelenaustausches sich entfalten konnte.
Wenn die oben geschilderte Leichtigkeit, mit der Tocqueville mit den ver¬
schiedenartigsten Persönlichkeiten in nahe und oft innige Verbindungen trat,
dein Deutschen etwas fremdartig erscheinen mag, so wird man um so angeneh¬
mer berührt von der Treue und Festigkeit, mit der er jede eingegangene Ver¬
bindung hegt und pflegt. Ueberaus wohlthuend wirkt auch auf den deutschen
Leser die Innigkeit, die unter den geistreichen Complimenten, den vielen an¬
muthigen Wendungen und oft wiederholten Freundschaftsversicherungen, die dein
deutschen Wesen widerstreben, wie es sich in den letzten fünfzig Jahren gestaltet
hat. sichtbar hervortritt: eine Innigkeit, die vor allem das zarte und schöne,
Von ihm in manchen an die nächsten Freunde gerichteten Briefen mit tiefem
und wahrem Gefühl berührte Verhältniß zu seiner Gattin, einer geborenen
Engländerin, durchdringt. Diese Innigkeit des Empfindens bewahrte er sich
auch unter den Aufregungen der politischen Kämpfe; sie hielt in den Zeiten
gezwungener Muße seiner natürlichen, durch die politischen Verhältnisse, wie
durch körperliches Leiden gesteigerten Reizbarkeit das Gleichgewicht; sie fesselte
jeden, der ihm nahe getreten, und bewahrte ihm bis zu seinem Tode die treue
Anhänglichkeit aller Freunde, deren Liebe noch sein letztes Krankenlager in
Cannes verklärte, wo er vergeblich Heilung suchte von einem mit reißender
Schnelligkeit entwickelten Brustleiden.
Wer die Verhältnisse des Herzogthums Nassau richtig schätzen will, muß
Zunächst die politische und wirthschaftliche Entwickelung desselben von einander
Setrennt halten und sich vergegenwärtigen, daß die letztere der ersteren bedeutend
Vvrangeeilt ist. Dieses Voranschreiten der wirthschaftlichen Entwickelung liegt
der ganzen Lage und den Naturgaben des Landes, welche es auf den Jn-
dustrialismus hinweisen. Man braucht nur zu bedenken, daß Nassau unmittel¬
bar an der großen Vcrkehrstraße des Rheins zwischen den vielbegünstigten
Thälern des untern Main und der Lahn liegt, und daß es den größeren und
romantischeren Theil des Taunus umfaßt, des Gebirges, nach dem so mancher
Bewohner der naheliegenden großen Städte seine Schritte zu Genuß und Er-
Wschung lenkt. Ferner bat Nassau zehn Mineralquellen von bedeutenderem
Rufe: Wiesbaden. Ems. Schwalbach. Soden. Schlangenbad. Weilbach. Cron-
thal, Selters. Fach'lügen und Geilnau, deren Ausbeutung Wohlstand und An-
Regung zu mancherlei gewinnbringenden Unternehmungen schafft. Der Weinbau,
dermalen über 12.000 Morgen umfassend, verbreitet sich über die Aemter Brau¬
bach. Se. Goarshausen. Rüdesheim. Eltville. Wiesbaden. Hochheuu. Höchst.
Runkel und Nassau und liefert im Durchschnitt einen Ertrag von -/--°/»
Stück weißen und rothen Weines per Morgen. Endlich erfreut sich der Bergbau
e'nes bedeutenden Aufschwunges; Silber. Blei. Kupfer. Zink. Nickel und l^sen-
erze werden in bedeutender Menge gefördert, viele sonstige nutzbare Mineralien,
u. a. Walkererde, edler Thon, Marmor und zum Hoch-, Weg- und Straßenbau
geeignete Gesteine gewonnen.")
Zu dem natürlichen Reichthum des Landes kommt eine auf dem wirth¬
schaftlichen Gebiet ausgebildete Gesetzgebung. Für den Betrieb der Landwirth¬
schaft bestehen ausführliche Vorschriften über das Verfahren bei Bewässerungs¬
und Entwässerungsanlagen, über Güterconsolivation (Verkoppelung oder Zu¬
sammenlegung von Grundstücken zu vortheilhaften Landwirthschaftsbetriebe
und zu Culturverbesscrungen); der Bergbau ist durch eine ausführliche Berg-
vrdnung geregelt; in Bezug auf Handel und Gewerbe die Gewerbefreiheit durch
das Gesetz vom 9. Juni 1860, das deutsche Handelsgesetzbuch mit dem deutschen
Wechselrecht eingeführt, in Maß und Gewicht eine Annäherung an das fran¬
zösische Decimalsystem oder dieses selbst erzielt. Eine Landesbank giebt zur
Ablösung von Neallasten und Erbleihen gegen den doppelten Betrag des Dar¬
lehens an Liegenschaften im Herzogthum oder den fünffachen SchätzungSwerth
an Zecheneigenthum als Unterpfand Darlehen. Für die in den verschiedenen
Diensten angestellten Beamten und Geschäftsführer sind strenge Staatsprüfungen
vorgeschrieben, die Schulen in vorgerückter Ausbildung, namentlich für die Real-
fächer ist durch Einrichtung von Realschulen und Realgymnasien vorgesehen,
jeder Zwang dagegen in der Wahl der Universität (bis zum Jahre 1848 war
der Besuch der Universität Göttingen vorgeschrieben) beseitigt. Die ganze
wirthschaftliche Entwickelung des Landes gipfelt sich, so zu sagen, in der sehr
vereinfachten Einrichtung des Budgets, das alle Jahre festgestellt wird, inso¬
fern alles, was von den eigentlichen Staatsausgaben (die Ausgaben für den
Hof werden aus der von der Landeskasse getrennten Domänenkasse gedeckt)
nicht durch Staatsgefälle: indirecte Steuern, Regalien, Gebühren ze. aufgebracht
werden kann, durch nach Simplen erhobene directe Steuern, Grund-, Gebäude-
und Gewerbesteuer aufgebracht wird, d. h. man stellt die Ausgaben fest, zieht
davon die Staatsgefälle ab und wirft den Rest auf die directen Steuern. Auch
insofern ist eine rationelle Vereinfachung durchgeführt, als unter dem Titel
Gewerbesteuer die Steuer von Staatseinkommen, von Gehalten der Staats-
diener u. s. w. begriffen ist. Es erklärt sich daraus, wenn bei der vorletzten
Landtagswahl von einer Anzahl liberaler Wähler zur ersten Kammer gegen den
Eintrag von 43 Geistlichen in die Wählerliste der höchstbesteuerten Gewerbe¬
treibenden protestirt wurde. Den Geistlichen, die man zur Herbeiführung re¬
gierungsfreundlicher Wahlen herbeigezogen hatte, war nämlich die Grundsteuer
von den Besoldungsgütern zu ihrer Gewerbesteuer zugerechnet worden. Die
direkte Steuer ist denn in Nassau auch bedeutend hoch: 1864 ergaben 1,527.560 si.
bei (1863) 462,334 Einwohnern 3„ si. auf den Kopf, während in dem wegen
seiner hohen Steuern so verschrieenen Preußen 1864 erst etwa IV, Thlr. oder
2 se. 39 kr. direkter Steuer auf den Kopf sielen und man es selbst in Oestreich
nur zu 3,g si. ö. W. auf den Kopf gebracht hat. Diese Berechnung, von dem
Verfasser dieses selbständig gemacht, stimmt fast ganz mit der von dem Abgeord¬
neten zur zweiten nassauischen Kammer, or. Braun (vgl. Die wirthschaftlichen
Verhältnisse des Herzogtums Nassau. Rede in der Adreßdebatte der zweiten
Kammer gehalten von Dr. Braun. Mit vier sinanz-statistischen Tabellen. Wies-
baden. Limbarth. 1865) angestellten, welcher für den Durchschnitt von fünf
Jahren (1859 — 63) 3 si. 19 kr. directe Steuer auf den Kopf in Nassau und
2 si. 49 kr. in Preußen rechnet. Derselbe findet den Durchschnittsbetrag, der
Grund- und Gebäudestcuer in Nassau 2 si. 16 kr., in Preußen nur 59 kr., die
»esammte Steuerlast (directe und indirecte Steuern) in Nassau 7 si. 58 kr., in
Preußen 7 si. 3 kr. auf den Kopf, in Nassau also 55 er. hoher als in Preußen!
Dieser Steuerlast muß, wenn sie in Wirklichkeit auch als zu drückend von
Dr. Braun angegeben wird, doch eine bedeutende Steuerkraft entsprechen, und
diese hat denn auch in der Staatsverfassung insofern eine hervorragende Be-
achtung gefunden. als die höchstbcsteuerten Grundbesitzer (30 in jedem der sechs
Wahlkreise) sechs und die höchstbesteuerten Gewerbtreibenden drei Abgeordnete
'n die erste Kammer zu wählen haben. Zum Schluß können wir als Beweis
für die vorgeschrittene wirthschaftliche Entwickelung des Landes noch anführen,
daß es 5—6000 Menschen auf der Quadratmeile zählt.
Auf diesem Gebiete nun ruht die Stärke der liberalen Partei. Wie stark
su hier ist. kann man einfach mit der Thatsache beweisen, daß bei der vorletzten
Wahl (wo die in der Regierung vertretenen Parteien alle Mittel aufwandten,
um die Mehrheit in den beiden Kammern zu erzielen, und die Wahlen zur
Zeiten Kammer so stark und zwar in einer Weise, welche der Wahlprüfung
der zweiten Kammer gegenüber verhüllt werden mußte, beeinflußt wurde,
daß unter den 24 Abgeordneten 11 Candidaten der verbündeten Klerikalen
und Hofparteigänger waren) die GrvßwShler des Grundbesitzes und der In-
dustrie zur ersten Kammer sämmtlich liberal wählten, und daß von den 11
klerikal und conservativ gesinnten Abgeordneten zur zweiten Kammer 8 aus
den Wahlbezirken des ärmeren Westerwaldgebietes und nur 3 aus den
13 Wahlbezirken des wohlhabenderen Taunusgebietes hervorgegangen waren.
Es schwächt die Beweiskraft dieser Thatsache nicht, wenn der Abgeordnete
Braun in seiner oben erwähnten Rede an der wirtschaftlichen Blüthe des
Herzogthums vieles auszusetzen hat. Er hob hervor, daß das ohnehin
durch die natürliche Beschaffenheit des Landes schon beschränkte Ackerland
(38,6 ^ 714.177 Morgen Ackerbauland, 10.8 »/» ^ 201.162 Morgen
Wiesen, 8"/»^ 15,285 Morgen Weinberge, 0.4 »/<>^ 7076 Morgen Gärten
gegen 40,8 »/<, — 757.309 Morgen Wald, größerentheils im Westerwald) außer
durch die Staatsstcuern noch beschwert sei durch die lange noch nicht abgezahlten
Ablösungssummen, durch die andern Steuern (Bier-, Branntwein Octroi. Accise),
welche vorzugsweise auf den Landwirth drückten, durch die Vertheuerung der
ländlichen Arbeitskräfte, was alles den mittleren und kleineren Bauernstand
ruinire, so daß die Domainen, statt ihre Schulden abzutragen, ein besseres Ge-
schäft zu machen glaubten, wenn sie fortwährend einzelne bäuerliche Güter-
stänune und Güter kauften, daß ein adliges Fideicommißvermögen (des Grafen
v. Walderdvrf, Mitglied der ersten Kammer) für 12,000 si. jährlich eben der¬
gleichen Käufe mache und von der Regierung sofort die Genehmigung zur Ein¬
verleibung in das schon vorhandene Fideicommißvermögen erhalte, daß endlich
gar auch die Klöster, wie das von Dermbcich bei Montabaur, durch solche Käufe
die Güter der todten Hand vermehren. Weiter drücke den Bauern die Jagd
und der aus der Hegung erwachsende Wildschaden, Bauernhunde bezahlen die
volle Hundesteuer und werden gestraft, wenn sie auf einem jagdbaren Acker ihres
eignen Herrn gesehen werden, während Jagdhunde nur V» der Steuer tragen
und koppelweise über fremder Leute Aecker getrieben werden. Auch auf dem
Gebiete des Handels und der Industrie, hob Hr. Braun ferner hervor, finde
man bei Concessionen zu Bauten und Fabrikanlagen solche Schwierigkeiten, daß
man lieber auf anderes nahe gelegenes Gebiet gehe; in Häfen (am Rhein)
sollten.keine Fabriken bestehen, in der Zollvereinskrise habe man die Entschei¬
dung Jahre lang zum Schaden der Industrie und des Handels hingeschleppt;
die für Nassau so wichtige Abschaffung der Uebcrgangssteuer auf den Wein habe
man ohne die östreichische Politik der Regierung zwei Jahre früher haben können,
als sie nun eingetreten sei, und mit Abschaffung des Lootsenzwangs und der
Main- und Rheinzölle gehe man auch nicht vor.,
Alles dieses sind ohne Zweifel gewichtige Minderungselemente für die
wirthschaftliche Entwickelung Nassaus, allein sie sind doch meist nur Schuld der
Negierung der letzten Jahre und für das Gebiet des Handels und der Industrie
die angegebenen Schwierigkeiten, welche man regierungsseitig macht, nur ein
Beweis, daß die Negierung die Macht dieses Gebietes erkannt hat und dieser
Macht, wenn auch mit verkehrten Mitteln, entgegenzuwirken sucht.
Doch kommen wir auf das hinter der Entwickelung des wirthschaftlichen
zurückgebliebene politische Gebiet. Hier ergiebt sich zunächst, daß die Theilnahme,
welche der Bevölkerung an staatlichen Dingen eingeräumt ist, nicht der durch
die wirthschaftliche Entwickelung geforderten Intelligenz entspricht. Wir wieder¬
holen in Kürze die durch die öffentlichen Blätter und die Verhandlungen der
nassauischen Kammern so vielfach bekannt gewordene Verfassungsgeschichte des
Herzogthums. Die ältere Verfassungsurkunde desselben, das Patent vom 2. SeP-
leader 1814 und das sonstige anerkannte gesetzliche Staatsrecht des Herzog-
thums wurde, nachdem das provisorische Gesetz vom 6. April 1848 die Herren¬
bank des 1814er Patents beseitigt und die Stände zu einer Landesversamm¬
lung verbunden hatte, laut Vereinbarung zwischen Regierung und Ständen
zusammengestellt und durch herzogliche Verordnung vom 28. December 1849
(nassauischc Verordnungösammlung 40) in sieben Abschnitten verkündigt. Dieses
Verfassungsrecht wurde aber durch Ausführung des bekannten Bundcsbeschlusses
vom 23. August 18S1 (verkündigt am 27. Septbr. dess. Jahres), infolge dessen
sich der Herzog von Nassau zu der einseitigen Aufhebung für befugt erklärte,
wieder beseitigt, auf Verordnungswege das Wahlgesetz vom 5. April 1848
aufgehoben und durch das Edict vom 26. November 18S1 die jetzt bestehende
neue Staatsorganisation mit dem Zweikammersystem (Wahlgesetz vom 5. No-
vember 1851) eingeführt. Auf dieser vom constitutionellen Standpunkte aus
durchaus anfechtbaren Grundlage beruht das jetzt geltende, beschränkte Ver¬
fassungsrecht Nassaus, und es ist in seiner Begründung durch das deutsche
Bundesrecht die erste Stärke der Regierung und erste Schwäche der liberalen
Partei. Der entscheidende Punkt für das Verfassungsrecht ist nun ferner seinem
Inhalte nach die Bestimmung in Betreff der Steuern, daß solche zwar nur
erhoben werden dürfen, wenn sie in den Staatshaushalt aufgenommen sind
und dieser nach eingeholter Genehmigung der Landstände zum Vollzug gesetzt
daß aber eine Verweigerung der Zustimmung zur Forterhebung der
für die nothwendigen und gebilligten Ausgaben nöthigen Einnahmen, ferner
die Verweigerung der Billigung gesetzlicher Ausgaben von Seiten des Landtages
»us politischen Rücksichten, z. B. um ein Ministerium zum Rücktritt zu bewegen,
eine Pflichtverletzung der Mitglieder des Landtages enthalten
würde.
Außer diesem Satze ist das Recht der Steuerbewilligung durch die Volks¬
vertretung auf das bescheidenste Maß beschränkt durch die Einrichtung, daß für
alle Verhandlungen, welche die Festsetzung des jährlichen Staatsbedarfs (Budget),
die Aufbringung der zu dessen Deckung erforderlichen Mittel (Steuerbewilligung)
und die Controle über die Verwendung der bewilligten Summen (Rechnungs¬
prüfung) zum Gegenstande haben, beide Kammern zu gemeinsamer Berathung
und Beschlußfassung in eine Versammlung (die Ständeversammlung) zusammen-
treten. Diese Einrichtung hat folgenden Sinn. Die erste Kammer besteht aus
den volljährigen Prinzen des herzoglichen Hauses (jetzt nur der Bruder des
Herzogs. Prinz Nikolaus), dem katholischen und dem evangelischen Landesbischof,
den Vertretern von 6 ehemals reichsunmittelbaren Familien, dem Vertreter einer
andern gräflichen Familie. 6 Abgeordneten der höchstbesteuerten Grundbesitzer
und 3 Mitgliedern der höchstbestcuertcn Gewerbtreibenden; bei dieser Zusammen-
setzung ist zu erwarten, daß wenn auch die Wahlen der Höchstbestcuerten liberal
ausfallen, doch etwa 10 Mitglieder der Kammer auf der conservativen Seite
oder der Seite der Regierung zu finden sind. Bei dem Zusammentreten mit
der zweiten Kammer, welche 24 Abgeordnete zählt, wobei die Gesammtzahl 43,
also die einfache Mehrheit 22 beträgt, fiele also der Regierung die Aufgabe zu,
zu ihren 10 conservativen Mitgliedern erster Kammer noch 12 Abgeordnete
der zweiten Kammer hinzuzugcwinnen, um die Mehrheit für sich zu haben.
Dieses Ziel war nahezu oder geradezu erreicht, als die Regierung bei der vor-
letzten Wahl 11 ihrer Candidaten in der zweiten Kammer durchgesetzt hatte.
Es erklärt sich daraus, warum die liberale Partei der zweiten Kammer so hart¬
näckig auf der Vornahme der Wahlprüfung bestand und als zu dieser die con-
servative Minderheit das Erscheinen in der Kammer verweigerte, durch ihr
Ausscheiden aus der Ständeversammlung als Wiedervergeltung die Beschlu߬
fähigkeit dieser zu nichte machte. Es galt hier wirklich das Aeußerste.
Hier haben wir nun die zweite Schwäche der liberalen Partei und die
zweite Stärke der Regierung aufgedeckt; eine dritte Stärke der Regierung ergiebt
sich aber in der Gesammt-Staatseinrichtung des Landes. Fangen wir bei der
Verwaltung von unten herauf an. Die Städtebevölkerung beträgt 28"/«,, die
ländliche 72"/<>, in 32 Städten, 36 Flecken und 817 Dörfern, wozu 238 ein¬
zelne außer dem Ortsberinge gelegene Höfe, 1078 Mühlen und 52 Hütten- und
Hammerwerke kommendes überwiegt also die ländliche Bevölkerung bedeutend
und damit auch die Abhängigkeit der Gemeindeverwaltungen von der Regie¬
rungsbehörde; denn wir dürfen mit Recht voraussetzen, daß die Verwaltung
der Städte wegen der größeren Intelligenz und des größeren Wohlstandes
ihrer Bewohner eine selbständigere ist, wie sich das auch bei der Stadt Wies¬
baden gezeigt hat. Die Wahl der Bürgermeister (Ortsvorstände) geschieht
nun zwar durch die Gemeinden, aber nöthig ist die Bestätigung der Wahl durch
die Landesregierung. Versagt diese die Bestätigung bei zwei Wahlen, wobei
noch der zuerst verworfene Candidat bei der zweiten Wahl nicht wieder pra>
sentirt werden kann, so ernennt die Landesregierung den Bürgermeister. Sie-
thut dies auch, wenn die Gemeinde die Vornahme der Wahl verweigert, oder
wenn die Wahl zweimal vergeblich versucht worden ist. Gewählte und bestä¬
tigte Bürgermeister regieren zwar auf Lebenszeit (ernannte nur 6 Jahre), jeder
Bürgermeister, Gemcindcrechncr oder Gemeinderath kann aber, wenn er sich
Vergehungen oder Vernachlässigungen hat zu Schulden kommen lassen oder das
zu einer wirksamen Dienstführung erforderliche Vertrauen (!) ver¬
loren hat, von der Landesregierung entlassen werden.
Dies ist offenbar eine außerordentlich beschränkte „Selbständigkeit" der
Gemeindeverwaltung, von der in dem Verfassungsedict die Rede ist. Wie leicht
verliert ein oppositioneller Bürgermeister nach oben hin „das erforderliche Ver¬
trauen" ; er braucht nur einmal liberal zu wählen oder als Vorsitzender in den
Wahlversammlungen unparteiisch zu sein. Nun ist aber ferner der nächste
Vorgesetzte der Bürgermeister der herzogliche Amtmann. Der herzoglichen
Aemter giebt es 28. Durch Gesetz vom 4. April 1849 war bei diesen Aemtern
die in sonstigen deutschen Ländern von der Culturstufe Nassaus überall einge¬
führte Trennung der Justiz von der Verwaltung eingerichtet; sie ward aber,
außer für das Amt Wiesbaden, von der Reaction wieder aufgehoben, so ist jetzt
der Amtmann wieder zugleich Richter unterster Instanz und Vcrwaltungsbeamter.
Er hat zwar für.Berwaltungs- und Gemeindcsachcn einen gewählten Bezirks¬
rath von 6 Mitgliedern zur Seite, allein er ist nur in einigen Punkten an die
Entscheidung des Bezirksrathes gebunden, und überall die letzte Entscheidung
der Landesregierung vorbehalten; in dringenden Fällen hat er das Recht der
Entscheidung mit nachträglich einzuholender Zustimmung des Bczirksrathes;
dabei hat aber die Verweigerung der Zustimmung hernach für die getroffene
Anordnung keinerlei rückwirkende Kraft. Als eine Bedingung für die Selb¬
ständigkeit der Verwaltungsbeamten nach obenhin könnte man nun vielleicht
seine gleichzeitige Eigenschaft als Richter ansehen; allein seine Stellung als
Berwaltungsbeamter ist höchstens im Stande, seiner Stellung als Richter zu
schaden; was man Unabhängigkeit der Richter nennt, kennt man in Nassau
auch nicht. Es ist uns zwar kein Fall bekannt, wo ein Richter ohne allen
Grund aller Stellen enthoben worden wäre, und beim Oberappellationsgericht
hat man sich auch gehütet, die Richter allzu auffälligen Beeinflussungen zu
unterwerfen; allein es ist Thatsache, daß der Herzog bei den Gerichten der
mittlern Instanz, dem Hofgericht zu Wiesbaden und Dillenburg. die Gerichts¬
präsidenten zu Finanzkammerdirectoren und die Finanzkammcrdircctoren zu
Gerichtspräsidenten gemacht hat. Sich solchen Eventualitäten und Consequenzen
auszusetzen, hüten sich also besonders die Verwaltungsbeamten und Richter erster
Instanz', und so ist die Vcrwaltungsmaschinerie leicht nach dem Willen der
Centralbehörde in Bewegung gesetzt. Was das Staatsministerium will, wird
der vermittelnden oberen Verwaltungsbehörde, der Landesregierung, anheimge¬
geben, und diese führt es durch die Verwaltungsbeamten und deren Handlanger,
die Gemeindebürgermeister, bis in die untersten Schichten hin aus.
Die Zahl der so mittelbar von der Negierung Abhängigen wird aber be¬
deutend vermehrt durch die unmittelbar abhängigen Beamteten. Der Staats-
dienst hat nämlich eine ungewöhnlich große Ausdehnung, selbst die blos aus.
übenden Aerzte sind von der Regierung angestellt und besoldet, die als Notare
dienenden, den Aemtern untergebenen Oberschultheisc. Geistliche beider Con-
fessionen, die in den Zweigen des Schulwesens, der Pharmacie, der Forstwissen¬
schaft, Berg-und Hüttenkunde und Baukunde Arbeitenden werden in Wahlangele-
genheiten als Beamte angehalten, nach den Weisungen der Negierung zu stimmen
und nicht etwa blos der Wahl sich zu enthalten, welches letztere ihnen bereits oft
als Dienstvergehen vorgehalten worden ist. Bei diesem Anlaß muß auch er¬
wähnt werden, daß nicht nur die Wahlmänner, welche die Abgeordneten zur
zweiten Kammer zu wählen haben (bei denen es als Mandataren ihrer Urwähler
noch am erklärlichsten erscheint, obwohl das Wählen überall Ehrenpflicht sein
sollte), sondern auch die höchstbesteuerten Wähler der Abgeordneten der ersten
Kammer durch Strafandrohung zum Wählen angehalten werden. In diesem
Falle hat doch gewiß die Strafe keinen Sinn, weil der Wähler ja zum eignen
Schaden ausbleiben würde. Hier muß wohl die Rücksicht^darauf obgewaltet
haben, daß das Wahlgesetz octrvyirt wurde und seine Anwendung nicht an der
Theilnahmlosigkeit oder dem Widerstand der Wähler scheitern sollte.
Aus vorstehendem Sachverhalt erklären sich nunmehr die skandalösen Wahl¬
beeinflussungen*), welche bei der vorletzten Wahl zur Ständeversammlung in
so bedeutender Anzahl und in solcher Ausdehnung zur Anwendung gekommen,
sind, daß die starke Minderheit der Klerikal-Conservativen durch ihr Nichter¬
scheinen in den betreffenden Sitzungen die Wahlprüsungen und die Aufdeckung
ihrer Umtriebe vor aller Welt zu hintertreiben genöthigt war. Es muß aber
noch eine vierte Stütze der Regierung besprochen werden, nämlich der Bund
mit der römisch-katholischen Geistlichkeit. Nassau enthält in seiner Bevölkerung
(1861: 4S6.S67 Seelen) neben 52 <>/c, Evangelischen 46^ Katholiken^); und
bekanntlich steht der Bischof von Limburg mit den Bischöfen von Mainz. Fulda
und Rottenburg in der oberrheinischen Kirchenprovinz unter dem im Kampfe mit
der Negierung von Baden liegenden Erzbisthum Freiburg; das Bisthum Lim¬
burg aber zählt in Nassau (auch Frankfurt steht unter Limburg) neben einem
bischöflichen Commissarius in Eltville (Rheingau, zwei Dekanate. Eltville und
Nüdesheim) Is Dekanate mit 144 Pfarreien. Bedenkt man, daß in den ärmeren
Bezirken Nasfaus und in solchen Gegenden, wo sich eine stärkere Fabrikbevöl¬
kerung anhäuft oder durch den Großbetrieb auf dem Gebiet der Landwirthschaft
zurückkommende Zweigwirthe ein ländliches Proletariat bilden, sich leicht ein
größerer Einfluß der Geistlichkeit entwickelt, so erkennt man auch sofort die
Wichtigkeit der Verbindung der Regierung mit diesem Elemente. Es galt der
römischen Kirche und deren Vertretern in Nassau nicht nur darum, die unge¬
bildete Masse der Bevölkerung in ihren Fesseln zu erhalten, Aufklärung, Freiheit
der Bewegung, verfassungsmäßiges Recht als Bahnbrecher gegen die Macht der
Kirche niederzudrücken, mit der Gunst der Negierung günstige Ankäufe für Klöster
(die Abtei Marienstatt wurde der römischen Geistlichkeit mit Ausschluß der Con-
currenz von der Regierung sür ein Geringes verkauft) zu erzielen, sondern auch,
Was die große Politik angeht, Nassau in den Bahnen der östreichischen Politik
und in der Machtsphäre dieses Concvrdatlandes zu erhalten.
AIS fünfte Stütze der Regierung endlich wollen wir noch den Mangel
alles dessen hervorheben, was man unter Grundlagen der politischen Freiheit
oder Grundrechten versteht. Die liberale Partei hat ihre Interessen durch dir
Presse vertreten wollen, da hat man gesehen, daß es in Nassau kein Gesetz zum
Schutz der Preßfreiheit giebt; das letzte, welches im Jahre 1863 von den Kammern
berathen wurde, ist wegen eines kleinen Zwiespalts zwischen erster und zweiter
Kammer unverkündigt geblieben, obgleich der Herzog das Recht hat, wenn beide
Kammern über einen Gesetzentwurf im Ganzen einig sind und nur in einzelnen
Punkten auseinandergehen, das Gesetz nach seiner Entscheidung für die Be-
schlüsse der einen oder andern Kammer als giltig zu verkünden. Die Negierung
hat einfach jedes Blatt des In- und Auslandes verfolgt, verboten, unterdrückt,
welches sich des Interesses der Opposition annahm. Die letztere versuche dann,
sich der öffentlichen Versammlungen zu bedienen; da hat man gesehen, daß es
kein Gesetz zum Schutz des Vereins, und Versammlungsrechtes giebt; die Re.
g'erung hat einfach die Versammlungen der Opposition bis zu den Besprechungen
«n der Wirthstafel durch ihre Gewalt thatsächlich unmöglich gemacht, wäh¬
rend sie die Versammlungen der eigenen Partei erlaubte. Hieraus hat sich
die Opposition die Mühe genommen durch besondere unter ihren politischen
Freunden auf privatem Wege zu verbreitende Druckschriften für sich zu wirken;
°a hat man nicht nur die verbreitenden Boten und die Empfänger mit Geld-
strafe und Gefängniß bedroht, sondern sogar durch Polizeidiener die noch nicht
durch irgendeine zuständige Behörde als verboten constatirte Waare wegnehmen
^sser. Das ist Verletzung des Eigenthums durch die Regierungsbehörde. Gegen
°lie dergleichen Willkürlichkeiten giebt es in Nassau bei den Gesetzen und bei
den Behörden keinen Schutz; mit der Verfassungsoctrovirung von 18S1 hat
jedes Grundrecht zu existiren aufgehört. Man hat nicht mit Unrecht bemerkt,
daß in Nassau Zustände herrschten, wie sie auf einer großen Domaine der
Herr derselben und sein Verwalter zu gestalten für gut befinden; was sie für
den Augenblick anordnen, das gilt.
Hiermit haben wir die Besprechung der Mittel erschöpft, welche sowohl
°er liberalen Partei als der Regierung in Nassau bis dahin zu Gebote standen ;
neuester Zeit scheint sich das Bündniß zwischen der Regierung und der rö-
Wischen Partei etwas gelockert zu haben und die Sache für die Liberalen um
einiges günstiger zu stehen. Es handelt sich aber zum Schluß unsrer Betrachtung
"och um ein Moment, welches zur Verbitterung deS zwischen Regierung und
Volk ausgebrochenen Zwiespalts wesentlich beigetragen hat; erhandelt sich auch
noch um eine kleine nette und klare Frage des Mein und Dein. So einfach und
modern wie, wir bemerkten es oben schon, das nassauische Staatsbudget ein¬
gerichtet erscheint, so in rückwärts liegende Zeit verweisend erscheint die Ein¬
richtung, nach welcher der Herzog die Domänen als sein Eigenthum beansprucht.
Obwohl schon 1808 die Domanialeinkünfte in die allgemeine Staatskasse flössen
und im Jahr 1848 der Herzog selbst die Domänen als Staatseigenthum aner¬
kannte, so wurde doch, nachdem 1863 eine einstweilige Übereinkunft in jenem
Sinne abgelaufen war. die Wiederherstellung des Zustandes von vor 1808
vom Minister einseitig erklärt und ausgeführt. Dann ist 1861 eine Ueber-
einkunft des wesentlichen Inhaltes geschlossen, daß die Domänen zwar un¬
veräußerlich bleiben und unter der Oberaufsicht der Staatsbehörden verwaltet
werden, auch nach einem mit den Ständen auf je zehn Jahre vereinbarten
Normaletat jetzt 10°/° des Reinertrages (bei Erreichung von 700,000 si. 15°/«)
an die Landesstcuerkasse abgeben sollen, daß aber dem Herzog die Entscheidung
über Verwendung der Domanialeinnahme ausschließlich zustehe, sofern es den
Normaietat nicht überschreite. Daß dieser Streit wieder erwache, namentlich
auch, weil in die Domänenkasse Einnahmen, wie die von Gesundbrunnen und
Mainzoll, fließen, welche ohne Zweifel der Staatskasse zugehören, besonders
wenn die Verfassung von 1849 zurückgeführt würde, befürchtet der Herzog, und
darum unterdrückt er die Opposition auf diesem Punkte nach allen Kräften.
Erst noch in diesen Tagen mußte der neue Präsident der Landesregierung der
zweiten Kammer erklären, daß die Regierung keinen Grund sehe, von dem
Verfassungsedict vom 26. November 1851 abzugehen.
Unsere Besprechung ist zu Ende. Ueberblicken wir noch einmal in der
Kürze die Hindernisse, welche die liberale Partei in Nassau zu überwinden hat,
so ist es die auf das,deutsche Bundesrecht sich stützende Versassungsoctroyirung
von 1851, die der Selbständigkeit ermangelnde Gemeinde- und Bczirksverwal-
tung, die Stärke des Beamtenthums, die römische'Geistlichkeit und der Mangel
der Grundrechte. Wir denken, trotz dieser Hindernisse wird der stark fvrtge'
schrittene Wohlstand des Landes und die durch denselben geförderte Einsicht im
Bunde mit Kraft und Ausdauer der liberalen Partei in nicht ferner Zeit zum
Siege verhelfen.
Die Zeitungen aus Holstein berichten uns häufig, daß Reiselustige jetzt
ihre Unterhaltung im Lager Von Lockstädt suchen und stets sehr befriedigt
heimkehren, es gebe da allerhand Belustigungen, auch ein Theater und Restau¬
rationen aller Art. Von den Truppenübungen aber hört man nichts, und es
scheint daher, daß die preußischen Truppen dort ein Lustlager bezogen haben,
in der Art wie wir sie aus den zwanziger und dreißiger Jahren in den soge¬
nannten Königsmanövern kennen. Diese sollten nur viele Truppen auf einem
Fleck vereinen, um mit diesen größere Exercitien u. s. w. zu machen; der Auf-
enthalt im Lager war nicht Zweck, sondern nur Auskunftsmittel. Es blieb
daher anheimgestellt, den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen, das
Lager wurde ein Platz, auf dem sich eine Masse Menschen sammelten, die alle,
»v da wohnend oder zum Besuch kommend, die wenigen Tage und Stunden
'sür ihr Vergnügen möglichst ausnutzen wollten. Man fand da längs des ganzen
Lagers Reihen von Restaurationen, schau- und Spielbuden, Menagerien u. s. w..
kurz einen Meßplatz mit allen seinen Freuden und auch Leiden. Die Soldaten
jeden Ranges hielten sich. so lange sie nicht schliefen oder wegen Mangel an
Geld nicht krumm liegen mußten, in ihren dienstfreien Stunden fern von den
Zelten im Getümmel der Genießenden auf. Da diese Lager in ihrer Einrich.
tung für kurze Dauer sowohl dem Staat, als auch besonders ihren Bewohnern
sehr theuer waren, gab Friedrich Wilhelm der Vierte dieselben auf, beschränkte
die Dauer der großen Uebungen und ließ die Truppen während der wenigen
Tage, wo sie in großen Massen vereinigt waren, bivouakiren. Ein Bedürfniß,
diese Lager von ihrem Tode wieder zu erwecken, hat wohl niemand empfunden,
der sie genossen, am wenigsten der. welcher die Ueberzeugung hegt, daß durch
das Lagerleben selbst sehr bedeutende militärische Erziehungsresultate erreichbar
wären. Denn hierzu gehören nicht Lust, sondern Uebungslager; und unter
Uebungslagern versteht man solche, in welchen das ganze Leben des Soldaten
militärisch gefaßt wird. Solche Lager hat Napoleon der Dritte nach dem Bei¬
spiel seines großen Onkels zur Erziehung seiner Armee gegründet; seine be¬
deutendste derartige Schöpfung ist das Lager bei Chalons. das wir deshalb in
seiner Lage, Größe, innern Einrichtung und Benutzung hier näher betrach-
ten wollen.
Das Lager von Chalons liegt in der Mitte des gegen Belgien und Deutsch-
land mit Elsaß und Lothringen vorgeschobenen Theiles von Frankreich, der
nicht nur von jeher die Operationsbasis seiner größten Kriege gebildet hat,
sondern auch die meisten Festungen und bei weitem die größten Garnisonen
des ganzen Kaiserstaats enthält. Innerhalb eines Umkreises von 3S Meilen
liegen fast zwei Drittel der gesammten in Frankreich selbst stehenden Truppen
in Garnison. Eine ähnliche Centrallage für die preußische Armee würde die
Gegend bei Frankfurt a. O. gewähren. Hier würden von den neun Armeecorps
Preußens nur das preußische, das westphälische und das rheinische zu weit ab¬
liegen , um regelmäßig herangezogen zu werden. Ein Lager bei Frankfurt
würde zwar nicht ein Centtalpunkt für ein besonderes Kriegstheater werden,
aber es würde an einem Knotenpunkt der Eisenbahnen liegen und dadurch
diesen Mangel vollauf ersetzen, nach Osten die Ostbahn und die in der Aus¬
führung begriffene directe Bahn über Meseritz nach Posen, nach Süden die
niederschlesisch.märkische und die durch einen Marsch zu erreichende Berlin-Gör-
litzer resp. Gebirgsbahn, nach Westen die Bahnen von Frankfurt und von
Küstrin nach Berlin, sowie die demnächst in Angriff kommende Bahn Sorau-
Halle; nach Norden, der entschieden unwichtigsten Strecke, würde die nur im
Project existirende Bahn Küstrin - Neustadt-Eberswalde 8 Meilen lang allein
eine directe Verbindung gewähren; der Weg über Berlin und über Kreuz öffnet
aber auch diese Himmelsrichtung. Chalons entbehrt solcher reichen Eisenbahn¬
verbindung, es ist durch einen Seitenstrang mit der Linie Paris-Straßburg
verbunden, Truppen aus dem Lager von Chalons müssen nach der belgischen
Grenze mit einem Umweg über Seitenstraßen oder über Paris dirigirt werden.
Das Lager von Chalons liegt 3 Meilen nördlich dieser Stadt, aus einer
4—500 F. über dem Meere sich erhebenden Kreidcbank. deren Mächtigkeit man auf
1500 Fuß schätzt und die sich bis zum Kanal im Norden erstreckt. Lockere Erde
ist auf dem zerreiblichen Kalk wenig vorhanden, jedoch ist bei gehöriger Düngung
die Fruchtbarkeit nicht ausgeschlossen, dies beweisen die Pappeln, die sich noch
mehrfach auf den früher cultivirten Partien finden, sonst sind nur kleine Fichten¬
gebüsche vorhanden, die den ehemaligen Eigenthumsgrenzen entsprechen. Der
Boden hat eine starke Kapillarität. Regengüsse verschwinden schnell und erzeugen
nur während ihrer Dauer einen zähen Schlamm. Acht Meiereien sind zur
Ausnutzung der 40,000 Morgen betragenden Fläche angelegt. Das Klima ist
etwas rauher als das von Paris, weil das völlig freie Plateau allen Winden
geöffnet ist; im Ganzen aber ist das Klima ein gesundes, epidemische Krank¬
heiten sind hier, so lange das Lager besteht, also seit 1857, trotz der Menschen¬
anhäufung auf einem Fleck, noch nie beobachtet worden, was man von den
andern französischen Lagern, bei Boulogne, Sathonay u. s. w, nicht sagen kann.
Bier Bäche fließen durch das ganze Feld, der Cheneu durch das Lager. Der
letztere trocknet im Sommer fast regelmäßig aus, und die Truppen sind mit
ihren Wasserbedürfnissen auf Brunnen angewiesen, von denen vier für jedes
Regiment angelegt, hinreichen und noch nie versagt haben. Das Wasser ist
gypshaltig, aber gesund und hat eine Temperatur von 8"R. Das Lager liegt
in der Südostecke der Fläche, dicht an den jenseits der Grenzen gelegenen Orten
Groß, und Klein-Mourmelon. Eine Pferdeeisenbahn, welche durch das ganze
Lager führt, verbindet dasselbe mit Chalons. Es sei hier gleich bemerkt, daß
die ganze Fläche 6 Millionen Franken, mithin 1.600,009 Thlr. kostet, daß der
Morgen also mit 40 Thlrn. bezahlt ist. 30,000 Mann können in diesem Lager
untergebracht werden und zwar theils in Baracken, theils in Zelten. Baracken
sind angelegt zur Unterbringung einer Division und dienen für den Winter zur
Aufnahme derjenigen Truppen, welche zur Bewachung des Lagers dort bleiben.
In Zelten liegen alle sonst noch i» das Lager commandirten Truppen. Die
Zelte sind entweder konische oder trapezförmige, jene mit einer 10 Fuß, diese
mit zwei 6 Fuß hohen Stangen, welche das Zelt tragen. Die erster» sind die
allseitig bevorzugten und werden allein noch neu beschafft. Die konischen Zelte
also sind 10 Fuß hoch und haben in ihrer Grundfläche 18 Fuß Durchmesser.
Der Zeltmantel aus dichten, Drillich wird von Stricken, von der Spitze der
Stange bis zu ringsum auf einem kleinen Erdwall eingeschlagenen Pflöcken
gezogen und strammgehalten, und die Stricke sind an der äußern Seite der
Leinwand angebracht, weil man die Erfahrung gemacht, daß dann das Wasser
besser abläuft, als bei entgegengesetztem Verfahren. Ein kleiner Graben zur
Aufnahme des Regenwassers umgiebt jedes Zelt. In demselben sind zwei Thür¬
einschnitte angebracht, um je nach der Windrichtung von ihnen Gebrauch zu
wachen. — Das Zelt ist zur Aufnahme von 12 Mann Infanterie oder von
8 Mann Cavallerie nebst Sattelzeug bestimmt. Das Lager der Leute besteht
aus einer untergelegten Strohdecke, darauf ein Strohsack, ein Kopfpolster, ein
großes Leintuch und zwei wollene Decken. Das Stroh der Strohsäcke wird
reglemcntsmcißig alle vierzehn Tage erneuert. — Die Soldaten vertiefen den
Boden des Zeltes, um mehr Höhe zu gewinnen. — Zur Aufnahme der Effecten
dient eine im obern Zelt angebrachte Borte mit Schlingen; die Zelte einer
Compagnie (80—90 Mann stark) stehen in einer Reihe senkrecht zur Frontlinie
des ganzen Lagers, dieses aber hat die Länge der in Linie entwickelten Truppen.
Die Baracken sind von Fachwerkbau. mit Schiefer gedeckt, SV Fuß lang,
12 Fuß hoch und 18 Fuß tief; sie enthalten einen Saal zur Aufnahme von
60 Mann und einen kleinen Raum für 6 Unteroffiziere. — Die Fenster liegen
^ Fuß über dem Boden, und die Baracke hat nur eine Thür. — Die Betten,
genau ebenso wie in den Zelten, liegen in Reihen an den langen Wänden auf
gedielten Boden. Ebenso wie die Baracken sind alle permanenten Etablisse¬
ments, wie Lazarethe, Magazine, der Sitz der Verwaltungsbehörden u. s. w.
von Fachwerk gebaut, längs des ganzen Lagers an geeigneten Punkten. Hinter
den Reihen der Zelte und Baracken der Mannschaften liegen die gleichartigen
Wohnungen der Offiziere, die Küchen für die Leute, Speiseanstalten für die
Unteroffiziere und dergleichen für die Offiziere, Lagerwachen und Arrestlocale.
Auf ISO Schritt Entfernung, von der gewöhnlichen Windrichtung ab, find die
Latrinen angelegt und zwar mit Asphaltboden und Fässern darunter, welche
»ach Bedarf fortgefahren und durch leere ersetzt werden können. Zuletzt soll
nicht verschwiegen werden, daß in Groß-Mourmelon unter staatlicher Aufsicht:c.
öffentliche Häuser für Offiziere und andere für Mannschaften eingerichtet sind.
Die Pferde der Kavallerie stehen vor der Front der Zelte unter freiem
Himmel mit einer um die Fessel geschlungenen Leine am Boden befestigt. Diese
von Algier mitgebrachte Befestigungsweise wird von den Franzosen für Vortheil-
haster gehalten, als die bei uns übliche mittelst der Halfter; einfacher und
sicherer ist sie jedenfalls. Die Pferde bedürfen vier Wochen, ehe sie sich daran
gewöhnen und verletzen sich bis dahin zahlreich. Im Uebrigen ist der Gesund¬
heitsstand der Pferde, die jedem Wind und Wetter ausgesetzt sind, ein vorzüg¬
licher. Sie sehen zwar nicht so glatt und schön aus wie unsere sorgfältig ge¬
pflegten und in der Stallhitze verweichlichten Pferde, ertragen dafür aber auch
alle Strapatzen einer kriegerischen Verwendung besser. Die Nation der Pferde
beträgt nach der Waffe 7 bis 8 Pfd. Hafer. 8 bis 10 Pfd. Heu und 10 Pfd.
Stroh. In Preußen betragen die entsprechenden Sätze außerhalb der Garni-
sonen 9 bis 10Vz Pfd. Hafer. 3 Pfd. Heu und 3'/, Pfd. Stroh.
Die Soldaten erhalten täglich 1 Loth Kaffee und 1 Loth Zucker, 1'/^ Pfund
Biot. V, Pfund Fleisch und Pfund Reis und Gemüse und 1 Weinglas
voll Schnaps. Wein wird nur ausnahmsweise verabreicht; will der Soldat
auch den Nachmittag Kaffee haben, so wird er ihm gegen Abzug von 2 Cen¬
times täglich verabreicht. Tabak wird das Pfund zu 8 Sgr. geliefert. — In
Pleußen beträgt die große Victualienportion, d. h. die größte verabreichte Por¬
tion sür einen Tag: V» Loth Kaffee, 1 Pfund 12 Loth Brod. V- Pfund Fleisch
und 7 Loth Reis oder 9 Loth Graupen oder 18'/« Loth Hülsenfrüchte oder ^
Metzen Kartoffeln.
Colporteure, Händler, Verkäufer von spirituösen weiden im Lager nicht
geduldet. Civilpersonen dürfen nur in Begleitung von Offizieren oder mit
Erlaubnißscheinen in den Lagergasscn Eingang finden. Auch ein Markt findet
nicht statt, nur die beiden Dörfer Mvurmelon mit ihren Läden, Restaurationen
u. tgi. bieten eine Gelegenheit, sich ein besonderes, aber immer umständliches,
entferntes und kostspieliges Vergnügen zu machen. Frei ist hier das kaiserliche
Theater, das 2000 Menschen aufnehmen kann. Die Offiziere haben dort täglich
Zutritt, von den Mannschaften immer nur 1500 Mann, zu deren Gestellung
die Divisionen täglich wechseln. — Das Lager hat in den letzten Jahren in
der Regel drei Infanteriedivisionen und eine der Kavallerie nebst der ent-
sprechenden Artillerie. Pioniere und Train beherbergt, im Ganzen nahe an
30.000 Mann und 3000 Pferde. — Das Lager war demgemäß eine deutsche
Meile lang, wobei trotz der großen Zahl bei dem Mangel von außen hinzu¬
tretender Elemente sich der Einzelne verliert und das Ganze einen sehr todten
Eindruck macht. Morgens 4 Uhr wird für die Cavallerie, um 6 Uhr für die
Infanterie Reveille und Abends »/s9 Uhr für alle Waffen Zapfenstreich geblasen. —
Morgens 10 Uhr wird die erste Mahlzeit Fleisch mit dem Gemüse zusammen
gekocht verabreicht, um 5 Uhr Nachmittags die zweite und zwar genau dieselbe
Mahlzeit.
Auch die Bekleidung des französischen Soldaten im Lager ist eine sehr
reichliche; er trägt hier nur wollene Stoffe und hat außerdem noch eine Leib¬
binde. Das Lager wird nur in den Sommermonaten als Versammlungsplatz
großer Truppenmassen benutzt und beträgt die Dauer eines solchen Aufenthaltes
für dieselben 3—4 Monate.
Aus dem vorstehend Mitgetheilten über das Lager bei Chalons erhellt,
daß dasselbe außer der einmaligen Auslage von 1,600,000 Thlr. für den Grund
und Boden, außer der Anlage der Eisenbahn, dem Bau der Baracken und Ver¬
waltungsgebäude, der Beschaffung der Zelte und aller Utensilien, welches alles
w allem in Summa gewiß 400,000 Thlr. kostet, bedeutende alljährliche Mehr¬
kosten gegen das Garnisonleben fordert.. Diese Mehrkosten zu specialisiren ist
ohne Einsicht des dortigen Rechnungswesens unmöglich, wir müssen uns also
Mit der Andeutung derselben begnügen. Sie bestehen in der Unterhaltung des
Hesammten Materials; in der Vertheuerung aller Lebensbedürfnisse, entfernt
Vom Markt und Handelsort; in der Zulage an Offiziere und Mannschaft für
erhöhte Verpflegung und Bekleidung; in den Transport- und Marschkosten für
die Heranziehung der Truppen und endlich in dem größern Consum von Mensch
und Pferd durch die geringere Sorgfalt für seine Existenz.
Der Nutzen des Lagers, welcher diesen Unkosten gegenübersteht, liegt zu¬
nächst darin, daß der ganze Dienstbetrieb vereinfacht wird. Alle Verhältnisse
^rühren sich; der ganze Truppenkörper, von den obersten Leitern bis zu dem
geringsten Ausführenden, ist in allen Nacht- und Tageszeiten zusammen, die
Uebungsplätze aller Art sind zur Hand, kein anderer Dienst als der unmittelbar
vorliegende der Uebung nimmt die Truppe in Anspruch. Vergleicht man da-
M>t das Garnisonverhältniß mit seinen hundert Frictionen des täglichen Lebens,
der Entfernung des Offiziers von der Mannschaft, der Weitläufigkeit aller Dienst,
^ätze, den Anforderungen des Garnisondienstes und den Rücksichten, welche die
Sratt fordert, so leuchten die Vorzüge des Lagers für die Ausbildung jedem
^r>. Es sind die Vorzüge, welche die Ausbildung in einer vom städtischen
Treiben entfernten Erziehungsanstalt voraushat. Freilich geht dabei die Er¬
hebung des Herzens, d. h. für den Soldaten der Zusammenhang mit dem
bürgerlichen Leben verloren, aber das dürfte hier wie da nur dann von Be¬
deutung sein, wenn die Einseitigkeit der Existenz eine zu lange Dauer hat.
Ja die Gefahr ist für den Knaben, der aus der Erziehungsanstalt direct in
das Leben und in die Selbständigkeit tritt, viel größer, als für den Soldaten,
der aus dein bunten Rock wieder in seine alten Verhältnisse zurückkehrt; zumal
wenn die Dienstzeit um so viel Zeit, als der Soldat im Lager gelegen hat, im
Ganzen verkürzt wird. Denn es ist nicht zu verkennen, daß, wenn man alle
die Anstrengungen und Nebendienste streicht, welche das Garnisonverhäitniß
fordert und dafür die Zeit ganz der Erziehung des Soldaten widmet, man die
Dauer der Ausbildung füglich vermindern kann. —
Die Lager mit einem großen und mannigfaltigen Uebungsfeld gewähren
ferner den Nutzen, daß man die Uebungen selbst dem Kriege ähnlicher machen
kann. Das Schießen z. B., das mit dem Steigen der Cultur bei den Gar¬
nisonen sich immer mehr auf künstlich gebaute Scheibenstände beschränken muß,
in denen es schwer ist vorbeizuschießen, wird dann erst eine kriegerische Uebung,
wenn dem Soldaten mitten in der Bewegung, auf unbekannten Entfernungen,
in welligem, allen Witterungseinflüssen ausgesetzten Terrain Scheibenbilder zum
Treffen entgegengestellt werden. — Jede militärische Bewegung im Terrain muß
richtiger und deshalb lehrreicher werden, wenn keinerlei Rücksicht auf die Cultur
des Bodens, auf Privatbesitz u. tgi. genommen zu werden braucht. — Angnff
und Vertheidigung von Haus und Garten kann nur dann dem Soldaten wirk¬
lich gelehrt werden, wenn sie ihm auf dem Manöverfeld frei zur Disposition
stehen. — Der Gebrauch von Truppen kann nur dann vollständig zum Ver¬
ständniß des Einzelnen kommen, wenn ihre Verwendung Tag und Nacht, nach
allen Richtungen und in der Masse, wie sie der Krieg jetzt überall fordert,
möglich ist. — Das Zusammenwirken der verschiedenen Waffen läßt sich nur
dann lehren, wenn sie länger vereint bleiben und systematisch in einander ge¬
wöhnt werden; die kurzen Manöver, wie sie z. B. in Preußen statthaben, können
in dieser Beziehung gar kein Resultat liefern. — Das Eingreifen des Genies,
der Pioniere in den kriegerischen Akt, d. h. die Anwendung der Verschanzungs-
kunst, läßt sich nur lernen auf einem großen, zur Uebung freien Feld, das
dauernd der Truppe zur Verfügung steht. Aus Mangel solcher Uebung ist den
deutschen Truppen die Verwendung der Verschanzungskunst in allen Gefechts¬
lagen, wie leider die Erfahrung zeigt, sehr fremd.
Ein sehr bedeutender Nutzen des Lagers liegt ferner in der Gemeinschaft
des Lebens zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, der aber nur dann sich
geltend machen kann, wenn kein Lustlager statthat, sondern das öffentliche
Leben auf die Seite geschoben ist, wenn der Soldat in der Erfüllung aller seiner
Bedürfnisse auf den directen oder indirecten Einfluß seiner Vorgesetzten ange'
Wiesen ist; wenn seine ganze Behaglichkeit abhängig ist von seinen Officieren:c.
Die Art, wie Ruhe und Anstrengung in einander geschoben, wie Langeweile
gebannt, der Geist angeregt und der lange Tag ausgefüllt, wie Rücksicht auf
die Mahlzeit genommen, wie für die Güte der Materialien und deren Zube¬
reitung gesorgt, wie Ordnung und Reinlichkeit erhalten, wie der Kranke be¬
achtet und versorgt wird, das bestimmt die Zufriedenheit des Einzelnen im
Luger, das macht den Soldaten nach jeder Richtung des Dienstes stramm, pünkt¬
lich, fest und zuverlässig und gehorsam seinem Vorgesetzten.
Den größten Vortheil gewährt aber das Lager der Armee dadurch, daß
es allein im Stande ist. die Ausbildung und Erziehung der höhern Offiziere
zu übernehmen. Die Generale werden im Lager in stete Reibung mit der
Truppe, mit ihren Untergebenen gebracht, und dies allein kann ihre guten
Fähigkeiten erhalten, ihren Charakter in der nothwendigen Schärfe entwickeln
und die wichtige Kunst, Menschen zu leiten und zu beleben, üben. Entkleidet
von dem Nimbus, welcher den sonst nur inspicirenden General umgiebt, wird
er im Lager genöthigt, seine Stellung durch tägliche Leistung zu behaupten.
Diese Leistungen werden von ihm nicht nur in der wiederholten Führung der
Truppen bei den anhaltenden großen Uebungen, bei dem richtigen Eingreifen
in die kleinen Uebungen und'bei der Sorge für das ganze Leben der Truppe
gefordert, sondern auch in dem steten Verkehr mit Offizieren und Mannschaften.
Der General und der Mensch müssen sich in dem nahen Zusammenwohnen und
in der unausgesetzten Berührung als tüchtig geltend machen, sonst kann er sich
nicht behaupten. Je dauernder, je größer ein Lager ist, und je freier es von
äußern Beziehungen, Zerstreuungen u. tgi. erhalten wirb, desto mehr wächst die
Bedeutung der in ihm befehlenden Männer.
Aus dem hier über den Nutzen der Lager Gesagten ist auch zu erkennen,
K'arna die Errichtung derselben, abgesehen von den Kosten, so ganz entgegen¬
gesetzte Gegner hat, nämlich die sogenannten Freiheitsmänner und die alten
Generale. Die erster», weil sie Feinde alles dessen sind, was eine Armee stärkt
""d in sich fester macht, und die andern, weil sie die eigene Leistung fürchten.
Mit Lustlagern aber würden sich beide aussöhnen. Die Furcht vor einer kräf¬
tigen Armee ist epidemisch geworden und hat selbst ganz verständige Männer
^faßt, weil Mißbrauch mit dieser Kraft des Staates getrieben worden ist und
weil sie öfter auf unstatthaften Wegen zum Ausbruch gekommen ist. Aber
">ehe in der Zerstörung einer Kraft, sondern in der höchsten vernunftgemäßen
Entwicklung derselben liegt die schöpferische Aufgabe unserer bürgerlichen Gesell¬
est, nicht in der Kraft überhaupt, sondern in ihrer höchst geregelten, gründ¬
lichsten und raschesten Benutzung liegt das Geheimniß aller großen Erfolge,
^icht auf die Zerstörung oder Hemmung der militärischen Kraft kann die Ent¬
wicklung des Staates bahnt werden, sondern nur auf eine Hebung und Rege¬
lung derselben. Man vrganistre die militärische Macht eines Staates nach
festem Gesetz, damit sie in diesem und nicht in der Gnade des Königs die
Stützen ihrer Existenz finde, dann aber vermehre man ihre innere Stärke, so¬
weit die Mittel des Staats dies irgend zulassen, das erscheint als das einzig
Richtige. Den Staat aber zu verbessern, indem man seine Heeresmacht mög¬
lichst zu schwächen sucht, heißt den Staat selber schwächen, führt nothgedrungen
zum Untergang desselben.
Wer in Preußen eine kräftige Militärmacht für nothwendig erachtet und
doch die Verkürzung der Dienstzeit erstrebt, muß deshalb einen Ersatz für den
hieraus folgenden geringern Grad der Ausbildung wollen; diesen bietet nichts
in dem Maße wie die Gründung stehender Lager. Der Vollheit, daß auch die
Generale eine ihnen sonst nicht gebotene Gelegenheit zu ihrer Ausbildung :c.
erhalten, würde damit außerdem gewährt und die augenblickliche Schlagfertigkeit
des Heeres bedeutend erhöht werden.
Reducirt man die Stärke der preußischen Infanterie um einen Jahrgang
Leute, was ja die Folge einer Reduction der Dienstzeit von drei auf zwei Jahr
sein würde, so bleibt die Armee etwas über 100,000 Köpfe stark und soll jeder
Soldat einmal im Lager zubringen, so bedürften wir für die Infanterie allein
einer Lagereinrichtung für circa 50,000 Mann; mit dem dritten Theil der an¬
dern Waffen gäbe dies ein Erforderniß von 66,000 Mann. — Die Franzosen
haben zwar nur Lagereinrichtungen für circa 50,000 Mann, aber sie haben
permanente Kriegsverhältnisse in Algier und zur Zeit in Mexiko, und sie haben
eine Garnison von 80,000 Mann in Paris, welche in ihrem intensiven Nacht¬
dienst und in den steten großen Uebungen dort eine kriegerische Vorbildung
erhalten, wie in keiner unsrer Garnisonen. Die Franzosen besitzen aber auch
durch ihr Stellvertretungswesen sehr viel mehr alte Soldaten als wir, und bei
ihnen gilt die Dienstzeit von 7 Jahren, von denen der Einzelne mindestens
5 Jahre bei der Fahne ist.
Folgen wir nun der oben angedeuteten Berechnung der Unkosten des Lagers
von Chalons, so ergeben sich incl. der Zinsen für das aufgewandte Capital
für 30.000 Mann jährlich ungefähr 300,000 Thlr., also für 66,000 Mann
660,000 Thlr.; der diesjährige Staatshaushaltsetat Preußens wirft für Ma-
növeruntvsten und Vorspann 211,000 Thlr. aus; es würde also durch das
Lager ein Mehr von 450,000 Thlr. gefordert. Dieses Mehr wird an sich auf¬
gehoben durch die verbesserte Ausbildung der Armee und durch die Verringerung
der Dienstzeit, welche den Präsenzstand um 50,000 Mann vermindert und die
arbeitende Bevölkerung um ebenso viel erhöht. Der gemeine Soldat kostet
dem Staat jährlich ungefähr 80 Thlr., ergiebt also eine positive Ersparniß
von 4 Mill. Thlr.. von denen Mill. für die Lager verwandt werden könnte.
Diese würden ungefähr in folgender Weise über die Monarchie verbreitet
werden können: bei Frankfurt a. O. aus den schon angeführten Gründen für
40,000 Mann; bei Köln und zwar östlich davon im Ober« Bergischen für
18.000 Mann und in der Gegend von Pr. Stargardt für 8000 Mann. An
allen drei Punkten finden sich noch große Flächen, die heute nur einen Werth
von 20 Thlr. der Morgen haben. — Bei Stargardt und Frankfurt ist noch so
viel siscalisches Land, daß das ganze Territorium zum größten Theil aus ihm
entnommen werden könnte. Das Anlagecapital würde also um so viel geringer.
Je rascher damit vorgegangen wird, desto billiger ist es, und desto früher tritt
die Armee in die Vortheile der Lagererziehung.
Das Original für den Hauptinhalt ist das Beiblatt zum „Economist" vom
Ü. März d. I. Die deutsche Bearbeitung wird auch über kaufmännische Kreise
hinaus Manchem in einzelnen ihrer Capitel von Interesse sein; da sie einerseits
Fragen von so allgemeiner Wichtigkeit, wie die Gold- und Silbcrproduction, den
Abfluß des Silbers nach Osten und die daraus entstehenden Verlegenheiten für die
Geldmärkte Europas, sowie die große Baumwollenkrisis vom Herbst v, I. eingehend
bespricht und andrerseits durch ihre Tabellen einen neuen Beleg für den gewaltigen
Aufschwung giebt, den der Handel, die Industrie und der Verbrauch Großbritanniens
fut Einführung des Freihandelsprincips genommen haben. Die im Anhang mitge¬
theilte Denkschrift der englischen Regierung über europäische Tarife verdient im
Hinblick auf die bevorstehenden Handelsverträge Englands mit dem deutschen Zoll¬
verein und mit Oestreich besondere Aufmerksamkeit, und die ebenfalls im Anhang
Agenten Tabellen über den Werth der Einfuhr, den gesammten Wechselverkehr und
den Gesammtumsatz Hamburgs in den letzten zehn Jahren, sowie Fonds. Wechsel-
Umlauf und Disconto der dortigen Bank im gleichen Zeitraum vermehren das hier
gebotene, besonders für' volkswirthschaftliche Schriftsteller werthvolle statistische Ma¬
terial wesentlich.
In einer Einleitung giebt der Verfasser eine kurze, aber ungemein klare Ueber¬
sicht über die Handelsgeschichte des letztverflossenen Jahres. Dieselbe wurde theils
durch Umstände finanzieller und commerzicller, theils durch Ursachen politischer Natur
bestimmt. Jene Umstände waren erstens der Druck auf den Geldmarkt zu drei ver¬
schiedenen Perioden: im Januar und Februar, als der niedrigste Diskontosatz der
Bank von England drei Wochen hindurch 8 Procent betrug, im April und Mai,
-als derselbe vierzehn Tage lang 9 Procent stand, und im September und October,
in welchen Monaten der Zinsfuß wieder 9 Procent betrug. Zweitens fand neben
diesem Druck auf den Geldmarkt im verflossenen Jahre zu wiederholten Malen eine
große Thätigkeit in der Begründung neuer Acticnunternehmungcn und in der Be-
th.iligung bei auswärtigen Anleihen statt. Drittens endlich wurden am Schlüsse
des Jahres die wirklichen Resultate der Geschäftsführung der verschiedenen Actien-
gesellschaften bekannt, die 1863 unter Voraussetzung hoher Dividenden begründet
worden waren, Resultate, die diesen Voraussetzungen nur zum Theil entsprachen.
Der erste Druck auf den Geldmarkt, im Januar und Februar, wurde lediglich
durch den Gold- und Silbcrabfluß nach der Levante und Ostindien, vorzüglich für
die Bezahlung von Baumwolle, veranlaßt. Der zweite, im April und Mai, wurde
gleichfalls zum Theil durch Zahlungen für Baumwolle, noch mehr aber durch das
Mißtrauen hervorgerufen, welches das Auftreten immer neuer Actienprojcctc und die
Capitalcinzahlungen für die im Jahre 1863 schon in großer Menge begründeten
derartigen Unternehmungen aus dem Geldmarkte veranlaßten. Der dritte Druck
endlich, im September, October und November, war ein weit bedeutenderer als der
in den beiden vorhergehenden Perioden. Hauptursache desselben war das infolge der
Aussicht auf baldigen Frieden in Amerika plötzlich eintretende starke Fallen der
Baumwollcnpreise, die daraus entstandenen Verluste und der sich kundgebende Miß-
crcdit in verschiedenen Geschäftsbranchen, namentlich in Liverpool und Manchester
und im ostindischen Geschäft. Nicht unerheblich wurde dieser Druck durch die im
Vergleich mit den in den ersten Monaten des Jahres gemachten Einzahlungen weit
bedeutenderen Capitalanforderungcn für die neuen Actienunternehmungcn gesteigert.
Die in Betracht kommenden politischen Ursachen der Vorgänge auf dem Gebiete
des englischen Handels waren erstens die in den ersten fünf Monaten des Jahres
infolge des Schleswig-holsteinischen Krieges entstandenen Befürchtungen und zweitens
die im August und September und am Schlüsse des Jahres durch die Wahrschein¬
lichkeit eines Friedensabschlusscs zwischen den Unioniste» und Conföderirten in Nord¬
amerika eingetretene Ungewißheit und Unsicherheit. Die infolge des schleswig-
holsteiniscken Krieges hervorgerufenen Verlegenheiten wurden aus den auswärtigen
Geldmärkten in einem weit höheren Grade als in England empfunden. Dennoch
übte die Ungewißheit, so lange noch ein Zweifel bestand, ob England über die Er-
theilung diplomatischen Raths hinausgehen würde, einen höchst nachtheiligen Einfluß
aus. Der am 7. Juli von dem Unterhause gefaßte Beschluß, welcher mit einer
Majorität von 18 Stimmen die von dem Ministerium Palmerston eingeschlagene
Nichtintcrventionspolitit billigte, brachte diese Frage zu einem endgültigen Abschlüsse,
aber schon im März und April hatte sich ziemlich deutlich herausgestellt; daß weder
England noch Frankreich sich activ an dem Kriege betheiligen würden.
Im Juli erregte das Auftreten einer mächtigen Friedenspartci im Norden der
Union die öffentliche Aufmerksamkeit, und die gleich darauf abseiten der Chicago-Con¬
vention folgende Annahme von Vorschlägen, die der Unterhandlung mit dem Süden
günstig waren, ließen während mehrerer Wochen die Ansichten derjenigen, welche
behaupteten, daß bei beiden kriegführenden Theilen der Wunsch nach Frieden vor¬
herrsche, als richtig erscheinen. Die Weigerung des Generals Me Clellan, auf Grund
der Chicago-Resolutionen die Kandidatur für die Präsidentenwahl anzunehmen, und
die militärischen Erfolge der Sherman'schen Armee in Atlanta zerstörten jedoch voll¬
ständig die Hoffnungen auf Frieden und sicherten die beinahe einstimmige Wieder¬
wahl Lincolns. In England wirkten diese Ereignisse nach verschiedenen Richtungen.
Einmal wurde nothwendig, die mögliche Wirkung .eines Friedcnsabschlusscs auf die
politischen Beziehungen Großbritanniens zu der Union, namentlich in Bezug auf
Canada, in Erwägung zu ziehen. Die wiederholten und heftigen Aussprüche in
Bezug auf die trotz der Wachsamkeit der Polizei aus englischen Häfen ausgelaufenen
conföderirtcn Kaper, welche die Unionsstaatsmänncr, wenn auch nicht geradezu selbst
gethan, doch jedenfalls gebilligt hatten, berechtigten zu dem Schlüsse, daß möglicher¬
weis« das Verlangen der durch Beendigung der inneren Zwistigkeiten zur Unthätig«
keit verurtheilten großen Heeresmassen nach einem Kriege mit England zu mächtig
sein werde, um zurückgewiesen werden zu können. Zweitens mußte der Frieden in
Amerika eine bedeutende Aenderung auf längere Zeit in den Handelsbeziehungen
Englands mit so wichtigen Ländern wie Ostindien, Acgypten, Brasilien und den
Vereinigten Staaten selbst zu Wege bringen; die Baumwollindustrie mußte sich die¬
sen Verhältnissen gemäß sowohl in Bezug auf den Preis des Rohmaterials wie auf
die Fabrikation ganz neu einrichten.
Die großartigen Fortschritte der Naturwissenschaften und der neuen Wissenschaft
vergleichender Sprachforschung haben in den letzten Jahrzehnten die Völkerkunde so
wesentlich bereichert und theilweise so wesentlich umgestaltet, daß eine Zusammen¬
fassung des Materials, welches sie jetzt beherrscht, von kundiger Hand in der That
bringendes Bedürfniß auch für weitere Kreise war. Wenige waren dazu so berufen,
wie der Verfasser des vorliegende» Werkes, der seiner Aufgabe nicht nur das aus¬
gebreitete und gründliche Wissen eines echten Gelehrten, sondern auch die Gabe
entgegenbrachte, durch geschickte Gruppirung des massenhaften Stoffs und durch
lebendige Darstellung den Gegenstand seiner Betrachtung einem Leserkreise verständlich
Und anziehend zu machen, welcher außerhalb der Wissenschaft steht. Allerdings ist
d>e Behandlung der einzelnen Abschnitte etwas ungleich, Manches ausgeführt und
gefärbt, Manches dagegen nur Skizze, auch wird sich gegen das System, nach
welchem der Verfasser verfährt, Verschiedenes einwenden lassen, als Ganzes aber
verdient das Werk mit der reichen Belehrung, die es gewährt, warme Empfehlung.
Dies gilt vorzüglich von der ersten Hälfte, welche den Leser in die wichtigsten
ethnographischen Fragen einführt.
Nach einer Einleitung, die eine allgemein« Uebersicht über die Einteilung der
Völker und Sprachen giebt, betrachtet der Verfasser das Leben und die Grenzmarken
der verschiedenen Völkerindividuen in ihren Einzelheiten. Das äußerlichste Merkmal
bilden ihm die Namen der Völker, nach welchen auch die Eigennamen überhaupt in
ihrer Bedeutung für die Ethnographie gewürdigt werden. Dann untersucht das
Werk das innerlichste und wichtigste Merkmal der Abstammung, Denkweise und Aus¬
bildung der Völker, die Sprache, >in ebenso ausführlicher als anziehender Weise
— eines der interessantesten Capitel des Buches. In der weiteren Zergliederung
der Volksnatur wird dieselbe dualistisch, als Leib und Seele, zugleich aber als ein¬
heitliche Gliederung, als Organismus betrachtet, dessen verschiedene Thätigkeiten sich
wechselseitig bedingen. Zuerst giebt dem zufolge der Verfasser einen Abriß der
Physiologie der Menschheit: Blicke auf die körperlichen Hauptmerkmale der ver¬
schiedenen Menschenarten, die urangeborcncn und die durch äußere Einflüsse, Klima,
Boden. Nahrung u. s. w. entstandenen, auf die Racen. ihre Artungen und
Mischungen, auf die Menschen vorgeschichtlicher Perioden, auf die Stellung des
Menschen zu der Thierwelt und der ganzen ihn umgebenden Natur — eine in
neuester Zeit vielbesprochene Aufgabe. Dann wird die Psychologie der Menschheit
mit Rücksicht auf Verschiedenheit der Racen und der äußern Lcbensfactoren in großen
Zügen vorgetragen, wobei vorzüglich die Einflüsse besprochen werden, welche die
Wanderungen und die vielfachen Berührungen der Stämme und Völker mit einander
auf ihre geistigen Kräfte ausüben. Von der zu Grunde liegenden Volksnatur
geht der Verfasser auf das Volksleben in seinen thatsächlichen Aeußerungen über,
um die letzteren wieder, soweit möglich, getrennt als leibliche und geistige, mehr
äußerliche und mehr innerliche zu betrachten. Unter die leiblichen und äußerlichen
Lebensäußerungen fallen Nahrung, Tracht und Wohnung, das mehr innerliche Volks¬
leben dagegen umfaßt die Anschauungen und Einrichtungen, welche wir größten-
theils mit dem Ausdruck Sitte bezeichnen, Familie, Verhältniß beider Geschlechter,
gesellschaftliche Umgangsformen, Religion, RcchtSbrauch in Volk und Staat, Stände,
Kasten u. f. w. Als drittes wird dann die Volksthätigkeit in ihren wichtigsten
Richtungen und in ihrer Wechselwirkung mit der Geschichte sowie mit ihren eignen
Ergebnisse», dem Wohlstand und der Bildung der Völker betrachtet. Auch die Volksthätig-
kcit theilt der Verfasser wieder in eine mehr äußerliche und eine mehr innerliche.
Doch sind Ausdrücke wie Volksuatur, Volksleben und Volksthätigkeit nur freigewählte
Grcnzbezcichnungcn für Dinge, die vielfach ineinander verfließen, sich mindestens in
der Wirklichkeit noch weniger streng scheiden, als in der Darstellung des Verfassers.
Dasselbe gilt von der Eintheilung nach Aeußerlichkeit und Innerlichkeit, weil das
Aeußere und Innere, das Leibliche und Geistige überall nur die polaren Richtungen
innerhalb eines Lebens, Wesens und Organismus sind. Unter der Rubrik äußerlicher
Volksthätigkeit behandelt das Werk namentlich die Lebensweise ganzer Völkerschaften
als Jäger, Hirten, Fischer, Ackerbauer, die sich theils nach wechselnder Oertlichkeit,
theils nach Bildungszciträumcn ändert. Dieser Abschnitt bespricht auch die friedliche
oder kriegerische Stellung der Völker und Racen zu einander, dann das Verhältniß
der menschlichen Thätigkeit zur Thierwelt, die Jagd und die Zähmung und Züchtung
der Thiere. Die Thätigkeit der äußern Selbsterhaltung entwickelt und steigert sich
zum Gewerbfleiße, und so werden hier Industrie und Handel, die technische Be..
Nutzung der Stoffe und Kräfte in der Natur und die Verkehrsmittel in Betracht
gezogen. In den Benennungen der Elemente und Producte, der Thiere. Pflanzen
und Mineralien, die in diesem Abschnitt zur Sprache kommen, finden wir mit dem
Verfasser einen sprachlich-ethnologischen Wegweiser.
Die mehr innerliche Volksthätigkcit ist das gewöhnlich durch die Ausdrücke
Bildung und Culturgeschichte bezeichnete Gebiet, welches im weiteren Sinne auch die
vom Verfasser in dem Abschnitt über Volksleben behandelte Sitten-, Religions-,
Kirchen- und Staatsgeschichte umfaßt, hier aber ihm im engern Sinne zunächst die
Literatur- und Kunstgeschichte bedeutet und zugleich die Volkserziehung mit ihren
Unterrichtsanstalten umschließt. Hat er vorher die Sprache nach ihrem Organismus
als Zweck an sich behandelt, so tritt sie hier in größerer Ausdehnung vor uns als
Mittel zum Zweck, als ausgebildetes Organ für alle Gebiete des Denkens und Fühlens.
Mit der Kulturgeschichte in diesem engern Sinn beschäftigt sich die zweite Hälfte des
Buches. Sie zeichnet, immer vom ethnologischen Standpunkt ausgehend, die Thätig¬
keit der bedeutenderen Culturvölker zunächst in Dichtung und Wissenschaft, dann in
der Tonkunst und den bildenden Künsten.
Außergewöhnliche Reichhaltigkeit und durchgängige Gediegenheit bei geschickter
Anordnung mußten dieser Arbeit die allgemeine Theilnahme der Freunde geographischen
Wissens zuführen. Das Völkerleben aber schreitet fort und ebenso die Wissenschaft,
Und so konnte es nicht fehlen, daß die rasch auf die erste folgende Auflage in ver¬
schiedenen Beziehungen wesentlicher Aenderungen und Zusätze bedürfte. Der Verfasser
'se diesem Bedürfniß, soweit die neue Auflage vorliegt, mit Sorgfalt nachgekommen.
Selbstverständlich waren Verbesserungen, Nachträge und andere Umgestaltungen
hauptsächlich bei dem zweiten Theile des Werkes nothwendig, da die physische Geo¬
graphie nur durch die langsame Arbeit von Reisenden und Gelehrten umgestaltet
^>rd und die politische Geographie der nichtcuropciischcn Länder, Theile Amerikas
ausgenommen, von dem geschichtlichen Leben nicht so start berührt wird als Europa,
Mittelpunkt und Hauptherd dieses Lebens, und so erklärt sichs, daß jener zweite
Theil zuerst in Angriff genommen wurde. Sehen wir uns die beiden Auflagen
vergleichend an, soweit die zweite vollende ist, so haben zunächst die meisten Zahlen-
Angaben eine den Resultaten der letzten statistischen Untersuchungen entsprechende
Veränderung erfahren. Ferner sind namentlich die Uebersicht- und Eintheilungs-
tabcllen sowie die Abschnitte, welche die Production der Länder betreffen, dem jetzigen
Standpunkte unserer Kenntnisse angemessen modificirt worden. Besonders zahlreich
sind die eingestreuten Verbesserungen bei Spanien, und bei Italien ist der vollständigen
Umgestaltung dieses Gebiets in politischer Hinsicht die erforderliche Aufmerksamkeit
zugewendet worden. Endlich hat der Verfasser den einzelnen Ländern einen Literatur¬
nachweis vorausgeschickt, welcher die wichtigsten vorhandenen Werke, vorzüglich aus
neuerer Zeit, anführt, und den wir als Angabe der Quellen zu betrachten haben
werden, aus denen geschöpft worden ist.
Auf Anregung von „rechtskundigen Freunden der Herzogthümer Schleswig-Hol¬
stein" gegründet, zu denen der Herausgeber eine „freundnachbarliche Stellung" ein¬
nimmt, will diese Zeitschrift die für das politische Leben unsrer Nation bedeutsamen
Fragen des öffentlichen Rechts nach strengwissenschaftlichen Grundsätzen untersuchen
und „in diesen verhängnißvollen Zeiten eines Uebergangs von Epoche zu Epoche"
für die Würdigung der rechtlichen Seite des politischen Lebens eine offene Stätte
darbieten, „damit der Willkür ein Ziel gesetzt und der Macht die sittliche Weihe wie¬
dergegeben werde, welche nur die Unverbrüchlichkeit des Rechts gewähren kann".
Das erste Hast enthält folgende Abhandlungen: Ueber die Theilbarkeit deutscher
Staatsgebiete, von Prof. v. Gerber. — Enthält der Art. 16 der deutschen Bundes-
acte auch eine Garantie der freien und öffentlichen Religionsübung für die christ¬
lichen Religionsparteien? von Zachariä — Ueber die geschichtliche Entwickelung des
deutschen Thronfolgcrechts, von Prof. Held in Würzburg — Gegen eine gewisse
Einseitigkeit im akademischen Rcchtsstudinm, vom Herausgeber — Die preußischen
Erbansprüchc auf Schleswig-Holstein und Herr Professor Helwig, von Waitz. Mit
den Auslassungen des letztgenannten sehr sicher auftretenden Aufsatzes vergleiche man
die für Preußens Neckt sich aussprechenden Schriften: „Preußens altes Recht
an Schleswig-Holstein. Berlin, 1865. Verlag der k. Geh. Oberhofbuchdru¬
ckerei, 2l0 S. 8 und „Rechtliche Bedenken, betreffend die Ansprüche
auf Succession in die Herzogthümer Holstein, Schleswig und Lauen¬
burg. Separatabdruck aus den Jahrb. für Gesellschaft«- und Staatswisscnschafte».
Herausgegeben von Prof. Dr. I. C. GlajVr. Berlin, Selbstverlag des Heraus¬
gebers. 1865. 86. S. Lexikonformat.
Die erste Reise nach Peru wurde von Markham zu dem Zwecke unternommen,
die großartige Natur des Landes, das gesellschaftliche Leben seiner Hauptstädte, die
Zustände der indianischen Bevölkerung, die Geschichte Perus in alter und neuer Zeit
und die fast ganz unbekannte Literatur der Quichuasprache zu studiren. Das Werk,
das aus diesen Studien hervorging, verräth eine Kennerschaft peruanischer Zustände,
die bis dahin in Europa kaum vorgekommen. Die zweite Reise, von der englischen
Regierung veranlaßt, hatte zum Hauptzweck, die Natur der Chinchonabäumc, welche
die Chinarinde liefern, genau kennen zu lernen und solche Bäume aus der Gegend
im Osten der Cordilleren. wo sie vorzüglich wachsen, zur Anpflanzung nach Ostin¬
dien auszuführen. Gelehrte werden die Reisebeschreibungen Markhains selbstverständ¬
lich im Original lesen. Hier haben wir einen ausführlichen, nach dem Interesse
des größeren Publikums eingerichteten Auszug vor uns, der in manchen Punkten
besser geordnet sein könnte, sonst aber, besonders über die alte» und die jetzigen
Bewohner Perus viel Interessantes enthält. Vorzüglich wird das fünfte Capitel
die Leser anziehen, welches sich über die alte Sprache und Literatur des Znkavolkes
verbreitet und in einem ausführlichen Auszug aus dem Drama Apu-Ollontay
(Ollontay war ein peruanischer Held und Nebenbuhler des Inka Pachacutec) sowie
in verschiedenen lyrischen Gedichten den Beweis liefert, welche hohe Stufe das geistige
Leben des Volkes von Kuzco vor dem Einbruch der spanischen Eroberer erreicht
hatte.
Vertheidige die in der vor zwei Jahren erschienenen Schrift Reyschcrs „Die
Rechte des Staats an den Domänen und Kammergütern" ausgesprochnen Meinungen
Legen die seitdem dagegen ausgetretnen Recensenten, die für das Verfahren der mei-
"ingcnschcn Negierung zu Felde zogen. Die Widerlegung des zövflschen und des
iachariäschen Angriffs bewegt sich zunächst auf dem Boden des gemeinen Rechts,
^e Erwiderung auf die Auslassungen des Anonymus auf dem der Particularrechte.
D>e Prüfung der Gründe, mit denen der Verfasser seine Ansichten aufrecht erhält,
gehört in eine fachwissenschaftlichc Zeitschrift. Hier nur so viel, daß es auch materiell
großer Wichtigkeit ist, daß die Partei der Stände, deren Sache hier geführt
Kurt. Recht behält. Die Einnahmen aus den Domänen Meiningcns (letztere haben
°>«en Werth von etwa 30 Millionen Gulden) beliefen sich 1331/32 auf 516.921.
^um 1860/61 auf 936,922. und 1861/62 auf 920,186 Fi., und während in
^in zuerst genannten Finanzjahr nach Abtragung des Hofbedarfs und der ,.sonst
abliegenden Leistungen" el» Ausfall von 21,254 Fi. vorhanden war, betrug der
Überschuß 1860/61 nicht weniger als 171,389 Fi.. ja jetzt wird derselbe auf
2v0,vo(> Fi. berechnet. Wenn im Jahre 1871 dem Tilgungsplcinc gemäß die altere,
Domäne.n und Lcmdcsschuld geschiedene Staatsschuld völlig abgetragen ist, so
^'rd sich der Stand der Domäncnkassc infolge des Wegfalls der Zins - und Tilgungs¬
rate von mehr als 80,000 Fi., noch günstiger stellen. Die Domänen werden dann
schuldenfrei, das Land dagegen wird mit einer neuen nicht unerheblichen Schuld be¬
lastet sei», welche nicht auf den Domänen ruht, und zu deren Verzinsung und
Amortisation die letzteren nicht mehr beitragen als jedes andere Grundeigenthum
°es Herzogthums.
Der Verfasser hat. als Landwchroffizicr zum ersten schlesischen Grcnadierregimcnt
Ur. 10. commandirt, den vorjährigen Feldzug der Preußen in Jütland mitgemacht,
bei dieser Gelegenheit einen großen Theil des Landes durchwandert, in den meisten
jütischen Städten und vielen Dörfern längere oder kürzere Zeit gelebt und das, was
ihm Autopsie verschaffte, mit allerlei literarischen Studien zu einem Ganzen verbunden,
welches mancherlei Neues, wenigstens für uns Deutsche, enthält. Aus dem zweiten
seiner Abschnitte theilten diese Blätter vor Erscheinen des Buches das Wissenswertheste
über die Bewohner Jütlands mit. Das erste Capitel bespricht die natürliche Be¬
schaffenheit, das dritte die staatlichen Einrichtungen, das vierte die Städte und
Landschaften Jütlands diesseits und jenseits des Lymfjord, Das Schlußcapitel bringt
einen Abriß der Geschichte dieser dänischen Provinz bis zu Ende des letzten deutsch¬
dänischen Krieges.
Die zahlreichen Illustrationen (Holzschnitte) sind großentheils recht hübsch. Der
Text dagegen ist leichte Waare, weder besonders belehrend, noch besonders unter¬
haltend. Die eingestreuten Gedichte, meist in Verse gebrachte Sagen, erhöhen den
Werth des Buches als ziemlich wässrige Producte auch nicht.
Der Inhalt dieser Charakteristiken ist gut, obwohl nicht grade in allen Stücken
neu, der Ton, in dem der Verfasser spricht, ist ein gesucht naiver, der sich bisweilen
dem Läppischen nähert, dann aber wieder in sentimentale oder blümelnde Wendungen
verfällt. Schreibe man doch wie man in guter Gesellschaft spricht ; man wird weit
mehr Lesern zu Dank schreiben als mit dieser grade in Populären Darstellungen
von Dingen der Natur heutzutage Mode gewordenen Manier.
Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika (177b bi« 1783) von Friedrich
Kapp. Berlin, Verlag von Franz Duncker. 1364. 299 S. 8.
Wenn der Verfasser der obigen Schrift sich die Aufgabe stellt, „schonungs¬
los die Schmach aufzudecken, welche die Kleinstaaterei auf unser Volk gehäuft
hat. an den Auswüchsen des Systems dessen Verderblichkeit für Deutschland
nachzuweisen und die Nation dadurch anzuspornen, daß sie sich um jeden Preis
aus diesem Labyrinth befreie", so finden wir diese Absicht durchaus zeitgemäß,
und auch der zur Erreichung derselben eingeschlagne Weg wird, näher besehen,
im Ganzen als der rechte erscheinen. Zwar werden Liebhaber und bestellte
Vertheidiger des gedachten Systems rasch mit dem EinWurf bei der Hand sein,
daß man mit „Auswüchsen" nichts beweise, daß die hier (beiläufig nach fast
ausnahmslos guten Quellen*), mit zahlreichen noch unbekannten Details und in
sehr anschaulicher Weise) geschilderte Menschenvermäkelung vor fast hundert Jahren
stattgefunden habe, wo nicht blos die Höfe, sondern auch die Masse des Volks
Recht und Pflicht ganz anders aufgefaßt hätten als heutzutage, daß Enkel nicht
für die Sünden ihrer Großväter verantwortlich gemacht werden dürften, und
daß Abscheulichkeiten wie die hier dargestellten jetzt nicht blos nicht mehr ge¬
schehen, sondern auch nicht mehr beabsichtigt werden könnten. Wir aber sind
in der Hauptsache andrer Meinung. Allerdings wird mit Auswüchsen eines
Gegenstandes nichts für die Natur desselben bewiesen, aber dies ist nur einer
von den nicht glücklich gewählten Ausdrücken des Verfassers. Jene Schmutz,
flecken auf der deutschen Geschichte waren Ausflüsse, waren natürliche Symp¬
tome der Krankheit der Kleinstaaterei, die um die Mitte des vorigen SäculumS,
durch keinen Volkswillen gemäßigt, in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht
hatte, und der damit verbundenen Anschauung, daß das Land als Domäne
der herrschenden Familie, das Volk, etwa wie das Wild in den Forsten, gleich-
falls als Besitztum dieser Familie zu behandeln sei — Ausflüsse einer An-
schauung, die in Kleinstaaten eben ihrer Kleinheit halber, bei welcher das Land
als großes Rittergut erscheint, das Volk nicht imponirt, fast naturgemäß, min¬
destens sehr erklärlich ist.
Sehr ^richtig, das neunzehnte Jahrhundert will nicht gestatten, daß ein Sou¬
verän seiner unklugen Meinung über das Verhältniß von Fürst und Volk ganz
in dem Stile, ganz so direct und ungescheut Folge giebt wie früher. Zwischen
ihm und dem achtzehnten liegt die französische Revolution mit ihren Lehren,
die auch an den Höfen nicht völlig unbeherzigt vorübergegangen sind. Allein
noch die Jahre 1806 bis 1813 sahen die Söhne thun, was die Väter gethan,
als sie zu rein persönlichen Zwecken, aus nur egoistischen Gründen einer fremden
Macht die Kinder ihres Landes zur Verfügung gestellt. Der Handel hatte jetzt
freilich eine etwas andere Gestalt, die auf den ersten Blick nicht so unreinlich
aussah als die des früheren: England hatte die Menschenlieferungen in Thalern
honorirt, Frankreich gab statt deren Fetzen deutscher Länderbeute und Königs¬
titel, die Schlachtbank hatte einst Amerika geheißen, jetzt lag sie näher, diesseit
des Meeres, in Oestreich, Preußen und Rußland, der Kleinhandel mit dem
Leben der Unterthanen war vornehmer, war Großhandel geworden, endlich war
jetzt bisweilen einiger Zwang im Hintergrunde, während die Speculation im
achtzehnten Jahrhundert eine völlig-'freiwillige gewesen war — das ist aber
auch der ganze Unterschied.
Und die Gegenwart? Man thut klug, sie sich nicht allzuweit vorgeschritten
zu denken. Es ist wahr, wir tragen keine Zöpfe und Haarbeutel mehr, wir
haben Verfassungen, leidlich viel Preßfreiheit, Vereine, die gesinnungstüchtige
Resolutionen fassen dürfen, wir sehen deutsche Tricoloren wehen, sogar auf klein¬
staatlichen Fürstenschlössern. Allein in der Mehrzahl dieser Schlösser — darauf
können wir uns verlassen — wohnt, humaner, verschämter und ihrer Sache un¬
gewisser geworden zwar, im Kern und Wesen aber unverändert, noch diesen Tag
die alte Ueberzeugung, nach welcher das Interesse des Souveräns und seiner
Dynastie das oberste Gesetz für das Dichten und Trachten der Regierung zu
sein hat, und wenn wir wirklich annehmen dürfen, daß in Zukunft Handels¬
geschäfte ähnlicher Art, wie die deutscher Fürsten mit den englischen Staats¬
sekretären von 1773 und mit Napoleon unmöglich sein werden, so liegen die
Hauptgründe der Undenkbarkeit ohne Zweifel anderswo, als im Bereich der
Kleinstaaten und am wenigsten in der Hofatmosphäre derselben. Die kleinen
deutschen Fürsten müssen wegen ihrer Ausnahmestellung sein, was sie waren.
Sie können nicht wohl anders, selbst wenn sie wollten. Was vor hundert
Jahren von ihnen galt, gilt daher im Wesentlichen noch heute von ihnen. Sie
waren damals unbeschränkt, und sie sind jetzt einigermaßen beschränkt durch den
Volkswillen. Die Probe freilich, wie stark die Schranke ist, muß erst noch kommen,
zum Glück aber hat die deutsche Geschichte inzwischen noch ein anderes Correctiv
und eine zuverlässigere Garantie davor geschaffen, daß die Bäume wieder ein¬
mal in den Himmel wachsen — den deutschen Großstaat in Preußen.
Nachdem dies festgestellt ist, können wir allerdings mit einem gewissen Ge¬
fühl der Befriedigung auch auf den Fortschritt blicken, der sich zeigt, wenn
man die Form der Vorgänge, welche Kapps Schilderungen uns vorführen, mit
der Gegenwart vergleicht. Die Welt ist doch ein ganz rechtschaffnes Stück
weiter in die Sphäre der Humanität hineingerückt seitdem, und die „gute alte
Zeit", in die uns das Buch zurückschauen läßt, nimmt sich neben der unsern
in vielen Stücken mehr wie ein böser Traum als wie Wirklichkeit aus. Vieles
zwar ist seitdem noch möglich gewesen, und mehr vielleicht, als man meint, ist
noch jetzt möglich. Die schattige Geldgier aber, die ruchlose Verhöhnung aller
Menschenrechte, das hündische Schweifwedeln deutscher Zwergsouveräne vor den
Ministern einer fremden Großmacht, welchem wir hier begegnen, ist, in dem
Grade wenigstens, kaum mehr möglich, und noch sicherer ist, daß die stumpf¬
sinnige Sklavengeduld der Völker, die alle diese Elendigkeiten ertrug, einem
Geschlechte angehört, von dem das unsre erheblich, wenn auch wohl noch nicht
weit genug verschieden ist.
Wir lassen, um das zu zeigen, die Schatten der Landesväter, die sich an
jenem Handel betheiligt, rasch an uns vorübergehen und greifen uns schließlich
einen der anmuthigen Gesellschaft zu genauerer Betrachtung heraus. Die Tra¬
gödie — für uns Unbetheiligte stellenweise Tragikomödie — beginnt mit einer
Verlegenheit: England braucht Soldaten zur Bekämpfung der Rebellen in den
nordamerikanischen Colonien, und die drei Königreiche Sr. großbritannischen
Majestät liefern deren nicht genug. Was thun? Man denkt an Rußland, läßt
sondiren, unterstützt das darauf folgende Gesuch um ein Hilfscorps durch einen
eigenhändigen Brief Georgs des Dritten an die Kaiserin Katharina und wird
abgewiesen, ja obendrein von den hochmütigen Barbaren verhöhnt. Man
wendet sich an Holland, und wieder läßt sich kein Geschäft machen. Dagegen
kommen von verschiedenen deutschen Höfen Briefe mit eifrigen Anerbietungen
militärischer Gefälligkeit gegen ein gutes Stück Geld an, und kaum hat man
die Blicke nach dieser Seite gewendet, so hat man auch schon ein halb Dutzend
kleiner Herren hinter sich am Rockschoß, die mehr oder minder zu brauchen sind, und
die sich um Aufträge in Menschcnwaare förmlich reißen. Sehen wir uns das einmal
«n. Ein Oberst Faucitt schließt im Auftrag Lord Suffolks, des englischen
Ministers des Auswärtigen die Lieferungsverträge ab. Uorke, der Gesandte
Großbritanniens im Haag, hilft gelegentlich als Vermittler den Wünschen der
nach Guineen hungernden Serenissimi zum Ziele. Faucitt kommt zunächst nach
Braun schweig. Herzog ist hier Karl der Erste, ein alter prachtliebender,
liederlicher und gründlich verschuldeter Herr, dem italienische Oper, französisches
Ballet, Maitressen, Militärspielerei und Geldmacherei ungeheure Summen ver-
schlingen, und der für den Abenteurer Nicolini. seinen Theaterdirector und Hof¬
kuppler, jährlich 30,000, für Lessing jährlich 300 Thaler übrig hat. Neben
ihm regiert der Erbprinz Ferdinand, nicht viel besser als der Vater, nur weniger
verschwenderisch und viel klüger. V?it ihm hat Faucitt zu thun, und an ihm
findet er bei der Unterhandlung seinen Meister. Nach einigem Feilschen wird
ein für die herzogliche Kasse recht günstiger Contract abgeschlossen: Braunschweig
liefert 4,300 Soldaten und empfängt dafür zunächst pro Mann 30 Kronen
Wcrbegeld, dann jährlich, so lange die Leute in englischen Diensten stehen,
64,500 Kronen und von dem Tage an, wo sie in die Heimath zurückkehren,
zwei Jahre lang das Doppelte dieser einfachen Subsidie.
Zweiter Act. Faucitt reist nach Kassel, wo die Landgrafen schon seit
etwa hundert Jahren das Vermäkeln armirter Unterthanen und Landsleute als
regelmäßiges kaufmännisches Geschäft betreiben und sich wohl dabei befinden.
DaS ausgeführte Porträt des hier regierenden LandesbeglückerS betrachte man
sich bei Kapp S. 67 bis 59. Für uns genügt, zu wissen, daß Landgraf
Friedrich der Zweite ein nüchterner Rechner und ordnungsliebender Geschäfts¬
mann sowie ein Herr, der auf seine Würde hält, daneben aber ein rücksichts¬
loser Egoist, ein Liebhaber französischer Sitte und Unsitte, maßlos baulustig,
zeitgemäß liederlich in geschlechtlichen Dingen und Vater von etwa hundert
unehelichen Kindern ist. Der englische Unterhändler hat hier in dem Minister
v. Schliessen einen der geriebensten Diplomaten damaliger Zeit sich gegenüber,
der die Noth Englands vortrefflich auszubeuten weiß, und so werden jenem
schließlich noch ungünstigere Bedingungen ausgeredet als in Braunschweig, wofür
er freilich auch über 12,000 Mann der besten Truppen einhandelt. Daß bei
dem Handel die Excellenz Schliessen selbst nicht leer ausgeht, versteht sich von
selbst. Rührend ist, die landesväterliche Gnade zu beobachten, die sich infolge
deS gemachten vortrefflichen Geschäfts über Hessen ergießt: Serenissimus streicht
außer dem Betrag einer angeblichen Schuldforderung aus dem siebenjährigen
Kriege, der unter andern Umständen nicht zu erlangen gewesen wäre, für jeden
der auf die amerikanische Schlachtbank verhandelten Unterthanen zuerst 30 Kronen
Werbegeld, dann noch einmal 37^/, Kronen jährlicher Subsidie in seinen Säckel,
König Georg bezahlt und verpflegt außerdem selbstverständlich die Gemietheten
für die Dauer des Krieges, und dafür geruht der Landgraf huldreichst, seinen
getreuen Hessen die halbe Kriegscontribution zu erlassen. Das Volk freilich sieht
die Wohlthat nicht ein, es wandert aus, so viel es kann, und die Meinung:
„Sind wir todt, so sind wir davon- ist unter den Zurückvleibenden eine ge¬
meine Rede. Daher vermuthlich der Ausdruck „blinde Hessen".
Dritter Act. Schauplatz Hanau. Hauptperson neben Faucitt der Sohn
deS Landgrafen Friedrich, Erbprinz Wilhelm, der die Grafschaft Hanau als
selbständiges Fürstentum verwaltet. Er ist ein noch ziemlich junger Mann,
der alle Übeln Eigenschaften des Vaters, aber nicht eine seiner bessern besitzt,
eine rohe Unterofsiziersnatur, grob sinnlich, aller persönlichen Würde baar, Feind
jeder Bildung, über die Maßen geldgierig, derselbe, der später als Kurfürst
Stein um Entschuldigung bitten mußte, daß er sich unterstanden, ihm einen
Orden anzubieten, und der 1814 den Hessen den abgeschnittenen Zopf wieder
aufzwang. Er spielt Faucitt gegenüber eine Rolle, die sehr von der seines
Vaters absticht. Sein Bestreben geht scheinbar nur dahin, dem König Georg,
seinem „hochherzigen Beschützer und erhabenen Herrn" zu gefallen, und so bietet
er anfangs, was er hat, ganz umsonst an, natürlich nur, um von seinem reichen
Patron den doppelten und dreifachen Kaufpreis als Geschenk zu erhalten.
Kaum giebt eS — man vergleiche S. 230, 243, 244 und 245 die betreffenden
Schreiben — eine unterwürfige Wendung in der englischen und französischen
Sprache, deren sich der Prinz in seinem Briefwechsel mit Georg und Suffolk
nicht bediente, um sich in deren Wohlwollen hineinzuwinden. Der alte Land¬
graf, so sehr er feilscht und martlet, wahrt wenigstens seine persönliche Automat
und imponirt sogar den Engländern durch knappes und schroffes Wesen, der
Sohn dagegen erniedrigt sich selbst um des kleinsten Vortheils willen zum
Willenlosen kriechenden Supplicanten. Er liefert schließlich ein Infanterieregi-
ment von 668 Mann nebst etwas Artillerie und streicht dafür ungefähr dasselbe
Blutgeld ein wie der braunschweiger Vetter. Uebrigens. was wahr ist, muß
auch hier wahr bleiben: England wird gut bedient, auch die Waare des Erb¬
prinzen ist preiswürdig, und auch er behält nicht den ganzen Prosit, den sie
bringt, sondern bewilligt wie der Herr Vater dem Lande einen Steuer-
Uachlgß für die Dauer des amerikanischen Krieges. Wie aber der Sohn noch
geiziger als sein würdiger Erzeuger ist, so erstreckt er auch seine Huld nicht auf.
^le Unterthanen, sondern nur auf die Eltern und Eheweiber der von seiner
Firma übers Meer versandten Soldaten und Unteroffiziere.
Der vierte Act spielt am Hofe zu Arolsen, der ebenfalls schon seit einem
Jahrhundert im Soldatenvermiethen Geschäfte gemacht und dabei seine Rechnung
Pfunden hat. Sein ältester und bester Kunde ist Holland, und nur bei beson-
^rs günstigen Conjuncturen deS Menschenmarkts überläßt man hier seine
Truppen an andere Mächte. Dieser Handel hat bisher den Chefs des Hauses
Waldeck die Mittel zu einem Auftreten gebracht, welches weit über das hinaus-
üwg, was ihr winziges Ländchen ihnen eintrug. Jetzt aber haben sie es zu
getrieben. Es ist tiefe Ebbe in der Schatulle des gnädigsten Herrn, und
^ hat Durchlaucht Friedrich den Ausbruch der amerikanischen Rebellion als
srohe Botschaft begrüßt und sofort sich in London bemüht, einen Auftrag auf
Truppenlieferungen zu erbitten. „Mit Leib und Seele dem Monarchen ergeben,
^sser Minister zu sein Sie das Glück haben" — so schreibt er am 13. No¬
vember 1776 an Suffolk — „halte ich es für meine Pflicht, was nur in meinen
schwachen Kräften steht, aufzubieten, um wenigstens meinen guten Willen zu
zeigen, wenn es sich um seinen Dienst handelt. Ich nehme mir deshalb die
Freiheit, Mylord, Sie gehorsamst zu ersuchen, Sr. Majestät versichern zu wollen,
daß im Fall irgendwelche Verhältnisse es nöthig machen, fremde Truppen an¬
zuwerben, ich es als eine große Gunst Ihrerseits (d. h. von Seiten der Majestät)
betrachten werde, wenn Sie ein Regiment von 600 Mann annimmt, das wie
sein Fürst vor Verlangen brennt, sich für Sie zu opfern." Suffolk nimmt denn
auch das Anerbieten an, Faucitt erscheint in Arolsen, aber es ergeben sich
Schwierigkeiten. Der gute Wille des Fürsten ist größer , als sein Vermögen.
Indeß zuletzt geht es, die Pfarrer Waldecks müssen von den Kanzeln herab
zum Eintritt in das Regiment auffordern*), was zur Completirung desselben
noch mangelt, wird in dem benachbarten Bisthum Hildesheim gestohlen, dann
schafft man die Leute mit berittenen Landjägern wie einen Haufen Sträflinge
an die Grenze und aus die Weserschiffe. Der Fürst aber bewahrt schmunzelnd
in seinem Documentenschrank einen Contract, in dem ihm 20,100 Kronen
Werbegeld, 25,050 Kronen jährlicher Substdien sowie 30 Kronen für jeden seiner
in Amerika etwa fallenden Unterthanen zugesichert sind.
Der Feldzug des Sommers 1776 war den englischen Waffen so günstig,
daß Suffolk sich nicht sehr beeilte, von den ihm nun auch von Seiten andrer
deutscher Fürsten zugehenden Truppenanerbietungen Gebrauch zu machen. Solche
Anerbietungen aber kamen in Menge, und die betreffenden Souveräne machten ein¬
ander — man lese S. 10S — oft in recht unanständig krämerhafter Weise
Concurrenz. Die katholischen, namentlich die geistlichen Reichsfürsten blieben
ihren alten Verbindungen mit Frankreich treu, und so konnte England nur mit
den protestantischen Verträge eingehen. Blos Bayern, das seit langen Jahren
schon sich zu verkaufen gewohnt war, wenn es einen fetten Profit zu schlucken
gab, wollte sich auch diesmal die Gelegenheit zu einem hübschen Gewinn nicht
entgehen lassen. Man lese, wie der alte Kurfürst den englischen Gesandten Elliott
anbettelte, und wie höhnisch dieser ihn abfertigte (S. 106). Der Kurfürst drückte
ihm wiederholt aufs wärmste seinen Wunsch aus, mit England Subsidiei"
Verträge einzugehen, und gab ihm aufs unzweideutigste zu verstehen, daß er sich
ihm in keiner Weise angenehmer machen könne, als durch Förderung dieses
Wunsches. Elliott that erstaunt und sagte, er habe geglaubt, Hoheit seien mit
Oestreich und Frankreich zu eng verbunden, als daß Sie ohne deren Zustim¬
mung Ihre Truppen vermiethen könnten. Der Kurfürst aber- erwiderte, „daß
es ihm ganz frei stehe, über seine Truppen in der ihm profitabelsten, seinen
Interessen entsprechendsten Weise zu verfügen"; dann bat er den Gesandten,
„seinen Ministern nichts von seinem Wunsche mitzutheilen, da er sich ohne die
Aussicht auf einen daraus herzuleitenden Vortheil der Unannehmlichkeit seines
Bekanntwerdens nicht aussetzen wolle". Da Elliott seinem Bericht über diese
Unterredung die Bemerkung hinzufügte, daß das bayerische Militär das schlech¬
teste sei, welches er in Deutschland gesehen (es war damals nächst dem päpst¬
lichen überhaupt das schlechteste in Europa), so reflectirte Suffolk nicht auf das
sehnliche Verlangen der Münchener Hoheit. Dagegen erhielt Faucitt Befehl,
sich mit Würtemberg und Brandenburg-Anspach in Verbindung zu setzen, die in
London ebenfalls Offerten gemacht hatten.
Es widersteht uns, die widerwärtigen Details, die über den Anspacher und
den Würtenberger nach Kapp mitzutheilen wären, auch nur so weit wieder¬
zugeben, wie die in den bisherigen Auszügen von den an'dern fürstlichen Seelen¬
verkäufern und Plusmachern gelieferten. Es genüge, zu sagen, daß beide
Potentaten „exessZivel? sassr" waren, ihre Truppen zu verborgen, und daß
Anspach im Februar 1777 einen Vertrag über Stellung von 1,28S Mann ab¬
schloß und dieselben richtig beschaffte, daß dagegen Würtemberg die 4000 Mann,
die es angeboten, weder aufzutreiben noch zu equipiren vermochte. Der Herzog
Karl Eugen, der berüchtigte Menschenquäler, der Peiniger von Moser und
Schubert, der halbtolle Verschwender, hatte sich ruinirt. Er besaß weder Waffen,
noch Uniformen; die Soldaten erhielten keine Löhnung, „damit sie nicht deser-
tirten", die Offizierszelte waren für die ländlichen Feste Serenissimi zerschnitten.
Man suchte Faucitt hinters Licht zu führen, er aber merkte die Absicht und
brach die Unterhandlungen ab. Aehnlich stand es mit Sachsen-Hildburghausen,
Gotha und Darmstadt. Auch hier der beste Wille, ein Geschäft zu machen,
über Mangel am Besten. Dagegen kam es noch zu einem Vertrag mit An-
halt.Zerbst.
Welche Mühe mehre der Truppenlieferanten hatten, ihre Waare den
Engländern zuzuführen, wie der Anspacher die seine selbst bis nach Holland
^gleiten mußte, wie der von ihm mit einer Dose beschenkte englische Oberst
Nainsford sich wunderte, daß die Diamanten daran echt waren, und den Herrn
Markgrafen „doch anständig" fand, wie es den verkauften Leuten auf der See
Mg, was sie in Amerika leisteten, wie infam sich der Braunschweiger in Be-
^ess seiner bei Saratoga in Gefangenschaft gerathenen Soldaten benahm, wie
b«s englische Parlament in der Debatte über diese Angelegenheiten die deutschen
Fürsten beurtheilte und ähnliches bitten wir bei Kapp selbst nachzulesen. Da-
üegen sei es erlaubt, den Lesern noch einen der fürstlichen Herren aus dieser
Gesellschaft zu zeigen, der als komische Person in dem Drama mitwirkt, und
der auch aus andern Gründen verdient, daß wir ihn sich ein wenig länger als
b'e andern Präsentiren lassen. Friedrich der Große mag dann den Epilog
sprechen.
Wir haben soeben erwähnt, daß zuletzt noch Anhalt-Zerbst das Glück hatte,
den Engländern Soldaten für den Kampf mit den amerikanischen Insurgenten
liefern zu dürfen. DaS ging so zu.
Der Fürst Friedrich August von Anhalt-Zerbst (er regierte durch
göttliche Zulassung fast ein halbes Jahrhundert, von 1747 bis 1793) gebot
über ein Territorium von ungefähr fünfzehn Quadratmeilen mit etwa zwanzig¬
tausend Einwohnern, welches infolge von mancherlei Heimsuchungen, wie Miß-
wachs, Überschwemmung und Krieg, namentlich aber auch infolge der seit dem
dreißigjährigen Kriege schon andauernden Landplage fürstlicher Mißwirthschaft
zu den ausgehungertsten und verrottetsten Deutschlands gehörte. Seit 1716
wurden hier weniger Menschen geboren als begraben. Das Land besaß weder
Industrie noch Handel. Nirgends ringsum gab es verhältnißmäßig mehr Hage¬
stolze, vorzüglich unter den Beamten, weil die im siebzehnten Jahrhundert fest¬
gesetzte Besoldung derselben zu einem anständigen Haushalt kaum halb aus¬
reichte. Seit 1698 war kein Landtag mehr einberufen worden. Die Fürsten
herrschten vollkommen nach Laune, und Friedrich August übertraf darin selbst seine
Vorgänger. Er ist die Caricatur des kleinen Landesvaters des achtzehnten Jahr¬
hunderts. Der Bruder der Kaiserin Katharina von Rußland, hatte er ursprüng¬
lich vielleicht ebenso geniale Anlagen wie diese, dann aber muß man annehmen,
daß, was bei der großen Schwester auf dem mächtigen Czarenthrone sich ent¬
falten konnte, hier, in den winzigen Verhältnissen von Zerbst eingeengt, ver¬
dorren, verkrüppeln und Verrücktheit werden mußte.
Natürlich mußte ein derartiger Geist seinen großen Nachbar in Preußen,
der überall Leben zu wecken verstand, der unbarmherzig alte Vorurtheile und
Mißbräuche ausreutete und sich in seinem revolutionären Vorgehen durch nichts
hindern ließ, aufs gründlichste hassen, zumal der König ihm gelegentlich übel
mitspielte und unter anderm 17S8 einen Schützling Friedrich Augusts ohne viel
Federlesen im zerbster Schlosse verhaften ließ. Jener Haß ging so weit, daß
der Fürst 1763, um von Preußen möglichst entfernt zu sein, von Zerbst nach
Basel und später nach Luxemburg zog, von welchen Orten aus er sein Ländchen
dann durch höchst ergötzliche Rescripte regierte, wie sie in neuester Zeit Fürst
Heinrich der Zweiundstebzigste von Reuß-Schleiz-Lobenstein-Ebersdorf kaum
komischer zu Stande gebracht hätte. Als seine Unterthanen sich einst an ihn
wegen Abstellung von Beschwerden wandten, antwortete er ihnen, derartige
Lappalien gingen ihn nichts an, und wünsche er sehr, in seiner Zurückgezogen-
heit nicht mit ihren elenden Klagen behelligt zu werden. Als das nichts hals,
verbot er durch Anschlag, daß niemand ihm serner „nachlaufe", „bei Vermeidung
unausbleiblicher Ahndung"; selbst die Familien der Betreffenden sollten respon«
habet sein. Auf der Insel Wangeroge, die als Theil der Herrschaft Jever ihm
gehörte, errichtete er einen großen Galgen für Austerndiebe, es wurde indeß
keiner abgefaßt. An Stelle Serenissimi regierte in Zerbst ein geheimer Rath,
dessen zwei oder drei Mitglieder die sämmtlichen Instanzen bildeten, so daß man
von dem Hofrath Hase durch den Hofrath Hase wieder an den Hofrath Hase
appelliren mußte. Lustig, nicht wahr? Noch lustiger aber, wie dieses ergötzliche
Ding von einem Fürsten zuletzt an der französischen Revolution verstarb. Als
Friedrich August vom Ausbruch derselben hörte, wurde er unruhig und erließ
lange, sehr schwer verständliche Schreiben an die Zerbster, in welchen er sie im
Namen der heiligen Dreifaltigkeit ermahnte, treu und gehorsam zu bleiben, und
ihnen für den Fall des Ungehorsams mit den himmlischen Strafen drohte. Dann
kam die Hinrichtung Ludwigs des Sechzehnten, und auf die erste Nachricht
von diesem Ereigniß weigerte sich der Fürst, ferner Speise und Trank zu sich
ju nehmen, und da er dabei blieb. Essen und Trinken aber Leib und Seele
jusammenhält, so starb der Märtyrer der Legitimität nach einigen Tagen.
Dieser amüsante kleine Herr hatte es in östreichischen Diensten zum Ge¬
neral gebracht, hielt sich aber auch für eigne Rechnung eine „Armee" von
2000 Mann, die nicht weniger als 11 Obersten zählte. Seine Wervcplätze
Waren über ganz Deutschland zerstreut, und er fand fast immer Beschäftigung
sür seine Leute und Verdienst für sich. So auch jetzt, doch nicht ohne Mühe.
Schon bei Eröffnung der Feindseligkeiten zwischen England und Amerika war
unser Biedermann mit einem Angebot auf den Markt gekommen, indeß nahm
man damals keine Notiz von seinem Wunsch nach Berücksichtigung. Er hatte
steh unmittelbar an Georg den Dritten gewendet, aber keine Antwort auf seinen
Ares erhalten, weil der Inhalt desselben sich nicht enträthseln ließ. Um direct
an sein Ziel zu gelangen, ließ Friedrich August im Mai 1776 durch den Erb-
Punzen von Hanau Suffolk Vorschläge machen. „Wenn Sie je" — so schreibt
^er hanauisch« Minister v. Malsburg an Faucitt — „von der sonderbaren
Denk- und Handlungsweise dieses Fürsten gehört haben, so werden Sie über
d'e Unregelmäßigkeit dieses Schrittes nicht erstaunt sein. Da Sie aber mög¬
licherweise ein Regiment mehr brauchen können, so hat mein Herr mir befohlen,
Ihnen den Brief des Fürsten vertraulich mitzutheilen. Die Verwirrung, die in
seinem Stil und seinen Ausdrücken herrscht, hat mir nicht erlaubt, eine fran¬
zösische Uebersetzung davon zu machen. Zudem werden Sie wohl jemand haben,
^ ihn lesen kann und, soweit dies überhaupt möglich, seinen Sinn erklärt.
^ Fürst will also ein Regiment von 627 Mann an England überlassen.
Mein Herr möchte übrigens in der Sache nicht genannt sein. Der Brief an
^u König ist in einer so merkwürdigen Art geschrieben, daß es mir fraglich
^scheint, ob er überhaupt dem hohen Adressaten übergeben werden kann.*
Suffolk ließ den zerbstschen Antrag auf sich beruhen. Friedrich August
^ar aber so leicht nicht abzuschrecken. Im November 1776 suchte er durch den
Hu-zog von Braunschweig seine Absicht zu erreichen. „Der Fürst von Anhalt-
Zerbst" — so schreibt der vraunschweigische Minister Feronce an Suffolk —
„hat den Herzog inständigst ersucht, durch Ihre Vermittelung dem König 800
Mann Infanterie für Amerika anzubieten. Das Regiment ist gut einexercirt
und ausgerüstet; es kann sich, sobald es gewünscht wird, mit zwei Geschützen
in Marsch setzen." — „Die einzige Gunst, um die ich bitte, besteht darin, daß
der Herzog in den Stand gesetzt wird, dem Fürsten eine Antwort zukommen
zu lassen." Suffolk lehnte wieder ab. und wieder ließ sich Friedrich August
nicht entmuthigen. Er empfahl sich jetzt Sir Joseph Uo^e. dem oben erwähn¬
ten englischen Gesandten im Haag zu gefälliger Berücksichtigung. Dieser hatte
offenbar Mitleid mit solcher Standhaftigkeit im Unglück, und als sich die Dinge
so gestalteten, daß England dringend einen Nachschub von Hilfstruppen bedürfte,
meldete er es nach Basel. Als Antwort empfing er von dem beglückten Fürsten
eine ganze Anzahl von Briefen, Vorschlägen und Plänen, von denen sich einige
sogar mit der Vermehrung der großbritannischen Marine beschäftigten. Bei dem
hüpfenden und verworrenen Gedankengange dieser fürstlichen Episteln ist es nur
ausnahmsweise möglich, ganz zu entziffern, was er eigentlich will, ein Proceß,
der durch einen wahrhaft grausamen Gebrauch des Französischen noch erheblich
erschwert wird. Wer sich davon eine Vorstellung bilden will, lese die S. 2ö8 ff.,
261 und 265 mitgetheilten Proben. Die Herren Vettern im Reich, Schiffe von
China und Japan, die Judenschaft von Dessau, falsches Geld, Schiffsballast,
Jagdhunde, amerikanische- Rebellen, französische Bischöfe und päpstliche Bullen,
dann wieder die Anden von Peru, die Kordilleren, ein Predigttext, zeroster
Grenadiere, die über den Harz klettern und die Löcher des Wegs mit ihren
Bärmützen ausfüllen, ärgerliche Ausfälle gegen das „liebe Preußen" u.d.M.
purzelt und quirlt darin wie in einem Hexenkessel durcheinander.
Der Fürst schien endlich am Ziel seiner Wünsche zu sein. Er hatte Aus¬
sicht, seine Leute für die von den amerikanischen Rebellen bedrohte Legitimität
ins Feld rücken zu sehen. „Huatre ?reres a Dessau avoient", schreibt er
begeistert von solcher Aussicht an Uorke, „entre eux plus cle 400 edieus xar
Loree, loZe ete» les Dourgeois cle Dessau. Leite Karnison! et an Premier
Loux as ?once vu ac Vors <!e Liesse, cette Oanaille se rassemdloit conos
les Irouxes an Loup ac tambour. Diable! si orr xeuvoit kiüre courir Is3
^ineritMg,jus comme cela, se ne serait Mg mauvais; mais it taut clef IrouxöS-
car pour l'article ach nomiries, o'est une yuestion et xiodleme as
LirrKnisme (?) a rexonäre.
Inzwischen hatte Faucitt von Suffolk Auftrag erhalten, sich über die Be¬
schaffenheit der zerbster Soldaten zu unterrichten und dann zu melden, ob es
sich lohne, dieselben zu nehmen. Kaum aber war Aussicht auf Vermiethung
dieser Landmacht vorhanden, so regte sich in dem stets arbeitenden und immer
auch an Plänen fruchtbaren Gehirn Friedrich Augusts schon der Gedanke, die
Bottheile seiner an der See gelegnen Grafschaft Jeder zu verwerthen, und ohne
Verzug schrieb er an Borke: „Wenn England an der deutschen Küste gegen
die Ncbellentapcr zwei Fregatten von je 12 oder 20 Kanonen und zwei kleinere
Fahrzeuge von je 8 oder 10 leichten Geschützen wünscht, so kann ich ihm die¬
selben überlassen. (Der gute Herr hätte diese Schiffe erst bauen müssen; denn
Jever besaß nur ein paar Dutzend friedliche Fischerböte.) Meine (Gedanken-)
Schiffe sind Schnellsegler und aus folgenden Gründen für Sie unentbehrlich:
1) stellen sie die Verbindung zwischen mir und meinen Truppen her, 2) ver¬
mitteln sie die von Deutschland abzusendenden Verstärkungen. 3) erlangen Sie
dadurch so viele Schiffe und Matrosen mehr, was bei der Frechheit der Rebellen,
die ihre Piratencanaille überall hinschicken und sogar im Stande sind, die deut¬
schen Küsten heimzusuchen, gar nicht gering anzuschlagen ist."
Borke war gutmüthig oder einfältig genug, diesen abgeschmackten Einfall
>n London zu bevorworten. Suffolk ging natürlich nicht darauf ein, ja er
nahm, als er erfuhr, daß Zerbst die versprochenen Truppen nicht sofort liefern
konnte, seinen Befehl für Annahme derselben zurück. Die vom Fürsten nach
London geschickten Barone v. Oppeln und v. Wietersheim, die hier den Ver¬
trag zwischen den Kronen Zerbst und Großbritannien abzuschließen beauftragt
waren, wurden von Suffolk kurz bedeutet, daß London nicht der Ort für der¬
gleichen Negociationen sei, und ihnen sofortige Heimreise anempfohlen.
„Trotz Ihrer Versprechungen," schreibt der arme Fürst am 23. Juni 1777
wehklagend an seinen Gönner Borke, „hat man in London meine Truppen ab¬
gelehnt. Man will bis zum nächsten Jahre warten. Das ist unmöglich, ich
werde mich dann nicht wieder ähnlicher Behandlung aussetzen. Andre Mächte
Werden diese schönen Truppen (ohne Eitelkeit!) mit offnen Armen aufnehmen.
2es hoffe aber, Sie werden Alles noch arrangiren."
Das that Bö»ke denn auch. „Ich sende Ihnen," schrieb er an Suffolk.
»verschiedene Briefe, die ich von meinem wunderlichen Korrespondenten, dem
Fürsten von Zerbst. empfangen habe; in seinem letzten ist er über den einge-
tretenen Zeitverlust ausgebracht." — „Ich habe dem Fürsten heute geschrieben
und mich bemüht, ihn bei guter Laune zu erhalten und zu besänftigen. Bei allen
seinen Verrücktheiten ist er doch ein guter Kerl, der besser handelt als er schreibt.
Ich wünsche, seine Truppen möchten in diesen schwierigen Zeiten doch noch
genommen werden."
Dieser Wunsch wurde erfüllt; denn die Zeiten waren mittlerweile für Eng-
land wirklich schwierig geworden. Im Herbst 1777 erhielt Faucitt von Suffolk
b'e Weisung, mit dem zerbstcr Ministerium für zwei Regimenter abzuschließen.
Dieses unterwarf sich ohne Widerspruch den vom englischen Commissär gestellten
Bedingungen und begnügte sich sogar mit der bloßen Punctation eines Ver>
lrngs. die es England freistellte, die endgiltige Genehmigung des letzteren so
lange zu verschieben, bis die zerbster Truppen von Faucitt im Einschiffungs¬
häfen übernommen sein würden. Jedes der beiden zu liefernden Regimenter
sollte aus 614 Offizieren. Unteroffizieren und Gemeinen bestehen, jedes der¬
selben aber nur zwei Stabsoffiziere, Oberst und Major, haben. Marschfertig
sollten die Leute im Frühjahr 1778 sein. England übernahm so nicht die
mindeste Gefahr oder Verantwortlichkeit; diese fiel vielmehr ausschließlich der
zerbster Regierung zu, die, wie wir sogleich sehen werden, davon noch allerlei
Verdrießlichkeit und Noth hatte.
Der König von Preußen, der bisher dem Soldatenhandel seiner kleinen
Vettern mit England ruhig zugesehen, sing an, die Sache mit Verdruß zu em¬
pfinden und ihr am Rheinfels, in Minden und ebenso an der Elbe Hindernisse
in den Weg zu legen, wodurch er zunächst die anspacher und die hanauer
Truppennachsendungen weite und kostspielige Umwege zu machen nöthigte, dann
dem Würtenberger, mit dem man wieder angeknüpft, die Spekulation ganz
verdarb und schließlich den Zerbster beinahe um den Prosit des, wie wir sahen,
mit so viel Eifer und Ausdauer verfolgten Geschäfts gebracht hätte. Die Ge¬
schichte mit dem letzteren aber begab sich folgendermaßen.
Das eine zerbster Regiment war schon im November 1777 complet und
gerüstet und hätte sofort nach dem Einschiffungsplatz abmarschiren können, wenn
die Preußen nicht die Elbe gesperrt gehalten hätten. Als die zerbster Behörden
in Berlin um Oeffnung der Barriere baten, erhielten sie die Antwort, nachdem
Anspach und Hanau mit ihren Gesuchen um Durchmarsch durch das königliche
Gebiet abgewiesen worden, dürfe Zerbst nicht besser behandelt werden, übrigens
könne man ja das Regiment auf einem kleinen Umwege (wir empfehlen die
Karte) durch den Harz nach dem Kurfürstenthum Hannover und von da an
den Ort seiner Bestimmung gelangen lassen.
Suffolk hielt es unter so bewandten Umständen für daS Gerathenste, den
Abmarsch der Zerbster bis zum Frühjahr zu verschieben, und wies Faucitt an,
sich in diesem Sinne mit den Räthen des vielgeprüften Fürsten zu verständigen.
Friedrich August mußte sich noch einmal gedulden. Seine Wuth gegen Preußen
erreichte dadurch den Gipfel des Möglichen, und barocker wie je vorher machte
jetzt sein Zorn — man vergleiche S. 266 — dem verhaßten Nachbar in Berlin
Faust aus Faust in der Tasche. Ja er ging weiter: der Selbstherrscher aller
Zerbster wandte sich sogar an die Selbstherrscherin aller Reußen, um sie zur
Intervention gegen Friedrich den Großen zu veranlassen; allein Schwester
Katharina erklärte weder an Preußen den Krieg, noch erwirkte sie für Bruder
Friedrich Augusts Soldatenwaare die Oeffnung des preußischen Theils der Elbe,
was gar nicht hübsch von ihr war; denn die Gefahr, seine mühsam zusammen¬
gebrachten Leute durch Desertion einzubüßen, war für den Zerbster beträchtlich
größer als für seine Concurrenten auf dem Markte, weil er im eignen Lande
fast gar nicht werben konnte und für seine Leute beinahe ausschließlich auf das
deutsche Ausland und in der Methode bei dem damals sehr fühlbar gewordnen
Mangel an tauglichen Subjecten vorzüglich auf Ueberlistung oder gewaltsame
Wegschleppung angewiesen war. Konnte Serenissimus sein auf solche Art zu¬
sammengeraubtes Regiment unter gehöriger Bewachung direct bis aus Meer
schaffen lassen, so erlitt er verhältnißmäßig geringe Verluste; ein langes Müßig¬
liegen in offnen Garnisonsorten dagegen oder ein Umweg durch fremdherrliche
Gebiete drohte mit massenhaftem Ausreißen der gewordenen Bursche. Noch vor
Weihnachten brach denn auch unter den Soldaten Meuterei aus. Ein paar
Dutzend zerbster Dragoner sollten Jnfanteristen werden, um das nach Amerika
bestimmte Regiment zu verstärken, nahmen das aber als Beleidigung auf und
hieben auf die Offiziere ein, die sich ihnen entgegenstellten; dann flohen die
meisten nach Kursachsen, wo natürlich niemand ihnen etwas anhatte. Bald
nachher machte sich sogar ein Leutnant mit seinem ganzen Commando von
fünfzig Mann davon und retirirte ebenfalls ins Sächsische.
Endlich war der Winter überstanden, und das Regiment trat, 841 Mann
stark, am 21. Februar 1778 seinen Marsch, wie die preußischen Minister höh¬
nisch gerathen, durch Thüringen, den Harz und Hannover nach Stade an. Als
es am nächsten Tage die Elbe erreicht, ließ der Oberst, ein Herr v. Nauschen-
p!alt, halten, die Zimmerleute mußten ihre Aexte in das Brückengeländer hauen,
und es wurde ein Kreis gebildet, in welchem der Commandeur die Kriegsartikel
"och einmal verlesen und dann beschwören ließ, worauf er eine geharnischte
^ete hielt, die jedem über Desertionsabsichten Ertappten die Kugel androhte.
Trotzdem suchten noch an demselben Tage der Negimentstambour, ein Feld¬
webel, ein Korporal und mehre Soldaten das Weite. Um das Betreten preu¬
ßischen Territoriums zu vermeiden, ging die Marschroute über Dessau, Merse-
°Arg, Weichlingen (Kursachsen). Greußcn (Sondershausen), Mühlhausen (damals
f>ele Reichsstadt). Duderstadt (Kurmainz), Einbeck (Hannover) und von da durch
^Unschweigisches Gebiet und wieder durch hannöversches nach Stade. Trotz
Engster Ueberwachung kamen noch tagtäglich Desertionen vor, da die Bauern
^» Entweichenden nach Kräften halfen und Gelegenheit sich zu salviren schafften,
und so mußte v. Rauschenplatt dem damals in Hannover weilenden Faucitt
°le betrübende Meldung machen, daß er in den ersten zehn Tagen durch De-
^lion nicht weniger als 334 Mann verloren habe, und am 21. März waren
^gar nur noch 494 Mann bei der Fahne.
Faucitt schrieb darüber an Suffolk und fragte, was da zu thun sei. Die
Antwort lautete, Faucitt solle die Reste der Zerbster sammt und sovderS wieder
^es Hause schicken, falls er nicht wenigstens ein Bataillon aus ihnen formiren
"Ule. Sogar die für sie bestimmten Transportschiffe wurden abbestellt. Es
traurig: per tot äiLN'unius, reruw schien der unglückliche Fürst am Ziel
seiner Wünsche und Mühen angelangt, und nun dennoch nichts liefern und
verdienen können! Ungerechter Himmel? Böser alter Fritz!
Indeß noch einmal lächelte dem Zerbster das Glück. Es gelang dem
Obersten Nauschenplatt, den zusammengeschmolzenen Bestand seines Regiments
in Jever und Nachbarschaft wieder auf 625 Mann, einschließlich der Offiziere
zu bringen, und Faucitt nahm nun keinen Anstand mehr, die Leute in den
englischen Dienst einzumustern. Am 22. April wurden sie in Stade eingeschifft.
Erst nachdem dies geschehen, schloß jener den Vertrag mit den Bevollmächtigten
Friedrich Augusts ab, die sich selbstredend jede von dem englischen Commissär
beliebte Bedingung gefallen ließen.
Wie stolz und hehr steht diesen elenden kleinen Fürsten der große König
von Preußen gegenüber! Fast nur er, der seine persönliche Verantwortlichkeit
vor der Welt fühlt, hat auch persönliche Würde, nur bei ihm kannte man eine
selbständige Politik noch in Deutschland, die meisten kleinen Staaten fristeten
ihre Existenz lediglich durch geschmeidiges Anklammern an fremde Interessen.
Deshalb ist der souveräne Hohn und die kalte Verachtung, welche Friedrich
England und seinen Menschcnlieferautcn überall fühlen läßt, doppelt wohlthuend.
Doch darf man sich die Motive, die den König bei seinem Verfahren gegen
den Soldatenhandcl leiteten, nicht zu ideal vorstellen. Das erste und wichtigste
war, daß dieser Handel ihm bei dem damals auch in Preußen herrschenden
Werbesystem die Mittel zur Füllung der eignen Regimenter zu entziehen drohte.
Ein zweites war, daß er jetzt die Gelegenheit gekommen sah, sich bei England
für das schlechte Verhalten, welches der londoner Hof ihm gegenüber rücksichtlich
DanzigS beobachtet hatte, abzufinden. Principielle Sympathien für die ameri¬
kanischen Rebellen lagen ihm fern, und als sentimentaler Lyriker für die Sache
verkaufter Unterthanen aufzutreten paßte ebenso wenig zu seinem Charakter.
Daß ihm die Gemeinheit der kleinen Vetternschaft bei dem Handel Ekel erregte,
ist dagegen mit Sicherheit anzunehmen. Die von Schlosser mit gesperrter
Schrift erzählte Anekdote, daß die hessischen Soldaten auf Befehl des Königs
bei Minden hätten den Viehzoll entrichten müssen, ist erfunden, Friedrich be¬
steuerte nur ihr Gepäck. Dagegen findet sich in einem am 18. Juni 1776 an
Voltaire geschriebnen Briefe des Königs, in welchem er die Ehre ablehnt, der
Lehrer des Landgrafen von Hessen gewesen zu sein, der damals unverschämter¬
weise einen Katechismus für Fürsten verfaßt und ihn Voltaire geschickt hatte,
die Aeußerung: „Wäre der Landgraf aus meiner Schule hervorgegangen, so
würde er den Engländern seine Unterthanen nicht verkauft haben, wie man
Vieh verkauft, um eS auf die Schlachtbank schleppen zu lassen." Allerdings
ferner nahm Friedrich aus Haß gegen England unbedingt Partei für die Amerikaner
und gefiel sich fogar darin, dem englischen Gesandten gegenüber die Erfolge
derselben zu übertreiben. Ihr Recht zum Aufstand aber hat er gewiß niemals
untersucht, und noch weniger wird er sich dafür in seinen alten Tagen soweit
erwärmt haben, daß er geneigt gewesen wäre, sich ihretwegen mit seinen Nachbarn
in Deutschland ernstlich zu entzweien. Hätte er Hoffnung haben können, daß
dabei etwas für sein Preußen herauskäme, so ließe sich etwas Derartiges eher
denken.
„Gleichwohl aber," so schließt Kapp sein Urtheil über diese Verhältnisse,
wie uns dünkt, sehr richtig, „liegt in Friedrichs Worten und Maßregeln eine
solche geistige Ueberlegenheit und eine solche souveräne Verachtung der elenden
Bereicherungsmittelchen der kleinen Reichsfürsten ausgedrückt, daß man sich den
Jubel der Unterdrückten und die Freude der bei dem schmachvollen Handel Un-
betheiligten sehr wohl erklären kann. Das Volk liebt es, seinen Helden seine
eignen besten Gedanken unterzuschieben, es macht sie zu Trägern seiner liebsten
Wünsche und Hoffnungen. So wurde denn auch auf Grund von ein paar
scharfen Aeußerungen, die der amerikanischen Revolution günstig waren und
die geizigen und gierigen Fürsten brandmarkten, in Friedrich verfaß und die
Verachtung aller denkenden Zeitgenossen gegen die Seelenverkäuferei verkörpert."
Das ganze Alterthum glaubte daran, daß die Gottheit gewisse Menschen
"uf übernatürliche Weise mit der Gabe ausstatte, Verborgenes der Vergangen«
^it, Gegenwart und Zukunft ans Licht zu bringen. Ja durch bloße Vermitt¬
lung todter Sachen meinte man in die göttlichen Geheimnisse eindringen zu
^n»en; man sagte wahr aus den Eingeweiden der Opferthiere, dem Fluge der
^ögel. dem Sande und vielen andern Dingen. Diese letzte Art, das Verbor¬
gne zu enthüllen, tritt im Volke Israel fast ganz zurück; nur das Loos, dem
^n eine unmittelbare göttliche Lenkung zuschrieb, wird hier noch zuweilen in
änlicher Weise gebraucht; auch die s. g, .Urim und Tummim" des hohen
Priesters, welche als Mittel betrachtet werden, die göttliche Entscheidung zu
^kennen, scheinen eine Art Loos gewesen zu sein. Weit wichtiger ist bei den
Hebräern die Verkündigung des göttlichen Willens und Wissens durch unmittel¬
bare Erleuchtung begeisterter Männer. Ein solcher heißt gewöhnlich Xabi
»Sprecher" oder lioö „Seher", auch Iloss „Schauer". Die Anschauung, welche der
ersten Benennung zu Grunde liegt, ist die, daß der Begeisterte der Dolmetscher
Gottes, der Jnspirirte ist, durch dessen Vermittlung Gott zu den Menschen redet.
Diese Anschauung drückt sich 2 Mos. 7,1 sehr naiv in den Worten Gottes an
Mose aus, nach denen dieser als der geistige Leiter dem König Pharao gegen¬
über den Gott, sein redegewandter Bruder aber den »Radi" desselben abgeben
soll; für „Radi" steht in der Parallelstelle 4. 16 (aus einer anderen Quelle)
„Mund". Diese Vorstellung wird auch durch den in alle europäischen Sprachen
übergegangenen Ausdruck „?i-opnetös" wiedergegeben, welchen die alten grie¬
chischen Uebersetzer für das hebräische „Radi" setzen. Denn „VropKötss" heißt
nicht der „Vorhersager", sondern der, welcher etwas (Verborgenes, ihm allein
Mitgetheiltes) aussagt und erklärt. Die andern beiden Namen, von denen der
erstere 1 Sam. 9, 9 ausdrücklich als der in alten Zeiten statt des später üblicheren
Radi gebräuchliche bezeichnet wird, drücken die Vorstellung eines Menschen aus,
welcher durch göttliche Erleuchtung das sehen kann, was den Andern verborgen
bleibt. Sonstige Bezeichnungen dieser Männer sind mehr vereinzelt und werden
auch anderweitig verwandt, wie z. B. der Name „Mann Gottes". Wir halten
uns an den herrschenden Sprachgebrauch und geben ihnen den Namen „Pro¬
phet", wie auch das entsprechende „Radi" im alten Testament durchaus die
gewöhnliche Benennung ist.
Die Propheten sind seit alter Zeit vielfach als todte Werkzeuge aufgefaßt, welche
die göttliche Eingebung aussprechen ohne eigenes menschliches Mitwirken. Diese
supranaturalistische Ansicht konnte sich begreiflicherweise leicht sehr grob aus¬
prägen, und wie schon im grauen Alterthum ein Prophet über die verlorenen
Eselinnen deS KiS Auskunft geben soll (1 Sam. 9), so hat man mock bis in
die neuste Zeit die Auffassung der Propheten als bloße Wahrsager vertheidigt.
Aber diese grobe einseitige Ansicht ist in der Zeit des lebendigen Propheten-
thums doch nicht die der edelsten und erleuchtetsten Geister gewesen; wüßten
wir wirklich von den Propheten nichts, als daß sie die Zukunft und sonstige
dem Menschen natürlicherweise unbekannte Dinge genau entschleiert hätten,
dann könnten wir sie nur mit den Wahrsagern anderer Völker auf eine Stufe
stellen, und sie hätten für uns gar keinen höheren Werth.
Die Bedeutung des israelitischen Prvphctenthums liegt für uns in seinem
sittlich-religiösen Geist. Es ist weit wichtiger als Ausdruck des göttlichen
Willens, der ethischen Forderungen, denn als Enthüllung der Geheimnisse.
Auch bei dieser ist der Prophet immer vom sittlich-religiösen Geist belebt, auch
sie soll nur als Hebel für die Verbreitung dieses Geistes wirken.
Der Prophet fühlt sich unmittelbar von Gott berührt und spricht in seinem
Namen, daher oft geradezu von Gott in der ersten Person; die menschliche
Persönlichkeit tritt dann bei ihm ganz zurück, aber nur um bald wieder deutlich
hervorzutreten; denn diese Form ist nur ein Ausdruck der höchsten Begeisterung
oder der innigsten Ueberzeugung von der Einheit des menschlichen Willens und
Denkens mit dem göttlichen. Diese ganze Anschauung von der unmittelbaren
Erregung des Menschen durch Gott hat ihre gute Berechtigung; sie ist sub.
jectiv durchaus wahr, und sobald man nur das Uebernatürliche von der alten
Anschauungsform abstreift, läßt sich ihr auch eine gewisse obj ective Wahrheit
nicht abstreiten. Nur der ist ein Prophet, welcher von sittlich-religiösen Ge¬
danken und Empfindungen bewegt ist und im Dienst der Religion Israels
steht; mit dem Verzückten oder dem Wahrsager hat er nur in Äußerlichkeiten
Gemeinschaft.
Das Prophetenthum bildet in der israelitischen Religion die fortbildende
Kraft gegenüber dem zur Starrheit und Aeußerlichkeit geneigten Priesterthum
und Gesetzeswesen. In ihm tritt der Subjcctivismus belebend und zum Fort-
schritt treibend hervor, während die großen, einmal gegebenen Ideen der Reli¬
gion diesen selbst vor Ausschreitungen bewahren. Diese Ausbildung der Religion
durch das Prophetenthum ist uns freilich nicht mehr ganz deutlich, weil eben
die Berichte über den ältern Zustand der Religion (namentlich über Mose) selbst
zum größten Theil vom prophetischen Standpunkt aus geschrieben sind, so daß
die höhere Auffassung des Prophetenthums in die alte rohere Zeit übertragen
wird. So ist es z. B. wahrscheinlich, daß das gänzliche Verbot des Bilder-
dienstes erst eine Frucht der durch die Propheten bedingten höheren Entwicklung
ist, während unsere prophetischen Berichterstatter dasselbe schon in die Zeit des
Mose legen. Dieses Zurückschieben der prophetischen Anschauung auf die ältere
Zeit drückt sich dann darin aus, daß nicht blos ein Mose, eine Debora und
Mirjam als Propheten angesehen werden, sondern daß man selbst die mythischen
Stammväter des Volks zu Propheten macht (1 Mos. 20, 7; Ps. 105, Is).
Geschichtlich treten uns die Propheten zuerst deutlich seit der Zeit Sa-
wuels entgegen. Freilich hat es sicher schon seit alter Zeit etwas Analoges
Segeben, aber seit jener, auch für die äußere Geschichte des Volkes so wichtigen
Periode bemerken wir sie in größerer Anzahl, und sie werden für die geistige
Entwicklung wichtiger. Daß Samuel ganze Schaaren von Propheten um sich
^t. wird uns von verschiedenen Quellen berichtet (1 Sam. 10, S ff.; 19,18 ff,),
und das alte Sprichwort: „ist auch Saul unter den Propheten?" scheint uns
das Vorhandensein von Prophetengenossenschaften zu verbürgen, obwohl schon
unsre Quellen die geschichtliche Veranlassung dieses Sprichworts nicht mehr
sicher kennen und sie verschiedenartig erzählen. Noch in der Geschichte Elias
und Elisas treten Schaaren von „Prophetensöhnen" auf. Es liegt sehr nahe,
^er an eine Art klösterlichen Zusammenlebens mit einem gewissen Unterricht
d°r Jüngern zu denken. Durch nichts ist uns übrigens die in neuerer Zeit
°se angenommene Meinung beglaubigt, daß diese „Prophetenschulen", über deren
Einrichtung wir überhaupt nichts wissen, von Samuel gestiftet seien. Für das
eigentliche Prophetenthum haben diese Schulen auf keinen Fall eine hohe Be¬
deutung gehabt. Die großen, schöpferischen Propheten sind, was sie sind, durch
sich selbst, mögen sie nun in solchen Genossenschaften gebildet sein und gelebt
haben — was wir übrigens von keinem wissen — mögen sie blos durch die
innere Stimme zur prophetischen Wirksamkeit berufen sein, wie das Amos
(7, 14) so einfach wie ergreifend von sich selbst aussagt.
Auch ein ascetisches Leben, welches nach einigen Andeutungen von den
Propheten oft geführt worden zu sein scheint, war gewiß kein Erforderniß.
Die von den Königen hochgeehrten Propheten, wie Nathan, Jesaia, lebten
gewiß nicht in bedrängten Umständen, und selbst der vielgeprüfte Jeremia ge¬
bietet nach 32, 9 über ansehnliche Geldmittel (mag die dort erzählte symbolische
Handlung auch fingirt sein). Als äußeres Kennzeichen der Propheten wird
Sach. 13,4 (aus einer älteren Prophetie, welche dem Buche des Sacharja an¬
gehängt ist) ein zottiger Mantel genannt, welcher auch in der Geschichte Elias
mehrfach erwähnt wird.
In der ältern Zeit war am Prophetenthum jedenfalls noch mehr Aeußer-
liches als in der spätern, aus der wir die herrlichen prophetischen Reden haben.
Dazu gehört, daß die Propheten sich nach völlig sicheren Zeugnissen (1 Sam.
10, 5 f. und 2 Könige 3, 13) durch rauschende Musik in einen Zustand der
Verzückung versetzten. Ganz gegen die klaren Textworte, welche die prophetische
Begeisterung als Folge der Musik darstellen, hat man hier blos eine Begleitung
des prophetischen Vortrags durch Musik finden wollen. Die Art, wie sich die
Derwische durch Musik, Singen und Tanzen in Verzückung versetzen, giebt uns
eine, allerdings stark verzerrte, Analogie hierzu aus dem heutigen Orient.
Der subjective Charakter des Prophetenthums, das Vorherrschen des Ge¬
müths und der Phantasie vor der Reflexion führte allerdings leicht zu krank¬
haften Auswüchsen. Immer war da etwas Schwärmerei, und diese steigerte
sich stellenweise zur Verzückung und Naserei. Daher wird das von Uf,ti ab¬
geleitete Mtnabbs „sich als Prophet benehmen" wohl geradezu in der Bedeu¬
tung „toben" gebraucht, und der ruhige Beobachter nennt den Propheten
schlechthin einen Rasenden oder Verrückten (Jer. 29, 26; 2 Kön. 19,11). Eine
gewisse Gewaltsamkeit ist von der subjectiven Erregung und Begeisterung über¬
haupt unzertrennlich. Freilich verliert sich diese mit der Zeit mehr und mehr,
und der reine prophetische Gedanke tritt immer milder hervor; allein ganz hat
die hebräische Prophetie diese Gewaltsamkeit nie aufgegeben. Noch bei dem
schwermüthigen Jeremia und dem hohen Propheten, der zur Zeit des Cyrus
Ich. 40—66 schrieb, zeigen sich deutliche Spuren jenes stürmischen Eifers, den
uns die, freilich sagenhaften. Erzählungen von Elias Wirken für die reine
Religion vor Augen stellen.
Das Prophetenthum bestand während der ganzen Dauer der beiden israe-
Mischen Reiche, lebte am Schluß des Exils noch einmal kräftig auf, um bald
darauf gänzlich zu verschwinden. Die letzten Propheten im Alten Testament
zeigen schon das völlige Erlöschen der Begeisterung und des frischen, geistigen
Lebens.
Die Propheten betrachten sich als Wächter der Treue gegen Gott; sie
Predigen strenge Sittlichkeit mit der Drohung strenger Strafe für die Vergehen.
Die heiße Sehnsucht nach dem Ideal einer besseren Zukunft zeigt sich als sichere
Verheißung für die Frommen.
Diese Grundgedanken nehmen verschiedene Gestalten an, je nach den Um¬
ständen. Alles wird in der Form der Anschauung ganz bestimmt ausgesagt.
Wir sehen oft, daß diese bestimmte Schilderung der Zukunft auch für den Pro¬
pheten nur eine poetische Ausmalung sein soll; aber es ist sehr schwer zu ent-
scheiden, wie weit die Propheten bei den einzelnen Darstellungen subjectiv von
der Wahrheit der einzelnen Züge überzeugt sind. Daß sie hierin freier dastehn,
als man denken möchte, erkennen wir daran, daß ein und derselbe Prophet oft
A«nz verschiedene Ausführungen seiner Verheißungen und Drohungen giebt,
Welche, wenn sie prosaisch genau genommen würden, mit einander im entschie¬
densten Widerspruch ständen; und zwar geschieht dies noch oft in den jetzigen
Aufzeichnungen, in denen doch solche Widersprüche hätten verwischt werden
können, wenn es dem Propheten darauf angekommen wäre.
Den Kern der prophetischen Gedanken müssen wir überall von der Form
unterscheiden, in welche derselbe gekleidet wird, auch da, wo dem Sprechenden
selbst dies von höchster Bedeutung ist. Dem Jesaia steht es fest, daß der
Tempel unzerstörbar sei, während sein Zeitgenosse Mich« zuerst verkündet, in
^r großen Züchtigung, welche das Volk durch seine Sünden unwiderruflich über
sieh ziehe, müsse auch der Tempel mit der heiligen Stadt fallen. Die nächste
Zeit gab dem Jesaia, die Zukunft dem Micha Recht, während doch im Einzelnen
d'ehe Zerstörung ganz anders kam, als Mich« erwarten konnte. Der Haupt-
Sedanke, daß das Volk eine große Prüfung erleiden müsse und daß der unzer¬
störbare Kern desselben alle Leiden überstehen werde, hat hier für uns allein
wahren Werth. Verheißungen und Drohungen wechseln die Gestalt je nach den
Umständen, während sie im Wesen sich gleich bleiben. Jesaia und seine Zeit¬
genossen erwarten das große Gericht von den Assyrern, die Propheten des hin¬
sinkenden Jerusalems von den Babyloniern.
Die Lebhaftigkeit der Phantasie und der Gemüthsbewegung betrachtet die
schließliche Entscheidung, die große Züchtigung und das darauffolgende große
Heil durchgängig als nahe bevorstehend. Nur unter einer solchen Voraussetzung
kann der Prophet mit Wärme sprechen, nur so kann er auf seine Hörer wirken.
^ ist schon eine höchst eigenthümliche Erscheinung, daß der melancholische
^eremia die Zeit der Noth 70 Jahre dauern läßt. Volle zwei Menschenalter
sollten also das ersehnte Heil noch entbehren. Wie lange haben aber freilich
noch nach Ablauf dieser 70 Jahre die Frommen vergeblich nach dem Ende des
Elends geschmachtet! ^
Eine Zeit der Erlösung vom Jammer der jetzigen Welt erwarten alle
Propheten für Israel oder vielmehr für den wahren Kern Israels, die Frommen.
Aber diese Erwartungen drücken sich sehr verschieden aus. Während einige
Propheten nur ganz schlicht von einem Siege der Guten, einem ewigen Glück
der Gerechten sprechen, malen andere diese Hoffnungen weiter aus und schildern
uns ein dann erstehendes ideales Reich oder eine von allen Mängeln befreite
Natur. Das Elend des kleinen Volkes, das so oft der Spielball mächtiger
oder wenigstens energischer und kriegerischer Nachbaren war, erhält in diesen
Schilderungen ein Gegenbild. Mit Begeisterung verweilt die Erinnerung auf
der kurzen Zeit, in der das noch in sich einige Israel mächtig gewesen war
und weithin die fremden Völker unterworfen hatte. Je weiter man sich von
Davids Zeit entfernte, desto idealer wurde die Auffassung seines Reiches, und
dieser Idealismus spiegelte sich in dem gehofften Zukunftsreiche wieder. Von
selbst war damit die Idee eines neuen idealen Königs*), eines zweiten, aber
vollkommneren David gegeben, der diesem Reiche der Seligkeit vorstehen sollte.
Man knüpfte wohl auch unmittelbar an David und das von ihm gegründete,
geweihte Herrschergeschlecht an, indem man jenen König aus diesem hervorgehen
und aus seiner Stadt stammen ließ. Aber in dem Allen war kein System,
wie es die Aengstlichkeit späterer Jahrhunderte aufgefaßt und selbst in das
Leben des geschichtlichen Jesu von Nazareth übertragen hat. Bei demselben
Propheten weichen die verschiedenen Schilderungen dieses Reiches von einander
stark ab; einige Propheten erwähnen den einzelnen König gar nicht, bei andern
tritt auch die Erwartung des neuen Reichs ganz zurück. Politisch sind diese
Erwartungen entschieden, aber die Hauptsache ist doch das religiöse und sittliche
Moment. Als Verehrer Gottes, die er erwählt hat, als Thäter seines Willens
sollen die Gerechten Israels dieses Reiches theilhaftig werden, in welchem Gottes
Gebote das alleinige Gesetz sein werden. Das Reich selbst soll eben ein Reich
der Sittlichkeit und Religion werden; von einem solchen sind nach israelitischer
Auffassung die Segnungen der Natur gar nicht getrennt zu denken. Man sieht
auch hier überall die ethische Grundlage. Freilich erwarten alle Propheten das
dereinstige Heil in irdischer Gestalt. Einige lassen auch die fremden Völker an
den erwarteten Segnungen theilnehmen, nachdem sie bekehrt sind, aber wohl
keiner hat sich die Errichtung des Reiches gedacht ohne vorhergehende scharfe
Züchtigung der Feinde des Volks, an denen der Messias Rache üben soll, wie
einst David Israel an seinen Drängern blutig gerächt hatte.
Wir sehen, das nationale Moment war bei den Propheten noch sehr
mächtig. So zeigen sie denn dmchgchends einen glühenden Haß gegen die
feindlichen Völker, welche Israel an den Rand des Verderbens gebracht oder
ihm selbst seine Existenz als Volk genommen haben. Freilich wird auch hier
der blos nationale Eifer durch sittlich-religiöse Gedanken veredelt; in den Feinden
seines Volkes siebt der Prophet ja die Verehrer der Götzen, die Gegner der
strengen Sittlichkeit. Bei keinem Propheten tritt dies so klar hervor, wie bei
dem Verfasser von Ich. 40 —66. welcher wiederholt den Fall des verhaßten
Babels als die Niederlage des rohen Götzendienstes und der Sittenlosigkeit
auffaßt. Aber wenn auch manche Propheten über ihrer Zeit und über ihrem
Volk standen, ihre Anschauungen waren «doch durch ihre Zeit und ihren Ort
bedingt. Nur eine befangene Auffassung könnte ihnen aus dieser Beschränktheit
einen Vorwurf machen; wir werden uns vielmehr auch an ihrer patriotischen
Wärme erfreuen, die selbst bei denen hervortritt, die, wie Hosea und Jeremia,
Zunächst nur Unglück für Israel verkünden können.
So sehr die Gewalt des Gefühls und der Phantasie bei den Propheten
hervortritt, so ist doch die Reflexion durchaus nicht ausgeschlossen. Männer wie
Nathan und Jesaia besaßen gewiß große Welt- und Menschenkenntniß und
wußten diese wohl zu benutzen.
Was bei den Griechen die Volksführer im besten Sinn, das waren in
Israel die Propheten. Sie leiteten das Volk ohne alle öffentliche Autorität
durch die Gewalt ihrer Persönlichkeit und den Eindruck der heiligen Scheu,
den sie auf die Hörer machten. So waren sie die Sachwalter der Unterdrückten.
In Israel fehlte es so wenig, wie in irgendeinem andern Staat des Morgen-
landes. an Bedrückung durch weltliche und geistliche Machthaber, an Ungerech.
^keit und Käuflichkeit der Richter. Da war es nun für die untern Stände
hohem Grade wichtig, daß diese begeisterten Männer sich ihrer annahmen;
denn nicht eine äußerliche Gortesverehrung, sondern eine solche forderten diese
"ur mächtiger Stimme, welche sich im Leben durch strenge Gerechtigkeit und
Heiligkeit zeigt. Die gewaltigsten Strafreden der großen Propheten, namentlich
Jesaia. sind an die Vornehmen und Mächtigen gerichtet, welche das arme
^°ik mißhandeln und aussaugen; streng wird ihnen vorgehalten, daß es völlig
^el sei. solche Frevel durch Opfer und Festgcbrciuche sühnen zu wollen, statt
^res thätige Besserung.
Auch politisch werden die Propheten wichtig. Sie eifern für den Satz.
Israels Glück nur durch vollständigen Gehorsam gegen Gott zu erreichen
'se- daß der Ungehorsam sich am Volke schwer rächen muß. Dabei verwerfen
^ Von der Höhe der Idee aus alle Bündnisse mit fremden Völkern, alles
Vertrauen auf äußere Streitmittel, eben dies bedeutet ihnen einen sträflichen
Mangel an Vertrauen zu Gott, der allein helfen kann.
Diese Grundsätze vertreten die Propheten mit Aufopferung ihrer selbst.
Sie leiden vielen Widerstand, aber werden nicht gebeugt. Sie greifen auch
handelnd ein. Als das Haus AHabs durchaus nicht vom Götzendienst lassen
will, da bewirkt Elisa seinen Sturz. Ja sogar die Trennung des nördlichen
Reichs vom südlichen wird auf einen Propheten zurückgeführt. Man sieht,
daß dieser Prophet die Herrschaft des Stammes Juda, namentlich des Salomo,
wesentlich anders auffaßte, als unsre Berichte. Es lag übrigens in der Natur
der Sache, daß das Auftreten der Propheten oft zu Conflicten führte. Auch
wenn die Machthaber stets die beste Gesinnung gehabt hätten, wäre es ihnen
doch unmöglich gewesen, eine so ideale Politik, wie die von den Propheten
geforderte, durchzuführen. Sie mußte» unter allen Umständen mit den Mächten
der Erde rechnen, welche von den Propheten für gar nichts geachtet wurden.
Bei solchen Conflicten waren die Propheten gewiß nicht immer ganz schuldlos;
der gewaltige Eifer riß sie leicht über die Grenzen der Mäßigung hin/
Es erklärt sich leicht, daß auch das reinste Streben dieser Männer oft
Hohn. Leiden und Verfolgungen, ja den Tod über sie brachte. Aber dies
waren doch die seltneren Fälle. Das hohe' Ansehn, in dem sie beim Volke
standen, schützte sie, und selbst die Großen beugten sich oft vor der geistigen
Ueberlegenheit. Noch der eingekerkerte Jeremia flößt dem König Sedekia solche
Ehrfurcht ein, daß er heimlich zu ihm kommt und ihn flehend befragt, ob sich
die von ihm vorhergesagter Folgen seiner unverständigen und treulosen Politik
nicht noch abwenden lassen. Welch ein Segen lag übrigens darin, daß die
Propheten das Wort überall frei zu erheben wagten und in gewisser Hinsicht
erheben durften! Vor den mit Blutschuld bedeckten König Ahab tritt Ella
furchtlos und verkündet ihm, daß er für seine That den schmählichen Tod leiden
soll; der König weist ihn nicht zurück, sondern thut Buße und erlangt dadurch
Milderung der über ihn verhängten Strafe. Sind die einzelnen Züge dieser
Erzählung auch nicht alle streng geschichtlich, so geben sie uns dock ein treues
Bild von dem Auftreten der Propheten gegen die Mächtigen der Erde.
Auch mit den Priestern waren Conflicte nicht immer zu vermeiden. Ob¬
wohl einige Propheten aus priesterlichen Geschlecht waren (z. B. Jeremia), s»
mußten die reineren, geistigeren und doch strengeren Anschauungen der begeisterten
Gottesmänner denen mitunter lästig werden, welche sich des ruhigen Besitzes
ihrer geistlichen Würde erfreuen wollten und durch die Handhabung des Cultus
ihre Heiligkeit gesichert glaubten. Nicht blos der Priester des goldenen Kalbes
weist den Propheten Amos zurück, sondern auch die Priester in Jerusalem suchen
die Propheten zuweilen fern zu halten.
Bei dem Subjektivismus der Propheten kann es selbst nicht fehlen, daß
sie bisweilen auch miteinander in Verwicklungen geriethen. Da war jeder von
seiner Wahrheit überzeugt und der andere ein falscher Prophet. Allein die
großen Grundgedanken, welche allen gemeinschaftlich waren, ließen doch solche
Conflicte nicht häufig hervortreten, und wo die Rede von Pseudoprvpheten
'se, haben wir meist eine bloße Ausartung, eine Anwendung prophetischer Art
und Rede zu selbstsüchtigen Zwecken anzunehmen. So haben wir auch die
Propheten anzusehen, gegen deren unsittliches Leben Jesaia und andere eifern.
Die Äußerlichkeiten des Prophetenthums konnten sich auch Unberufene
leicht aneignen, ohne doch von seinem wahren Wesen etwas an sich zu
haben.
Auch Propheten der fremden Götter, besonders des Baal, werden im Alten
Testament erwähnt. So viel Achnlichkeit diese mit den hebräischen Propheten
haben mochten, so haben wir ihnen doch allen höheren Werth abzusprechen, da
den Religionen der Nachbarvölker Israels ethische Grundsätze fehlten. Die
Macht des sittlichen Ernstes, welche den hebräischen Propheten antrieb, selbst sein
Leben in die Schanze zu schlagen, wenn Gott, d. i. sein Gewissen, ihn rief,
konnte unmöglich ein Verehrer des Baal und der Astarte fühlen.
Die Lehr- und Wirkungsart der Propheten war jedenfalls sehr mannigfach.
Sie äußerten sich bald in schlichtem Vortrag, bald in erregter Rede. Wenn,
">le das Alte Testament es ausdrückt, die Hand Gottes über sie kam, der Geist
Lottes sie bedeckte, so mochten sie wohl oft selbst ihrer nicht mehr mächtig sein;
entschleierten Auge des Sehers zeigten sich im Moment der höchsten Er¬
legung die Gestalten der geheimsten Dinge leibhaftig. Wenn er so in der
süßem Begeisterung sprach, oder später seine in diesem Zustand gesehenen
Visionen schilderte, mögen die Zuhörer oft Mühe gehabt haben, sich den Sinn
Reden zurecht zu legen. Bei den uns erhaltenen Schilderungen der Visto-
ist aber nicht zu verkennen, daß diese nie blos das im Geist Geschaute
^"fach wiedergeben, sondern daß sie stets reflectirte poetische Ausmalungen sind,
^ Ma Theil geradezu auf Reflexion beruhen. So läuft schon bei einem der
^sten uns erhaltenen Propheten, bei Amos, eine Vision auf ein Wortspiel
h'naus (8, 1. 2.), und die seltsamen Gesichte des Ezechiel sind sämmtlich Pro-
"ete kalter Reflexion. Natürlich spiegeln diese Schilderungen aber einen Vor¬
zug wieder, der dem Geist der Propheten nicht fremd war. Doch unter allen
^ständen ist eine solche, immerhin unklare und nur subjectiv wahre Be¬
geisterung nicht das Höchste bei den Propheten; nicht durch sie sind sie die
^ger des religiösen Fortschritts in ihrem Volke geworden. Freilich mag bei
^ phantastischen Erregbarkeit >der Semiten und bei der Gewalt der religiösen
^danken auch der gewöhnliche Vortrag der Propheten etwas Leidenschaftliches,
"ruhiges an sich gehabt haben, aber von dieser Erregtheit bis zu jenem eigene-
'^n Enthusiasmus ist doch noch ein großer Schritt. Die öffentliche Rede der
Propheten war so wenig an eine bestimmte Kunstform gebunden, daß sie sogar
auf erhobene Einwände unmittelbar antworteten.
Natürlich mußte bei einem wahren Propheten das ganze Leben mit seinen
Gedanken und Lehren im Einklang stehen. Selbst in Äußerlichkeiten drücken
sie aus, was sie beseelt. Jesaia giebt seinen Kindern Namen, welche seine
Grundgedanken aussprechen, und oft geben sie ihren Ankündigungen durch be¬
gleitende ausdrucksvolle Handlungen mehr Nachdruck. Dies sind die symbolischen
Handlungen, deren Schilderung in unserer jetzigen prophetischen Literatur aller¬
dings zuweilen blos eine schriftstellerische Einkleidung ist (z. B. Jer. 13).
Der mündliche Vortrag ist bei den Propheten natürlich das Ursprüngliche,
aber schon sehr früh singen sie an, diesem durch schriftliche Aufzeichnung weitere
Verbreitung und Wirksamkeit zu verschaffen. Die ältesten Propheten, von
denen wir vollständige Stücke haben, leben ums Jahr 800 vor Chr. Geb., und
in den geschichtlichen Büchern sind uns einzelne prophetische Aussprüche in
ziemlich authentischer Weise aus noch früherer Zeit erhalten (z. B. 1 Kön. 22,
19 ff.). Natürlich sind die Auszeichnungen der prophetischen Reden nicht steno¬
graphische Berichte, sondern mehr oder weniger freie Reproductionen des früher
Gesprochenen. Wenn Jeremia nach seiner eigenen Angabe seine prophetischen
Reden im fünften Jahre des Königs Jojakim wiederherstellt, nachdem dieser die
kurz vorher (lange Jahre nach dem ersten Auftreten des Propheten) veranstaltete
erste Sammlung hatte verbrennen lassen (Jer. 36), so ist an eine wörtliche
Wiederherstellung nicht zu denken. So erklärt es sich, daß zuweilen in den
uns vorliegenden prophetischen Reden auf Dinge Rücksicht genommen ist. die
zur Zeit, wo sie gehalten wurden, noch nicht bekannt sein konnten; die schrift¬
liche Aufzeichnung hat hier nachträglich die spätern Umstände mit berücksichtigt.
Oft mag der Prophet allerdings seine Reden sofort aufgeschrieben oder
dictirt haben, aber oft vergingen Jahre zwischen dem Halten und dem Nieder¬
schreiben. secundär ist es, die Reden gar nicht zu halten, sondern blos nieder¬
zuschreiben, obgleich dies schon in alter Zeit einzeln vorgekommen sein wird.
Namentlich bei prophetischen Aussprüchen über fremde Völker, an die man sich
doch nicht unmittelbar mit der Rede wenden konnte, scheint die blos schriftliche
Abfassung Regel gewesen zu sein, aber auch sonst möchte ich selbst bei Jesaia
manche Reden als rein schriftstellerische Producte ansehen, während sich bei andern
wieder deutlich ersehen läßt, daß und unter welchen Umständen sie vorher ge¬
halten sind. Einige spätere Propheten sind ganz Schriftsteller, wie z. B. Ezechiel,
während sich wiederum bei den spätesten Propheten deutliche Spuren einer lebe^
tigem Wirksamkeit durch mündliche Rede nachweisen lassen.
Die Kunstform, welche fast von allen Propheten mehr oder weniger be¬
obachtet wird, ist gewiß bei der mündlichen Rede nicht so stark hervorgetreten,
wie bei der schriftlichen Aufzeichnung. Sie lehnt sich an die eigenthümliche
Form der hebräischen Poesie, die freie Gliederung der Rede in rhythmisch
Parallelen Reihen, deren Darstellung uns hier zu weit führen würde, bedient sich
aber hier noch größerer Freiheit, als die eigentliche Poesie, und verwendet durch-
gehends längere Redeglicder. Zuweilen, jedoch nicht sehr häusig, gruppiren sich
die Verse wieder zu Strophen. Der Bilderreichthum, der poetische Schwung
ist der prophetischen Rede bis in die spätere Zeit gewiß immer eigenthümlich
gewesen. Schon von dieser formellen Seite, selbst abgesehen vom Inhalt, sind
manche Prophetien, z. B. die des Joel und Jesaia, wahre Meisterwerke. Zu¬
weilen werden die Propheten ganz Geist, z. B. Habal'ut 3, und selbst Jeremia
hier und da, während anderseits in den poetischen Büchern, wie den Psalmen,
bisweilen Stücke hervortreten, welche sich der prophetischen Redeweise nähern.
Die poetische Form und der ganze Schwung der Rede tritt mit der Zeit mehr
und mehr zurück. Bei Ezechiel und selbst vel Jeremia ist manches ganz pro¬
saisch ausgedrückt; aus dem Ende des Exils haben wir noch einige prophetische
Stücke von großer Schönheit, aber dann hört die Kunstform ganz auf, da auch
der alte Geist erloschen ist.
Die ältern Propheten drücken sich im Ganzen kürzer, gedrungener, schwerer
aus. als die spätern, welche, auch wo sie der poetischen Redeweise treu bleiben,
doch leichter, gedehnter und flüssiger schreiben. Dieselbe Entwicklung des Stils
^igt sich im Ganzen auch in der eigentlichen Poesie der Hebräer. Im Ganzen
überragen die Propheten der ältern Zeit die der spätern an Kunst der Rede
bedeutend, doch gilt das nicht durchgängig, wie man z. B. nicht verkennen kann,
daß der alte Prophet Hosea kein gewandter Stilist ist und Mühe hat, seinen
Gedanken einen zweckmäßigen Ausdruck zu geben.
Wie der Begriff des literarischen Eigenthums den Hebräern überhaupt ziem-
^es fremd war, so benutzen auch die Propheten häusig die Reden ihrer Bor¬
gänger mehr oder weniger wörtlich. Ganze Stellen werden citirt (z. B. Ich.
16 und 16 eine lange von ihm schon als alt bezeichnete Prophetie über Moab),
°der ohne weiteres den eignen Reden einverleibt, als wären sie eignes Gut.
Namentlich bei Reden über fremde Völker geschah dies häufig. So sehen wir
eine ältere Prophetenrede über die Edomiter einerseits bei Jer. 49, anderseits
bei Obadja benutzt. Schon Amos (1, 21) eröffnet sein Buch mit einem Spruch'
Joel (4, 16), und Jesaia beginnt eine Rede mit einer Stelle aus einem
"leer Propheten, welche außer ihm auch Micha benutzt (Ich. 22 ff. Micha
4' 1 ff-).
Die Propheten haben es zum Theil nicht verschmäht, den Sinn ihrer
Reden durch historische Zusätze zu erläutern, welche die Veranlassung jener oder
^ Erzählung von Ereignissen enthalten, welche sich begaben, als sie dieselben
zuerst mündlich vortrugen. Solche Zusätze finden wir bei Amos, Jesaia und
^sonders bei Jeremia. Davon sind natürlich streng zu unterscheiden die ge-
schichtlichem Zusätze späterer Hand, durch welche die Bücher Jesaiq und Jeremia
erläutert werden (Ich. 36—39, Jer. 62).
Die uns vorliegenden Prophetien sind zum Theil mit Anschriften versehen,
welche den Namen des Verfassers, auch wohl einige Notizen über ihn und über
die besondere Veranlassung der Reden enthalten. Diese Beischriften bewähren
sich mit wenig Ausnahme» als richtig, auch wo sie nicht von den Verfassern
selbst abstammen. Sie geben der Kritik sehr werthvolle Andeutungen über die
Entstehung der einzelnen Reden, wie der ganzen Sammlungen.
Aber innere Gründe müssen hinzukommen, um die Echtheit und die nähern
Umstände festzustellen, aus denen die einzelnen Theile und die ganzen Bücher
hervorgegangen sind. Die Kritik hat durchgängig nach der Veranlassung,
nicht nach der Erfüllung zu suchen. Eine Rede, in welcher Cyrus mit
Namen genannt wird (Ich. 44, -28; 45, 1), eine andere, in welcher die Meder
und Perser aufgefordert werden, Babel zu zerstören, weil es die Jsraeliten un¬
menschlich behandelt habe (Ich. 13, 1—14, 23). kann natürlich nicht von Jesaia
herrühren, der weder die Fortführung des Volks nach Babel, noch die Befreiung
desselben durch Cyrus, den König der Meder und Perser, vorherwissen konnte.
Eine Erklärungsweise, welche die Erfüllung der Prophetien, und gar im Ein¬
zelnen, nachweisen will, verstößt überall gegen die Thatsachen; hoffen wir, daß
diese von der deutschen Wissenschaft jetzt doch schon so ziemlich allgemein ange¬
nommene Einsicht den Jahrtausende alten kleinlichen Buchstaben- und Wun¬
derglauben in nicht zu serner Zeit ganz vertreiben möge!
Kommt zu einer genauen Untersuchung der geschichtlichen Veranlassung
noch eine sorgsame Erwägung der Sprache, des Stils und der Gedanken, so
kann man zwar nicht alle erhaltenen Prophetien, aber doch die große Mehrzahl
derselben ziemlich genau bestimmen. Natürlich dürfen hier nicht übertriebene
Ansprüche gestellt werden, wie z. B. daß man immer Jahreszahl und Datum
auffinden soll. Die prophetischen Reden sprechen aber so zu der Gegenwart
aus der Gegenwart, betreffen auch da, wo sie die allgemeinsten religiösen Sätze
verfechten, doch so sehr deren specielle Anwendung und wählen die Farben für
ihre Drob- und Verheißungsredeu so nach den vorliegenden Umständen, daß
ihre Zeit durchgängig weit leichter wiedergefunden werden kann als z. B. die
eines lyrischen Gedichtes über allgemein menschliche Verhältnisse.
Auf diese Weise werden die prophetischen Schriften für uns historische
Quellen von hohem Werthe. Ich meine hier nicht so sehr die zerstreuten ge>
schichtlichem Angaben in ihnen, wie ihr ganzes Eingehen auf das geistige Leben,
die socialen Zustände und die ganzen Verhältnisse ihrer Zeit. Sie beleben uns
den im Ganzen doch etwas dürren Abriß der Geschichte in den Büchern der
Könige und der Chronik und berichtigen ihn oft in wesentlichen Punkten; sie
haben eben den Werth, von Urkunden. Von einigen Perioden, wie der des
Königs Histia und besonders der letzten Zeit Jerusalems, haben wir durch die
prophetische Literatur besonders genaue Kenntniß. Die geschichtlichen Schriften
geben uns über die Propheten, deren Werke wir noch besitzen, übrigens sehr
wenig Nachrichten, und auch über andere Propheten haben wir wenig streng
geschichtliche Angaben, während allerdings mancherlei Legendenhaftes über sie
erzählt wird. Ueber die persönlichen Verhältnisse unserer Propheten sind wir
deshalb sehr ungenügend unterrichtet, von einigen wissen wir gar nichts Näheres.
Die Sammlungen der Reden eines Propheten sind theils von ihnen selbst
veranstaltet, theils wohl erst nach ihnen. Ersteres ist sicher der Fall mit dem
nach einer bestimmten Ordnung disponirten Buch des Ezechiel, während Jere-
mias Prophetien wahrscheinlich, möglicherweise freilich noch bei seinen Lebzeiten,
v»n seinem Schreiber und Freund Baruch gesammelt sind, dem ich auch die
ausführlichen geschichtlichen Nachrichten über die letzte Wirksamkeit des Propheten
Zuschreiben möchte. Im Lauf der Zeiten haben sich den größeren Büchern ano¬
nyme Prophetien angehängt, theils zufällig, theils weil man später glauben
mochte, sie stammten von denen ab, in deren Bücher man sie versetzt hat. Sehr
Muck treten dagegen die absichtlichen Unterschiebungen, entweder als Zusätze
und weitere Ausführungen des Echten (wie Ich. 19, 16—25; 23. Is—18) oder
als selbständige Stücke (wie Jer. 60 f.).
Durch Anhängung anonymer und pseudepigrapher Stücke an größere und
Vereinigung kleinerer Prophetien mit einander entstanden die jetzigen vier pro¬
phetischen Bücher, Jesaia, Jeremia, Ezechiel und das Buch der zwölf oder der
deinen Propheten. Bon dem ersten dieser vier Bücher gehört mehr als die
Hälfte anderen Propheten, als dem Jesaia; vom Buch Jeremia sind, abgesehen
von einzelnen kleineren Zusätzen, nur die letzten drei Capitel unecht, während
°as Buch Ezechiel uns im Wesentlichen so vorliegt, wie es aus der Hand
^zechiels hervorgegangen ist. Das vierte Buch enthält kleinere prophetische
Schriften nebst einer Prophetenlegende (Jona); jene sind sämmtlich von denen
Erfaßt, nach denen sie benannt sind, nur daß an die Schrift Sacharjas zwei
"leere anonyme Anhänge gefügt sind, und daß Maleachi wahrscheinlich kein
wahrer Eigenname, sondern blos aus Mißverstand als Bezeichnung des ano¬
nymen Verfassers angesehen ist. Die heilige Zwölfzahl ist hier offenbar ab-
suhtlich gewählt; die Anordnung der einzelnen Schriften folgt einem chrono¬
logischen Princip, aber nicht ohne gewisse leicht erklärliche Fehler.
Wir würden die erhaltenen Prophetien am besten auf vier Perioden ver-
theilen. Die erste Periode, etwa bis in die Mitte des siebenten Jahrhunderts
S°l)end. umfaßt die bedeutendsten, kräftigsten und poetisch vollendetsten Schriften.
D'e zweite, welche bis in den Anfang des Exils reicht und die Propheten
^Knja. Habakuk, Jeremia, Ezechiel. Obadja und den einen Anhang zum
Sacharja in sich schließt, zeigt im Ganzen schon eine merkliche Abnahme des
Schwunges, so hoch auch formell Habakuk und Jeremia in rein geistiger Hin¬
sicht stehn. Die dritte Periode, die des neuen Auslebens der Nation gegen den
Schluß des Exils hin, wird durch mehre anonyme und ein pseudonymes Stück
in den Büchern Jesaia und Jeremia repräsentirt, welche wieder einen frischen,
kräftigen Ton anschlagen und meist gegen das tyrannische Babel gerichtet sind.
Die vierte Periode endlich, die nachezilische, aus der wir die Schriften Haggais,
Sacharjas und Maleachis haben, zeigt das gänzliche Sinken der prophetischen
Kraft. Inhalt und Form ist hier gleich dürftig; für das eigentliche Judenthum,
welches in dieser Zeit begründet ward, paßte das alte israelitische Propheten-
thum mit seinem hohen, freien, undisciplinirten Geiste nicht mehr.
Karl der Fünfte und die deutschen Protestanten 1545 bis 1555. Von Wilhelm
Maurenbrecher. Nebst einem Anhang von Ackerstücken aus dem spanischen Staats¬
archiv von Simancas. Düsseldorf, Verlagshandlung von I. Buddeus. 1865.
346 und 184 S. 8.
Die vorliegende Schrift ist die erste Frucht vierzehnmonatlicher Studien in
den Archiven zu Simancas, die dem Verfasser Material zu einer Geschichte
Philipps des Zweiten von Spanien geben sollten, und gleichsam die Einleitung
in diese Geschichte. Einen Gegenstand behandelnd, der von Ranke, dem Lehrer
und Vorbild Maurenbrechers, bereits dargestellt ist, entwickelt sie im Ganzen
dieselbe Ansicht von der Periode, mit der sie sich beschäftigt, wie jener, doch
mußten bei dem größeren Reichthum an Material manche einzelne Partien in
anderm Lichte erscheinen als bei dem Vorgänger. An Scharfsinn in der Deu¬
tung und Entwickelung der Charaktere und Situationen und in der Kunst klarer
und anschaulicher Darstellung kommt der Schüler dem Meister ziemlich nahe. Die
kriegerischen Ereignisse sowie überhaupt bekannte Dinge sind nur kurz erwähnt,
Hauptsache ist dem Verfasser, auszuführen, in welchen Wechselbeziehungen und
Wechselwirkungen Karls europäische Politik, sein Streben nach der Universal¬
monarchie zu der kirchlichen Bewegung des deutschen Protestantismus gestanden
hat, und dies ist ihm in einer Weise gelungen, die sein Buch warm empfehlen
läßt. Die eigenthümliche Mischung verschiedener, sich widerstrebender Motiven
und Interessen, aus denen das Gewebe der spanisch-habsburgischen Politik be¬
steht, ist aus vortreffliche Art dargestellt.
Als im Beginn der neuen Zeit nationale Staatswesen sich zu bilden an¬
singen, erhoben sich gleichzeitig aus dem Kreise der romanischen Nationen zwei
Staaten, Frankreich und Spanien, um innerlich erstarkt dem natürlichen Drange
einer frischen Volkskraft zur Eroberung zu folgen. Die italienische Halbinsel
ist beider Ziel, und so stoßen sie hier feindlich auf einander. Spaniens König,
ein echter Realpolitiker, geht auf ein erreichbares Ziel, auf die Vereinigung ver¬
wandter und gleichartiger Elemente zu einem großen Romanenreiche aus; die
französischen Könige dagegen treiben Universalpolitik und streben die Weltherr¬
schaft an. Da greift in den Kampf um Italien eine neue Macht, eine dritte
politische Größe ein. die sich jetzt aus sehr verschiedenen Elementen gebildet hat:
die Herrscher von Habsburg-Burgund, die auch die deutsche Kaiserkrone erlangen,
werden Rivalen der Könige von Frankreich bei deren Streben nach der Universal-
wonarchie. Bei Kaiser Maximilian sehen wir mehr kühne und stolze Träume,
die consequent festgehalten werden, als Erfolge. Seinem Nachfolger aber sollen,
so scheint es. auch diese nicht fehlen, und zwar durch eine wunderbare Fügung
der Umstände. Der König, welcher mit praktischem Blick, absehend von unnützer
auf Weltherrschaft gerichteter Eroberungspolitik, lediglich ein spanisch-italienisches
Reich zu gründen strebte, Ferdinand von Spanien hat zuletzt nur die Mittel
^schaffen, welche die verwegnen und phantastischen Ideen des Habsburgischen
Max der Verwirklichung nahe bringen. Was Max von der Zukunft seines
Hauses geträumt, das kann Karl der Fünfte, die Habsburgischen Lande mit den
Reichen der spanischen Krone durch Erbgang vereinigend, auszuführen unter-
nehmen.
Die Stellung, welche dieser Kaiser gleich zu Anfang einnahm, erlaubte ihm
"ach allen Seiten hin seine Macht weiter auszubreiten, im Norden von den
Niederlanden und Oestreich über das von diesen Ländern umspannte deutsche
Reich, im Süden von Mailand und Neapel über das von diesen Punkten ein¬
mengte Mittelitalien. Und dazu kam noch das spanische Reich mit seinem fert¬
igen, stürmisch zu Eroberungen drängenden Volke, seinen die höchste finanzielle
Blüthe verheißenden Kolonien. seinem schlachtgeübten Heere, seinen durch Fer-
dinand wohlgeschulten und vielerprobten Diplomaten — in der That, der Weg
^ar wohl geebnet, auf den des Großvaters politisches Ideal Karl hinwies, und
er dieses Habsburgische Ideal mit Eifer und Ausdauer verfolgte, so würde er
l"» Ziel erreicht haben, wenn ihm nicht auf »Apolitischem Gebiete, in der
Deformation ein unüversieigliches Hinderniß entgegengetreten wäre. Der
Gegensatz der nationalen Elemente, aus denen sein Weltreich bestehen sollte.
^ durch die Bewegung im kirchlichen Leben beträchtlich geschärft worden, der
ästigste religiöse Fanatismus hielt die in jenen Organismus zusammenzu-
schmelzenden Nationen auseinander, und in Deutschland entstanden aus der
religiösen Erhebung dem Kaiser Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten, auch für
seine politische Stellung. Denn gegenüber der Opposition der Deutschen gegen
die mittelalterliche Kirche eine rein politische Haltung anzunehmen und zu be¬
wahren, sie zu seinen politischen Zwecken zu benutzen war für Karl, den spa¬
nischen Habsburger, den bigotten Katholiken ein Ding der Unmöglichkeit.
Was für eine Persönlichkeit war Karl der Fünfte? Welcher Art waren
seine Tendenzen? Wir antworten darauf mit einem Auszug aus dem elften
Abschnitt unseres Buchs.
Am 24. Februar 1500 wurde dem Erzherzog Philipp, dem Herrn der
Niederlande, von seiner Gemahlin, der spanischen Prinzessin Juana zu Gent
ein schwächliches Kind geboren, welches Karl getauft wurde. Nach dem frühen
Tode des Vaters und bei dem gestörten Geiste der Mutter wurde die Erziehung
dieses Prinzen von der Tante desselben, der Erzherzogin-Statthalterin Marga-
retha in die Hand genommen und so lange er in den Niederlanden blieb, ge>
leitet. Wissenschaftlicher Unterricht erhielt er von ernem niederländischen Pro¬
fessor, der später als Hadrian der Sechste die päpstliche Tiare trug, in ritter¬
lichen Künsten damaliger Zeit übte ihn sein Hofmeister, der Herzog von Chievres,
der bald Einfluß auf ihn gewann. AIs er dann nach Ferdinands des Katho¬
lischen Tode nach Spanien ging, war er, der in niederländischer Sitte Erzogne,
den Spaniern eine fremde und unwillkommene Erscheinung, und Jahre lang
dauerte es, bevor er zu der spanischen Nation in einigermaßen sympathischere
Beziehungen trat; von den Fähigkeiten des jungen Fürsten halte man damals
eine ebenso geringe Meinung wie von seiner Willenskraft. Die Umgebung,
in der er in Gent und Brüssel gelebt, war bestimmend für seine ganze politische
Laufbahn gewesen, nicht die Politik seines spanischen Großvaters, die wir soeben
charakterisirten, war es, die er sich zur Richtschnur nahm, sondern die Pläne
seines Großvaters väterlicherseits waren es, nach denen seine Negierung verfuhr,
zunächst in Spanien, dann in Deutschland und Italien. Auch als er Mann
geworden, erfüllten der politische Jdeenkreis Maximilians und die Nebelträume
eines christlichen Universalrcichs alle Räume seiner Seele.
Mit den Jahren entwickelten sich die anfangs verborgenen Anlagen des
jungen Herrschers. Schon im Jahre 1525 hören wir, daß er auf die Freuden,
denen jugendliche Fürsten sonst nachzugehen Pflegen, nicht viel giebt, und daß
er fleißig mit seinen Staatvräthen arbeitet. Später berichtet man uns zwar
bisweilen von Liebschaften des Kaisers, von übermäßigem Gefallen an den Ge'
müssen der Tafel, aber niemals finden wir, daß solche Dinge den Monarchen
beherrscht oder ihn gar einem persönlichen Einfluß unterworfen hätten. Auch
an der Jagd, an körperlicher Bewegung, an militärischem Spiel gewann Karl
allmälig Interesse, aber ebenfalls nicht in dem Maße, daß Wichtigeres dadurch
beeinträchtigt worden wäre. - Obwohl frühzeitig von Krankheiten heimgesucht
und im Mannesalter hart von der Gicht geplagt, ließ er sich doch von Schmerzen
und Leiden nie ganz niederdrücken, sondern war immer zu rascher Thätigkeit
bereit, wenn die Stunde es verlangte.
Seine Theilnahme an den Staatsgeschäften wuchs immer mehr. Unter
der Leitung seiner Minister studirte er die Lage Europas nach allen Richtungen
und erfüllte er sich immer stärker mit den kaiserlichen Tendenzen. Mehr und
wehr rüstete sich sein Geist und Wille für zwei große Unternehmungen: die
Bewältigung der rivalifirenden Valois und den Kreuzzug des gesammten Abend¬
landes gegen den Islam. Noch verweilte er eine Zeit lang in Spanien still
sitzend und an der Thätigkeit Anderer lernend. Dann, im Jahre 1529, griff
^ selbst in das große Getriebe der Welt handelnd ein. Zuerst war er von
Chiövres beherrscht gewesen, dann hatte ihn Gattinara vollständig geleitet, jetzt
wurde er von Cobos und Granvella nur noch berathen; denn seine Lehrzeit
War beendet. Von einer unbedingten Leitung Eines Ministers war jetzt nicht
U'ehr die Rede: Karl sah jetzt selbst den Zusammenhang der Dinge und gab
b>e Entscheidung in den vorliegenden Fragen. Von seinen beiden ersten Räthen
hat ohne Zweifel Cobos in der ersten Zeit den überwiegenden Einfluß gehabt;
Nut den Jahren aber kam Granvella in die Stellung des Premierministers,
wenn man so sagen darf, und nachdem Karl im Jahre 1543 Cobos in Spanien
"is vertrauten Rathgeber seines Sohnes zurückgelassen, war Granvella unein¬
geschränkt der Erste im Vertrauen des Kaisers, eine Situation, in der er geschickt
u die Absichten seines Gebieters einzugehen und die große Politik wie seine
e>gene Sache zu führen wußte, in Betreff deren es aber keinem Zweifel unter¬
legen ^ ^ Führer und Meister nicht Granvella, sondern Karl
selbst war.
Es ist wahr, in den Jahren des Kriegs mit den deutschen Protestanten
^ Karl noch manchen Minister mit wichtigen Dingen betraut und noch manchen
Ebenen Freund und Diener benutzt, aber auf die wesentliche Entscheidung der
Inslebener Fragen hat niemand von ihnen Einfluß geübt, sie alle waren nur
erzeuge. Zu den wichtigeren Berathungen wurde nur Alba und der Beicht¬
er de Soto gezogen, und der Rath des letzteren wird nächst dem Granvellas
ein Eingang gefunden haben. Alles Andere, wozu man noch den oder jenen
ern hörte, waren Fragen des Details oder der Ausführung, in denen man
) so oder so entscheiden konnte, Richtung und Ziel dieser Politik aber wurden
^ 'Ruch mit Granvella und Soto besprochen.
Und wenn Karl, seit er zum Manne gereift, selbst die Seele seiner Ne-
> erung, der kaiserliche Staatsmann gewesen ist. so hat er auch an der Aus-
)rung der einzelnen Beschlüsse sehr bestimmten Antheil gehabt.
Allerdings lag es in der Natur eines Reiches, welches aus so vielen und
so verschiedenartigen Bestandtheilen zusammengesetzt war, daß ein jeder der
Theile ein gewisses Maß von Selbständigkeit behaupten mußte. Die locale
Regierung in den Einzelheiten der Verwaltung mußte von dem Ganzen un¬
abhängig bleiben; es war eben nicht möglich, aus der Mitte der spanischen
Halbinsel oder von einem deutschen Reichstag aus ein straffes Regiment über
Spanien oder über Deutschland und hier wie dort zugleich über ,die andern
Länder der Gesammtmonarchie auszuüben, und wir finden in der That, daß die
Regierungen jener Einzelländer ziemlich unabhängig verfuhren. Der König
Ferdinand in Deutschland und die Königin Maria in den Niederlanden haben
in vielen Dingen die Geschicke ihrer Völker nach eigenen Gesichtspunkten be¬
stimmt und von dem specifischen Interesse des ihnen anvertrauten Gebietes aus
auch Vorstellungen gegen die Gesammtpolitik zu erheben gewagt und auf die
Entscheidungen der Gesammtregierung einzuwirken versucht. Die italienischen
Statthalter Karls ferner behaupteten eine ähnliche Stellung. Sehr selbständig
und geschlossen war Toledos Regiment in Neapel, und Gonzagas Verwaltung
in Mailand erschien manchem Zeitgenossen als eine beinahe unumschränkte.
Einen bedeutenden Antheil hatte Karl sogar an den militärischen Erfolgen
seiner Regierung. Nachdem er sich erst in einem Feldzuge geübt hatte, gewann
er Fertigkeit und Befriedigung ^in der Rolle des Feldherrn. Die großen
Generale, die ihm im ersten Jahrzehnt seiner Regierung gedient, starben rasch
hintereinander, aber er wußte sie zu ersetzen. Wie berühmt Alba und Gonzaga
auch zu ihrer Zeit waren, die schärferblickenden Zeitgenossen urtheilten, der
größte Feldherr, den Karl besessen, sei er selbst gewesen. Schnell wußte er
Vortheile und Nachtheile im Felde zu übersehen, keinen Augenblick zögerte er
mit der Ausführung, sobald ein Plan reif war. Er selbst hat den siegreichen
Zug nach Tunis geführt, ihm war die Rettung des Heeres vor Algier zu danken,
er hat den Einfall in das Herz Frankreichs geleitet, er selbst wohl auch die
trefflichen Dispositionen in dem Feldzug gegen die deutschen Protestanten ent¬
worfen. Und Karl fühlte sich als Soldat, er konnte keinen Augenblick ve»
bergen, daß er trotz seiner Kränklichkeit in den Dingen des Kriegs lebte und
webte. Im Lager war er rührig und aufgeweckt, wollte er alles selbst sehen
und selbst leiten, verläugnete er den stolzen Kaiser und that Dienste wie jeder
andere General.
Auch in den eigentlichen Geschäften des Politikers, den Konferenzen und
Audienzen war Karl bestrebt, seiner Stellung zu genügen. Wie er schon in
den Jahren der Ruhe gern an den Sitzungen und Debatten seiner Räthe Theil
genommen hatte, so übernahm er es auch später noch häufig, eine wichtig
politische Sache zu führen. Bei den persönlichen Begegnungen mit dem Papste
erschien er schon 1629 vortrefflich instruirt, auf Fürstencongressen wußte er gut
zu sprechen, gern machte er wichtige Verhandlungen mit fremden Gesandten w
Person ab. Trotzdem war er eigentlich .nicht zum Diplomaten geschaffen, da
seine reizbare Natur ihn oft zu Aeußerungen hinriß, die sich weder mit dem
Ernst der Sache noch mit seiner Würde vertrugen. 1536 unterbrach er in Rom
heftig auffahrend den Papst in seiner Rede. 1541 ersuchte Granvella den
päpstlichen Legaten ausdrücklich darum, bei persönlichen Besprechungen mit dem
Kaiser dessen Heftigkeit zu entschuldigen und in seinen Berichten an den Papst
die von demselben gebrauchten Ausdrücke zu mildern. In allerdings gerecht¬
fertigten Aerger sagte Karl 1547, als der Papst ihm die italienische Unter-
stützung entzogen, dem Nuntius desselben sehr bittere Dinge ins Gesicht: er
kenne die „französische Krankheit" des Papstes, sein schlechtes Leben sei Welt-
bekannt, wohl werde er fortfahren, den heiligen Petrus zu verehren, nicht aber
^eher Papst Paul u. d. in. Und wie nun gar der päpstliche Antrag einlief,
auf die Bekehrung Englands mit allen Mitteln hinzuwirken, so äußerte sich der
Kaiser noch gereizter: er werde nie mehr eine Sache anfassen, die auf Wunsch
"der zum Nutzen dieses Papstes zu geschehen habe, derselbe lasse ihn jetzt im
Stiche, aber dennoch hoffe er, auch ohne ihn, auch zum Aerger Sr. Heiligkeit
Sieg in Deutschland zu vollenden, wie er ihn mit Gottes Hilfe begonnen,
l'ut wolle der Papst ihm nur Legaten und Nuntien zu seinem Beistande schicken,
so werde Karl erproben, was diese Priester, in die erste Schlachtrcihe gestellt.-
"ut ihrem Segen gegen die feindlichen Waffen auszurichten im Stande seien.
Derartige Aufwallungen waren gewiß nicht der Art, Karls Politik zu fördern,
und es scheint, daß man dies am Hofe des Kaisers alimähli g eingesehen habe;
denn in den späteren Jahren überließ Karl mehr und mehr die Verhandlungen
seinen Ministern und trat nur in den außergewöhnlichsten Fällen selbst auf.
Auch im alltäglichen Verkehr zeigte der Kaiser dieses hitzige Wesen bei
leben Anlaß. Die Heftigkeit seiner Natur konnte sich zu furchtbarer Höhe
steige»». Leidenschaftlich schimpfend und tobend fuhr er oft seine Gegner an,
und dabei war er eigensinnig und hielt zäh an dem einmal gefaßten Gedanken
fest- Eine Beleidigung vergaß er nie. Aber im Grunde war er doch ein durch¬
aus ernster Character, dem Tiefe des Gefühls und des Gedankens nicht abzu¬
stechen ist. Er hatte sich ganz mit der Vorstellung erfüllt, daß er ein Kaiser
^ wie die großen Herrscher des Mittelalters. Ihm gebührte, wie sein Stolz
Währte, nicht nur der erste Rang in der Christenheit, sondern geradezu die
Oberhoheit über alle andern Länder Europas, und sehr ernstlich verbat er sichs
^40, als König Heinrich von England zu ihm als Seinesgleichen redete. Die
deutschen Fürsten sah er natürlich nur etwa wie spanische Granden an, die
^enthümlich geartete Natur seiner deutschen Herrschaft wollte ihm niemals i»
den Sinn.
Aber neben diesem Stolz des Pantokratvrs ging doch auch noch ein anderes
wichtiges Gefühl her. Dieser Herrscher des Abendlandes war bei allem Ehrgeiz
im Grunde seiner Seele auch von der Religiösität seines Spanien ergriffen, es
ist in ihm die wunderbarste Mischung weltlichen und geistlichen Wesens. Wer
in dem Kaiser nur den Eroberer und Gewaltherrscher sieht, hat die Eigenthüm¬
lichkeit seiner Natur nicht begriffen, was freilich auch von dem gilt, dem er
vorwiegend ein religiöser Eiferer ist. Beide Eigenschaften halten sich vielmehr
in dem Charakter Karls die Wage. Als der Kaiser sich zu dem letzten großen
Schlage gegen Frankreich erhob, gönnte er dem Sohne einen Blick in seine
Seele. Die betreffenden Schreiben Karls sind durchgehend von einem gewissen
schwermüthigen Gefühle und einer ernsten Resignation angehaucht, die durch alle
seine kunstverständigen politischen Anweisungen Kindurchbricht. Er. der die
Nebenbuhlerschaft des französischen Mitbewerbers um die Weltherrschaft nieder¬
zuwerfen hat. erinnert sich doch auch sehr deutlich, daß ihm die Erhaltung der
allein wahren Kirche aufgegeben ist. Durch alle Windungen seiner Politik,
trotz seiner Zerwürfnisse mit dem päpstlichen Stuhle, verfolgt er ebenso sehr
wie das eine auch das andere Ziel, die Kirche in alter Macht und Herrlichkeit
wieder herzustellen und sie unbefleckt aus den Händen des Protestantismus
zu retten.
Häusig nimmt Karls kirchlicher Sinn die Farbe des spanischen Fanatismus
an: den religiösen Uebungen der katholischen Kirche in devotester Weise zuge¬
than, ist er vom glühendsten Hasse gegen jede Neuerung beseelt; wo er die
Macht dazu besitzt, geht er mit den schärfsten Edicten, mit Inquisition und
Todesstrafe gegen die Ketzer vor; noch am Abend seines Lebens flammt die fast
erloschene Gluth seiner Seele von neuem hoch auf, als er Spuren von Ketzerei
in seiner Nähe entdeckt. Und keinen Krieg sehen wir den Kaiser mit solcher
Wuth und Leidenschaft führen, als den Protestantenkrieg in Sachsen und Hessen.
Gichtkrank und bleich wie der Tod stürzt er sich bei Mühlberg persönlich in den
Kampf, zu Gott flehend, daß er seine Beleidiger selbst strafen wolle, und zuletzt
den Erfolg mit den Worten feiernd: „Gott hat gesiegt!"
In der That, die Vernichtung der deutschen Ketzer war von Jahr zu Jahr
mehr das Losungswort seiner Politik geworden. Hatten zu Anfang seiner
Laufbahn als Kaiser die politischen Gesichtspunkte vorgewaltet, hatte er, i»
Spanien weilend, vielleicht die Bedeutung der Borgänge in Deutschland unter¬
schätzt, so beherrschte später die hier ihm vorschwebende Aufgabe alle anderen
Tendenzen der kaiserlichen Staatskunst. Schon 1538 halte er im Kriege mit
König Franz innegehalten, um einen Bersuch zur Beschwichtigung der deutschen
Protestanten zu machen, und 1544 bewog ihn ohne allen Zweifel nur die
Absicht, diese Gegner der Kirche mit ven Waffen niederzuwerfen, zu dem über¬
raschenden Frieden von Crespy.
Aber wie seltsam erscheint dieses geistlich-politische Auftreten Karls, wenn
wir Zweck und Mittel seiner Thätigkeit miteinander vergleichen. Keineswegs
blos religiöse und kirchliche Mittel waren es. die er hier anwendete, sondern,
und zwar weit mehr noch, die Ränke und Künste der Diplomatie. Die deutsche
Protestantenfrage wurde von der kaiserlichen Staatskunst wie jede andere Frage
behandelt, mit der sich Karl zu beschäftigen hatte. Durch allerlei schlaue Schliche
suchte diese Staatskunst die protestantischen Gegner zu bethören und zu betrügen.
Um von denselben Beistand in politischen Dingen zu erlangen, gab sie doppel.
Ongige Verheißungen eines Concils, um von dem protestantischen Bunde ein¬
zelne Glieder zu lösen, ertheilte sie zweideutig gefaßte Zusicherungen einer reli-
A'sser Toleranz, und in beiden Fällen war sie sich der Hinterhältigkeit ihrer
Aeußerungen wohl bewußt, ja sie rechnete darauf, daß der Gegner sich in der
ihm damit gestellten Falle fangen würde. Dann wieder, als alle diplomatischen
Ueberlistungsvcrsuche zu nichts geführt hatten, erhob sich die kaiserliche Macht,
um mit Heeresgewalt die Reinheit und Einheit der Kirche zu sichern, und das
ist so wenig wie jene Reihe diplomatischer Ränke ein Weg. der auf wahre
Religiösität des Kaisers schließen läßt. Es war nicht der rechte Weg. und so
erreichte Karl eben auch nicht sein Ziel. Wie sehr der Kaiser von dem Geiste
»er spanisch-katholischen Politik erfüllt sein, wie mächtig ihn andrerseits der
Gedanke begeistern mochte, die mittelalterliche Weltherrschaft in Kirche und Staat,
den heiligen Weltstaat herzustellen, mit welcher Virtuosität, Energie und Aus¬
dauer er diesem Ziele auf dem Felde der Diplomatie wie auf dem des Krieges
nachstreben mochte, es war doch unmöglich, ein solches Ziel mit solchen Mitteln
SU erreichen, und an dieser Unmöglichkeit haben alle Erfolge, die Karl im Ein¬
zelnen errang, nichts zu ändern vermocht. Namentlich die Deutschen ließen sich
auf d^ Dauer nicht in den Plan des Kaisers einfügen, nicht in sein Joch
spannen. Nachdem dieser spanische Habsburger die nationale Entwickelung
Deutschlands, die einen so viel verheißenden Anfang genommen, in ihren besten
Blüthen geknickt hatte, war er zuletzt, und zwar zum Theil grade durch einen
Schüler seiner Politik, den sächsischen Moritz, dahin gebracht, die Unmöglichkeit
weiteren Erfolgs mit der deutschen Nation einzusehen und Deutschland den
Zucken zu kehren.
Was aber hier nicht gelungen, sollte auf einer andern Seite angefaßt
Werden. Vergebens hatte der alternde Kaiser seine besten Kräfte auf die Ver-
wirklichung der beiden Ideale seines Lebens gesetzt, er fühlte sich gebrochen von
d« Last der Aufgabe, aber zäh und hartnäckig wollte er auch jetzt seine Arbeit
'Acht für immer liegen lassen. Wo die eignen Fähigkeiten ein Ende hatten.
l°litem frische und unverbrauchte Kräfte dafür eintreten, und wo es auf diesem
Gebiete mißlungen war. sollte es aus jenem von neuem versucht werden. Der
Sohn und Nachfolger war bestimmt, die Aufgabe, die der Vater sich gestellt,
w"ter zu verfolgen, aber zunächst auf anderm Wege, und Philipp war dazu
entschlossen.
Die Einheit der Ziele beider Herrscher steht fest. Es ist ein und derselbe
Gedanke, der den Vater wie den Sohn führt und treibt, ein und derselbe
Glaube, der beide bei Erfolgen beglückt, bei Niederlagen emporrichtet. Die
Leitung der gesammten Christenheit in den Ordnungen der mittelalterlichen
Kirche und nach dem mittelalterlichen Staatsideal haben diese spanischen Herrscher
mit allen Mitteln moderner Regierungsweise, mit allen Werkzeugen moderner
Politik angestrebt. Aber Philipp nahm einen andern Anlauf als Karl, er
näherte sich von einer andern Seite seiner Aufgabe. Er griff auf die Politik
Ferdinands zurück. Auch bei Karl war die Grundlage und der Kern seiner
Macht über Europa die Königsgewalt auf der spanischen Halbinsel. Allein diese
spanische Basis tritt bei Philipp, der in Spanien geboren und von Spaniern
erzogen war, in weit höherem Grade hervor. Er war von Jugend aus ein
Spanier vom Scheitel bis zur Sohle, und er hat sich durchaus keiner andern
Denkweise, keiner andern Gefühlsrichtung anzunähern oder gar anzuschließen
bequemt.
Und an dieses spanische Reich fügte sich zunächst die Herrschaft in Italien.
Wie Karl, mehr und mehr auf die spanische Tendenz in den glorreichen Tagen
Ferdinands des Katholischen eingehend, immer deutlicher die Wichtigkeit des
oberitalischen Besitzes einsah, so war es für Philipp von Anfang an feststehendes
Axiom, daß er sich die Hoheit über Italien zu sichern habe, ein Axiom, das
ja schon in den augsburger Verabredungen von 1531 den eigentlichen Kern
der spanischen Forderungen ausgemacht hatte. Die Politik der spanischen Krone
vertrat ja von Jahr zu Jahr einseitiger die römische Kirche, und schon aus
diesem Grunde durfte man der unbedingten Herrschaft über Italien nicht
entsagen.
Die vorzugsweise katholischen Theile Europas also strebte der spanische
Philipp vor allem zusammenzuschmelzen, und in derselben Richtung arbeiteten
die Spanier jenseits des Meeres, auch in dem neuen Welttheil gingen sie als
Eroberer und Missionäre für das katholische Europa vor.
Der weitere Besitz dieser sich aufbauenden Universalmonarchie, von dem
Karl eigentlich ausgegangen war, das burgundische Erbe in den Niederlanden,
gab dann die Stelle ab, auf welcher von Norden her diese Tendenz ihre Hebel
ansetzte. Allerdings waren hier schon Symptome des Widerstandes sichtbar
geworden, welche die spanische Herrschaft bedrohten. Aber andrerseits hatte die
Habsburgische Politik hier in der Nachbarschaft in der letzten Zeit eine Hand¬
habe gefunden, sich in ihrer Stellung zu behaupten : die englische Heirath Phi'
lipps. die ihm dieses Land unter die Füße legen und mit demselben seine
Sicherheit in den Niederlanden verstärken sollte. Von England und den Nie-
verlanden aus den Nebenbuhler in Frankreich von einer andern Seite bedränge»
zu können, war für den der Weltherrschaft zustrebenden Spanier ein weiterer
Gewinn. In der That, die Uebermacht desselben schien doch noch eine sehr
bedeutende zu bleiben: die Combination der niederländisch-englischen Kräfte mit
denen des romanischen Südens mußte, wenn es gelang sie zu befestigen, un¬
fehlbar dem Erdtheil seine Gesetze vorschreiben.
Auf die deutsche Krone wurde es da leichter zu verzichten: die Heimath
der lutherischen Reformation, diesen Heerd aller neuen Ketzereien, konnte und
durfte der Herrscher der katholischen Welt vorläufig ohne Bedenken fahren lassen.
Wenn Kaiser Karl bald mit diplomatischer Kunst, bald mit Heeresmacht die
deutsche Nation in die Einheit der Kirche zurückzuführen versucht hatte, so sah
Philipp in der ersten Zeit seiner Negierung von solcher directen Action ab.
Aber die Politik der spanischen Staatsmänner wußte eine Menge andrer Mittel
in Bewegung zu setzen, um den Katholicismus in Deutschland zu stärken und
«uff neue auszubreiten, und wenn die spanische Politik Karls des Fünften die
nationale Entwickelung Deutschlands gehindert und unterbrochen hatte, so war
auch jene Abwendung seines Sohnes von Deutschland durchaus nicht der Art,
daß jetzt die Nation, von dem spanischen Drucke befreit, sich kräftig hätte in
sich sammeln können. „Auch Philipps von Spanien Politik." so schließt der
Verfasser sein Buch, „hat aus Deutschland gewirkt — mehr als wir anzunehmen
gewohnt sind."
Unter den drei populär geschriebenen Werken über die Geschichte der Herzog.
Miner. welche die letzten beiden Jahre gebracht haben ist ^'^ b°. wett-in °
b°ste. Der Verfasser, unsres Wissens Schleswig-Holstemer. versteht das Wesentliche
herauszufinden, er weiß gut zu erzählen, und er °und zu den nem-sten Er-
Wissen in allen Beziehungen die rechte Stellung ein. Darut se. tres Buch den
^Wu d. Bl. warm empfohlen.
Enthält auf Grund fleißiger und sorgfältiger Bearbeitung schriftlicher und
mündlicher Mittheilungen von Zeitgenossen und Mitkämpfern das lebensvolle Bild
eines tapfern Soldaten, der, in Hessen geboren, in Bayern rasch von Stufe zu
Stufe der militärischen Hierarchie emporstieg, bis er im Jahre 1809 als Oberst
im Kampfe gegen die Tiroler den Tod fand. Der Verfasser hatte dabei allerdings
die Absicht, „des theuern Vaters hehres Bild den Mitglieder» der Familie zu er-
halten", und ein Anderer hätte wohl weniger Licht gesehen als er. Im Ganzen
aber macht er den Eindruck der Wahrheitsliebe, und so darf man seine Schrift, die
an einer Stelle stark gegen Hormayr auftritt, als Bereicherung der Geschichte an¬
sehen. Im Uebrigen ist er ein entschiedenes Talent in der Schilderung militärischer
Vorgänge. Mit großer Anschaulichkeit führt er uns verschiedene Gefechtsscenc» vor,
mit Spannung folgen wir dem Fähndrich v. Ditfurth bei der für die Hessen so
ruhmwürdigen Erstürmung von Frankfurt a. M. im December 1792, mit großem
Interesse lesen wir die Darstellung der Gefechte der Division Wrede bei Iglau und
Stöcken (1805), in denen der junge Offizier sich als unerschrockener Soldat und
intelligenter Truppcnführer bethätigt, und der Bericht über die furchtbaren Ereignisse
in Innsbruck, von der tödtlichen Verwundung unsres Helden, der vorher schon zwei¬
mal getroffen von einer Tragbahre herab den Angriff der bayrischen Musketiere auf
die tiroler Bauern leitet, der Rettung desselben vor Ermordung durch die wüthenden
Insurgenten und der qualvoll drohenden Todesgefahr, in welcher Frau v. Ditfurth,
die ihrem Gemahl ins Feld gefolgt ist, und ihr dreijähriger Sohn wiederholt
schweben, gehört zu den Glanzpunkten kricgsgeschichtlicher Schilderung. Seit lange
ist uns keine Schrift dieser Art vorgekommen, welche in gleichem Maße wie die vor¬
liegende unser Interesse und unsere warme Theilnahme bis zur letzten Seite in An¬
spruch genommen hätte.
General Wardcnburg (im Jahre 1838 gestorben) war der Begründer der
jetzigen Militärformation des Großherzogthums Oldenburg und ist hier noch als
wackerer und intelligenter Offizier und edler humaner Charakter in gutem An<
denken. In seiner Jugend hatte er ein vielbewegtes Leben geführt, in Italien unter
Oestreichs Fahnen die Feldzüge von 1799 und 1800 mitgemacht, dann als russisch^
Offizier 1805 und 1807 gegen die Franzosen und 1808 und 1809 in Finnland
gegen die Schweden, demnächst 1812 uuter Barclay de Tolly und Kutusow wieder
gegen die Franzose» gefochten, endlich 1815 ein vldenburgischcs Regiment «ach
Frankreich geführt. Die Erlebnisse dieser Feldzüge, während der er sechs Haupt'
schlachten, achtundzwanzig größeren Gefechten und fünf Belagerungen beiwohnte,
sind hier (von einem Offizier) in gutem militärischen Stil vorgetragen, ebenso die
Leistungen des Generals als Organisator des oldenburgcr Militärs.
„Verwandtschaftliche und andere Verhältnisse ließen mich," so sagt der Ver¬
sasser in der Vorrede, „mehr als manchen Andern hinter Vorhänge blicken und
hinter Vorgänge kommen." Das Resultat der Benutzung dieser Verhältnisse sind
sechs Aufsätze, von denen der erste, „Charakterzüge aus dem Leben Friedrich Wilhelms
Vierten", eine Anzahl hübscher und unsres Wissens dem größeren Publikum
"och unbekannter Anekdoten enthält. Um den zweiten schreiben zu können, der sich
»Mordanfälle auf Preußens Könige" nennt, bedürfte es jener hinter Vorhänge am
Hofe führenden Konnexionen nicht. Der dritte dagegen, „Das schwarze Buch", ist
Wieder ein interessanter Beitrag zur Geschichte Preußens unter dem Nachfolger
Friedrichs des Großen. Den letzteren selbst charakterisiren die beiden folgenden Aus¬
übe „Die verunglückten Fontänen" und „Kolonie Königsville", von denen jener
^ sehr komische Geschichte der Fontänen in Sanssouci erzählt, die sich, obwohl ein
halb Dutzend angebliche Wasserbauverständige nacheinander sich ihnen widmeten und
"ach und nach die ungeheure Summe von 399,368 Thaler, 15 Groschen und
^ Pfennigen auf ihre Herstellung verwendet wurde, unter Friedrich durchaus nicht
Zum Springen bequemen wollten, während sie unter Friedrich Wilhelm dem Vierten
'n wenigen Monaten dazu gebracht wurden und zwar merkwürdig genug durch die
rast des Dampfes, welche der große König, als ein Holländer sie ihm genannt,
a>S thörichtes Hirngespinnst verworfen hatte. „Colonie Königsville" ist ein sehr gut
"labiles und vielfach interessantes Beispiel, wie der alte König mit seinen Edelleuten
Und deren Bauern verfuhr, wenn er sie auf seinen bekannten Jnspectionsreisen be-
l este. Hjxx hg^n nur eine Notiz, wie Friedrich auf solchen Touren zu speisen
^öde. Er war bei einem Herrn v. Blombcrg, dem Großvater des Verfassers, ein«
^echrt, nahm aber seiner Gewohnheit nach von seinem Wirth keine Erfrischungen
sondern ließ sich von seinem Küchenmeister kochen. „Die Suppe bestand aus
l^r kräftiger Bouillon, in welche ein gehäufter Eßlöffel voll feingestoßenem Cayenne-
^'sser, Muskatblüthe und Ingwer gemischt wurde. Dann folgte ein Stück Rind-
lnsch Madeira gedämpft, zu dem eine Tasse stärksten Franzbranntweins gegossen
"rde. Sodann gab es eine Polenta, halb aus Mehl von türkischem Weizen, halb
^ geriebenem Parmesankäse bereitet; dazu wurden drei Eßlöffel ausgepreßten
Uoblauchsastes gethan und das Ganze so lange in Butter geröstet, bis sich eine
Mrte braune Kruste gebildet hatte. Zuletzt folgte eine große eingemachte Seespinne.
" der König allein speiste, so durste man voraussetzen, daß er das verzehrt hatte,
as an den Speisen fehlte, die man aus seinem Speisezimmer wieder herausbrachte
^""es aber hatte der König dreimal mehr zu sich genommen als ein gcwöhn-
Mensch verzehrt; von der Polenta war fast nichts übrig geblieben." Der
längste Aufsatz des Buches ist eine Geschichte der preußischen Marine, die besonders
aus der Zeit des großen Kurfürsten eine große Anzahl interessanter Mittheilungen
enthält, und aus der wir nächstens einige Auszüge bringen werden.
Fünf Aufsätze: Ueber den Einfluß der gezognen Handfeuerwaffen auf die Krieg¬
führung — über den Werth der verschiedenen Fcucrarten und über den Gcfechts-
werth der gezogenen Gewehre — Vergleich der geschlossnen Bataillonslinie mit der
Angriffskolonne — Untersuchung der Bedingungen des kriegerischen Erfolgs nebst
Betrachtungen über den Werth der Hecresorganisation im Allgemeinen — Betrach¬
tungen über Organisation und Taktik der Infanterie. Der Inhalt nur für Mili¬
tärs von Fach.
„Ohne Christus (natürlich den Christus des Rauben Hauses) ist das deutsche
Volk verloren. Nach ihm habe ich gesucht in der deutschen Erniedrigung und Er¬
hebung, das ist die Rechtfertigung meiner Arbeit", sagt der Verfasser, natürlich ein
geistlicher Herr, und nach diesem Maßstab verfährt er. indem er uns zunächst „des
deutschen Volkes Christcnberuf und den Abfall von demselben", dann „Preußens
Stolz und Fall" (vgl. Lucifers Stolz und Fall), dann Blücher, Gneisenau, Nettel-
beck, Uork, Scharnhorst, dann Friedrich Wilhelm und Luise von Preußen, dann
eine Anzahl andrer Charaktere der Freiheitskriege schildert. Das vorletzte Capitel
des salbungsvollen Buchs heißt „Napoleons Sünde". Der zweite Band wird uns
die Echten und Eigentlichen bringen, z. B. Jung Stilling, die Krüdener, F. L. Stol¬
berg, Franz Baader. Wir wünschen Freunden solcher Speise gesunden Appetit.
Biographien von Katharine Guldenmann (die Mutter Keplers), eine schwäbische
Hexcngcschichte, der Stuttgarter Hofapothekcrin Maria Andreä, der Herzogin Magda-
lena Sibylla, der tapfern Bürgermeisterin Künkclin, welche 1688 als Anführerin
der Weiber von Schorndorf diese Festung vor den Franzosen rettete, der Gattin des
bekannten Johann Jakob Moser, der Dichterin Magdalene Sibylle Rieger, der Mutter
Schillers, der Frau Schubarts, der Malerin Ludovike Simanowiz und der König"'
Katharina von Würtemberg. Die Darstellung ist weitschweifig und stark frömmelnd.
In der (in Verse gebrachten) Widmung des Buchs wird die Königin Olga „O Ge¬
benedeite" angeredet.
^schichte Oestreichs seit dem wiener Frieden 1809. Von Anton Springer. Zweiter
Thut. Leipzig, Verlag von S. Hirzel. 1865. Staatengeschichte der neuesten Zeit.
Zehnter Band. 774 S. gr. 8.
Mit großer Befriedigung haben wir diesen neuen Band der Hirzelschen
^taatengeschichte gelesen. Wenn es auch in unsrer objectiver urtheilenden und
durchsichtigerem Zeit überhaupt noch Schwierigkeiten hat. die Geschichte der un¬
mittelbaren Vergangenheit zu schreiben, da für ein solches Unternehmen immer
"och nur schwer die nothwendige Unbefangenheit und Freiheit zu gewinnen
und noch weniger leicht das erforderliche zuverlässige Material zu beschaffen ist,
so müssen die Schwierigkeiten bei einer Geschichte Neu-Oestreichs, die mit diesem
Bande eigentlich erst beginnt, sich schon dadurch mehren, daß die Monarchie
°er Habsburger ein so bunt zusammengesetzter, vielgliedriger und von den ver-
schiedensten Kräften und Interessen bewegter Körper ist, wie kein andrer Staat
Europas, und daß daS Chaos, in welches dieselbe in der hier behandelten Pe-
"ode zerfiel, demzufolge besonders wirr und dunkel war. Daß die Aufhellung
^ses Chaos gegenwärtig noch mit einigen Hindernissen unüberwindlicher Art
in kämpfen hat. daß eine spätere Zeit, welcher mehr Quellen geöffnet sind,
^§ und jenes anders auffassen, über das Eine und das Andere strenger oder
Guter urtheilen und noch mehr Lücken in unsrer Kenntniß ausfüllen wird, als
^geschehen, liegt in der Natur der Sache. Daß aber die Aufgabe, die
Springer sich mit diesem Theil seiner Arbeit gestellt, im Großen und Ganzen
""d selbst jn den meisten Details zu lösen war. hat er jetzt glänzend bewiesen.
Wohl vertraut mit der historischen Methode, zwar einen sehr bestimmten
^litischen Standpunkt einnehmend, aber durch kein Parteiprogramm zu un-
kluger Vertheilung von Schatten und Licht verblendet, gründlich bekannt mit
^ Borgeschichte seines Gegenstandes und in gleicher Weise mit den nun in
ctracht kommenden Zuständen, Vorgängen und Persönlichkeiten, aus Quellen
Köpfend, die durchaus wohl gewählt sind, und die namentlich in Betreff der
^mischen und ungarischen Verhältnisse nichts zu wünschen übriglassen, hat
er uns ein Bild jenes Chaos geliefert, welches so klar und durchsichtig ist. daß
wir alle in demselben durcheinander fluthenden Elemente deutlich unterscheiden
und die einzelnen Hauptströmungen vom Ausgang bis zum Endpunkt verfolgen
können. Mit Geschick ist gruppirt, was zusammengehört, mit Scharfsinn aus¬
gespürt, was sich verbergen will. Allenthalben beinahe gelingt es dem Ver¬
sasser. uns zu den letzten Beweggründen der Handelnden, zu den wahren Ur¬
sachen der Ereignisse zu führen, die Dinge vor uns wachsen zu lassen. Dazu
eine schöne vornehme Ruhe in der Sprache, Anschaulichkeit der Beschreibung,
die Gabe, im Einzelnen gut zu erzählen, an der rechten Stelle kurz oder aus¬
führlich zu sein, hier und da ein starkes Wort ohne Scheu, häusiger ein iro¬
nischer Ton in der Farbe der Schilderung, endlich, worauf ganz besonders auf¬
merksam zu machen ist, ein vorzügliches Talent, dem Leser die Haupthelden
und die bedeutenderen Nebenpersonen der Handlung in Charakterskizzen oder
ausgeführten Porträts zu vergegenwärtigen — in der That, die historische Lite¬
ratur der letzten Jahre weist nicht viele Bücher auf, welche der Aufgabe, die
sie sich gesetzt, nach Inhalt wie Form in dem Grade wie das vorliegende ge¬
recht geworden sind.
Das Ganze zerfällt in fünf Bücher, von denen das erste die Genesis der
Revolution mit Einschluß der ersten Ausbrüche derselben in den Märztagen von
1848, das zweite die kurze Jubelzeit der siegreich gewesenen Parteien und
Stämme bis zum großen Slawencongreß in Prag, das dritte die ruhigere Pe¬
riode, wo die Reichs- und Landtage sich mit der Arbeit der Neugestaltung ver¬
suchten, das vierte die Krisis, welche sich in der wiener Oktoberrevolution, der
Verlegung des Reichstags nach Kremfier und dem ersten Feldzug in Ungarn
ausprägte, das fünfte und letzte endlich die Monate zum Gegenstand hat, in
denen sich die Rückkehr zum Absolutismus vollzog — gleichsam ein fünfactiges
Drama, in welchem Einleitung und Erregung, Steigerung, fallende Handlung,
letzte Spannung und Katastrophe deutlich erkennbar sind.
Vortrefflich ist in den drei Abschnitten des ersten Buches der Uebergang
aus der Zeit, in weicher das Volk Null, die Regierung vollkommen in den
Händen einer kleinen Gruppe Auserwählter ist. die selbständig für dasselbe
denken und handeln und die Herrschaft eifersüchtig als ihren unbestreitbaren
Besitz wahren, zu der Zeit des erwachten nationalen Bewußtseins und des
Drängens nach Mitentscheidung über ihr Schicksal in den einzelnen Stämmen
Oestreichs geschildert. Wir sehen zunächst, wie diese Stämme sich neben und
durcheinander gelagert haben, die nationalen Gegensätze, die Anfänge der P»'
Mischen Agitation unter den Czechen, Slowaken und Kroaten, zuletzt das erste
Auftreten des Panslawismus. Wir verfolgen ferner in einem zweiten sehr in¬
haltreichen Capitel die Entwickelung der Parteien in Ungarn seit 1848, die
Wirksamkeit Kossuths als Redner und Journalist, den Zusammenstoß mit den
Kroaten in der Sprachcnfrage, die vielfachen Kämpfe zwischen Opposition und
Regierung, Conservativen und Reformern u. a. in. bis zu dem Tage, wo Kossuth
erklärte, von nun an gebe es keinen Frieden mehr auf dem Reichstage, es solle
ein Kampf bis zum letzten Athemzuge herrschen. Wir beobachten endlich, wie
die Niederlagen der mettcrnichschen Politik im Streit mit Sardinien, in Rom
und in der Schweiz auf das östreichische Volk wirken und ihm den Glauben
an einen baldigen Umschwung der Dinge zu Gunsten des Liberalismus stärken,
wie sich in Obcntalien das allgemeine Mißvergnügen zu Demonstrationen steigert,
wie die Reformbewegung in Deutschland ihre Wellen über die Grenzen des
Kaiserstaats wirft, wie dessen Regierung sich täglich unbehaglicher fühlt, fort¬
während haltloser und rathloser wird, während zugleich ein Staatsbankerott
Vor der Thür steht. Die Februarrevolution wirft ihre Funken in diese Ver-
Haltnisse, erst sehr schüchtern, dann kecker wagt die öffentliche Meinung in Prag
und Wien ihren Willen der Regierung entgegenzustellen, es kommt zum Conflict
'n Wien. Metternich fällt, ein neues Ministerium wird gebildet, in Pesth und
Mailand bricht die Revolution ebenfalls aus. Das alte Oestreich stürzt zu¬
sammen, und Viele zweifeln, ob überhaupt irgendein Oestreich fortbestehen werde.
Das alles ist mit gründlichem Eingehen in die Details, lebendig und
wohlgeordnet erzählt. Sehr gut sind die böhmischen und kroatischen Agitatoren,
dann Kossuth, der Palatin und Apponyi sowie andere Größen der ungarischen
Parteien und die Bestrebungen der letzteren charakterisirt; von besonderem Werth
ist die Schilderung der wiener Märztage und der dabei vorzüglich hervortreten-
den Persönlichkeiten, Körperschaften und Gesellschaftsclassen. Manche Phrase
und mancher Nimbus freilich wird dabei zerstört, mehr als eine Parteigröße
beträchtlich verkleinert, manche That, welche in den damaligen Zeitungsberichten
als ganze oder halbe Heldenleistung glänzte, rückt der Gewöhnlichkeit um ein
paar Stufen näher; aber wir haben die Empfindung, daß der Referent, indem
er diese Reduction vornahm, ungemein gut unterrichtet war, und daß er die
Dinge, die ihm vorlagen, als Historiker, mit bloßen gesunden Augen, nicht
durch die oder jene Brille ansah.
Besonders wenig Ursache, sich bei dem Verfasser zu bedanken, daß er die
Dinge so giebt, wie sie waren, haben die Wiener. Es liefen in diesen Tagen
allenthalben ziemlich viele Karicaturen auf den gesunden Menschenverstand
umher, hier aber herrscht doch gradezu die verkehrte Welt. Studenten und ver¬
bummelte Existenzen geben den Ton an. und mit der Phrase wird ein Luxus
getrieben, der komisch sein würde, wenn er nicht schändlich wäre. Je unge-
wöhnlicher und abgeschmackter etwas ist, auf desto unbedingtere Billigung hat
es zu rechnen und nicht blos bei der Masse. Ein ergötzliches Beispiel ist die
Studentenadresse der Märztage. In einer Kneipe der Alservorstadt wurde sie
angeregt. Als es zur Abfassung kommen sollte, konnten die Vernünftigeren
ihre große Verlegenheit nicht bemeistern. aber „die studentische Ehre war eng«'
girt", und so wurde fortgefahren und die Adresse festgestellt. Sie erzählte
dem Kaiser, daß „ein großes Ereigniß den allgemeinen Frieden in Frage ge¬
stellt"; sie versicherte die „Bereitwilligkeit der Studenten, das gemeinsame
Vaterland gegen jeglichen Feind zu schirmen, mag er drohen von Ost oder
West"; sie behauptete von der Freiheit, „daß sie zu großen Thaten befähige
und geneigt mache, schwere Prüfungen mit Ausdauer zu bestehen", und sprach
die „Meinung" der jungen Herren aus. daß „die Verwirklichung der Freiheit
in so kritischer Weltlage ein dringendes Bedürfniß sei". Aus diese Gründe
gestützt, forderten die Studenten: Preß>. Rede-. Lehr-. Lern- und Glaubens¬
freiheit, allgemeine Volksvertretung und schlössen mit einer unklaren Phrase
über deutsche Bundesreform. Gewicht hatten weder die Adresse noch die Bitt¬
steller; dennoch erschien jene der Negierung bedenklicher als alle andern poli¬
tischen Demonstrationen.
Dies setzt sich in der Folge fort und steigert sich. Nachdem das zweite
Buch gezeigt hat, wie die einzelnen Völkerstämme des Kaiscrstaats sich anschickten,
den Verband desselben zu lösen, wie die Czechen sich von den Deutschen, die
Magyaren sich von Wien, die Südslawen sich von den Magyaren zu trennen
strebten, die Romanen besondere Existenz zu gewinnen suchten, führt es uns in
dem Abschnitt über die Gründung und den Sturz der Verfassung vom 2S. April
und in dem Capitel über den prager Slawencongreß die Gipfelpunkte der beiden
großen Thorheiten vor, in welche die beiden an sich berechtigten Hauptbestrebungen
der östreichischen Völker ausgeartet waren, dort den Gipfel des demokratischen
Radikalismus, hier den Gipfel nationaler Maßlosigkeit noch neben jenem. Die
Darstellung des Slawencongresses gehört zu den Glanzpunkten des Buches,
und so heben wir im Folgenden die Charakteristik dieser wunderlichen Ver¬
sammlung auszugsweise heraus.
Die slawischen Stämme Oestreichs hatten sich in den ersten Monaten der
neuen Zeit nur negativ verhalten. Sie waren dem Streben der Deutschen
nach politischer Einigung und den liberalen Tendenzen der Magyaren entgegen¬
getreten. Sie waren aber keineswegs gesonnen, bei der bloßen Verneinung zu
beharren, sie wollten durchaus nicht die Fahne der alten politischen Tradition
emporhalten; sie wurden vielmehr von einem noch überschwänglicheren Radi¬
kalismus beherrscht als alle andern Stämme Oestreichs. Während die letzteren
nur das Nächstliegende zu ändern gedachten, phantasirten die Slawen von einer
vollständigen Umwälzung des bestehenden Staats- und Volksrechts, dachten an
die Gründung einer neuen romantischen Welt, wo die Milch und der Honig
der Brüderlichkeit und der Liebe fließt, und verstiegen sich zu der Hoffnung, die
Entwickelung der Weltgeschichte an einen neuen Träger zu bannen, an daS
Slawentum nämlich. Zu diesem Zweck mußten sie sich als weit zerstreut
Wohnende einen Mittelpunkt schaffen, sich selbst erst föderiren; dann erst konnte
man an die Föderation aller Völker gehen. Die Slowaken und Kroaten fühlten
ihre Jsolirung gegenüber den magyarischen Feinden am stärksten, bei ihnen
nahm der Gedanke eines slawischen Schutz, und TruiMndnisses am frühesten
greifbare Form an. Wie die Magyaren mit dem frankfurter Parlament Ver.
bindungen anknüpften, so bemühten sich die kroatischen Patrioten, sich mit den
Czechen zu verständigen. Iwan Kukuljewic regte in der illyrischen Zeitung die
Idee einer allgemeinen Slawenverbrüderung an. der slowakische Prediger Seur
wirkte in Prag in der gleichen Richtung.
Am 1. Mai 1848 überraschten die bisher fast nur geheim thätigen Agita.
loren die Welt mit einem pomphaften Ausruf an die ..Slawenbrüder", welcher
aber seine Spitze wesentlich gegen das frankfurter Parlament richtete. „Dieses
besteht daraus, daß der östreichische Staat auf seine Souveränität verzichte, daß
das Kaiserreich mit allen seinen nichtungarischen Provinzen dem deutschen
Bundesstaat beitrete. Ein solcher Schritt würde nicht nur die Einheit Oestreichs,
sondern auch die Selbständigkeit der slawischen Volksstämme vernichten. An
uns ist es. männlich zu schützen, was uns das Heiligste ist. uns mit einander
W verständigen und gemeinschaftlich zu berathen, was das Beste unsrer Natron
erfordert."
Handelte es sich wirklich nur um eine Verwahrung gegen Frankfurt, so
^°den allerdings dem konservativen Interesse durch den Slawencongreß keine
Gefahr. Aber konnte das ..Beste unsrer Nation" nicht andern Plänen als
Deckmantel dienen, nicht eine Slawisirung Oestreichs bedingen? Was hatten
d'c nicht zu Deutschland gehörenden Serben. Kroaten, Ruthenen und Slowaken
Segen das frankfurter Parlament zu Protestiren? Wie rechtfertigte man d.e
Umladung auch ..nichtöstreichischer Slawen" zur Theilnahme am Congresse?
Die Czechen. durch die Entwickelung der Verhältnisse mit der Negierungsvarter
augenblicklich enger verknüpft, fürchteten für den Erfolg ihrer Politik, wenn der
verdacht radicaler Pläne Wurzel faßte. Sie veröffentlichten daher zur Berühr-
Kung der nichtslawischen Oestreicher am 5. Mai ein Glaubensbekenntmß. in
welchem sie ihre Anhänglichkeit an die Dynastie versicherten, d.e Behauptung,
"is °b sie dem Panslawismus huldigten oder gar im Solde Rußlands standen,
S"b zurückwiesen und nichts als die Gleichberechtigung aller Nationalitäten in
Östreich zu erstreben vorgaben. Der Kongreß sollte, wie sie sagten, nur die
Integrität und Souveränität des Kaiserstaates schirmen. Damit gelang es ihnen
'» °er That, namentlich unter dem Adel Böhmens. Anhänger zu gewinnen,
zahlreiche Repräsentanten derselben ließen ihre Namen in die Listen des Con-
Kusses eintragen, und Gras Leo Thun, der Gubernialpräsident. nahm sogar an
vorberathenden Versammlung theil. Das wiener Ministerium verhielt sich
Segen den Slawencongreß gleichgiltig. da er die Verhältnisse der Hauptstadt
nicht berührte, die für die Beschlüsse Pillersdorffs allein maßgebend waren.
Nicht so das ungarische, welches zwar überzeugt war, daß der angestrebte allge¬
meine Slawenbund ein leeres Project bleiben werde, aber zu fürchten hatte,
daß der Widerstand der Kroaten hier einen gewissen Halt und Schutz gewinnen
könnte. Es rieth in Wien, die Polen durch Zugeständnisse von der Betheiligung
an der Sache abzuziehen. Vergebens, und so erfüllte sich, was die Magyaren
befürchtet hatten. Die Polen schlossen sich den Uebrigen an, die in den letzten
Maitagen aus den böhmischen Landsiädien, aus Mähren und Schlesien, aus
der Slowakei, aus Kroatien und dem Banat herbeikamen. Auch Posen und
das Fürstenthum Serbien stellte ein Contingent, Rußland war wenigstens durch
einen Mann, den Flüchtling Bakunin, vertreten.
Am 2. Juni wurde endlich der Slawencongreß eröffnet. Aus Höflichkeit
gegen die Czechen hatte man Prag zum Versammlungsorte gewählt. Am Tage
der Eröffnung merkte man erst, wie wenig diese halb deutsche Stadt dazu paßte.
„Als der lange, seltsam costümirte Zug sich durch die Straßen bewegte, voran
ein Sängerchor, zu dessen Liedern Bewaffnete mit den Schwertern den Tact
schlugen, dann paarweise die Mitglieder des Congresses, vielfach in Tracht und
Körperbildung an den Orient erinnernd, ertönte aus den Reihen der dicht'
gedrängten neugierigen Zuschauer auch nicht ein freundlicher Zuruf, wurde keine
sympathische Begeisterung laut. Die czechischen Studenten, welche das Ehren¬
geleit bildeten, mußten ihr Lärmen verdoppeln, um die unheimliche Stille nicht
allzu bemerkbar werden zu lassen. Auch das konnte als bedenkliches Zeichen
gelten, daß im letzten Augenblicke der Präsident des provisorischen Comites,
Graf Joseph M. Thun, zurücktrat. Der mehr eitle als ehrgeizige Mann schien
zu ahnen, daß der Slawencongreß den Schein östreichischer Loyalität nicht
lange wahren, die Theilnahme an demselben keineswegs eine bequeme Stufe,
um zur Negierungsmacht zu gelangen, bilden werde. In dem Versammlung^
locale wurden nach den einleitenden Worten des definitiven Präsidenten PalatzkY
noch sieben lange Reden in den verschiedensten slawischen Sprachen und Dia'
ketten gehalten. Boshafte Zungen behaupteten, um sich gegenseitig verständlich
zu machen, hätte man sich der Vermittelung der deutschen Sprache bediene»
müssen. Das ist erlogen. Kein deutscher Laut wurde, so lange der Slawen'
congreß dauerte, vernommen. Ob aber die 340 Theilnehmer an demselben,
namentlich die 237 Mitglieder der czechischen Section — unter diesen, um den
Charakter des Jahres 1848 festzuhalten, auch zahlreiche Studentendeputirte
aller slawischen Sprachen gleichmäßig mächtig waren, muß man freilich be¬
zweifeln. Doch hemmte dies die Wirksamkeit des Congresses nicht, welcher den
Hauptnachdruck auf die privaten Ausschußsitzungen legte, die Generalver-
sammlungen als bloße Prunksache betrachtete. In die Hand einiger wenige«
Vertrauensmänner war nach der klug ausgearbeiteten Geschäftsordnung
ganze Wirksamkeit gelegt, die große Masse der übrigen Mitglieder mußte sich
damit begnügen, heilige Messen auf öffentlichen Plätzen und in Kirchen, nach
griechischem und lateinischen Ritus gelesen, zu hören. Ballfesten beizuwohnen
und durch schmucke Tracht und reiche Waffe die Aufmerksamkeit, besonders der
Straßenjugend, zu erregen."
Die Nichtöstreicher in der Versammlung sollten nach dem Programm nur
als Gäste betrachtet werden, in Wirklichkeit aber übten sie auf die Verhandlungen
den Haupteinfluß. Die Geschäftsordnung entwarf ein Wende aus der Lausitz,
die Grundzüge zu den wichtigsten Denkschriften ein fürstlich serbischer Beamter.
Libell aus Posen und der Russe Bakunin waren die Hauptredner in den ver¬
traulichen Sitzungen der Sectionen.
Die Gegenstände der Berathungen hatte bereits das provisorische Conn6
festgestellt. Zuerst wollte man die Stellung der Slawen zum östreichischen
Staatswesen erörtert haben. „Wir Slawen," sagte das Programm, „dürfen
">ehe ruhige Zuschauer bei Begebenheiten bleiben, welche die Existenz der Mon¬
archie in Frage stellen und uns am Ende selbst in den Abgrund der Ver-
nichtung reißen, wenn wir nicht außerordentliche Anstrengungen machen. Auf
die Minister ist kein Vertrauen zu setzen, sie haben keinen Einfluß bei Hose,
^e hegen eine exclusive deutsche Gesinnung und unterordnen sich einer slawen-
seindlichen Partei. Es ist überhaupt zu bezweifeln, ob jetzt dieses oder jenes
Ministerium die Monarchie zu retten vermag. Die Rettung liegt allein in
"nein innigen Anschluß der Völker aneinander. Die Völker müssen erkennen,
daß ihre staatliche Existenz wie ihre constitutionelle Freiheit nur gewahrt sei,
wenn sie sich ^ ximin östreichischen Bundesstaate vereinigen. Wir schlagen
daher den slawischen Völkern der Monarchie vor, in einen Volksbund zu treten,
Unter sich ein Schutz- und Trutzbündniß abzuschließen und die östreichische Mon-
^chic als Bundesstaat wieder aufzubauen." Das klang nun allerdings, als
°v die Slawen allein über Oestreich zu verfügen hätten, und um die Furcht
^ beschwichtigen, als wollten dieselben jetzt ihrerseits die Politik der Unter-
rückung üben, über die sie sich bisher so laut beschwert hatten, gab der Con-
Sreß im zweiten Punkte des Programms Aufklärung über die Art, wie die
Slawen ihre Stellung zu den übrigen Völkern des Kaiserstaats auffassen wollten.
'"^Händigen wir uns auf einem Völkertage in Wien durch eine gleiche An-
M)l von Vertretern über unsre gemeinschaftlichen Völkerinteressen."' Daß die
agyaren sich zu den Grundsätzen nationaler Gleichberechtigung bekennen und
^" slawischen Idiomen auf dem Landtage, vor Gericht und in der Schule gleiche
it/!""g. ""t dem magyarischen zugestehen müßten, nahm man als selbstver-
ndlich a«. „Das Verständniß mehrer Sprachen gehört in den östreichischen
liet" ^" unabweisbaren Bedingungen für jene, welche sich dem öffcnt-
Leben widmen. Sollten die Magyaren dieser billigen Forderung wider-
streben, sollte es zu einem blutigen Kampfe zwischen ihnen und den Südslawcn
kommen, so erklären wir feierlich, daß wir für unsre Stammgenossen Partei
nehmen werden." Der dritte Punkt des Programms beschäftigte sich mit den
außeröstreichischen Slawen. Zwischen Polen und Russen, so hieß es da. handle
eS sich vorzüglich um die Gleichstellung beider Nationalitäten. Sei diese be¬
wirkt und auch Rußland zu einer freisinnigen Politik bekehrt, so folge ein
innigeres Verständniß zwischen diesen beiden Völkern von selbst nach. Der
Türkei wurde ihr naher Sturz prophezeit. „Haben die Slawen in der Türkei
ihre Unabhängigkeit erkämpft, dann umschlingt auch sie das brüderliche Band
eines slawischen Bundesstaates." Dem „aufgeklärten Sachsenvolke" sprach man
die Erwartung aus, es werde die wendische Nationalität*) fernerhin nicht mehr
unterdrücken, und an die Preußen wurde dasselbe Ansinnen gestellt. Bei dieser
Gelegenheit wurde die Pflege slawischer Kunst und Wissenschaft, die Gründung
slawischer Akademien und Universitäten und die Einführung slawischer Gelehrten-
congresse warm empfohlen. Der vierte Punkt des Programms endlich protestirte
mit scharfen Worten gegen das deutsche Parlament: nie und nimmer wollte
man die Souveränetät Deutschlands über die innerhalb des deutschen Bundes
wohnenden Slawen dulden, nie den frankfurter Beschlüssen für diese bindende
Kraft zuerkennen.
Als die Sectionsberathungen über das Programm begannen, zeigte sich
sofort, daß dasselbe völlig unbrauchbar war. Die czecho-slowakische Section
faßte eine volltönende Resolution, welche bei dem Mangel eines ExecutivorganS
zwar (wie später und noch heute alle solche Stilübungen) die Luft etwas er¬
schütterte, sonst aber nichts bedeutete. „Die versammelten Abgesandten der
slawischen Gemeinden und Völkerschaften treten auf der Basis der konstitutio¬
nellen Freiheiten in einen Verein zur Wahrung ihrer Nationalität und wollen
zu diesem Zweck alle Mittel gebrauchen, welche einer gesetzlich errichteten Ver¬
bindung zum Schutze angeborener Rechte gegen die Bedrücker möglich und
giltig sind." Die südslawische Section verlangte, in den entgegengesetzten Fehler
verfallend, von dem Congresse unmittelbare Intervention in dem Streite der
Kroaten und Serben mit der ungarischen Regierung durch Absendung einer Ge¬
sandtschaft an den Kaiser in Innsbruck. Der Congreß gerieth durch diese Be¬
schlüsse in Gefahr, je nachdem er dem einen oder dem andern folgte, sich ent¬
weder in philosophischem Nebel zu verlieren oder einen einseitig östreichische«
Charakter anzunehmen.
Libell aus Posen zerschnitt den Knoten, indem er am 7. Juni vollständige
Verwerfung des mühsam vollendeten Programms beantragte und ein neues
vorlegte. Nach seiner Ansicht kam man der Aufgabe, die Einheit der Slawen
und mit dieser ihre weltbeherrschende Macht vorzubereiten, näher, wenn man
°'ne stetige Agitation unterhielt, als wenn man die Bedingungen eines Bünd¬
nisses erörterte, zu dessen Abschluß es an Vollmachten, und zu dessen Ver¬
wirklichung es an jeder Handhabe fehlte. Er empfahl periodischen Zusammen-
tritt des Kongresses und Gründung eines ständigen Ausschusses zu geregelter
Verwaltung der Geschäfte. An die Stelle des nichtssagenden Glaubensbekennt¬
nisses sollte ein Manifest an die Völker Europas treten. Wolle man noch ein
Uebriges thun, so möge man dem Kaiser eine Petition überreichen, welche die
Veschwerden und Wünsche eines jeden slawischen Stammes darlege.
Man sieht, daß Libell auf größere Uebereinstimmung der Zwecke des Con-
gresses mit den Grundfäden der allgemeinen europäischen Demokratie hinarbeitete
und die prager Versammlung dieser Partei dienstbar machen wollte, die zwar
"ut den Czechen das frankfurter Parlament haßte, weil es ihr zu monarchisch
dachte, und die mit den Kroaten dem ungarischen Ministerium abhold war,
^it in ihm das aristokratische Element überwog, die aber das Betonen des
nationalen Standpunkts als Beschränktheit betrachtete und sich kosmopolitischen
säumen hingab. In der Skizze, die Libell von dem Manifest an die euro¬
päischen Völker lieferte, kommt nichts vor, was nicht ebenso gut wie die Slawen
lever andere Volksstamm begehren konnte, alle Punkte sind erwähnt, welche der
demokratischen Partei des Continents am Herzen lagen, und das Schriftstück
U"t seiner Betonung der absoluten Volkssouveränetät und seiner Aufzählung
er Menschenrechte, welche die ideale Gesellschaft jedem Individuum garantirt,
^ete ebenso gut von Mazzini, von Pierre Leroux, Rüge oder Fröbel, als von
'dell verfaßt sein können. Dagegen mußte es dem im Grunde seines Herzens
^nservativcn Palazky, der den libeltschcn Entwurf, nachdem er allgemeine Zu-
' unmung gefunden, endgiltig festzustellen beauftragt wurde, ziemlich sauer an-
"willen, derartige Gedanken zu adoptiren. stimmten dieselben doch gar nicht mit
en ursprünglichen Tendenzen des Congresses überein. und vernichteten sie doch
Hoffnungen, welche die czechischcn Führer auf die Freundschaft des Adels
^ des Hofes setzten. Allein andrerseits durfte der Welt auch nicht das
chauspiel der Zwietracht gegeben werden, und nachdem die Mehrheit sich ein-
""l dem polnischen Einflüsse gefügt hatte, mußten die Bedenken des Einzelnen
^schwiegen bleiben. Auch Palazky gab nach, nur fügte er dem Manifest der
^vkratischm Politiker ein paar czechische Lieblingsmeinungen hinzu, unter
^neu sich der Ausdruck leidenschaftlichen Nacenhasses neben der zu Anfang und
" Ende vorkommenden Phrase von Freiheit. Gleichheit und Brüderlichkeit
Inders komisch ausnahm. Mit demselben Athemzuge wurde die Gleichbe-
° ^'gnug aller Nationalitäten und das höhere Wesen der slawischen Natur,
welcher der Freiheitssinn angeboren, schnöde Selbstsucht unbekannt sein sollte,
ausgesprochen. Diese Widersprüche traten aber gegen den blendenden Schlu߬
satz in völliges Dunkel, welcher der entschiedensten demokratischen Anschauung
huldigte: „Wir, die wir die Jüngsten, doch nicht die Schwächeren, auf der po¬
litischen Bühne Europas erscheinen, tragen sofort auf Beschickung eines allge¬
meinen europäischen Völkercongresses zur Ausgleichung aller internationalen
Fragen an; denn wir sind überzeugt, daß sich freie Völker leichter untereinander
verstehen, als bezahlte Diplomaten."
Das erwähnte Manifest bildete das einzige officielle Ergebniß des Congresses.
Die Verhandlungen über die andern Fragen wurden abgebrochen, bevor sie
zum Abschluß gelangten. Die Aufgabe der Versammlung konnte nur dann als
vollendet gelten, wenn es gelang, alle Slawenstämme auf eine solidarische Ge¬
meinschaft in ihrem politischen Verhalten zu verpflichten. Die Möglichkeit, als
ein Körper aufzutreten, gaben alle Mitglieder zu. Die romantische Träumerei
der Einen, die revolutionäre Leidenschaft der Andern ließ die tiefe Kluft, welche
das verschiedene religiöse Bekenntniß zwischen Ost- und Westslawen schuf, und
ebenso die sprachlichen Schranken zwischen Kroaten und Polen, Czechen und
Serben übersehen, über welche hinweg nur philologisch Gebildete sich verstän¬
digen konnten. Dagegen gingen über den Inhalt der slawischen Zukunftspvlitik
die Meinungen weit auseinander. Nach Bakunins Ansicht war ein slawischer
Rath einzusetzen, welcher als höchste Regierung und oberstes Gericht für alle
Slawen fungirte, allein das Recht der Kriegserklärung besaß und von den ver¬
bündeten Völkern unbedingten Gehorsam zu beanspruchen hatte. Die letztern
durften keine Allianz mit fremden Nationen eingehen, slawische Soldaten ferner
keiner fremden Macht mehr dienen, die Diplomatie wurde abgeschafft. In allen
innern Angelegenheiten sollten sich die einzelnen Stämme ausgedehntester Auto¬
nomie erfreuen. ,
Kein solches Utopien ersann Libell, aber auch ihm erschienen die politischen
Grenzen, welche die slawischen Völker trennten, bedeutungslos, und auch nach
seiner Ansicht sollte eine gemeinsame Organisation alle Slawen unterschiedslos
umspannen. Dagegen empfahl Zach aus Belgrad, das Interesse des serbischen
Fürstenhauses vor Augen, welches sich gern auf eine große benachbarte Schutz"
macht gestützt hätte, eine Föderation aller östreichischen Völker, Deutsche und
Magyaren eingeschlossen. Man sieht, daß bald revolutionäre Speculation, bald
diplomatischer Dilettantismus diese Phantasien eingaben. Welche Partei schlie߬
lich gesiegt hätte, ist nicht zu sagen, da keiner der vorgelegten Entwürfe zur
Berathung im Plenum gelangte.
Wenigstens einen Schritt dem Ziele näher brachte man es in der Ver¬
handlung über Punkt 2 des Libeltschen Programms. Der Inhalt der Petition
an den Kaiser wurde im Ausschuß festgestellt. Nach der einleitenden Betrach/
tung, daß „Oestreichs Großmacht insbesondere auf der freien Entwickelung der
slawischen Nationalitäten beruhe", ging dieselbe auf die Forderungen der ein¬
zelnen Stämme in Oestreich ein. Die Czechen erklärten sich durch das Patent
vom 8. April befriedigt und wollten nur noch Unterordnung Mährens unter
die böhmischen Centnilbehörden und einen gemeinschaftlichen Landtag für
Böhmen und Mähren. Den Slawen Nordungarns sollte das Recht, einen
Nativnalcongreß zu bestellen und die Pflege ihrer Volksthümlichkeit in den
Schulen eingeräumt werden. Für die Slawen in Kärnthen, Krain und dem
Küstenlande wurde die Errichtung eines Königreichs Slowenien mit der Haupt¬
stadt Laibach erbeten. In Bezug auf die Serben und Kroaten forderte man
Bestätigung der carlowitzer Beschlüsse und der von Jellachich getroffenen An¬
ordnungen. Am schwersten einigte sich der Congreß über das künftige Schicksal
Galiziens. Man predigte der ganzen weiten Welt Gleichheit und Brüderlichkeit
Und konnte hier nicht einmal den Zwist in der eignen Familie lösen. Man.
sprach den Slawen die Freiheitsliebe als Naturgabe zu, und siehe da, hier
sagten die Ruthenen über grausamste Bedrückung durch die polnische Aristo¬
kratie, und hier schimpften andrerseits die Polen auf die knechtisch gesinnten
Ruthenen, deren Anhänglichkeit an die Regierung nicht einmal die Märzstürme
«schüttern gekonnt. Wäre es nach dem Herzenswünsche der Polen, die vor
allem Revolutionäre, dann erst Slawen waren, gegangen, so hätten die An¬
sprüche der Ruthenen keine Berücksichtigung erfahren. Theils das Drängen der
Czechen. theils die Erwägung, daß es sich zunächst darum handeln mußte, der
östreichischen Regierung alle Machtquellcn zu verstopfen, bewog die Polen zur
Nachgiebigkeit. Sie willigten ein. mit den Ruthenen einen wechselseitigen Ver-
^ag zur Sicherung ihrer Nationalitäten einzugehen. Die Gleichberechtigung
^r Polnischen und ruthenischen Sprache in Schule und Amt wurde anerkannt,
d'e Entscheidung, welche von beiden gelten sollte, in jedem einzelnen Bezirk von
^r Sprache der Mehrheit abhängig gemacht. Durch diese Zugeständnisse be-
whigt. willigten die ruthenischen Abgeordneten ihrerseits in einen gemeinsamen
Landtag und verzichteten auf die administrative Theilung Galiziens in eine
panische und eine ruthenische Hälfte. Der Vertrag sollte dem Kaiser zur Be¬
stätigung übergeben und daran die Bitte geknüpft werden, Galizien eine ähn-
Uche Verfassung zu verleihen, wie sie Böhmen dnrch das Patent vom 8. April
^saß, und die gegenwärtigen Beamten durch andere, welche „das allgemeine
vertrauen aller Volksclassen genießen", zu ersetzen.
Die Vertrauensmänner des Slawencongresscö waren noch und der Redaction
^eher Schriftstücke für die letzte Generalversammlung beschäftigt, als am 12. Zum
der bekannte Aufstand in den Straßen von Prag ausbrach, welcher den Ver-
^ndlungen der Herren Abgesandten ein vorzeitiges Ende bereitete. Dieselben
achteten eilig vom Schauplatz des Aufruhrs oder sahen sich, me die Polen,
von der siegreichen Militärbehörde gewaltsam Vertrieben. Zahlreiche Urkunden
wurden vernichtet oder confiscire und der Oeffentlichkeit wohl für immer ent¬
zogen. Die unmittelbare Aufeinanderfolge des Kongresses und des Aufstandes
machte einen inneren Zusammenhang derselben glaubwürdig und ließ in den
Augen Vieler die Barrikaden als die Frucht, ja als das Ziel der slawischen
Versammlungen erscheinen. Die Czechen widersprachen dem beharrlich und nicht
mit Unrecht; denn sie konnten auf den großen Schaden hinweisen, den grade
ihre Bestrebungen durch den Aufruhr erlitten. Wurde doch der Slawencongreß
in dem Augenblicke gesprengt, wo er im besten Zuge gewesen war, die Welt
von allen Vorurtheilen zu bekehren und seine großartige segensreiche Wirksam¬
keit zu offenbaren. Nur die Feinde der Slawen besaßen ein Interesse, dies zu
hindern, nur von ihnen konnte der Aufstand angezettelt sein. Und so war es
in der That. Ein junger schmucker Slowak, Marcell Turanski, der durch seine
schneeweiße Tracht und seinen üppigen Bart die allgemeine Aufmerksamkeit auf
sich gelenkt und sogar die Würde eines Fahnenträgers empfangen hatte, war
ein Späher und Verräther, abgesandt von dem ungarischen Ministerium, den
Congreß um jeden Preis zu compromittiren. Er reizte zum Angriff auf das
Militär, forderte zum Barrikadenbau aus. ließ sich dann fangen und denuncirte
die Slawen als Verschwörer. So die Czechen, und das Ergebniß der officiellen
Untersuchung scheint damit übereinzustimmen. Gewiß ist, der Slawencongreß
hat den Straßenkampf nicht absichtlich hervorgerufen. Ebenso gewiß aber auch,
daß ohne ihn, ohne die durch ihn unwillkürlich bewirkte Aufregung und Spannung
der Gemüther, Prag das traurige Schauspiel einer rohen, ohne klares Ziel,
ohne zureichende Mittel unternommenen Empörung erspart geblieben wäre.
Ungemein reich- an interessantem Detail und wohlgelungenen Charakter¬
bildern ist ferner das dritte Buch in allen seinen Abschnitten, vorzüglich aber
in dem über den wiener Reichstag, dem über den agramer Landtag und dem
über die Parlamentarischen Kämpfe in Pesth. Gleichfalls sehr gehaltvoll ist das
Capitel über die wiener Octoberrevvlution sowie das über die Verhandlungen
des Reichstags in Kremsier, und auch die Abschnitte über die Kämpfe in Ungarn
enthalten eine beträchtliche Anzahl neuer und werthvoller Aufschlüsse. Besonders
gelungen ist hier vor allem die Charakteristik Görgeis. Wir entnehmen dieser
letzten Hälfte des Buchs noch einige Porträts aus dem Ministerium Dvblhoff
und dem wiener Reichstage.
Das Ministerium Pillersdorff hatte vom ersten Tage seines Bestehens an
den in Wien herrschenden Radicalen als ein bloßes Uebergangsministcrium
gegolten, welches man bis zu besserer Gelegenheit dulden müsse. Das Cabinet
Doblhoff dagegen, bei dessen Bildung der Sicherheitsausschuß und der demo¬
kratische Verein thätig mitgewirkt, durfte auf den Namen einer revolutionären
demokratischen Regierung vollen Anspruch erheben. Die Ministerliste befriedigte
War nicht unbedingt die Wünsche der herrschenden Partei. Außer Doblhoff
und Messender«, waren auch noch Kraus und Latour aus dem alten Cabinet
>n das neue herübergenommen worden. Das Verbleiben des Finanzministers
fand geringen Widerspruch, da niemand ihn um seinen Posten beneidete, die
Leitung der östreichischen Finanzen mehr die Sache des verzweifelt Muthigen
als des Ehrgeizigen erschien. Desto größeren Anstoß erregte Latonrs Verbleiben
Amte. Nur die dringendsten Vorstellungen von seiner Unentbehrlichkeit,
Von der nothwendigen Rücksicht, die man auf die Armee und ihre Führer
nehmen müsse, verhinderten den offenen Ausbruch der Parteileidenschaft. Die
Radicalen konnten übrigens die Gegenwart der alten Minister im Cabinet leicht
dulden, da ihnen die Mehrzahl der Cabinetsmitgliedcr: Doblhoff, Hornbostel,
Schwarzer, Bach eine sichere Gewähr demokratischen Wirkens boten, und da das
Ministerium in seinem Programm die „Gründung einer volkstümlichen Mon¬
archie auf Grundlage des gesetzlich ausgesprochenen Volkswillcns" versprach
und das Bekenntniß ablegte, daß „eine Regierung nur dann kräftig sei, wenn
s'e im Volke wurzele".
»Doblhoff insbesondre wurde als das Muster eines Volksministers ge¬
feiert. Wenn zu den Merkmalen eines solchen die vollständige Unkenntniß der
Staatsgeschäfte, ein schweres Begreifen, ein langsames Sichentschließcn, eine
unbedingte Ziellosigkeit des Handelns gehört, dann war jene Bezeichnung richtig,
/''aber das Wohl des Staates gefördert wurde, wenn man dem Reichstag
Wien Mann gegenüberstellte, der im Privatleben allerdings makellos war, im
^ntlichen Leben dagegen höchstens zum Präsidenten eines landwirthschaftlichen
ererns taugte, ist eine andere Frage. Doblhoff hatte unter dem alten Negi-
'Amte die ständische Opposition, die jetzt zu den Conservativen zählte, niege-
^'u Das machte ihn den höhern Kreisen genehm. Er hatte in Innsbruck
uut Entschiedenheit einer versöhnenden Politik das Wort geredet und die schien-
"'ge Rückkehr des Hofes empfohlen. Das sicherte ihm das Wohlwollen der
'N'aler. Diese Verdienste waren nicht unbedeutend, es waren aber die letzten,
^lebe er sich j„ Oestreich erwarb.
Hornbostel, der neue Handelsminister, ein tüchtiger Industrieller, schwärmte
^ als Minister für den allgemeinen Fortschritt, wie er es als Privatmann
^ han. blieb aber auch als Minister so harmlos wie früher. Seine Wahlrede
^ denn auch im Reichstage saß er als Abgeordneter für Wien — hatte mit
^. Versicherung begonnen, daß er „von Politik und Speculationen dieser Art
^ verstehe". Seine Ernennung schmeichelte dem wiener Lokalpatriotismus.
^ überhaupt die Stärke des neuen Cabinets in der reichen Vertretung des
euer Elements ruhte, aber dem Staate selbst trug sie begreiflicherweise
^'nge Früchte.
. Tauschten schon Doblhoff und Hornbostel vielfach die auf sie gesetzten
Hoffnungen, so entsprachen Schwarzer, der Minister der öffentlichen Arbeiten,
und Alexander Bach noch weniger den Erwartungen, mit welchen ihr Eintritt
in das Cabinet begrüßt wurde. In Schwarzers Wahl lag eine Anerkennung
der Presse, wie sie noch vor wenigen Monaten auch die kühnste Phantasie nicht
geträumt hätte. Gegen seine Persönlichkeit ließ sich manches einwenden.
Weder die Stellung, welche er früher eingenommen hatte — zuerst Feuerwerker
in einem Artillerieregiment, dann untergeordneter Agent bei verschiedenen In¬
dustrie- und Handelsvereinen — noch seine Bildung verliehen ihm hervor¬
ragende Ansprüche auf den Ministerposten. Auch die Allgemeine Oestreichische
Zeitung, welche jetzt die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, wurde wohl von
Schwarzer herausgegeben, aber nicht geleitet, geschweige denn geschrieben. Jeden¬
falls konnten Bureaukraten, welche sich den Staat als eine unverrückbare Stu¬
fenleiter von Aemtern dachten, wo nur ein bedächtiges Kummer von Sprosse
zu Sprosse gestattet ist, konnten die Freunde des ehrwürdigen Herkommens durch
Schwarzers Berufung sich verletzt fühlen. Am allerwenigsten ließ sich voraus¬
setzen, daß seine Gesinnungsfreunde, daß die Männer der Presse an der Er¬
hebung eines Journalisten Anstoß nehmen würden. Und dennoch kam es so.
Nicht die alten Beamten, sondern die Zeitungsschreiber erklärten das Minister¬
portefeuille in Schwarzers Händen für eine Herabwürdigung der Negierung;
nicht reactionäre, sondern radicale Blätter bespöttelten seine Ernennung mit den
Worten: „Nun sitzt das Proletariat im Ministerium". Der Repräsentant
der Demokratie im Ministerium wurde von den Demokraten in den Bann ge¬
than, wie umgekehrt wieder der Mann, welchem der Eintritt in das Ministerium
gleichbedeutend war mit dem Kampfe gegen die Demokratie, sich von ihnen aus
den Schild gehoben sah.
Alexander Bach, durch Vater und Oheim, zwei der geachtetsten Advo-
caten Wiens, in die Geschäftswelt und die besten bürgerlichen Kreise einge¬
führt, durch eine große Clientel selbständig gestellt, durch wiederholte längere
Reisen der gewöhnlichen Selbstzufriedenheit reicher Wiener entfremdet, nahm
bereits vor der Revolution, so weit es die enggezogenen Polizeischranken erlaubten,
regen Antheil an allen politischen Bestrebungen. Er Pflegte Verbindungen M>t
gleichgesinnten Männern in den Provinzen, übte einen überwiegenden Einfluß
auf die Richtung des juridisch-politischen Lesevcrcins und stand in genauen
Beziehungen zur ständischen Oppositionspartei. In den Mürztagen half Bach
(der spätere gehorsamste Diener der Reaction) den Adressensturm vorbereiten,
den Magistrat vertreiben, die Krisis beschleunigen. Nach der Revolution M
er sich, klüger als seine Freunde, in ein vieldeutiges Halbdunkel zurück. ^
geizte nicht nach der Ehre, eine Woche lang von der Aula vergöttert zu werden,
um schon in der folgenden Woche in Vergessenheit, wenn nicht gar in schnob
Verachtung zu fallen; ihn lockte auch nicht der Eintritt in das erste Revolution^
Ministerium, über dessen Dauer er sich keiner Täuschong hingab. Seine Zurück¬
haltung ging aber nicht so weit, daß sie ihn in ven Verdacht politischer Gleich-
giltigkeit brachte; er protestirte nicht, wenn sein Name unter den Vertrauens¬
männern für den Fünszigerausschuß. unter den Candidaten für das deutsche
Parlament genannt wurde, nur zu einem bindenden Glaubensbekenntniß mochte
n sich nicht verstehen. Gab er politische Meinungen kund, so geschah es in
nner Weise, daß er keine Partei verletzte, von jeder zu ihren Anhängern gezählt
werden konnte. Er hielt z. B. in dem Gemeinderäthe am 10. Juni dem
26- Mai eine Lobrede, sprach von „leserlicher Barrikadenschrift", fand aber
die Bedeutung des Tages darin, daß sich „Wien für den unbedingten Anschluß
an Deutschland ausgesprochen habe". Durch diese unschuldige Interpretation
entwaffnete er die Konservativen. So kam es, daß ihm diese ihr Vertrauen
nicht völlig entzogen und auch die Demokraten Bach vollständig gewonnen zu
haben sich rühmten".
Während man sich in Wien mit dem Sturz und der Wiederaufrichtung
Von Cabinetten beschäftigte, vollzogen die Provinzen die Wahlen für den Reichs¬
tag- Galizien wurde damit zuerst fertig, und bereits in den ersten Julitagen
»sahen die erstaunten Residenzbewohner Männer in ihrer Mitte wandeln, deren
Aeuhercs eine bedenkliche Gleichgiltigkeit gegen die Seife verrieth, welche Kasernen
sür Hotels ansahen, in jedem Corporal einen einflußreichen Würdenträger des
Staates begrüßten, ihre Lebensbedürfnisse in eigner Person auf dem Markte
einkauften und durch vollständige Unkenntniß der deutschen Sprache, der bür¬
gerlichen Sitte, der modernen Bildung glänzten". Es waren die 36 Bauern,
durch welche sich das souveräne Landvolk von Galizien vertreten ließ. Auch
^ den meisten andern Provinzen (nur das Küstenland, Tirol. Böhmen und
Mähren ausgenommen) trat das bäuerliche Element stark in den Vordergrund
^ »beinahe der vierte Theil des Reichstags wußte mit der Pflugschaar aus
^gner Erfahrung Bescheid". Es galt, gegen die Bedrückung durch die Guts¬
herrn zu .protestiren und die von der Vergangenheit dem Bauernstand auf¬
legten Lasten loszuwerden. Die Befreiung der Bauern wurde die erste Auf-
we. die erste große That des Reichstags, und die erste sollte auch die letzte
bleiben.
»Die Revolution blieb nur so lange mächtig, als unter dem Landvolk der
Glaube bestand, jene könne und werde seine Zustände bessern, ihm die Frechett
^schaffen. Die Reaction durste erst dann offen austreten, als die Bauern-
°"'-mcipation durchgeführt, das Landvolk von der politischen Bewegung los-
gelöst war." „So bildete der Bauernstand den eigentlichen Träger der Re-
""ludion. die Nobotfrage den Angelpunkt der politischen Bestrebungen. Der
«Ulm Meinung der Bauern, hier eifrige Advocaten ihrer Rechte zu finden, ver-
dcwkten der böhmische Nationalausschuß und theilweise auch der wiener Scher-
heitsausschuß ihre Autorität-, die Hoffnung, für ihre Interessen wirken zu können,
weckte den Eifer für die einzelnen Landtage, die Zuversicht einer liberalen
Lösung der Nvbotfragc begeisterte das Landvolk für den Reichstag, welcher
ohne diese Stütze in den ländlichen Kreisen schwerlich zusammengetreten wäre,
jedenfalls nur bis zur Lösung der Nobvtfragc Macht und Bedeutung behielt.
Als diese vollendet war, schwebte er in der Luft und stand den Angriffen der
Reaction wehrlos gegenüber." Das Bürgerthum machte der letzteren keine
Sorge. „Es halte sich in allen größeren Städten, namentlich in Wien, politisch
unreif, unselbständig und kraftlos gezeigt, es ließ sich jetzt von der radicalen
Partei terrorisiren, wie es früher die Vormundschaft der Polizei erduldet hatte,
und sah in der ganzen Revolution eigentlich nur einen Rausch, von angenehmer
Wirkung im ersten Augenblicke, aber von bittern Nachwehen begleitet."
Es klang sehr komisch, als Hans Kudlich. das jüngste Mitglied des Reichs¬
tags in der Debatte über die Baucrnentlastung eine pomphafte Rede hielt, in
welcher „die Lerche der Freiheit ihr Lied schmetterte, der Bauer, ein gefesselter
Prometheus, mit seinen Ketten klirrte, der Grundherr, ein adeliger Schnapphahn,
ein finstrer Tyrann, die Peitsche schwang", in welcher „dem Landmanne (jetzt,
im August) sein Weihnachtsgeschenk werden", „der Reichstag, indem er die Auf¬
hebung der Untertänigkeit aussprach, als souveränes Volk seine Thronrede halten"
sollte. Aber es stand eine große bedeutungsvolle Thatsache hinter diesen Phrasen.
Zum Schluß noch ein paar Porträts von den Bänken der Parteien im
Reichstage. Die rechte Seite nahmen die Czechen und die Ruthenen, letztere
als Drahtpuppen ihrer geistlichen Führer, ein. Den Haupteinfluß übten hier
Palazky und der prager Advocat Pinkas, den Hauptredner machte Ladislav
Rieger, „ein junger Mann von entschieden vratvrischcr Begabung, dessen
sonore Stimme man gern klingen hörte, auch wenn man seine Gedanken nicht
selten breitspurig fand".
Führer des Centrums, in dem sich die Tiroler und die „schwarzgelben"
aus den altöstreichischen Provinzen niedergelassen hatten, „jeder Einzelne ein
ehrenwerther, gebildeter Mann, im Ganzen aber ohne Ansehen und Bedeutung",
hätte vou Rechtswegen Graf Stadion sein müssen. Er saß aber „einsam,
beinahe wie ein Geächteter, auf einer der hintersten Bänke. Murren begrüßte
regelmäßig seine Reden, Zischen folgte, sobald er den Mund schloß. Man hielt
ihn für politisch todt." .
Als einen der Begabtesten im linken Centrum schildert der Verfasser Lud¬
wig Lohn er. „Seit den Märztagen der eifrigste Verfechter deutscher Interesse«'
ließ er hoffen, daß in seiner Person die deutsche liberale Partei ihren Sprecher
und Leiter finden werde. Obgleich Arzt, stand er doch dem platten politischen
Materialismus, welcher in den wiener medicinischen Kreisen herrschte, voll¬
kommen fern; obgleich Dichter, begriff er doch die positive Natur des Staates
und die Forderungen, welche dieselbe an die Politiker stellte. Dazu kamen eine
stets schlagfertige Dialektik, eine ungewöhnliche Redegewandtheit, leider aber
auch ein blinder Slawenhaß. der ihn oft gar weit von seinen politischen Zielen
abbrächte. Den verachteten Czechen ein Schnippchen zu schlagen, sie zu ärgern,
war oft der ausschließliche Zweck seiner Theilnahme an den Verhandlungen;
das Geständnis; der Furcht ihnen abzupressen, erschien ihm nicht selten werth-
voller als der Sieg der eignen Sache. Dieses leidenschaftliche Wesen führte
'"ehe Mein zu einer bedauerlichen Kraftverschwendung, sondern raubte Löhner
auch die Mittel, über die Linke deS Reichstags zu herrschen. Statt ihren wilden
Fanatismus zu dämmen, sie politischen Gedanken zugänglich zu machen, lieh
wenn auch nur scheinbar, ihrem Programm, das sich aus lauter Ausrusungs-
M)en zusammensetzte, seine Billigung." —
„Die Linke nahm für sich den deutschen Charakter und daS Recht, das
wahre Volk zu vertreten, ausschließlich in Anspruch. und wer in Rüge, Fröbel
und Genossen die Helden Deutschlands verehrte und in den wiener Studenten
und Arbeitern das eigentliche Volk erblickte, mußte dieser Behauptung zustimmen.»
Sonst waren die Mitglieder der Linken „unselbständige Leute, welche bald von
den listigen Polen, bald von den fieberhaft erhitzten Zeitungsschreibern als
Werkzeug benutzt wurden. Sie waren unfähig, den Abstand zwischen einer
^lubberathung und der Reichsversammlung zu ermessen, den Unterschied zwischen
März- und der Julistimmung zu begreifen. Sie waren eitel und wollten
die Volkstümlichkeit, welche sie sich durch politische Declamationsüvungen
errungen hatten, festhalten. Sie waren unreif und unwissend in demselben
Maße wie die wiener Bevölkerung, aber keineswegs (wie später behauptet wurde)
ihrer privaten Sittlichkeit anders geartet als die conservativen Abgeordnete».
Wie oft geschah es. daß Violand. seines Zeichens k. k. Landrechtsauscultant.
"der Gold mark, ein (jüdischer) Spitalarzt, während der Verhandlungen in den
Aorsaal deS Reichstags eilten und sich hier Raths erholten, für welchen der
schwebenden Anträge sie zu stimmen hätten. „Nur recht radical" verlangten
^ den Rath und rieben sich freudig die Hände, wenn sie glaubten, den radi¬
alsten Vorschlag in die Debatte werfen zu können." Besonders toll und ab-
Seschmackt geberdete sich Umlaufe, ein ehemaliger Polizeiagent, der jetzt den
Demokraten spielte, wogegen der „grundehrliche, stets elegische Schuselka. der
"streichische Venedey" zu vermitteln strebte. „Fischhof lebte noch so sehr in Mai-
Phantasien, daß er bei den grammatikalischen Streitigkeiten, die häufig im
Reichstage vorkamen, von „stilistischen Barrikaden und einem stilistischen Wnr-
^!Mz" zu sprechen pflegte." Fühler. der Universitätsprediger, e.n se.ster
^«ff. der sich mit den Studenten duzte, führte den Wahlspruch 'in Munde:
"Der studirende Jüngling ist der lebensfrische Ausdruck des Zeitgeistes" und
h'-'t allen Ernstes den Reichstag sür eine Art von Collegium. zu welchem den
Studenten freier Zutritt gebühre. Einen solchen Brutus hatte kein Cäsar zu
fürchten, ebenso wenig als ein Marat oder Robespierre unter den Helden der
Reichstagslinken wieder geboren war, mochten dieselben immerhin mit der Er¬
innerung an Ludwig den Sechzehnten ihre Gegner schrecken und dem Märchen
gläubig horchen, daß die französische Revolution in der östreichischen, wie Paris
in Wien sich wiederhole."
Das Leben und die Lehre des Mohammad. Nach bisher größtentheils unbenützten
Quellen bearbeitet von A. Sprenger. 3 Bände. Berlin, Nicolaische Verlags¬
buchhandlung.
Schon an sich eine der großartigsten Erscheinungen der Weltgeschichte, hat
der Islam für den Historiker noch das besondere Interesse, daß wir über seine
Entstehung und seinen Propheten eine beträchtliche Anzahl zuverlässiger Nach'
richten besitzen, welche, in der rechten Art verarbeitet, induced auch dem Ver¬
ständniß der Entwickelung anderer Religionen und Religionsstifter förderlich
sein können, deren Anfänge sich mehr vom Nebel der Mythe umhüllt finden.
Der Islam ist im vollen Tageslicht entstanden. Die Anfänge des Buddhismus,
des Jut'eutbums und des Christenthums sind von Dunkelheit umgeben, die
des Muhammedanismus können wir fast Schritt vor Schritt verfolgen, und
wenn auch nicht alle Religionen denselben Ursprung haben — da die Völker,
aus denen sie hervorgehen, zwar als Glieder der großen Menschenfamilie in
wichtigen Zügen, nicht aber in allen sich gleichen — so ist es doch ein großer
Vortheil, wenigstens von einer unter ihnen die Entstehungsgeschichte urkundlich
nachweisen zu können. „Der Islam," sagt der Verfasser treffend, „wird dadurch
für die Religionsgeschichte, was das Planetensystem der Sonne für die Astrv'
moule der Fixsterne ist."
Namentlich von diesem Standpunkte aus heißen wir das jetzt zum Ab'
Schluß gelangte große Werk Sprengers willkommen und doppelt willkommen,
da es sich nicht blos — wie die Regel unter den deutschen Orientalisten ^
vornehm an den engen Kreis der Fachgenvssenschaft wendet, sondern so eing^
tetist. daß auch die profane Welt der Nichtgelehrten die Hauptergebnisse
Forschungen des Verfassers ohne Anstoß verstehen und sich aneignen kann.
Aber auch für die im innersten Vorhof Dienst thuenden Kreise ist diese
rbeit von ungewöhnlicher Bedeutung, ja nach einer Seite hin gradezu epoche¬
achend. Allerdings wird man am Ganzen infolge des BildungswegS, den
prenger beschütten hat. den Mangel vollkommner Geschultheit zu ccmstatiren haben,
n Einzelnen bisweilen ziemlich barocken Ansichten begegnen, ja offenbare historische
rrthümer aufzeigen und selbst Lücken in der Bekanntschaft deS Verfassers mit
er Grammatik nachweisen können — Ausstellungen, die neben einem sonst
ur bei Autodidakten und Dilettanten so kräftig sich ausprägenden, unsrer Em¬
findu
aeenausitstrebende,deauandermegezumelezu gelangen
uchten, noch ein besonderes Recht erlangen, ausgesprochen und betont zu werden.
llein diesen Mängeln stehen doch so bedeutende Vorzüge gegenüber, daß wir
at als Ganzes wirklich als einen sehr verdienstlichen Beitrag zur Ge¬
chit
eerReligonenezenenren.
Der Verfasser hat zunächst eins vor den bisher ausgetretnen Biographen
vhammads voraus: in seinem Buche weht die Luft, in welcher der Islam
ntstand, er kennt den heutigen Orient, der in den wesentlichsten Zügen die
hysiognomie bewahrt hat, welche er zur Zeit der Hidschra trug, aus lcmg-
ühriger Anschauung, er hat geraume Zeit mit Muslimen aller Classen, vom
lehrten bis herab zum rohen Beduinen verkehrt, er vermag sich so aus le¬
endiger Erfahrung heraus leicht vollständig in die Denkweise der Morgenländer
n versetzen, was ihm bei der Untersuchung schwieriger psychologischer Fragen
nelfach ^ Statten kommt. Die äußere Lebensweise des Arabers, seine Sitten,
eine Zustände sind auch aus Büchern zu erfahren und zwar, bei dem Reich-
hum der hierüber existirenden Literatur alter und neuer Zeit, ungefähr gleich
ründlich; bei Beurtheilung der Art aber, in welcher fremde Völker im Unter¬
chiede von uns denken und empfinden, bei Feststellung der Hauptbeweggründe,
ach denen sie im Allgemeinen handeln, wird der, welcher nach Augenzeugen¬
chaft entscheidet, ohne Zweifel im Vortheil Vor dem sein, der nur aus Büchern
topft. Jedenfalls wird man zugestehen, daß jener, falls er überhaupt gut
evbachtet hat. hier in vielen Fällen rascher zu einem Urtheile gelangen und
rmer anschaulicher schildern kann als dieser, selbst wenn er die betreffende
'eratur sehr genau kennt.
Diesrenr«.verbindetmit
rngtuns zu einem zweitenorzugpger
"er durch weite Reisen im Morgenlande, langen Aufenthalt in muhammeda-
'schen Städten, scharfen Blick und vortreffliches Gedächtniß erlangten unge-
^ri gründlichen Kenntniß des innern und äußern orientalischen Wesens eine
63 *
Belesenheit in der einschlagenden sehr umfangreichen Literatur des Islam, welche
auch eine große Anzahl wenig oder gar nicht in Europa bekannter Schriften
umfaßt, und als Mann von Geist weiß er auch diesen Besitz von Wissen zu
beherrschen und geschickt zu verwerthen. Daß. ihm dabei bisweilen, besonders
bei Fragen der Wortdeutung, Menschlichkeiten Passiren, ist schon erwähnt; hier
mag dazu noch bemerkt werden, daß er hin und wieder (so namentlich im ersten
Bande, der überhaupt der schwächste ist) von seinem Reichthum an Detailkenntniß
mehr als zur Erklärung des Gegenstandes nöthig ist, ausbreitet und dadurch
fast den Eindruck hervorruft, es komme ihm auch darauf an, zu zeigen, wie
viel er sich vor Andern erworben, und daß er Mohammad mitunter aus Quellen
schöpfen läßt, deren er sich schwerlich bedient haben kann.
Als andere lobenswerthe Eigenthümlichkeiten des Werkes heben wir noch
seine durchaus realistische Auffassungsweise und die gründliche Verachtung hervor,
die der Versasser vor allem Pfaffcnthum empfindet.
Betrachten wir den Inhalt des Buchs in der Kürze, so verbreitet sich der
erste Band zunächst in einer Einleitung, die vorzüglich für Nichtorientalisten
bestimmt ist, über die im weitern Verlauf beobachtete Orthographie, über arabische
Namen, Chronologie und Quellenschriften. Dann folgt ein sehr interessantes,
wenn auch im Einzelnen hier und da anfechtbares Capitel über die theils aus
heimischem Boden entsprossenen, theils durch das Judenthum und das Christen¬
thum hervorgerufenen religiösen Bewegungen, die in Nvrdarabien vor Mo-
hammads Austreten stattfanden, und die Propheten, welche den Mittelpunkt
derselben bildeten. Ein zweites Capitel behandelt die Jugend Mohammads
bis zu der Zeit, wo der religiöse Trieb in ihm erwachte. Ein drittes sucht
aus diesem Triebe und andern Seeleneigenthümlichkeiten, namentlich einer starken
Anlage zu hysterischem und visionären Wesen die nun sich vorbereitende Thä¬
tigkeit Mohammads als Religionsstifter zu erklären und wirft sodann einen
Blick auf das damalige arabische Heidenthum. Die weiteren Abschnitte dieses
Bandes führen die Geschichte des Propheten bis zu dem J.rhre 616 fort, wo
ein Theil seiner Anhänger vor den ihr Leben bedrohenden Korayschiten nach
Abyssinien auswanderte. Alle diese Dinge waren bisher sehr schwankend, und
wenn Sprenger hier auch nicht Alles über jeden Zweifel festgestellt hat und
Manches von seinen Behauptungen sich mit Grund anfechten läßt, so ist doch
Vieles von ihm in das rechte Licht gestellt worden, was bis jetzt unklar oder
ganz unbekannt war.
Der zweite Band bewegt sich schon mehr auf historischem Boden, indem
er die Ereignisse von der ersten Auswanderung der Muslime nach Abyssinien
bis zur Flucht Mohammads nach Madyna erzählt. Als das bedeutendste El'
eigniß vor der Flucht hebt der Versasser mit vollem Recht die Bekehrung Omars
hervor, die dem Islam, dessen Charakter bis dahin mehr schwärmerische Ent>
sagung und Aufblick nach dem Jenseits war. jenen stolzen männlichen Zug gab,
mit dem er alle Hindernisse überwand und schließlich die halbe Welt eroberte.
Außerdem werden hier die beiden Auswanderungen nach Abyssinien geschildert,
die Feinde der im Entstehen begriffenen neuen Religion charakterisirt und die
verschiedenen Einflüsse ins Licht zu stellen gesucht, die auf dieselbe einwirkten.
Die bei weitem größere Hälfte des Bandes aber hat es mit der Lehre Moham-
mads zu thun, die der Verfasser aus zahlreich mitgetheilten Koranstellen ent-
Wickelt.
Der dritte Band endlich führt uns, die letzten zehn Jahre der Wirksamkeit
des Propheten schildernd, auf ein Gebiet, wo nur Nebensachen noch unsicher
sind und die Hypothese wenig mehr zu thun findet, und hier hat der Verfasser
durch geschickte Zusammenstellung des ihm zu Gebote stehenden reichen Materials
"n Bild geliefert, welches unsre Kenntniß von Mohammad und seiner Zeit
ganz entschieden und in den wichtigsten Beziehungen vermehrt. Während das
Vorhergehende mehr aus einer Reihe von Monographien besteht, als aus einer
fortlaufenden Lebensbeschreibung, haben wir hier ein einheitliches wohlgeordnetes
Ganze vor uns. Während Mohammad in der makkanischen Periode nur Denker
und Redner und sein Bild ein schwankendes, mehr oder minder verschwommenes
'se. tritt er uns hier als Herrscher und Feldherr und namentlich auch als Di¬
plomat handelnd entgegen, und wir haben einen festen Anhalt für unser Urtheil
über seinen Charakter. Zu loben ist, daß Sprenger hier von seiner im Vor-
hergehenden befolgten Methode abweicht, knapper und mehr als Historiker, wie
"is Sammler verfährt, aber wenn man im Auge behält, daß er nicht blos für
Fachzenvssen schreiben will, wird er zuweilen zu knapp, so daß wir. während
die ersten Bände zu viel Excursc enthielten, hier den Wunsch hegen können,
wehr Detail zu bekommen.
Höchst werthvoll für den Fachmann ist die Vorrede dieses Bandes, welche
Zunächst eine Geschichte des Korans giebt und sich dann mit den Gebieten der
'slamitischen Prophetenbiographie und der Sunna beschäftigt, auf welchen der
Verfasser in einem Grade zu Hause ist. wie kaum ein Gelehrter neben ihm.
ähnliches gilt von dem Abschnitt der Vo.rede über Korancommentare. Wir
sehen in diesen Erörterungen klar das Verfahren der muhammedanischen Patristik
und der theoloM)-juristisch-historischen Schulweisheit des Islam und namentlich
^ eifriges Bemühen, auch die kleinsten Brocken der Tradition zu sammeln und
bewahren, andrerseits aber auch alles, was unbequem ist. umzudeuten, ja
^"'bare Thatsachen durch Erfindungen zu ersetzen, was freilich anderswo auch
geschehen ist. Gleichfalls ein zu betonender Gewinn für die Wissenschaft rst.
Sprenger über die Genealogien sagt, von denen er nachweist, daß sie.
sie über die engere Familie hinausgreifen. entweder erdichtet sind oder
^nigsteus kein Verwandtschaftsverhältniß. sondern politische Beziehungen. Ver-
bindungen durch Verträge u. d. in. bedeuten, eine Ansicht, die hinreichend be¬
gründet ist. Sehr lehrreich endlich sind in diesem Bande die Excurse über
Handel, Münzen und andere Tauschmittel der Araber, über ihre Kampfweise,
über die Ausbildung ihrer Taktik und über die Normen der Verwaltung unter
Mohammad.
Der Nichtgelehrte wird sich hier mehr an die Darstellung der Ereignisse
halten, die fast in jedem Capitel wesentliche neue Züge des Propheten und
seiner Muslime enthält. Von besonderem Interesse sind die Schilderung der
Schlacht bei Badr, das neunzehnte Capitel, welches das unglückliche Treffen
am Berge Ohod und die Belagerung Madynas durch die Makkaner unter Abu
Sofyan beschreibt, das zwanzigste, welches die grausame Vertilgung des Juden¬
stammes der Bann Koraytza und die Pilgerfahrt bis Hodaybiya zum Gegen¬
stande hat. die Darstellung des siegreichen Einzugs des Propheten in Mekka
und die Berichte über das weitere Anwachsen der Macht Mohammads. Auch
die Mittheilungen über die religiösen und politischen Einrichtungen, welche sich
in Madyna von der Flucht bis zur Schlacht bei Badr allmälig ausbildeten,
und die Abhandlung über die Frauen Mohammads werden von diesen Kreisen
mit Interesse und Nutzen gelesen werden. Besonders werthvoll wieder für den
Historiker von Fach ist, was über die letzte Pilgerfahrt des Propheten und über
Entstehung und Wesen des Pilgerfestes, dessen Verwandtschaft mit dem Osterfest
u. d. in. bemerkt wird.
Eine große Anzahl von Dingen, Personen und Zuständen erscheinen hier
klarer, manche fast völlig anders als in den bisherigen Darstellungen, erhebliche
Lücken werden ausgefüllt, und alles hat Leben und Farbe, bei allem empfinden
wir, daß ein Mann von Geist uns berichtet, der nur in einigen Punkten
bizarren Einfällen unterliegt.
Fragen wir nun, was ist das Gesammtergebniß der Untersuchung Sprengers,
so weit sie den Propheten selbst betrifft, wer war Mohammad, und was hat
er geleistet, so antwortet das Buch darauf zunächst: er war weder, wie Muir
meint, vom Teufel besessen, noch, wie Carlyle schwärmt, ein Heros. Und was
dann? Auf den ersten Blick, wenn wir von seiner träumerisch-dämmernden Vor¬
geschichte in Malta absehen und ihn nach seinem Eintritt in Madyna. welcher
sein Eintritt in die Welt des Handelns und damit in die Weltgeschichte war,
beobachten, ein Räthsel. Er läßt sich von Gott geschlechtliche Excesse erlauben,
die selbst eifrige Anhänger mit Murren aufnehmen, er bricht heilige Bündnisse
auf Befehl Allahs, er veranlaßt eine Anzahl Meuchelmorde, meist nur, weil er
die bösen Zungen der Betreffenden fürchtet, er befiehlt an einem Tage Sees^
hundert unschuldige Menschen (die Bann Koraytza) hinzurichten. Andrerseits
weiß er selbst in der Zeit seiner höchsten Machtfülle sich zu mäßigen, verschmäht
er Pracht und reichen Besitz, bewahrt er den Freunden warme Liebe, vergißt
er Beleidigungen, wählt er einsichtige Rathgeber, befolgt er deren Vorschläge,
benutzt er stets den rechten Augenblick, handelt er immer im Geiste seines Volks
und unterwirft er sich damit in wenigen Jahren ganz Arabien.
Fragen wir weiter : wie gelang es ihm, seiner Lehre Eingang zu verschaffen?
Die Musline erwidern: durch die Macht des Wortes und der Wahrheit,
was andere dadurch ausdrücken, daß sie sagen: durch die Macht seines Genies.
Sprenger hält Ansichten dieser Art für „krankhaft und jeder historischen Grund,
läge entbehrend". Es sei wahr, fährt er fort, unter Mohammad habe sich
ganz Arabien zu seiner Lehre bekehrt, nach seinem Tode aber seien drei Viertel
der Halbinsel abtrünnig geworden, und zwar weit der Prophet Häuptlinge sich
erkauft habe, die er hätte zu Boden treten sollen, und weil er in seinem theo-
kratischen Dunkel gegen die Heuchelei von Stämmen blind gewesen sei. deren
Verrätherische Gesinnung am Tage gelegen. Wären seine Nachfolger nicht klüger
und energischer verfahren, so hätte sich der Muhammedanismus ausgelöst oder
wäre eine unbedeutende Seele geblieben. „Omar", sagt Sprenger, „ist der
eigentliche Stifter der moSlimischen Macht. Omar steht in meinen Augen
in jeder Beziehung höher als der Prophet. Er ist frei von den
Schwächen und Ausschweifungen, welche den Charakter des letzteren beflecken,
und ein Mann voll männlichen Ernstes und Thatkraft. Nach dem Tode
des Propheten hat er sich das Zutrauen aller Parteien und aller Stämme
durch seine Uneigennützigkeit. seine Offenheit und seinen gesunden Blick erworben,
und sein Wort war das Wort der Gesammtheit. Schon während der Lebzeit
Mvhammads hatte er größere Verdienste um den Sieg des Islam, ja um die
Reinheit der Lehre, als der Prophet selbst. Er hat seinen Meister vor vielen
groben Mißgriffen durch energisches Einschreiten bewahrt, und sein überlegener
^"se mußte auf das wenn auch zähe, doch schwache hysterische Gemüth deS
Mohammad einen ununterbrochenen Einfluß üben."
Aber auch Omars Thatkraft erklärt die ungeheuren Eroberungen des Islam
"'ehe ganz. Er war todt. als der neue Glaube Spanien. Sind und Trans-
°!"rien sich unterwarf. Und in den folgenden Jahrhunderten wurden die Horden
^ntralasicns von diesem Glauben entzündet. um aus den Steppen herauszu-
buchen. Indien und das europäische Gebiet der byzantinischen Kaiser zu erobern
und bis Wien vorzudringen. Besehen wir uns. sagt der Verfasser, dieses nur
Staunen erfüllende Phänomen, die weite Ausbreitung und die daraus hervor-
übende Dauer des Islam, so erblicken wir darin die Summe der Kräfte aller
nomadische« Nationen. Es ist ein schon von dem moslimischen Geschichts-
Mvsophen Ihr Chaldun entwickeltes Gesetz, daß die Nomaden von Zeit zu
Zeit ackerbauende Länder überfluthen und Dynastien gründen. Es giebt keuien
^°et außer Allah! war das Feldgeschrei der erobernden Söhne der Wüste, aber
Gi.übe war nicht das einzige Movers in ihrer Bewegung. Selbst jener
Ihr Chaldun erblickt in der Religion nur das Einigungsmittel der arabischen
Stämme zum Kampfe gegen das Ausland.
Man wird nun einwerfe», sagt der Verfasser, allerdings habe Mohammad
Konstantinopel nicht erobert und Wien nicht belagert, aber er habe die Lehre
gepredigt, die den Orient zu solchen Thaten entflammt, es sei also doch in ihm
etwas Uebermenschliches gewesen. Dagegen Sprenger: Der Islam ist ganz
vorzüglich die Religion nomadischer und halbnomadischer Völker. Im anter^
bauenden Persien nahm er schon früh eine eigenthümliche Form an, und selbst
unter den seßhaft gewordenen Nomaden verlor er sehr bald seine Einfachheit.
In Arabien dagegen, seiner Heimath, wurde er noch in neuester Zeit (durch
Abd al Wachab) zu seiner ursprünglichen Reinheit zurückgeführt. Es scheint also
etwas im Boden zu sein, was seiner Entwickelung günstig ist. Jeder Reisende,
welcher so glücklich gewesen ist, einige Zeil in der Wüste zuzubringen, schwärmt
über den Einfluß der Luft aus die geistige Stimmung. Man fühlt sich von
Wonne berauscht und von jeder Bürde des Lebens befreit. Ein solches Klima
kann nicht ohne mächtigen Einfluß auf die geistigen Eigenschaften derer sein,
die unter ihm wohnen. Allerdings wächst der durchsichtige Monotheismus, den
wir im Islam finden, aus dem Boden hervor und paßt ganz für die Idiosyn¬
krasie der Nomaden. Allein selten beschäftigen sich die Araber mit Spekulationen
über höhere Dinge. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat es unter ihnen schon in den
ältesten Zeiten den einen und den andern Melchisedek oder Jethro gegeben, der
an einen Gott glaubte. Aber der Monotheismus ist an sich noch keine Reli¬
gion. Das Volk bedarf Feste, und zur Veranstaltung derselben ist der Aber¬
glaube, der ungeachtet des Bodens und der Luft unter den Massen im Ueber¬
fluß vorhanden ist, besser als eine ungreifbare Idee. So huldigten nicht nur
die handeltreibenden Stamme, welche so entartet waren, daß sie jüdischen Etno-
graphen für Kuschiten galten, sondern auch die reinen Araber Jahrtausende
lang einem sonnenlosen Polytheismus, und die, welche bessere Ueberzeugungen
hatten, sahen keinen Grund dagegen zu protestiren^, so lange nicht ein anderes
Moment hinzutrat, ohne welches, wie Mohammad meinte, die Religion für die
Araber ein Spiel und Zeitvertreib geblieben wäre.
Dieses neue Moment, welches dem Glauben einen düstern Ernst verlieh,
kam von außen. In der Zeit, in welcher der Prophet lebte, gab es überall
im Morgenlande Einstedler und Büßer, und eine große Anzahl von Menschen
schien einzig und allein darauf bedacht zu sein, sich diesseits für das Jenseits
vorzubereiten. Die Furcht vor der ewigen Strafe bewegte die Gemüther der¬
selben noch mehr als die Aussicht auf die Freuden des Paradieses, und obschon
die Araber viel schwächere Ahnungen von einem Fortleben nach dem Tode
haben als andere Nationen, so wurden doch auch sie von dieser Furcht ergriffen-
Die Aufgeklärten unter ihnen wurden nachdenklich und sannen aus Vorsicht^
maßregeln für den Fall, daß es wirklich eine Vergeltung nach dem Tode geben
sollte. Man wollte sich aber nicht Pflichten und Entsagungen auferlegen ohne
sichere Bürgschaft, daß man sich auf dem rechten Wege befinde, und so erwachte
das Bedürfniß nach einer „Leitung", arabisch Hoda.
Einige, die sich mit Industrie beschäftigten. Andere, die vermöge ihrer
geographischen Lage oder ihrer socialen Stellung viel mit Fremden in Berührung
kamen, schlössen sich dem Judenthum oder dem Christenthum an. Das waren
jedoch nur Nothbehelfe; denn jene beiden Religionen waren zu complicirt, zu
gelehrt, zu mysteriös und so. wie sie damals bekannt wurden, zu unrein für
den einfachen Sinn und Verstand des Arabers. Nächst der Dreieinigkeit war
Von den christlichen Dogmen die Lehre von einem Mittler für denselben am
anstößigsten; denn nach der Empfindung, die sich in dem Koranspruch, daß Gott
dem Menschen näher ist als seine Herzader, ausdrückt, war jede Jntercession
überflüssig. In abgelegneren Orten gab es wahrscheinlich schon in frühen Zeiten
Wektiker. welche das Princip des Monotheismus festhielten, aus den Po-
sttiven Religionen, deren oberflächliche Kenntniß ihnen durch mündliche Mit-
Teilung zugekommen war. das ihrem Bedürfniß Entsprechende auswählten und
sich dann auf alle Propheten von Noah und Abraham bis auf Jesus beriefen,
um für ihr Gemisch von Vorstellungen göttliche Autorität nachzuweisen. waS
s'es recht wohl thun ließ. Denn es leuchtet ein, daß diese Religionslehrer,
^cum sie alle von demselben Gotte gesandt und inspirirt sind, auch im Grunde
alle dasselbe gelehrt haben müssen, oder daß wenigstens das allen Gemeinsame
das Wesentliche ist. Dennoch konnte ein solches Verfahren nur vor der Ver-
nunft. nicht aber vor der historischen Theologie bestehen, und kein solcher Eklektiker
vermochte seine Ansichten vor den Rabbinern oder Bischöfen zu vertheidigen;
d°um die geschriebenen Urkunden, auf die er sich berief, ohne sie zu kennen,
sprachen gegen ihn. Solche religiöse Begriffe waren Erzeugnisse der Zeit, und
">cum sie auch nie festen Boden fassen konnten, so tauchten sie doch immer von
neuem wieder auf. so daß die Makkaner dem Mohammad. als er ihnen derartiges
Ertrug, entgegnen konnten: Das haben wir und unsere Väter alles schon ge-
^re. Sie konnten nur unter der Bedingung, daß eine neue göttliche Autorität
^für bürgte. Bestand und weitere Ausbreitung gewinnen.
Das Bedürfniß war übrigens nicht sehr dringend; denn nur Wenige
fühlten dasselbe, die Massen lebten in sorglosen Jndiffcrent.sans dahin. D,e
Verbreitung des Islam in Arabien und die Religionskriege Mohammads haben
>r einen ganz eigenthümlichen Charakter. Der Kern der Gemeinde des
Propheten bestand auch in den letzten Jahren Mohammads aus kaum mehr
«'s tausend Menschen. Diese aber waren Zeloten, und so schüchterten sie dre
indifferente Bevölkerung MadynaS ein und verbreiteten dann den Glauben
^res das Schwert. Bei der Zerfahrenheit der politischen Zustände des Landes
war diese geringe Zahl von eifrigen Gläubigen hinreichend, dem Islam die
Siegeslaufbahn zu eröffnen. Sie kämpften mit den benachbarten Stämmen,
und wenn diese Widerstand leisteten, so geschah es lediglich aus Liebe zur Un¬
abhängigkeit, nicht aus Anhänglichkeit an die Religion der Väter. Alle Reli¬
gionskriege, welche Mohammad führte, zusammengerechnet, waren unter seinen
Gegnern keine zwanzig Menschen, welche den Märtyrertod gestorben sind, aus¬
genommen einige Christen und die allerdings große Anzahl von Juden, die,
zwischen den Tod und Abfall vom Gesetz gestellt, den erstern wählten. Die
meisten Andern verhielten sich zur Religion gleichgiltig; wo sich aber unter den
Arabern eine Ueberzeugung äußerte, war sie immer zu Gunsten des Islam;
denn diejenigen, weiche überhaupt ein Interesse für religiöse Dinge empfanden,
waren mit Mohammads Lehre befriedigt. Erst nach seinem Hingang, als die
Nation durch die Kriege gegen das Ausland in ein neues Stadrum eingeführt
wurde, nahm die Gährung überHand, und fast jedes Individuum wurde von
Glaubenseifer erfüllt; der Islam erlrtt aber jetzt auch eine bedeutende und
zeitgemäße Umgestaltung.
Uebersehen wir, sagt der Verfasser weiter, die religiöse Bewegung vor,
während und nach Mohammads Zeit, so überzeugen wir uns, daß er seinen
pathologischen Zuständen, d. h. seiner Hysterie und den damit verbundenen
geistigen Störungen seine welthistorische Bedeutung verdankt. Weder der Ascet
Zayd. der Johannes Baptist» des Islam, noch der Dichter Omayya Ben Avy
Salt waren die rechten Männer für ihre Zeit, obschon jener Mohammad an
Sittenreinheit, dieser ihn an Genie übertraf. Die Araber bedurften eines
Propheten, und die hysterischen Anlagen Mohammads erfüllten ihn selbst und
jenen Kern seiner Gemeinde mit dem zuversichtlichen Glauben, daß er ein solcher
Gottgesandter sei.
„Ohne seine Verdienste läugnen zu wollen", fährt Sprenger fort, „halte
ich es doch für einen groben Irrthum, die Gründung des Islam seinem Genie
zuschreiben zu wollen. Das oberflächlichste Studium der Entwickelung seiner
Lehre zeigt, daß er sich unverzeihlicher Mißgriffe schuldig gemacht hat, welche
uns, wenn nicht an seiner Aufrichtigkeit, so doch an seiner Kühnheit zweifeln
lassen, und welche seine Aufgabe sehr erschwerten. Den Götzendienst wagte er
anfangs gar nicht offen anzugreifen, und noch im Jahre 616 erklärte er, daß
die Götzen Fürsprecher bei Gott seien, wodurch er viele seiner aufrichtigen An¬
hänger zum Wanken brachte, ohne seine Gegner zu gewinnen. Der Gedanke,
der seine ganze Seele erfüllte, war die Vergeltung nach dem Tode. Das Ber'
nünftigste wäre gewesen, an den heidnischen Glauben, nach welchem die Seelen
der Frommen in den Körpern grüner Vögel fortlebten, anzuknüpfen und die
Unsterblichkeit in einer reineren Gestalt zu lehren. Statt dessen hielt er die
in den Augen seiner Mitbürger höchst lächerliche Auferstehungstheorie fest'
und wie es scheint, predigte er sie anfangs sogar in einer ziemlich unreinen
Form. Er sagt nämlich nicht, daß die Seele ein eignes Leben habe, auch nach
dem Tode des Körpers fortbestehe und am Gerichtstage wieder mit demselben
vereinigt werde, sondern (ganz wie die altchristliche Kirche), daß die Menschen
der Auferstehung wieder zum Leben erweckt werden. Nach ihrer zweiten
Geburt leben sie allerdings ewig fort. Sein Glaube an „das Buch" und an
die Identität aller geoffenbarten Religionen verleitete ihn, auf die Form deS
Cultus. insofern er nur dem Allah dargebracht werde, kein Gewicht zu legen.
Wie schön auch diese Lehre ist, so ist sie doch unpraktisch, und seine Religion
wäre wie frühere derartige Versuche zerronnen, wenn ihn die Umstände nicht
genöthigt hätten, ihr einen exclusiver Charakter zu geben. Sein Augenmerk
war einige Zeit besonders daraus gerichtet, die Anerkennung der Juden und
Christen zu gewinnen, während, wie der Erfolg zeigte und er hätte voraussehen
können, sein natürlicher Wirkungskreis unter den Arabern lag. Nach seiner
persönlichen Ansicht war Behutsamkeit (Takwa). furchtsames Ausweichen und
Wohl auch Gottesfurcht die Haupttugend eines Gläubigen. Die Umstände
haben ihn gezwungen, kriegerischem Unternehmungsgeist und kühner Todesver¬
achtung die Märtyrerkrone und die höchste Belohnung im Paradiese zuzusprechen.
Ohne diesen Umschwung wäre der Islam nie die Religion der erobernden no-
wadischen Völker geworden, denen er seine Größe verdankt. Kurz, in allen
seinen Lehren, sofern sie die Frucht seines eigenen Genius sind, vermag ich
Weder Originalität, noch Genie, noch kluge Berechnung zu erblicken. Der Geist
der Schule, aus der er hervorgegangen, und deren Einfluß ihm bis an sein
Lebensende anhing, ist mönchische Entsagung und Sckwärmerei. der Geist der
Schule, welche er stiftete, ist siegesgewisse Kraft und Klarheit. N.ehe ihm.
sondern thatkräftigen Männern wie Omar. Hamza und Abd al Rahman den Aos.
deren es in Arabien so viele giebt, noch mehr aber den äußern Verhältnissen
verdankt seine Lehre diesen Umschwung, und es wäre ein großes Gluck für sie,
Wenn er seine frühesten Offenbarungen mit wenigen Ausnahmen hatte unter¬
drücken können. Es ist allerdings ein Verdienst, daß er die Bedürfnisse der
Zeit beredt und kräftig aussprach.' aber wahrscheinlich hätte der Dichter Omayya
den Abp Salt dasselbe zu leisten vermocht. ,„., „
.„Wenn sich einmal das Bestehende überlebt hat und e.ne gänzliche Umän-
derung noththut, so hängt der Erfolg des Reformators nicht von der Form
seines Programms (denn dieses macht sich im Verlauf der Sache von selbst)
ändern von ganz andern Dingen ab. Es gehe ein Mann nach Deutschland
wir einem tadellosen Project des heißersehnten Bundesstaates, so w.rd er doch
nichts ausrichten. Wenn aber ein patriotischer Fürst wie V.ctor Emanuel. em
Unger Staatsmann wie Cavour und ein enthusiastischer uneigennütziger
desen w.e Garibaldi aufstanden, so würde sich das Erreichbare auch ohne em
philosophisch, historisch, etnographisch, staatsrechtlich, politisch, nationalökonomisch
ausgearbeitetes Programm finden.
Die hysterischen Anlagen stempelten den Mohammad aber nicht nur zum
Propheten, sondern gaben ihm auch andere Eigenschaften, welche unter den
obwaltenden Umständen einem Führer sehr nützlich, fast unentbehrlich waren.
Aber wohl gemerkt: diese Eigenschaften sind meistens negativ. Der hysterische
Prophet unterschied sich nur wenig von einer gewissen Classe hysterischer Frauen.
Seine Begriffe waren weder klar noch scharf bestimmt, flössen aber alle aus
einer Idee oder vielmehr aus einem Gefühle. Diese Idee erfaßte er mit
Wärme und sprach sie mit weibischer Ueberschwänglichkeit und prophetischer
Verwirrtheit aus. Er war so zäh, aber auch so abhängig von seinen Freunden
wie eine Frau, und infolge der divinatorischen Empfindsamkeit, welche der
Hysterie eigenthümlich ist, nahm er den leisesten Hauch der öffentlichen Meinung
wahr; dazu kamen eine oft hervortretende Selbsttäuschung und die damit ver¬
wandte Verstellungsgabe und Gewandtheit in Ausflüchten. Ein passenderer
Führer für eine Gemeinde voll Thatkraft und ein geeigneteres Organ für die
zeitgemäße Gestaltung und Verkörperung der national-religiösen Gefühle ist
nicht denkbar. Wenn der Geist der Araber der Vater des Islam war, so ist
Mohammad die Mutter. Seine Größe liegt in seinen Schwächen."
Wir haben dieses Räsonnement des Verfassers ausführlich mitgetheilt, um
eine Probe zu geben, wie er sich die Dinge zurechtlegt. Vieles davon ist ohne
Zweifel begründet, anderes widerspricht vorhergehenden Behauptungen, einiges
ist mehr brillant gesagt, als wahr. Namentlich stellt Sprenger Mohammad
tiefer als erlaubt ist, und wir können bei aller Anerkennung der Vorzüge des
Werkes nicht umhin, zu gestehen, daß uns vorkommt, als ob dieses gering'
schätzige Urtheil nicht so sehr das Ergebniß seiner Studien, als vielmehr schon
fertig zu diesen Studien mitgebracht sei und die Gruppirung der Thatsachen
(vgl. das Capitel über die Frauen des Propheten) mitunter beeinflußt habe.
Gewiß ist Mohammads Charakter ein Gemisch aus edlen und unlautern
Elementen, erhabnen und niedrigen Eigenschaften, begeistertem Glauben und
Neigung zu Betrug. Unzweifelhaft treten bei ihm weibische Züge hervor. Vor-
trefflich ist die Bemerkung Sprengers, daß der stolze aggressive Geist des Islam
nicht von seinem Stifter, sondern von dem Kreise der Jünger Mohammads,
von Abu Bakr, Hamza, vor allem aber von Omar stammt, die den Schwärmer
nöthigten, sich in einen weltlichen Fürsten und Krieger zu verwandeln. Dagegen
müssen wir Rottele beipflichten, wenn er meint, Sprenger unterschätze den Pr^
pheten in Betreff seiner Weltklugheit und Politik. Allerdings hatten, wie dieser
Beurtheiler des Buchs in den Gött. Gelehrt. Anzeigen bemerkt, Omar, Abu
Bakr und Andere großen Einfluß auf die Politik Mohammads, und häusig
lenkten sie selbständig die Angelegenheiten der Muslime; allein weder war der
Prophet so ganz abhängig von dem Willen seiner Freunde, noch zeigte er sich,
wo er seinen besondern Intentionen folgte, als ungeschickten Staatsmann.
Ein Beispiel ist der Friedensschluß von Hodaybiya. der nach Sprengers
Ansicht ein Mißgriff gewesen wäre, nach den von Sprenger mitgetheilten That¬
sachen aber vielmehr eine sehr zweckmäßige Maßregel war. und der von Mo¬
hammad gegen den Wunsch und Rath seiner Umgebung durchgesetzt wurde.
Namentlich Omar war ganz entschieden gegen diesen Vertrag mit den Koray-
schiten. der seinem ungestümen, energischen Wesen viel weniger zusagen mußte,
als der stets zu Compromissen hinneigenden Natur des Propheten. Dieser aber
blieb fest und sah sich bald durch glänzende Erfolge belohnt. „Wer aber in
einer so überaus wichtigen Sache selbständig handelt/' sagt Rottele treffend,
»der wird auch sonst in Staatsangelegenheiten nicht ohne Willen gewesen sem."
Ein anderes Beispiel ist das Verfahren des Propheten bei Gewinnung
der Koravschiten und der ferner von Malta und Madyna wohnenden Araber¬
stämme für seine Lehre. Auch hier müssen wir auf die Seite Nöldekes treten,
wenn er meint. Mohammad habe wenigstens nicht vollständig den harten Tadel
Verdient, den Sprenger gegen ihn ausspricht, weil er sich mit einer blos ober¬
flächlichen Bekehrung und Unterwerfung jener Stämme begnügt habe, statt seine
Feinde zu zermalmen, einen Tadel, den der Biograph durch den allgemeinen
Abfall der Genannten nach Mohammads Tode erhärtet. „In manchen Fällen."
sagt Rottele hier, „mag Sprenger Recht haben, aber im Allgemeinen war vom
Standpunkte des Propheten die Annahme der Unterwerfung, wenn sie auch
"ur äußerlich war. gewiß das Zweckmäßigste. Mit dem Zermalmen hätte es
AUte Wege gehabt. Hätte er nicht so manchen Häuptling und so manchen
Stamm zunächst durch ihre weltlichen Interessen a» sich und seine Religion
fesselt, so hätten seine Nachfolger die Aufstände nimmermehr unterdrücken
können. Man bedenke, was aus dem Islam geworden wäre, wenn er bei der
Einnahme von Malta den Abu Sufjan und die andern Aristokraten hätte hin-
"edlen lassen, wenn er alle die Führer der großen Nedschdstämme auch nur rauh
^gewiesen hätte, welche sich ihm mit halbem Glauben oder aus bloßem Eigen-
"Utz nahten: spätestens bei seinem Tode wäre der Islam auf Medina und ein
paar Nachbarstämme beschränkt gewesen. Nur durch dieses Zuvorkommen des.
Propheten war es möglich, daß der Glaube selbst in den Herzen weiteutfernter
Stämme Wurzel faßte." Nur durch die Hilfe vieler Treugebliebenen wurde es
"o'such, die Abgefallenen zu besiegen und wieder unter die Fahne des Islam
zwingen. Allerdings war jene Politik des Propheten mehr klug als heilg.
""d für die Religion hat sie keine guten Früchte getragen. Aber um d>ehe
handelt es sich hier ja nicht.
Uebrigens trifft der Tadel Sprengers in diesem Fall. sofern er überhaupt
^echtigt ist. nickt Mohammad allein; denn Abu Bakr und selbst Omar
billigten dieses Transigiren mit der egoistischen Heuchelei, wie es scheint, durch¬
aus. Auf die treue Anhänglichkeit dieser beiden Kernmänner edelster Art ist
überhaupt bei der Schätzung des Propheten das größte Gewicht zu legen, und
was auch Sprenger nach seinen Quellen für seine geringe Meinung von den
moralischen Eigenschaften Mohammads anführen mag, das Vechältniß Omars,
dieses ebenso klugen, als edelgesinnten und redlichen Charakters, zu jenem wirft
ein Gewicht in die andere Wagschale, welches für uns entscheidet. „Ein
Mann, den ein Omar, obwohl er ihn durch und durch kannte, beständig aufs
innigste verehrte, muß doch etwas Großes in sich gehabt haben."
Ueber die Verhandlungen des dritten deutschen Arveitercongresses in Stutt¬
gart haben die Tagesblätter Bericht erstattet. Ich komme nicht ausführlich auf
dieselben zurück. Folgendes soll nichts Anderes sein als die Wiedergabe em¬
pfangener Eindrücke, Randbemerkungen, die sich mir während derselben aufge¬
drängt haben.
Die Wichtigkeit und das Zeitinteresse der verhandelten Gegenstände geht
schon daraus hervor, daß sie wenigstens zum Theil fast gleichzeitig von vier
verschiedenen Kongressen, zu Stettin. Nürnberg. Bern und hier zu Stuttgart
besprochen worden sind. Vielleicht wäre es nicht uninteressant zu vergleichen,
wie dieselben Probleme von der Elite der deutschen Volkswirthe, von den
deutschen Erwerbs- und Wirthschastsgenossenschaften, von dem internationalen
Socialcongreß und endlich von den deutschen Arbeiterbildungsvereinen ange¬
griffen worden sind. Ohne Zweifel würden an sachlichen Interesse, an innerem
Werth die Debatten der letztgenannten Vereine zurückstehen müssen. Folgen
sie doch einestheils wesentlich den Impulsen, welche ihnen die Wissenschaft oder
fremdes Beispiel gegeben, wie denn die ganze Associationsbewcgung zunächst
nicht von den Arbeitern ausgegangen, sondern von Männern der Theone,
welche die Arbeiter für sich gewannen, angeregt worden ist. Sodann ist ^
unausbleiblich, daß manche Gegenstände, so gesund die leitenden Grundsätze
im Allgemeinen sind, doch in einer Versammlung von Arbeitern ziemlich ein-
seitig behandelt werden; für manche Fragen fehlt hier entschieden die nöthige
Reife und was z. B. in Stuttgart über die Frauenarbeit gesprochen worden ist.
kann schwerlich den Anspruch erbeben, neue Wege gezeigt oder auch nur zu
nner richtigen Beurtheilung der vorhandenen Zustände beigetragen zu haben.
In sachlicher Beziehung also darf man sich keiner Ueberschätzung hingeben. Aber
auf der andern Seite ist es doch auch wieder von besonderem Interesse, die
selbstthätigen Regungen eines Standes, für welchen so viele Redner. Schrift-
steller und Agitatoren thätig sind, zu verfolgen. Und da ist es erfreulich zu
sagen, daß die günstigen Eindrücke weit überwiegen. Die Einsicht in die Volks,
wirtschaftlichen Grundbedingungen der Gesellschaft verbreitet sich in immer
weitere Kreise, die Ergebnisse der Theorie setzen sich um in praktische Institute,
die Organisation, welche sich die Vereine vor drei Jahren gegeben, ist eine ge¬
sunde, lebensfähige und bewegt sich im Allgemeinen in einem geordneten, wohl¬
bemessenen Bette. Die Gefahr von Verirrungen ist zur Zeit eine verschwindende
Segen die Vortheile einer parlamentarischen Selbsterziehung und Disciplin,
welche belebend und anregend auf die praktische Thätigkeit zurückwirkt.
Was am meisten charakteristisch ist und auch die Aufmerksamkeit der Aus-
länder besonders auf sich gezogen hat. ist das Institut deS Arbeitstags selbst.
In der That ist diese Einrichtung bis jetzt dem deutschen Genossenschaftswesen
allein eigen. Unstreitig sind wir in manchen Zweigen seiner praktischen Aus¬
bildung noch sehr zurück; was die Konsumvereine z. B. und besonders die Pro-
ductivgenossenschaften betrifft, sind wir von Engländern und Franzosen weit
Überflügelt, während unsre eigentliche Domäne bisher das Vorschuß, und Credit-
Wesen ist. Aber nirgends ist noch dieser Aufbau und Zusammenschluß der ein¬
zelnen Verbände, diese nationale Organisation versucht worden. Seltsam!
während sich unsrer politischen Einigung unübersteigliche Hindernisse in den
Reg legen, ist es nicht nur überall die Tendenz der Privatassociationen, sich
über den ganzen vaterländischen Boden zu verbreiten, sondern sie finden ihre
Befriedigung nur in einem gegliederten Verband, in einem einheitlichen Ab¬
fluß, ein Beweis dock wohl, daß es in der Nation nicht an den Elementen
Einheit fehlt und der Atomismus nicht das letzte Wort unsrer Geschichte ist.
Insofern wird man neben anderen Aeußerungen des Associationstriebs, in
welche sich zur Zeit der Einheitsdrang flüchtet, auch dem Arbeitertag eine ge¬
wisse nationale Bedeutung nicht absprechen können. Es ist nicht blos eine
Wanderversammlung, aus der die Angehörigen der verschiedenen Stämme sich
zusammenfinden, sondern es ist eine Organisation, welche ganz Deutschland um-
Die Unterschiede von Nord und Süd treten wohl nirgends weniger
^bor als auf diesen den materiellen Fragen gewidmeten Congressen. Oestreich
^Segen fehlt gänzlich. Auf wirthschaftlichem Gebiet, kann man sagen, ist Klem-
deutschland eine fertige Thatsache. Die.Arbeitervereine sind in diesem Sinn«
eine sociale Ergänzung des Zollvereins. Sie sind vielleicht ein noch sprechen¬
deres Symptom als dieser, sofern sie aus dem Volk selbst hervorgehen und
keine politische Absicht, keine politische Intrigue mit im Spiel ist. Die wirth-
schaftliche Einigung ist jetzt schon die solide Basis für die politische Einigung.
Aber ein Anderes ist die directe Einmischung der Arbeitervereine in die
Politik. Man hat es ihnen oft gesagt, daß ihr eigenes Gedeihen gefährdet
wäre, wenn sie sich auf ein Gebiet verlocken ließen, welches außerhalb ihrer
Aufgabe liegt. Bekanntlich haben sie die Versuchung, die in der lasallischen
Agitation an sie herantrat, siegreich zurückgewiesen. Allein es ist klar, daß,
je ungesunder und unfertiger unsere politischen Zustände sind, um so eher immer
wieder diese Versuchung an sie herantritt. Die inneren Wirren in Preußen
haben ihre unvermeidliche Rückwirkung auf den Geist der Arbeiter. In der
Haltung der preußischen Delegirten war das unschwer zu erkennen. Sie machten
kein Hehl aus ihrem Groll über die Volksvertretung, bittere Worte konnte man
hören insbesondere über die Fortschrittspartei, welche „nichts gethan", und bei
den nächsten Wahlen es zu empfinden haben werde, und das Wegbleiben von
Schulze-Delitzsch ist, wie verlautete, kein zufälliges gewesen. Man weiß, daß
unter den Berathungsgegenständen auch „das allgemeine, gleiche und directe
Stimmrecht" figurirt, und zwar war es in der Vorversammlung gleich als zweiter
Gegenstand auf die Tagesordnung gesetzt worden. Diese Frage, führte der
Berichterstatter aus, sei allerdings eine politische, aber sie habe nicht länger
zurückgedrängt werden können; was jedem auf der Zunge schwebe, gezieme sich
auch öffentlich auszusprechen, die Arbeiter seien Politisch rechtlos, sie bedürfen
einer Vertretung in den Kammern u. s. w. Die Anträge auf Tagesordnung,
die Warnungen, nicht in das politische Gebiet überzugreifen, zumal in einem
Moment, wo vielleicht eine allgemeine Reaction drohe, fanden keinen Beifall.
Der von Berlin aus gestellte Antrag, daß es Pflicht aller Arbeitervereine sei,
für das allgemeine und directe Wahlrecht in die Schranken zu treten, wurde
zwar abgeworfen, aber bei Stimmengleichheit nur durch Stichentscheid des Prä¬
sidenten. Dagegen wurde die allgemeinere Fassung, welche diese Pflicht ein¬
fach den Arbeitern zuschob, einstimmig angenommen. Damit war allerdings
dem Antrag die bedenklichste Spitze abgebrochen.
Uebrigens sind es nicht am wenigsten die geistigen Leiter der Vereine selbst'
welche die Schuld tragen, wenn den Arbeitern der Appetit nach politischer Be'
schäftigung wächst. Es liegt in der Natur der Sache, daß die „geistigen Ar¬
beiter" vornehmlich an den Debatten sich betheiligen und fast ausschließlich den
Aufwand an Tischbcrcdsamkeit bei den Festbanketen decken, und es ist natürlich'
daß bei den Toasten die Politik ein Recht hat mit darein zu reden. Aber M»"
kann des Guten zu viel thun, und es ist namentlich von den anwesenden
Fremden bemerkt worden, daß der Inhalt der Tischreden doch von den Zwecke»
des Arbeitertags ziemlich weit sich entfernte. Dazu kommt, daß die oft gerügte
Sünde wider den guten Geschmack, die Unart, bei solchen allgemeinen Festlied,
leiten einen schroffen Parteistandpunkt herauszukehren, auch hier nicht vermieden
wurde. Die Koryphäen der föderalistischen Demokratie hatten sich zusammen-
gefunden, lauter runde, wohlgenährte Gestalten, wie man mit Vergnügen zu
bemerken Gelegenheit hatte, und mit weithin.herrschenden Organen ausgestattet,
welche unterstützt von verwegenen Geberdenspiel ihren Eindruck nicht verfehlen
konnten. So blieb uns denn nicht erspart das confuse Deccntralisationsgerede
des Einen, das verzweifelte Mittelstaatcnpathos eines Anderen, endlich die
Hammelhce'rdenklage eines Hamburgers, der im Namen Schleswig. Holsteins
sprach. Es ist ein ganz artiger Vorwurf für einen eleganten Tischredner. auS-
Zuführen. wie das Princip der Selbsthilfe auch aus politischem Gebiet ange-
wandt werden müsse. Wenn aber solche Worte mit demagogischen Pathos
und unter der Maske politischen Ernstes in eine halbgebildete Menge hinein-
geschleudert werden, so ist dies ebenso eine schlechte Tischrede als eine schlechte
Politik, und die Folge ist nur die. daß die Arbeiter, bethört durch leichtsinnig
hingeworfene Zweideutigkeiten, an den gesunden Grundsätzen ihrer Bewegung
"re werden.
Noch haben wir eine Eigenthümlichkeit dieses Arbeitertags zu erwähnen.
Welche folgenreich zu werden verspricht, Frankreich war stärker vertreten als
l° auf einer ähnlichen deutschen Versammlung. Der Grund lag theils in der
Etlichen Nähe überhaupt, theils in der Bequemlichkeit, mit welcher die Theil-
nehmer des berner Kongresses den Rückweg über die Stuttgarter Versammlung
nehmen konnten. Allein man gefiel sich gegenseitig, und wir sind überzeugt,
daß wir von nun an bei ähnlichen Veranlassungen auf den regelmäßigen Besuch
uberrheinischer Gäste zu rechnen haben. Es waren zum Theil Namen Von
anerkannten Gewicht, wie der Nationalökonom Horn, der Statistiker Moritz^
Block.^>can Mach, der Begründer der Gemeindcbibliotheken im Elsaß, dem
Wir unlängst in diesen Blättern einige Seiten gewidmet haben, dann Vertreter
der französischen Presse. Elsässer. welche mit den Arbeitersragen schon prall.sah
beschäftigt haben. Seinquerlet. der bekannte Mitarbeiter, des Temps der
durch seine journalistische Thätigkeit wie durch sein Buch über dre deutschen
Volksbanken wesentlich dazu beigetragen hat, diesem Zoe.g des Uffo-ratrons-
Wesens in Frankreich Eingang zu verschaffen, konnte in der Anrede zu welcher
^ sich vor dem Schluß des Congresses das Wort erbat, äußern. bMer er er
i" deutschen Versammlungen stets der einzige Vertreter der par.ser Presse ge-
Wesen, diesmal freue er sich, von einem Kranz von Vertretern des französischen
Journalismus umgeben zu sein, und er begrüßte dies als em Zeichen der
Ochsenden brüderlichen Gesinnung beider Völker. In der That waren außer
dem Temps noch vertreten: der Avenir national, die Presse, der Courrier du
Bas-Rhin. das Journal des Economistes, die Association.
Es lag darin eine erfreuliche Anerkennung des Werths der disrheinischen
Bestrebungen auf diesem Gebiet, und wie die Franzosen kamen, um zu lernen,
so können ohne Zweifel auch wir durch häufigere Berührung lernen in den
Stücken, in welchen unsre Nachbarn überlegen sind. Noch mehr. Es ist zum
Gemeinplatz geworden, daß unsere Versammlungen und Feste hauptsachlich den
Sinn haben, die Deutschen verschiedener Landschaften einander näher zu bringen
und dadurch zur Aufhebung trennender Vorurtheile und Mißverhältnisse beizu¬
tragen. In ähnlicher Weise werden nun auch häufigere Begegnungen von Volk
zu Volk dazu beitragen, hergebrachte Urtheile zu berichtigen und gegenseitiges
Verständniß zu fördern. Aber es knüpft sich hieran noch eine ernste Be¬
merkung.'
Es kann dem aufmerksamer Beobachtenden nicht entgehen, daß das inter-
nationale Element eine immer größere Rolle zu spielen berufen ist. Die Welt¬
ausstellungen haben das Signal gegeben. Selbst die kolossalen Kriegsmittel
der Nationen müssen in unsern Tagen zu friedlichen Schaustellungen dienen.
Bei nationalen Festlichkeiten gewöhnt man sich daran, die Vertretung befreun¬
deter Völker als einen unentbehrlichen Schmuck zu begrüßen. Auch auf unsern
deutschen Festen tritt dies mit jedem Jahre deutlicher hervor, und wir werden
um einer kleinlichen Empfindlichkeit willen nicht auf die Länge den Italienern
den Eintritt in unsere Festhalten verwehren können. Es mag diese Mischung
der Völkerindividualitäten nicht nach jedermanns Geschmack sein, aber sie ist
unvermeidlich, sie hängt eng zusammen mit der Entwicklung, welche das moderne
Völkerleben überhaupt genommen hat. sie ist nur ein Ausdruck der unbestreit¬
baren Wahrheit, daß die abendländischen Völker sich als eine Gemeinschaft
fühlen, die, wenn auch die Zeit vorübergehender Störungen sicher nicht vorbei
ist, dennoch jetzt schon durch ein Band gemeinsamer geistiger und materieller
Interessen zusammengehalten ist, welches eben solche Störungen nur als vor¬
übergehende empfinden läßt und die Nachwirkungen vergangener Kriege und
Erschütterungen immer unschädlicher machen wird. Da stößt nun aber die
seltsame Anomalie auf, daß eine Nation in diesen Völkerverkehr einzutreten
berufen ist, welche selbst noch keine Nation ist. Während die anderen Völker
uns zu gemeinsamer Arbeit an den Aufgaben der Menschheit aufrufen, sind
wir gefesselt durch das Bleigewicht unsrer eigenen Unfertigkeit, und der Geist
der internationalen Völkerassociation pocht an unsere Pforte, bevor wir den
eigenen Bau unter Dach und Fach gebracht haben. Es ist dies nicht blos eine
Anomalie, sondern eine Gefahr. Nur ein im Staate gefestigtes Volksthu»'
vermag in dem Wettstreit der Nationen das Recht seiner Individualität zu
behaupten und seinen legitimen Beitrag zu stellen in dem freien Austausch
von Land zu Land. Womit man uns zuweilen für den Mangel der Einheit
Zu trösten versucht hat. auch unsre kosmopolitische Aufgabe, leidet Noth darunter,
daß wir in der Ausbildung unsrer Nationalität zurückgeblieben sind. Denn
diese ist der feste Grund, von welchem aus erst die gemeinsamen Aufgaben mit
ebenbürtigen Händen können gefördert werden. Nur dann hat die Völker¬
association einen Sinn, wenn sie fertige, selbstbewußte, ebenbürtige Völker um¬
schließt
Das treffliche Werk, welches zuerst den Versuch machte. Dante aus dem Kreise
blos ästhetischer Betrachtung herauszuheben und in die Reihe historischer Probleme
einzuführen, erscheint hier in einer Gestalt, in welcher es seinen Werth auch neben den
vielen neuen Beiträgen behält, welche die deutsche, die französische und die ltalien.sch-
W'sscnschaft seitdem zum Verständniß des Lebens und der Dichtungen Dantes gc-
U°f°re hat. In jedem Capitel treffen wir auf Aenderungen, wenn auch d.e Grund¬
ansicht des Verfassers im Wesentlichen dieselbe geblieben ist.. Besonders wichtig sind
die Umgestaltungen des Abschnitts, welcher die Vita nuova bespricht, und die in
d°in Capitel, in welchem der Verfasser seine Deutung der Allegorien in Gesang
1 und 2 der göttlichen Komödie niedergelegt hat. Jene betreffen den Wendepunkt
in Dantes Leben, und zugleich -inen Wendepunkt in der ganzen L.ebcspoesie des
Niittelalters. den Uebergang von dem Thema sinnlicher, irdischer Liebe zu e.ner ver¬
geistigter, geheiligten, die Verschmelzung von Religion und Liebe, von der seine
Vorgänger, die Provenzalen nichts wissen. Diese tragen wesentlich zum Verständniß
des Hauptwerkes des Dichters bei.
Für die groß- Mehrzahl der gebildeten Welt sind die Dichtungen des deutschen
Mittelalters verschlossn- Bücher. Grund davon ist nicht so sehr Gleichgiltigkeit des
Publikums gegen diesen Theil unsrer Literatur; denn man kauft und liest Ueber«
Seezungen dieser Dichtungen, die doch niemals das Original ersetzen, als vielmehr,
daß die Fachgelehrten nichts oder wenig gethan haben, dieselben dem Publikum durch
die zum Verständniß der Originale nothwendigen Mittel zugänglich zu machen. Im
Hinblick hierauf heißen wir dieses Unternehmen aufrichtig willkommen. Zwar glauben
wir, daß der Mehrzahl der Deutschen die Dichtungen der antiken Welt immer näher
liegen werden, als die des Mittelalters, aber eines Versuchs, die letzteren in der Ge¬
genwart wieder mehr einzubürgern, sind wenigstens einige der großen und viele der
kleinen Poesien mittelhochdeutscher Zeit unzweifelhaft werth, und Professor Pfeiffer,
hat hier jedenfalls den rechten Weg eingeschlagen, auf dem Erfolg zu hoffen ist.
Die Charakteristik Walthers und seiner Zeit und die Bemerkungen über Aussprache
des Mittelhochdeutschen, über die Regeln der alten Verskunst, Betonung, Hebung
und Senkung, Anstand und Reim, die er in der Einleitung giebt, sind durchaus zweckent»
sprechend, und die Anmerkungen zu den einzelnen Gedichten räumen alle Schwierig¬
keiten hinweg, die sich dem Laien bei der Lectüre entgegenstellen. Die Ausstattung
dieses Probebandes ist elegant, der Preis verhältnismäßig wohlfeil. Die Sammlung,
soll zunächst 12 Bände von ungefähr gleicher Stärke umfassen und nächst Walthers
Gedichten: Das Nibelungenlied von K. Bartsch, Kndrnn von demselben, die Werke
Hartmanns von der Ane (in zwei Bänden) von F. Beas, Wolframs von Eschenbach
Parzival und Gottfrieds von Straßburg Tristan (je zwei Bände) von R. Bechstein,
Geistliche Dichtungen des zwölften Jahrhunderts von I. Diemer, Rudolfs von Ems
Wilhelm von Orleans von dem Herausgeber der Sammlung und ein „Buch der
Schwänke und Erzählungen" von demselben bringen.
Der Verfasser, der früher schon in den Monographien „Der Patriarch Lukarius
und seine Zeit" und „Die orientalische Kirchenfrage nach ihrem gegenwärtigen
Stande" Hierhergehöriges in interessanter Weise behandelt hat, besitzt eine reiche
Gelehrsamkeit und schreibt über seinen Gegenstand als katholischer Theolog (er ist
Privatdocent der Theologie in München) mit merkwürdiger und sehr anerkennens-
werther Unbefangenheit. Er hat sich fleißig in die kirchliche Literatur der orientalischen
Kirche, für die meisten römisch-katholischen und sehr viele protestantische Theologen
bisher ein fast ganz unbeachtetes Gebiet, hineingearbeitet, sich auch über die Dinge,
welche mehr in die profane Geschichte gehören, z. B. über das Verhältniß des Papste
thums zum Kaiserthum, gut orientirt und sich so eine selbständige Meinung gebildet,
mit der man vielfach übereinstimmen kann, und die mau, da sie sich in gebildeter
und rücksichtsvoller Sprache äußert, auch da bereitwillig anhört, wo man ihr nicht
beizupflichten vermag. Auch die Darstellung ist als gewandt und lichtvoll zu loben-
Die Frage uach der Veranlassung des Schismas beantwortet die Schrift freimüthig
dahin, daß die Schuld bei beiden Theilen zu suchen sei; die Frage, ob eine Wieder-
-
Vereinigung wahrscheinlich, glaubt der Verfasser verneinen zu müssen. Doch erinnert
er in Betreff des Gedankens einer Ausgleichung der Gegensätze aller Bekenntnisse
überhaupt an ein gutes Wort Döllingers. welches jeder Theolog sich zur Richtschnur
dienen lassen sollte: „Der Anerkennung und folgerechten Durchführung des Gesetzes
d°r historischen Entwickelung in der Lehre darf fortan kein wissenschaftlicher Theolog
s"h entschlagen."
Zehn Essays über französische Dichter und Schriftsteller der neuesten Zeit, die
Zugleich gewisse Momente des französischen socialen und politischen Lebens in dieser
Zeit repräsentiren. Böranger, Scribe und seine Schule, de Maistre und Lamennais,
Chateaubriand, Frau v. Staöl, Guizot, Lamartine, George Sand, Victor Hugo in
der Verbannung, endlich Louis Napoleon. Mehr und mehr wird in unsern Tagen
d>e eigentliche Bedeutung und das Wesen der ungeheuren Erscheinung begriffen, welche
Man die französische Revolution nennt. Wir wissen jetzt, daß sie nicht sowohl ein
Kampf um die oder jene Staatsform, als vielmehr das sich Einporringen des Mittel¬
standes zu der ihm gebührenden Stellung bedeutet. Zwei Umstände vorzüglich gaben,
wie der Verfasser im Vorwort auseinandersetzt, der Bewegung ihre gewaltige Expan-
sivkraft, hinderten aber gleichzeitig, daß sie die politischen Ziele erreichte, welche ihre
ersten Führer erstrebten, und nach welchen jetzt schon die dritte Generation hinarbeitet.
Der dritte Stand in Frankreich sah sich, ohne selbst fest organisirt zu sein, einer
wächtig entwickelten Staatsmaschine gegenüber, er bemühte sich also naturgemäß,
diese Maschine für sich umzugestalten, sie sich dienstbar zu machen. Das war die
erste Gefahr. Dazu aber kam eine zweite: der gegen die privilegirten Inhaber der
Gewalt anstürmende Ncchtsgedankc trat, da er keine Organe vorfand, welche seine
concrete Erscheinung hätten vermitteln und mäßigen können, als nackte Abstraction
^r thatsächlichen Welt gegenüber und wirkte auf diese wie eine entfesselte Naturkraft.
»Die Lehre von den Mcnschcnrcchtensagt der geistvolle Essayist, „ergriff die Ge-
wüther wie der Sturm das Meer und thürmte aus den Tiefen der Gesellschaft in
e»leim Nu die Wogen in die Höhe, deren erstem Anprall die Bollwerke der bevor¬
rechteten Stände erlagen. Und als dann am Tage nach dem Siege das Princip,
welches ihn erfochten hatte, naturgemäß zu wirken fortfuhr, als die Masse der Ein¬
zelnen, deren Kraft sich nicht hinlänglich entwickelt erwies, um die ihnen gewährte
^heoretischc Rechtsgleichheit wenigstens annähernd in eine thatsächliche Gleichheit der
"bensbcdingungen zu übersetzen, sich gegen die Grundlagen auch des neuen Zustandes
wandte, als die pulverisirten Massen sich in die bedenklichen Kategorien der „Be¬
friedigten" und der „Unbefriedigter" theilten, mußte wohl die centrale Staatsgewalt,
einzig unversehrt gebliebene Organ der Gesellschaft, sich als letzten Rettungsanker
erweisen, mußte jede neue Phase der Bewegung dazu dienen, ihre Uebermacht zu
wehren und die Heranbildung eines selbständig von alten auf wachsenden Poli-
^ehen Lebens mehr und mehr zu erschweren. Hierzu rechne man die chevalereske
rundlage des gesammten französischen Volkes, seine Freude am Wagniß, sein Be-
"Miß nach Aufregung, seinen Durst nach äußerer Anerkennung und Geltung,
endlich den nicht hoch genug anzuschlagende» Einfluß einer Jahrtausende alten katho¬
lischen Erziehung und Gewöhnung, und man wird einen sichern Leitfaden in Hän¬
den haben, um sich in den Wirren der neuesten französischen Geschichte zurechtzufinden.
Diese jähen Uebergänge vom Massen- zum Militärdespotismus, die vergeblichen An¬
strengungen der um die Begründung des Rechts- und Versassungsstaats ringenden
Mittelparteien, die abwechselnde Herrschaft eines hochfligenden Idealismus und einer
leidenschaftlichen, jede Rücksicht abwerfenden Selbstsucht, und auf rein geistigem Ge¬
biet das nur allmälige und mühsame Aufkommen einer von gründlicher Erfassung
und allseitiger Verarbeitung des Wirklichen ausgehenden Weltbetrachtung gegen die
Einseitigkeit der Ueberlieferung und gegen die der phantastischen Systeme: alle diese
Erscheinungen des überrheinischen Lebens verlieren, so gesehen, vieles von ihrer
blendenden, das Urtheil verwirrenden Wirkung. "Sie verwandeln sich aus Gegen¬
ständen der Bewunderung oder des Abscheues in eine Reihe von ermunternden oder
warnenden, immer aber belehrenden und in hohem Maße anziehenden Vorgängen,
in ein historisches Drama, das uns um so mehr fesselt, als wir keineswegs nur
als unbetheiligte Zuschauer ihm beiwohnen."
Damit ist der Standpunkt bezeichnet, von welchem der Verfasser bei Entwerfung
seiner Charakteristiken ausblickte. Diese Litcrar- und Culturbildcr sollen Beitrage
zum Verständniß jenes großen historischen Dramas sein, sie sollen die Grundzüge
der neuesten französischen Entwickelung in den Arbeiten und Erfolgen einer Anzahl
hervorragender Träger des französischen Geistes nachweisen, und diese Absicht ist in
sehr anerkennenswerther, bisweilen in glänzender Weise erreicht. Die Auswahl, die
der Verfasser getroffen, ist durchaus zweckentsprechend, die Reihenfolge, in der er uns
die Gegenstände und Ergebnisse seiner Studien vorführt, verdient das gleiche Lob.
Mit Böranger und Scribe wird begonnen, weil ihre Betrachtung ganz besonders
geeignet ist, dem Leser eine deutliche Vorstellung von den hauptsächlichen Neigungen
und der durchschnittlichen Bildung der französischen Mittelclasse bis hinab zu dem
einigermaßen denkenden und strebenden Theil der Blousenträger zu verschaffen. Weiter¬
hin repräsentiren Joseph de Maistre, Lamennais vor seinem Uebertritt zur revolutio¬
nären Partei und Chateaubriand die letzten großen geistigen Anläufe des alten
Frankreich, oder doch seiner Traditionen, gegen die Ideen der Revolution. In der
Frau v. StaÄ und Guizot sodann sehen wir den germanisch-protestantischen Rechts-
gedanken gemischt mit französischem Wesen in der Form mit demselben Gegner den
Kampf aufnehmen. Lamartine, der nun folgt (und der allerdings als Dichter nicht
mit Börangcr, als ästhetischer Schriftsteller nicht mit der Staöl und als Politiker
nicht mit Guizot und de Maistre auf eine Stufe gestellt werden darf), vertritt die
bedenkliche Rolle eines von unklaren Stimmungen hin und hergcworfenen, nach
Aufregung verlangenden und doch ernster Kämpfe nicht fähigen, hochfliegenden, aber
weichlichen Dilettantismus, der in der Zeit der Februarrevolution für einen Augen»
blick das Nuder in die Hände bekam. In George Sand ferner begrüßen wir eine
von der krankhaften Strömung der Zeit allerdings stark berührte, aber innerlich
nicht verdorbene echt poetische Aeußerung des neufranzösischen, von germanische"
Bildungselementen befruchteten Geistes. Dann läßt der Verfasser den Victor Hugo
der fünfziger Jahre, den Dichter der demokratischen Revolution für die Träumereien
derselben das Wort ergreifen, um schließlich in einer Charakteristik der Werk- Louis
Napoleons die geschichtlich nothwendige wirkliche Erscheinung dieser Revolution dem
Leser nahe zu bringen. Man kann die Frag- auswerfen, warum der Verfasser
dieser Essays den angegebenen Zweck derselben, zum Verständniß des allgemeinen
Charakters der heutigen französischen Cultur-poche beizutragen, durch Betrachtung
nur von Schriftstellern ersten Nang-s verfolgt, da doch der Genius stets -»,- was-ut-
'ich individuell- Seite hat. Aber man wird zufrieden fein müssen. wenn das Vor¬
wort darauf antwortet, daß es hier auf keine vollständige Culturg-sah.este. sondern
nur auf Herd-ischaffung von Material zu einer solchen abgesehen sei. und daß d.cs-
Studien" nicht blos von culturgeschichtlichem, sondern zugleich von Werar-histo¬
rischem Interesse eingegeben wurden. ,
Ein aus bester Quelle, d. h. aus den Acten des Mannheimer Theaters, ge¬
schöpfter, sehr werthvoller Beitrag zur Geschichte der deutschen Bühne, der über
wesentliche Punkte in ders-ib-n neues Licht verbreitet und namentlich über den
Zweiten der beiden vom HauPttitcl genannten Namen Mittheilungen bringt, welche
das bisher über denselben gefällte Urtheil beträchtlich zu modificiren nöthigen. Nach
d" Darstellung Koffkas war Dalberg ein sehr tüchtiger, ja musterhafter Intendant,
^'r die von ihm geleitete Bühne gegenüber mannichfachen Hindernissen, finanziellen
Nöthen und Sorgen bureaukratischen Einmischungen, üblem Geschmack des städtischen
Publikums mit Intelligenz. Begeisterung für die Kunst und großer Opfcrbcrettschaft
'nette. und der namentlich das Prinzip, nach welchem nur im Einklang der aus-
übenden Kräfte mit der obersten Leitung die Interessen einer Bühne wahrhaft ge.
fördert werden kann überall am'rkanntc und zur Richtschnur seines Handelns machte.
Seine Gesellschaft war für ihn zugleich sein Rath in Sachen der Kunst, in dem er
s'°h nur den Vorsitz vorbehielt, alle Fragen des Theaters wurden gewissermaßen
Varlamentarisch festgestellt. Jahrzehnte hindurch (seit 1781. wo Dalberg selbst d,e
Dn-ction übernahm) kamen die manus-imcr Schauspieler regelmäßig zusammen, um
^ mit ihm über das Repertoir zu verständige», ihre Wünsch- und Meinungen ub-r
neue Stücke und über die Besetzung der Rollen kundzugeben und andere Fragen
Wichtigkeit zu besprechen. Mit Geschmack und Einsicht kritisirte der Vorsteher
dieser Gemeinde von Künstler» die einzelne» Vorstellung-» in schriftlichen Miethe..
lungen an die Betreffenden. Mit edler Hingebung und großer Liberalität half er,
det- Besoldung ablehnend, auch in pecuniär-r Beziehung das ihm anvertraute In¬
stitut fördern. In den ersten beiden Jahren des Bestehens der neuen Bühne trug" aus seinen Mitteln gegen siebentausend Gulden zur Subvention derselben ve...U"d als Iffland später, wie der Revolutionskrieg die Existenz des Kurfürst-n und
d-"nit die dem Künstler versprochene Pension bedrohte, bezahlte Dalberg nicht nur
^nächst eine beträchtliche Summe, die Jffland der Kasse des Theaters'schuldete, for-
t"n sicherte ihn. auch eine Pension von achthundert Gulden bis zu se'nem Tod-
i». Auch über das Verhältniß Schillers zu Dalberg gewinnt man (S. 111 bis 130.d-an 140 und 141) eine Meinung, die dem letzteren günstiger ist als die. welche
bisher die herrschende war. Dafür hatte er aber auch die Freude, bei den Mit¬
gliedern seiner Anstalt einer hohen Auffassung der Kunst und reinster Begeisterung
für dieselbe zu begegnen, wovon Koffka verschiedene glänzende und gegen heutige
Theaterzustündc sehr vortheilhaft abstechende Proben mittheilt. Es wird heutzutage
sicher einige, aber ebenso sicher nicht viele Schauspieler geben, die sich wie Iffland
gelobt haben, „die Möglichkeit auf eine Volksversammlung zu wirken, niemals an¬
ders als für das Edle und Gute zu gebrauchen", und wie würde Jffland, der da»
mals an den Geistlichen, der seinem Freunde Beck die Grabrede gehalten, schrieb:
„Ich erkenne die Schauspiele, i» denen der Sinnlichkeit geschmeichelt, der Beifall
auf Kosten der Sittlichkeit und Zucht dem schwachen Zuschauer abgebuhlt wird, für
das schändlichste Gift, das ausgestreut werden kann" — wie würde Jffland und
die damals mit ihm Strebenden über die meisten unsrer jetzigen Theater urtheilen?
Das Buch ist vorzüglich für Seminaristen und Lehrer, dann für „alle Freunde
der Volksstimme, Volkssprache und Volksschrift" bestimmt und will „ein Hilfsbuch
zum Studium deutscher, besonders der volkstümlichen Sprache und Literatur, so«
wie eine Handreichung zum Eintritt in die Geschichte derselben" sein. Der Ver-
fasser hat sich da eine Aufgabe gestellt, der er'als offenbarer Dilettant nicht ge¬
wachsen ist. Hätte er sich auf die beiden Dichter beschränkt, die der Titel der Schrift
zu Anfang nennt, so hätte er Befriedigenderes liefern können, obwohl sein stark zu
neumodischer Gottseligkeit hinneigendes Wesen unbefangener Auffassung im Weg«!
gestanden haben würde. So ist sein Buch ein Reden ac omnibus rsbus et qui'
lznsclam g.liis, ein stetes Abspringen von der Stange und ein Durcheinander von
guten, halbrichtigen und falschen Notizen, weitschweifigen Excursen und gelehrten
und trivialen Bemerkungen.
Vierzehn Abhandlungen! Die Epochen der deutschen Literatur — die Anfänge
des deutschen Dramas — Gottsched im Wendepunkte der deutschen Literatur (ste^
den Betreffenden viel z» tief) — Hinrich Jcmßeu, der Bauernpoet (ein Zeitgenosse
Hagedorns im Butjadingcrland) — Mosers Gefangenschaft in Hohentwicl — KloV
Stocks Verhältniß z» der Literaturentwicklung des achtzehnten Jahrhunderts — Herder
in seiner Jugend und im Aufgang des Ruhms — Goethe, ein Lebens- und Eh«'
rakterbild — Goethes Geistesentwicklung während der frankfurter Jugcndepoche
Goethe und Reinhold Lenz (enthält einiges Neue über den letzteren) — Goethe u«l>
Plessing (ein Aufsatz, in welchem uns Schäfer Düntzcr gegenüber nicht das Rech^
zu vertreten scheint) — Ueber Goethes römische Elegien und venetianische Epigramme
— Schiller und Margarethe Schwan — endlich: Erinnerung an Ludwig Uslar^
Die Form nicht übel, der Inhalt nicht bedeutend.
Indem wir auf die obigen beiden Schriften als aus werthvolle Bereiche-
rungen der Geschichte Deutschlands aus bisher noch nicht benutzten archivalischen
Quellen aufmerksam machen, bemerken wir zunächst, daß die zweite demnächst im
Buchhandel erscheinen wird. Eine wesentlich andere Auffassung der Ereignisse, aus
welche sie Bezug nehmen, gewinnt man zwar aus ihnen nicht; wohl aber lassen
sie das diplomatische Treiben, aus dem jene Ereignisse hervorgingen, die Stim¬
mung und Denkweise der betheiligten preußischen, östreichischen und mittelstaat-
Uchen Politiker, ihre Sympathien und Antipathien, ihre Minen und Gegen-
Minen vielfach in neuem Lichte sehen. Aegidi beschränkt sich auf die Darstellung
der Verhandlungen, in welchen man 1818 bis 1820 in Karlsbad und Wien
"ne deutsche Zoll- und Handelsverfassung zu schaffen versuchte, und der Ur-
Wien, aus denen diese Bemühungen mißglückter, wobei er sehr in die Details
"«geht, welche ihm gewisse Gesandtschastsberichte lieferten, v. Weech ergänzt
und berichtigt durch seine Mittheilungen über die wiener Conferenzen von 1819
und 1820 das von Aegidi Gegebne in mehren Punkten; außerdem aber liefert
er in den von ihm zusammengestellten Aktenstücken lehrreiche Beiträge zum
Aesern Verständniß der Geschichte' des deutschen Bundes überhaupt und nament-
lich des Verhaltens der deutschen Großmächte zu dem in den Mittel- und Klein-
staaten in den genannten Jahren erwachten Streben nach konstitutioneller Freiheit.
Wir geben im Folgenden einen Abriß der Vorgeschichte des Zollvereins
^zugM) nach Aegidi mit den nothwendigen Berichtigungen und Zusätzen nach
dn Weechschen Schrift. Die Moral wird sein, daß, wie die Dinge lagen und
"och liegen, auf dem Bundeswege in. dieser wie in jeder andern allgemeinen
deutschen Angelegenheit Fortschritte zum Bessern absolut unmöglich sind, und
daß daher der Weg der Separatverträge zu betreten ist, wenn man vorwärts
kommen will; daß zweitens Separatbündnisse der kleinern deutschen Staaten
unter einander, zu denen Furcht oder Haß gegen Preußen gelegentlich hin¬
drängen, vor der Macht der Thatsachen stets zerfallen müssen, und daß drittens
ein entschlossener und unerschütterlicher Egoismus Preußens,
wie sehr er auch auf den ersten Blick die Interessen der übrigen Bundesstaaten
zu verletzen scheine, schließlich immer zum wahren Heile der ganzen
Nation ausschlagen wird.
Das Gesetz vom 26. Mai 1818 schuf für Preußen ein neues Zoll- und
Steuersystem, welches, alle Binnenzölle aufhebend, die Zolllinien an die Lan¬
desgrenzen verlegend, jede Beschränkung des Gewerbebetriebes aus bestimmte
Ortsclassen wegschaffend, eine vollkommen neue volkswirtschaftliche Aera be¬
gründete, dem Staate reiche, stets wachsende Einnahmen sicherte und die ver¬
schiedenen Theile desselben, die bis dahin eine Herrschaft gebildet, zu einer
Lebensgemeinschaft umgestaltete.
Dieser neuen nationalökonomischen Einheit gab dasselbe Gesetz eine durch¬
aus neue Stellung zum Auslande. England hatte nach dem Kriege unsre
Märkte mit seinen Waaren überschwemmt, unsrer Industrie verhängnißvolle
Concurrenz gemacht und durch die Korngesetze von 1813 unsre Urproduktion
von seinen Grenzen ausgeschlossen. Frankreich und Holland waren in ähnlicher
Weise gegen unser wirthschaftliches Leben vorgegangen. Alle Länder Europas
hatten ihre Zolllinien, nur Deutschland stand jeder fremden Waare offen. Das
wurde jetzt für Preußen anders. Zollgrenze trat der Zollgrenze gegenüber, und
der preußische Gewerbfleiß war fortan geschützt gegen die Länder, welche uns
von ihrem Markt ausschlossen und den unsern mit ihren Producten überflutheten-
Damit sollte jedoch keineswegs die Zahl der mit Prohibitivgesetzen verschanzten
Staaten um einen neuen vermehrt, keineswegs das Merkantilsystem, das man
in den innern Einrichtungen verlassen, an den Grenzen festgehalten werden-
Das genannte Gesetz war im Princip verschieden von dem Prohibitivsystem,
es> hatte die offenkundige Tendenz, den allgemeinen Handel zu entfesseln und
zu fördern, es ließ alle fremden Erzeugnisse mit alleiniger Ausnahme von Salz
und Spielkarten einbringen, verbrauchen und durchführen, alle inländischen fre>
exportiren, die nothwendigen Zölle endlich, welche von den importirten Waaren
erhoben wurden, waren mäßig und nach rationellen Grundsätzen bestimmt.
Nur einen Fehler schien das treffliche Gesetz zu haben: es war ein Gehet)
für den preußischen Staat, und Preußen war nicht Deutschland. Es trennte
daher in handelspolitischer Beziehung die Bevölkerung der nichtpreußischen
Staaten des letzteren von der preußischen ganz ebenso wie die Bevölkerung der
nichtdeutschen Länder, und es traf damit selbstverständlich jene viel härter als
diese. Das Gesetz, ein Segen für Preußen, schien ein Fluch für das übrige
Deutschland werden zu sollen. Und dazu trat noch ein anderes Moment. Drei-
zehn deutsche Staaten hatten Landestheile, die von preußischem Gebiet um¬
schlossen waren. Letzteres gegen unbesteuerten Eingang fremder Erzeugnisse zu
schließen, war auch hier Aufgabe der neuen Gesetzgebung, wenn sie ein allge¬
mein durchgreifendes Verbrauchssteucrsystcm einführen sollte. Andrerseits aber,
wie konnte Preußen sich daran wagen, solche Enclaven, solche Theile unab¬
hängiger Nachbarstaaten in seine Zollgrenzen einzuschließen, den Verkehr der-
selben mit den übrigen Gliedern ihrer Staaten zu unterbrechen, die Unterthanen
andrer deutscher Souveräne seiner Verbrauchsbesteuerung zu unterwerfen? War
die Benachtheiligung der Völker in der Störung ihrer natürlichen Handelsver.
Bindungen durch das neue preußische System vom Uebel, so war diese Krän¬
kung der Fürsten geradezu empörend. Ein Schrei der Entrüstung, des Ent¬
setzens über solche Anmaßung, solchen doppelten Frevel am Nützlichen und am
Heiligen, an den Interessen des Volkes und am Hoheitsrecht seiner Fürsten
Wiederhallte durch das ganze nichtpreußische Deutschland.
Freilich waren schon längst alle großen Staaten mit Zolllinien umgeben,
und Oestreich huldigte sogar dem strengsten Prohibitivsystem. Freilich entsagte
Preußen jetzt allen Prohibitivmaßregeln und befreite Ein- und Ausfuhr wie
kein zweiter Großstaat. Aber indem es diesen großen Fortschritt in seinem
wirthschaftlichen Leben machte, bewirkte seine Lage und sein ganzes Verhältniß
Zu Deutschland, daß dieses in seinen Interessen auf das empfindlichste verletzt
wurde. Auch gute Patrioten stimmten in jenen Schrei des Unwillens ein;
denn diese nur auf Bereicherung der preußischen Staatskasse berechnete, nur
das Interesse des preußischen Handels und Gewerbes im Auge habende
Politik stand im schroffsten Gegensatz gegen die Aufgaben einer deutschen
Handelspolitik, welche Aufhebung aller Mauthlinien im Innern Deutschland»
und Verlegung der Aus- und Eingangszölle an die Grenzen des Bundes gebot.
Wenn jemals so mußte dieses Ziel jetzt, Angesichts der neuen Scheidewand,
welche Preußen errichtet, der Nation zum Bewußtsein kommen. Und so geschah
°s denn auch. Aber allerdings ließ sich an der Ausführbarkeit dieser Idee
Weiseln. Denn wenn die deutschen Staaten ihre Zölle aufgaben, wo fanden
Ersatz für die Einbuße ihrer Finanzen? Nahm der Handel eine größere
Freiheit als die bisherige in Anspruch, so waren andrerseits auch die Bedürfnisse
der Staaten gestiegen und forderten eine größere Summe indirecter. nicht ohne
Belästigung aufzubringender Abgaben. Schon jeder Einzelstaat hatte und diesem
Widerstreit zu kämpfen, aber noch weit weniger leicht ließen sich die Interessen
versöhnen, wenn etwas Gemeinsames geschehen sollte. Eins jedoch schien fest,
zustehen: zunächst mußte der. Eigenwille Preußens gebrochen und in seine
Schranken zurückgewiesen werden, und zwar hatte dies, da es sich um allgemein
deutsche Interessen handelte, durch den Bund zu geschehen. Dazu aber schien
Artikel 19 der Bundesacte, in dem sich die Bundesglieder eine gemeinschaftliche
Berathung über Handel und Verkehr vorbehalten hatten, eine passende Hand¬
habe zu bieten. Man übersah indeß dabei, daß nur von einer Berathung
die Rede sein konnte, und daß der Bund nicht das Recht hatte, die Einzel¬
staaten in Betreff ihrer innern Politik zu hemmen und zu zwingen, daß die
Bundesversammlung eben keine wahre Centralgewalt, sondern lediglich die
Summe gewisser staatlicher Jndividualexistenzen war. Die Zeit, wo der Wunsch
der deutschen Patrioten Hoffnung auf Erfüllung hätte haben können, war vor¬
über. Die wiener Schlußacte hatte der „Unbestimmtheit oder Verkennung der
der Bundesversammlung zustehenden Befugnisse" ein Ende gemacht, die Ab¬
hängigkeit des Bundestags von den Einzelregierungen besiegelt, den Bund für
einen „völkerrechtlichen Verein" erklärt, und zwar, wie die Dinge damals lagen,
zur Zufriedenheit aller. Wenn das jetzt unbequem fiel, so hatten die Klagenden
sich selbst die Schuld beizumessen.
Am Schlüsse der neunten karlsbader Conferenz, 16. August 1819, setzte
der badische Minister v. Berstett unter den Mitgliedern der Versammlung einen
Aufsatz in Umlauf, der, von Nebenius verfaßt und früher bereits den badischen
Kammern mitgetheilt, den freien Verkehr unter den deutschen Bundesstaaten
zum Gegenstand hatte und eine Zolleinigung der letzteren vorschlug, wie sie im
Wesentlichen jetzt im Zollverein verwirklicht ist. Berstett sprach dabei den Wunsch
aus, daß diese Sache jetzt ernsthaft ins Auge gefaßt werde, um darzuthun, wie
weit sie ausführbar und ob wenigstens vor der Hand wohlthätige Abänderungen
des jetzigen Systems eintreten könnten, auch welches die Hindernisse seien (An¬
spielung auf das preußische Gesetz von 1818), die sich dem Einen oder dem
Andern bestimmt entgegenstellten. Der würtenbergische Minister v. Winzingerode
unterstützte diesen Antrag mit dem Hinzufügen, nach den Verabredungen der
Conferenz werde die Angelegenheit an den Bundestag zu bringen sein. Andre
Stimmen dagegen meinten, daß die Sache zu verwickelt sei, um in der CoN'
ferenz entschieden werden zu können; sie müsse auf Grund von Artikel 19 der
Bundesacte am Bundestage vorgenommen werden. Dem Würtenberger leuchtete
das nicht ein; in der zwanzigsten Conferenz, 28. August, gab er eine Erklärung
ab, in der er auf Berstetts Anregung zurückkam. Er ging davon aus, daß
„die Regierungen in dem Augenblicke, in welchem sie ernste Anmaßungen zurück'
wiesen, gerechte Beschwerden aufmerksam zu prüfen hätten; zu letzteren rechne
der König von Würtemberg unter anderem die gegenwärtigen Ausdehnungen
der Beschränkungen des Handels in den Bundesstaaten (Anspielung wie oben)
und habe deshalb dem Grafen befohlen, zu beantragen, daß unter die Gegen'
stände, die von Karlsbad aus zu erledigen oder anzuregen und zur Instructions'
einholung für die Bundestagsgesandtschaften in Vorschlag zu bringen wäre».
auch eine Erleichterung der bestehenden Handelsbeschränkungen bezweckende In¬
terpretation des 19. Artikels aufgenommen werde.
Diese Erklärung blieb nicht ohne Wirkung. In der zweiundzwanzigsten
Conferenz. 30. August, verbreitete sich Fürst Metternich darüber, indem er sagte:
Er verkenne die Wichtigkeit dieser Frage nicht, halte die Ausgab- aber für
äußerst schwierig. Deutschland bestehe ans einer Verbrüderung souveräner
Staaten, welche in ihrer Gesammtheit in dem europäischen Staatensystem als
eine Macht erscheinen. Der Handel, seine Ausdehnung wie seine Beschränkung
»Hören zu den ersten Befugnissen der souveränen Gewalt. In Deutschland
könne demnach die Handelssrage nicht allein in Beziehung auf die deutsche Ge-
sammtmacht aufgenommen und erwogen werden, sie könne vielmehr nur in Er-
Wagung gezogen werden, wenn die erste, die vorläufige Bedingung, die Handels¬
verhältnisse, unter den deutschen Staaten zu gedeihlicher Verständigung gereift
sein würde. Die hier versammelte Conferenz könne das Geschäft nicht beginnen,
sich demselben nicht einmal nähern, weil sie es nicht beendigen könne. Dagegen
Werde man sich auf den demnächst zu eröffnenden Conferenzen in Wien mit
Beleuchtung der Frage beschäftigen können. „Seine k. k. Majestät würden nicht
nur mit Vergnügen der möglichsten Einigung entgegensehen, sondern an Aller,
höchstdemselben dürfte es wohl nicht liegen, wenn Sie durch die klarste und
unbefangenste Aussprechung jedes von Ihnen als wahr erkannten Grundsatzes,
unter specieller Berücksichtigung der Souveränetätsrechte der den Bund bildenden
Staaten, deren eigenthümlicher Lage und Verhältnisse zu einem definitiven Ver¬
ständnisse nicht beizutragen vermöchten." In der letzten Conferenz. 31. August
endlich, bezeichnete Metternich als eine der Aufgaben für die Verhandlungen in
Wien: ..Die Erleichterung des Handels und Verkehrs zwischen den verschiedenen
Bundesstaaten, um den Artikel 19 der Bundesacte möglichst zur Ausführung
^ bringen, so viel die Verschiedenartigkeit der Localitäten und besonders die
Steuersysteme der einzelnen Bundesstaaten solche zulassen können."
> Die wiener Ministerconfercnzen wurden am 25. November 1819 eröffnet.
Die Frage über Handel und Verkehr sollte nach Metternichs Plan den zehnten
Berathungsgegenstand bilden, die Vorarbeit von einem Conn6 vorgenommen
werden, welches aus Gras Bernstorff (Preußen), v. Bcrstett (Baden), v. Zentner
(Bayern), v. Fakel (Luxemburg). Graf Einsiedel (Sachsen). Hach (freie Städte)
und v. Berg (Anhalt. Oldenburg. Schwarzburg) zusammengesetzt wurde. Dieses
6°mit6 kam indeß wochenlang nicht dazu, die Sache anzufassen. Dagegen
^urbe fleißig „hinter dem Vorhang gearbeitet". Privatbesprechungen fanden
^et. Aufsätze wurden gewechselt, und es begann sich unter den Vertretern
wehrer Staaten eine Art EinVerständniß gegen Preußen zu bilden, welches
Ms versicherte, daß es sein neues Zollsystem nicht aufgeben, dem Bunde hieraufreinen Einfluß gestatten werde. Freudige Zuversicht, diesen Eigensinn brechen
zu können, wechselte mit völliger Verzagtheit dieser Opposition. Ein „mittel¬
deutscher Gesandte" bei Aegidi (warum nicht deutlicher bezeichnen?) schreibt am
4. Januar 1820: „Ueber Freiheit des Handels scheint man Zeit gewinnen zu
wollen; man spricht, diese Angelegenheit bedürfe langer und reiflicher Erwägung".
Doch belebt sich ihm bis zum 8. Januar der Muth, und er schreibt: „Für
Handel und Wandel geht ein entfernter Hoffnungsstrahl auf; mehre der hier
Anwesenden haben sich das Wort gegeben, sehr stark sich darüber vernehmen
zu lassen und zu versuchen, ob Preußen wanke."
Der Hoffnungsstrahl scheint dem würdigen Herrn aus einer Denkschrift
hervorgeleuchtet zu sein, welche sich „über die Vollziehung des 19. Artikels der
Bundesacte" verbreitete, und in welcher der nassauische Minister v. Marschall,
ein besondrer Liebling Metternichs, sich allerdings sehr stark gegen Preußen
vernehmen ließ. „Während-der 19. Artikel der Bundesacte unvollzogen bleibt,
durchschneidet man Deutschland mit neuen Douanenlinien, trennt, was die
Natur vereinigt hat, gewaltsam und greift in die Eigentumsrechte von Hundert¬
tausenden deutscher Familien ein." Durch solche „Verbote" werde das Eigen¬
thum angegriffen, der Besitz vermindert. „So und nicht anders sind die neuen
Zolleinrichtungen in Deutschland empfunden worden, nur eine Stimme hat sich
gegen diese Neuerung erhoben und vorzugsweise, ja man muß es offen sagen,
mehr als alles andere eine allgemeine Unzufriedenheit erregt und erhöht, und
zwar grade in einem Zeitpunkte, wo Congresse und deutsche Bundesacte allen
Bewohnern der deutschen Staaten die feierliche Versicherung gaben, ihr Zustand
werde in dieser Beziehung nicht verschlimmert, sondern verbessert werden."
„Denjenigen, die zu Karlsbad sich mit den Maßregeln beschäftigten, der Ent-»
Wickelung der Keime einer sich äußernden gefährlichen Gährung in einem großen
Theile Deutschlands Schranken zu setzen, mußten daher auch die neuen Zoll¬
einrichtungen in einzelnen deutschen Staaten als eine der Hauptquellen der
Unzufriedenheit und als eines der Haupthilfsmittel erscheinen, dessen sich die
revolutionäre Partei in Deutschland mit Erfolg wirklich bediente. Es wurde
daher (wir lesen zwischen den Zeilen dieser charakteristischen Stelle: vor allem)
aus diesem Grunde und (wir setzen hinzu: nebenher) wegen der engen Ver¬
bindung dieser Angelegenheit mit dem Wohlstand der einzelnen deutschen
Bundesstaaten beschlossen, sie den gegenwärtigen hier eröffneten Cabinets-
berathungcn zu unterwerfen." So v. Marschalls Denkschrift, die zuletzt vier
Vorschläge machte, von denen die beiden ersten direct nach dem preußischen
Zollsystem aufschlugen. Diese Sätze lauten: „1. Neue Zoll-und Mauthanstalten.
Ausfuhr- und Einfuhrverbote sollen von einzelnen Bundesstaaten an ihren
Grenzen mit andern Bundesstaaten nicht errichtet werden. 2. Die nach dem
ersten Jänner 1814 neuerrichtcien Mauthen und eingeführten Zölle sollen auf¬
gehoben werden." Man sieht, an Deutlichkeit ließ es der nassauische Minister
nicht fehlen, und an Courage mangelte es ihm auch nicht; denn er stellte sein
Elaborat dem preußischen Minister Bernstorff zu, von dem es jedoch „zurück¬
gegeben" wurde.
Inzwischen war die Handclsfrage von zwei verschiedenen Seiten außerhalb
der Conferenz lebhafter angeregt worden, vom Herzog von Cöthen, der Mitte
December nach Wien gekommen war, um in der Hoffnung auf östreichische
Unterstützung gegen die „preußischen Zoll- und Steuerbedrückungen" zu pro-
testiren, „ein einsichtsvoller, trefflich gesinnter Herr", der an v. Berg „wahr¬
haftig einen muthigen Kämpfer" zur Seite hatte, dann von den rührigen Ver¬
tretern des deutschen Handelsvereins*), die, Friedrich List an der Spitze, am 6. Ja¬
nuar in der östreichischen Hauptstadt eingetroffen waren. Die Vertrauensselig¬
keit und Gutmüthigkeit der letzteren wirkt, wenn man sie mit der Stimmung
in der Conferenz zusammenhält, überaus komisch. „Sämmtliche Regierungen,"
will List am 10. Januar durch Privatertundigungen in Erfahrung gebracht
haben, „mit Ausnahme von Oestreich, Preußen und Hannover, werden sich
unumwunden für unsre Sache (Aufhebung der Zolliinien im Innern Deutsch¬
lands) erklären, und auch von jenen ist noch das Beste zu hoffen." Und um
dieselbe Zeit schrieb er an seine Frau: „Wir sind auf dem Wege, die östreichische
Regierung auf andere Ansichten zu bringen und uns geneigt zu machen; unsre
Sache macht gewaltiges Aufsehen sowohl am Congreß als in der Hauptstadt;
der Congreß hat zu unsern Gunsten schon einige Beschlüsse gefaßt." — Dagegen
sagt der Bericht eines der Conferenzmitglieder vom 10. Januar (wohl zu be¬
merken, der Berichterstatter gehörte zu den Freisinnigsten unter den versammelten
Herren): „Die Ankunft der Abgeordneten des Handelsvereins gab dem Fürsten
Metternich die Veranlassung zu der Anfrage, welcher Bescheid ihnen zu ertheilen
sei. Man bemerkte, daß ein Verein von Handelsleuten verschiedener Bundes-
staaten keineswegs als Corporation, als verfassungs- und gesetzmäßige Genossen¬
schaft zu betrachten sei. Der Handelsstand jedes einzelnen Landes habe sich an
seinen Landesherr» zu wenden und dessen Vertretung zu erbitten — ein Verein
deutscher Handelsleute sei ebenso wenig anzuerkennen als jeder andere Verein,
der nicht die Sanction des Landesherrn erhalten und von diesem vertreten
werde. Infolge dieser Bemerkungen wurde beschlossen, den angeblichen Bevoll¬
mächtigten anzudeuten, daß man sie nicht anerkenne, ihre Anträge nicht auf¬
nehmen könne. Fürst Metternich übernahm es. ihnen diese Eröffnung zu machen."
Ein anderer Gesandtschaftsbericht meldet hierüber Genaueres: „Endlich regte der
Fürst noch an, daß hier Deputirte des sogenannten deutschen Handelsvereins
angekommen wären, welche sich unfehlbar bei ihm melden würden. Er sei nicht
zweifelhaft, was er ihnen als kaiserlich östreichischer Minister zu antworten habe;
indeß wünsche er zu vernehmen, ob die Versammlung mit seinen Ansichten
einverstanden sei. Es scheine ihm, daß man so wenig einen Verein deutscher
Kaufleute als einen Verein deutscher Professoren, Studenten, Tischler oder dergl.
anerkennen könne. Ein deutscher Verein, der nirgends eigentlich zu Hause ge¬
höre, sei überdies nicht denkbar, allenfalls ein bayerischer, ein badischer u. s. w.,
wenn die Negierung dazu autorisire. Aus diesen und andern Gründen halte
der Fürst dafür, daß den Deputirten zu erklären sei, man könne mit ihnen in
keine Verhandlung treten." „Niemand, selbst nicht der großherzoglich und
Herzvglich sächsische Gesandte, widersprach dieser Ansicht, vielmehr äußerten sich
Einige noch härter über das Treiben des Vereins und über die angemaßte
Benennung."
Selbstverständlich ist daraus nicht zu schließen, daß der Fürst die Herren
List und Genossen schroff abgewiesen habe; denn von ihm bis auf Halbhuber
war es Regel für den östreichischen Beamten, die deutschen Brüder mit bezau¬
bernder Liebenswürdigkeit zu behandeln und dadurch-zu verblenden. Derselbe
Metternich, der am 10. Januar so geringschätzig über den Handelsverein redete,
verschaffte wenige Wochen nachher dem Professor List eine Audienz bei Kaiser
Franz. Natürlich blieb niemand den Listschen Ideen, so feindselig sie gegen
Preußen waren, und obwohl sie eigentlich auf Ausdehnung des östreichischen
Schutzsystems auf ganz Deutschland hinausliefen, fremder als Metternich. Aber
der Kaiser sprach zu List als ein wahrer Vater des deutschen Vaterlandes und
wollte sogar die ihm überreichten Acten prüfen. Kein Wunder, daß die Depu¬
taten des Handelsvercins bei ihren mitleiderregenden Illusionen über den guten
Willen Oestreichs verblieben.
In der Plenarsitzung vom 8. Januar endlich wurde beschlossen, daß der
zehnte Ausschuß wegen der Handelsverhältnisse sich als constituirt betrachten
könne, und vier Tage später fand bei Graf Bernstorff. dem Präsidirenden, die
erste Sitzung desselben statt. Bernstorff eröffnete sie damit, daß er den Mißgriff
des vorigen wiener Congresses beklagte, aus einer gewissen Liberalität mehre
das Bundesverhältniß nicht berührende Gegenstände zur künstigen Berathung
verstellt zu haben. Insbesondre gehöre dahin Handel und Verkehr, welcher auf
der Autonomie der Einzelstaaten beruhe und mit deren eigenthümlichen Steuer¬
systemen genau zusammenhänge, Preußen könne von seinem Systeme durchaus
nicht ablassen, der Bund als solcher keine Erleichterung gewähren. Nur durch
Verträge einzelner Staaten unter einander lasse sich helfen. Es sei überflüssig'
hier über die Angelegenheit weiter in Berathung zu treten, und er glaube, daß
man sich begnügen könne, dies der Plenarvcrsammlung anzuzeigen. Hierauf
erwiderte Berstett, wenn der Ausschuß diese Ansicht theile, werde er sich dagegen
in der Plenarsitzung feierlich zu Protokoll verwahren müssen; es sei möglich,
und man sei verpflichtet, „wenigstens etwas" zur Erleichterung des Handels
und Verkehrs zu thun. Bernstorff versuchte zu widersprechen, als aber die
übrigen Mitglieder des Ausschusses sich über die Verbindlichkeit des Bundes
mit seinem Gegner einverstanden erklärten, erkannte er dieselbe auch an, fügte
aber sein Bedauern hinzu, daß man in Karlsbad einen Beschluß gefaßt, den
man als unausführbar werde widerrufen müssen.
Zu weiterer Begründung seiner Ansicht las nun Versiert einen Aufsatz vor,
in welchem er die großen Erwartungen schilderte, welche die ganze Nation auf
eine segensreiche Entwickelung des Artikel 19 setze, mit düstern Farben die Ge¬
fahren. ausmalte, die eine Enttäuschung in dieser Frage im Gefolge haben
müsse, und schließlich darauf antrug, am Bundestag eine Commission nieder¬
zusetzen, welche die Regulirung der Handelsangclegenhciten in befriedigender
Weise übernehme. Bernstorff begnügte sich darauf zu sagen, daß die Gefahr,
welche aus der Nichterfüllung des Artikel 19 entspringen könne, bei weitem
nicht so groß sei, als Berstett sie dargestellt. Es stehe ja jedem Staate frei,
seine Interna ohne Dazwischenkunft des Bundes zu ordnen und mit Nachbar¬
staaten Separatverträge zu schließen. Preußen sehe solche Verträge sogar gern
und sei nicht abgeneigt, sich mit den paciscirenden Staaten gleichfalls auf
Handelsverträge einzulassen. Berstett entgegnete, daß die paciscirenden Staaten
in dem Fall nicht mehr in der Lage seien, vortheilhafte Handelsverträge mit
Preußen einzugehen. Von dem Augenblick an, wo sie sich durch den Nicht-
beitritt des letzteren zu einem Handelssystem für ganz Deutschland gezwungen
sehen würden, unter sich, also für ein kleineres Gebiet, ein Uebereinkommen zu
treffen, müßten sie aus der Grenzlinie gegen die nichtbeitrctenden Staaten einen
Ersatz zu ziehen suchen, um den Ausfall zu decken, der durch die Aufhebung
der Grenz- und Binnenzölle für sie entspränge.
v. Fakel bemerkte, Preußen habe allerdings erklärt, Handclstractatc mit den
Bundesstaaten abschließen zu wollen, es gedenke aber die Bedingungen vorzu¬
schreiben, und das mache jedes Uebereinkommen unmöglich, v. Globig ging
noch über Berstett hinaus, er wollte, daß man hier sofort über allgemeine
Grundsätze, wie die Erleichterung des Handels zu bewirken sei, übereinkomme,
v. Zentner war der Meinung, „daß alle Bundesglieder bereits die Verpflichtung
übernommen hätten, etwas zur Erleichterung des Handels und Verkehrs zu
thun." Senator Hach aus Hamburg endlich verlas den Aufsatz eines Sach¬
verständigen, der sich besonders deshalb gegen das allgemeine Handelssystem
aussprach, weil es unzertrennlich sei von einer an die Grenzen Deutschlands
ZU verlegenden Douanenlinie. Die Sitzung endigte mit dem Beschluß, es solle
jeder Gesandte für die nächste Zusammenkunft seine Ideen zu Papier bringen
Und vorlegen.
Dies geschah in der zweiten Sitzung des Ausschusses, 19. Januar, insofern
als Bernstorff hier den Entwurf eines Vortrags an das Plenum verbunden
mit einigen „Sätzen" vorlegte und Marschalls obenerwähnte Denkschrift ver-
lesen wurde. Bernstorffs Entwurf entwickelte die Lage der Sache und die
Schwierigkeiten, auf Grundsätze wie die Nebeniusschen einzugehen; die Sätze
beschränkten sich darauf, die Angelegenheit an die Bundesversammlung zu ver¬
weisen, welche durch einen Ausschuß, der Sachkundige zuziehen könne, den Ge¬
genstand zu bearbeiten, allenfalls Verträge benachbarter Staaten zu vermitteln
und vor allem die früher angeregte Verhandlung über die Freiheit des Ver¬
kehrs mit Lebensmitteln wieder aufzunehmen habe. Auf Marschalls Denkschrift
erklärte Bernstorff, daß er es für unmöglich halte, auf diese mit der Autonomie
deutscher Staaten unvereinbarer Anträge einzugehen. Im Uebrigen benahm
er sich möglichst entgegenkommend und war überall bestrebt, die Geneigtheit
seines Königs, „allen billigen, ausführbaren und mit der Selbständigkeit der
preußischen Gesetzgebung verträglichen Vorschlägen entgegenzukommen, aus un¬
zweideutige Weise zu beurkunden." Aber der Feldzug gegen die preußische
Zollreform dauerte offen und versteckt fort; es blieb das fest ins Auge gefaßte
Ziel derer, welche unter dem Banner des Artikels 19 der Bundesacte die
deutsche Handelsfreiheit verfochten, vor allen Dingen die preußische Handels¬
politik zu Falle zu bringen, und Verfielt und Marschall blieben die Führer
dieser Partei in Wien.
Sehr lehrreich ist die leidenschaftslose Betrachtung der damaligen Partei¬
nahme für und wider: wer für Deutschland ist, der ist wider Preußen, wer
den großen deutschen Zollverein will, der muß gegen die „unglückselige" preu¬
ßische Zollgesetzgebung sein. Aber stand denn der Verwirklichung jenes deutschen
Ideals Preußen allein im Wege? Wer dem Gange der wiener Verhandlungen
folgt und namentlich Marschalls und Berstetts Verhältniß zu Metternich ins
Auge faßt, der kann geneigt sein, zu glauben, Oestreich begünstige jene Pläne
Badens und Nassaus oder sehe sie mindestens als willkommene Handhaben
einer Politik an, durch welche die Stellung Preußens zu den übrigen deutschen
Staaten immer mehr für die Nothwendigkeit einer östreichischen Vermittelung
zugerichtet würde. Aber aus einer Aeußerung v. Stahls, des Präsidenten
der k. k. Commerz-Hofcommission, geht, wenn man das nicht aus andern Gründen
schon mit Bestimmtheit wüßte, ziemlich deutlich hervor, daß man die Sache in
Wien als unlösbares Problem ansah, und daß Oestreich das Haupthinderniß
gewesen sein würde, wenn nicht Preußen schon das Odium übernommen gehabt,
dieses Hinderniß zu sein. Doch da Preußen das Odium trug, mochte Oestreich
die Miene annehmen, als stünde es auf Seiten der „Patrioten". Es hatte
von deren Bestrebungen, die ja Preußen vereitelte, nichts für sein Prohibitiv-
systeni zu fürchten, und ihm erwuchs daraus von selbst der reine Gewinn, daß
Preußen sich damit verhaßt machte. So zeigte Metternich, ohne zu sagen,
wie er dachte, eine theilnehmende Miene und ließ sich Gutachten vorlegen, so
begünstigte er, ohne sich zu engagiren, die Anstrengungen derer, welche, um
Deutschland einig zu machen, rastlos bemüht waren, die Zolleinheit der zehn
Millionen Deutschen im preußischen Staat aufzulösen.
Am 10. Februar fand wieder eine Sitzung des Ausschusses wegen des
Handels und Verkehrs statt, in der man die Sätze, welche früher Bernstorff,
und andere, welche später Berstett aufgestellt, verglich: der bekannte Gegensatz
war darin formulirt. Da Bernstorff die Unmöglichkeit weiter zu gehen erklärte,
als er in seinen Sätzen gegangen, und da man jetzt zu der Erkenntniß ge¬
kommen war, „daß auch wegen Oestreichs eine dem Handel günstigere Bestim¬
mung nicht zu erreichen sei", da man serner dafür hielt, daß es der Bundes¬
versammlung zu überlassen sei, wie sie mit dem ihr zu ertheilenden Auftrag zu
Stande kommen werde, so vereinigte man sich dahin, daß nur von einer all¬
gemeinen Instruction der Bundesversammlung und von einer Vereinbarung zu
gleichförmigen Entschließungen wegen des freien Verkehrs mit Lebensmitteln die
Rede sein solle. Wie tief hatte man bereits seine Ansprüche gegen Preußen
herabgestimmt, und wie deutlich kündigte sich schon dessen Sieg in der Sache an!
Bernstorff ersuchte Berstett, die Abfassung des Vertrags an die Plenar-
versammlung zu übernehmen, dieser aber lehnte ab, indem er äußerte, wenn
man nun einmal der Ansicht sei, daß in dieser Sache nichts geschehen könne,
so scheine es zweckmäßiger, lieber gar nichts zu sagen als Unbefriedigendes.
Darauf übernahmen v. Globig und v. Berg die Arbeit, die indeß weder
v. Bernstorsss noch v. Berstetts Billigung erwarb. Letzterem schien es nach
den Bemerkungen, die er in der Ausschußsitzung vom 2. März dazu machte, be¬
sonders daran zu liegen, daß sein früherer Vorschlag einer Zolleinrichtung für
ganz Deutschland gegen das Ausland als gar nicht existirend angesehen werde.
„So weit war es gekommen," sagt Aegidi hierzu, „Berstett schämte sich, im
Sinne seines Nebenius vorgegangen zu sein. Den praktischen Staatsmann
reut ein Unternehmen, welches scheitert." Hatte Berstett sich hauptsächlich gegen
die Motivirung der Artikel des Vortrags gekehrt, so wandte Bernstorff sich
gegen diese Artikel selbst, die ihm noch zu weit gingen, und schlug eine neue
Redaction vor, die in der nächsten Sitzung des Ausschusses, Z.März, in der
Hauptsache angenommen wurde. Bernstorff hatte durchgesetzt, was er gewollt.
Am 4. März versammelte sich das Plenum der Conserenz, und Bernstorff
verlas darin die Arbeit des zehnten Ausschusses. Als der Vortrag begann und
der erste Satz, der diese Sache an den Bundestag verwies, abgelesen wurde,
„da platzte einer der Anwesenden in Lachen aus, dem fast Unanimia nach«
folgten."
So faßten schon am 4. März 1820 die Vertreter der deutschen Fürsten
die Bedeutung des Bundestags auf. Weil die Regierungen die Aufgabe für
unmöglich ansahen, verwiesen sie die Lösung derselben an die frankfurter Instanz.
Der Vortrag des zehnten Ausschusses lautete in der Hauptsache wie folgt:
Dem Ausschuß sei der Auftrag geworden, der Versammlung gutachtliche Vor¬
schläge darüber vorzulegen, wie dem Artikel 19 der Bundesacte durch solche
Einrichtungen des Handels und Verkehrs zwischen den einzelnen Bundesstaaten
Genüge geschehen könne, als die Verschiedenheit örtlicher Verhältnisse und zumal
die besondern Steuersysteme der einzelnen Staaten zulassen möchten. Die
Schwierigkeit dieser Aufgabe, schon von Anfang an erkannt, sei bei näherer
Beleuchtung des Gegenstandes noch mehr hervorgetreten, und nach sorgfältiger
Prüfung der verschiedenen von den Bevollmächtigten vorgelegten Wünsche und
Ansichten sehe sich der Ausschuß genöthigt, „seine Anträge auf folgende, mehr
Vorbereitende als entscheidende, keinen künftigen bundesförderlichen Beschlüssen
vorgreifende Bestimmungen" zu beschränken:
1) Die Bundesversammlung hat die Erleichterung des deutschen Handels
und insonderheit auch des Verkehrs zwischen den einzelnen Bundesstaaten nach
Anleitung des 19. Artikels der Bundesacte als einen der Hauptgegenstände
ihrer Aufmerksamkeit anzusehen und sich fortwährend zu bestreben, die diesem
Zweck entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen. 2) Sie hat zur Bearbeitung
dieser Gegenstände einen Ausschuß zu bestellen mit der Befugniß, sich durch
Sachverständige zu verstärken, welche einzelne Regierungen zu dem Ende etwa
abordnen. 3) Sie hat ihre Bemühungen zunächst und vorzugsweise dahin zu
richten, daß die in ihrer Mitte früher eingeleitete Unterhandlung wegen des
sreie-n Verkehrs mit Lebensmitteln wieder angeknüpft und eine Vereinbarung
darüber befördert und zur Ausführung gebracht werde. 4) Ein Gleiches soll in
Betreff der durch die wiener Congreßacte zugesicherten Erleichterung der Flu߬
schiffahrt geschehen. 5) Die infolge der vorstehenden Bestimmungen den Ge¬
sandten am Bundestage zu ertheilenden Instruktionen sind denselben binnen
kürzester Zeit zuzusenden.
Kein Zweifel: der Artikel 19 war hierdurch seiner Erfüllung nicht näher
gekommen, der für diese Erfüllung gegen die preußische Zollreform unternommene
Feldzug war verunglückt. „Am wenigsten tröstlich," schreibt am 6. März ein
mitteldeutscher Staatsmann, „ist das Resultat der Handclscommission, in welcher
tapfer und viel gestritten ist, bis die Kämpfer für die Freiheit ermüdeten und
ein ziemlich unbedeutendes Opus hervortrat." „Der zehnte Ausschuß," klagt «M
8. März ein Mitglied desselben, ist für das Wohl Deutschlands und die Be¬
festigung des Bundes ohne allen Erfolg geblieben. Die Geschichte wird es
nicht verschweigen, daß Preußen allein sich jedem bessern Resultat widersetzte."
„Preußen," ließ sich die Stimme eines Patrioten tiefernst vernehmen, „verkennt,
was es groß machen kann; es verscherzt Zutrauen und Neigung der Bundes-
Staaten und wird es einst bereuen." Eines „Patrioten" Stimme, wie gesagt,
nicht eines Propheten.
Einigen von der Partei, welche den Rückzug angetreten, scheint übrigens
während des Kampfes eine nüchternere Auffassung des bisher so hoch gehaltenen
Artikels 19 aufgegangen zu sein. In dem Bericht eines norddeutschen Mit¬
gliedes des zehnten Ausschusses vom II. Februar heißt es mit dürren Worten:
„Der 19. Artikel enthält nicht einmal die Verpflichtung zu einer Berathung,
sondern nur einen Vorbehalt und folglich auf keine Weise irgendeinen Rechts-
grund, die Vereinigung sämmtlicher Bundesglieder zur Beförderung des deutschen
Handels in Anspruch zu nehmen." Hiermit aber war dem Vorgehen gegen
Preußen die bisherige Grundlage entzogen.
Auf den Vorschlag des zehnten Ausschusses in der Conferenz vom 4. März
hatte Marschall den Antrag gestellt, lieber gar keine Sätze aufzustellen, sondern
rund heraus zu erklären, man habe sich nicht vereinigen können. Die folgende
Plenarsitzung fand am 8. statt, aber die Handelssache blieb darin unerörtert,
weil Metternich darauf nicht vorbereitet zu sein erklärte. In Wahrheit suchte
er noch nach einem Ausweg. Es hieß, er habe darüber ein Gutachten bestellt,
welches nach Einigen Adam Müller liefern sollte. Auch Graf Münster be¬
schäftigte sich mit einem Vorschlag, der, wie gute Leute behaupteten, „von seiner
deutschen Gesinnung, seinem Vaterlandssinn und seiner Kraft den Beweis ab¬
legen" würde. Es war aber nichts Neues, sondern der alte Nebeniussche Plan:
gemeinschaftliches Handelssystem gegen das Ausland, Freiheit im Innern. Vor¬
trefflich, nur die Kleinigkeit fehlte hier wie dort: das Wie der Realisirung.
Andere von den Herren bereiteten für die Debatte über die Handelsfrage „starke
Vota" vor, man hoffte in Bezug auf sie „sehr lebhafte Scenen". Grade aus
diesem Grunde aber suchte Metternich die Sache möglichst hinauszuschieben.
Am 29. März versammelte sich das Plenum wieder, aber bis auf einen
Scandal, den v. Berg wegen der cöthenschen Enclaven erregte, kam auch hier
die Handelsangelegenhcit nicht zur Sprache. Endlich erschien der große Tag,
und wie jetzt die Geister aufeinanderplatzten!
Es war am 11. Mai 1820, als im Plenum der wiener Conferenzen die
Anträge des zehnten Ausschusses zur Debatte gebracht wurden. Marschall wie¬
derholte den schon am 4. März von ihm gegebenen Nath, die Sache ganz auf
sich beruhen zu lassen und sie nicht an den Bundestag zurückzuweisen, wenn
man nicht mehr bewilligen könne. Bernstorff erwiderte nichts. Da begann
der Freiherr v. Fritsch den eigentlichen Angriff. Er schlug vor: „daß man hier
bestimmt aussprechen möge, man wolle im Innern der einzelnen Staaten solche
Einrichtungen treffen, daß ein gegenseitiger freier Verkehr der Bundesstaaten
erreicht werde; 2) daß der unbeschränkte Handel mit Lebensmitteln unter den¬
selben bestimmt verabredet werde; 3) daß über die zur Sprache gekommene Be
legung enclavirter Staaten mit den Steuern der enclavirenden hier irgendeine
Norm festgesetzt und die Sache nicht ohne alle nähere Bestimmung an den
Bundestag verwiesen werde.
Ehe sich die eigentliche Debatte entspann, hielt Metternich einen Vortrag,
der Oestreichs Stellung zu der Sache beleuchtete. Lifts Pläne seien unausführ¬
bar. Jeder größere Staat habe sein eignes Handelssystem, kleinere angrenzende
Staaten könnten ein gemeinschaftliches verabreden. Das östreichische System
des geschlossenen Handelsstaates habe sich als ganz verwerflich gezeigt, doch
könne man es nur allmälig aufgeben. Schon jetzt könne früher ganz Verbotenes
gegen Zoll eingeführt werden, an einer den Transit erleichternden Verordnung
werde gearbeitet, der Zoll überhaupt solle herabgesetzt werden. Korne Oestreich
jetzt nicht viel zur Befriedigung der laut ausgesprochenen Wünsche thun, so
dürfe man doch über die selbst von den Zeitungen so viel besprochenen hiesigen
Berathungen wegen des Handels nicht gänzlich schweigen. Ueber den Antrag,
den freien Handel mit Lebensmitteln gleich auszusprechen, wolle er sich in nächster
Sitzung erklären. Im vierten Satze der Ausschußvorlage wünsche er statt „Er-
leichterung" der Flußschiffahrt „Freiheit" zu setzen. Das Letztere wurde gleich
zugestanden. Als Marschall dabei äußerte, der vierte Satz des Ausschußantrags
sei ein Rückschritt im Vergleich mit der Congreßacte, entspann sich darüber
zwischen ihm und Bernstorff ein lebhafter Wortwechsel.
Die Beziehung auf das Votum von Fntsch gab dem Streite neue Nahrung.
Ueber den ersten Punkt desselben schien man sich allenfalls einigen zu können,
den zweiten nahm Bernstorff beifällig auf, während Metternich erst noch Rück¬
sprache mit den betreffenden Behörden nehmen wollte, der dritte Punkt wurde
Ursache zu einer sehr entschiedenen Erklärung Bernstorffs und zu herbem Zwist
zwischen diesem und Marschall. Letzterer stellte den Satz auf, daß die Be-
schwerden über Verletzung der Congreßacte, namentlich in Beziehung auf die
Vorschriften wegen der Flußschiffahrt, an den Bundestag gebracht werden
könnten. Bernstorff dagegen erklärte, zum allgemeinen Erstaunen der Ver¬
sammlung, wie ein Gesandtschaftsbericht meldet, „daß Rechte, welche einzelne
Bundesglieder aus einer andern Quelle als der Bundesacte selbst, wie z. B.
aus der Congreßacte herleiteten, niemals Gegenstand der Entscheidung des
Bundes werden könnten. Hier ständen sich zwei Bundesglieder als Souveräne
europäischer Staaten gegenüber, die den Streit völkerrechtlich miteinander aus¬
zugleichen hätten und nicht vor der Bundesversammlung. Nie habe Preußen
die Bundesacte anders verstanden, nie werde es in eine -solche Beschränkung
seiner Souveränetät willigen und von dem Bunde Recht nehmen." „Ein solches
Glaubensbekenntniß des königlichen Cabinetsministers war im höchsten Grade
unerwartet. Man suchte das hier offenbar vorliegende Mißverständniß zu be¬
seitigen. Man bemerkte dem Grafen, daß, wenn sein Satz richtig wäre, Strel-
tigkeiten zwischen Vundesglicdern am Ende mit den Waffen ausgeglichen werden
müßten, gegen den 11. Artikel der Bundesacte, der dies untersage und vor¬
schreibe, daß Bundesglieder ihre Streitigkeiten bei der Bundesversammlung an¬
zubringen hätten. Alle diese Gründe machten auf den Grafen keinen Eindruck.
Er behauptete fortwährend, in solchen Fällen sei nach Ansicht des preußischen
Hofes die Bundesversammlung incompetent. Als man weiter anführte, daß die
Annahme dieses Satzes die Auflösung des Bundes zur nothwendigen Folge
haben müßte, daß bei Streitigkeiten zwischen Bundesgliedern die Bundesver¬
sammlung über ihre Competenz zu erkennen, nicht aber der Angeklagte (wie es
der Graf für die Fälle verlange, wo ein Bundesglied gegen Preußen Beschwerde
zu führen aus andern Titeln als der Bundesacte in der Lage sein sollte) darüber
zu entscheiden habe, ob die Sache vor den Bund gehöre oder nicht — war der
Graf dennoch nicht dazu zu bewegen, seine Ansicht zu berichtigen. Er blieb
Mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit bei seiner Behauptung stehen, daß Preußen als
unabhängiger europäischer Staat in solchen Fällen betrachtet werden müsse und
dieses nicht aufgeben könne."
Metternich war diese ganze Discussion sehr unbequem, er gab sich alle
Mühe, die aufgeregten Gemüther zu beschwichtigen, redete von Mißverständnissen,
suchte zu berichtigen und zu vermitteln, und da weiterer Streit zu nichts führen
konnte, so ließ man endlich die Sache auf sich beruhen.
, Während dieses leidenschaftlichen Wortwechsels hatte Hach, der Vertreter
der freien Städte eine andere Fassung des vierten Artikels der Ausschußvorlage
entworfen, die, von Metternich Bernstorff vorgelegt, von diesem bis auf einen
Ausdruck gutgeheißen wurde. Wiederholt erfolgte dann die Umfrage, ob man
die Angelegenheit auf sich beruhen oder auf dem Bundestag verhandeln lassen
wolle. Man verschob den Beschluß auf die nächste Sitzung, in welcher Oestreich
über den Verkehr mit Lebensmitteln sich aussprechen werde. Dies geschah am
13. Mai, indem Metternich anzeigte, daß alle östreichischen Behörden sich für
Freigebung dieses Verkehrs geäußert, daß man aber erst noch die Entschließung
des nach Prag verreisten Kaisers einholen müsse. Derselbe werde sich indeß
gewiß beifällig erklären. Am 20. war der an den Kaiser deshalb geschickte Courier
noch nicht zurück, und die letzte Plenarsitzung, 24. Mai, verging, ohne daß die
^wartete Antwort eingetroffen wäre. Wer jedoch nach Schluß der Konferenzen
den Kaiser Franz in Prag sah, vernahm, daß Se. Majestät noch Bedenken ge-
tragen, sich für den freien Verkehr mit Lebensmitteln wegen der Verhältnisse
in Ungarn auszusprechen. Die einzige damals mögliche Erleichterung des
deutschen wirthschaftlichen Lebens wor durch Oestreich hintertrieben. Es war
^r Betreff der Handels- und Verkehrsfrage auf den Konferenzen gar nichts er¬
reicht worden. Natürlich trug Preußen die Schuld, das böse, hartnäckige, un-
patriotische Preußen; denn die Kleinigkeit, die Oestreich nicht zugestehen wollte,
stand ja in gar keinem Verhältniß zu den großen nationalen Hoffnungen, die
aufgegeben werden mußten, weil Preußen seine Zollgesetzgebung nicht rückgängig
machen wollte.
Wer die Lage Kurhesseus recht begreifen will, muß sich zunächst die That¬
sache vergegenwärtigen, daß die Volkszahl nach der im Februar 1864 statt¬
gehabten Zählung — 745,063 Einwohner — noch immer nicht wieder den
Stand vom Jahre 1849 mit 769,816 Einwohnern erreicht hat, daß in der
Periode einer mit den Anforderungen der Zeit und den Bedürfnissen des Landes
fortschreitenden Gesetzgebung und Verwaltung, wie in den Jahren 1848 und
1849, die Bevölkerung rasch bis auf den im Jahre 1849 erreichten Standpunkt
emporwuchs, dann aber von 1850 bis 1861, in der Zeit der erneuten Hassen-
Pflug-Schefferschen Verwaltung, des Verfassungsumsturzes, der provisorischen
Gesetzgebung auf 738,476 Einwohner, also um 21,000 Menschen in runder
Zahl, zurücksank. Nach Mittheilungen der (amtlichen) statistischen Commission
in Kassel sind ausgewandert 1862: 6044 Personen, 1863: 6121, 1864: 9130,
1866: 3307, 1866: 3876, 1867: 6663. 1858: 2498, 1859: 2241. 1860-
3282, 1861: 1966. 1862: 1927; also in den Jahren 1862—1862 zusammen
38,854 Personen, welche ein Vermögen von 4,539,391 Thlr. mitnahmen. Vom
Jahr 1861 bis heute hat sich der Bevvlkerungsstand erst wieder um etwa
7000 Menschen erholt. Das kennzeichnet wie nichts Anderes den Stand der
Dinge in Kurhessen.
Dieses jammervolle Ergebniß bedarf indeß weiterer Beleuchtung und Begrün¬
dung. Bekanntlich wurde durch die den Bundesbeschluß vom 24. Mai 1862
ausführende landesherrliche Verkündigung vom 21. Juni desselben Jahres die
Verfassung vom 6. Januar 1831 wiederhergestellt, jedoch nur die Verfassung^
Urkunde und das Wahlgesetz und nicht der ganze von ihr erheischte Verfassungs¬
zustand des ganzen Landes in Gerichts-, Verwaltungs-, Finanzwesen und Grund¬
rechten des Volkes (Prehfreiheit, Religionsfreiheit:c.), es blieb ausdrücklich die
provisorische Gesetzgebung der Zeit des Verfassungsumsturzcs in Geltung-
Danach gestaltet sich ein jetzt zu entwerfendes staatliches Bild von Kurhessen
etwa folgendermaßen. Einiges ist seit der Wiederherstellung der Verfassung
wieder besser geworden, auch wollen wir hier von vornherein gegen eine vielfach
außerhalb Kurhesseus anzutreffende Anschauung ankämpfen, als ob die Bevölkerung
im drückendsten Elend lebte, als ob dahin kein Geschäft zu machen sei, als ob
eine Reise in das vielfach reizende Landschaften bietende hessische Berg- und
Hügelland den Fremden sofort in die störendsten Conflicte mit einer türkischen
Polizei nach altem Stile brächte, als ob man kein freies Wort, keine unbe¬
fangene Unterhaltung sich erlauben dürfe und was dergleichen Vorstellungen
mehr sind. Es ist zwar recht schlimm mit Kurhessen bestellt, aber die Kurhessen
selbst sind mit seltnen Ausnahmen biedern Sinnes, und wer die gewöhnliche
Vorsicht des Fremden braucht, sich seinen Mann etwas genauer anzusehen, ehe
er sich tiefer mit ihm einläßt, der kann oben und unten, bis zu den Dienern
der politischen Polizei hinab ein ungenirtes Wort sprechen, ohne verrathen zu
werden; es ist eben das Bezeichnende für Kurhessen in seiner heutigen Lage,
daß die Zufriedenen dort zu den seltenen Ausnahmen gehören. Wohl hat auch
der Lebensgenuß in Kurhessen seine bescheidenen Grenzen, reich ist das Land
nicht von Natur, und reich ist es auch nicht geworden durch Beförderung von
Handel. Industrie und Gewerben von oben her; das ist ja die Klage — aber
solid ist der geschäftliche Verkehr, und frisch und froh hat sich immer wieder
der Sinn der Bergbewohner aus dem ihm gebotenen Elend jm gutem Humor
erhoben. Was seit Wiederherstellung der Verfassung wieder besser geworden,
ist hauptsächlich das wieder unter den Schutz der Verfassung und der Gerichte
gestellte Verhältniß und die Besoldung der Staatsdiener, die Besoldung der
Volksschullehrer, die staatsseitige Unterstützung der durch Gemcindeeinkommm
zu schlecht gestellten Pfarrer. Die Gemeinden sind wieder in die durch die
Gemeindeordnung von 1834 ihnen gewährleisteten Rechte eingesetzt. Im Ge¬
richtswesen ist eine zum Theil musterhafte neue Ordnung eingetreten, und die
kurhessische Justiz, bis auf die allerdings aufzunehmende Spitze, in den Stand
gesetzt, ihren alten Ruf wieder zu behaupten. Oeffentlichkeit und Mündlichkeit
ist nunmehr im bürgerlichen wie im Straf-Proceß durchgeführt, das Strafver¬
fahren vor willkürlicher Einmischung der Regierung geschützt, in der untersten
Instanz sitzen dem Richter vom Volke gewählte Schöffen zur Seite, von den
Gerichten der mittlern Instanz, den Obergerichten, ist eine genügende Zahl
vorhanden, um zum Vortheil des Recht suchenden Publikums die Processe
rascher als bisher zu erledigen, bei dem Schwurgerichtsverfahren ist die Com-
Petenz erweitert; der Competenzgenchtshof ist wieder gefallen und die Entscheidung
über ihre Competenz den Gerichten zurückgegeben. Nur, wie gesagt, die Spitze
des turhessischen Gerichtswesens, das Oberappellationsgericht harrt noch seiner
richtigen und gesetzlichen Zusammensetzung durch Wiederherstellung des durch
das provisorische Gesetz vom 29. Juni 1861 außer Wirksamkeit gesetzten Gesetzes
vom 17. Juni 1848, welches der Ständeversammlung das Vorschlagsrecht bei
der Besetzung der Richterstellen giebt und die Unversetzbarkeit der Mitglieder
dieses Gerichts feststellt. Hier aber hängt eben die Entwickelung in Kur¬
hessen fest.
Der entscheidende Wille gedenkt nicht den Faden aus der Hand zu geben,
der es ihm immer wieder möglich machen soll, die freie Bewegung des Lebens
aus allen Gebieten nach Belieben zurückzustemmen. An Englands vielgerühmter
Verfassung ist bekanntlich das gerühmteste Moment, daß seine höhern Richter
vorzugsweise als Träger nicht des Privatrechts, sondern des öffentlichen Rechts
aufgefaßt werden. Deshalb sind diese Richter außer ihrer Unabsetzbarkeit und
Unversetzbarkeit mit denselben Gehalten versehen wie die Minister und erzwingen
Gehorsam gegen das Gesetz auch wider das Beamtenthum, also eben die Mi¬
nister. Eine solche Stellung aber will man in Kurhessen dem obersten Gerichts¬
hof, obwohl er nach der Verfassung zugleich Staatsgerichtshof ist, nicht einräumen,
und man will ihn nach seinen Wünschen zusammensetzen. Bis jetzt hat noch
kein Minister, obwohl die Anklagen bis zum Dutzend schon versucht worden sind,
mit Erfolg angeklagt werden können; wie anders aber will in dem kleinen,
von größeren Bundesstaaten abhängigen Staate eine Ständeversammlung die
Minister zwingen, ihren Regierungspflichten fleißig obzuliegen, und den Regenten
nöthigen, pflichtvergessene Minister zu entlassen! Dies ist aber lange nicht der
einzige Punkt, auf dem die besprochene provisorische Gesetzgebung der Hassen-
Pflug-Scheffer der Entwickelung des Landes entgegensteht. Die ganze Verwal¬
tung des Landes ist noch auf dem Fuße dieser Octroyirung.
Die Gemeinden sind auch nach der Gemeindeordnung von 1834 dadurch
von der Staatsregierung abhängig, daß diese durch ihre Organe die Bestätigung
der Bürgermeisterwahlen versagen kann, bei den Städten durch die Provinzial-
regierung, bei den Landgemeinden durch den Landrath, serner dadurch abhängig,
daß bestimmte Ausgaben und Veränderungen nicht ohne Genehmigung der
vorgesetzten Regierungsbehörde vorgenommen werden können*) und die Rech-
nungsabhörung durch Regierungsbeamte stattfindet. Die Ortspolizei wird unter
beständiger Aufsicht und Einmischung der Landräthe gehandhabt, die Landes¬
polizei ist ganz in den Händen unmittelbarer Staatsbeamten. Der Vorstand
der Kreise ist ein ganz vom Ministerium abhängiger Landrath mit einem Kreis-
secretär und einem Bezirksrath zur Seite, welcher letztere aber nur berathende
Stimme hat. Die Zwischenbehörde zwischen Landrath und Ministerium sind
Regierungscollegien mit einem Regierungsdirector an der Spitze. Sie entscheiden
in rein bureaukratischen Sinne, mehr mit dem Gesicht nach oben, als nach
unten auf die Bedürfnisse des Landes gerichtet. Dazu kommt, daß neben der
öffentlichen Verwaltung des Landes eine geheime besteht, welche für das Land
im Obercommando des Gensdarmeriecorps, einer der Aufrechterhaltung der Lan¬
despolizei gewidmeten Mannschaft, für die Stadt Kassel in dem Polizeidirector
ihre Spitze hat. Diese geheime Verwaltung besteht in der politischen Ueber-
wachung des Landes, seiner Bevölkerung und der Beamten; der Bezirkscom¬
mandant der Gensdarmerie empfängt die Berichte von der Mannschaft und
versendet sie an den Obercommandanten in Kassel, der neben dem Polizeidirector
von Kassel unmittelbaren Vortrag bei dem Regenten hat.*)
Man sieht, daß mit dieser Organisation der Regent ein unmittelbares
Auge auf alles haben möchte und auf vieles auch wirklich hat. Wo irgend-
einmal ein Beamter die von ihm beanspruchten Prärogative hintangesetzt hat.
kommt es leicht zu seiner Kenntniß, und er rechnet unter seine Prärogative
obendrein noch vieles, was gesetzlich nicht dazu gehört und was ihm verant¬
wortliche Minister niemals zugestehen würden; die vielbesprochene Vachenfeldsche
Neitbcchnangelegenheit hat ein Beispiel davon geliefert. Baupläne unterliegen
allerdings, wie im ganzen Lande, so auch in Kassel der Genehmigung der be¬
treffenden Regierungsbehörde, der Regent aber behält sich in Kassel die Schlu߬
entscheidung vor, woraus, da ihm das Ministerium nicht kräftig entgegentritt
und er sich nicht rasch zu entscheiden pflegt, die größten Nachtheile für den
Privatmann erwachsen. Man hat sich daher des Ausdrucks bedient, in Kassel
Würden die Häuser oft in die Höhe gestohlen, d. h. die Häuser fertig gebaut,
ehe die Genehmigung des Bauplanes eingetroffen sei; es sind aber auch schon
Beispiele vorgekommen, wo angefangene Bauten gehemmt und fertige wieder
niedergerissen wurden. Ein wesentliches Prärogativ ist in den Augen des
Landesherrn auch noch die Entscheidung über Aufnahme in den Unterthanen¬
verband, und das hat in Kurhessen schon sehr häusig zum Gegentheil von Frei¬
zügigkeit geführt. In Preußen geschieht z. B. die Aufnahme in den Unterthanen-
verband durch Aufnahme Seitens der Gemeinde und Bestätigung der Aufnahme
durch die Bezirksregierung. Dafür daß der neue Unterthan dem Könige und
dem Gesetze gehorsam bleibt, wird dann schon gesorgt; in Kurhessen ist Mi߬
trauen und Besorgniß größer. Ferner ist auch die Genehmigung der Feststellung
oder Abänderung der Eisenbahnfahrpläne aus den Händen der betreffenden
technischen Behörde in die Prärogative des Landesherrn übergegangen, wovon
die Folgen in Form von Stockungen im Eisenbahnverkehr schon durch ganz
Deutschland oder gar Europa hindurch verspürt worden sein sollen. Endlich
erwähnen wir noch, daß eine seit 18SS nicht erfolgte allerhöchste Entscheidung
Schuld ist, daß die Verleihung von silbernen Denkmünzen an Schüler der
Akademie der bildenden Künste seit jenem Jahre nicht stattgefunden hat, weil
die zur Anfertigung der Denkmünzen beschlossenen Stempel bis jetzt die Ge¬
nehmigung nicht zu erhalten vermochten.
Zu den zweifelhaften Fällen der Prärogative kommen nun aber noch die
formell unzweifelhaften und die formell und materiell unzweifelhaften, welche
die Stockung in der Entwickelung des Landes vermehren. Zu den formell
unzweifelhaften gehört die noch aus der Zeit des Verfassungsumsturzes her¬
rührende Wiederherstellung der durch Gesetz vom 26. October 1848 beseitigten
Ausnahmestellung des Regenten als obersten Militärchefs dem Verantwortlicher
Kriegsminister gegenüber durch Verordnung vom 1. Juli 1831. Jenes Gesetz
von 1848 strich aus §. 107 der Verfassung die Worte: „soweit solches (das
Kriegswesen) nicht für den Landesherrn als obersten Militcirchcf ausschließlich
gehört". Die Verordnung von 1831 stellte die Worte wieder her. Auch kann
man zu den formell unzweifelhaften Prärogativen noch die Einrichtung rechnen,
daß durch Verordnung vom 1. Juli 18S1 die nach §§. 61, 60, 61 der Ver¬
fassung nothwendige Beeidigung der Offiziere als Staatsdiener auf die Ver¬
fassung und Verantwortlichkeit derselben für jede Amtshandlung aufgehoben ist,
wodurch das kurhessische Heer viel entschiedener als früher unter den alleinigen
Befehl des obersten Kriegsherrn gestellt ist. Diese Prärogative sind natürlich
der Sache nach lediglich aus Verfassungsbruch gestützt, allein sie gelten, so lange
sie nicht wieder auf gesetzlichem Wege beseitigt sind, als vollziehbar. Zu den
ganz unzweifelhaften Prärogativen gehört aber unbedingt die landesherrliche
Genehmigung der Gesetzesvorlagen sowie die landesherrliche Unterschrift zur
Verkündigung der durch alle Factoren der Gesetzgebung gegangenen Gesetze.
An dieser Genehmigung zu den nothwendigsten Gesetzesvorlagen und der
Sanction schon fertig berathener Gesetze hängt nun aber eine ganze Reihe von
traurigen Stockungen in der materiellen Entwickelung des Landes.
Daß wir sofort mit dem Gebiet des geschäftlichen Verkehrs beginnen, so
fehlt die Freizügigkeit, wie wir oben bei dem Falle der Aufnahme in den
Unterthanenverband erwähnten, in Kurhessen nicht blos für den Ausländer,
sondern auch für den Inländer; die Polizei kann jeden Kurhessen da ausweisen,
wo er nicht in der Gemeinde Bürger oder Beisitzer ist. Außerdem lahmt das
Handwerk an einer höchst einseitigen Zunftverfassung. Beiden Uebelständen
hätte längst durch Ausführung des schon ausgearbeiteten Gesetzes über Ein¬
führung der Gewerbefreiheit abgeholfen werden müssen, welche letztere bereits
in allen deutschen Staaten bis auf Mecklenburg, Lübeck (wo sie eben vorbereitet
wird), Schleswig-Holstein (wohin sie Preußen bald bringen wird), Hannover
(wo sie beantragt ist) und Altbayern (wo sie angebahnt ist) besteht. Jetzt ist
die Concessionspflichtigkeit der Gewerbe in Kurhessen nur noch eine Waffe in
der Hand der Regierung, mißliebige Geschäftstreibende zu maßregeln. Das
deutsche Handelsgesetzbuch ist zwar endlich mit diesem Jahre eingeführt, aber
ohne die Zusätze der nürnberger Commission, die ebenfalls fast in allen deutschen
Staaten verkündigt sind. Es gehört vorzugsweise in dieses Gebiet die uner¬
klärlich lange Verzögerung der nothwendigsten Eisenbahnbauten, die noch auf¬
stehende Genehmigung zur Einführung des Einpfennigtarifs für Kohlen auf den
kurhessischen Staats- und Privatbahnen, zur Herstellung eines Tclcgraphennetzes
für den-Privatgebrauch, zum Bau eines bessern Locales für die höhere Ge¬
werbeschule.
Gehen wir nun auf das Gebiet der Landwirthschaft über, so ist diese bei
einigen der vorstehend erwähnten Mißstände grade so gut betheiligt als Handel,
Industrie und Gewerbe; daneben aber leidet sie an dem Mangel eines schon
in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts angeregten Verkovpelungsgesctzes,
eines Gesetzes über Ablösung der Feldhuten, über Theilbarkeit des Grundbesitzes
in den Provinzen Fulda und Hanau, über Landwcgcbau, über Gewährleistung
des Handels mit Hausthieren, über Beseitigung des Verbots des Verkaufs der
Früchte aus dem Halme, über richtige Vertheilung der Grundsteuer. Vor allem
schädigt den kleineren Landwirth die Aushebung des Gesetzes vom 1. Juli 1848,
durch welches die Ausübung der Jagd auf fremdem Grund und Boden be¬
seitigt und den berechtigten Eigenthümern des Grund und Bodens und den
Gemeinden zugewiesen war, durch die Verordnungen vom 22. September 18S3
und 26. Januar 1884. Diese Jagdvcrordnungen werden fortwährend aufrecht
erhalten, trotzdem sie schon durch mehre obcrgerichtliche Entscheidungen als
ungiltig festgestellt worden sind und das Oberappellationsgcricht demnächst
in der Lage sein wird, die obergerichtlichen Erkenntnisse in letzter Instanz zu
bestätigen.
Ganz Kurhessen hat ein Interesse an einer.Verbesserung der mit den beiden
Kammern der beseitigten Verfassung vom 13. April 1832 vereinbarten Steuer¬
gesetzgebung, an Erlaß eines Gesetzes über Verwerthung der Forstnutzungen,
eines Schulgesetzes, eines Gesetzes über anderweitige Regulirung der Beitrags-
Wicht zu den Kirchen- und Schulbänken, über Ausgleichung der durch die Bun-
desexecution vom Jahre 1850—1861 verschiedenen Landestheilen erwachsenen
Kosten (einzelne Gemeinden tragen schwer an der ihnen aus der Execution er¬
wachsenen Schuldenlast), eines Einquartierungsgesetzes, an der rascheren Be¬
setzung der erledigten Staatsdiencrstcllcn. Endlich verlangt die öffentliche Mei-
nung die Beseitigung der Bundesbeschlüsse vom Jahre 1854 beireffend das Ver¬
ehrer wider die Presse und das Vereinsrecht und der dazu in falscher Inder-
pretation der Bundesbeschlüsse und verschärfter Ausdehnung derselben ergangenen
Verordnungen vom Jahre 1854 und Wiederinkraftsetzung lediglich der betreffen¬
den Gesetzgebung vom Jahre 1848. Die zu den Bundesbeschlüssen ergangenen
Verordnungen enthalten Bestimmungen, welche nur durch Gesetz Giltigkeit er¬
langen können.
Schließen wir hiermit das immer noch unvollständige Register der Stockungen
in der Entwickelung Kurhesseus; es wird auch in seiner UnVollständigkeit hin¬
reichend darthun, was es darthun soll, besonders wenn wir hinzusetzen, daß die
meisten der vorerwähnten Gesetze, von dem Ministerium als nothwendig an¬
erkannt, entweder im Entwurf fertig, aber ohne die landesherrliche Sanction
erhalten zu können daliegen. Das Ministerium macht aus ihrer raschen Er¬
ledigung keine Cabinetsfrage, und wenn einmal ein einzelner Minister die Ver¬
antwortung zu schwer trägt, so lassen ihn seine Collegen allein; denn sie wollen
den Parlamentarismus nicht selbst beim Ministerium beginnen.
Ohne diesen aber, das sieht jeder ein, ist es kein Wunder, wenn Landes¬
vertretung und Volk in Kurhessen der Lage gegenüber rathlos dastehen; wo
sollen sie die Hebel suchen, das Hinderniß zu beseitigen?
Die jetzigen Minister hätten' den Hebel in der Hand, wenn sie wollten;
hinter ihnen stehen keine andern Minister mehr, die sie ersetzen möchten; sie
brauchten nur hartnäckig auf ihrer Entlassung zu bestehen, und der Staatskarren
müßte weiter gehen, wenn nicht alles aufhören sollte.
Allein auch hier hapert es. wie schon erwähnt. Jüngst hat ein Abgeord¬
neter des kurhessischen Landtages, welcher dem Ministerium in aller Geschwin¬
digkeit 31 der schwersten Gravamina auftischte, sich sehr diplomatisch dahin
ausgedrückt: es scheine der Zweifel gewiß am Platze, ob nicht vielleicht ein
gewisser innerer Zusammenhang zwischen der Unzugänglichkeit der Regierung in
Bezug auf die gerechten Rechtsforderungen des Landes und der gleichzeitigen
Unthätigkeit derselben gegenüber den materiellen Landesinteressen bestehe, ob
nicht am Ende diese beiden Seiten des Verhaltens der Regierung nur als ver¬
schiedene Erscheinungsformen eines und desselben Krankheitszustandes im kur¬
hessischen Regierungsorganismus anzusehen seien. So diplomatisch sollte sich
unseres Erachtens ein kurhessischer Abgeordneter vom heutigen Schlage nicht
mehr ausdrücken; er hätte einfach sagen sollen: der Krankheitszustand im kur¬
hessischen Regierungsorganismus besteht darin, daß man die materiellen Landes¬
interessen zu fördern nicht liebt, weil man auch auf diesem Wege der Bevölkerung
die Kraft nicht geben will, die gerechten Rechtsforderungen des Landes zur
gehörigen Geltung zu bringen. Man spielt vielfach auf einen andern Krank¬
heitszustand an, der mehr in unbewußter Weise den Fortschritt der Regierung
hemme; aber man täuscht sich und lahmt die Kraft der Opposition, wenn man
jenem Krankheitszustand zu viel Gewicht beilegt, indem damit der Gegner unter-
schätzt oder gar entschuldigt, aus einem bewußten Plane eine unbewußte Stumpf¬
heit gemacht wird. Wo gewisse zwei Augen wirklich eng verschränkt blicken
sollten, werden sie durch andere Augerd unterstützt, und es ist der beste Beweis
dafür, daß die Negierung Kurhesseus trotz alledem von einem bewußten Ge¬
danken durchdrungen ist, daß die persönlich unbeliebte Richtung der Vilmarianer
noch immer als Mittel zum Zwecke benutzt wird und auch selbst benutzt, indem
sie mit verschiedenen Zugeständnissen an der Hand behalten wird. Diese Richtung
aber sagte in dem Munde Scheffers — und das ist nun schon vor sechs Jahren
sattsam hervorgehoben worden — „die Noth ist gut und heilsam, damit die
Menschen den Herrn Jesum erkennen lernen," und in dem Munde Bickels: „es
ist recht gut, wenn es dem Menschen schlecht geht, denn das Wohlleben gebiert
die Sünde." Wir ergänzen in jener Herren Namen noch den Satz: Die größte
Sünde aber ist die Auflehnung wider die Obrigkeit, die die Gewalt hat von
Gott, und das ganze System ist gezeichnet cowinö it kaut, nach der Seite der
materiellen Landesinteressen wie nach der der gerechten Nechtsforoerungen hin.
Es sind nur einzelne politische Gedankenspähne aus den Köpfen jenes Systems
heraus gewesen, wenn von den Eisenbahnen als einem Teufelswerk die Rede
gewesen ist, deren Bau man hindern müsse, oder wenn gesagt worden ist, Kur-
Hessen brauche als ackerbautreibender Staat keine Industrie; im ackerbautreiben¬
den Staate gedachte man nämlich die Idylle eines der von Gott eingesetzten
Obrigkeit starr unterthänigen Volkslebens der späten Nachwelt zu erhalten.
Die jetzigen Minister, die Herren Ab6e, Pfeiffer, Rohde, v. Fehlt, Nothfelscr
unterscheiden sich nur dadurch von den Meistern des geschilderten Systems
Hassenpflug, Scheffer, Vilmar, daß sie die letzten Epigonen jener sind; die Hei¬
denzeit ist dagewesen und die Zeit der mehr geschäftlichen Ausbeutung des
Systems gekommen, wie auf das Nitterepos Homers das Epos des Tagewerkes
Hesiods gefolgt ist. Sonst ist die Sache ganz dieselbe, wie sie ehemals war.
Hassenpflug überwarf sich noch jedesmal, wenn er der Landesvertretung gegen¬
über Sieger geblieben, in seinem Uebermuthe mit dem Landesherrn. Vilmar
stürzte, als er den letzten Schritt auf den lutherischen Papststuhl Kurhesseus
thun wollte, von seiner Stellung in der unmittelbaren Nähe des Kurfürsten
herab. Scheffer ging mit der Ständeversammlung um wie ein Pascha mit den
Rajahs, wenn sie nicht stimmten, wie er wollte. Kurz und gut, alle hatten etwas
Dämonisches in ihrer Amtsführung, die jetzigen Minister haben aber etwas
Gutmüthiges; sie steifen sich in ganz anständigen Formen dem Andrängen der
Landesvertretung gegenüber auf die landesherrliche Verkündigungvom 21. Juni
1862, welche in dem Bestehenlassen der provisorischen Gesetzgebung von 1831
^n continuirlichen Rechtsbestand der Verfassung von 1831 aufhebt und den
gerechten Rechtsforderungen des Landes einen zur Zeit noch festen Damm ent¬
gegensetzt, und trösten sich in Betreff der gerügten Untätigkeit der Negierung
gegenüber den materiellen Landesinteressen mit dem Satze, daß das Wohlleben
die Sünde gebiert, und eine Auflehnung Wider die Obrigkeit, die Gewalt hat
von Gott, zumal bei Ministern, die größte Sünde ist.
Die Stellung gegenüber dieser Untertänigkeit nach oben und der Hart-
sclligkeit nach unten hat denn aber auch die Lage der Führer und Vertreter
des Volkes zu einer schwierigen gemacht, es ist in dem erneuten Kampf um die
Verfassung, über deren doch nur scheinbare volle Wiederherstellung man im
Jahre 1862 auch auf Seiten der Führer zu früh frohlockt oder zu gutmüthig
gedacht hat, ein Stadium eingetreten, wo jene Führer verlegen nach weitern
Mitteln des Kampfes umherblicken, während die Regierung in ihrem gedeckten
Lager einstweilen ruhig diese Mittel an sich herankommen lassen kann.
Wir wollen uns indessen nicht tiefer auf die Kritik des Verhaltens der
Volksführer einlassen, wir müßten dabei etwas weiter in die Vergangenheit
zurückgreifen und würden im besten Falle mit einer vorzeitigen Kritik der Sache
des Rechts nichts nützen. Nur so viel muß hier der Gerechtigkeit wegen be»
merkt werden, daß, wenn die Einsicht, die man heute in den Stand der Dinge
in Kurhessen erlangt hat oder erlangt haben muß, die Handlungsweise der
Landesvertretung sofort nach dem Erscheinen der landesherrlichen Verkündigung
vom 21. Juni 1862 geleitet hätte, dann die Verlegenheit, in der man sich jetzt
befindet, früher zu Tage getreten wäre und zwar zu einer Zeit, wo das System
Bismarck in Preußen noch nicht so dominirte wie heute. Die außerhalb Kur¬
hesseus wirkenden Chance» sind für die Verfassungspartei in Kurhessen ungünstiger
geworden, und es wird wahrscheinlich nichts Anderes übrig bleiben, als günstigere
Zeiten abzuwarten oder auf einen aeus sx inaedin^ zu hoffen. Wäre doch die
der Wiederherstellung der Verfassung innewohnende Krankheit sofort auf die
Haut getrieben worden zum Beispiel zu jener Zeit, wo Herr v. Bismarck in
einer Depesche vom 1ö. October 1862 an den preußischen Gesandten, Herrn
v. Usedom, in Frankfurt schrieb, nachdem die Einberufung des Landtags
auf den 27. October erwähnt ist: „Es ist also jetzt der entscheidende Au¬
genblick gekommen, in welchem es gilt, in Kurhessen einen wirklichen und
dauernden Friedensstand durch die vollständige und rückhaltlose Erfüllung
aller in der Verordnung vom 21. Juni v. I. gemachten Zusagen Seitens
der Regierung und durch eine gemäßigte und entgegenkommende Haltung.
Seitens der Ständeversammlung herbeizuführen :c.!" Es war eine der Zu¬
sagen der landesherrlichen Verkündigung vom 21. Juni 1862, daß die
provisorischen Gesetze und Verordnungen von den Jahren 18S1 ff. den Ständen
zur Zustimmung vorgelegt, bezüglich bei verweigerter Zustimmung das Nöthige
gewahrt werden solle und der richtige Sinn dieser Zusage, daß die provisorischen
Gesetze vor dem Willen der Ständevcisammlung stehen und fallen. Gegenüber
der Nichterfüllung dieser Zusage mit den Consequenzen ist offenbar das Ver-
halten der Ständeversammlung bisher zu „gemäßigt und entgegenkommend"
gewesen. Das wird selbst Herr v. Bismarck anerkennen müssen.
Das Verhalten der Ständeversammlung und ihrer hervorragenden Mit¬
glieder hat übrigens keinerlei Kluft zwischen ihr und der Stimmung des ge-
sammten Landes hervorgerufen. Friedrich Oetker steht in dem alten verdienten
Ansehen; in reinen Rechts- und Verfassungsfragen bleibt er immer der Leiter,
und in der allgemeinen deutschen Frage hat er gegenüber einigen gar zu kur-
hessisch-loyalen Anwandlungen von Collegen im Landtage streng den deutsch¬
nationalen Standpunkt gewahrt. Kränklichkeit hindert ihn nur an einer noch
energischeren Thätigkeit. Die . große Mehrheit der Ständeversammlung steht auf
streng verfassungsmäßigen Standpunkte und entbehrt vielleicht etwas zu sehr
der agitatorischen Kraftentwickelung. In dieser Beziehung ist ein nimmer
ruhendes Element der eine Abgeordnete der größten Fabrikstadt des Landes,
Trabert, der übrigens in rein praktischen Fragen auch eines nicht unbe¬
deutenden Anhangs unter den Abgeordneten sich erfreut. Es ereignet sich
dann auch wohl, daß er, der demokratischste Abgeordnete, in der Abstimmung
mit den Abgeordneten der Ritterschaft zusammentrifft. Diese helfen übrigens
dem Ministerium hier und da die Aufrechthaltung der provisorischen Gesetzgebung
erleichtern, während sie in reinen Zweckmäßigkeitsfragen meistentheils einen
gesunden Standpunkt innehalten. Eine sehr kleine Minderheit von ultramon¬
tanen Abgeordneten hat sich in der Abstimmung über den deutsch-französischen
Handelsvertrag, gegen dessen Genehmigung sie in östreichisch-concordatlichcm
Interesse stimmte, am entschiedensten gekennzeichnet. Sie hat ihr Dasein offen¬
bar mit der durch das Wahlgesetz von 1849 eingeführten directen Wahl zu
danken, welche in den rein katholischen Wahlbezirken den Einfluß der katholischen
Geistlichkeit mehrt. Die Vilmarsche Richtung hat bislang seit 1862 keinen
Vertreter in den Landtag durchgesetzt, ihrem Organ, der Hessenzeitung, wird
übrigens in der Presse eine zu große Bedeutung beigelegt. Vilmar selbst ist
nur beiläufig für das Blatt thätig, das zum größeren Theil von einigen seiner
Untergeordnetsten Geister besorgt wird.
Im Ganzen bemerkt man in der kurhessischen Bevölkerung in politischer
Richtung keine größere Thatkraft als in ihrer Vertretung im Landtage. Etwas
Stumpfheit ist nicht zu verkennen; auch in geschäftlicher Beziehung, in Handel,
Industrie und Gewerbe wäre unten im Volke eine größere Rührigkeit zu
wünschen, deren Mangel offenbar mit an der Stockung oben Schuld trägt.
Dem ganzen Lande wäre aber geholfen, wenn der Rechtszustand, wie er sich in
Jahren 1848 und 1849 durch die derzeitige Gesetzgebung herausgebildet,
einfach wiederhergestellt würde. Es fehlt zu dieser Wiederherstellung nur noch
Folgendes. Die oben geschilderte Verwaltungseinrichtung wäre zu ver-
tauschen gegen die durch das Gesetz vom 31. October 1848 eingeführte,
wonach als einzige Zwischenbehörde zwischen dem Ministerium des Immer»
und den Gemeinden neun Bezirksdirectionen, an der Spitze der Bezirke der
Director, ihm zur Seite einige Referenten über Bau- und Schulangelegenheiten
u. dergl., und ein vom Volke gewählter Bezirksrath mit entscheidender Stimme
in bestimmten Angelegenheiten standen. Die Ortspolizei war ganz in die Hände
der Gemeindebehörden übergegangen und die Landespolizei in unterster Instanz
ebenfalls von Gemeindebeamten, in der höhern Instanz von den Bezirksbehörden
ausgeübt. Mit dieser Einrichtung war die ministerielle Willkür ausgeschlossen
und der Anfang zur Beseitigung der bureaukratischen Verwaltung gemacht,
ebenso der Gebrauch der Polizei und ihrer Mannschaft zu andern als Sicher»
Heilzwecken beseitigt. Die Gemeindeverwaltung konnte zu größerer Selbst-
ständigkeit und Tüchtigkeit gelangen, und der Minister des Innern fand seine
Verantwortlichkeit erleichtert.
Um dem sonst vorzüglichen Gerichtswesen die richtige Spitze zu geben,
sollte der Kurfürst auch das Gesetz vom 17. Juni 1848 wieder in Geltung
setzen, wonach die Ständeversammlung bei Besetzung erledigter Stellen des
Oberappellationsgerichts der Krone drei Candidaten vorzuschlagen hat, von
denen einer zu wählen ist, und die Unverletzbarkeit der obersten Richter aus¬
gesprochen ward.
Zur freien Entfaltung der Volkskraft wird die alleinige Geltung des noch
bestehenden Gesetzes vom 26. August 1848 wider Preßvergehen, welches alle
Censur, Kautionen, Concessionen namentlich ausschließt und feststellt, daß alle
Beschlagnahme, Unterdrückung oder Vernichtung einer Druckschrift lediglich
durch die Gerichte erfolgen dürfe, das Wesentlichste beitragen. Es ist nur
dem Beispiel Sachsens und Würtembergs zu folgen, welche die Bundesbe¬
schlüsse von 1834 in Bezug auf Presse und Vereinswesen außer Wirksamkeit
gesetzt haben; damit würden die Vollzugsverordnungen von selbst fallen.
Außer den vorstehenden erwähnen wir von den Gesetzen der Jahre 1848 und
1849 noch die Gesetze über Einführung der Civilehe, freie Religionsübung und
Vereinsrecht. Dann schließen wir.
Es ist eine Täuschung der Krone, wenn sie glaubt, daß mit dem bisherigen
Regierungssystem ihrem Interesse gedient sei; wie der Zustand jetzt ist, kann
er nach dem Gesetze aller natürlichen Entwickelung nicht lange mehr bleiben
und die Bewegung wird sich Bahn brechen auf die eine oder die andere Weise;
es bleibt der kurhessischen Bevölkerung nur die Alternative: entweder es wird
ihr geholfen durch ihre eigene innere Entwickelung und zwar durch Zurückgehen
auf die eben dargestellte Verwaltung des Landes nach der Gesetzgebung der
Jahre 1848 und 49, oder es wird die Verzweiflung sie auf eine Hilfe von
außenher hintreiben, und dieser zweite Fall findet schon jetzt seinen Ausdruck
in den Aeußerungen derer, welche von einem Aufgehen in Preußen sprechen,
und nicht grade in Aeußerungen von Doktrinären in Kurhessen, sondern von
Geschäftsleuten, denen der jetzige kurhessische Geschäftsbetrieb gesundheitsgefährlich
wird. Alle sind doch nicht in der Lage auszuwandern!
Der letztere Fall, die Verzweiflung an der Kleinstaaterei, kann natürlich
für den Regenten von Kurhessen nur der weniger erwünschte sein; wenn ihm
die Wahl lediglich zwischen zweien bleibt, wird er unbedingt den ersteren nehmen,
bei dem er höchstens gewinnen kann — und zwar an Popularität — und
nicht verlieren kann, was doch nicht zu retten ist.
Wird aber der Rechts- und Verwaltungszustand Kurhesseus wieder auf
den gesetzlichen Stand der Jahre 1848 und 1849 zurückgeführt, dann macht sich
die übrige Entwickelung von selbst. Die oben erwähnten Stockungen werden
dann verschwinden wie die Spreu vor dem Winde.
Seit ich Ihnen zuletzt geschrieben, haben so große und weittragende Vor-
gänge auf dem Gebiete der großen Politik die Aufmerksamkeit derjenigen, welche
den Entwicklungen des öffentlichen Lebens in Deutschland mit ernsterem An¬
theil folgen, gefesselt, daß die Bewegung, die sich indeß auch bei uns vollzog,
auswärts ziemlich unbeachtet vorübergegangen ist. Wir haben eigentlich weder
Recht noch Ursache, darüber zu klagen. Kein Recht; denn die Zeiten sind vorbei,
da man einen Kleinstaat berufen glaubte, als Muster und nachahmungswerthes
Beispiel dem ganzen deutschen Vaterlande voranzuleuchten, und leider auch jene
besseren und vernünftigeren, wo wir in Baden glauben durften, mit der Politik
unserer liberalen Regierung in ihren Beziehungen zum Lande und zu der
deutschen Verfassungsfrage in einem Fahrwasser zu segeln, in das naturgemäß
auch die Kiele der übrigen Staatsschiffe und Schifflein hineinsteuern oder hinein¬
treiben müßten. Keine Ursache; denn wie die Dinge jetzt liegen, ist der beste
Wunsch für unsere innern Verhältnisse das archimedische uolits turbare eir-
eulos asos! Laßt uns in unserem südwestlichen Winkel Deutschlands unsere
Reformen ruhig und ungestört durchführen. Wir wollen kein Musterstaat für
Euch sein. Wir sind zufrieden, wenn wir uns selber musterhaft 'vorkommen!
Und in dieser Richtung haben wir in Baden seit dem Frühling dieses
Jahres einen entschiedenen Fortschritt gemacht. Daß er mit großem Pomp
und vielem Lärm in Scene gesetzt wurde, verdankt die liberale Partei ihren
Gegnern, den Ultramontanen.
Die Schulfrage gab zunächst, nachdem die Ortsschulrathswahlen vollendet
waren, nachdem trotz den zahlreichen Petitionen der „wandernden Kasinos" die
beiden Kammern der Regierung ein Vertrauensvotum ertheilt und die Wüh¬
lereien und Angriffe der Schwarzen ruhig, aber sehr entschieden zurückgewiesen
hatten, keinen Anlaß zu einer Fortsetzung der klerikalen Agitation. Die uner¬
müdlichen Agitatoren fanden bald einen neuen Gegenstand, an den sie ihre
Bestrebungen anknüpfen konnten, und wenn sie selbst den Kampf in der Schul¬
srage uns als ein Scharmützel, als ein Vorpvstengesecht bezeichnet hatten, so
traten sie in dem neuen Feldzuge mit dem ganzen Apparat, der ihnen zu Ge¬
bote steht, mit regulären Truppen und mit dem „schwarzen Landsturm", wie
der Volkswitz ihre Anhänger in den großen Massen nannte, auf. Diesmal
war es eine Angelegenheit, die nicht nur mit der Religion, sondern, im strengen
Sinne des Worts genommen, eigentlich auch mit der Politik nichts zu thun
hat, an welche die ultramontane Hetzerei und Wühlerei sich herandrängte
die Wahl zu den Kreisversammlungen.
Durch die neue Organisation der innern Verwaltung ist in Baden der
Grundsatz der Selbstverwaltung zum ersten Male in Deutschland mit einer
Konsequenz durchgeführt worden, die nur der verständigen und redlichen Mit¬
wirkung der ganzen Bevölkerung bedarf, um auf allen Gebieten des staatlichen
Lebens die segenreichste Wirkung zu erzielen und das gesammte öffentliche Leben
erst recht mit der Verfassung in Einklang zu bringen, die eigentlich seit ihrem
Bestehen diese Gestalt der Landesverwaltung voraussetzte, der wir uns nun
seit einem Jahre erfreuen.
Eines der wichtigsten Glieder in dem Gefügt dieser Organisation ist die
Kreisgemeinde, welcher für einen größeren Komplex eine ähnliche Aufgabe zu¬
fällt, wie sie die eigentliche Gemeinde und die Bezirksgemeinde in ihrem Wir¬
kungsgebiete zu erfüllen haben. Diese Kreise bilden körperschaftliche Verbände,
besorgen ihre Angelegenheiten selbständig, können Vermögen erwerben und be¬
sitzen und haben die Ausgabe, über solche Einrichtungen und Anstalten zu be¬
schließen, welche die Entwicklung, Pflege und Förderung der Interessen des
ganzen Kreises betreffen. Die Kreisangehörigen werden durch die Kreisver-
sammlung vertreten; für Verwaltung der Kreisangelcgenheiten besteht ein Kreis¬
ausschuß. Die Kreisversammlungen werden durch die Großgrundbesitzer des
Kreises, durch Vertreter der Gemeinden und endlich durch Mitglieder gebildet,
welche von gewählten Kreiswahlmännern mit geheimer Stimmgebung (die auch
bei den UrWahlen stattfindet) gewählt werden. Als die hauptsächlichsten Be¬
rathungsgegenstände der Kreisversammlungen werden in dem Verwaltungsge¬
setze bezeichnet: Anlegung von Straßen, Brücken und Kanälen, Errichtung von
Sparkassen, Kreisschulanstalten, Waisen-, Armen- und Krankenhäusern, Auf¬
nahme von Anlehen u. s. w.
Die ersten UrWahlen zu diesen, wie wir sahen, lediglich mit Verwaltungs-
angelcgenheiten betrauten Versammlungen, die am 4. September gleichzeitig für
das ganze Land stattfanden, benutzten also die Ultramontanen, um ihre Agi¬
tation neu zu beleben, welche nach dem völligen Mißlingen der Kafinobcwegung
einige Monate lang geschlummert hatte.
Sie war vorbereitet worden durch Flugblätter, welche Auslösung der
Kammern und Abänderung des ziemlich conservativen Wahlgesetzes von 1818
forderten. Als der Wahltermin heranrückte, folgten diesen wenig bemerkten
Tirailleuren in Eilmärschen die geschlossenen Colonnen und das schwere Geschütz.
Keine Vorspiegelung war dieser Partei zu verworfen, um nicht aus dem wvhl-
assortirten Arsenal hervorgeholt und auf den Wahlplatz geschleudert zu werden.
Zunächst wehten plötzlich wieder auf allen Straßen die Fahnen einer drohenden
Neligionsgefahr. Um diese wahrscheinlich zu machen, wurde die Kompetenz
der Kreisversammlungen betont, Kreisschulanstalten zu errichten, natürlich aber
verschwiegen, daß darunter schlechterdings keine Volksschulen, sondern höhere
Bürger- und Fortbildungsschulen allein verstanden sein können. Dann aber
ging die Verdrehung der Wahrheit noch einen Schritt weiter. Es wurde dem
Landvolk (denn nur auf dem platten Lande und in den kleinsten Städten ver¬
suchte die Partei diesmal ihr Glück) vorgespiegelt, daß die Kreisversammlungen
im Stande sein wenden, einen Wechsel im Regierungssystem und in der Ge¬
setzgebung des Landes herbeizuführen. Es wurde förmlich darauf hingearbeitet,
11 Gegenkammern in den 11 Kreisen des Landes zu organisiren, mit ihrer
Hilfe zunächst die Abgeordnetenkammer zu sprengen, dann das Ministerium zu
stürzen. Die Führer hätten bedenken müssen, daß bei der Stellung, welche die
Negierung nach dem Gesetze zu den Kreisversammlungen einnimmt, dies Resultat
absolut nicht erreichbar sei. Die Landescvmmissäre und die Krcishauptleute
Wohnen nämlich den Sitzungen bei und haben vor allem Sorge zu tragen,
daß die Kreisversammlungen ihre Kompetenz nirgends überschreiten. Also selbst
durchaus klerikale Kreisversammlungen hätten allerdings die Interessen ihrer
Kreise den Befehlen ihrer Parteihäupter opfern, aber auf die Regierung selbst
durchaus keinen Einfluß ausüben können. Aber diese Einsicht war entweder
uicht vorhanden, oder sie wurde — was wahrscheinlicher ist — gewaltsam
Zurückgedrängt, und es handelte sich eigentlich für die Ultramontanen, die nun
plötzlich unter der Maske der „conservativen Opposition" den Schauplatz be¬
traten, nur darum, Unruhen anzustiften, den Boden zu unterwühlen, der Re-
gierung Verlegenheiten zu bereiten. Das Streben der biedern Religionswächter
schlug ins grade Gegentheil um.
Vor allem die Art und Weise ihrer Agitation begann jeden halbwegs
anständigen Mann anzuekeln. Dieses Appelliren an den souveränen Unver¬
stand in ihren Flugschriften, in den kleinen Zeitungen der Partei, die plötzlich
wie Pilze aus dem Boden schössen, in den Versammlungen, die sie landauf
und ab veranstalteten und überall durch dieselben paar großmäuliger Redner
haranguiren ließen, mußte jeden Mann von politischer Einsicht, auch wenn er
zu den Gegnern des jetzigen Ministeriums gehörte, mit Bedenken erfüllen.
Noch mehr die vollendete Verachtung der bestehenden Gesetze, die ihre Führer
allenthalben trotz einer zur Schau getragenen „Gesetzestreue" verriethen. Wahl-
besprechungen der Wahlberechtigten, erklärt das Vereinsgesetz, dürften nie als
Volksversammlungen gelten. Die Ultramontanen dachten diesen Satz zur
Wiederbelebung des Kasinos zu benutzen. Allenthalben beriefen sie Volks¬
versammlungen, aber nirgends beschränkten sie die Zahl der Theilnehmer auf die
Wahlberechtigten. Unter der Führung der Geistlichen zogen, wie einst zu den
Kasinos, so jetzt zu den Wahlversammlungen neben den Männern auch Frauen
und Kinder herbei. Statt Wahlbesprechungen zu Pflegen, wurde das Kreuz
gegen die Regierung gepredigt. Und wenn nun der Bezirksbeamte solche Ver¬
sammlungen auflöste, die eben zu Volksversammlungen geworden waren, ohne
die für solche vorgeschriebenen Bestimmungen erfüllt zu haben, dann schrie die
fromme Partei über den entsetzlichen, unerträglichen Druck, der auf den Katho¬
liken dieses Landes laste. „Unter Blittersdorff waren wir freier" — behauptete
mit kecker Stirne das Hauptblatt der Partei, der „Badische Beobachter". In
der That, es erinnern diese Klagen an den Schmerzensschrei, den die Demokraten
unter dem Ministerium Bett über die „schmachvolle Unterdrückung" des Volkes
ausstießen, in einer Zeit, in welcher der Mißbrauch der Presse und des Vereins¬
wesens den Höhepunkt erreicht hatte.
Das Parteitreiben der Ultramontanen entbehrte keineswegs einer vortreff-
lichen und unermüdlichen Leitung. In Freiburg sitzt eine Art „geheimer Na¬
tionalregierung" (die Herren haben sich in den „Köln. Blättern" selbst so ge-
nannt), welche ihre Circulare, Anweisungen, Flugblätter und Wahlprogramme
im Lande ausstreut, die kleinen der Partei dienstbaren Localblättchen mit ge¬
sinnungstüchtigen Artikeln versieht und die Verbindung der ruäis mäiZestAque
moles der fanatisirten Landbevölkerung mit der Curie des Erzbischofs in allen
den Fällen erhält, in welchen die Kirchenbehörde sich nicht selber an die Spitz«
der Agitation stellen kann.
Es sind das seltene Fälle; denn das Kirchenregiment hat sich nicht gescheut,
in diesem Kampfe ganz offen der Regierung den Fehdehandschuh hinzuwerfen.
Es erschien ein sog. Hirtenbrief des alten, persönlich sehr wohlwollenden, aber
nie geistig hervorragenden und darum doppelt leicht zu beeinflussenden Erzbischofs
von Freiburg. Der Ton, in dem dieses Machwerk abgefaßt war, für dessen
Urheber man mit gutem Grunde den Hofcaplan strebte, einen bekannten
jesuitischen Intriguanten, den Kcmzleidirector Maas, einen getauften Juden,
und den Pfarrer Weickum, einen übergetretenen Protestanten, hält, wird am
besten durch die Bezeichnung charakterisirt, welche ihm die liberalen Blatter
gegeben haben, die ihn regelmäßig statt Hirtenbrief nur den Brandbrief des
Erzbischofs nannten. Es spricht in der That aus diesem Actenstück, welches die Lage
der Dinge so hinstellt, als ob in Baden die grausamste Christenverfolgung wüthe,
welches mit den pathetischen Worten schließt, die Kirche könne sich vor den Verfol¬
gungen der Gegner wieder in die Katakomben flüchten, aber zur Dienstmagd des
Staates könne sie sich nie erniedrigen lassen, es spricht daraus eine vollständige
Mißachtung der Regierung, des Landesherr«, der Landesgesetze. Die entschie¬
densten Gegner des alten aufgeklärten Absolutismus haben nicht umhin gekonnt,
nach der Lectüre dieses Actenstückes die Wiedereinführung des Planet als sehr
wünschenswert!) zu bezeichnen.
Aber damit war es nicht genug. Die Geistlichen der Diöcese wurden zu
einer Conferenz nach Freiburg berufen und faßten dort Resolutionen, welche
ihre offene Auflehnung gegen die Staatsgewalt mit nackten Worten proclamirten.
Sie richteten, ganz im Geiste der polnischen revolutionären Kleriker, das Gesuch
an den Erzbischof, an einem bestimmten Tage im ganzen Land einen feierlichen
Gottesdienst „um Erhaltung der katholischen Kirche in Baden" anzuberaumen.
Und, damit dem aufrührerischen Gebahren auch die komische Seite nicht fehle,
sie ersuchten den Erzbischof, den deutschen Bund um „Schutz für die badischen
Katholiken" anzurufen. Den in diesem Sinne agitirenden Priestern, welche
die Kanzel urplötzlich in eine Tribüne verwandelten, von der im Tone des
reinsten Jacobinerthums gegen die „Stadtherrn", die „Geldprotzen", die Bour¬
geois, die kein Herz für das Volk hätten, die Fabriktyranncn u. s. w. gepredigt
wurde, schlössen sich da und dort ultramontan gesinnte Adelige an. Es war
ein sonderbares Schauspiel, da und dort die stolzen Junker plötzlich an der
Spitze von Versammlungen zu sehen, in denen die unterste Schichte der Be¬
völkerung den wohleinstudirten Reden ihrer Leithammel mit plebejischen Wohl¬
behagen Beifall zubrüllte.
Dieser Verbindung der Junker mit den Pfaffen hätte es kaum mehr be¬
durft, um den Mittelstand noch fester als bisher an das System der Regierung
ju knüpfen. Daß das ganze Geschrei von bedrohter Religion nichts weiter
bezweckte, als auch auf dem staatlichen Gebiete die Reaction zurückzuführen, lag
auf offener Hand für jeden, der hören und sehen wollte.
Trotzdem hielt es die liberale Partei nicht für unnöthig, auch ihrerseits
eine Wahlagitation zu eröffnen, die sich aber überall in den gesetzlichen Grenzen
hielt und nur ein paar Mal zu handgreiflichen Conflicten führte, die bei solchen
Anlässen, wo derbe und aufgeregte Landbewohner feindselig aufeinanderstoßen,
nun einmal unvermeidlich sind.
Am 4. September war der Kampf an den Wahlurnen, welche für alle
selbständigen Männer, die über 2ö Jahre alt und seit einem Jahre im Bezirk
ansässig waren, überall von Morgens 8 bis 12 Uhr offen standen, ein überaus
lebhafter. Nicht nur in den größeren und kleineren Städten, auch auf dem
platten Lande traten oft mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigten an die
Urnen. So lange die Bevölkerung Badens an der Verwaltung der öffentlichen
Angelegenheiten Antheil hat, also seit beinahe 50 Jahren, war eine solche Be¬
theiligung noch nicht erlebt worden. Und dies erfreuliche Resultat hatte man
lediglich den Ultramontanen zu verdanken. Ohne ihre aufs Aeußerste getriebene
Agitation hätte vielleicht nicht die Hälfte der Männer, die am 4. September
wählten, dies politische Recht ausgeübt. Der drohenden Gefahr einer Reaction
gegenüber, welche freilich ein ultramontaner Ausfall dieser Wahlen nicht un¬
mittelbar gebracht, aber doch möglicherweise eingeleitet hätte, betrachtete jeder
urtheilsfähige Bürger das ihm zustehende Recht zu wählen als eine unerläßliche
Pflicht. Und das ist gewiß ein Fortschritt im politischen Leben, den wir jetzt
den Nückschrittsmännern verdanken, wenn sich die Ueberzeugung immer mehr
und mehr Bahn bricht, daß eigentlich jedes von dem Volke erworbene politische
Recht auch die Pflicht es auszuüben für den Patrioten involvirt, und daß
das Unterlassen der Ausübung geradezu eine Pflichtverletzung ist.
Die Wahlen der Wahlmänner zu den 11 Kreisversammlungen sind in
überwiegender Mehrzahl liberal ausgefallen. In den größeren Städten sind
die Klerikalen mit einer ganz gewaltigen Majorität geschlagen worden, vor allem
bedeutungsvoll in Karlsruhe selbst, wo die ultramontan-conservative Partei die
Keckheit gehabt hatte, auf ihre Wahlliste fast den ganzen Hofdienst des Gro߬
herzogs und eine Menge hoher Beamten zu setzen — eine wahre Proscriptions-
liste. wie uns ein hochgestellter Mann gesagt hat, unzuverlässiger und zweifel¬
hafter Anhänger des herrschenden Systems. Auf dem platten Lande dagegen
hat die ultramontane Partei einige Wahlstege zu verzeichnen, hauptsächlich in
ganz kleinen, vom Verkehr entlegenen Dörfern, dann in solchen Ortschaften, in
denen noch heute die finstern Wirkungen des alten bischöflichen Regiments nicht
vernichtet sind, selbst in ein paar kleinen Städten, wo der Einfluß der Priester
stärker war als das gesunde Urtheil der Bürger. In einem solchen Städtchen
hat es sich zugetragen, daß, nachdem der liberale Ausfall der Wahlen im ganzen
Lande bekannt geworden war, die Erwählten der Klerikalen sich plötzlich ihrer
Patrone schämten und es für eine Beleidigung erklärten, wenn man sie ultra¬
montan nenne.
Die protestantischen Gemeinden haben durchschnittlich im Sinne des Fort-
Schritts gewählt, und die Geistlichen dieser Confession, mit etlichen, über Schenkel
zürnenden Ausnahmen, sich sehr rühmlich vor ihren katholischen College» aus¬
gezeichnet.
Ziehen wir die Summe der ganzen Wahlbewegung, so finden wir: Es
galt eine Wahl zu Versammlungen, die lediglich einen administrativen Charakter
haben. Niemals war eine Parteispaltung unnöthiger. Die Ultramontanen,
auf die vermeintliche Stärke ihres Anhanges pochend, haben die Wahl zu einer
großen politischen Demonstration machen wollen, welche der Regierung ein
mächtiges Mißtrauensvotum entgegenschleudern sollte. Grade das Gegentheil
ist geschehen. Ohne es zu suchen, hat die Regierung durch eine Volksabstimmung,
wie sie in Baden bisher unerhört war, ein unbedingtes Vertrauensvotum aus
allen Theilen des Landes erhalten.
Bis gegen Ende des Jahres 1863 stand unter den Gegnern des vernünf¬
tigen deutschen Einheitsgedankens die großdeutsche Partei im Vordertreffen, ihre
radicalen Bundesgenossen hielten sich mehr zurück. Allein was dem Fürstentage
folgte, die Unfähigkeit Oestreichs selbst unter den günstigsten Umständen über
Preußens Widerstand gegen eine Bundesreform im conservativen Sinne Herr
zu werden, die Entlarvung seines zur Schau getragenen deutschen Patriotismus
während der Schleswig-holsteinischen Erhebung, entzog der großdcutschen Partei
allen Boden im Volk. Das sich entwickelnde preußisch-östreichische Doppelregi¬
ment über Deutschland schuf dagegen Stimmungen, wie sie sich der Radikalis¬
mus nicht besser wünschen konnte. So löst denn jetzt im Lager der süd- und
mitteldeutschen Preußenfeinde der linke Flügel den rechten ab. Während es
Wohl noch sehr zweifelhaft ist, ob die im vorigen Jahre schon ausgesetzte General¬
versammlung des Reformvereins diesmal zu Stande kommt, hat sich die so¬
genannte „deutsche Volkspartei" am 18. September in Darmstadt zum ersten
Mal förmlich gesammelt.
Das „deutsche Volk" nahm sich in Darmstadt allerdings etwas ärmlich
und beschnitten aus: Der vorsichtige Stuttgarter „Beobachter" sagt ganz all¬
gemein, es seien Leute aus zehn Bundesstaaten beisammengewesen; aber die
Neue Frankfurter Zeitung, weniger weise oder ^weniger wohlwollend, verräth,
daß „Preußen nur durch Briefe und Telegramme vertreten war". In der That
eine kostbare Vertretung! Wenn der Gedanke Beifall findet, so wetten wir,
Herr v. Bismarck befreundet sich mit der Idee eines deutschen Parlaments,
gebildet auf der Grundlage brieflicher und telegraphischer Vertretung. Aber
nicht allein Preußen, auch Bayern und Hannover scheinen durch völlige Un-
vertretenheit geglänzt, ja schändlicherweise nicht einmal Briefe und Telegramme
abgelassen zu haben. Vielleicht indessen, denkt der gutmüthige Leser, ersetzt das
Gewicht, was die Zahl und der räumliche Rückhalt zu wünschen übriglassen.
Wir wollen sehen. Der bekannteste Mann unter den Darmstädtern vom
18. September war eine dortige locale Celebrität von allerdings nicht unan¬
gefochtenem Werthe, I)r. Louis Büchner, Verfasser von „Kraft und Stoff".
Seit ihm in Paris einmal von jungen französischen und deutschen Weltver¬
besserern ein Ständchen gebracht worden ist, hält Dr. Büchner, der bis dahin
zufrieden war, über Metz und Lassalle gleichsam die Achseln zu zucken, seine
Zeit offenbar für gekommen. Ihm zunächst an öffentlicher Bekanntheit stand
Dr. Ludwig Eckardt, der vormalige Bibliothekar des Großherzogs von Baden.
Im vorigen Herbste suchte dieser mehr eitle als ehrgeizige Schönredner an der
Spitze des äußersten linken Flügels des Nationalvereins einen Platz in dessen
Ausschuß zu erobern; aber der Ausschuß glaubte genug Nachgiebigkeit bewiesen
zu haben, indem er seine Anträge radicalen Gaumen genießbar machte, und
überging im Aerger über den impotenten Frondeur bei der Kooptation Eckardt
gegen alle Praxis und Tradition, um sich dafür von dreien seiner Genossen
Körbe zu holen. Diejenigen Ausschußmitglieder, welche von jeher bemüht ge¬
wesen sind, keine radicale Partei neben dem Nationalverein aufkommen zu lasse»,
sehen sich nun durch Eckardts unermüdliche Betriebsamkeit schließlich doch um
diesen Theil ihres Anhangs verkürzt. Indessen bedürfte es auch noch einiger
anderer Dinge als Eckardtscher „Kreisschreiber" und Leitartikel, um den Tag
von Darmstadt am Ende möglich zu machen. Hinzukommen mußte jene Nach'
blüthe des Particularismus, welche wir heutzutage in Würtemberg und in
Schleswig-Holstein erleben. Die einzigen bedeutenderen Namen, welche neben
Büchner und Eckardt aus den Berichten der frankfurter Blätter noch hervor¬
treten, sind Oesterlen aus Stuttgart und N. v. Neergaard aus Kiel. Grade
so hatten sich bereits aus dem bremer Schützenfest Mayer aus Stuttgart und
May aus Altona gefunden, der verkörperte Preußenhaß aus Süden und Norden.
N. v. Neergaard, seit Mays gewaltsamer Abführung der Lenker der schleswig¬
holsteinischen Vereine, ist nach Darmstadt gegangen, um denjenigen den Staar
zu stechen, welche in der Schleswig-holsteinischen Agitation gegen Preußen keinerlei
unberechtigte, antinationale Elemente wahrnehmen wollen. Und zwar wird die
Parteileitung in Zukunft noch mehr in den Vordergrund treten als bisher, da
das „herzogliche" Cabinet um seiner selbst willen mehr zurückzuhalten genöthigt
ist. Mit ihrem rechten Flügel, dem Altonaer Jessen, klammert sich diese Gesell¬
schaft noch an den Nationalverein — mit dem linken reicht sie den süddeutschen
Radicalen die Hand, zumal den schwäbischen. Würtemberg, wiewohl überwiegend
Protestantisch, hat dem Anschluß an Preußen von jeher am leidenschaftlichsten
widerstrebt. Aber bis vor etwa zwei Jahren folgte das Volk einigen gereiften
und verständigen Führern, deren weiterer Blick keine allzu naiven Regungen des
Sondergeistes aufkommen ließ. Ludwig Seegers Tod, Adolph Seegers unheil¬
bare und jetzt ebenfalls in frühen Tod ausgegangene Krankheit, der Uebrigen
Schwerfälligkeit hat eine Lücke geschaffen, in welche sich zwei Flüchtlinge mit
Emigrantenpolitik, Karl Mayer und Ludwig Pfau, und ein bisher verdunkeltes
jüngeres Licht, Oesterlen, alsbald einzudrängen verstanden haben. Dies ist die
durch den Letztgenannten in Darmstadt repräsentirte Beobachterpartei, gegen
welche Hölder und die andern Gesinnungsgenossen der Gebrüder Seeger einen
bis jetzt ziemlich unglücklichen Kampf zu bestehen haben. Ehe da nicht die neue
Generation neue Talente und Charaktere emporträgt, wird man sich daran ge¬
wöhnen müssen, Würtemberg als die Heimath der politischen Schwabenstreiche
anzusehen.
Die darmstädter Partei hat noch keine deutlich erkennbare Farbe aufge¬
pflanzt. Sie schillert noch trotz einer Eckardtschen Rede. Daß sie, als die
„Männer der That" in sich schließend, statt des Programms gleich mit einer
Action hervortreten werde, können wir dem schaulustigen Publikum leider nicht
in Aussicht stellen. Hinsichtlich des Programms aber stehen die Herren vor
einem Scheidewege, der ihre Herkulesrolle fast in die des „Peter in der Fremde"
zu verkehren droht. Die Würtemverger nämlich scheinen ihre Sehnsucht nach
der deutschen Föderativrepublik vorläufig noch bezwingen und als Männer, die
in ihrem Lande Einfluß, ja sogar ein paar Kammersitze innehaben, ein Ziel
aufstecken zu wollen, welchem man sich auf parlamentarischem Wege nähern
kann. So wenig ihnen Herr v. Varnbüler auch zu Willen ist, so sehr sie im
Grunde die Dynastien sammt ihrem aristokratischen Schweif hassen, ihr Marsch
geht einstweilen doch auf die Trias los. Es ist aus innern Gründen wahr¬
scheinlich, daß der ähnlich situirte Herr v. Neergaard ihnen dazu die Hand reicht.
Anders aber die Herren Eckardt und Büchner, die. da sie zu Hause völlig in
der Luft stehen, am liebsten auch auf Luftschlösser den Flug ihrer Gedanken
richten. In ihnen werden wir die Verfechter der Idee der deutschen Föderativ¬
republik verehren dürfen.
Welche Fahne wird schließlich zur Standarte der Partei erhoben werden?
Wenn sie als Partei beisammenbleibt, früher oder später — das däucht uns
unzweifelhaft — die Föderativrepublik. Die Trias, ein Homunculus aus der
Retorte des Preußenhasses, hat das künstlich-scheinbare Leben, das die Erhebung
für Schleswig-Holstein ihr im Anfang des Jahres 1864 gab, schon lange wieder
ausgehaucht. Der schwäbischen Beobachterpartei war Schleswig-Holstein sehr
gleichgiltig. ja langweilig, so lange es aus den dänischen Klauen zu reißen war
— aber in den Triasgedanken hat sie sich damals mit allem ihren antipreußischen
Fanatismus verbissen und kann noch heute nicht davon zurück. Im Uebrigen
denkt niemand mehr an dieses phantastische Geschöpf, dem selbst der nürnberger
Korrespondent, einer seiner Väter, nur höchst geheime Huldigungen zu widmen
wagt. Nicht einmal in Bayern, dem es soviel Glanz und Größe in Aussicht
stellt, hat es die Anfänge einer halbwegs dauerhaften Partei für sich zu Stande
bringen können. Als der Pfälzer Abgeordnete Umbscheiden einen derartigen
Versuch unternahm, protestirte im Namen seiner Freunde der ebenfalls bayerische
Abgeordnete Brater. Und jetzt, wo sich ähnliche Gelüste an die bevorstehende
Abgeordnetenversammlung knüpfen könnten, haben Brater und seine Freunde
wiederum eine Vorbesprechung der zur bayerischen Fortschrittspartei gehörenden Ab¬
geordneten nach Nürnberg ausgeschrieben, von welcher der dortige „Correspondent"
wohl nicht mit Unrecht vermuthet, daß sie bestimmt sei, Triaspläne in der
Geburt zu ersticken. Das Triasproject — sagt die unter Braters Auspicien
erscheinende Erlanger Autographische Korrespondenz — „will die Nation ablenken
von dem einzigen Ziel, das ihres Strevens werth ist. das sie treu und fest im
Auge behalten muß, um nicht abermals, wenn die günstige Stunde kommt, an
ihrer eigenen Rathlosigkeit und Zerfahrenheit zu scheitern."
Man darf hiernach wohl bezweifeln, ob die in Aussicht genommene zweite
Versammlung der „deutschen Volkspartei" in Nürnberg die Ergebnisse liefern
wird, welche die schwäbischen Triarier von ihr hoffen. Es ist ein richtiger Jn-
stinct, was von Darmstadt nach Nürnberg weist. Nürnberg ist die liberalste
Stadt Bayerns; der Radikalismus findet in ihr einen gewissen Boden. Wenn
es dort nicht gelingt, der neuen politischen Secte Bekenner zu werben, so muß
sie auf Bayern mehr oder weniger verzichten. Ohne Bayern aber, was wäre
die Trias? Dasselbe, was „Kleindeutschland ohne Preußen," d. h. Trias, d. h.
Unsinn. Aber ob Nürnberg Bekenner liefern wird — Nürnberg, in welchem
Brater und Cramer mit allen gegen eine Stimme zu Abgeordneten erwählt
sind, wo die Fortschrittspartei ihr Hauptquartier und ihr stärkstes Lager hat,
das möchte doch sehr fraglich sein. Herr Dr. Büchner ist allerdings neulich dort
gewesen und hat das Terrain studirt, allein daß er außer Ludwig Feuervqch.
dem verschollenen Anthrovomorphen, noch verwandte Seelen dort gefunden hätte,
ist nicht bekannt geworden.
So nehmen wir denn bis auf Weiteres an. daß der Ausgang ein still¬
schweigendes Bekenntniß zur Föderativrepublik und ein für die Oeffentlichkeit
bestimmtes Programm mit ein paar radikalen Lieblingsideen, als namentlich
Abschaffung der stehenden Heere, und mit ein paar Lockmitteln für den Arbeiter¬
stand sein wird. Zur Einsaugung des Arbeiterstandes haben die Gründer der
neuen Partei auch bisher schon Schweiß genug vergossen. Dr. Louis Büchner
war der Vorsitzende verschiedener Arbeiterversammlungen, in denen Lassalle auf¬
trat. Dr. Ludwig Eckardt. Agitator um der Agitation willen, hat seine wohl¬
lautenden Phrasen von jeher ebenso'gern an die „Brüder" aus den Fabriken
und Werkstätten als an einen Kreis strebsamer Damen verschwendet. Von
ihnen könnte auch das nöthige Kokettiren mit dem Socialismus, um einmal
erregte Massen zu reizen, erwartet werden, wogegen die schwäbischen Bundes¬
genossen abgesagte Feinde desselben sind und nichts wollen, als gründlichen
Politischen Umschwung. Wir sind neugierig, wie man sich aus dieser Schwierig¬
keit am Ende hcrauswickeln wird.
Ein Bündniß mit den mißvergnügten Genossen des Arbeiterstandes wäre
jedenfalls das Einzige, was der Partei nördlich vom Main einen leidlich der
Mühe werthen Anhang verschaffen könnte. Es würde sie wenigstens in einzelnen
größeren Städten und in den rheinisch-westphälischen Fabrikbezirken beglaubigen.
Ohne einen solchen zur Hilfe genommenen Leiter wird man — was ohnehin
der Erfahrung andrer auf ganz Deutschland berechneter Parteien entspricht —
über den ursprünglichen Kreis nicht erheblich hinaufdringen. Reichlich zwei
Drittel von Deutschland werden dann ganz außerhalb stehen bleiben. Die deutsche
Föderativrcpublik. eine Ausgeburt verzweifelnder Abwehr, nicht eines ursprüng¬
lichen schöpferischen Gedankens, wird mehr und mehr zusammenschrumpfen, bis
sie ihre geschwornen Anhänger eines Tags vor die furchtbare Alternative stellt:
Abfall vom Vaterland oder Unterwerfung unter die von der Mehrheit gewollte
Form des deutschen Reichs.
Der Verfasser hat ein sehr hübsches Talent sür die Schilderung von Land und
Leuten, einen gesunden Humor, gute Kenntniß seines Gegenstandes und die Gabe,
die Sprache des Volkes getreu zu reflectiren. Er hat endlich den großen Vorzug,
daß er verschmäht, nicht selbst Gesehenes und Untersuchtes zu geben. Seine Mit¬
theilungen sind darum besonders in Betreff von Sitte und Sage des Volkes durchaus
neu und frisch und somit auch neben Steubs anziehenden Bildern aus dem bayerischen
Gebirge der Berücksichtigung des Publikums zu empfehlen.
Wie die deutschen Volkssagen und der deutsche Aberglaube allmälig aussterben,
so sind auch die deutschen Handwerksburschenliedcr im Abblühen begriffen. Nament¬
lich die eigentlichen Zunftlieder werden nicht lange mehr im lebendigen Gesänge
bleiben. So war eine Sammlung dessen, was von diesem bunten lustigen Stück
deutschen Lebens noch übrig ist. ein sehr dankenswerthes Unternehmen, und der
Erfolg ist ebenfalls gut gewesen. Die hier gebotenen 141 Lieder — in drei Gruppen:
Zunst- und Preisliedcr, Handwcrksburschenlieder und Balladenartiges und Spottlieder
getheilt — sind großentheils aus dem Munde von Meistern und Gesellen selbst,
dann aus geschriebenen Liederbüchern, aus gedruckten Sammlungen und alten Hand¬
schriften genommen. Bei jedem Liede ist die Quelle und was dem Texte verwandt
ist, angegeben, so daß die Sammlung auch gelehrten Zwecken dienen kann.
Die vorliegenden Actenstücke sind aus dem Nachlaß des Livländers Merkel ge¬
nommen, jenes wunderlichen Kritikers und Lästerers Goethes und der Romantiker,
der, nachdem er in Deutschland in den Kreisen der schönen Literatur eine wenig
glänzende Rolle gespielt, sich als Publicist durch tapferes Auftreten gegen Napoleon
Verdienste erwarb. Der Sieg Napoleons über Preußen trieb Merkel nach Rußland
zurück, wo er seine Polemik gegen den französischen Eroberer eifrig fortsetzte und
namentlich aus Anregung des Generalgouvcrneurs Pauluzzi die Stimmung der mit
Napoleons großer Armee nach Rußland gekommenen preußischen Truppen zu bear¬
beiten suchte. Mit Pauluzzi vertraut geworden, erhielt er von diesem Abschrift von
der Correspondenz, welche hier nebst einem Lebensabriß Merkels und einer Biographie
Pauluzzis mitgetheilt wird. Jene Correspondenz besteht aus 38 auf die Unter¬
handlungen und Ereignisse, welche zur Convention von Tauroggen führten, bezüg¬
lichen Briefen Pauluzzis an Uork. den Kaiser Alexander, den Grasen Wittgenstein,
Fürst Kutusow, mehren Briefen Yorks. Alexanders u. f. w. Dieselben sind im fran¬
zösischen Original und zugleich in deutscher Uebersetzung mitgetheilt, welche letztere
wegen der an UnVerständlichkeit streifenden Eigenthümlichkeiten der Pcmluzzischcn
Schreibweise erforderlich war. Die erste Hälfte der Sammlung kann als Commentar
zu Droysens Bericht über die Convention dienen, die zweite bezieht sich auf Vorgänge
im russischen Hauptquartier, die Droysen nur kurz andeutet, ohne auf ihre Einzel¬
heiten einzugehen, die aber insofern von Interesse find, als sie zu Verwickelungen
führten, welche von Einfluß auf die Ereignisse des Januar 1813 waren. Außerdem
hat die kleine Schrift besondern Werth durch das ausgeführte Porträt Pauluzzis,
der nächst York die Hauptrolle in der vielverschlungenen Geschichte der Convention
spielt, und der auch sonst Anspruch auf unser Interesse hat, von dem man aber
gleichwohl bei Droysen und andern Historikern wenig mehr erfährt, als was sich
aus seinen Antheil an jener weltgeschichtlichen Uebereinkunft bezieht. So ist das Buch
Eckardts, welches beiläufig in den von ihm selbst gelieferten Stücken sehr wohl ge¬
schrieben ist, als werthvolle Ergänzung des classischen Werks von Droysen nach
verschiedenen Seiten hin zu empfehlen.
Der Verfasser, Docent in Kiel und vielfach verdient um die Sammlung von
Sitten, Sagen und anderen Aeußerungen des Schleswig-holsteinischen Volkslebens,
bietet hier in alphabetischer Uebersicht die Sprichwörter, Neckrcime, Schranken und
Schnurren, welche sich an die einzelnen Städte und Dörfer, sowie an ganze Land¬
schaften der Herzogthümer heften. Die Neigung, den Nachbar scherzend zu schrauben,
ihm eins anzuhängen, Orte durch ein bezeichnendes Wort wie durch ein Wahrzeichen
zu individualisiert, war bekanntlich im deutschen Mittelalter allenthalben verbreitet
und hat eine ganze Anzahl von Spitznamen und Stichelreden geschaffen. Jetzt existirt
sie vorwiegend noch im Landvolk, und wo dieses in einem Landstrich stark über¬
wiegt, leben jene Scherze noch besonders kräftig fort und werden auch wohl noch
vermehrt. So haben vor allem Schwaben, die deutsche Schweiz und Schleswig-
Holstein einen großen Reichthum an derartigen Volkswitzen auszuweisen. Aber auch
hier wird man täglich weniger aufgelegt zu solcher Neckerei, und so ist es sehr
willkommen zu heißen, wenn das noch Vorhandene von verständiger Hand zusammen¬
gesucht und vor dem Vergessenwerden in Sicherheit gebracht wird. Viel Geist ist
freilich in diesen Sachen nicht, und manches laust nur auf Klangspiele hinaus, wie
wir sie in Kinderreimen antreffen; indeß sind diese Sprichwörter und Reime doch
ein Beitrag zur Kunde der Denkweise und Sprache des niedern Volkes, und in
einigen derselben birgt sich selbst ein ernster historischer Kern.
Dante Allighieris Göttliche Komödie. Uebersetzt von Karl Witte.
Mit einem Titelbilde in Photographie. Berlin bei Rudolph Ludwig v. Decker. 1865.
Witte ist wohl der beste Kenner Dantes in Deutschland, seine Uebersetzung (in
nicht gereimten fünffüßigen Jamben, was wir im Hinblick auf den Charakter des
Italienischen und des Deutschen vollkommen gerechtfertigt finden) giebt wohlklingend
alles was möglich vom Original wieder; eine einleitende Charakteristik des Dichters
und seines Werkes und zahlreiche Anmerkungen vervollständigen, was zum Genusse
der Dichtung erforderlich ist.
Schon lange war es die Absicht, Schinkel, dem Manne, der seinen und Ruvvins
Namen so weit hin getragen, als die Kunst menschliche Herzen gewonnen, ein Denk«
mal in seiner Vaterstadt zu setzen. Das lebhafte Interesse, daß sich auch in weiteren
Kreisen immer schon dafür kundgegeben und noch jüngst den berliner Architekten-
Verein zu einer Anfrage deshalb hierher veranlaßt hat, hat den Magistrat der Stadt
Neu-Ruppin bestimmt, die Sache jetzt in die Hand zu nehmen und zunächst zur
Einleitung der nöthigen Schritte ein städtisches ComitS für das Schinkel-Denkmal
in der Person der Unterzeichneten zu wählen.
Es wird beabsichtigt vor dem Gymnasium, der ersten Bildungsstätte Schinkels,
gegenüber der Statue Friedrich Wilhelm des Zweiten, zu der Schinkel ja auch selbst
den Entwurf gefertigt, des Meisters Denkmal aufzustellen. Zur endgiltigen Ent¬
scheidung über die Ausführung wird das Comitö sich noch durch Sachverständige
verstärken, namentlich sofort den berliner Architektenverein ersuchen, eines seiner Mit¬
glieder in das Comite zu deputiren.
Zunächst kommt es darauf an, die Theilnahme für die Sache zur allseitigen
Bethätigung zu wecken. Deshalb ergeht an alle Freunde des großen Meisters der
Aufruf, sowohl selbst dazu beizusteuern, als auch Sammlungen dazu anzuregen,
damit das Denkmal würdig ausgeführt werden könne. Die Unterzeichneten sind zur
Entgegennahme von Beiträgen bereit, über die sie zunächst im hiesigen Anzeiger
Rechnung legen werden.
Die Briefe, welche in diesen und den folgenden Heften abgedruckt werden,
enthalten nur an einer Stelle einen erwähnenswerthen Beitrag für die Kriegs¬
geschichte jener Jahre, aber sie werden doch den Lesern d. Bl. unterhaltend und
lehrreich erscheinen. Der Schreiber, ein Herr von Bose, war zuerst Hauptmann,
dann Major in dem Contingent, welches Sachsen-Meiningen 1807 zur Rhein¬
bundarmee stellen mußte. Dieses Contingent, das mit den Compagnien der
andern Herzoge von Sachsen ein besonderes Regiment bildete, nahm 1807 an
der Belagerung Kvlbergs, 1809 am Krieg in Tirol, 1810 an dem in Spanien
Theil, rückte 1812 über Hamburg und Danzig nach Polen und kehrte im Juni
1813 heim.")
Der Schreiber der folgenden Briefe hat die Belagerung von Kolberg, einen
Zug nach Spanien, den Zug gegen Rußland und die Belagerung Danzigs
auf französischer Seite mitgemacht. Als sein Regiment 1807 zur französischen
Armee auszog, war es für ihn nicht die erste Campagne, er hatte schon im
Feldzug von 1793 gegen Frankreich blutige Arbeit gesehen und eine Wunde
erhalten. Er war ein honnetter Edelmann, vor seinen Leuten und unter seinen
Kameraden «in beliebter Offizier, er hatte sich auch nach dem Feldzuge, so lange
er lebte, civiler Achtung und Liebe zu erfreuen, in seiner Familie erwies er sich
als liebevoller Gatte und Vater, als ein einfaches, ehrliches Gemüth; der Leser
>vird für alle diese guten Eigenschaften in den folgenden Mittheilungen ge¬
nügenden Beweis finden. Wenn der Briefschreiber in seiner Korrespondenz
nicht grade geniale Ansichten ausspricht und in seiner Erdenstellung als Ne-
gimentsoffizier nicht überreiche Gelegenheit hat, die Geschicke seiner Zeit ge¬
stalten zu helfen, so ist dem späten Leser vielleicht um so eher möglich, aus
seinen Mittheilungen Gemeingiltiges zu entnehmen und zu erkennen, wie im
Anfange unseres Jahrhunderts ein Offizier des Rheinbundes war und dachte,
der offenbar ein wenig über dem mittleren Durchschnittsmaß damaliger Negi-
mentsbildung stand. Und wie zu hoffen, wird nach dieser Richtung dem Ge¬
dächtniß des braven, jetzt längst geschiedenen Herrn von Bose alle Ehre ge¬
schehen.
Aber die Wahrheit zu sagen, die Briefe werden hier nicht nur abgedruckt,
um zu zeigen, was der Schreiber derselben besaß, sondern auch was ihm — ohne
seine Schuld — fehlte. Er hatte kein Vaterland, das Thal von Meiningen
ausgenommen, in dem er seinen Ofsiziersrock trug, und er war Soldat in einem
kleinen Contingent des Reiches. Das Regiment der sächsischen Herzogthümer
gehörte zu den besseren der kleinen Territorien des römischen Reiches. Es hat
Bravour bei mehren Gelegenheiten erwiesen. "°Und doch zeigen diese Briefe,
wie schwer auch einem tüchtigen Offizier wurde, in den Verhältnissen eines
Kleinstaates kriegerischen Sinn in sich lebendig zu erhalten. Dem Schreiber
war im Ganzen gleichgiltig, auf welcher Seite er kämpfte, die Preußen waren
im Reiche nicht beliebt und die Oestreichs auch nicht, beim Kaiser von Frank¬
reich war vielleicht noch die beste Aussicht, er war wenigstens ein genialer Feld¬
herr; aber die Campagne war überhaupt eine saure, unwillkommene Pflicht.
Die Trennung von Weib und Kind, die Unterhaltung und die gute Pfeife
Tabak im heimischen Kasino, die kleine Wohnung, welche die Frau so freund¬
lich eingerichtet, und die gute Kost, die sie ihrem Mann zu bereiten weiß, haben
übergroße Wichtigkeit gewonnen, die Grüße und die Wertschätzung der Bürger,
die Händel mit irgendeinem Gegner bei der Regierung und die gnädigen
Worte der lieben Frau Herzoginwerden auch von einem Mann von Cha¬
rakter schmerzlich entbehrt. Er thut im Felde gewiß in allen Stücken seine
Pflicht, er erträgt die Strapazen geduldig und mit guter Laune, er ist mann¬
haft bemüht, seiner Gattin guten Muth zu erhalten, ja auch der Ehrgeiz des
Soldaten flammt zuweilen in ihm auf, er fühlt sich zuletzt stolz, eine kriegsharte
Compagnie zu commandiren. Aber der Gedanke an die Heimath seine
kleinen Kinder, an die Freunde, die gute Küche und das Schweinchen, ^ zu
Haus gemästet wird, sind in ihm doch die stärksten Gefühle. Das erkennt man
nicht daraus, daß er in Briefen an seine Gattin dergleichen her hebt; d
das wäre natürlich, sondern aus dem ausführlichen Behagen uno de" ti
Sehnsucht, womit er dabei verweilt.
Er kehrt glücklich zurück, wer mag es ihm verdenken, daß in diesem
Krieg nichts fand was sein Herz erhob. —-
Die Mittheilung seiner Korrespondenz, welche hier folgt, enthält die Cam-
Pagne von 1807. Ueber die Belagerung von Kolberg wird man nichts Neues
erfahren, und es ist natürlich, daß der Schreiber sowohl aus Vorsicht, als weil
er an eine Frau schreibt, die militärischen Operationen nur kurz erwähnt. Da¬
gegen ist vieles andere, die Urtheile des Briefschreibers über die fremden Ge¬
genden und die Mittheilungen über die eigene Compagnie ergötzlich. Die Sorge
um Desertion, der persönliche Haß gegen die Deserteure, die gemüthliche Weise,
in welcher er durch seine Frau Rapporte an sein Ministerium sendet, Zahlungen
an die Frauen seiner Soldaten besorgen läßt, dies und anderes giebt einen
guten Einblick in die militärischen Verhältnisse der kleinen Contingente in jener
Zeit. Die folgenden Briefe werden hier so mitgetheilt, daß alles, was nicht
irgendwie charakteristisch schien, weggelassen ist.
Schwallungen, 11. März 1807, morgens 5 Uhr. - Glücklich und gesund
bin ich, mein theures Weib, gestern hier angekommen und marschire in einer
Stunde wieder ab. Es war ein schrecklicher Abmarsch für uns aus Meiningen
Wegen des Gedränges des Volks, besonders für mich, der ich allein alles in
Ordnung halten sollte, doch hatte ich den Vortheil davon, daß ich das Schmerz¬
liche der Trennung im Augenblick weniger fühlte. Meine Compagnie hat sich
im Ganzen weit besser betragen, als ich es geglaubt hätte, nur der einzige Butz
war ein Schwein. Gott gebe, daß ich nur recht bald von Deinem und der
Kinder Wohlsein Nachricht bekomme. — Ewig der Deinige.
Standquartier Sundhausen.bei Gotha, 13. März 1807. —> Heute Mittag
um 12 Uhr, mein theures Weib, bin ich hier eingerückt, wo ich wenigstens bis
den künftigen Montag liegen bleibe, ehe wir weiter marschiren. Unser Marsch
war heute und gestern sehr gut, meine Compagnie führt sich recht sehr gut auf,
und noch ist nicht die kleinste Klage eingelaufen. Denke Dir, meine Beste,
meine Freude — ich habe noch nicht einen Deserteur! — Hier kam mir gleich
ein Offizier von Gotha entgegen, der mir von Seiten des Regiments das
Willkommscompliment brachte, und zu gleicher Zeit Donop, der mir Deinen
lieben Brief brachte, aus dem ich sehe, daß Du und die Kinder gesund sind,
und mich wirklich ganz glücklich machte.
Standquartier Sundhausen bei Gotha, 13. März 1807. — In diesem
Augenblick — es ist 6 Uhr — empfange ich Deinen lieben Brief, und es ist
Mir ein wohlthätiges Gefühl zu denken, daß Du vielleicht eben auch jezo meinen
gestrigen empfängst. — Du bist in Sorgen gewesen wegen meiner Gesundheit?
wein gutes Weib, ich befinde mich recht sehr wohl, wie konnte es in Meiningen
bie letzten Tage anders sein, als daß ich blaß aussehen mußte, da keine Stunde
ohne Sorgen und Aerger mir verging. Gott sei gedankt, daß diese Tage
glücklich überstanden sind. — Es freut mich sehr, daß ich in Meiningen so
VAe gute Freunde habe, auch bei meinem Ausmarsch haben mich Leute mit
Thränen umarmt, von denen ich diese Theilnahme wirklich nicht Erwarten konnte.
Allein jedermann mußte auch mein Schicksal interessiren, einen solchen Marsch
anzutreten, wo erst wenig Tage zuvor mein so geliebtes Weib in die Wochen
gekommen war! Doch um so fröhlicher soll unser Wiedersehen sein. — Ich
muß Dir auch ein Commando bei der Compagnie anvertrauen, nämlich der
Feldwebel Crisien und der Sergeant Kreil haben ihren Weibern täglich 15 Xr.
ausgemacht, dieses Geld will der Herr Lipfert jeden Monat nebst Deinen
L0 si. zustellen. Du bist dann so gut und läßt die Weiber zu Dir kommen
und zahlst ihnen das ihrige aus. Beide Unteroffiziers lassen Dich bitten, daß
Du so gnädig wärst und thätest ihnen dieses zu wissen. — Auch sei so gut
und schreib dem Herrn Major in einem versiegelten Billet, daß ich vergessen
hatte ihm zu schreiben, daß in Gotha noch kein Exercierreglement fertig wäre
und wir alle noch im Dunklen tappten. — In Gottes Schutz Dich liebes
Weib. —
Sundhauscn, 14. März 1807. — Heute morgen, gleich nachdem ich meinen
Brief an Dich von gestern abgeschickt hatte, bekam ich die für mich so unan¬
genehme Nachricht, daß 4 Mann diese Nacht desertirt waren. Zu gutem Glück
waren es gerade 4 der elendesten Kerls in 'aller Rücksicht, und wäre mir sehr
leid, wenn einer davon wiedergekriegt würde. Allein es ist doch ein böses
Beispiel, und nur um so ärgerlicher, da ich gestern noch mit frohem Herzen
nach Meiningen schreiben konnte, es wäre mir noch keiner desertirt, und nun
bin ich auf der Stelle dafür bestraft worden. Sage dem P.. ., nichts sei
Schuld an dieser und noch mancher Desertion, die folgen wird, als daß man
denen neugeworbenen Leuten nicht hinlänglichen Unterricht über ihre Löhnung
gegeben habe; wie Du aus meinem Tagebuche ersehen wirst, war gestern ein
Aufstand in meiner Compagnie (während ich abwesend war), sie wollten die
gewöhnliche Löhnung nicht nehmen, sondern viele behaupteten, ihnen wäre in
Meiningen mehr versprochen worden. Sobald ich dieses in Gotha erfuhr,
kehrte ich schnell zurück und stellte durch Ernst die Sache wieder her, indem
ich die ganze Compagnie zusammenrief und sehr scharf gegen sie verfuhr. —
Einem jeden Offizier ist es nicht gegeben, mit dieser Art Menschen umzugehen.
— Schicke mir doch ja jedesmal die Wochenblätter mit; denn die ganze Com¬
pagnie freut sich sie zu lesen. — M. Einen Deserteur habe ich wieder, nämlich
den Fischer, den ich nicht mitnehmen wollte, weil seine Frau ein Kind hatte. —
Marschquartier Allseele, 20. März 1807. — Heute, mein theures Weib,
haben wir hier in einem allerliebsten Städtchen Rasttag, besonders habe ich ein
ganz vortreffliches Quartier. Die Frau Räthin Holdefreund ist die Tante
meiner Frau Hauswirthin, und der Sohn vom Hause, der Hofadvocat ist, er¬
innert sich mit vielem Vergnügen seiner ehemaligen Bekanntschaft mit Lottchen.
— Unsere Märsche bis Hieher sind sehr stark und beschwerlich gewesen, besonders
der gestrige, wo wir vom Anfang schlecht Wetter hatten und die Leute mehre
Stunden in tiefem Koth waten mußten, auch wurden sie so mißmüthig, daß
viele Unordnungen passirt sind und in zwei Dörfern mit sehr unanständiger
Gewalt Wagens beigetrieben wurden. Meine Compagnie ist zwar nicht ganz
unschuldig gewesen, doch hat sie am wenigsten gesündigt. Ich für meine Person
befinde mich so wohl und marschire so leicht, daß ich mich nach keinem Wagen
noch habe umzusehn brauchen. — Alles wäre ja wohl nach denen Umständen
so weit sehr gut. wenn ich nicht die erschreckliche Desertion hätte, bis heute habe
ich 28 Mann verloren. Als die schönste Compagnie schloß ich mich an das
Bataillon an. und jezo habe ich die unansehnlichste, stecke darin, daß man mich
kaum gewahr wird, und bin ganz muthlos geworden, denn wenn wir nunmehro
in das preußische Land einrücken, dann fürchte ich sehr, werden meine Preußen
auch davon lausen. Ich vermuthe, daß viele in der Dummheit nach Meiningen
zurückgelaufen sind, wenn nur keiner davon wieder zu meiner Compagnie kommt,
denn nimmermehr kann ich so einem schlechten Kerl diese Desertion verzeihen,
zu der sie gar keine Ursache hatten, denn noch bis jezo haben sie die besten
Quartiere gehabt und können sich über nichts ^beschweren. — Noch hat mich
die gute Laune nur auf Augenblicke verlassen, wollte Gott dies wäre auch der
Fall bei Dir. —
Magdeburg, 24. 'März 1807. — Soeben, mein gutes liebes Weib, kommen
wir in dieser so berühmten Festung an, und haben morgen Rasttag hier. —
Der heutige Marsch war zwar sehr stark und für mich um so verdrießlicher,
weil der große Krech (der bei unserm Becker wohnte) gestern ein Complot mit
3 andern gemacht hat, und diese Nacht von der Wache dcsertirt ist. Du kannst
leicht denken, wie kränkend dieses für mich sein muß, da ich nun schon 32 Mann
verloren habe, wovon die meisten aus unserm Land sind. —
Wir haben nun schon 5 Tage in einem vortrefflichen, reichen und schönen
Lande marschirt, wo alles im Ueberfluß ist, nur kein Holz, die Wege sind zwar
wegen Mangel an Steinen und wegen des fetten Bodens, wenn es regnet,
ganz fürchterlich schlecht, allein heute haben wir beinahe den ganzen Marsch
auf Chaussee gemacht. — Hier in Magdeburg liegt eine wahre Mustercharte
der französischen Armee, da giebt es weiße, blaue, graue etc. Soldaten, Depots
von aller Sorte, Leute, die erst in Stand gehest werden, Durchmarschirende.
Rasttag Haltende, kurz, niemand weiß, was hier liegt, als der Commandant
allein. Uebrigens ist es eine sehr schöne Stadt und unbegreiflich wird es stets
bleiben, wie der preußische Commandant v. Kleist diese vortreffliche Festung
auf eine solche feige Art hat übergeben können d. 25. März. Die Musterung
ist zu meiner großen Zufriedenheit vorbei, weil ich dabei den Dolmetscher habe
machen müssen, indem ich leider der einzige Offizier des Bataillons bin, der
Französisch kann. Der General und Gouverneur hier ist schon ein alter Mann
und sehr zufrieden mit meiner Compagnie gewesen, o ich hätte heute vieles
darum gegeben, wenn ich meine bösen 32 Deserteurs dabei gehabt hätte. Wir
marschiren denn nun gerade auf Stettin los. — Nun lebe recht wohl, liebes
einziges Weib, bleibe mit Deinen lieben Kindern immer recht gesund und schone
Dich ja auf alle Art und Weise für mich und Deine Würmer. Gott wird es
ja geben, daß ich recht bald in Deine Arme zurückkomme. —
Berlin, 30, März 1807, Mittags 12 Uhr. — In diesem Augenblick komme
ich in Berlin an und steige bei unserm Oberstallmeister ab. Der Geheime
Rath von Thümmel von Gotha, der auch hier wohnt, will gleich einen Courier
nach Gotha schicken und mit dieser Gelegenheit wollen diese Herrcns mir er¬
lauben, ein kleines Briefchen an Dich beizulegen. Vor allen Dingen muß ich
Dir sagen, daß ich mich noch außerordentlich wohl befinde. — Heute macht
das Bataillon einen Weg von 11 Stunden, ich für meine Person bin mit dem
Major v. Kessel, der uns commentirt, in einer Chaise voraus und habe dem
hiesigen Gouverneur General Clarke unsere Ankunft melden müssen. — Allein
der Herr General waren nicht sehr gnädig auf uns zu sprechen, weil uns unter-
wegens so viele Mannschaft desertirt war, es ist wahr, die Desertion war er¬
schrecklich, besonders bei der Compagnie des Hauptmann von Bünau. Wir
haben beinahe 200 Mann verloren, davon ich 45. Morgen haben wir hier
wieder Musterung, und dann geht es über Küstrin nach Stettin los. — Ewig
der Deine. —
Landsberg an der Warthe, 7. April 1807. — Du wirst Dich wundern,
von hier aus von mir Nachricht zu bekommen, da ich Dir doch von Berlin
Nachricht gab, daß wir nach Stettin kämen, allein noch denselben Tag wurde
ich zu dem Gouverneur von Berlin, General Clarke, gerufen, der mir sagte,
daß er Befehl vom Kaiser erhalten habe, uns nach Landsberg zu schicken, um
die beiden Flüsse die Warthe und die Netze zu decken, auch, daß das Contingent
von Weimar, welches schon in Stettin stand, hier zu uns stoßen würde. Wir
mußten zwei Tage in Berlin bleiben, die wir Offiziers denn so gut als möglich
benutzten, um alles Merkwürdige in der Geschwindigkeit zu besehen. Bormittags
hatten wir zweimal Musterung bei dem General Clarke und bei dem Comman¬
danten Hulin. dann wurde das Offizierscorps zum Mittagessen bei dem Gou¬
verneur gebeten. — Berlin ist eine wunderschöne Stadt und gewiß die erste in
Europa; vom Krieg wird man dort nichts gewahr als eine Menge fremder
Soldaten, sonst erblickt man nichts als Luxus und Freude. Alle Lebensmittel
sind gut und für eine solche große Stadt in einem sehr billigen Preise, jeder
Marktplatz mit allem, was man zur Nothdurft, zum Nutzen und Vergnügen
braucht, überladen. Ganze Berge Obst, lange Reihen blühender Rosen-, Lev-
coyen-, Lack-, Nelken- und andere Stöcke, alle Arten Geflügel, Wildpret, Back¬
werk u. dergl., dazwischen unabsehbare Reihen von Menschen von allen Classen
und Ständen, geputzte Damens und Herren, schmutzige Lastträger und liederliche
Weibsbilder, Offiziers in der Staatsuniform und Sansculotten mit der Kneller-
pfeife im Munde, alles dieses wechselt und drängt sich stets unter und durch¬
einander im bunten Gewühle. Die Stadt selbst ist von Palästen erbaut,
selten und nur in denen Endgäßchens erblickt man einmal ein kleines Häuschen,
alle Straßen breit, meistens gerade und rechtwinklig durchschnitten, wie ein
Theil von Erlangen. Aber das Sittenverderbniß in dieser Stadt ist auch über
alle Beschreibung. Man ist am hellen Tage nicht im Stande über die Straßen
zu gehen, ohne der Anfälle einer Menge Freudenmädchen ausgesetzt zu sein.
Abends und Nachtszeit kann man sich nur durch starke Arme und herzhafte
Rippenstöße den verwünschten Zudringlichkeiten dieses Auswurfs des menschlichen
Geschlechts entziehen. Die fürchterlichsten Krankheiten haben schrecklich über
Hand genommen, und eine große Anzahl Soldaten, Franzosen und Deutsche,
liegen in den dortigen Hospitälern an unheilbaren Krankheiten darnieder und
verfaulen im eigentlichsten Verstände bei lebendigem Leibe. Du kannst leicht
denken, in welchen Sorgen wir um unsere ehrlichen Meininger und Altenburger
waren, denen dieses alles neue Erscheinungen waren, die nicht begreifen konnten,
daß in Seide gekleidete und in bloßen Haaren mit großen Shawls angethane
Damen ihnen zuriefen, sie in schöne Häuser zogen und an Hellem Tage mit
der größten Frechheit anredeten. Unsere Warnungen halfen zum Theil. —
Bon Berlin bis Hieher haben wir eine äußerst traurige Gegend durchreist, eine
elende Sandwüste, die noch dazu durch den Krieg schrecklich mitgenommen
worden ist. Da war kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett, kein Fenster. Fleisch
und Brod nahmen wir aus den nächsten Städtchens mit, damit wir nicht ver¬
hungerten, bis wir dann hier an der polnischen Grenze anlangten. Landsberg
ist an und vor sich ein recht angenehmes Städtchen, grade in der Größe von
Meiningen, nur daß die Vorstädte es größer machen. Ich für meine Person
habe durch Zufall das beste Loos getroffen. Mein Quartier liegt an dem
Thore der Stadt, ein sehr schönes Haus, dessen Hintere Seite an die Warthe
dicht angebaut ist; dieses ist ein schöner schiffbarer Fluß, und den ganzen Tag
gehen unzählige Schiffe mit Segel unter meinem Fenster vorbei, die nach Küstrin
(welches nahe bei uns liegt und durch das wir gekommen sind) mit Kriegs¬
bedürfnissen gehen oder daher kommen. Aus allen preußischen, polnischen und
andern Provinzen kommen täglich bei meinem Hause Schiffe an oder gehen ab.
Da Du nun weißt, welcher Freund von einem schiffbaren Flusse ich von jeher
war, da Du Dir das geschäftige Gewühl dieser Menschen grade unter meinem
Fenster und die herrliche Aussicht Stunden lang über diesen Fluß leicht denken
kannst, dazu noch, daß die eine Seite des Hauses an die Gärten der Stadt
stößt, die jetzo grade bestellt werden, so kannst Du Dir einen kleinen Begriff
machen, mit welcher Zufriedenheit ich hier von den Strapazen ausruhe. Zu
diesem allen nimm noch, daß mein Herr Hauswirth in der untern Etage eine
Art Kaffeehaus mit einem Billard hat, wo alle Nachmittag sämmtliche Offiziers
unseres Bataillons, wie auch die von Weimar, die jetzo auch hier angekommen
sind, zusammenkommen, daß meine Hausleute die bravsten Leute, die man treffen
kann, sind, daß sie alles thun, was in ihren Kräften steht, um mich zufrieden zu
stellen, daß sie zufrieden sind, endlich einmal eine deutsche Einquartirung zu
haben, daß ich jede Mahlzeit einen Fisch aus der Warthe bekomme, weil ich
mich verlauten ließ, daß dieses ein Leibgericht von mir sei, und daß ich diese
Wohnung mit meinem besten Freund vom Bataillon, dem Hauptmann von
Spiller (Schwager vom Hinkeldey) theile, so kannst Du Dir denken, daß meine
Lage für diesen Augenblick beneidenswerth ist. Da aber keine Freude ungetrübt
genossen werden kann, so geht es auch hier: es hüpft seit meinem Eintritt ins
Haus ein lieber Knabe, grade wie Ferdinand, immer an meiner Hand herum,
sitzt in diesem Augenblick zu meinen Füßen und spielt — ach und erinnert
mich den ganzen Tag schmerzlich an meine lieben Zurückgelassenen, ost rührt es
mich zu stark und ich muß alles verlassen und mich auf eine Zeit lang ein¬
schließen. — Das Unangenehmste von unserer Lage ist, daß es scheint, daß der
Herr Oberst von Egglvffstein von den Weimarischen, unter dessen Kommando
wir stehen, uns zu chikaniren sucht, er plagt uns nicht allein gewaltig mit
Exerciren, ohngeachtet wir erst seit zwei Tagen hier stehen, sondern hat auch
heute befohlen, daß zwei Compagnien von uns morgen wieder aufmarschiren
müssen, um die Städte Driesen und Friedeberg zu besetzen, wodurch nun unser
freundliches kleines Bataillon zerrissen wird und die zwei Compagnien, die
hier bleiben, sehr viel Garnisondienst thun müssen. Sein Bataillon behält er
schön zusammen und macht einen großen Unterschied zwischen uns und ihnen,
dieses macht uns alle sehr mißmüthig. und ich glaube immer, die beste Zeit
haben wir verlebt, bis wir wieder von diesem lieben jungen Mann wegkommen.
Ich für meine Person genieße noch immer die größte Achtung und Freundschaft
vom ganzen Bataillon, vom Major an bis zu dem letzten Tambour, wozu
hauptsächlich meine französische Sprache beiträgt, welche ich überhaupt jetzo um
keinen Preis dahingäbe, denn erstlich thue ich damit dem Bataillon stets den
größten Gefallen und ich habe Gelegenheit, eine Menge berühmter französischer
Generale zu sprechen und kennen zu lernen. Vom Krieg erfährt man hier in
der Nähe von den Armeen weniger als bei Euch, wir haben hier in der Gegend
nur einen kleinen Feind, dieses ist ein Apotheker aus der hiesigen Gegend, der
die Deserteurs von den Preußen und von unserer Armee auffängt und mit
diesen eine ordentliche Räuberbande bildet, die den Bauern die Pferde aus dem
Stalle stehlen und sich beritten machen und nun suchen, wo sie etwas zu rauben
bekommen. Diese Woche ließen sich etliche 20 Mann dieser Menschen bei einem
Transport sehen, den unsere Leute (die nicht so stark waren) zu Land nach
Küstrin führten, allein schon bei dem ersten Feuer, das unsere Leute machten,
nahmen sie die Flucht. Doch haben sie schon einigen Schaden den Franzosen
auf dem Flusse gethan, jetzo wird täglich nach diesem Gestndel patrouillirt.
Grüße und küsse alle Freunde und Bekannten und Verwandte, und sei versichert,
daß kein Augenblick vergeht, daß ich nicht mit derselben schmerzlichen Empfindung
an Dich und die lieben Jungens denke, wie am ersten Tage des Marsches.
Ganz gewiß hoffe ich auf baldigen Frieden. — Bis Berlin habe ich 45 Deser¬
teurs gehabt, von daher keine mehr. Leider haben die andern Compagnien
noch mehr, aber Weimar nicht so viel. Leb wohl, liebe Seele und bleib recht
gesund, fürchte für mich nichts, noch bin ich auf kein Pferd noch Wagen ge¬
kommen, immer gesund gewesen und auch an Polens Grenze brave Leute ge¬
troffen, es wird ferner auch gut gehen. —
Feldlager vor Kolberg, 14. Mai 1807. — Vor allen Dingen lasse ich
mich und alle Soldaten unseres Contingentes unserer gnädigsten Frau Herzogin
zu Füßen legen und versichere, daß wir sämmtlich jeden Tag mit Freuden für
ihren Dienst ins Feuer gehen und ihr Name jedesmal unser fröhliches Feld-
geschrei ist, daß bis heute noch jeden Tag wir im Angesicht des Belagerungs¬
corps mit Ehre uns geschlagen haben, wovon ich die Beweise stets beibringen
werde. Ja, daß man mit Mühe die jungen Leute, besonders die Schützen, in
ihrem Diensteifer zurückhalten muß, auch hat Gottes Hand sichtbarlich über uns
gewaltet —noch ist kein Mann blesstrt, geschweige getödtet worden, ohngeachtet
rechts und links neben uns dieses oft geschehen ist. Zum kleinen Gewehrfeuer
bin ich für meine Person noch nicht gekommen, sondern blos Lieutenants, allein
mehre von uns haben sich in allen Gefechten besonders ausgezeichnet. Wir
stehen im Angesicht von Kolberg und der Ostsee, die nahe vor uns liegt, in
einem Hüttenlager von Rasen aufgebaut, nur schade, daß wir auf einem morastigen
Grund liegen und es noch immer fürchterlich kalt ist. — Wir müssen oft
10 — 12 Stunden weit nach Lebensmitteln schicken, die dann theuer kommen,
denn näher hierher ist das Land ganz aufgezehrt und die paar Dörfer stehen
ohne Einwohner verheert da. Um Mitternacht geht gewöhnlich die Kanonade
an, wo wir bis der Tag anbricht ins Gewehr treten. Dann rücken wir in
unsere Hütten ein und sehen mit einer Pfeife schlechtem Taback denen zu, die
sich schlagen müssen, welches so nahe bei uns geschieht, daß wir deutlich alle
Leute erkennen können. — Heute fangen wir an die Festung mit großen Ka¬
nonen ernsthaft zu beschießen, von diesem prächtigen Feuer ist keine Beschreibung
zu machen, wir sind es schon seit ein paar Stunden so gewohnt, daß kein
Soldat mehr deswegen aus der Hütte sieht. —
Feldlager der Belagerung vor Kolberg, 18. Mai 1807. — Treues liebes
Weib. Nur wenige Zeilen schreibe ich Dir von hier, nicht daß ich Zeit genug
hätte, sondern ich schreibe auf einem Stück Rasen knieend. — In wenig Tagen
mehr. Sehr gesund — oft vergnügt — aber nie zufrieden. — Zwar, liebes
Weib, sind wir hier auf keinem Rosengarten, doch ist es erträglich. — Kein
Geheimniß kann ich, wie Du weißt, nicht mehr vor Dir haben. Also, gutes
Weib, wir stehen stark vor dem Feind, seit heute 3 Wochen hat man auf uns
mit Kanonen geschossen. Gottes Hand hat über uns gewalten, kein Todter,
kein Blessirter, gestern hatten wir ein Schützengefecht der Schützen unsers Regi¬
ments, welche im Angesicht des ganzen Corps, welches hier steht, brav fochten. —
Feldlager vor Kolberg, 4. Juni 1807. — Von der Freude, die alle Leute
des Regiments haben, wenn Briefe aus dem Vaterland kommen (und wir alle
haben jetzo nur ein Vaterland), kann sich kein Mensch, der es nicht sieht, einen
Begriff machen. Ueberhaupt ist es jetzo oft rührend anzusehen, mit welcher
Innigkeit Offiziers und Soldaten dieses so zusammengesetzten Regiments sich
anschließen; so oft Leute von einem gefährlichen Posten oder aus einem Gefecht
zurückkommen, so eilt das ganze Lager, welches zurückgeblieben ist, immer mit
Freudengeschrei ihnen entgegen und führt sie fröhlich zurück, meistens haben
dann schon die Zurückgebliebenen nothdürftig für sie gekocht, etwas für sie
aufgehoben, ihre Baracken in Ordnung gebracht, Wasser geholt oder sonst alle
kleine mögliche Dienste für sie im voraus besorgt. Wenn wir vor unsern
Augen unsere Kameraden im Feuer der Kanonen oder des kleinen Gewehrs
sowohl im Gefecht als an der Schanzarbeit sehen, dann versichere ich Dir, daß
die Zuschauer mehr in Sorgen sein als die Theilnehmer. Gottes allmächtige
Hand hat noch immer über mir und den mir anvertrauten Soldaten gewaltet,
noch hat uns kein Unglück gerührt. Den ersten Pfingsitag hatten wir des
Nachts eine sehr ernsthafte Attaque auf eine preußische Schanze. — Den dritten
Pfingstfeiertag hatten wir wieder einen harten Stand, wo ein Mann vom
gothischen Contingent getödtet, einige blessirt und gefangen wurden. Ich für
meine Person commandirte diesen Tag in einer Redoute, die mit Leuten unseres
Regiments besetzt war und einige große Kanonen hatte, diese Kanonen ließ ich
dann fleißig zur Unterstützung unserer Leute auf mehre Punkte gebrauchen.
Vermuthlich mochte dies den Preußen wichtig scheinen, denn in Zeit von 2
Stunden zog ich das Feuer mehrer Batterien der Festung auf mich, welches
von 2 Uhr bis 6 Uhr des Nachmittags dauerte und ziemlich heftig war. —
Besonders großen Schaden thun uns zwei feindliche Schiffe, wovon eines 36
und das andere 20 große Kanonen führt, diese legen sich jeden Tag nahe an
das Ufer, wo grade unsere Arbeit ist und machen ein fürchterliches Feuer,
welches mit Wahrheit zu sagen gräßlicher aussieht und lautet, als es in der
Wirklichkeit ist, doch stört es oft unsere Arbeit. Dieses, mein liebes Kind, sind
die Unannehmlichkeiten meiner Lage, übrigens hat sie sich seit meinem letzten
Brief an Dich sehr gebessert. Ich lebe jetzo in meiner hübschen geräumigen
Hütte, habe hinlänglich trocknes Stroh zum Lager, sitze auf einer Bank, habe
ein großes Brett zum Tisch und esse mich jeden Tag recht satt in Eierspeisen
oder Seefische, trinke jeden Tag IV2 Bouteillen mittelmäßiges Bier und mit
meinen 4 Herren Tischgenossen, die ich Dir in meinem letzten Brief genannt
habe, eine Bouteille Wein, welche wir glauben unserer Gesundheit schuldig zu
sein, da das Wasser aus einem schmutzigen Morast geschöpft wird. — Unsere
Freistunden wenden wir auf vielerlei Art an. So haben die Unteroffiziers
meiner Compagnie unter meiner Aufsicht ein schönes großes Monument zu
Ehren unserer Frau Herzogin, von Erde vor der Front unseres Lagers errichtet,
wo auf einem großen Postament ein Würfel steht, dessen 4 Seiten wir mit
den Namen und Vivat der Frau Herzogin, des Prinzen und der beiden Prin¬
zessinnen mit Seesteinen, (die meistens durchsichtig sind und wir alle aus der
See geholt haben) besetzt haben. Dieses Denkmal steht grade vor Kolberg im
Angesicht der ganzen Belagerung und ist so groß, daß sich die Offiziers vom
ganzen Regiment darauf setzen und alles was geschieht beobachten können,
eine schlechte Zeichnung davon will ich Dir schicken, sobald ich von hier erlöst
bin und in eine Stube komme. Den 1. Mai haben alle meine Herren Kame¬
raden meinen Geburtstag gefeiert und unter großem Jubel einen großen runden
Kuchen (nur leider von Rasen gestochen) mit 37 Seeblumen besteckt auf meine
Hütte gesetzt. —
Feldlager vor Kolberg. 22. Juni 1807, Nachts 11 Uhr. — Mein geliebtes
theures Weib, soeben komme ich wieder gesund und glücklich aus den Lauf¬
gräben, die wir gegen die Stadt eröffnet haben, zurück. — Zwar Dein Brief
hat mich ein wenig erschüttert, indem Du mir die Sonne meines geliebten
Ferdinands in dem englischen Garten so rührend geschildert hattest, und in
Wahrheit, ich ging nicht ganz mit meinem sonstigen muthigen Herzen ins
Feuer, allein das Vertrauen zur Vorsehung, die gewiß das Gebet der Unschuld
und der lallender Lippen erhört, stärkte mich in der ersten Stunde schon wieder
so, daß ich vollkommen heiter wurde, und hatte auch das Glück, meine 1S0
Mann alle wieder gesund und glücklich ins Lager zurückzuführen. — Den 24.
Ein starkes Regenwetter, welchem mein Hüttchen nicht widerstehen konnte, hat
mich verhindert weiter zuschreiben und Weinreich ist heute früh fort, ohne daß
ich ihm einen Brief mitgeben konnte. — Dieser Mann hat mich die zwei ersten
Tage außerordentlich genirt, indem er mein Hüttchen so einnahm, daß ich ganz
daraus vertrieben war, zwei Stabsoffiziere von uns nehmen nicht so viel Platz
ein als dieser Mensch allein, der sich noch so wenig Bequemlichkeit versagen
kann. Da ich ihm es ein wenig merken ließ, so schien ihn dieses zu verdrießen,
und sein Betragen war überhaupt nicht ganz das anständige eines Offiziers;
so z. B. sahe er einer Affaire von weitem zu, wo wir auch 150 Mann dabei
hatten, leider hatten wir einige Todte und BlFstrte. Unter andern einem sehr
braven Lieutenant von Henning (dessen Vater, unser braver Oberst, erst zwei
Tage vorher war gefangen genommen worden) war der rechte Arm von einer
Kanonenkugel gänzlich weggerissen worden. Alles von uns stand in der tiefsten
Traurigkeit unter dem Gewehr und beseufzete das unglückliche Schicksal unseres
braven Kameraden, nur er, Weinreich, stolzierte mit spanischen Schritten vor
der Front auf und ab und versicherte einem jeden Offizier, der ihn anhören
wollte, daß er sich freue, grade zu der Zeit einer so schönen Affaire zu kommen;
da mehre von uns ihm ihren Schmerz über unsern Verlust laut merken ließen,
war er unvorsichtig genug hiervon keine Notiz zu nehmen und sich dadurch die
Verachtung von jedermann zuzuziehen. Doch stille von einem Menschen, den
nur übelgesinnte Leute zu uns schicken konnten und der ihnen mit der größten
Unordnung gedankt hat, die nur ein Kaufmann begehen kann, der sich ins
Militär meurt. — Alle Nachrichten, die wir bekommen, scheinen darin einstimmig
zu sein, daß der König von Preußen Frieden schließen wird und muß. Eine
fürchterliche Niederlage der Russen und Preußen, wovon wir gestern officielle
Nachricht erhalten, wird gewiß der Sache den Ausschlag geben. Unsere Festung
wehrt sich zwar äußerst tapfer, allein dieser kleine Fleck Erde wird im Ganzen
keinen Grund zur Verzögerung des Friedens geben, und nach meinen wenigen
Kenntnissen bin ich überzeugt, daß in wenigen Tagen die Festung über ist, so
gewiß bin ich dieses, daß ich mit meinem braven Major um eine Feldflasche
voll Wein gewettet habe, daß sie in Zeit von 8 Tagen erobert ist. Aus der
andern Welt erfahren wir gar nichts. — Auf unserer morastigen Anhöhe er¬
fahren wir so wenig und sehen so wenig was sonst passirt. daß mir vor einigen
Tagen ein komischer Zufall passirte. Eine Bauersfrau trug einige junge Gänse
zum Verkauf ins Lager; ich, der vergessen hatte, daß wir schon 9 Wochen hier
stehen, wunderte mich, daß ein Offizier von uns darum handelte und lachte ihn
aus. weil ich glaubte, daß es alte wären.- Endlich erklärte sich der Irrthum,
und weil ich nun versicherte, daß ich die letzten Gänse als kleine gelbe Geschöpfe
gesehen hätte, und seit dieser Zeit keine wieder, mir also dieses eine neue Er¬
scheinung sei, so ist eine lustige Anekdote daraus im Regiment entstanden. Hier
sehen wir nichts von blühenden Bäumen, von reifenden Saatfeldern, von fröh¬
lichen Heuerntern, nur den ewigen Anblick einer todten Ostsee, den Rauch der
Kanonen und Feldwächter; unsere einzige Musik (außer der freundlichen Lerche)
ist der Kanonendonner, kleines Gewehrfeuer, Trommel, Abends entfernte Feld¬
musik, dazwischen des Nachts das einförmige Getön eines Wachtelkönigs und
etlicher wenigen Frösche, die die benachbarten Italiener am Leben gelassen
haben, welche sie alle fressen, die sie haben können, so wie auch die Pferde, die
vom Feinde todtgeschossen werden. — Für Deinen übersendeten Schinken und
die Knackwurst danke ich Dir recht sehr, zwar erweckt mir der Schinken, wen»
ich ein Stückchen herunter schneide, allemal die traurige Rückerinnerung, wie
sehr Du, bestes Weib, Dich freutest, das kleine Schweinchen zu schlachten und
wie wenig wir es uns jenes Mal träumen ließen, in welcher traurigen Trennung
wir es verzehren würden. — Die Unteroffiziers des Transports werden Dir
eS sagen, wie wohl ich bin und daß ich einer der Wenigen bin, die noch
munteren Geistes sind. —
Feldlager vor Kolberg, 14. Juli 1807. — Freue Dich, mein gutes treues
Weib, Gott hat unser aller Gebet erhört und zeigt uns den nahen Frieden.
— Groß ist unsere Hoffnung, daß wir jezo das Ende unseres Elendes erlebt
haben und bald wieder in den Schooß unserer Familie, in unser liebes — liebes
Baterland zurückkehren werden. Vorgestern schlugen wir uns schon den dritten
Tag mit unserm tapfern Feind, zwei Tage unaufhörlich, bombardirten die Stadt,
die von allen Seiten brannte und ein schreckliches Schauspiel darbot, von allen
Seiten würgte der Tod — 1000 Mann von unserer Seite gingen im Kampfe
zu Grunde — der Kanonendonner (dessen wir gewiß in 10 Wochen gewöhnt
worden sind, wo er schon ohne Aufhören schallte) betäubte unsere Ohren, unsere
Gefühle waren beinahe abgestumpft für das Geschrei der Verwundeten, für daS
Aechzen der Sterbenden; und schon geschahe bei unsern jungen Leuten alles
mit einem Stumpfsinn, der unbegreiflich ist, als auf einmal in dieser schrecklichen
Periode einer doppelten Schlacht der Engel des Friedens in Gestalt eines
Couriers, einer Menge Adjutanten und Offiziers unter den Kämpfenden pfeil¬
schnell erschien und in Zeit einer halben Stunde dieses gräßlichen Jammers
ein Ende machte. Waffenstillstand — Waffenstillstand — schrie es von allen
Seiten, und im Augenblick liefen die Soldaten, die sich den Augenblick vorhero
erbittert auf den Tod schlugen, zusammen, tranken zusammen, gaben sich die
Hände, halfen sich einander die Verwundeten besorgen, kurz es bot sich ein
Schauspiel dar, das keine Feder je wird beschreiben können. — Soeben kommen
einige Bürger aus der Festung, um mit unserm commandirenden General Loison
zu reden, diese armen Menschen können uns den Jammer, der in der Stadt
durch das Bombardement ist angestellt worden, nicht genug beschreiben, da ist
kein Haus, welches nicht gänzlich ist ruinirt worden, da ist kein Mann, der
nicht arm oder unglücklich geworden ist. Selbst Kindern sind die Beine weg¬
geschossen worden. Gott erbarme sich und gebe einen baldigen festen Frieden,
die Greuel des Krieges sind zu schrecklich; man liest so oft in Zeitungen und
Romanen flüchtig alle diese Unglücke ohne gewisses Nachdenken, aber welch ein
Unterschied, wenn man an Ort und Stelle ist und diese Schrecknisse mit Augen
sieht. Nach Aussage dieser Männer wäre dieses Unglück nicht geschehen, wenn
ein Lieutenant des infamen Schillschen Corps seine Schuldigkeit gethan hätte
und den einen Theil des Hafens gehörig vertheidigt hätte, denn es stand ein
Schiff mit Nachrichten für uns und die Preußen in der See, konnte aber nicht
landen, weil wir es würden haben zu Grunde geschossen; so kam die Nachricht
zu Lande und leider für die Stadt 48 Stunden zu spät.
Altwerder bei Kolberg, 16 Juli 1807. — Gestern waren die beiden Majors
und ich zum Commandanten nach Kolberg gebeten. Wir ritten früh hinein
und wurden sehr gut aufgenommen, alles was man uns zu Gefallen thun
konnte geschah. Wir mußten bei dem Commandanten speisen und wurden
herrlich tractirt, was uns aber am meisten freute, war, daß wir wieder wie
andere Menschen an einem ordentlichen Tisch saßen, auf Stühlen, und Löffel,
Messer und Gabeln hatten, kurz, so manche Bequemlichkeit, deren wir in 10
Wochen ganz entwöhnt waren. Der Commandant, ein charmanter Mann, alle
Offiziers, die vornehmen Bürger, kurz jedermann behandelte uns aus das
Artigste, und es wurde so viel vom Belagerungsdienst geredet, daß wir etwas
Mühe hatten, den Weg nach Hause zu finden, ohngeachtet es Heller Tag war.
Heute kommen mehre preußische Offiziers zu uns, und wir haben für etwas
kalte Küche und kalten Punsch gesorgt, womit wir ihnen eine Ehre erweisen
wollen. —
Wollin, 11. August 1807. — Wir treiben uns hier in Pommern und auf
dieser Insel von einem Ort zu dem andern herum und sehen jeden Augenblick
der unglücklichen Ordre entgegen, mit zu der Belagerung von Stralsund zu
müssen, die jetzo heftiger als je betrieben wird. Der Himmel behüte uns davor,
denn das halbe jetzige Regiment würde gewiß desertiren, so satt haben sie des
Belagerungskrieges noch von Kolberg her, und haben sich schon so sehr auf den
Rückmarsch nach Hause gefreut. Hierzu sieht man aber bei uns nicht die min¬
desten Anstalten und es scheint wir sollen die Letzten sein, oder noch mit den
Schweden uns messen. — Gestern bin ich erst hier wieder bei dem Regiment
eingerückt, nachdem ich mit 1S0 Mann auf Commando in Swinemünde ge¬
standen habe. Dieses ist eine kleine allerliebste Stadt mit einem Hafen, der
durch den Ausfluß der Swine, welches ein Arm von der Oder ist, gebildet
wird; hier halten einige schwedische und englische Schiffe, sperren den Hafen
und drohen immer mit einer Landung. Noch zur Zeit sind sie zu schwach, um
dieses bewerkstelligen zu können; allein man muß doch immer auch gegen eine
kleine Partie auf seiner Hut sein. — Alles ging sehr ruhig ab, ausgenommen
den 3ten d^ M. wurde die Küste, die wir besetzt hatten, durch ein schwedisches
und zwei englische Schiffe derb beschossen, doch ohne den mindesten Schaden
zu thun. Nachdem ich 14 Tage dort gestanden, wurde ich durch einen Kameraden
abgelöst und mußte hierher marschiren. wo unterdessen mein Bataillon einge¬
rückt war, vorhero standen wir in Camin. Swinemünde ist das schönste
Städtchen im preußischen Lande und liegt äußerst romantisch. Lauter schnur¬
gerade Straßen und rechtwinklig durchschnitten, alle Häuser nur ein Stockwerk
hoch und von rothen Backsteinen aufgebaut, vor einem jeden Hause ein Paar
Linden, welche regulär beschnitten sind und eine fortlaufende Allee bilden, der
Hafen voller Schiffe, so daß man sagen kann, man sieht einen Wald von Mast-
bäumen, und der Strom wimmelt stets von kleinen Fahrzeugen und Kähnen,
die theils Waaren führen, theils fischen und Leute über den Fluß setzen. Am
jenseitigen Ufer sängt eine schöne starke Waldung an, worin eine Menge kleiner
Häuschen vorschimmern, die zerstreut darin liegen und Fischern und Schiffern
gehören. — Hier habe ich ein sehr gutes Quartier bei einem Herrn Super¬
intendenten, mit einer sehr liebenswürdigen gebildeten Familie. Wie wohl es
thut, wenn man wieder unter Menschen kommt, mit denen man vernünftiger-
weise umgehen kann, kann nur ^der empfinden, der wie ich dieses Vergnügen
Monate lang hat entbehren müssen. Da sie wissen, daß ich jetzo an Dich
schreibe, so trägt mir alles Empfehlungen an Dich auf. —
Einliegenden Rapport schicke oder bringe dem Major v. Türk.
Wollin. 30. August 1807. — Womit aber, liebes braves Weib, mache ich
Dir denn eine Freude für alles Gute, was Du mir überschickst? Ich armer
Mann komme da in große Schulden. — Doch auch der Arme kann zu Zeiten
ein Geschenk machen, welches man werth hält, meines soll denn ein Kieselstein
sein, aber von einer Art, die Dir allein wichtig sein kann. Nämlich vor Kol¬
berg badete ich mich in der See und bewunderte das Farbenspiel der wunder¬
schönen Seesteine, endlich fällt mir ein ordinärer brauner Kiesel in die Augen,
den ich blos deswegen aufhebe, weil er allein so unscheinlich unter seinen
schimmernden Kameraden da liegt, und siehe da — wie dieses so oft der Fall
in der Welt ist — indem ich ihn betrachte, wird er mir unschätzbar, weil die
Natur ein wahres Vergißmeinnicht, nur von weißer.Farbe, tief eingedrückt
hatte. Halt, dachte ich. welch ein herrlich Andenken an dich kann dies für
dein Hannchen werden. Und so schickte ich ihn nach Gotha und bestellte, daß
er dort zu einem Ring für Dich gefaßt würde. — Im Fall ich geblieben wäre,
hatte ich bestellt, daß er Dir gewiß wäre eingehändigt, worden. — Mich haben
sie hier zum Stadtcommandanten gemacht, ein Posten, der mir viel Arbeit und
Verdruß macht. Die Herbeischaffung der Lebensmittel. die Einquartirung, die
Durchmärsche der Truppen, die Ertheilung der Pässe, die Besorgung der großen
und kleinen Schiffahrt, die, wenn Du die Karte ansiehst, Du gleich sehen
wirst, von großer Wichtigkeit ist. die Arbeit, die Stadt in einigen Vertheidigungs»
zustand zu setzen, alles dieses giebt mir viel zu thun, welches oft mit großen
Unannehmlichkeiten verknüpft ist, allein das gute Zutrauen, welches das Re¬
giment in mich setzt, besonders der Gemeine, der da glaubt, ich werde ihn,
wenn es wieder dahin kommen sollte, ins Feuer führen, belohnt mich sehr. Die
hiesige Stadt war ein offener Flecken, von der einen Seite von der Oder
bespült, die nicht weit von hier in die See fällt. Diese ist auf einige Weise
befestigt worden, und ich habe sie so in Stand gesetzt, daß, wenn die Eng¬
länder wagen würden hier einen Versuch zu machen, um einen Vortheil zu
gewinnen, die Frau von Bose in Meiningen wohl Gelegenheit haben
Wollin, 27. Septbr. 1807. — Sollte ein Mann von meiner Compagnie,
Namens Stoll, der gefangen war, nach Hause kommen, möchten sie ihn ja recht
gut behandeln, indem er sich sehr edel gegen seine Kameraden benommen hat.
Auch gieb mir doch in Deinem nächsten Briefe Nachricht, wie es mit dem Lorenz
ist gehalten worden. Treffe ich diesen Schurken in Meiningen an, so geht es
nicht gut, denn er ist mir in einem Zeitpunkt desertirt, wo kein ehrlicher Kerl
davonläuft und hat von mir sehr viel Gutes genossen wie sast keiner vom
ganzen Contingent.
Wollin, 28. Octbr. 1807. — Es ist die höchste Zeit. daß wir dies Land
verlassen, es ist fürchterlich, wie groß die Noth und der Jammer gestiegen ist,
sie können uns nicht mehr ernähren, denn sie sind selber blutarm. — Wie groß
die Contributionen sind, und wie ehemals hier Wohlstand herrschte, kannst Du
daraus abnehmen, daß in Stettin unter andern 2 Kaufleute sind, wovon der
Eine 120,000 Thlr. — der Andere 80,000 Thlr. zu erlegen haben. —
Wollin, 8. Rohr. 1807. — Es ist die höchste Zeit für uns und die ganze
hiesige Gegend, diese ist völlig aufgezehrt und der Jammer unbeschreiblich,
mit der größten Noth treiben wir noch mit Gewalt magere Kühe und etwas
Korn zusammen, um den Soldaten zu verpflegen, ohngeachtet dieser dock) nur
die halbe Portion seiner Verpflegung bekommt; und auch auf diese muß er
manchmal wochenlang Verzicht thun, an ein Glas Vier, Branntwein oder eine
Pfeife Tabak ist bei Vielen gar nicht zu denken. Wo sollte es auch herkommen?
verdienen kann so ein armer Teufel nichts, von 13 Pfennigen, die er den Tag
hat, geht ihm alles für Putzzeug. Wäsche, Schuhschmiere u. dergl. auf. Für
meine Person bin ich noch immer recht gesund und liege noch immer in meinem
alten Quartier, wo es mir zwar recht wohl geht, aber durch die Länge der
Zeit falle ich doch diesen braven Leuten zur Last, denn eine jede Einquartirung,
man mache es wie man wollt, ist mit Kosten verknüpft, und die ewigen Klagen
über die harte Bedrückung des Landes, über die übermäßige Kontribution,
starke Lieferungen u. s. w. (welche Klagen man hier gewiß jedermann verzeihen
kann) machen einen oft sehr mißmüthig und traurig. Mit dem besten Willen
kann man nicht helfen und diese ewigen Klagelieder und Seufzer hören nicht
auf, zwar machen es die Franzosen auf dem Lande umher mit Erpressungen
sehr bunt, aber der Hauptumstand bleibt immer die große Armuth der hie¬
sigen Gegend, die dann nur nahrhaft ist, wenn Schiffahrt und Handlung frei
sind. —
Leipzig, 28. Novbr. 1807. — Gestern, meine Theuerste, sind wir hier ein¬
gerückt. — Unsere Märsche sind fürchterlich stark gewesen, vier Meilen de«
Tags sind die kleinsten und nur auf dieser langen Tour zwei Rasttage, davon
der eine in Berlin, der andere hier. —
Sonnenberg, 6. Decbr. 1807. — In größter Eil Schmiere ich diese paar
Z
Die Vollziehung des Artikels 19 der Bundesacte war, wie wir sahen, aus
den wiener Ministerconferenzcn nicht erreicht worden. Dagegen hatte man durch
Verhandlungen außerhall' der Conferenzen etwas Anderes zu Stande gebracht,
was als eine Art von Ersatz gelten konnte, indem es wenigstens einen Theil
Deutschlands nach dem Sinn jenes Artikels einigte: die wiener Präliminar-
Handelsconvention vom 19. Mai 1820.
Die Initiative hierzu hatte Baden ergriffen. Als dessen Vertreter in Wien
(vgl. Weech S. 81) sah. daß allgemeine Handelsfreiheit wegen der zwei großen
Mächte noch nicht zu erlangen sei, entstand in ihm der Gedanke, wenigstens
mit den Staaten einen Vertrag zur freieren Bewegung des Handels und Ver¬
kehrs zu schließen, welche diesem System nicht abgeneigt wären. Er wandte
sich deshalb schon um die Mitte des December 1819 an die Vertreter von
Nassau, Würtemberg, den beiden Hessen, den sächsischen Häusern, fand sie geneigt,
auf seinen Plan einzugehen, und ersuchte sie, sich von ihren Höfen Jnstructionen
zu erbitten, um womöglich schon in Wien „die Grundzüge eines wechselseitigen
Uebereinkommens aufstellen zu können, die vielleicht auch Bayern am Ende noch
zur Theilnahme bewegen." „Wenn infolge davon," so schließt sein Bericht
nach Karlsruhe, „von Ulm bis Basel, von Basel den Rhein abwärts bis unter¬
halb Bingen. dann rückwärts bis in das Herz des nördlichen Deutschland das
Gebiet des freien Verkehrs sich ununterbrochen ausdehnen wird, so steht zu
hoffen, daß dadurch mildere Einrichtungen auch in den anderen Staaten erfolgen
dürften."
Drei Wochen später äußert v. Berstett sich schon mit größerer Zuversicht
auf den Erfolg seines Plans. In Betreff der Handelsfreiheit, schreibt er am
9. Januar 1820, sei das Zustandekommen eines Vertrags mit den früher ge¬
nannten Staaten sicher zu erwarten. Selbst Sachsen und Luxemburg würden
sich vielleicht diesem Verein anschließen. Als er in der ersten Sitzung des
zehnten Ausschusses (12. Januar) die Ueberzeugung gewonnen, daß Preußen
nicht zu beugen sein werde, ging er sofort allen Ernstes ans Werk. Er setzte
sich mit dem nassauischen Minister v. Marschall in Verbindung, arbeitete mit
demselben eine Note und Punctativnen aus und verschickte diese am 15. Januar
an die Minister Bayerns, Würtembergs, der beiden Hessen und der großherzog-
lich und herzoglich sächsischen Häuser. Besondere Rücksprache nahm er mit dem
bayerischen Minister v. Zentner, der ihm sagte, er habe Befehl, Berstetts Pro-
Positionen zu vernehmen und nach München zu schicken, und der ihn überhaupt
in Betreff Bayerns Gutes hoffen ließ. Auch der würtenbergische Minister
v. Mandelsloh erklärte sich angewiesen, Berstetts Anträge sogleich an seine Re-
gierung einzusenden und weitere Weisungen einzuholen. Der Vertreter Hessen-
Darmstadts, du Thil. erwartete, daß sein Hof auf Berstetts Vorschläge, die er
persönlich billigte, eingehen werde, v. Fritsch ferner bezeichnete die Zustimmung
seiner Höfe als wahrscheinlich, vorausgesetzt, daß das benachbarte Kurhessen
seinen Beitritt nicht verweigerte — eine Voraussetzung, an deren Erfüllung
Berstett nicht zweifelte. Auch der königlich sächsische Minister v. Globig war
mit den Ansichten des badischen Collegen für seine Person völlig einverstanden,
doch konnte er demselben nicht verhehlen, daß sein Souverän in derartigen An¬
gelegenheiten nicht gern der Erste sei, indem er Collisionen jeder Art zu ver¬
meiden suche. Dagegen sicherte der Prinz Philipp von Hessen-Homburg den
Beitritt des Regierenden seines Hauses im Voraus zu. Berstett begnügte sich
zunächst mit diesen Erklärungen und mit der sichern Hoffnung, „irgendeinen
Erfolg, sei er auch noch so gering, zu erreichen." Mit Bestimmtheit glaubte
er wenigstens auf Hessen-Darmstadt und Nassau rechnen zu können, und diese
Staaten waren ihm mit Baden zusammen „eine hinlängliche Ländermasse, um
die Freiheit des Handels und Verkehrs einstweilen unter sich zur Ausführung
zu bringen und sodann ruhig von dem mächtig wirkenden Gang der Zeit ab¬
zuwarten, bis daß die übrigen Nachbarstaaten sich nach und nach an sie an¬
schließen werden."
Gleichzeitig setzte Berstett Metternich und Bernstorff von diesen seinen
Plänen und Schritten in Kenntniß. Jener erklärte, daß Oestreich durchaus
nichts dagegen haben könne; „überhaupt betrachte er die östreichische Monarchie
als gar nicht in die Handelsfrage besangen, indem sie ein in sich abgeschlossenes
Handelssystem besitze und von demselben nicht abgehen könne, dies auch nicht
zum Vortheil der übrigen Bundesstaaten nothwendig sei." Bernstorff billigte
Berstetts Unternehmen „aufs vollkommenste und fügte sogar hinzu, wie er
nicht zweifle, daß bei den dermaligen Umständen dies der einzige Weg sei, aus
welchem man nach und nach zu einer Vereinigung aller Bundesstaaten zu einem
gleichen Zweck gelangen dürfte."
Die Hoffnungen, die Berstett aus seinen bisherigen Besprechungen mit
den Vertretern süd- und mitteldeutscher Staaten geschöpft, schienen sich erfüllen
zu wollen. Der würtenbergische Minister theilte ihm mit, daß er beauftragt
sei. einstweilen im Allgemeinen zu erklären, man sei gesonnen, sich auf alles
Mögliche einzulassen, wodurch Handel und Verkehr erleichtert werden könne,
und werde so bald als thunlich nähere Jnstructionen nachschicken, v. Zentner
äußerte sich ähnlich, v. Fritsch antwortete schriftlich auf Berstetts Note, daß
seine Höfe sich den separat-Handelsverträgen so bald anschließen würden, als
ihr Gebiet mit einem der mitpaciscirenden Staaten zusammenstoßen werde.
Auch du Thil und Marschall hatten die nöthigen Weisungen erhalten, und da
Fritsch sich für hinreichend bevollmächtigt erklärte, um sich auf eine vorläufige
Uebereinkunft einzulassen, so veranstaltete Berstett am 31. Januar 1820 einen
Zusammentritt des weimarischen, des großherzoglich hessischen und des nassau¬
ischen Bevollmächtigten in seiner Wohnung, bei welcher man sich über die
Hauptpunkte eines Vertragsentwurfs besprach und dieselben zu Papier brachte.
Kurz darauf eröffnete ihm v. Zentner, daß er angewiesen sei, über die ihm
früher mitgetheilten Punctationen mit ihm zu unterhandeln, und daß er dieselben
mit wenigen Abänderungen anzunehmen ermächtigt sei. Dem Gesandten Wür-
tembergs waren gleiche Befehle zugegangen. Alles schien im besten Zuge zu
sein, und so lud Berstett Zentner, Mandelsloh und Münchhausen (Kurhessen)
ein, sich am 9. Februar bei ihm mit Du Thil, Fritsch und Marschall zu be¬
sprechen , damit er ermessen könne, inwiefern eine Vereinigung ihrer Ansichten
mit den bisher von ihm und den Letztgenannten aufgestellten möglich sei. Zentner
und Münchhausen erschienen, nicht so Mandelsloh, der sich mit einer Unpä߬
lichkeit entschuldigte. Der wahre Grund war aber, daß er die Weisung seines
Hofes, an diesen Verhandlungen theilzunehmen, aus Furcht vor den Ministern
der beiden Großstaaten nicht zu befolgen wagte. Die übrigen Herren beriethen
sich über die obenerwähnte Punctation in der von Berstett beabsichtigten Weise.
Die Tendenz des Letzteren aber ging nicht mehr auf Durchführung der Nebenius-
schen Ideen, sondern darauf, so viele Staaten als möglich in die Verhandlungen
wegen Abschluß eines Separatvertrags zu verflechten, weshalb er sich immer
bereit zeigte, auf Vorschläge von Aenderungen an den Punctationen einzugehen.
Zentner erklärte, er könne vor Eröffnung der bayerischen Ständeversammlung
nicht unbedingt beitreten, doch hoffe er für den Ueberrhein schon jetzt mit-
pacisciren zu können, und jedenfalls werde er an der im 6. Artikel der Puncta¬
tionen verabredeten Zusammenkunft der Commissarien theilnehmen können.
Münchhausen hafte zwar noch keine bestimmten Jnstructionen, zweifelte aber
nicht an der Zustimmung des wrhessischen Hofes. Fritsch kündigte den Anschluß
der reußischen und anhaltischen Höfe, der Fürst Philipp von Hessen-Homburg
den seines Hauses an. Die Besorgnis) einiger Bevollmächtigten, daß der pro-
jectirte Zoll- und Handclsverein den großen Vundcsstaaten Stoff zu Mißtrauen
geben könnte (eine Besorgniß, die nach Aegidi S. 70 hinsichtlich Preußens nicht
ganz unbegründet war), beruhigte Berstctt, indem er eine Erklärung Metternichs
mittheilte, daß in den ihm vorgelesenen Artikeln der Punctationen Bcrstctts
nichts enthalten, womit er nicht einverstanden sein müsse, und indem er eine
gleiche Erklärung Bernstorffs in Aussicht stellte.
Nachdem man mit den Separatverhandlungen so weit gediehen war, ruhten
dieselben bis zur Mitte des März, nach Weech, weil man erst in den allge¬
meinen Verhandlungen über Artikel 19 der Vundesacte etwas Heller sehen zu
können wünschte. In der Zwischenzeit aber hatten sich die Aussichten Berstetts
wieder verdunkelt, indem Kuvhcssm sich abfällig erklärt hatte, eine Erklärung,
welche, wie Fritsch am 19. März schreibt, vielleicht die großherzoglich und her¬
zoglich sächsischen Lande von jenem Verein ganz trennte, wenn nicht durch den
Hinzutritt von Bayern die Verbindung wiederhergestellt wurde. Bayern aber
wollte wohl beitreten, indeß nur nach starken Modificationen der Vorschläge
Badens. Sobald es die Situation beherrschte, ließ es die Wahl, entweder den
Verein ganz aufzugeben oder den Anschluß Bayerns mit Einräumungen zu
erkaufen, durch welche der Verein seinen eigentlichen Gehalt preisgab. In
einer Note vom 22. März legte Zentner dem Vertreter Badens die Ansichten
seiner Negierung vor. Dieser antwortete am 28. einlenkend, da ihm, wie er¬
wähnt, alles daran lag, wenigstens etwas zu erreichen und möglichst viele
Staaten für den Verein zu gewinnen. Er ließ sich ein Zugeständnis) nach dem
andern abringen, bis er schließlich auch in dem Technischen der Frage sehr weit
von den ursprünglichen Ideen entfernt stand. Kam ihm dieser Contrast einmal
recht grell zum Bewußtsein, so tröstete er sich damit, „daß der Verein durch
die Ausdehnung der theilnehmenden Staaten dasjenige gewinne, was an Libe¬
ralität der Principien verloren gehe." Er betrieb die Sache auf das eifrigste,
nicht nur in München, sondern auch in Stuttgart, und endlich kam er zum
Ziel, freilich zu einem nur mittelmäßig befriedigenden. Zuerst stimmte Bayern,
dann Würtemberg zu, letzteres unter mancherlei Beschränkungen. Der Vertrag
war jetzt nur darauf gerichtet, daß die beitretenden Staaten die thunlichste Er¬
leichterung des Handels ihren Unterthanen gewähren und nach Verlauf dreier
Monate zu Darmstadt durch Bevollmächtigte und auf der Basis einer bis dahin
unverbindlicher Punctation verhandeln wollten. Am 19. Mai wurde er zu
Wien unterzeichnet, und zwar von Zentner für Bayern, Mandelsloh für Wür¬
temberg. Berstett für Baden, du Thil für Hessen-Darmstadt, Fritsch für die
großherzoglich und herzoglich sächsischen Häuser, Marschall für Nassau und
Reuß. —
Der Genügsame freut sich auch über Kleines, und hier schien immerhin
Großes, wenn auch noch nicht erreicht, doch nahe gerückt. Die jetzt zusammen¬
getretenen Staaten bilden einen ziemlich ausgedehnten und zusammenhängenden
Länderstrich. Die Wasser- und Landstraßen vom Rhein, Main und Neckar,
sowie die über den thüringer Wald sind in ihren Händen, und so besitzen sie
recht wohl die Mittel, von den nicht beigetretenen Mächten günstige Handels¬
verträge zu erlangen und zur Noth gegen Preußen Retorsionsmaßregeln anzu¬
wenden. Der Handelsverein, der nun bald aus den darmstädter Konferenzen
hervorgehen wird, wie imponirend wird er auftreten, wie wird der „patriotische"
Freiherr v. Marschall triumphiren! „Bayern, Baden und Würtemberg werden
vorzüglich die Handelsverhältnisse mit der Schweiz, Baden, Bayern und Hessen
die mit Frankreich, Nassau, Hessen und die sächsischen Häuser die mit Preußen
und dem Norden Deutschlands zu prüfen und zu beurtheilen haben." „Es steht
zu hoffen, daß, wenn das Größere, die Vollziehung des 19. Artikels der Bundes¬
acte, nicht für diesmal durchgeführt werden kann, doch wenigstens ein Theil
von Deutschland nach dem Sinn jenes Artikels sich einigt."
„Des Artikels 19?" fragt Aegidi und antwortet: der war ja doch am
19. Mai offenbar aufgegeben worden. Denn lagen die Zollschranken, die man
in Darmstadt aufzurichten im Begriff war, nicht ebenfalls mitten in Deutsch¬
land, ganz ebenso wie die „bundcsrcchtswidrigen, völkerrechtswidrigen, reichs-
staatsrechtswidrigen" Zollschranken Preußens? „Erstrebten diese Staaten mit
ihrer handespolitischen Verbindung etwas Anderes als eine Gesammtmacht zu
bilden, die dasselbe zu thun hatte, was der preußische Staat gethan, und womit
Preußen sich nach der Ansicht jener Staatsmänner, welche jetzt in seine Fu߬
tapfen traten, so stark gegen den Artikel 19 versündigt hatte? Wenn zwei
dasselbe thun, so ist es nicht dasselbe. Wenn Preußen die Lebensinteressen
eines bestehenden Staatswesens wahrnahm, so verletzte es den vermeintlichen
Inhalt des Artikels 19; aber wenn im Interesse einer erst noch zu bildenden
Staatengrnppe derselbe politische Egoismus, jedoch ein collectiver Egoismus,
sich geltend machte, so war dies — die „Patrioten" sagten's ja — ein Fort¬
schritt in der Richtung des Artikels 19." O Logik und alle neun Musen!
Aber echaussiren wir uns nicht über diese Logik der „wahren Freunde des
Vaterlandes". Es kam anders als sie gerechnet. Während die Gegensätze sich
bis zur UnVersöhnlichkeit steigern zu wollen schienen, begann sich unmerklich
schon die Lösung vorzubereiten.
Die schlimmste Seite der preußischen Einrichtungen von 1818 schienen die
Eingriffe in die Hoheitsrechte andrer deutscher Landesherrn in Betreff der En¬
claven zu bilden. Preußen hielt hier sein Recht entschieden fest, war aber, wie
Bernstorff schon im Februar 182V gegen Fritsch sich äußerte, sehr bereit zu jeder
billigen und mit den bestehenden Verhältnissen verträglichen Ausgleichung. Es
wendete sein Zoll- und Verbrauchssteuergesetz gegen die Bewohner der von seinem
Gebiet eingeschlossenen anhaltischen Enclaven wie gegen seine eigenen Unter¬
thanen an, aber es war bereit, den Herzogen eine Geldentschädigung zu be¬
willigen, und gestand den betreffenden anhaltischen Unterthanen gleich den preu¬
ßischen völlige Freiheit des Verkehrs im Innern Preußens zu. Und dasselbe
war andern Nachbarn dargeboten, ja mehr noch: eine Verbindung mit dem
preußischen Zollsystem auf Grundlage völliger Gleichheit der Rechte und Pflichten
und einer Theilung des Einkommens nach der Anzahl der Einwohner.
Aber freilich, die Zeit, wo ein solches Anerbieten allgemein Gehör finden
konnte, war noch nicht da. Wer konnte einem deutschen Souverän zumuthen,
ein sremdherrliches Zollsystem anzunehmen? Und noch dazu das Zollsystem
Preußens, welches mit diesem System drohte, mit ihm zwingen wollte. Ja,
wenn Deutschland, das ganze Deutschland ein solches Verlangen stellte, das
wäre etwas Anderes!
Man hatte ein Beispiel des Einlenkens einzelner Souveräne gehabt, noch
vor Beginn der wiener Conferenzen, freilich ein sehr winziges. Am 23. October
1819 hatte Schwarzburg-Sondershausen einen Staatsvertrag mit Preußen ab¬
geschlossen, wodurch die Verhältnisse des größeren Theils seiner Besitzungen,
welcher vom preußischen Gebiet enclavirt ist, hinsichtlich des Zolls und der
Verbrauchssteuer auf preußischen Fuß gesetzt wurden. Ein würdeloser Vertrag,
dem man nur der Verzweiflung eines Zwergstaates verzeihen konnte! Was
heute gegen die Einverleibung der Armee eines deutschen Souveräns in das
Heer des Königs von Preußen gesagt wird, wurde damals gegen den Eintritt
in die Zoll- und Steuergemeinschaft mit Preußen gesagt, und mit demselben
Recht; denn, wie Metternich sich in Karlsbad (vgl. den ersten Artikel) hatte
vernehmen lassen: „Der Handel, seine Ausdehnung und Beschränkung gehören
zu den ersten Befugnissen der souveränen Gewalt."
Niemand glaubte damals, daß der Schritt Schwarzburg-Sondershausens
Nachfolge finden würde, und in der That, die nächsten drei Jahre bestätigten
diesen Unglauben. Erst im Juni des Jahres 1822 folgte Schwarzburg-Rudol-
stadt dem Beispiele des Nachbarländchens in Bezug aus die Enclave Franken¬
hausen. Am 27. Juni 1823 schloß dann Weimar einen Vertrag wegen der
enclavirten Aemter Allstätt und Oldisleben mit Preußen ab, und im October
desselben Jahres trat Anhalt-Bernburg mit seinen abgesondert liegenden Be¬
sitzungen in das preußische Zollsystem ein. Nach und nach kamen auch die
übrigen Besitzer von Enclaven, zuerst Lippe-Detmold, dann Mecklenburg-Schwerin,
dann Dessau und Köthen, zuletzt Oldenburg für Birkenfeld. Es hatte Mühe
gekostet und Schweiß, es hatte zehn volle Jahre gekostet, um auch nur dieses
Wenige, die Einführung des preußischen Zollsystems in den kleinen Enclaven,
durchzusetzen. Noch immer bestand die Scheidewand, welche die preußische Zoll-
reform zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland aufgerichtet. Nur für
Anhalt-Bernburg war auch diese (1826) gefallen. Allerdings in einer Weise,
die „keinem Staate zugemuthet" werden durfte; denn Bernburg war in Steuer-
gemeinschast mit Preußen getreten, was offenbar unanwendbar auf irgend¬
ein anderes deutsches Land war. Am allerwenigsten durften solche Verhand¬
lungen von Preußen angeregt werden; denn wer zuredet, will überVortheilen. Wie
aber, wenn ein größerer Staat selbst zu dem Entschluß gelangte, sich mit Preußen
zu verständigen? Es schien kaum möglich nach dem, was geschehen, und doch
begab sichs so. Jener deutsche Staat, von welchem das erste Anerbieten eines
Anschlusses an das vielgeschmähte preußische Zollsystem ausging, hatte keine
Enclaven in Preußen, er handelte nicht nach einer in solcher Nachbarschaft lie¬
genden Nothwendigkeit, freilich aber auch nicht aus vollkommen freiem Antrieb.
Es war Hessen-Darmstadt, welches den Vertrag vom 19. Mai 1820 schaffen
geholfen.
In Darmstadt waren infolge des genannten Vertrags am 13. September
die Bevollmächtigten der Staaten Bayern, Würtemberg, Baden, Großherzog-
thum Hessen, Nassau, Weimar, der übrigen sächsischen Herzogtümer und der
reußischen Fürstenthümer, später auch die von Kurhessen, Waldeck und beiden
Hohenzollern zusammengetreten, um den Vertrag in Vollzug zu setzen. Man
kam mit guten Hoffnungen, die aber gründlich getäuscht werden sollten. „Es
ist ein lehrreicher Vorgang," meint Aegidi, und wir setzen hinzu, ein Vorgang,
aus dem man namentlich für die Beurtheilung einer gewissen Weisheit lernen
kann, die uns jetzt in Betreff der Schleswig-holsteinschen Sache ni steter Wieder¬
holung vorgetragen wird.
Wir entnehmen aus den darmstädter Vorgängen, sagt Aegidi treffend,
„was im Wege des Artikels 19 aus dem Handel und Verkehr.unsres Volkes
geworden wäre. Nein, von allgemeinen Verhandlungen unter den verschiedenen
Staaten, von gemeinschaftlichen Verabredungen im Voraus ließ sich hierfür
nichts erwarten, da der Gegenstand allzutief mit dem Haushalt eines jeden
einzelnen zusammenhing. Wer eine deutsche Sache nur so weit als deutsch
gelten läßt, als er eine Betheiligung aller deutschen Staaten wahrnimmt, wer
für Verträge im nationalen Sinne nur da die Berechtigung erblickt, wo die
Gesammtheit übereinkommt, der muß hier einsehen lernen, daß, wenn seine
Willensrichtung die entscheidende gewesen wäre, das deutsche Volk auf handels¬
politische Einigung durchaus hätte verzichten müssen."
In Darmstadt gingen die Ansichten der Bevollmächtigten weit auseinander
und desto weiter, je länger man verhandelte. Am ehesten stimmten noch Bayern
und Würtemberg überein. Man wollte einen vereinigten selbständigen Handels¬
staat bilden. Aber die entgegenstehenden Interessen der Einzelstaaten, die Ab¬
neigung derselben, einen Theil ihrer Selbständigkeit aufzuopfern, die Meinungs-
Verschiedenheiten über Durchgangszoll, Tarisirungsgrundsätze und Lagerhaus¬
system, besonders aber der Streit über das Stimmenverhältniß bei der zu
bildenden Hauptinstanz für Zoll- und Handelsgesetzgcbung stellten sich der Ei¬
nigung entgegen. Die Tariffragcn wurden zu denen gerechnet, über welche
Stimmenmehrheit entscheiden sollte. Als auf Grund der von Baden gemachten
Entwürfe und auf den Vorschlag, für je eine halbe Million Bevölkerung eine
Stimme zu rechnen, wonach Bayern 7, Würtemberg 3, die übrigen Mitglieder
zusammen 8 Stimmen erhalten hätten, zu keiner Verständigung zu gelangen
war, legte Würtemberg am 22. November 1822 einen andern Plan vor, worin
Revenüentheilung nach der Volkszahl und hinsichtlich des Stimmrechts für
Bayern 6, für Würtemberg und Baden je 3, für beide Hessen je 2 und für
die übrigen Betheiligten je 1 Stimme vorgeschlagen waren. Hierdurch besorgten
die letzteren alles Einflusses beraubt zu werden und begannen zurückzutreten,
während auch Bayern diese Basis der Unterhandlungen beanstandete. Endlich
wurde noch ein letzter Vorschlag gemacht, der dahin ging, daß bei elf Stimmen
im Ganzen Bayern zwei, die andern Staaten bis einschließlich Nassau und
Weimar je eine Virilstimme und die kleineren Staaten zusammen drei Curiat-
stimmcn haben sollten, aber auch dies gefiel nicht, und ebenso wenig wie über
die Stimmenvertheilung konnte man sich über den anzunehmenden Tarif einigen.
Vergeblich hatte der würtenbergische Minister v. Wangenheim zu vermitteln
versucht. Es kam zu keiner Verständigung. Hessen-Darmstadt mit Rücksicht
auf seinen Landtag verlangte dringend Beschleunigung des Abschlusses. Bayern
zögerte. Da sagte sich am S. Juli 1823 die darmstädtische Regierung von den
Verhandlungen los. Sie wollte den Ständen ein eignes Zollsystem vorlegen
und erst nach Vollendung desselben den Versuch einer Vereinbarung mit Bayern
und Genossen wieder aufnehmen. Sie handelte, wie man sieht, hierin genau
so wie Preußen, welches darob so schwer getadelt worden war.
Im Jahre 1825 begannen zwischen Bayern, Würtemberg, Baden und
Hessen-Darmstadt neue Verhandlungen, diesmal zu Stuttgart, die dadurch ver¬
eitelt wurden, daß Baden den von Bayern vorgeschlagnen Zolltarif als zu hoch
verwarf. Ncbenius, der Baden hier vertrat, wurde dabei von der Ueberzeugung
geleitet, „daß, wenn der süddeutsche Verein mit Einschluß Badens zu Stande
gekommen wäre und nur zehn Jahre mit hohen Schutzzöllen bestanden hätte,
eine Vereinigung mit dem nördlichen Deutschland, namentlich mit Preußen und
Sachsen, die größten Schwierigkeiten gefunden haben würde." „Dieses Ziel
aber," sagt derselbe weitblickende Staatsmann, „die Bildung eines großen
Vereins, mußte stets im Auge behalten werden, wenn etwas wirklich Großes
und für die deutsche Nation wahrhaft Nützliches zu Stande kommen sollte."
Er erschrak nicht, als Bayern und Würtemberg ihm erklärten, wenn Baden
zurückträte, würden sie sich mit einander vereinigen, auch nicht,'als Darmstadt
von Vereinigung mit Preußen sprach. Er war froh darüber, weil er voraussah,
daß die Erfahrung weniger Jahre das Bedürfniß eines großen Zollbundes
fühlbar machen werde.
Bayern und Würtemberg schlössen darauf ihren Zollverein, der am 1. Juli
1828 ins Leben trat, und in den im nächsten Jahre Rheinbayern aufgenommen
wurde. Darmstadt aber reichte am 14. Februar 1828 Preußen die Hand zum
Bunde. Die Volksstimme war dem neuen Zollverein weder in Hessen noch in
Preußen gewogen, dort argwöhnte sie Uebervortheilung und gefährliche politische
Tendenz, hier zieh man die Regierung sentimentaler Uneigennützigkeit und wies
darauf hin, daß die Zollgrenze nicht vereinfacht, sondern verlängert, also die
Verwaltung vertheuert und finanzielle Einbuße für Preußen unvermeidlich ge¬
worden sei. Aber die Volksstimme war hier allerdings, wie man bald erfuhr,
nicht Gottes Stimme, sie war vielmehr, wie häusig, die Stimme von Götzen,
von denselben Götzen, die heutzutage wieder gegen die Vereinigung Schleswig«
Holsteins mit Preußen toben.
Auch in den nicht unmittelbar betheiligten deutschen Staaten war man
voll Entrüstung über den Vorgang. Preußische Zollgesetzgebung von Hessen
angenommen — beide Staaten von einer Zollgrenze umschlossen — Aus¬
gleichungsabgaben hinsichtlich der innern Verbrauchssteuern eingeführt — alle
Tarifänderungen, alle Handelsverträge mit andern Staaten, sofern Hessens und
der westlichen preußischen Provinzen Interesse davon berührt wird, an die Zu¬
stimmung der Berliner (freilich auch der Darmstädter) gebunden — das war
unerhört, unbegreiflich, im höchsten Grade gefahrvoll. Noch galt den Staats¬
lenkern der meisten deutschen Länder die preußische Handelspolitik als das
Haupthinderniß einer deutschen. Jene war durch den Anschluß Darmstadts
verstärkt, folglich war diese noch mehr als bisher bedroht.
Nach diesen Gesichtspunkten handelte man. Am 21. Mai 1828 trafen die
Bundcstagegesandten einer bedeutenden Anzahl deutscher Staaten die erste
Verabredung, und am 18. August begannen zu Kassel Verhandlungen zwischen
Hannover, Sachsen, den thüringischen Staaten, Kurhessen, Oldenburg, Braun¬
schweig. Nassau, Hessen-Homburg, Bremen und Frankfurt wegen Abschluß eines
Handelsvereins. Dieselben hatten Erfolg; denn sie waren einerseits unwesent¬
licher, andrerseits ganz allgemeiner Natur. Durch einen auf sechs Jahre ab¬
geschlossenen Vertrag kam am 24. September schon der sogenannte mittel¬
deutsche Handelsverein zu Stande. Nach ihm fand freier Eingang von
einem der vereinigten Staaten in den andern nur für Getreide und Kartoffeln,
Heu, Stroh, Holz und Steinkohlen statt, aber der Zweck war der alte gro߬
artige, den Artikel 19 der Bundesacte zu verwirklichen und „einen möglichst
freien Verkehr" sowohl unter sich als nach außen zu befördern. „Die Isolirung
blieb, aber sie blieb unter dem nationalen Gesichtspunkt einer allgemeinen
deutschen Handelsfreiheit."
Die Hauptsache aber kommt nach: die Staaten des Vereins verpflichteten
sich, ohne ausdrückliche Einwilligung des letzteren mit keinem Staate, der nicht
zu ihm gehöre, in einen Zollverband zu treten — sie verpflichteten sich — das
war der eigentliche Zweck des Vereins — in Bezug auf das Zollwesen nicht
preußisch zu werden. Nach einem Jahre schloß man einen neuen Vertrag, der
die Dauer des Vereins bis zum Jahre 1841 erstreckte. Aber dieser weiteren
Ausdehnung ihrer Verbindlichkeit traten schon einige Staaten nicht mehr bei,
und im Hinblick auf den Ablauf der ursprünglichen sechs Jahre schlössen erst
die Fürsten von Neuß und später Weimar Verträge mit Preußen ab. Im
Innern zeigte sich der Verein bildungsunfähig, und so entwickelten sich innerhalb
desselben Sondervereine wie der, welcher 1830 durch den eimbccker Vertrag
zwischen Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Kurhessen gestiftet wurde.
Ehe dieser jedoch zur Ausführung kam, fand in Kurhessen der Umschwung
statt, in welchem Aegidi mit Recht „die Katastrophe der gesammten Vor¬
geschichte des deutschen Zollvereins" erblickt.
Kurhessen war dem preußischen Zollsystem von 1818 zuerst entgegengetreten
und nicht blos mit Worten. Am 17. September war in Kassel ein förmlicher
Handelskrieg gegen Preußen erklärt worden. Das betreffende Gesetz äußerte
sich im Eingang leidenschaftlich über die neuen preußischen Einrichtungen, hob
dann das Bedürfniß von Repressalien hervor, machte das Recht dazu geltend
und setzte diese Repressalien sofort ins Werk. Es erhöhte die Abgaben einer
ganzen Reihe preußischer Fabrikerzeugnisse um 2 bis 8 Thaler für den Centner,
verbot die Einfuhr von andern Artikeln aus Preußen gänzlich und legte auf
hessischen Pfeifenthon, der für einige benachbarte preußische Fabriken kaum zu
entbehren war, einen beträchtlichen Ausgangszoll. Es fügte Preußen damit
in der That einige Nachtheile zu, aber dieses war in der Lage, sich vornehm
über die Maßregel hinwegsetzen zu können. Darauf gerieth man in Kassel in
Verlegenheit, wie man mit Anstand den Rückzug antreten könnte. Ein Vor¬
wand fand sich: allgemeine Revision des Zolltarifs, und siehe da, die Retor-
sionsmaßregeln verschwanden bis auf einen geringen Rest.
So hatte Kurhessen, immer energisch, den Vernichtungskampf gegen das
preußische System eröffnet. Dann hatte es, wie wir sahen, auf den wiener
Conferenzen durch seine Weigerung, dem Berstett-Marschallschen Sonderbunde
beizutreten, diesen im Entstehen beinahe vereitelt und ihn, da er ohne Kurhessen
auf Bayern angewiesen war und Bayern hohe Zölle wollte, jedenfalls fast
inhaltlos gemacht. Jetzt nun war Kurhessen seiner ganzen Lage nach für die
gegen Preußen gerichtete Tendenz des mitteldeutschen Handelsvereins Kern- und
Hcbelpuntt. Aber die Bevölkerung fand diese Stellung des Landes unbequem,
in den Grenzgegenden und den südlichen Provinzen entwickelte sich ein förm¬
licher kleiner Krieg derselben gegen das verhaßte Mauthsystcm, es entstanden
an verschiedenen Orten, besonders in Hanau, bedenkliche Unruhen, auch waren
die finanziellen Ergebnisse der „Zollreformen" fortwährend sehr unbefriedigend.
Da beantragte Kurhessen endlich seine Aufnahme in den Zollverein Preußens
und Darmstadts, und dieselbe fand am 25. August 1831 vermittelst eines Ver¬
trags statt, in welchem das Kurfürstenthum die preußische Gesetzgebung über
Ein-, Aus- lind Durchgangsabgaben, das Zollgesetz, die Zollordnung und den
Tarif des preußisch-darmstädtischen Vereins annahm. Im Einverständnis; mit
Preußen und der großherzoglichen Negierung wurden die im Kurstaat einzu¬
führenden organischen Bestimmungen und die damit , in Verbindung stehenden
reglementären Verfügungen und Instruktionen abgefaßt und die gesammte Zoll¬
verwaltung desselben wie in den bisherigen Vereinsstaaten organisirt. Verträge
über die Aufnahme andrer Staaten in den Zollverband sollten nur unter Zu¬
ziehung sämmtlicher paciscirender Theile abgeschlossen, solche Verträge mit an¬
dern deutschen Staaten auf der Grundlage dieses Vertrags sollten angestrebt
werden.
Seit Kurhesseus Beitritt bildete — und das war der hauptsächlichste Fort¬
schritt — das ganze Zollgebiet einen einzigen, von einer wohlabgeschlossnen
Grenze umzogner Körper, und zugleich war der Sonderbund gesprengt, welcher
der Gründung eines größeren deutschen Handelsstaats bisher in Gestalt des
mitteldeutschen Handelsvereins entgegengestanden hatte. Kurhessen verband die
getrennten Theile der preußischen Monarchie und vollendete dadurch die materielle
Verschmelzung der elf Millionen Deutschen, die sich Preußen nannten. Ein mittel¬
deutscher Verein war fernerhin nicht mehr im Stande, sich zwischen Hessen-
Darmstadt und Preußen zu schieben und als Keil das letztere in Stücke zu trennen.
Bald nach diesem entscheidenden Vorgang begannen die Verhandlungen
zwischen dem Süden und dem Norden, welche mit dem Vertrage vom 22. März
1833 und der allmciligen Vereinigung der beiden Zollvcrbände zu einem
großen deutschen Zollverein endigten.
Zum Schluß seiner Abhandlung wirft Aegidi die Frage auf, ob schon von
Anfang an in Preußen der Gedanke an ein System von Verträgen gelebt, wie
sie nach und nach die Angliederung der deutschen Staaten an Preußen in Zoll-
und Handelssachen bewirkten, die wir im Vorhergehenden verfolgt haben. Er
antwortet darauf zunächst: Die preußische Regierung selbst hat, als mit Baden
über den Beitritt zum Zollverein verhandelt wurde, in officieller Note offen
ausgesprochen: „Es muß dem Verfasser der badischen Denkschrift von 1819
(Nebenius) zur großen Genugthuung gereichen, wenn er aus den Verträgen
der jetzt zu einem gemeinsamen Zoll- und Handelssystem verbundenen Staaten
ersehen wird, wie vollständig nunmehr die Ideen ins Leben getreten sind, welche
von ihm schon im Jahre 1819 über die Bedingungen eines deutschen Zoll¬
vereins gesagt und bekannt gemacht worden sind." Folgt daraus, daß der
preußischen Politik im Jahre 1819 diese Ideen fremd waren?
Nebenius schreibt: „Alles, was später nach dem Zustandekommen des
Zollvereins von früheren Absichten und Einleitungen des preußischen Cavinets
in Bezug auf eine deutsche Handelseinigung behauptet wurde, ist reine Er¬
dichtung."
Die Pr. Jahrb. sind ähnlicher Ansicht, sie meinen, die Preußische Politik
in der nächsten Zeit nach den Freiheitskriegen sei nicht so weitblickend, so großer
Gedanken nicht fähig gewesen, und in der That ist die Meinung begreiflich,
daß man erst später aus der Erfahrung die Vortheile allmäliger Vergrößerung
des Zollgebietes über den Umfang der preußischen Monarchie hinaus erkennen
lernte.
Aegidi und Weech sind dieser Ansicht nicht, und jener unterstützt seine
gegcnttmlige Meinung mit Gründen, die uns genügen, und die wir auch durch
eine Stelle in Viebahns „Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutsch¬
lands" bestärkt sehen. Hier heißt es S. 163, wo Von dem Zollanschluß des
Königreichs Sachsen die Rede ist:
„Am 29. December 1830 wurde der Minister v. Lindenau beauftragt, die
Unterhandlung wegen näherer commcrzieller Verbindung mit Preußen vorzu¬
bereiten. Auf das ihm überbrachte königliche Schreiben antwortete der König
von Preußen: Schon seit Einführung des neuen Zollsystems in meinen Staaten,
welches im Gegensatz zu dem früheren hauptsächlich zu dem Ende aufgestellt
wurde, um nächst Beseitigung aller Hemmungen des innern Verkehrs auch com-
merzielle Verbindungen mit dem Auslande möglichst zu erleichtern, habe ich
meine Sorge darauf gerichtet, diesen Zweck besonders im Verhältniß zu den
deutschen Staaten zu erreichen. Die diesfälligen Bemühungen sind auch nicht
ohne Erfolg geblieben. Mit mehren deutschen Staaten sind bereits Zoll- und
Handelsverträge abgeschlossen worden, deren wohlthätige Wirkungen bald erkannt
wurden. Wiewohl der Abschluß dieser Verträge stets nur mit einzelnen Staaten
erfolgte, so hatte man dennoch dabei nicht ein ausschließliches Interesse der
unmittelbar hieran Betheiligten im Auge, sondern man verfolgte dabei zugleich
den Gesichtspunkt, daß die einzelnen Verträge als Mittel dienen möchten, der
Freiheit des Verkehrs in Deutschland überhaupt eine größere Ausdehnung
zu geben."
Aegidi aber sagt: „Die Vortheile der subsequenten Vergrößerung des Zoll¬
gebiets über Preußen hinaus lernte man (in Berlin) nicht erst später aus der
Erfahrung kennen. Die preußischen Staatsmänner, die Gründer der Zollreform
von 1818 (der Handelsminister Graf Bülow, die Staatsräthe Beuth und Kunth,
vor allen aber der Ministerialdirector Karl Georg Maaßen), der königliche
Gesetzgeber selbst kannten sie im Jahre 1819. Grade im Gegensatze zu der
Idee einer durch gemeinschaftliche Berathung auf Grund des Artikels 19
der Bundesacte zu erstrebenden deutschen Handelscinigung faßte die preußische
Politik schon 1819 eben, die subsequente Vergrößerung des Zollgebietes fest
ins Auge."
Den urkundlichen Beweis dieser Behauptung bleibt Aegidi nicht schuldig.
Er liegt in der Denkschrift Hardenbergs vom 10. November 1819, welche dem
Grafen Bernstorff als Instruktion für die wiener Ministerconferenzen mitgegeben
wurde, und in Bezug auf welche Friedrich Wilhelm der Dritte ausdrücklich er¬
klärte: „er stimme den darin entwickelten Gesichtspunkten vollkommen bei."
Darin aber heißt es wörtlich: „6) Erleichterung des Handels und Verkehrs
zwischen den einzelnen deutschen Staaten."
Schon im Artikel 19 der Bundesacte ist eine Berathung darüber ange¬
ordnet, welche jedoch die Bundesversammlung noch nicht vorgenommen hat.
Die Sache läßt sich nur mit großer Vorsicht und Behutsamkeit behandeln,
weil sie tief in die innere Finanz- und Gewerbeverfassunz der einzelnen Staaten
eingreift.
Die Anregung, welche dieselbe neuerlich durch viele Stimmen im Publikum
(Beziehung auf die öffentliche Meinung im südlichen und mittleren Deutschland
und vorzüglich wohl auf den Handelsverein und dessen Agitation) erhalten hat,
ist besonders von der Ausführung unsrer neuen Steuerverfassung ausgegangen.
Zu gemeinsamen Anordnungen für ganz Deutschland ist der Zustand und
die Verfassung der einzelnen Staaten nichts weniger als vorbereitet, auch wird
jeder einzelne Staat die Garantie vermissen, daß die gemeinsamen Anordnungen
in einem übereinstimmenden Sinne von allen gehalten werden.
Man kann daher die Sache nur darauf zurückführen, daß einzelne Staaten,
welche durch den jetzigen Zustand sich beschwert glauben, mit denjenigen Bundes¬
gliedern, von welchen nach ihrer Meinung die Beschwerde kommt (selbstverständ¬
lich ist hier allein oder doch vor allem Preußen gemeint), sich zu vereinigen
suchen, und daß so übereinstimmende Anordnungen von Grenze zu
Grenze weitergeleitet werden, welche den Zweck haben, die innern
Scheidewände mehr und mehr fallen zu lassen."
Wir sind am Ende unsrer Auszüge. Blicken wir mit Aegidi auf den Gang
der Genesis des Zollvereins, der wichtigsten nationalen Schöpfung Deutschlands
seit Beginn des Zerfalls des Reiches, zurück, so haben wir ein anfangs nichts
weniger als erfreuliches, zu Ende aber um so befriedigenderes und für die
nächste Zukunft sehr tröstliches Schauspiel vor uns. „Die besten Männer
Deutschlands" streiten leidenschaftlich für ihre Auffassung des Weges zur
deutschen Einheit gegen die preußische Auffassung. Sie thun, was in ihren
Kräften liegt, um die große Reform, welche zehn Millionen in Preußen lebender
Glieder der Nation wirthschaftlich eint, rückgängig zu machen. Diese Reform
erweist sich glücklicherweise stärker als die vereinigten Kräfte ihrer Widersacher.
So verzweifeln diese endlich am Erfolg des Kampfes für ein alle umfassendes
Zoll- und Handelssystem. Sie schließen Verträge von Staat zu Staat unter
sich; nur an einen Vertrag mit dem obstinaten Gegner des Artikels 19 ist,
wie es scheint, durchaus nicht zu denken — eher an einen mit Frankreich oder
der Schweiz. Das preußische System aber wird durch jene Uebereinkünfte nicht
erschüttert, die Noth nur sehr unwesentlich gehoben. Der Berg kommt nicht
zu Mohammad, da muß wohl Mohammad zum Berge kommen. Die Preußen
nehmen, ihrer Sache sicher, keine Rücksicht auf die Gegenmaßregeln der übrigen
Deutschen gegen ihr neues Zoll- und Steuerwesen, da nehmen endlich die
Deutschen, Staat nach Staat, nothgedrungen das Preußische Zoll- und Steuer¬
wesen als das ihrige an, und siehe da, allgemeine Befriedigung folgt auf die
allgemeine Entrüstung: das „Haupthinderniß" der Einigung wird die Grundlage
der deutschen volkswirtschaftlichen Zukunft.
Die Moral hiervon ist zu Anfang dieser Aufsätze gegeben. Die Anwendung
derselben auf die gegenwärtig allmälig in den Vordergrund rückender Fragen
weiterer Forderung Deutschlands zur Einheit und zunächst auf die schleswig¬
holsteinische Frage wollen wir denen anheimgeben, die sich jetzt „die besten
Männer Deutschlands" nennen lassen, jetzt auf dem deutschen Patriotismus,
der politischen Sittlichkeit und dem Verständniß des wcchren Wohles der Nation
in Erbpacht sitzen und jetzt fast genau so wie damals gegen den Egoismus
Preußens und seine Verkennung des rechten Weges zur Einheit declamiren.
Die Zukunft wird auch sie als gute Leute, aber schlechte Musikanten erkennen
lassen.
Wenn der Verfasser, wie uns scheint, bei den letzten
Worten vorzüglich an die „besten Männer Deutschlands" gedacht haben sollte,
welche in diesen Tagen zu Frankfurt wieder einmal die allgemach ziemlich aus
der Mode gekommene Resolutionsposaune bliesen, so hat sich seine Vorhersagung
schon erfüllt. Man hatte einen „deutschen Abgeordnetentag" berufen, und als
unser Herrgott den Schaden besah, hatten sich aus die Einladung etwas mehr
als dritthalbhundert Herren zusammengefunden, von denen die bei weitem
größere Hälfte nur die Stimmung der südwestdeutschen Ecke vertrat. Die Redner
und Antragsteller perorirten mit gewohnter gesinnungstüchtiger Geschwollenheit
im Namen deutscher Nation, und die achtzehn Millionen Deutschen in der
preußischen Monarchie waren durch volle sieben Mann repräsentirt. Der frank¬
furter Club wollte dem Staate Preußen seine Pflicht vorschreiben und vergaß,
daß von allen deutschen Staaten bis heute nur Preußen in der Schleswig-hol-
steinischen Sache seiner Pflicht mit Besserem als Redensarten nachgekommen ist.
Man befürwortete einen Kompromiß, über den die Geschichte längst zur Tages-
ordnung übergegangen ist, und der, abgesehen davon, daß er für Preußen und
damit für Deutschlands Zukunft durchaus nicht zureichend war. von Seiten der
Schleswig-Holsteiner auf Spiegelfechterei und Beschwindelung hinauslief. Man
geberdete sich als Macht und bewies damit aufs neue und schlagender wie je
seine Ohnmacht, nicht blos dem verhaßten Regiment in Berlin gegenüber, son-
dern selbst vor dessen Gegnern, soweit sie vor Verdruß über dieses Regiment
noch den Segen zu sehen vermögen, der für uns trotz alledem in der Existenz
des preußischen Staates liegt. Man dachte Parlament zu spielen und erinnerte
lebhaft an den Pickwickier-Club. Man meinte für die Geschichte zu arbeiten
und brachte es nur zu Stoff für den Kladderadatsch. Illusionen, Phantasien,
ungerechtfertigte Antipathien, längst zu bloßen Phrasen heruntergekommene Ge¬
danken waren der Anfang und das Ende vom Liede. Liberales Philisterthum,
das sich in sittlicher Entrüstung über Nothwendiges gefällt, gepaart mit voll¬
ständiger Unkenntniß der Natur und der eigentlichen Ziele des Schleswig-hol-
steinischen Particularismus, andrerseits bornirter Haß gegen das, von wo uns
Deutschen bei aller seiner jetzigen innern Verkümmerung doch allein zuletzt das
Heil kommen muß, verbunden mit süddeutschem idealistischen Aberglauben traten
zusammen, es uns vorzutragen. In der That, gute Leute, aber wirklich recht
schlechte Musikanten!
Wilhelm Mannhardt in Danzig hat im Laufe des Sommers 1864 und
soeben nochmals die Bitte ausgehen lassen, ihn durch nachdrückliche Sammelhilfe
auf dem Gebiete der alten agrarischen Gebräuche, zunächst der Erntesitten in
den Stand zu setzen, das Bild des einst Gewesenen aus den Bruchstücken her¬
zustellen, mit Sicherheit seine Bedeutung zu entziffern und vermittelst sprachlicher
und historischer Studien jedes einzelne Glied in den richtigen Zusammenhang
einzufügen. Zu diesem Ende hat er zum vorläufigen Verständniß des zu sam¬
melnden Materials eine Reihe von Fragen aufgestellt, die allein schon die Auf¬
merksamkeit der Freunde des Volkslebens zu reizen vermögen. Möchten ihm
der willfährigen und sinnigen Mitarbeiter an dem vaterländischen Werke recht
viele werden; jeder einzelne Sammler, der ihm zur Hand ginge, dürfte in seiner
eigenen kleinen Mühe auch schon reichlichen Lohn finden.*)
Der Verfasser dieser Zeilen selbst hat sich in seiner Umgebung gemäß der
Anleitung Mannhardts umgesehen und in kurzer Zeit unerwartete Entdeckungen
gemacht. Es sind ihm aus dem Volksmunde eine Menge erbthümlicher
Sitten und Sagen zur Kenntniß gebracht worden, die anderweitige Mittheilungen
theils bestätigen, theils erklären oder auch um Wesentliches vermehren. Indem
er hier einige solche aushebt, die auch ohne sprach- und sittengeschichtlichen oder
mythologischen Kommentar ziemlich verständlich lauten werden, bemerkt er nur,
daß dieselben aus der Landschaft Zürich stammen, derjenigen Schweizer¬
landschaft, welche unter allen, infolge der ausgedehntesten Volksbildung, ver¬
hältnißmäßig vielleicht die wenigsten Ueberreste alten Volkslebens mehr ausweist.
Und doch leben, wie sowohl eigene Anschauung als die zuverlässigsten Gewährs¬
leute bezeugen, von den hier verzeichneten Zügen die meisten noch heute; den
Reichthum des anderwärts noch Vorhandenen mag man darnach bemessen.
Wie der Säemann in die „Art" (den neugepflügten Boden) den Samen
im Namen der h. Dreifaltigkeit ausgestreut oder auch wohl mit dem Spruche:
„Was i schaffe, das thun i mi't Fuß — Mög 's Herrgvtte Gnad si bi us";
und wie er seine Arbeit mit den Worten beschlossen hat: „Nun gebe der liebe
Herrgott den Segen darein" — so wird nun auch beim Ernten aus dem ersten
Acker gesprochen: „Walt Gott, well (wolle) Gott, daß es wohl ausgebe!" und
wenn Abends die „Betzeitglocke" ertönt, so schneidet nach uralter Sitte jeder
Schnitter noch drei Handvoll Getreide und verläßt dann das Feld mit dem
kurzen Gebetworte: „Walt Gott truii" (treulich).
Man unterscheidet eine weiße Ernte., die Kornelle, und eine schwarze, die
Roggenernte. Die sogenannte Sommerfrucht, Gerste und Hafer, wird meistens
mit der Sense, die Winterfrucht dagegen, Weizen, Roggen und Korn (Dinkel),
noch immer mit der Sichel geschnitten. Ein Geschulte besteht gewöhnlich
aus einem Mann und drei bis vier Frauen oder aus einem Schnittermeister
und drei bis fünf Schnittermädchen, die sich in das Geschäft des Schneidens,
des Antragens (Sammelns) und Bindens theilen. Oefters sind dabei fremde,
von Würtemberg oder aus dem Schwarzwald herübergekommene Arbeiter; von
diesen übernimmt jedoch keiner das Binden; dies ist eine Ehrenarbeit, die ent¬
weder der Bauer selbst oder mindestens ein Einheimischer, jedenfalls immer
eine männliche Person beansprucht. „Geschrill" ist indessen auch der Name
für jede größere Gesammtheit der Schnitter auf einem großen Hofe. Diese
ziehen mit einem Geiger an der Spitze auf das Feld, und nun wird hier nach
dem Takt der Musik gearbeitet. Hatte bei der Aussaat der Säemann die drei
ersten Körner in die Luft geworfen, so wirft jetzt auch der Schnitter die drei
ersten Aehren in das Getreidefeld hinein, um die „Kornmntter" zu befriedigen
und das Getreide ergiebiger zu machen; und die zwei ersten Handvoll Halme,
welche zur Seite gelegt werden müssen, werden kreuzweise übereinander gelegt.
Wer nun nicht nach dem Takt schneiden, d. h. Schritt halten kann, dem wird
ein „Fulacher" (Faulacker) bereitet; die Voranschreitenden trennen ihn nämlich
von ihrer Gemeinschaft ab, indem sie in einiger Entfernung von ihm die durch
sein Zurückbleiben unterbrochene Linie wieder schließen und so den „Faulen"
auf einem isolirten Stück, einer kleinen Getreideinscl, zurücklassen. Das nennen
sie dann das Zipfelschneiden. Der Geiger spielt dabei seine stehende altmodische
Zipfelweise und singt ein Spottlied dazu, indeß das ganze Beschnitte den
Armen höhnt: „Ab, Acckerlein ab. so kommt der faule Schnitter drah!" Und
zum Spott gesellt sich oft noch der Schaden: der faule Schnitter, dem vorzugs¬
weise der appellative Schimpfname Hciisch beigelegt wird, muß zur Buße die
ganze durstige Gesellschaft mit Wein und Käse tractiren. Bisweilen geschieht
es aber auch umgekehrt, daß eiwa ein besonders flinker Flügelmann den Andern
vorausschncidet, unvermerkt quer durch das Feld fährt und alsdann zur andern
Seite plötzlich die Sichel schwingend auftaucht mit der jubelnden Genugthuung,
den Ueberraschten allesammt ein „Aeckerlein" abgeschnitten zu haben. — Der
einzelne Schnitter soll aber auch nicht — etwa mit der beliebten Formel: „Die
Katze will mir auf den Buckel springen" — die Mühen der Arbeit beklagen,
um nicht Muth und Kräfte der Uebngen zu behindern. Wer sich mit unzeitiger
Empfindlichkeit über Rückenschmerzen beschwert, von dem spottet man: der Lenz
(Faullenzer) will ihm aufsitzen; ja man nöthigt ihn nicht selten unbarmherzig,
sich auf den Bauch zu legen und nach der Musik des Geigers von einem aus
dem Geschnitte sich auf dem Rücken herumtanzen zu lassen.
Fährt etwa in der brennenden Mittagshitze ein kühlender Luftzug über
das heiße Feld hin, dann vergißt wohl selten Einer oder der Andere seine
Nachbarn zu erinnern: „Das ist den arme Lüde ihres Trinkwili". Hat mau
ein Fuder geladen und der Bauer ist anwesend und macht nicht Miene, den
sonst üblichen Trunk zu verabreichen, so hält ihm irgendein kecker Geselle einen
Korb hin mit der Bitte, den Durstigen darin Wasser zu schöpfen. — Vorüber¬
gehende grüßen mit der stehenden Frage: „Haut's es?" Und ebenso unver¬
änderlich lautet die Erwiderung: „Haut's es numme, so wetzt me!" Das Wetzen
der Sensen und Sicheln ist stets nur einem aus dem Geschnitte. wie billig dem
Geübtesten, übertragen. Der lose Neid hat aber das Sprichwort ersonnen:
„Wer gut wetzen kann, kann auch gut lügen" und umgekehrt; er meint. Sichel-
wetzen und Zungenwetzen liegen nicht eben weit auseinander. Der kurzweilige
Text, mit dem man die monotone Cadenz des Sichelschalles zu begleiten pflegt,
heißt: „Weeze me's nit, so Haut's es nit." Seltsam ist die noch überall ver-
breitete Meinung, daß die Sichel nicht mehr schneide, wenn man dem Weber
für seine Arbeit an derselben jeweilen danke. Schneidet sich jemand in den
Finger — und eine allgemeine Regel ist, daß ein rechter Schnitter sich neunmal
geschnitten haben müsse — so wird ihm angerathen, drei Halme quer über¬
einander zu legen und darüber in den drei höchsten Namen bluten zu lassen;
auch das Nasenbluten wird auf diese Weise gestillt.
So oft ein Feld abgeschnitten ist, muß es von sämmtlichen Schnittern
„usghölet„ (aufgejauchzt) werden. Hat ein Schnitter aus Versehen ein Büschel
Halme stehen lassen, so knüpft man dieselben oben zusammen und läßt sie so
ihm zum Spott ungeschnitten. Uebersieht er aber auch nur einen einzelnen
Halm, so hat der Finder desselben das Recht, eine Buße von ihm zu erheben.
Geht ein Fremder vorüber, so wird er „in die Halmen genommen". Man
umfängt ihn unversehens mit einer Schlinge von Halmen, bindet ihm auch
wohl einen Halm an den Rockknopf und hält ihn so lange fest, bis er sich
loskauft. Dasselbe geschieht dem Bauer oder der Bäuerin, sofern sie nur zum
Besuch auf das Feld kommen. Bon dem jüngsten „Hochzeiter" im Dorf wird
desgleichen, wo er sich eben sehen läßt, „etwas in die Halmen" d. h. ein Be¬
nefiz verlangt. So zieht man sich Zoll und Trinkgeld ein. Aber mit dem
Ueberschuß des Erntesegens wird der Arme bedacht; derjenige, welcher die Garbe
bindet, drückt noch insbesondre mit dem Knie auf jegliche Garbe, damit für die
Aehrenleser mehr Aehren abfallen. Ja die Aehrenleser werden gar nicht selten
mit dem gespeist und getränkt, was sich die Schnitter von ihrem eigenen Unter¬
halt abbrechen; überdies geht der Dorfwächter von Haus zu Haus und sammelt
Brot für die fremden Aehrenleser, und der Gutsherr selbst giebt ihnen Herberge.
Für die Armen bleibt ein Stück Feldes auch etwa ganz ungeschnitten. Auf
Verspottung oder sonstiger liebloser Behandlung der Aehrenleser liegt die gött¬
liche Strafe schweren Unsegens. Ein übermüthiger Bauer fragt einen Trupp
dieser Armen im Scheinton der Freigebigkeit: „Möget ihr Brot?" um, da sie
bejahend antworten, den rohen Witz zu machen: „Gut, so esset brav, wenn ihr
heimchömet!" Aber von Stund an hatte er selbst mit dem Hunger zu kämpfen.
Ja jeglicher Mißbrauch der Gottesgabe durch Wort oder Handlung steht unter
dem Fluch. So erzählt man sich, wie ein Vater zur Erntezeit sein Kind in
der Absicht, es für irgendein Versehen abzustrafen, mittelst Vorhaltens eines
Weißbrötchens zu sich gelockt und das so getäuschte Kind hierauf an eine in
der Nähe befindliche Eiche gebunden und gezüchtigt habe; nun sei der Teufel
in eigener Person erschienen und habe den Vater entführt; der Weg, den er
dabei quer durch das Feld genommen, sowie der Baum, an dem er die unna¬
türliche Strafe vollzogen, werden heute noch gezeigt; die Eiche ist seit Menschen¬
gedenren dürr und jener Fcldstrich unfruchtbar.
Wenn früher, zur Blüthezeit, der Wind bei schönem Wetter Wellen im
Korn schlug, so hieß es: „Die Engel fahren über das Feld und segnen es".
Jetzt, zur Erntezeit, „fahren die Schafe über das Korn" oder „der Wolf läuft
durchs Saatfeld, die Sau läuft in der Frucht, die wilden Schweine jagen sich,
der Wind Sanct im Korn, das Korn waltet". Hebt aber ein Wirbel oder
Windstoß bereits ausgebreitetes Getreide unordentlich in die Höhe, daß er eS
„verhadert", so wird er mit dem Zuruf beschworen: „Alte Hexe! werft ihr die
Sichel nach!" Aeltere Leute behaupten noch, solche Sicheln gesehen zu haben,
die Von dem Blute der Windsbrauthexen, nach welchen sie geworfen worden,
rothgefärbt waren. Um die Kinder vom Betreten des Getreides abzuhalten,
warnt man sie vor dem darin lauernden „Kornhansli". Sie wissen indessen
auch noch von dem Wolf, der im Getreide haust; man warnt sie förmlich auch
vor diesem; und ein Nein, den sie zu einem ihrer Fangspiele immer noch
fortsingen, lautet:
Das Kornfeld kann auch gebannt werden. Wer z. B. ein fremdes Feld
zur Nachtzeit betritt, findet leicht den Ausgang nicht mehr, bis ihn der Eigen¬
thümer selbst aus dem Bann befreit. Nur ein Mittel giebt es, sich selber zu
befreien: Der Gebannte muß seinen Nock ausziehn, ihn umgewendet auf den
Boden legen, darauf treten und so vorwärts rutschen, ohne mit seinen Füßen
den Boden zu berühren. — Das Mutterkorn, dieser dunkelviolette, gekrümmte
Kornpilz, heißt Roggenzahn, Roggennägeli und Tüselschrcueli (Teufelskralle).
Mit großer Scheu betrachten die Schnitter die häufig im Getreide wachsende
rothe Kornrade (I^otras MwLo): sie bedeutet ein nahes Sterben im Hause
des Bauers. Dagegen freuen sie sich über das sogenannte Glückshäfeli, ein
pilzartiges kelchförmiges Pflänzchen. So viele Samenkörner es enthält, so
manchen Gulden wird Heuer der Müde Kernen gelten — oder: so manches Tausend
Gulden ist der Acker werth, auf dem es steht. Die Körner selbst heißen Brötchen.
In die Schuhe gelegt, verhelfen sie zu einem glücklichen Fund. Ebenso vor-
bedeutend sind die Schläge der Wachtel im Getreidefelde; sie bestimmen die
Zahl der Batzen, welche das Brot im kommenden Frühling gelten wird. Im
Jahr 1816 soll die Wachtel geschlagen haben, bis ihr der Athem ausging. —
Was etwa am Nosatag gesät wurde, das ergab lauter kleine taube Aehren,
die nun „Rösli" heißen. „Ghurig" d. h. stehend und liegend durcheinander
verwachsen ist die Frucht, welche an Fronfasten gesäet wurde. — Gern bindet
man wo möglich in jede Garbe etwas Wollkraut ein; es schützt sie gegen die
Mäuse in der Scheune. — Der letzte Acker, auf welchem geschnitten wird, heißt
der „Mucheiacker" (anderwärts Mockel Kuh, auch schweizerisch Mauchli ----
-
Alpstier, Zuchtochs), ebenso derjenige, welcher die letzten Halme schneidet, der
Schnittermuchel, oder, je nach der betreffenden Getreideart, der Korn-, Weizen-,
Gersten-, Hnfcrmuchel (auch Muffel und Michel) oder auch „Stütz" und „Sau".
Das Häuflein Geschnittenes, weiches bisweilen auf dem Felde zurückgelassen
wird, damit der Segen des folgenden Jahres nicht ausbleibe, heißt mit bild¬
licher Anwendung des Verfahrens beim Teigkneter „Hebel" (Sauerteig). Die
mannigfaltigsten, offenbar am meisten mit mythologischen Beziehungen erfüllten
Namen erhält die letzte Garbe. „Drei Schnitt es Hämpveli (kleine Hand
voll), drü Hämpveli e Hampvle, drei Hampvle es Hüfeli, und drü Hüfeli e
Garb" — das ist sprichwörtlich die Zusammensetzung jeder regelrecht geschaffenen
Garbe. Wenn nun schließlich statt jener drei oder vier Häuschen nur noch eins
bis zwei übrigbleiben, so wird diese kleinere Garbe unter Zujauchzen sämmt¬
licher Schnitter als „Wiege" begrüßt, wobei es nicht an Neckereien und Beglück¬
wünschungen zwischen Schnittern und Schnitterinnen fehlt. Bisweilen wird
auch eine solche Wiege dahin gedeutet, daß der Bauer nächstens werde „erfreut",
d.h. mit einem Nachkommen gesegnet werden. Andere Namen der letzten Garbe
sind Glücksgarbe. Glückshämpveli, Großmütterli, Rätschvogei. Güggel (Gockel),
Has, Fuchs. Früher gab man ihr auch wirklich oft Thiergestalt. In ihr liegt
eine vornehmlich schützende und segnende Kraft geborgen. Traf man während
des Schneidens Sauerampfer an, so hob man ihn auf und bindet ihn nun
mit in diese letzte Garbe ein, oder man thut ebendasselbe mit einem Stein und
glaubt beidemal einen vortrefflichen Talisman zu haben, der das Vieh vor
verschiedenen Krankheiten bewahre. Zum Gedeihen des Viehes muß auch etwas
von der letzten Garbe in die Krippe gelegt werden; ganz besonders fett aber
und milchreich wird es, wenn es am Wcihnachtsmorgen während des „Ein-
läutens" mit den Aehren der letzten Garbe gefüttert wird. Noch unlängst
bestand auch da und dort der Brauch, die erste und die letzte Garbe unter dem
Vordache der Scheune zu befestigen, „damit sie den Vögeln zur Speise dienten"/)
Bleibt aus Versehen ein Häufchen Getreide auf dem Felde liegen, so geht die
Rede, eine von den Personen, welche gehänselt haben, müsse „Windeln bereit
machen". Beim Schneiden der letzten Halme flechten endlich die Schnitter eine
Kornkrvne, die sie dem Bauer oder der Bäuerin um den Hals werfen, worauf
sie erst den üblichen Schlußtrunk erhalten. Ueber den Lohn an Geld hinaus
bekommt der Binder als bevorzugte Ehrenperson zwei Brote, die er an einem
an beiden Enden zugespitzten Stab auf der Schulter nach Hause trägt;
oder er erhält statt dessen das Zeug zu einer neuen Zwillichhose. Auch die
„Anträger" bekommen mitunter noch einen Extrawecken mit dareingebackenem
Trinkgeld.
Mit einem „Walt's Gott bis über's Jahr" wird das Feld verlassen. Auf
der Heimfahrt gilt es mit dem vollen Wagen vorsichtig zu sein; denn hat dieser
das „Ungefäll", umzuleeren, so trägt dies dem Eigenthümer gemeiniglich den
Ruf ein. Geizes halber bestraft worden zu sein, und der ungeschickte Fuhrmann
selbst — wenn nicht der Sohn des Bauers — wird mit dem Orakelspruch
geschreckt, er werde eine böse Sieben zur Frau bekommen. Einen besonderen
Act des Ernteschlusses bildet die Maskirung und Bekränzung deS Sichelträgers,
nämlich des jüngsten oder des zuletzt in Arbeit getretenen Schmieders, welcher
täglich die Sicheln zu Felde nachzutragen hatte. Jetzt, am letzten Erntetag,
wird er von seinen Mitarbeitern mit einer Vermummung abgelohnt und nach
dem Instrument, in welchem er sein Bündel Sicheln trug, das „Sichelschit"
benamset, und hat fortan die Rolle eines Hanswurstes zu spielen.
Die Feier des Ernteschlusses fällt in Mitte oder Ende des Juli; sie heißt
Sichellegi, Sichelhcnki, Sichcllösi, oder — nach dem Vogel der Fruchtbarkeit
und des Erntesegens, der ehemals dabei gefeiert und zugleich verschmaust wurde
— Krähhahne; denn den Mittelpunkt dieser Feier bildet eben die Mahlzeit mit
ihrem mancherlei Heuerimbiß. Da Pflegt denn auch der Dorfschlächter dem
Gutsherrn einen „Schafschlegel" (Hammelkeule) zu überschicken, womit er sich
die Erlaubniß erwirbt, die Stoppelfelder mit seiner Schafherde auszuweiden.
Eine charakteristische Redensart bei dieser Erntemahlzeit heißt: „Der Wein muß
um ein paar Dauben tiefer stehn". Sache der Hausfrau ist es, dafür zu sorgen,
daß wo möglich schon am Abend dieses Tages einige große „Erntebrotc". aus
dem neuen Getreide gebacken, aufgetischt werden. Feiern, wie das gewöhnlich
geschieht, mehre Häuser oder Höfe den Krähhahnen gleichzeitig, so besucht man
sich paarweise und unter allerlei Maskeraden, bis schließlich ein gemeinschaftlicher
Tanz alle vereinigt. Oft stattet man auch einer Nachbargemeinde einen Besuch
ab aus einem Wagen, aus welchem all das Geräthe mitgeführt wird, welches
man zur Ernte gebrauchte.
An dem Erntesonntag, dem kirchlichen Dankfest, pflegte man noch unlängst
eine gewaltige Garbe mit zur Kirche zu bringen, die dann schließlich den Armen
der Gemeinde überlassen wurde. Am Abend dieses Tages holt jeder „Schnitter-
chnab" sein „Schnittermaidli" zum Tanz ab.
Bald nun, nachdem mit dem leichten Unterpflügen der Stoppeln, welches
Strüchen oder Serum heißt im Gegensatz zu dem Eren, d. h. dem eigentlichen
Pflügen, das Erntewerk auf dem Felde völlig beendigt ist, geht es ans Dreschen.
Am liebsten wird diese Arbeit im Wintermonat und zwar im abnehmenden
Mond unternommen; denn „im Neumond ausgedroschene Körner werden leben¬
dig". Um dem jungen Anfänger das schwere Werk zu erleichtern und ihn in
Rhythmus und Humor zu erhalten, wird ihm der appetitliche Sechsdreschertatt
— Sechscz oder Sechsete genannt — vorgesprochen: „Gute feiße Suppe! Speck
und Oepfelstückli (gekochte Aepfel)!" oder der Achtdreschertakt: „Räbcpappe!
Räbepappe!" (Nübenbrei). Wenn er sich aber trotzdem ungeschickt benimmt,
so wird er die Zielscheibe aller erdenklichen Neckerei; er muß sich neben den¬
jenigen stellen, der an den lustigsten Einfällen nie auskommt; er wird zum
Spott nach der „Schaubscheer" oder dem „Windfaß" ausgeschickt; oder es geht
ihm schlimmer: er wird „gecselt". Zweie geben sich ein Zeichen; plötzlich steckt
ihm der Eine den Flegelstiel zwischen den Beinen durch, und er wird unversehens
in die Höhe gehoben, so daß er schwebend ohne Rath und Hilfe dem Gelächter
preisgegeben ist. Beim Auflösen der Garben wird besonders eingeschärft, daß
die Weide, mit welcher sie gebunden, wirklich ausgelöst und nicht blos abgestreift
werde; dem Zuwiderhandelnden wird in Aussicht gestellt, daß ihm ein „Höger"
(Höcker) oder ein Kropf wachsen werde. Eine alle Dreschcrregel ist, daß in der
Scheune nicht gepfiffen werden darf; wer es hierin versieht, hat den Uebrigen
einen Trunk zu bezahlen. Vorübergehende zwingt man oft, wenigstens einen
Drasch mitzudreschen. Beim Ausdrusch der letzten Garbe suchen die Drescher
die Bäuerin „in die Flegel zu nehmen", d. h. mit ihren Flegeln einzuschließen.
Gelingt es ihnen, so hat sie für jeden Drescher eine Maß Wein auf die Tenne
zu bringen; oft sucht sie sich deswegen, um diesem Opfer zu entgehen, heimlich
auf die Seite zu stehlen und wird alsdann mit der größten Beharrlichkeit
wieder hervorgesucht. Wer den letzten Dnschclschlag thut, heißt auch hier
„Dreschermuchel" oder „Flegelesel"; er hat nach dem Schlußschmaus, der sog.
„Flegelrecki", die Uebrigen gewöhnlich für einige Zeit zechfrei zu halten; und
was das heißen will, davon redet derb genug das Sprichwort- „En Dröscher,
en Wöscher und en Hund — möget alle Stund" (haben immer Appetit); oder
er wird in Stroh gewickelt und den Vögeln zur Scheu an einen Baum des
Baumgartens gebunden. Wird das Stroh gebunden, so machen sich die Drescher
überdies noch bisweilen den Spaß, eine Person — gewöhnlich ist es die Tochter
des Hauses — ins Stroh einzubinden. Hat sich derjenige, welcher den ersten
Strohbund macht, „noch nicht verändert", d. h. ist er noch unverheiratet, so
wird aus der regelrechten oder der zerzausten Form des Gcbundcs geschlossen,
ob seine Zukünftige eine „ordentliche" oder aber „unordentliche" Frau — eine
Halses — sein werde. Von dem letzten Drasch endlich fertigt der Schnitter-
muchel eine Kornpuppe an, den sog. „Strauböögg", in Gestalt und Größe eines
Mannes; sie wird in den Hof gestellt und in Gegenwart sämmtlicher Arbeiter,
die einen Ring bilden, verbrannt. Das erste Zeichen zum Beschluß der Arbeit
wird indessen mit dem Arbeitszeug selbst gegeben. Ein Schlag, den sämmtliche
Drescher zumal auf die Tenne ausführen, verkündigt dem Bauer, daß er den
Schlußtrunk zu leisten hat. Bisweilen wird statt.dessen ein Blutbann vor die
Scheune geschafft, der auf untergelegten Balken ruht; auf diesen schlagen nun
alle mit ohrzerreißenden Scandal los. und der Bauer beeilt sich, den so nach,
drücklich verlangten Wein herbeizuschaffen, damit ihm nicht Flegel und Blut¬
bann gar zu Schanden gehen.
Wird nun endlich das Korn zur Mühle geschafft, dann verrathen die Jungen
auf der Gasse unzweideutig die Meinung der Alten in Hinsicht auf des Müllers
Schelmengelüste; sie rufen im Tone des Mühlegeklappers:
Um so vorsichtiger geht man zu Hause mit Mehl und Getreide um. Mehl-
und Fruchtkasten werden niemals völlig geleert, „damit der Segen nicht aus'
geht". Ein beispielsweises Verfahren des älteren Aberglaubens, von dem auf¬
bewahrten Getreide für sieben Jahre das Ungeziefer fern zu halten, war dieses:
der „Bindknebel" für die Garben ward von einer Stechpalme genommen, welche
am Charfreitag Nachts 12 Uhr abgeschnitten werden mußte; wer die Palme
schnitt, dürfte auf seinem Gange weder zurücksehen noch Begegnende grüßen;
das Holz mußte mit Einem Streich abgehauen werden, und zwar in den drei
höchsten Namen; und während des Abschreibens mußte man ein in einem Jahr
gewachsenes Doppclschoß von einer Haselstaude im Munde halten. — Wie der
Bauer mit seinem Mehl umgehen soll, sagt ihm übrigens sein alter Spruch:
„Mühlewarm und Ofewarm — macht die riche Buren arm" — d. h. wenn
das Mehl, sobald es aus der Mühle kommt, gebacken, und das Brot, sobald
es aus dem Ofen kommt, verzehrt wird, so gereicht das dem Bauern zum em¬
pfindlichen Schaden. Beim Backen ist es der Mutter alter Brauch, daß sie
den Mehlsack, während das Brot im Ofen ist. entweder aufhängt oder sonst
sorgfältig aufthürmt. Je höher er steht, desto höher wird das Brot. Und
eine strenge Strafe hat das Kind zu gewärtigen, welches das Unglück hat, den
Sack etwa „herunterzufallen" oder zusammenzudrücken.
Der jeweilige Kornpreis ist für den Bauersmann selbstverständlich eine
Lebensfrage; kein Wunder darum, daß er ehemals, da er noch auf Hauswart
und Dachbalken, über Thür und Treppe des neuerrichteten Hauses seinen frommen
oder launigen Spruch setzte, selten vergaß, den Ansatz des Getreidepreises aus
dem laufenden Jahrgang mit hineinzureimen. „Mit Gottes Hilf ward ich aus-
gestallt — da ein Müde Kernen 3 Guldi galt — und ein Viertel Haber mit
4 Vtz. zahlt" — so lautet z. B. die Inschrift an einem Hause in Russikon,
welches die Jahreszahl 1697 trägt. —
Zahlreiche Sagen haben bis auf die Gegenwart herab den uralten Glauben
unsrer Vorfahren aufbewahrt, „daß Wuotan, der Erntegvtt, und seine Begleiter
in mancherlei Gestalten fordernd und befreundet bei dem dankbaren Landmann
verweilen und sich der dargebrachten Opfer erfreuen, bei dem verhärteten, eigen¬
süchtigen Menschen dagegen auch mit priesterlicher Härte den Ertrag zehnten
und Mangel bereiten." Davon zum Beschlusse noch zwei Proben.
Ein Bauer in Birchwyl hatte aus dem Kornzclg der Gemeinde eben seine
Ernte begonnen, als ein Gewitter herannahte. Rasch wollte er das bereits ge¬
schnittene Getreide in Garben binden und heimführen lassen; aber ein altes Weib,
angeblich aus Schwaben herübergekommen, das bei ihm als Schnitterin diente,'
versicherte, daß seinem Getreide kein Schaden drohe. Der Bauer ließ hierauf
das Getreide liegen und ging mit seinem Geschnitte zum Mittagessen, während
die Nachbarn ihr Korn so schnell als möglich heimzuschaffen bemüht waren.
Die Wolken entleerten sich; und als Nachmittags die Schnitter wieder auf das
Feld zogen, war kein einziger Strohhalm auf dem Felde des Bauers naß,
während auf den übrigen Feldern das Gewitter bedenkliche Spuren zurückge¬
lassen hatte. Das Weib aber, das dem Bauer den Rath ertheilt hatte, war
verschwunden, und Niemand sah es wieder. — In Werikon hatten die Schnitter
eines Gehöftes eben ihr Abendessen vor sich, welches in einer gewaltigen „Nidel¬
dünne" (Rahmkuchen) bestand. Da trat eine alte Frau zu den Essenden und
bat um ein Stück Dünne. Aber der maßlose Appetit der Essenden versagte
ihr die Bitte. Packt Euch! sagten sie, wir haben nichts Voriges (Uebriges)
für Euch. Auf einmal verschwand nun das Weib, man wußte nicht wie; und
halb zagend begaben sich hernach die Schnitter wieder an ihre Arbeit. Kaum
war aber eine Stunde verflossen, so kam ein gewaltiger Wirbelwind und wüthete
dergestalt auf dem Felde, daß nicht ein einziges Hälmchen darauf übrigblieb.
Der Unfall wurde dem Rachegeist zugeschrieben und diente zur guten Lehre für
den Bauer, welcher von da an wenigstens während der Ernte mildthätiger
gegen die Armen wurde.
Der Herr der Inseln von Walter Scott. Uebersetzt von W. Hertzberg.
Bremen, Verlag von A. D. Geister. 1864.
Unter den metrischen Dichtungen Scotts diejenige, welche den Charakter des
Epos am strengsten festhält, hat der „Herr der Inseln" gleichwohl noch keinen
deutschen Ucversctzcr gefunden, der seinem Werthe gerecht geworden wäre. Die vor¬
liegende Uebertragung füllt diese Lücke in recht ansprechender Weise an«, und wir
hoffen, daß das deutsche Publikum, welchem das Original nicht zugänglich ist,
davon gebührend Act nehmen wird.
Das Staatsarchiv. Sammlung der officiellen Actenstücke zur Geschichte der Gegen¬
wart. Herausgegeben von L. C. Aegidi und A. Klauhold. 1865. Januar- und
Fcbruarheft. Hamburg, O. Meißner.
Wie wenig doch in diesen Zeiten die Gabe der Weissagung noch angetrof¬
fen wird! Versetzen wir uns in die Tage zurück, wo auf das ?ig,t des Kai¬
sers Franz zJoseph die glänzende Sternengruppe sich bildete, die man den
deutschen Fürstentag nannte — wer hätte von ihr nicht wenigstens etwas mehr
als bloßen Glanz erwartet, und wer hätte sich vermessen, ihr das Schicksal zu
prophezeien, welches sie gehabt hat? Die Geschichte Deutschlands nicht blos,
so schien es Vielen, sondern die Weltgeschichte war im Begriff, in ihrem Buch
ein neues Blatt zu beschreiben und mit goldnen Buchstaben. Und was hat
jene wirklich geschrieben? Eine bloße Randbemerkung, eine Zeile neben den
Text und mit so blasser Tinte, als hätte sie die Feder in den Strom der
Lethe getaucht: Plötzliches prächtiges Aufleuchten — Schein ohne Wärme —
erfolglos auseinandergegangen und erloschen — heute vergessen.
Oder wäre es anders gewesen? In der That, die ersten Tage des August 1863
kündigten den Deutschen ein großes, Jahrzehnte lang nicht gesehenes Schauspiel an,
über welches die Partei, in deren Interesse es aufgeführt werden sollte, schon vor
Aufgehen des Vorhangs in stürmischen Beifallsjubel ausbrach, und dem selbst
ein beträchtlicher Theil der Gegenpartei unter dem Eindruck einer raschen und
entschlossenen Initiative günstige Erwartungen entgegentrug. Die Politik der
Abfindung, die einige Monate zuvor mit dem Delegirtenproject, dem „Keim
eines Keimes" zu besseren Zuständen, wie ein großdeutsches Blatt naiv und
bescheiden sich ausdrückte, kläglich gescheitert war, schien einer Politik wirklicher
Reform gewichen zu sein. Ein Kaiser aus dem Hause Habsburg, der gestern
noch aller Welt als der Typus der bigottesten Militär- und Priesterherrschaft
gegolten, heute zu liberalen Regierungsgrundsätzen bekehrt, die Klagen des
Volks anerkennend, den Ideen der Zeit in rückhaltsloser Sprache huldigend,
mit ihnen sich zum Führer der Nation anbietend — die Souveräne Deutsch¬
lands im Begriffe, aus ihrer Unnahbarkeit herabzusteigen und in Parlament«-
rischen Formen sich über Concessionen an den Zeitgeist zu verständigen — dos
war viel auf einmal und wohl geeignet, auch Besonnene auf einen Augenblick
in ihrer Rechnung irre zu machen. Die Bundesverträge in der an Preußen
gerichteten Einladungsschrift des wiener Hofes mit dürren Worten als „in ihren
Fundamenten erschüttert", der Bund als „in der allgemeinen Meinung ent-
werthet", der Statusquo der Bundesverhältnisse als „schlechthin chaotisch" be¬
zeichnet — wahrlich, man traute seinen Augen kaum.
Und es kam noch schlimmer oder, wenn man will, noch besser. „Das
Facit der neuesten deutschen Geschichte," so fuhr die östreichische Denkschrift vom
3. August fort, „ist zur Stunde nichts als ein Zustand vollständiger Zerklüf.
tung und allgemeiner Zerfahrenheit." — „Die deutsche Revolution aber, im
Stillen geschürt, wartet auf ihre Stunde." — „Prüfe man nur mit Unbe¬
fangenheit die Stimmen, welche in unsern Tagen den Ruf nach einer Reform,
durch die das Bundesprincip mit neuer Lebenskraft erfüllt würde, erheben.
Sie ertönen heute nicht mehr aus dem Lager der destructiven Parteien; dort
wird im Ge^enthelt jede Hoffnung auf eine gesetzliche Reform der deutschen
Bundesverfassung verschmäht und verspottet; denn der Radicalismus weiß, daß
seine Ernte auf dem durch keine seltsamere Saat befruchteten Felde reift. Die
deutschen Regierungen selbst sind es heute, welche ihr Heil in der Reorgani¬
sation des Bundes erblicken. In den Kammern sind es die gemäßigten Par¬
teien, welche zu diesem Ziele mit Ungeduld hindrängen — mit Ungeduld, weil
sie fühlen, daß, je länger die Reform hinausgeschoben wird, um so weiter
gehende Forderungen sich hervorwagen und im Volksgeiste Unterstützung finden
werden. Es ist der Trieb der Selbsterhaltung, welcher den Regierungen und
den Kammern diese Richtung zeigt."
So Oestreichs officielle Meinung von der Lage der Dinge, und ähnlich
die inspirirte Presse der Mittelstaaten. Die Mehrzahl der deutschen Fürsten
schien überzeugt, daß sich dem Verlangen der Nation nach einer Aenderung in
den Formen ihrer politischen Existenz nicht wohl mehr Widerstand leisten lasse,
überzeugt, daß es mit der Reform Eile habe, und geneigt, für dieselbe Opfer
zu bringen. Wie düster die wiener Einladungsschrift die Situation gemalt,
wie hastig dringend ihr Stil gewesen, sie wurde von den Stimmen aus dem
Lager der Großdeutschen im Süden und von den officiösen Kundgebungen der
mittelstaatlichen Journalistik noch überboten.
„Keinenfalls," so schmetterte ein Posaunenbläser pes Resormvereins in die Welt
hinein, „kann diese Fürstenconferenz für Deutschland nutzlos und vergeblich sein.
Sie muß die wichtigsten und großartigsten Folgen haben. Schon formell wird sie
dem Ausland zeigen, daß trotz mannigfacher Zänkereien Deutschland doch mehr als
ein geographischer Begriff ist. Sodann aber scheint es ganz unmöglich, daß
diese Conferenz. wenn sie einmal zusammengetreten ist, wieder resultatlos aus-
einandergehe. Kein deutscher Fürst wird vor der Mit- und Nachwelt und vor
der beispiellos erregten öffentlichen Meinung Deutschlands so schwere Schuld
auf sich laden wollen. Er bräche den Stab über sich und über die Zukunft
vieler Andern im weiten Vaterlande."
Und nun gar die ministerielle „Bayerische Zeitung". Mit unerhörter Ge¬
waltsamkeit rief sie ihrem Publicum zu: „Entweder wird die deutsche Fürsten¬
hand die Frage zum zeitgemäßen Abschluß bringen oder" — kein Jakobiner
konnte echauffirter reden — „die Faust des Volkes wird den Umsturz der be¬
stehenden deutschen Bundesverhältnisse herbeiführen."
Das war ungemein zuversichtlich gesprochen, das hieß ja beinahe in fester
Hoffnung auf den Erfolg der Action die Schiffe hinter sich verbrennen. Armer
sanguinischer Bajuwar, wie wenig wurde dein großes Vertrauen gerechtfertigt,
und wo finden wir, was deine deutsche Fürstenhand mit ihrer Arbeit zu Stande
gebracht? Suchen wir einmal weiter in unsrer Erinnerung nach, es wird
Mühe kosten, noch etwas zu entdecken; denn wer merkte sich Richtiges.
Noch mehr erwartungsvolle Zeitungsartikel, auch einige mehr oder minder
leise zweifelnde, daneben Gebete für das Gelingen des Reformwerks auf katho¬
lischen und protestantischen Kanzeln, große Zurüstungen an den Höfen, dann
die Kaiscrfahrt von Wien über München und Stuttgart nach Frankfurt, ein
Triumphzug vor erfochtenen Siege. Kleinere Kronen folgen bis hinab zu der
ganz kleinen, die der schöne junge Fürst von Liechtenstein trägt, desgleichen die
Staatsperrücken derer Herren Bürgermeister aus den Hansestädten. Auf allen
Eisenbahnen Extrazüge mit Excellenzen, Durchlauchten, Hoheiten, königlichen
Hoheiten und Majestäten, mit Hofuniformen und Livreen, Staatskarossen,
prächtigen Marstallspferden und anderem Apparat fürstlicher Existenzen. Auf den
Bahnhöfen mancherlei Vivats und was sonst zum Empfang erlauchter Persönlich¬
keiten gehört. Da plötzlich, für den norddeutschen Verstand nicht unerwartet,
auf die heiße Begeisterung der Mehrheit im Süden wie ein Guß kalten Was¬
sers, die Kunde: Der König von Preußen lehnt ab, zu erscheinen. Eine wei¬
tere Entwickelung des Unternehmens, sofern man es als einen Schritt zur Ver¬
besserung allgemein deutscher Zustände betrachten wollte — was jetzt schon viel
seltner der Fall war als in den Tagen der ersten Ueberraschung — war damit
so ziemlich der Nichtigkeit anheimgefallen.
Nicht sowohl in der Bundesverfassung, so sagten sich die Nüchternen, liegt
das Uebel, woran Deutschland laborirt, sondern in der Substanz des Bundes,
in seiner Zusammensetzung, in der naturwidriger Zusammenschweißung zweier
selbständiger, in dem Bunde nicht ihr ganzes Interesse erblickender Organismen,
wie es unsre beiden Großmächte sind. Der Widerstreit zwischen Oestreich und
Preußen, der nur durch Auseinandersetzung, nicht durch Verstecken oder Ueber¬
malen hinwegzuschaffen ist, spielt auch jetzt die entscheidende Rolle.
Eine starke Partei im Volke freilich gab darüber die Hoffnung noch nicht
auf. ja man hoffte auf dieser Seite vielfach jetzt erst recht sicher auf Erfüllung
dessen, worauf es in Wien im letzten Grunde wohl von Anfang an vorzüglich
abgesehen gewesen war, auf Gelingen des Versuchs, der Großmacht Oestreich
für ihre europäischen Verlegenheiten einen stärkern Rückhalt im außerpreußischen
Deutschland zu verschaffen. Und diese Hoffnung schien eine Zeit lang nicht
völlig unbegründet. Die deutschen Souveräne waren, als der Tag der Eröff¬
nung des Congresses kam, mit Ausnahme des Königs von Preußen, des Her¬
zogs von Holstein und Lauenburg, dem sein Alter Ego, der König von Däne¬
mark die Reise nicht gestattete, des Homburgers, der zu alt war, des Bern¬
burgers, der am Sterben lag, und noch eines kleinen Herrn, der uns entfallen
ist*), allesammt persönlich in Frankfurt erschienen oder durch Glieder ihres
Hauses vertreten. Auch der Großherzog von Baden war gekommen, und selbst
Luxemburg hatte einen Prinzen als Repräsentanten gesandt. Hatte sie doch
der Enkel der Kaiser gerufen, die hier einst gekrönt wurden, und schwebte
doch, wie hoch sie von sich denken mochten, in ihren Augen um dessen Haupt
noch ein Abglanz des Nimbus der Krone, zu der ihre Ahnen im Verhältniß
von Vasallen gestanden.
Es war nicht sehr wahrscheinlich, aber es war etueh nicht gerade unmög¬
lich, daß die Mitglieder der erlauchten Versammlung sich unter der schwarzroth-
goldnen Fahne, die jetzt auf dem Dache des Bundespalasts wehte, ohne Preu¬
ßen einigten, wenn dazu auch schließlich das Bewußtsein von der Kraft und
der Wille gehört hätte, Preußen nöthigenfalls zu vernichten, und wenn auch
dieser Wille sich gerade gegen das gekehrt hätte, worauf die Existenz der klei¬
nen Souveränetätcn sich gründet, auf den deutschen Dualismus und die damit
gegebne Möglichkeit, sich heute gegen östreichische Zumuthungen unter die Flügel
des einköpfigen, morgen gegen preußische Ansprüche unter die Fittige des dop¬
pelköpfigen Adlers zu flüchten.
Es war ferner nichts weniger als wahrscheinlich, daß ein auch nur das
außerpreußische Volk befriedigendes Resultat herauskam; denn, wie verheißungs¬
voll das Lied auch klang, das jetzt die Ofsiciösen anstimmten, die Mehrzahl
unsrer Höfe hatte doch wiederholt auch nach dieser Seite hin gezeigt, daß ihre
Souveränetät ihnen über alles ging, und daß ihr Glaubensbekenntniß im
Grunde der Absolutismus war. Die sehr zufällige Form, in welche achtund-
vierzig Jahre vorher das Interesse Oestreichs und der ganz außerhalb des deut¬
schen Lebens stehenden Mächte Deutschland gepreßt hatte, war der Majorität
jener Fürsten eine solche, an der sie wohl eine und die andere neue Farbe
oder Verzierung gestatten mochten, deren wesentliche Umgestaltung sie aber als
Verletzung des Heiligsten betrachteten. Wie es ihnen außerordentlich schwer
fallen mußte, sich auf einen wahrhaft nationalen Standpunkt zu stellen,
einen Theil ihrer unumschränkten Souveränetät zu Gunsten der Constituirung
Deutschlands als Gesammtmacht dem Ausland gegenüber in Sequester zu geben,
sich statt als Häupter ihrer Sonderstaatcn nur als hochgestellte Glieder des
deutschen Volkes zu fühlen, veraltete Ansprüche aufzugeben und darnach ihre
Entschlüsse zu positivem Handeln zu fassen, so hatte man sich auch in Betreff
der etwa der Gesammtvertretung des Volkes zu opfernden Rechte keines beson¬
ders liberalen Wollens von ihnen zu versehen.
Aber es war — der Deutsche liebt ja zu vertrauen, und Vertrauen erweckt
wieder Vertrauen — es war immerhin möglich, daß eine besonders gesegnete
Stunde die alten Neigungen und Abneigungen milderte und theilweise über¬
wand, und wenn man auch nicht gerade auf den plötzlichen Eintritt des von
den Propheten geweissagten und jetzt von manchen sanguinischen Temperamen¬
ten erwarteten seligen Zeitalters hoffen durfte, da die Lämmer bei den Wölfen
wohnen und die Pardel bei den Böcken liegen werden, wo Ephraim nicht mehr
meidet dem Juda und Juda nicht ist wider Ephraim, so konnte bei einiger
Wirkung der angeordneten Gebete um Erleuchtung von oben wenigstens das
Eine und das Andere geschaffen werden, was nicht zu verschmähen war.
Der Ausgang des Fürstencongresses hat gezeigt, daß auch diese geringen
Erwartungen sich auf Illusionen gründeten. Auch Oestreich vermochte, wie viel
es galt, wie sehr es sich anstrengte und wie wenig Opfer es seinen hohen
Mitverbündeten zumuthete, die alten Traditionen, die in den letzteren lebten,
nicht soweit zu überwinden, daß es sich zu Danke verpflichtet gefühlt hätte.
Und was die Ansprüche des deutschen Volkes auf Beachtung seiner Klagen und
Wünsche betrifft, so trug die Reformacte, das Endergebniß von zehn Sitzungen
voll ungewohnter Bemühungen, denselben in so mäßigem Grade Rechnung, daß
sie sofort nach ihrem Bekanntwerden von der öffentlichen Meinung fast allent¬
halben verworfen wurde und wenige Wochen daraus beinahe vergessen war.
In der That, wir fürchten, daß die sechsunddreißig Artikel dieses Actenstücks
noch weniger in der Erinnerung des deutschen Publikums haften geblieben sind,
als die siebenundzwanzig Artikel eines gleichzeitig von der Presse als wichtig
mitgetheilten Actenstücks, welches die Arbeiten sinniger Kochkünstler für das
große Diner aufzählte, mit dem die Gastfreundschaft des frankfurter Senats
die Mitglieder des Fürstencongresses am Tage nach dessen Eröffnung bewirthete.
Die kühne Initiative Oestreichs hatte den Berg kreisen gemacht, aber die
erwünschte Geburt war nicht erfolgt. Mißgestimmt, aber um eine Belehrung
reicher — so dürfen wir aus seinem späteren Verhalten in der Schleswig-hol¬
steinischen Angelegenheit schließen, welches die ertheilte Lehre mit einer andern
vergalt — reiste der Kaiser Franz Joseph in seine Hofburg zurück.
Das Endergebniß des Fürstentags war ein gelindes xvssuinus. Die
deutschen Bundesverhältnisse blieben „schlechthin chaotisch", und die deutsche
Revolution wartete, um mit der Denkschrift vom 3. August zu reden, weiter
aus ihre Stunde. Preußen aber und seine Freunde, die in ähnlicher Lage
waren, hatten einige Ursache, sich Glück zu wünschen zu der geringen Will¬
fährigkeit, welcher Oestreichs Schachzug in Frankfurt begegnet war.
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Daß es so hatte kommen müssen,
wollten jetzt auch viele von denen gewußt haben, welche bis zum Erscheinen
der Reformacte wenigstens auf ziemlich unveränderte Annahme des östreichischen
Entwurfs gehofft hatten. Wie es so gekommen, blieb bis heute dem großen
Publicum der Ungesalbten und Nichteingeweihten so gut wie verborgen; denn
von selbst hatte sich verstanden, daß die Fürsten nicht vor den Augen und
Ohren des Volks debattiren, sondern auch bei dieser Gelegenheit jenseits der
Wolke bleiben würden, welche seit den Tagen Ludwigs des Vierzehnten ihre
Sphäre von der gemeinen und profanen Welt trennt. Der Gang der Ver¬
handlungen eigne sich nicht zu öffentlicher Besprechung, hatte der Kaiser von
Oestreich in der ersten Sitzung gesagt, „welcher Ansicht allgemein beigepflichtet
wurde".
Inzwischen ist man andrer Meinung geworden, und so gelangte unter den
oben angeführten Ackerstücken aus der Zeit des Versuchs, die Verfassung
Deutschlands zu reformiren, in den von dem östreichischen Hof- und Ministerial«
rath v. Biegeleben geführten Protokollen der Sitzungen des Fürstencongresses
auch über jenes Wie Licht in die Oeffentlichkeit. Freilich immer nur gedämpftes,
aber wenn wir hier auch nur zusammenfassende Referate, nicht, wie von Be¬
rathungen weniger hochstehender parlamentarischer Versammlungen, wörtliche
Niederschrift der einzelnen Meinungsäußerungen erhalten, und wenn wir infolge
dessen genöthigt sind, uns manches, was zum Kolorit der Conferenz gehörte
und ihr Leben ausmachte, theils aus unsrer allgemeinen Kunde von Art und
Haltung der betreffenden hohen Persönlichkeiten, theils aus dem Munde der
Anekdote zu ergänzen, die bekanntlich auch hier nicht ganz schweigen konnte,
so erfahren wir doch manches Neue und Interessante über den Gang der Ver¬
handlungen und über die Beweggründe, welche die einzelnen erhabenen Redner
für ihre Stellung zu den auf die Tagesordnung gesetzten Fragen anführten.
Heben wir mit Hilfe dieser neuen Mittel das Bild des Fürstencongresses
von 1863 noch einmal aus dem Strom der Vergessenheit. Es wird die schon
anfangs Bedenklichen, die wir im Obigen reden ließen, noch mehr rechtfertigen
als einst der Blick in die Reformacte und der Vergleich derselben mit den
östreichischen Propositionen.
Wir sind im Conferenzsaal des fürstlich tburn- und taxisscheu Palastes auf
der eschenheimer Gasse in Frankfurt. Versammelt sind fünfundzwanzig deutsche
Fürsten, wozu noch die dem König von Sachsen übertragene Stimme des mi¬
norennen Fürsten von Reuß ä. L, kommt, und die Bürgermeister der vier freien
Städte. Der Kaiser von Oestreich präsidire. Die übrigen „allerhöchsten, höch¬
sten und hohen Theilnehmer an der Konferenz haben ohne Präjudiz für die
zwischen den deutschen Fürstenhäusern und Staaten bestehenden Rangverhältnisse
die bereitgehaltenen Sitze eingenommen. Es besteht allerseitiges EinVerständniß
darüber, daß auch die in den Protokollen der Conferenz befolgt werdende Reihen¬
folge nicht als ein derartiges Präjudiz angesehen werden soll".
In der ersten Sitzung eröffnet der Kaiser von Oestreich die Verhand¬
lungen mit einer Ansprache, welche den Entwurf zu einer Reformacte, den er
übergeben, kurz charakterisirt und im Hinblick auf Preußens Zurückhaltung
dringend befürwortet, zu beweisen, daß für die Versammelten die Frage der
Erneuerung des Bundes reif sei, und sich rasch über die Einzelnheiten des Ent¬
wurfs zu einigen. Der König von Bayern antwortet, in Ziel und Streben
sich mit Oestreich Eins wissend und die Einzelnheiten der Vorschläge desselben
zwar noch nicht kennend, aber vertrauend, daß der „Geist gegenseitiger Rcchts-
achtung und gemeinschaftlicher Hingebung an die großen Gesammtinteressen, in
welchem einst der deutsche Bund beschlossen worden", dieselben durchdringen
werde, sei man hier erschienen. Man lebe des Vertrauens, daß diese Propo-
sitionen „demgemäß eine geeignete Grundlage bilden werden, um darauf im
Geiste und nach den Bedürfnissen unsrer Zeit einen Bau zu gründen, welcher
der deutschen Nation die gebührende Macht nach außen in concentrirterer Fassung
und die ihrer Geschichte entsprechende reiche Gliederung und Lebensthätigkeit
im Innern gewährt und erhält." Der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin
(der, um das gleich hier anzudeuten, sich im weiteren Verlauf der Berathungen
sehr lebhaft als Redner und Antragsteller betheiligt, worin der König von
Hannover, der König von Sachsen, die Großherzoge von Baden und Weimar
und der Herzog von Koburg-Gotha ihm gleichen, während die übrigen mehr
zurücktreten und Bayern fast ganz auf Theilnahme an der Debatte verzichtet)
stellt nun den Antrag, dem König von Preußen durch ein von den Mitglie¬
dern der Fürstenversammlung zu unterzeichnendes Schreiben zur Betheiligung
an den Berathungen derselben zu bestimmen. Der König von Sachsen
theilt die' Gesinnung, aus welcher dieser Vorschlag hervorgegangen, glaubt
„bei einer Prüfung der Opportunist des beantragten Schrittes nicht ver¬
weilen zu sollen", hält es aber erstens für angezeigt, „sofort zu einem Ein¬
Verständniß darüber zu gelangen, daß die Conferenz in den Vorschlägen des
Kaisers von Oestreich eine geeignete Basis für ihre Verhandlungen erkenne",
und wünscht zweitens im Voraus festgestellt zu sehen, „daß auch in dem Fall,
wenn König Wilhelm auf die an ihn ergehende Einladung eine ablehnende
Antwort ertheilen sollte, die in Frankfurt versammelten Fürsten sich hierdurch
nicht abhalten lassen würden, ihre Berathungen auf der Grundlage jener Vor¬
schläge fortzusetzen." In gleicher Weise äußern sich der König von Bayern und
der Kaiser von Oestreich.
„Die hohen Souveräne", sagt das Protokoll, „welche sich hierauf an der
weitern Berathung dieses Antrags betheiligten, stimmten sämmtlich in der An¬
erkennung des hohen Werthes der von dem Kaiser von Oestreich ergriffenen
Initiative überein. eine Anerkennung, welche namentlich auch S. K. H. der
Großherzog von Baden vom Standpunkte der von Höchstdemselben festgehaltenen
Anschauungen aus vollkommen zu theilen erklärten. Ebenso einstimmig (und
ohne vorausgegangene hiermit sich beschäftigende Debatte, wie
man hätte erwarten können) ging die Ansicht der erhabenen Redner dahin, „daß
der von dem Kaiser Allerhöchstseinen Bundesgenossen mitgetheilte Entwurf
einer Neformacte des deutschen Bundes den Verhandlungen der Cnnferenz zu
Grunde gelegt werden solle", doch wurde hierbei „mehrseitig hervorgehoben,
daß aus dem Beschlusse, den gedachten Entwurf als Basis der Berathungen
anzunehmen, selbstredend noch nicht die Genehmigung der einzelnen Bestimmungen
desselben folge, und daß jener reiflicher Prüfung nicht vorgegriffen werden solle,
welche den Schwierigkeiten und der Bedeutung so wichtiger Materien entspreche".
Daran knüpft das Protokoll die kurze Notiz: „Auch auf das Erforderniß
ständischer Zustimmung, sofern dasselbe in den betreffenden Landesverfassungen
begründet sei. wurde mehrfach hingewiesen". Von wem, bleibt verschwiegen,
und ebensowenig ist hier irgendwie auch nur angedeutet, ob die hohe Versamm¬
lung die in ihrer Eigenschaft als ein Kongreß konstitutioneller Fürsten
doch wohl liegende Verpflichtung, solchen Hinweisen anders als durch bloßes
Anhören Beachtung zu Theil werden zu lassen, anerkannt hat.
Gleich wenig Wichtigkeit scheint entweder sie selbst oder der Protokollführer
der Bemerkung beigemessen zu haben, welche sich in dieser ersten Sitzung der
Bürgermeister von Lübeck im Namen seiner Collegen aus Hamburg, Bremen
und Frankfurt gestattete, und welche zwar die Einladung der k. k. Majestät „zu
der eröffneten hochwichtigen Berathung auf das Dankbarste würdigte", gleich¬
wohl aber nicht verschweigen konnte, „daß die Vertreter der freien Städte in
einer Von der der in der Versammlung anwesenden souveränen Fürsten ver¬
schiedenen Stellung (anmuthigster Stil!) sich befänden, indem ihr Verhalten,
außer der im Allgemeinen vorzubehaltenden verfassungsmäßigen Sanction der aus
der Berathung hervorgehenden Beschlüsse (durch die Bürgerschaften), zunächst
von der Genehmigung ihrer Senate, welche sie mit Instruction nicht hätten
versehen können, abhängig sein werde."
Schließlich einigte man sich in der ersten Sitzung dahin, daß der König
von Sachsen mit Entwerfung und Ueberbringung des an den König Wilhelm
zu richtenden Einladungsschreibens beauftragt werden sollte.
Die zweite Sitzung füllte die Verlesung und Gutheißung dieses Schrei¬
bens aus. Der Kaiser Franz Joseph ergriff die Gelegenheit, um noch einmal
auszusprechen, wie dringend er wünsche, daß man sich über die Nesormacte so
rasch als möglich verständige.
In der dritten Sitzung wurde zunächst die ablehnende Antwort der
preußischen Majestät verlesen, welche beiläufig nicht an den Fürstentag, sondern
an den Kaiser adressirt war. Dann brachte letzterer ein Promemoria zur
Sprache, welches den Mitgliedern der Konferenz oder vielmehr den Ministern
derselben Tags vorher durch Graf Rechberg zugesandt worden war, und welches
die Dringlichkeit raschen Schlüssigwerdens über die östreichischen ProPositionen
nochmals ans Herz legte. Da die Debatte dieser Sitzung hierdurch erst ihr
rechtes Licht empfängt, so werden wir dieses Schriftstück sammt der darauf
ertheilten Antwort Badens vorher ein wenig prüfen müssen.
Das Promemoria sagte, die Versammlung habe sich geneigt erklärt, das
Reformwerk auf der Basis des östreichischen Entwurfs in Angriff zu nehmen.
Daraus folgere der Kaiser — man höre: erstens, daß die Bedenken, die gegen
Einzelnheiten des Entwurfs etwa gehegt werden sollten, sich nicht gegen das
System und die leitenden Gedanken desselben richten und somit auch nicht An¬
laß zu Aenderungsvorschlägen in Betreff seiner wesentlichen Theile bieten könnten;
zweitens aber, daß, wenn allseitige Einigung über Abänderungen des Ent¬
wurfs nicht zu erreichen, die unveränderte Annahme desselben der Versammlung
der Fürsten jedenfalls erwünschter sein werde als ein resultatloses Ende der Ver¬
handlungen. Und von diesem Gesichtspunkte wieder ausgehend, sowie ferner er¬
wägend, daß Berathung der im Detail etwa vorzuschlagenden Modificationen
durch die Fürsten in Person nicht nöthig, längerer Aufenthalt in Frankfurt
nicht erwünscht sein dürfte, neige der Kaiser sich der Ansicht zu (d. h. aus dem
diplomatischen oder Hoffen übersetzt: schlage er vor), „daß die Fürstenconfcrenz
die Berathung der Nesormacte nunmehr den hier anwesenden Ministern über¬
weisen könnte", doch müsse dies „mit der Maßgabe" geschehen, „daß es
in allen Punkten, in welchen nach reiflicher gemeinsamer Prüfung der Acnde-
rungsantrcige nicht ein anderweitiges EinVerständniß zu Stande käme, bei der
Fassung der allseitig an gen omnem en B erathungsgrundlage—
also bei dem östreichischen EntWurfe der Nesormacte — sein Bewenden
zu behalten hätte."
„Eine weitere Vereinfachung des Geschäfts," so fuhr das Promemoria fort,
„könnte dadurch erreicht werden, daß einige Hauptbestimmungen des
Entwurfs (etwa Art. 2, 4, 5 al. 1—3, 6. 14 al. 2, 4 und S, 16, 18 al. 1,
20—22, 23 al. 1, 24, 26 und 36), für deren Annahme sich vielleicht bereits
eine allgemeine Geneigtheit in der Mitte der versammelten Fürsten ausge¬
sprochen hat, von der Fürstenconferenz nicht nur im Grundsatz, sondern
auch dem Wortlaut nach genehmigt, sonach in den Ministerconferenzen
als bereits feststehend keiner weiteren Discussion unterzogen würden."
„Um übrigens allen Umständen zuvorzukommen," so schloß das Prome-
moria, „welche je nach den Verfassungsverhältnissen der einzelnen Staaten bei
den Mitgliedern der Konferenz gegen Erklärungen von definitiv verpflichtenden
Charakter obwalten könnten," glaube der Kaiser mit den vorher entwickelten
Vorschlägen „noch die weitere Bemerkung verbinden zu sollen, daß es sich em¬
pfehlen dürfte, bei allen in der Fürstenconferenz erfolgenden Erklärungen von
bindenden Charakter, insofern dieselben nach den Einrichtungen des betreffenden
Staates den Vorbehalt der Zustimmung der constitutionellen Körperschaften er«
förderlich erscheinen lassen sollten, allgemein und ohne daß dies jedesmal noch
besonders ausgedrückt werden müßte, diesen Vorbehalt als einen selbstverständ¬
lichen zu betrachten."
Der Großherzog von Baden antwortete hieraus durch Noggenbach ablehnend.
„Die großherzogliche Negierung läugnete erstens die Nichtigkeit der Folgerung,
weil der Großherzog in dem östreichischen Entwurf eine genügende Grundlage
für die Verhandlungen anerkannt, dürften die Bedenken, die er oder ein andres
Mitglied der Conferenz gegen Einzelnheiten desselben hegen könnte, sich nicht
gegen dessen leitende Gedanken richten. Ferner stellte „die großherzogliche Re¬
gierung" für sich in Abrede, daß die unveränderte Annahme des Entwurfs ihr
erwünschter sein würde als ein Auseinandergehen der Ansichten. Darauf hin
währte Baden ausdrücklich seine Freiheit mit dem Vorbehalt, daß der Gro߬
herzog für seine Regierung „die Erklärung über Annahme oder Nichtannahme
der Reformacte für den Schluß der Gesammtberathung aller einzelnen Artikel
reservire". „Zu der vorgeschlagenen Festsetzung (einzelner Artikel) im Wortlaute
könnte am wenigsten eine Geschäftsordnung entbehrt werden, welche der
hohen Versammlung ermöglicht, auf bestimmte und gemeinsam gebilligte Vor¬
bedingungen gestützte Beschlüsse zu fassen und einen Gegensatz von Meinungen
durch Abwägen der Stimmenzahl sicher zu stellen." Bis „diese Voraus¬
setzung einer jeden Beschlußfassung" gewonnen sei „und unter Zusammenwirken
aller Factoren, welche zur Vornahme einer giltigen Negierungshandlung in
den einzelnen Staaten verfassungsmäßig verordnet" seien (d. h, unter Mitwir¬
kung nicht blos der Stände, sondern auch der verantwortlichen Minister, welche
das Schreiben später ausdrücklich hervorhebt), eine Negularisirung des Verhält¬
nisses stattgefunden" habe, „in welchem die Aussprüche der Versammlung gegen¬
über den einzelnen Betheiligten stünden, sei der Großherzog nicht in dem Falle,
„derselben irgendeinen bestimmenden Einfluß auf die künftigen Entschließungen
seiner Negierung einzuräumen".
In der dritten Sitzung der Conferenz nun erwähnte der Kaiser den ersten
Vorschlag des Promemoria. den also, daß es in allen denjenigen Punkten, in
welchen nicht bei Prüfung der Aenderungsvorschläge ein anderweitiges Ein¬
verständnis) zu Stande käme, bei der Fassung des östreichischen Entwurfs zur
Neformacte sein Bewenden behalte, nicht weiter, dagegen hielt er den zweiten
fest, der dahin ging, daß die Hauptbestimmungen des Entwurfs, besonders die
im Promemoria genannten, von den Souveränen ihrem Wortlaut nach unab¬
änderlich festgestellt würden, so daß auch die Minister an die von den Fürsten
genehmigten Artikel „streng gebunden" wären.
Die Könige von Bayern, Sachsen und Hannover, sowie der Kronprinz
von Würtemberg erklärten, den Ansichten des Kaisers vollkommen beizupflichten.
Dagegen erhob der Großherzog von Baden die schon in seiner Beantwortung
des östreichischen Promemoria enthalten gewesene und in der That wichtige
Frage, auf welche Art denn die Versammlung jene Bestimmungen feststellen,
ob man förmlich abstimmen wolle, und ob dazu nicht eine Geschäftsordnung
gehöre. Dies gab zu einer ziemlich lebhaften und sehr charakteristischen Debatte
Veranlassung. Der König von Sachsen bemerkt, da es anerkanntermaßen auf
die freie Zustimmung Aller ankomme, so könnten die Stimmen der Einzelnen
allerdings nur diese selbst verpflichten, indeß müsse man doch trachten von Punkt
zu Punkt zu einem EinVerständniß zu gelangen, an welches der ganze Kreis
sich gebunden halten würde. — Aber wie, fragt der Großherzog von Baden,
wenn sich bei der Stimmgebung Meinungsverschiedenheit herausstellte? — Nun,
dann würde, erwidert der König, der streitige Punkt nochmals zwischen Ma¬
jorität und Minorität verhandelt werden müssen, doch wäre es un¬
streitig gut, wenn man übereinkommen wolle, wenigstens in minder bedeutenden
Dingen sich dem Ausspruch der Majorität zu fügen. Er seinestheils sei dazu
bereit. Die Herzöge von Braunschweig und Nassau erklären dieselbe Bereit¬
willigkeit, der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin dagegen hält es für be¬
denklich, sich im Voraus zur Anerkennung der Meinung der Majorität zu ver¬
pflichten, und der König von Hannover fragt, „ob S. K. Sächsische Majestät
(denn etwa gar, glauben wir zwischen den Zeilen lesen zu dürfen) einen be¬
stimmten Antrag wegen Entscheidung durch Majorität zu stellen beabsichtigen",
was gedachte Majestät indeß verneint.
Die Frage Badens hat die hohe Versammlung offenbar in Verlegenheit
gesetzt. Zwar eilt der Herzog von Koburg-Gotha mit dem Vorschlag zu Hilfe,
sofort mit Berathung des Artikels 2 „den praktischen Versuch zu machen";
„stelle sich ein EinVerständniß nicht heraus, so werde es immer noch an der
Zeit sein, die Formen des weiteren Verfahrens zu erwägen"; aber in dem
Protokoll ist nicht zu finden, daß darauf eingegangen worden. Vielmehr fragte
der Kaiser zunächst, ob jemand sich noch über die Methode des Verfahrens zu
erklären habe, worauf der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin den Antrag
stellte, die Konferenz wolle beschließen, „daß aus der Billigung der einzelnen
zur Verhandlung kommenden Punkte eine Verbindlichkeit, solche unter allen
Umständen anzunehmen, nicht zu folgern sei, eine definitive Erklärung über
Ablehnung des ganzen Entwurfs vielmehr erst dann abgegeben werden könne,
wenn die Gestalt, welche derselbe durch etwaige Abänderungen oder durch Nicht-
berücksichtigung beantragter Modificationen schließlich erhalten, vorliegen werde.
Der Fürst von Waldeck sprach sich in ähnlicher Weise aus. Auch der König
von Sachsen bemerkte, es entspreche der Natur einer Berathung wie die vor¬
liegende, daß nach den Abstimmungen über die einzelnen Punkte zuletzt eine
Gesammtabstimmung vorgenommen werde, womit der Kaiser unter der Voraus¬
setzung, daß man wenigstens der Schlußabstimmung eine vollkommen bindende
Wirkung beilegen wolle, einverstanden war. Diese Voraussetzung wurde nicht
discutirt, sondern „S. K. K. Apost. Majestät schlössen hierauf die Berathung
über die formelle Geschäftsbehandlung mit der Bemerkung, daß Sie Ihrerseits
die Ansichten des Königs von Sachsen theilten, auch für sich keinen Anstand
nehmen würden, Sich nach der Meinung der Majorität zu richten." Dann
ging man „auf die Sache" ein, indem der Kaiser die Versammlung ersuchte,
sich über den Artikel 1 des Entwurfs auszusprechen, der bekanntlich den Zweck
des Bundes definirt und denselben beträchtlich erweitert.
Der Großherzog von Baden äußert, der Artikel berühre tiefe staatsrecht¬
liche Fragen, habe auch nicht auf der Tagesordnung gestanden, daher sei er
nicht vorbereitet, sich über denselben zu erklären. Die Uebrigen billigen den
Artikel ohne Debatte.
Kommt Artikel 2 an die Reihe, der die neuen Organe des Bundes, Direc-
torium, Delegirtenversammlung, Bundesgericht u. s. w. nennt, Bayern, Sachsen,
Hannover und Würtemberg sofort für Annahme. Baden behält sich wieder
Prüfung und Ueberlegung vor, Hessen und Altenburg diesmal gleichfalls. Weimar
wünscht ein Oberhaus bei der Gesammtvertretung am Bunde. Sonst wieder
nichts von Debatte über den Inhalt des Artikels. Koburg belehrt Baden,
„daß nach den Gebräuchen berathender Versammlungen die Erklärung, auf
einen Gegenstand nicht vorbereitet zu sein, von selbst die Enthaltung an der
Berathung und Abstimmung über diesen speciellen Gegenstand nach sich ziehe",
wogegen Baden sich verwahrt, natürlich schon deshalb mit Recht, weil es an
einer gehörigen Tagesordnung mangelt. Der Kaiser hat, wie von Anfang an
Eile, er scheint verdrießlich zu sein über den wiederholten Aufenthalt, den ihm
das badische Gewissen bereitet. Er „wünscht zu erfahren, wann (denn endlich
einmal, so möchten wir fast hinzusetzen) der Augenblick für die Erklärung des
Großherzogs eintreten werde, und ob der Vorbehalt als Nichtzustimmung auf¬
zufassen sei", was Baden verneint. Sachsen und Hannover beVorworten dringend,
die Berathung nicht auszusetzen.
Artikel 3 scheint irgendwie Bedenken erregt zu haben. Das Protokoll sagt,
die Berathung über denselben sei bis zur nächsten Sitzung ausgesetzt worden
und der Kaiser habe „eine bestimmte Formulnung der beabsichtigten Amende-
ments anempfohlen".
Dann arbeitet die Berathung oder vielleicht richtiger die Bejahung weiter,
und Artikel 4 wird von sämmtlichen Teilnehmern der Versammlung ange¬
nommen, auch Baden ist diesmal im Ganzen einverstanden und behält sich nur
einzelne Bemerkungen zu demselben vor. Schließlich wird vereinbart, die Be¬
rathung der Artikel 3, 5 und 6 auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung
zu setzen. Also doch ein Anfang zu einer Art parlamentarischen Verfahrens
und nebenher ein kleiner Triumph Badens, freilich ein sehr kleiner.
Die vierte Sitzung brachte zu Anfang die ganz entschieden gegen die
beiden Ziele des oben analysirten östreichischen Promemorias gerichtete Erklärung
des Prinzen Heinrich der Niederlande, daß er alles blos retvrövüum neh¬
men müsse, „gerade wie die freien Städte". Dann rief die Frage über die
Besetzung des Directoriums wieder eine höchst charakteristische Debatte hervor,
die in der fünften Sitzung fortgesetzt wurde, und bei der es sehr lebhaft zuge¬
gangen sein muß. Natürlich, denn es handelte sich hier ja, die Würde und
Bedeutung der Particularstaaten zu wahren. Vor diesem Bewußtsein war das
Einfachste und Sachgemäßeste, was Baden andeutete, für die Fortdauer eines
föderativem Zustandes in Deutschland einen aus Oestreich und Preußen zusam¬
mengesetzten Executivausschuß an die Spitze zu stellen, eine Unmöglichkeit. Da¬
gegen fand es dasselbe ganz in der Ordnung, wenn die beiden Großmächte je
einen Repräsentanten, die mittleren und kleinen Mächte aber vier oder gar fünf
bekamen. Besonders ernst nahm man es mit der Art und Weise, wie diese
letzteren gewählt werden sollten, und die Sache wurde zum förmlichen Rang¬
streit. Eine Menge von Aenderungsvorschlägen kam zum Vorschein, ein Redner
nach dem andern erhob sich, um sein Licht leuchten zu lassen und sein gutes
Recht zu wahren, und bisweilen scheint man fast heftiger geworden zu sein,
als die Etikette erlaubt.
Wir können die Debatte nicht im Einzelnen verfolgen, aber einige Proben
daraus zu geben dürfen wir nicht unterlassen.
Der Herzog von Nassau hat einen Antrag gestellt, welcher nur die Klein¬
heit des Großherzogthums Mecklenburg-Strelitz, nicht aber zugleich die wichtige
Thatsache berücksichtigt, daß dessen Landesherr den Titel einer Königlichen
Hoheit führt. Sofort erhebt sich der letztere, um — man darf wohl annehmen,
mit sittlicher Entrüstung — die Erklärung abzugeben, „daß die Rücksichten auf
die besondere Stellung Seines großherzoglichen Hauses und auf dessen enge
gleichberechtigte Verbindung mit dem verwandten Hause von Mecklenburg-
Schwerin es Ihm völlig verbieten müßten, auf den Vorschlag S. H. des Her¬
zogs von Nassau, der Ihn in eine andere Kategorie als Seinen Herrn Vetter
von Schwerin versetzen würde, einzugehen, Er Sich vielmehr in der Nothwen¬
digkeit befinden würde, gegen diesen Vorschlag, falls demselben Folge gegeben
werden wollte, den entschiedensten Protest einzulegen/'
Baden hat (in der fünften Sitzung) „ausführlich den Anspruch des badischen
Staates, in der von Sachsen und Nassau beantragten fünften Gruppe eine
seiner Bedeutung und Volkszahl angemessene Vorzugsstellung zu erhalten be¬
gründet", und „dieser Anspruch in der hohen Versammlung vielseitige Aner¬
kennung gefunden", obwohl er gegen das Princip verstößt, nach welchem Preu¬
ßen und Bayern im Directonum gleichgestellt sind. Dagegen legt die hannö-
versche Majestät den kräftigsten Protest ein, indem sie erklärt: daß Sie Sich
nicht davon Rechenschaft zu geben wüßten, warum in einer einzelnen Gruppe
den Größenverhältnissen und dem Bevölkerungsmaßstabe eine so große Be¬
deutung beigelegt werden solle, nachdem dieses Princip doch nicht im Ganzen
und Allgemeinen dem sächsischen Antrage zu Grunde gelegt sei. vielmehr für
die Anordnung dieses Antrages die Rangverhältnisse den Anhaltepunkt darge¬
boten hätten. S. M. hätten die Hand zur Einigung gereicht, wenn aber jetzt
zu Gunsten Badens auf Grund der Bevölkerungszahl eine bevorzugte Stellung
innerhalb einer der Gruppen beansprucht werde, so könnten S. M. nicht darüber
hinwegsehen, daß der sächsische Antrag die drei Königreiche innerhalb des ganzen
deutschen Bundes nicht nach diesem Maßstab behandle. In diesem Falle glaubten
Sie es vielmehr Ihrem Hause und Lande schuldig zu sein, zu verlangen, daß
drei Königen zwei Stellen im Directonum zugestanden, somit eine siebente
Directorialstclle errichtet würde, und Sie müßten Sich vorbehalten, hieraus
Ihren Schlußantrag zu richten".
Weit weniger Ernst und Eifer wird bei der Discussion der eigentlichen
Haupt- und Lebensfragen des Neformprojects sichtbar; und wo dies der Fall,
tritt der illiberale und particularistische Geist der Majorität nur stärker hervor.
Auf den Antrag Badens, die Bewilligung der Matricularbeiträge durch
die Versammlung der Bundesabgeordneten als „nothwendiges Attribut der
letzteren und dringend gebotene Ergänzung des in allen Bundesstaaten geltenden
constitutionellen Systems", mit den sichersten Garantien zu umgeben, geht
niemand in der Versammlung der Fürsten ein, ja Oldenburg macht vielmehr
aufmerksam, „daß es nöthig sei, gegen den Mißbrauch des Bewilligungsrechts
der Bundesabgeordneten eine Garantie zu schaffen".
Ueber die Erklärung Badens in Betreff der Zusammensetzung der Ver¬
sammlung dieser Abgeordneten, nach welcher das einzig den gegebenen Verhält¬
nissen Entsprechende sein sollte, dieselbe aus directen Volkswahlen hervorgehen
zu lassen, geht man mit Schweigen hinweg. Der Vorschlag des Herzogs von
Koburg. die Versammlung solle aus 300 Mitgliedern bestehen, von denen der
östreichische Reichsrath 7S zu wählen habe, während die übrigen zur Hälfte aus
den Vertretungskörpern, zur Hälfte aus Volkswahlcn hervorzugehen hätten,
wird zwar discutirt. aber schließlich von Oestreich und den vier Königreichen
zurückgewiesen. „Der Grundgedanke der Neformacte," so meint der Kaiser,
„sei der föderative, die Staaten müßten auch am Bunde in ihrer selbständig,
keit und verfassungsmäßigen Eigenthümlichkeit erscheinen, in der Vereinigung
der constitutionellen Körperschaften der Einzelstaaten am Bunde würde sich
gleichsam sinnbildlich das Ganze des aus unabhängigen verfassungsmäßig regier¬
ten Staaten bestehenden Deutschlands darstellen." Sämmtliche Souveräne mit
Ausnahme des Antragstellers geben ihre Stimmen gegen das koburgsche Amen-
dement ab. desgleichen die Vertreter der freien Städte, die überhaupt nur hier
zu sein scheinen, um das Gewicht der den Volkswünschen abgeneigten Majorität
zu mehren.
In der Discussion über einen Antrag des Großherzogs von Mecklenburg-
Schwerin, nach welchem „der Kreis der Bundesgesetzgebung ein geschlossener
sein und die Einführung gemeinsamer Gesetze über weitere als die in der Ne¬
formacte genannten Gegenstände nicht anders als kraft freier Vereinbarung
stattfinden soll", vertritt der Kaiser liberalere Grundsätze, indem er die Ansicht
äußert, „daß es eine große UnVollkommenheit des Reformwerks seur würde,
wenn man jedes Mittel des Fortschritts in der Assimilation der Gesetzgebung
Deutschlands abschneiden wolle". Aehnlich der König von Sachsen, der außer-
dem die Königliche Hoheit von Schwerin damit zu trösten versucht, daß durch
die in gewissen Artikeln des Entwurfs verlangten Majoritäten im Bundesrath
und der Versammlung der Bundesabgeordneten der Autonomie der Einzelstaaten
ein vollkommen hinreichender Schutz gewährt sei. Auch Hannover, desgleichen
Koburg schließt sich dem Kaiser an. Vergeblich, der Großherzog hält „die An¬
sicht aufrecht, daß die Souveränetät der Einzelstaaten zu sehr leide und in einen
precären gleichsam flüssigen Zustand gerathe. wenn ihr, sobald ein bestimmtes,
sei es auch-hohes Stimmverhältniß im Bundesrath und Abgeordnetenhaus dafür
erreicht würde, das eigne Gesetzgebungsrecht entwunden werden könnte". Noch¬
mals versucht der König von Sachsen zu beruhigen, und abermals umsonst.
Der Großherzog erklärt, „daß dieser Gegenstand einer von den Punkten sei.
von deren befriedigender Erledigung Er Seine schließliche Zustimmung abhängig
machen müsse".
Allen weiteren Sitzungen zu folgen, hieße sich einer Mühe unterziehen,
die nicht auf Dank zu hoffen hätte. Eine Blumenlese mag genügen, um die
begonnene Charakteristik der hohen Reformatoren deutscher Zustände zu vollenden.
In der sechsten Sitzung entwickelt der Großherzog von Mecklenburg-
Schwerin die Meinung, daß den Bundesabgeordneten in Betreff der Matricular-
Umlagen nur eine berathende Stimme gebühre. Oestreich, Sachsen, sogar Han¬
nover gegen diese Ansicht. Bei der Umfrage außer den beiden Obotritenfürsten
und Weimar alle für beschließende Befugniß, worauf der schweriner Herr wieder
erklärt, daß „dieser Punkt vorzugsweise zu denjenigen gehöre, von deren be¬
friedigender Erledigung" u. f. w. wie oben.
In derselben Sitzung will der König von Hannover den Artikel 23 dahin
verbessert haben, daß die Einladungen zu den Fürstenversammlungen der Re¬
formacte nicht von Preußen und Oestreich zugleich, sondern von dem letzteren
allein ausgehen sollen.
In der siebenten Sitzung bringt der Großherzog von Oldenburg die
Rede auf einen hannoverschen Antrag, der von unserm Protokollanten nur
ganz kurz mit den Worten bezeichnet ist: „Es wird versucht, die Trennung
der Konstitution des Bundes in 1) Grundvertrag und 2) Verfassung der Grund¬
gesetze zu motiviren", der aber nach dem oldenburgischen Amendement zu dem¬
selben dahin geht, die Aenderung der eigentlichen Verfassung des Bundes der
Bundesgesetzgebung zu entziehen und sie der einstimmigen Beschlußfassung der
Fürstenversammlung zu überweisen. Der Großherzog meint, daß ein Unter¬
schied zwischen Grundvertrag und Konstitution des deutschen Bundes „nicht
ohne sehr bedenkliche Consequenzen aufgestellt werden könne. Wie es sich
aber auch damit verhalte, jedenfalls dürfe dem Auslande kein Recht der Ein¬
sprache gegen die innere Verfassungsentwicklung Deutschlands in irgendeiner
Beziehung eingeräumt werden, und wenn allerdings die deutsche Bundesacte
(wie Hannover stark betont zu haben scheint) eine europäische Sanction erhalten
habe, so beziehe sich diese eben auch auf diejenigen Bestimmungen der Bundes¬
acte, in welchen das Recht freier Ausbildung und Abänderung im Innern
Deutschlands Ausdruck gefunden habe". Der König von Hannover, offenbar
unwillig über den hierin möglicherweise angedeuteten Zweifel an seinem deutschen
Patriotismus, dient darauf mit der, wie wir hoffen, alle Leser überzeugenden
Bemerkung*), er „glaube nicht besser darthun zu können, daß der Wille, jede
Einmischung des Auslandes in inner'e deutsche Angelegenheiten fern zu
halten schon angestaunt sei", als indem er „daran erinnere, daß es einst,
als Frankfurt zuerst von Bundestruppen besetzt worden sei, einen Souverän,
König Wilhelm den Vierten gegeben habe, welcher gesagt, daß Er, der König
von Hannover, es Sich Selbst, dem König von England, nicht erlauben würde,
gegen jene Maßregel Einwand zu erheben".
In der achten Sitzung, als der vom Bundesgericht und dessen Com-
petenz in Verfassungsconflicten handelnde Artikel des östreichischen Entwurfs
discutirt wurde, stellte der Kronprinz von Würtemberg den Antrag, daß der
Zusatz beigefügt werde: „Bei Beschwerden über Verletzungen, welche Gesetze
zum Gegenstand haben, die vor dem Jahre 1863 ergangen sind, findet vor-
stehende Bestimmung keine Anwendung". Und der König von Sachsen trug
darauf an, daß hinzugesetzt werde: „Gegenwärtig in anerkannter Wirksamkeit
stehende Verfassungen können durch Klagführung bei dem Bundesgericht nicht
angefochten werden". Die Absicht dieser Anträge lag ans der Hand. Es
galt das Capital zu sichern, welches die Staatsstreiche der Reaction nach 1849
eingebracht hatten.
Genug und zum Schluß. Was unsere Mittheilungen über die ersten drei
Sitzungen, vorzüglich die über die dritte, deutlich gezeigt, trat auch in den
folgenden bei jeder Gelegenheit hervor. Nur wenige von den versammelten
hohen Herren hatten eine klare Vorstellung von der Nothwendigkeit geschäft¬
licher Formen, kaum zwei oder drei von ihnen ein deutliches Bewußt¬
sein von dem, was die Mehrheit des politisch strebenden Theils der Nation
bedarf und wünscht, die meisten waren zwar bereit, mit Oestreich eine gute
Strecke zu gehen, aber nicht über die Grenze hinaus, die ihr Selbstgefühl ihnen
zog, Nebensachen endlich interessirten mehr als Hauptfragen. Man mußte in
der dritten Sitzung sich schon klar darüber sein, daß man mit einer wörtlichen
Feststellung der Reformacte vergebens Schweiß vergießen werde, man mußte
sich das mit jedem neuauftauchenden Vorbehalt in stärkerem Grade sagen, und
und wenn man trotzdem weiter arbeitete, so war das bei den meisten der hohen
Herren, oder, da die Minister zur Aufklärung bei der Hand waren, bei allen
wohl nur artige Rücksichtnahme auf den erhabenen Convocanten und Präsidenten
des Fürstentags.
Endlich aber mußte das doch einmal aufhören. Die Schlußabstimmung
nahte heran. Am 28. August, dem Tage vor der neunten Sitzung, ließ der
Kaiser ein zweites Promemoria vertheilen, in welchem der Wunsch ausgesprochen
wurde, „daß die nunmehr bevorstehende Gesammtabstimmung von der Stärke
und Macht edler Einmüthigkeit ein entscheidendes Zeugniß ablegen werde", in
welchem der Kaiser ferner erwähnte, daß nach seiner Auffassung „die Schlu߬
abstimmung eine Entschließung der einzelnen Betheiligten darüber, ob sie
angesichts des Gesammtresultats die zu den Specialpunkten gemachten Vorbe¬
halte fallen lassen wollen oder nicht, voraussetze, somit nur in einer einfachen
Erklärung über Annahme oder Ablehnung des Gesammtresultats werde bestehen
können", und in welchem der Kaiser „ein allseitiges EinVerständniß darüber
voraussetzen zu können hoffte, daß der Gesammtbeschluß der Souveräne für
deren Bevollmächtigte unbedingt bindend und den Ministern in keinem Fall das
Recht eingeräumt sein werde, gelegentlich der Berathung der mit Vorbehalt der
Ratifikation durch sie festzustellenden Artikel die bereits von der Fürstenconferenz
erledigten Punkte von Neuem zu discutiren."
In der neunten Sitzung selbst trat der Kaiser mündlich für seinen
Wunsch auf. Der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin hatte unumwunden
erklärt, daß die Gesammtabstimmung das Verhältniß der einzelnen Stimm-
führer zu den gefaßten Beschlüssen vollständig, also mit den gemachten Vor¬
behalten darstellen müsse und daß ein Verzicht auf diese Vorbehalte als zu
beengend für die Ueberzeugung der Einzelnen nicht gefordert werden dürfe.
Darauf der Kaiser sehr entschieden: die ganze Berathung werde ihren Zweck
verfehlt haben, wenn aus derselben nicht ein Werk hervorginge, welches die
Teilnehmer trotz einzelner ihnen nicht erwünschter Bestimmungen anzunehmen
entschlossen wären. Geschehe dies nicht, so brauchten die hier nicht vertretenen
Regierungen nur darauf hinzuweisen, daß die, welche sie zum Beitritt auffor¬
derten, ja selbst nicht willens wären, den Entwurf für sich anzunehmen. „In
irgendeinem Zeitpunkte," so fuhr der Redner fort, „müsse die Ausscheidung
derjenigen erfolgen, welche dem Entwürfe nur unter Bedingungen, die von
der großen Mehrheit abgelehnt seien, zuzustimmen gesonnen wären. Komme es
zu der anzuhoffenden Verständigung mit Preußen, so sei die Möglichkeit nicht
ausgeschlossen, daß auf einzelne Vorbehalte zurückgegriffen würde; nur müßten
natürlich die in der frankfurter Berathung ausgesprochenen Zustimmungen auch
für die Unterhandlungen mit Preußen bindend sein."
Das hieß kräftig, jedenfalls deutlich und beinahe drohend gesprochen.
Der beabsichtigte Erfolg aber wurde dadurch nicht erreicht. Auch der Herzog
von Koburg redete umsonst, wenn er sagte: Lassen wir die Specialvorbehalte
doch um des Ganzen willen fallen. Sie sind ja deshalb nicht verloren; denn
man wird sie in die Acten aufnehmen, und da werden sie die Einzelnen vor
ihrem Gewissen und allen, die es angeht, rechtfertigen. Mit der zehnten Sitzung
kam der entscheidende Augenblick. Der Kaiser stellte die Frage: „Nimmt die
Versammlung das Schlußresultat der Verhandlungen an?" Die Antwort von
24 Regierungen war: Ja. Verneint wurde die Frage von Baden, Weimar,
Mecklenburg-Schwerin, Luxemburg. Waldeck und Reuß j. L. Der Kaiser fragte
dann weiter: „Hält die Versammlung sich solange an diese Beschlüsse gebunden,
bis die hier nicht vertretenen Bundesglieder den ihnen mitgetheilten Entwurf
entweder definitiv abgelehnt oder uns ihre Gegenvorschläge eröffnet haben?"
Antwort dieselben Ja und dieselben Nein.
In dem Satze, der mit „bis" beginnt, lag eine bedeutungsvolle Modi-
fication der Forderung Oestreichs. In der vorhergehenden Sitzung hatte der
Kaiser verlangt, die ausgesprochenen Zustimmungen müßten „natürlich" auch
für die Unterhandlungen mit Preußen bindend sein; jetzt sollten sie nur bis
zur Unterhandlung mit Preußen binden. Mit dieser Veränderung aber waren
die anfänglichen Absichten Oestreichs in den Brunnen gefallen, der Bund im
Bunde zu Wasser geworden, die Reformacte nichts mehr als etwa eine Vorarbeit,
als schätzbares oder, weil sie Fürstenarbeit, höchst schätzbares Material. Der
gute Bürgermeister von Bremen, der, als die Fürsten in der zehnten Sitzung
den Beschluß gefaßt, die von ihnen noch nicht im Einzelnen berathenen Be¬
stimmungen im Ganzen anzunehmen, im Raptus der Begeisterung den prophe¬
tischen Ausruf gethan hatte, „daß der Augenblick, wo die deutschen Fürsten
(die Bürgermeister vergaß der bescheidene Herr) ihr Werk durch einen so
einmüthigen Beschluß zu Ende geführt hätten, in der Geschichte Deutsch¬
lands unvergessen bleiben werde" — wie übel hatte er sich auf das Weis¬
sagen verstanden! Keine Stunde verging, so folgte auf das Morgenroth
welches er gesehen, mit der Schlußabstimmung, die wir oben mittheilten, schon
das Abendroth.
Die am wenigsten erfreuliche Rolle spielte in dem Schauspiel, welches uns
die Protokolle des Fürstentags vorführen, leider das von den Vertretern der
freien Städte repräsentirte Bürgerthum. In allen Fragen gingen diese Bürger¬
meister mit der Reaction der Mehrheit gegen wirkliche Reformen, wie sie der
Großherzog von Baden in unbequemster Stellung tapfer ausharrend in zahl¬
reichen Anträgen befürwortete. Weniger entschieden trat der Fürst von Waldeck
auf, der ebenfalls zur Opposition hielt. Noch weniger liberal zeigten sich die
Großherzoge von Oldenburg und von Weimar und der Herzog von Koburg.
Die äußerste Rechte bildeten Mecklenburg-Schwerin und Hannover.
Wir kommen zum Ende.
„Ich stimme nicht," so motivirte der Großherzog von Baden sein Nein
bei der Schlußabstimmung, „für Errichtung eines von einzelnen Directorial-
Höfen zu instruirender Bundesdirectoriums. welches ohne die Schranke consti-
tutioneller Verantwortlichkeit seine Befugnisse auszuüben hat. Ich stimme zweitens
nicht für das principielle Aufgeben des in den realen Verhältnissen begründeten
und in der bisherigen Bundespraxis beobachteten Grundsatzes, daß die beiden
deutschen Großmächte ein vorgängiges EinVerständniß unter sich hergestellt haben
müssen, bevor ein Bundesbeschluß in bestimmten, speciell zu bezeichnenden, wichtigsten
Fragen gesaßt werden soll. Ich stimme drittens nicht für eine aus Delegirten
zu bildende Volksvertretung, wenn auch befürwortet werden kann, von einer aus
directen Volkswahlen zu bildenden Nationalrepräsentation östreichische Abge¬
ordnete deshalb nicht auszuschließen, wenn solche, den bestehenden Verhältnissen
des Kaiserstaates entsprechend, nach dem Princip der Delegation gewählt wer¬
den. Ich stimme viertens nicht für die thatsächliche Vernichtung des Zustim¬
mungsrechts der Bundesabgeordneten bei Feststellung des Bundeshaushalts
durch Beschränkung deren Bewilligungsrechts auf neue, den Voranschlag der
vorhergehenden Periode verändernde Budgetpositionen. Ich stimme endlich
nicht für Ausdehnung der Befugnisse des Directoriums auf das Recht und
die Pflicht der Ueberwachung. daß der innere Friede Deutschlands nicht gestört
werde."
Der Großherzog sprach nicht blos für sich, nicht blos für Baden, er pro-
testirte hier als Sachwalter des deutsche» Volkes. Auch ich stimme nicht für
die Reformacte, schallte es hunderttausendstimmig aus dessen Reihen, als am
Ende des Schauspiels der Vorhang siel.
Der Meister, dem wir die Hugenotten und den Struensee verdanken, ward
der Welt vor nicht viel mehr als einem Jahre durch den Tod entrissen. Aber
noch einmal tritt er wie ein Lebender unter uns und redet zur Menge in neuen
und doch ihm nur eigenthümlichen Melodien, wie sie uns aus seinem letzten
Werke, der Afrikanerin, entgegentönen. — Meyerbeer hatte bereits den Winter
von 1863 auf 1864 in Paris zugebracht, um der Jnscenesetzung des lange er¬
warteten Werkes, das jenen geheimnißvollen Titel trägt, beizuwohnen. Mit der
bei ihm bekannten Aengstlichkeit überwachte er die Auswahl der geeignetesten
und renommirtestcn Sänger und Sängerinnen, die Abhaltung hinreichender Pro¬
ben und die Anfertigung einer blendenden äußeren Ausstattung zu dieser seiner
letzten großen Oper. Denn, obgleich ein Deutscher von Geburt, war er doch
darin ein Franzose, daß es ihm nicht genug schien, das Kind seines Geistes nur
geboren zu haben. Er glaubte es auch möglichst vor allen Zufällen schützen
zu müssen, die dasselbe bei seinem Eintritt in die Welt bedrohen konnten.
Und wenn er in seiner Fürsorge nach dieser Seite hin vielleicht etwas zu weit
ging, so wünschen wir doch manchem deutschen Landsmanne nur eine Ader
einer solchen Natur, damit er, statt bloßer Hoffnungen auf dereinstigen Nach¬
ruhm, sich auch einigen Wohlseins und Lohnes in dieser Zeitlichkeit zu er¬
freuen hätte.
Seine Afrikanerin sollte ihr sorgsamer Vater nicht mehr selber dem Publikum
vorführen; sie ward sein künstlerisches Vermächtniß an die Nachwelt. Aber
auch diesen Fall hatte unser Tondichter, mit der Voraussicht des Gründers
einer Dynastie, der die von ihm stammende Linie möglichst sicher zu stellen
sucht, in seine Berechnungen gezogen. Meister F6dis in Brüssel, eine als An¬
tiquar aus classisch-musikalischen Gebiete unanfechtbare und für die Pariser
darum mit einem besonderen Nimbus umkleidete Autorität, war von Meyerbeer
sür den Fall seines Todes testamentarisch zum Anordner der musikalischen
Seite der bevorstehenden Aufführung der Afrikaner«» eingesetzt worden. Und
so ging denn die Oper Ende April dieses Jahres, von ganz Paris mit nicht
minderer Spannung wie ein großes politisches Ereigniß erwartet, in Scene.
Vielleicht verschuldete aber gerade eben jene zu hoch gesteigerte Erwartung,
die durch den inzwischen erfolgten Tod des Meisters und durch die Versiche¬
rungen, daß derselbe dies Werk für sein gediegenstes erklärt, neue Nahrung er¬
halten, den gegen die Wirkung früherer neuer Opern Meyerbeers nur mäßigen
Erfolg der Afrikanerin in Frankreichs Hauptstadt.
Ehe wir uns hier ein eigenes Urtheil über das uns vorliegende osuvi-s
postrmirik gestatten, sei es erlaubt, einen kurzen Rückblick aus Meyerbeers Stel¬
lung in der Tonkunst überhaupt zu werfen.
So weit die Geschichte der Tonkunst zurückreicht, begegnen wir kaum einem
zweiten Namen, der sich, wie der Meyerbeers. schon bei Lebzeiten seines Trä¬
gers über alle Zonen unseres Erdballes verbreitet hätte. Meyerbeersche Opern
werden so gut in Havanna, Mexiko, Newyork und Rio Janeiro, wie in Ma¬
drid, London, Petersburg und Calcutta gegeben. Was demnächst das eigentlich
musikalische Urtheil der Welt über ihn betrifft, so sehen wir. daß er einer¬
seits die große Menge für sich hat, während wir unter seinen Fachgenossen, so
wie unter den gebildeteren Dilettanten zwei entgegengesetzten Ansichten betreffs
seiner begegnen. Die Einen, und unter diesen die Majorität der einer strengen
Richtung in ihrer Kunst angehörenden Musiker, verdammen ihn gänzlich, die
Anderen finden in ihm gerade den Mann, der mit dem musikalisch Bedeutenden
das Gefällige. Effectvolle und den Sinnen schmeichelnde zu vereinigen wisse.
Die Franzosen besonders wähnen, daß es ihm gelungen sei, mit deutschem Ernst
und deutscher Tiefe französische Beweglichkeit und Rhythmik und italienischen
Melodienreiz zu verbinden. Wir glauben sagen zu dürfen, daß hier das Wahre
wie so oft in der Mitte liegt. Meyerbeer ist weder der große, unsterbliche
Meister, zu welchem ihn seine begeisterten Verehrer machen möchten, noch der
nur jüdisch berechnende Eklektiker, den seine Gegner in ihm finden, der das Sei¬
nige nimmt und sich aneignet, wo immer es ihm bequem ist, wenn nur Effecte
beim großen Haufen damit erzielt werden. Ein Mann, dessen Name den Erdball
umspannt, ein Mann, der bei den entgegengesetztesten Nationen und unter deren
hervorragendsten Geistern dieselbe Anerkennung gefunden, ein Mann endlich,
dessen Werke die Feuerprobe der Zeit schon insoweit bestanden haben, daß
sich z. B. seine Stücke „Robert der Teufel" und „die Hugenotten" über ein
Menschenalter auf allen Bühnen erhalten, kann nicht jener niedrige Schmeichler
einer blöden Menge und ein Speculant auf ihre Schwächen sein, dessen Herr¬
schaft, wie die Kunstgeschichte lehrt, immer nur eine oberflächliche und flüchtig
vorüberrauschende ist. Auf der anderen Seite aber kann ein Tonschöpfer, dessen
Opern fast ebensosehr durch den Aufwand aller decorativer Pracht und aller
Mittel des Maschinisten, wie durch die mit Raffinement ausgesuchten und dra¬
matisch zugespitzten Stoffe und Texte wirkt, unmöglich zu den classischen Meistern
zählen, deren keuscher Genius sich von solchen künstlerischen Vorwürfen mit
Antipathie abgewandt haben, oder wenigstens an ihnen nicht zur Entwickelung
kommen würde. Seien wir also nach beiden Seiten hin gerecht. Wir werden
dann nicht läugnen können, daß Meyerbeer, ein Tondichter von eminenter na¬
türlicher Begabung und von nach vielen Seiten hin gründlichem musikalischen
Wissen, zugleich aber auch ein Mann von feiner und seltener allgemeiner Bil¬
dung war, der jedoch dabei nicht jene Strenge gegen sich selber und seine Ar¬
beiten zu entwickeln stark genug war. aus der allein erst der ganze vollendete Künst¬
ler und das classische Kunstwerk hervorzugehen vermögen. So ist es denn ge¬
kommen, daß wir uns einerseits von dem unwidersprechlichen Ausdruck seines
großen, gewaltigen Talentes fortgerissen, dann aber wieder von dessen Ermat¬
tung auf halbem Wege und Versuchen auf eine weniger mühevolle Weise wie
seine classischen Vorgänger, die Krone der Unsterblichkeit zu erringen, abgestoßen,
ja verletzt fühlen. Hätte Meyerbeer die Theorie seiner Kunst nach allen Seiten
hin mit der Gründlichkeit studirt und mit der Genialität aufgefaßt, wie er dies
z. B. mit der Instrumentirung gethan, obgleich er auch hier dem Effect zu
Liebe noch übertreibt, so würden wir ihn wahrscheinlich zu unseren Classikern im
höchsten Sinne des Wortes zählen dürfen. So aber waltete in ihm ein Geist,
der ihm den Wunsch unwiderstehlich werden ließ, seinen Ruhm mit Ueber-
springung weit aussehender mühsamer Studien, die besonders im Punkte der
musikalischen Formenlehre und einheitlichen Stils noch zu absolviren waren,
bei Lebzeiten schon zu pflücken, und so verfiel er endlich auf jenes von Goethe
Gesagte:
Demungeachtet war der Respect vor dem Großen und Bedeutenden in der
Kunst und wohl auch vor der Verantwortung, die ihm das eigene bedeutende
Talent auferlegte, immer noch groß genug, um ihn nicht völlig zum Diener
der Menge oder eines Zeitgeschmackes werden zu lassen, ja ihn sogar in dem
bedeutendsten seiner Werke, den Hugenotten, wo er mehr wie irgendwo sonst
seine Kraft in ernstem Sinne concentrirt. sich fast zu jener kühnen Höhe erhe¬
ben zu lassen, auf welcher der wahre Genius zu verweilen Pflegt. Auch dazu
blieb er noch stark genug, aus sich selber, trotz aller Anleihen bei den verschie¬
denen Stilen und Meistern verschiedener Nationen, eine musikalische Individua¬
lität zu entwickeln, die eben Meyerbeer heißt und weder vor ihm dagewesen
ist, noch nach ihm anders als höchstens in der Form blos sklavischer Ausbeu¬
tung seiner Manier wieder erstehen wird. Aus allem geht hervor, daß der
Zwiespalt, der sich im Publikum seinethalb aufthat, auch in ihm selbst vorhanden
war. und daß er sein Leben lang die unmögliche'Aufgabe zu lösen suchte, zu¬
gleich den Anforderungen des ernsten Freundes der Tonkunst und dem Be¬
gehren des lauten Marktes zu genügen. Dies ist allerdings in einem unend¬
lich höheren Sinne einem Mozart und in der Malerei einem Raphael gelungen,
aber eben auch ganz unbewußt und ohne besondere dahin zielende Absicht ge¬
lungen, indem sie dabei eigentlich nur den ernsten Willen hatten, der Kunst in
ihren strengsten Anforderungen gerecht zu werden. Bei Meyerbeer hatte jenes
Streben die Folge, daß er zwar nie völlig zu der Flachheit der französischen
oder italienischen Modecomponisten seiner Zeit herabsank, aber ebensowenig
sich dauernd über sie zu erheben vermochte. Dagegen verdanken wir seinem
poetisch und geistvoll entwickelten Gefühl für große Momente im geschichtlichen
Dasein der Nationen die Erweiterung des Gebietes der Oper nach dieser
Seite hin. Eigentlich historische Opern hat es — wenn wir den Cortez des
Spontini, oder die doch mehr landschaftlich und lokal als historisch gefärbten
Opern Tell von Rossini und die Stumme von Portici von Ander ausnehmen,
vor Meyerbeer nicht gegeben. Eher möchte noch Gluck als der Vater auch
dieser Richtung in seiner Iphigenie auf Tauris zu nennen sein, wo der Ge¬
gensatz des classischen Griechenthums und der barbarischen Scythennatur in
unvergänglich ergreifender Wahrheit gezeichnet worden.
Doch finden wir im Ganzen auch hier immer noch mehr Gestalten von
einem allgemeingiltigen menschlichen Gattungsgepräge, als Charaktere und
eine Volksmenge, deren Leidenschaften durch eine besondere geschichtliche Epoche
individuell gefärbt wären. Erst Meyervcer wagte es, uns den religiösen
oder politischen Fanatismus Einzelner oder der Massen mit dem ganz indivi¬
duellen Gepräge eines bestimmten Zeitalters vorzuführen. Auch in dieser
Beziehung sind die Hugenotten der Gipfel seines Schaffens. Mönchische Wuth
und eine durch sie bis zum Wahnsinn aufgestachelte Menge, der kühne, gottes¬
starke Trotz der Hugenotten, endlich die noch tiefere Verinnerlicherung jener Ge¬
gensätze in dem katholischen Se. Bris auf der einen und dem lutherischen
Marcel auf der anderen Seite, sind Erweiterungen der Ausdrucksfähigkeit dra¬
matischer Musik. Wie genial zeichnet der Tondichter neben diesen Elementen
den schlüpfrigen, intriganten und üppigen Hof einer Margarethe von Valois,
und wie glänzend heben sich auf diesem reichen Hintergrunde die Gestalten der
beiden Liebenden, Valentinens und Raouls ab, ohne daß beide doch aufhör¬
ten, ebenfalls Kinder des dargestellten Zeitalters und ihrer Nation zu sein.
Aehnliches gelang Meyerbeer in seinem Struensee, den wir nächst den Huge¬
notten für seine gelungenste Schöpfung erklären möchten. In beiden Werken erhob
er sich weit über „Robert der Teufel", in welchem wir ihn fast noch ganz
unter dem Einflüsse jener Epoche französischer Hyperromantik erblicken, als deren
Gipfel Victor Hugo zu bezeichnen ist, während er zugleich noch mit der moderne"
italienischen Schule liebäugelt', aus welcher sein Crociato und seine Emma ti
Resburga hervorgegangen waren. In den Hugenotten und Struensee dagegen
ward der deutsche Theil seiner Bildung und Anlage in ihm lebendig, mittelst
dessen und einem strengeren Wollen beim Arbeiten es ihm gelang, das, was bei
den Schöpfungen trotz ihrer Überlegenheit in dieser Beziehung über den Pro¬
pheten und Robert noch an formaler Durchbildung gebricht, durch eine ein¬
heitliche Stimmung zu ersetzen, so daß wir hier fast den Eindruck empfangen,
vollendeten, d. h. classischen Kunstwerken gegenüberzustehen. Leider behaup¬
tete sich Meyerbeer in seinem nächsten Werke, dem Propheten, nicht auf
dieser Höhe, noch weniger aber that er einen weiteren Schritt dem Gipfel zu,
der schon nicht mehr fern. Wir begegnen im Phropheten wieder jenem Misch¬
masch von Stilproben, dessen wir schon beim Robert gedachten, nur hier noch
toller und lauter durcheinandergewürfelt, da mitunter auf ein Stückchen Re¬
citativ g, Is, Gluck eine italienische Cantilene g. Is, Bellini oder Donizetti oder
eine halsbrechende Cadenz französischer Manier und auf diese wieder ein rhyth¬
misch bizarr und barock gestaltetes Motiv in Meyerbeer's eigenster Weise folgt.
Eine solche Mosaiktafel hat neben der Zerstörung der einem Kunstwerke un¬
entbehrlichen Einheit der Stimmung auch die Vernichtung aller organischen und
formalen Gliederung der Motive zur Folge, die entweder schon im Keime er¬
stickt werden oder mitten in ihrer Entwickelung verkrüppeln. Dennoch enthält
auch der Prophet noch ganze Scenen, die ein abermaliges glänzendes Zeugniß
für Meyerbeers musikalische Darstellungskraft geschichtlicher oder wenigstens
durch einen bestimmten historischen Hintergrund poetisch gefärbter dramatischer
Situationen ablegen. Wir erinnern in dieser Beziehung nur an die gewaltige
Scene im Dom zu Münster, mit dem Krönungszuge beginnend bis zu deren
Abschlüsse u. s. w. u. s. w.
Wir müßten, um vollständig zu sein, vielleicht hier auch noch der auf an¬
deren Gebieten sich bewegenden Opern Meyerbeers, z. B. des Feldlagers in
Schlesien, des Nordsterns (zum Theil dem vorigen entnommen) und der Wall¬
fahrt nach Ploermel gedenken. Wenn aber auch in den beiden erstgenannten
jener historische Zug Meyerbeers hervortritt, so stehen sie doch in anderer
Beziehung zu weit hinter seinen besprochenen größeren Arbeiten zurück, um
hier als gleichberechtigt angeführt zu werden.
Mehr muß es uns interessiren, zu erfahren, in welchem Verhältniß zu den
Mittelpunkten der schöpferischen Thätigkeit Meyerbeers, zu Robert, den Huge¬
notten und dem Propheten das letzte große Werk verwandter Gattung, seine
Afrikanerin steht. Die Frage, ob diese Oper nach oder vor dem Propheten
entstanden, kann uns dabei nur als eine secundäre berühren, da sie an dem
Werthe oder Unwerthe des Werkes nichts ändern würde.
Nach cer gründlichen Bekanntschaft mit der Partitur der neuen Operin
fassen wir unser Urtheil im Allgemeinen dahin zusammen, daß sie bezüglich Ein.
heit der Stimmung und formaler Abrundung den Propheten übertrifft, in dieser
Beziehung also mehr den Hugenotten wie jenem gleicht. Wir würden hiernach
hinsichtlich ihrer Entstehungszeit darauf schließen, daß dieselbe vor dem Pro¬
pheten anzunehmen sei, wenn nicht dieser wiederum einen größeren Reichthum
in der Erfindung neuer und origineller Motive erkennen ließe, den wir doch
eher von dem jüngeren als von dem älteren Manne erwarten. Demunge-
achtet möchten wir im Ganzen genommen der Afrikanerin einen höheren Platz
unter den Arbeiten Mevcrbeers anweisen, als dem Propheten. Es waltet
darin ein größerer künstlerischer Ernst, der sich auch in dem fließenderen und
einfacheren Fortgange der Composition zeigt, und vor allem werden wir nicht,
wie im Propheten so vielfach, von zehn zu zehn Takten aus einem Stil und einer
Manier in die andere gequält oder durch den Wechsel emvryonenhaft bleiben¬
der Motive um alle künstlerische Entwickelung gebracht. Und wenn wir auch
in Beziehung auf Erfindung neuer Motive nicht einem solchen Reichthum
begegnen wir in den Hugenotten oder dem Robert, so haben dafür in der
Afrikanern einzelne dieser Motive einen, wir möchten sagen concentrirten
Werth, der ihnen, da sie gerade die dramatischen Höhenpunkte musikalisch be¬
zeichnen, eine um so größere Wirkung verleiht.
Gehen wir nach diesen allgemeinen Andeutungen zu einer Beurtheilung
des Werkes im Einzelnen und, ehe dies geschieht, zu einer kurzen Besprechung
seines Stoffes und der Behandlung desselben durch Scribe über, ohne dessen
Namen Meyerbeer sich nun einmal auf keinen Operntext einließ.
Der erste Act beginnt gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts im Rathssaal
der Admiralität zu Lissabon. Ines, die Tochter des Admirals, wundert sich
gegen ihre Begleiterin darüber, daß ihr Vater sie in dies Staatsgemach beor-
dert habe; es müsse sich um Wichtiges handeln. Vielleicht sei Nachricht von
der Flotte des Bartholomäus Diaz eingelaufen, welcher sich Vasco de Gama.
ihr Geliebter, zur Aufsindung eines Seeweges nach dem geahnten Indien an¬
geschlossen. Immer noch schweben ihr die Töne des Liedes vor, mit welchem
ihr der Tranke den letzten Abend vor seiner Abreise unter ihren Fenstern ein
Lebewohl zugesungen. In solchen Träumereien wird sie von ihrem Vater, dem
Admiral, unterbrochen, der ihre Liebe zu Vasco als zu einem Abenteurer ver¬
dammt und ihr eröffnet, daß er sie behufs Verwirklichung seiner hochfliegenden
Pläne mit Don Pedro, dem Präsidenten des Staatsrathes, zu vermählen beab¬
sichtige. — Ihr Widerspruch verstummt, da Don Pedro mit der Mittheilung
eintritt, daß des Bartholomäus Diaz Expedition mit dem Untergange seiner
Schiffe und Mannschaft geendigt. Ines nennt verzweiflungsvoll den Namen
Vasco de Gamas und verräth dadurch der Eifersucht des Don Pedro ihre
Liebe zu dem Vermißten. Der portugiesische Staatsrath, an seiner Spitze Don
Ulvar, der Großinquisitor und acht Bischöfe, tritt ein. Don Pedro theilt der
Versammlung im Auftrage des Königs Emanuel mit. daß eine Expedition aus¬
gerüstet werden solle, um Spuren des untergegangenen Geschwaders des Diaz
aufzufinden. Don Ulvar erklärt dies für verlorene Mühe, da ein junger Offi¬
zier, der sich gerettet und eben angelangt sei, den völligen Untergang des
kühnen Seehelden und seiner Flotte durch Stürme am Cap der guten Hoff¬
nung berichte. Der junge Offizier, der niemand anders ist als Vasco de Gama.
wird vorgelassen. Er schließt seinen Bericht mit der Versicherung, daß alle
Schrecknisse, die er erlebt, ihn nicht vor erneuerten Versuchen, den Weg nach
den im Osten geahnten Ländern zu finden, zurückbeben ließen, und bittet den
Staatsrath, ihm dazu die Mittel zu gewähren. Die Meinungen in der Ver¬
sammlung sind getheilt. Die fanatischen Priester, denen jede Erweiterung des
Geisteshorizontes der Menschheit verhaßt, erklären den Untergang des Diaz für
ein Gottesgericht und Vasco für einen verblendeten Schwärmer. Ein Theil
der Edelleute und der Admiralität dagegen stellt sich auf Vascvs Seite. Vasco
bittet, man möge ihm. ehe man sich entscheide, den thatsächlichen Beweis zu
führen erlauben, daß er kein Träumer und daß seine Voraussetzung von fernen
Ländern im Osten des Caps der guten Hoffnung keine Hirngesp^ruhte seien.
Auf seinen Wink treten Selica, eine Königstochter des fernen Madagascar, und
Nelusco, einer der Häuptlinge ihres Volkes, ein. Beide wurden durch einen
Sturm in die Nähe des Caps verschlagen und bei dieser Gelegenheit von Vasco
gefangen, der in ihnen die Bestätigung seiner Ahnungen begrüßte und sie als
seine Sklaven mit nach Europa führte. Trotzdem entscheidet sich die Versamm¬
lung nach stürmischer Berathung, in der besonders die Priester und Pedro, der
den Vasco als seinen Nebenbuhler haßt, den Ausschlag geben, gegen den jun¬
gen Seehelden. Pedro verkündet ihm mit Hohn, daß der Staatsrath seine
Vorschläge als Wahnwitz zurückweise. Vasco. entrüstet und beleidigt, nennt
Columvus, den die Weisen seiner Zeit ebenso verächtlich behandelt und der
Vor der Geschichte doch Recht behalten. Auch über den hier versammelten
Staatsrath werde die Welt einst richten. Don Pedro ergreift diese Gelegen¬
heit, um den Tod des jungen Verwegenen zu fordern, der es wage, die höchste
Behörde im Königreiche zu beschimpfen. Man ist ganz seiner Meinung, doch
gelingt es der kleinen Partei, die Antheil an ihm nimmt, dies Urtheil auf
ewige Kerkerhaft zu mildern, welchem Beschluß der von Vasco gereizte Gro߬
inquisitor noch seinen Bannfluch hinzufügt.
Der zweite Act führt uns in das Gefängniß der Inquisition zu Lissabon.
Vasco. hier eingekerkert, sieht im Traume die Länder seiner Sehnsucht vor sich
ausgethan. Selica, die ihn liebt und seinen Schlaf belauscht, vernimmt zu
ihrem Entsetzen, daß er bereits eine Andere, daß er Ines liebt und durch den
Ruhm seiner Entdeckungen die Geliebte allen Hindernissen zum Trotz zu errin-
gen hofft. Doch sie drängt, da sie ihn über den Schmerz der Trennung von
der Theuren klagen hört, alles Mitleid mit sich selber zurück und tulit den
Schlafenden, dem sie Kühlung zufächelt, durch ihren Gesang wieder zu sanfterer
Ruhe ein. Unterdeß ist Nelusco, der die Anwesenheit Selicas nicht bemerkt,
eingetreten, um Vasco zu tödten. Es dünkt ihm ein Schimpf, daß die große
Königin seines Volkes die Sklavin des hier eingekerkerten Weißen bleiben soll.
Selica wirft sich zwischen Neluscos gezückten Dolch und den schlafenden Vasco.
Sie will den Wilden zurückhalten, er aber, getrieben von unbewußter Eifer¬
sucht, Haß gegen den Europäer, der Selica und ihm die Freiheit geraubt, und
von dem dunkeln Gefühl, daß gerade dieser nimmer im Geist« von seinen
Plänen ablassende Mann seinem Vaterlande am gefährlichsten, will sich aber¬
mals auf ihn stürzen. Ueber seinem Ringen mit Selica erwacht Vasco. Selica
weiß ihn glücklich über die Situation zu täuschen. Nelusco schleicht sich davon,
während sie Vascos Studien vor einer Seekarte, unbemerkt von ihm, folgt,
bei denen er sich bemüht, einen Weg um das Ccip zu finden. Sie lehnt sich
über seine Schulter und zeichnet eine andere Linie auf die Karte. Vasco ge¬
räth in freudige Bestürzung und vernimmt nun von ihr, die in ihrer Liebe zu
ihm ihr bisheriges Schweigen bricht, Kunde über ihr Land und über den See¬
weg, auf welchem dahin zu gelangen. Sein feurig Selica dargebrachter Dank
wird durch den Eintritt Don Petros und der Donna Ines in den Kerker unter¬
brochen. Ines verkündet ihm Freiheit, die sie durch ihren Vater und Don
Pedro für ihn erwirkt. Ihre Berufung auf den letzteren befremdet Vasco,
nicht weniger ihre Kälte gegen ihn. Er erräth, daß die Anwesenheit Selicas
in seinem Kerker die Geliebte mit einem für ihn entehrenden Verdacht erfülle,
und versichert, daß er zu ihr' in keiner andern Beziehung als der des Herrn
zur Dienerin stehe. Um ihr dies zu beweisen, bietet er ihr Selica und Nelusco
zum Geschenk an. „O Grausamkeit!" ruft Ines aus. Vasco dringt vergeblich
in sie, sich zu erklären, und erfährt endlich von Pedro, daß Ines dessen Gattin.
Es wird ihm nun auch deutlich, daß man Ines über ihn getäuscht. Sie be¬
stätigt dies und erklärt, daß man ihr nur die Wahl gelassen, ihn, den „Unge¬
treuen", den sie trotzdem immer noch geliebt, sterben zu sehen, oder Pedro die
Hand zu reichen. Dem allen fügt Pedro noch, den Unglücklichen ganz zu zer¬
schmettern, die Mittheilung hinzu, daß ihm König Emanuel die Führung einer
Flotte anvertraut, um die von Diaz begonnenen Entdeckungen, die in Vascos
Händen doch nur verloren gewesen sein würden, zu Ende zu führen. „Ha!"
ruft Vasco aus, „und dabei wollt ihr Euch meiner Karten und Pläne bedie¬
nen, die ich Euch arglos vor der Abstimmung im Staatsrath überlieferte."
Pedro versichert höhnisch, er habe diese Machwerke bereits dem Feuer über-
geben und zieht die halb ohnmächtige Ines, die Vasco nur noch zuzurufen ver¬
mag: „Dort oben winkt uns Wiedersehen!" triumphirend mit sich fort.
*
Im dritten Acte begegnen wir einem Wagniß, wie wir ähnlich nur in
Scribes und Meyerbeers früheren Opern erlebten. Die Bühne stellt nämlich
das frei in den Wogen schwebende portugiesische Admiralschiff dar, auf welchem
Pedro, von Ines, Don Ulvar, Selica und Nelusco begleitet und umgeben von
Matrosen, Soldaten und Bürgern mit ihren Frauen, die sich in den neuen
Ländern ansiedeln wollen, seine Entdeckungsreise ausführt. Nelusco, der seinen
Haß gegen die Weißen, die sein Vaterland unterjochen wollen, nunmehr aus
Don Pedro concentrirt hat, ist es gelungen, diesem vorzuspiegeln, daß er ihm
treu diene und allein der Mann sei. der seine Schiffe glücklich vom Cap aus
nach Madagascar und Indien zu steuern vermöge. Vergebens warnt Don
Ulvar vor dem verschmitzten Wilden, der die anderen Schiffe, die ihm Pedro
anvertraut, bereits zu ihrem Untergange geführt habe. Pedro, von seinem Ver¬
hängnis; getrieben, lehnt jeden Rath ab und giebt sogar den Befehl, daß das
Schiff, wie Nelusco verlangt, seinen bisherigen Cours ändere. Kaum ist dies
geschehen, als sich von einer fernen portugiesischen Brigg, die man zu aller
Staunen seit einigen Tagen auf derselben Fahrt begriffen gesehen, ein Boot
nähert. Vasco de Gama steigt daraus an Bord und will Pedro, obgleich er
sein Feind sei, als Sohn desselben Landes warnen, die eben eingeschlagene
Richtung fortzusetzen, da er sonst binnen Kurzem scheitern und in die Hände
der erlernten Eingeborenen fallen werde. Don Pedro behandelt ihn verächtlich
und meint, sein Kommen gelte wohl mehr der Rettung von Ines als der des
glücklichen Nebenbuhlers; beide Männer gerathen in Hitze, Vasco fordert Don
Pedro und schleudert ihm, als dieser seine Forderung belächelt, den Ruf „Feig-
ling" zu, woraus Pedro den Befehl giebt, Vasco an den Mast zu binden und
zu erschießen. Auch diesmal verhindert Selica des Geliebten Tod, indem sie
Ines ergreifend und den Dolch auf ihre Brust setzend schwört, diese zu tödten,
wenn Pedro nicht Gnade für Vasco verheiße. Pedro schenkt nach einem
harten Kampfe mit sich selbst Vasco das Leben, läßt ihn aber, da er ihm —
ein zweiter Geßler — eben nichts weiter als das Leben versprochen, in Ketten
in den untersten Schiffsraum werfen. Nun bricht der schon lange drohende
Sturm los, das Schiff scheitert und wird festsitzend von den Indianern Mada-
gascars überfallen, die, ihre Königin Selica suchend, in Massen an den öst¬
lichen Küsten des Caps verweilen. Nach kurzem Widerstand werden die Por¬
tugiesen bis auf den letzten Mann niedergemacht, die christlichen Frauen ge¬
fesselt und Selica und Nelusco mit einem Danklied gegen Brahma, der ihre
Wiederauffindung habe gelingen lassen, begrüßt.
Der vierte Act spielt in Madagascar und beginnt mit einem pomphaften
Aufzug von Priestern und Priesterinnen des Brahma, denen Amazonen, Gaukler
und Krieger folgen, in deren Mitte Selica als Königin thront. Der Ober-
Bramine veranlaßt die versammelte Menge, der wiedergefundenen Herrscherin
erneuten Gehorsam zu schwören, wogegen sie den Eid zu leisten hat, keinen
Fremdling lebend im Lande zu dulden. Ein Priester flüstert dem Nelusco
zu, daß noch ein Weißer (Vasco), der auf dem Grunde des Schiffes in Ketten
gelegen, am Leben, und erhält die heimliche Weisung, auch diesen sofort zu
tödten. Die Menge zieht zum Tempel und Vasco, nichts Böses ahnend, er¬
scheint, um sein Entzücken über das schöne, lange von ihm gesuchte Land und
dessen ewigreinen Himmel auszusprechen. Priester, von einer fanatischen, mit
Beilen bewaffneten Meuge begleitet, unterbrechen seinen Monolog und kündigen
ihm den Tod an. Vergeblich fleht Vasco um sein Leben, die Menge ergreift
ihn, um ihn ihren Göttern zu schlachten. „Haltet ein!" ruft in diesem Mo¬
ment die hinzugekommene Selica. Man hält ihr ihren Eid vor, keinem Fremd¬
linge das Leben zu gewähren. „Alle bis auf die Frauen - erschlugen unsere
Beile" und so darf auch diesem letzten Opfer keine Gnade werden. Vasco,
durch solche Worte getäuscht, glaubt auch seine theuere Ines unter den Todten
und verlangt nun selber zu sterben. Die liebende Selica jedoch beschließt, ihn
um jeden Preis zu retten. Sie giebt ihm einen heimlichen Wink, sie nicht zu
verrathen, und erklärt Plötzlich dem versammelten Volk, daß Vasco unantastbar
für seine Wuth geworden, da er ihr im fernen Lande der Weißen das Leben
gerettet und sie, die Sklavin, zu seiner Gattin erhoben habe. Da Nelusco der
Einzige ist, der diese Aussage bestätigen oder entkräften kann, so wendet sich
die Menge an diesen, um Gewißheit zu erhalten. In Neluscos Hand liegt
daher nun die Vernichtung oder Rettung der von ihm angebeteten Königin und
des ihm verhaßten Vasco. Selica flüstert ihm zu, daß auch sie sich, falls sein
Spruch gegen Vasco ausfalle, des Lebens berauben werde. Dramatisch wirk¬
sam ist der innere Kampf Neluscos zwischen Haß und Liebe, während aller
Augen auf ihn gerichtet sind, die Priester ihn drängen und Selica und Vasco
an seinen Lippen hängen, deren Ja oder Nein ihnen Leben oder Tod bringen
wird. Endlich siegt in Nelusco das Gefühl für Selica über seinen Haß gegen
Vasco. und er legt mit stammelnder Stimme und fast ohnmächtig werdend den
falschen Eid auf dem Altare seiner Götter ab, daß Vasco Selicas Gatte sei.
„Herrschet, herrschet, glücklich Paar!" ruft die Menge und entfernt sich nach
dem Tempel, um den Göttern zu danken. Selica aber flüstert Vacco zu, daß
er keinen Zwang von ihr zu fürchten habe, sie hätte ihn nur retten wollen,
um ihn den Seinen zu erhalten, ein Boot solle ihn noch heute Nacht zu seiner
immer noch am Horizonte sichtbaren und auf ihn harrenden Brigg zurückbrin¬
gen. Vasco, von so viel Edelmuth ergriffen, von der Schönheit Selicas ge-
rührt, während er Ines nicht mehr unter den Lebenden wähnt, und endlich
durch die überstandenen Gefahren und den Eindruck des entzückenden Landes
erschüttert und überwältigt, erklärt Selica, daß er sich selber wie verwandelt
erscheine, und daß in seinem Herzen Gefühle erwacht, die er früher nicht ge-
kannt. Da Selica noch nicht wagt, ihn ganz zu verstehen, so stürzt er mit
dem Ausiuf „Dein Gatte" der Entzückten zu Füßen.
Der fünfte Act schildert natürlich die Umwandlung in Vascos Empfin¬
dungen, als er erfährt, daß Ines und die gefangenen Frauen noch leben und
erst demnächst geopfert werden sollen. Selica, in der auf einen Moment das
wilde Blut der heißen Zone erwacht, beschließt anfänglich Rache an Ines, die
ihr abermals den Geliebten entreißt. Der ihrer tiefen Liebe entsprießende
Wunsch jedoch, Vasco glücklich zu machen, siegt zuletzt über alle Selbstsucht;
sie giebt Ines und Vasco die Freiheit, indem sie beide heimlich nach dem
Schisse Vascos bringen läßt, beschließt aber, ihrem eigenen Leben ein Ende zu
machen. Und nun folgt eine Scene von einem Raffinement, wie es nur ein
Scribe ausbeuten und ein Meyerbeer musikalisch zu illustriren vermochte. Selica
begiebt sich auf den Gipfel des hohen Cap, von wo aus sie mit ihren Blicken
dem am Horizonte entschwindenden Schiffe folgen kann, das den Geliebten für
ewig entführt. Dort steht der gefürchtete Manzanillo-Baum, dessen Blüthen
einen Dust aushauchen, der die in seinem Schatten Ruhenden durch sein Gift
betäubt und tödtet. Diese Vergiftungsscene müssen wir nun in allen ihren
Stadien miterleben. Aus den Schmerzen über den für ewig Verlorenen sehen
wir Selica in eine Art Opiumrausch des Entzückens und Wahnsinns über¬
gehen, der ihr eine Wiedervereinigung mit dem Geliebten im Reiche Brahmas,
dessen Engelchöre sie zu hören glaubt, vorspiegelt. Auf diese Ekstase folgt ein
allmäliges Zusammenbrechen und Hinsinken in die Arme des Todes, wobei
die Sängerin und Schauspielerin alle Stufen eines Vergistungsprocesses dem
schaudernden Publikum vorzuführen vermag. Nclusco stürmt voll banger Ahnun¬
gen herbei, findet Selica aber bereits entseelt.
Nach den bereits vorausgeschickten allgemeinen Bemerkungen über die mu¬
sikalische Seite der „Afrikanerin" und bei der Bekanntschaft unserer Leser
mit meyerbeerscher Musik überhaupt, können wir uns in Bezug auf den Werth
einzelner hervorragender Nummern der Partitur ziemlich kurz fassen.
Die „Ouvertüre" zur Afrikanerin ist mehr eine Introduction als eine
Ouvertüre, wie denn Meyerbeer überhaupt ein Stück dieser Gattung in dem
Sinne, den unsere classischen Jnstrumentalcomponisten uns damit verbinden
lehrten, nie geschrieben hat. Die Ouvertüre zu Struensee wäre vielleicht die
einzige, der man diese Bezeichnung angedeihen lassen könnte, jedoch auch nur
annähernd, da auch ihr sowohl die zu fordernde Durcharbeitung und organische
Entwickelung der Motive, wie die rechte Geschlossenheit der künstlerischen Form
abgeht. Die Ouvertüre zur Afrikanerin beginnt in H-mvII. Das einleitende
Thema begegnet uns später in der Romanze Ines im ersten Acte wieder. Es
ist in einander imitircnde Stimmen gegliedert und steigert sich durch eine im
Strctto fortschreitende Sequenz und in interessanter Modulation nach it-cor,
woselbst mit dem ^lui-urtö esxressivo ein zweites, feierlich triumphirendes
Motiv eintritt, das sich ebenfalls in der Oper wiederholt. Ein Sätzchen auf
der Dominante ^is-clnr schließt sich schön und melodiös an, dann begegnen wir
auch hier einer jener meyerbecrschen Steigerungen in stark modulircnden Se¬
quenzen, worauf das II-aur-Motiv zum zweiten Mal erscheint, nunmehr aber
wie verklärt und von schmeichelnden, liebeflüsternden Stimmen umspielt, bis
zuletzt das erste geheimnißvolle II-moU-Motiv wieder auftritt, worauf das Ganze
in Kürze durch dramatisch wirksame, musikalisch aber unbedeutende chromatische
Gänge abschließt. Jedenfalls hat diese erste Nummer das wenn auch nur
relativ Gute, daß jeder Tact darin die musikalische Individualität Meyerbeers
ausspricht.
Im ersten Act Heden wir die Romanze der Ines in Li-clur: „Ihr Lüftchen,
weht so linde", als von einer bei Meyerbeer selten so frischen, wir möchten
fast sagen Franz Schubertschen Lyrik durchweht, hervor. Ferner das Finale,
das im Ensemble und Chor mächtige, fast an die Schwerterweihe in den Hu¬
genotten erinnernde Momente hat; so der Solosatz für vier Männerstimmen
mit Chor in L-aur zu den Worten „Sein hoher Geist, sein kühnes Streben"
einerseits und „Nur Wahnsinn ist fein kühnes Streben" andererseits. Der erste
Eintritt des Chors in dem wirkungsvollen frischen pes-aur ist in dieser Ver¬
bindung wahrhaft genial, ebenso die Steigerung der inneren Bewegung am
Schlüsse. Sehr geistreich wird das erste Auftreten der beiden Sklaven mit dem
wilden und seltsamen Motiv in H-moll eingeleitet, das uns im dritten Act
als Schlachtgesang der Indianer beim Entern des Schiffes des Don Pedro
wieder begegnet. Auch der mächtig bewegte Schluß dieses ersten Finales ist
zu rühmen, und zwar sowohl die Steigerung des Chors bis zum Eintritt
Vascos mit dem gesangreichen Motiv: „AIs Sünder und Rebellen behandelt
man mich heut," wie auch die weitere Durchführung desselben im Ensemble.
Im zweiten Acte haben wir die Schlummer-Arie der Selica als originell
und ebenso rührend wie lieblich zu rühmen. Auch der I)-cor-Satz der Arie
Neluscos ist edel und gediegen. Weniger können wir uns mit dem leiden¬
schaftlicher sein sollenden Theile derselben in L-aur einverstanden erklären, in
welchem wir statt Laute der Eifersucht und des Nayenhasses des Wilden ge¬
wöhnliche Hörner und Trompetenfanfaren vernehmen. Sehr melodisch, und
zwar nicht in modern italienischem, sondern in einem ernsteren deutschen Sinne
ist auch das Ls-aur-Duett zwischen Vasco und Selica: „Des Dankes Empfinden,
nie soll es entschwinden" die hervorragendste Nummer jedoch dieses Actes und
zugleich eine der schönsten der gesammten Oper ist das Septett, welches, ob¬
gleich großentheils s, eapella, componirt, weder an das a, eapella. Terzett im
Robert, noch an das g. oapella Septett im dritten Act der Hugenotten
erinnert, sondern, mit einziger Ausnahme des K-rnoU-Eintritts ,.O der Schmerz
macht ihn erbeben", der ganz unverblümt das Motiv des Se. Bris im vierten
Act der Hugenotten bringt, auf eigenen Füßen steht.
Die Introduction des dritten Actes schildert in sehr reizender Weise den
frühen Morgen auf dem Ocean, durch dessen leise und schmeichelnd spielende
Wellen das Schiff Don Petros ruhig dahinzieht. Ein höchst graziöser Frauen¬
chor in ^s-moll: „Der Morgen kommt herauf", schließt sich unmittelbar an.
Ihm folgt ein Quartett und Chor der Matrosen, der zum Frischesten und Ge¬
sundesten gehört, was je aus Meyerbeers Feder geflossen. Es weht daraus in
Wahrheit die Luft und Freiheit der weiten offenen See. Auch das Gebet
auf dem Schiffe, gemischtes Quartett und Chor, ist wirkungsvoll. Sehr hu¬
moristisch ist das kleine Sätzchen für Piccolo mit piquanter Begleitung, welches
die Schiffspfeife nachahmt, die die Mannschaft zum Frühstück ruft. Ein düster
unheimliches und dabei doch schaurig schönes Stück ist des wilden Nelusco
Ballade: „Hei Adamastor, der König der Wellen", in welchem der Chor der
Matrosen mit einem diabolischen „Ha, ha, ha!" den Refrain bildet. Das Duett
zwischen Pedro und Vasco. besonders von den Worten an: „Junger Thor, der
wohl hat vergessen" ist voll Feuer und dramatisches Leben. Nicht minder daS
große Septett zu der Scene, in welcher Selica der Ines den Dolch auf die
Brust setzt, und das Finale mit dem wild hereinbrechenden Chor der indischen
Krieger, so daß eigentlich der ganze dritte Act in frischem musikalischen Zug
und Zusammenhang bleibt.
Der vierte Act zeigt gleich im Eingang, den ein großer indianischer Marsch
ausfüllt, jene strengere Einheit in Form und Gehalt, die wir, im Gegensatze
zum Propheten und Robert dem Teufel, der Afrikanerin nachrühmten. Die
verschiedenen Motive und der. je nach den im Aufzuge auftretenden Gruppen
der Braminen. Gaukler. Amazonen, Krieger und der Königin mit ihrem ganzen
Hofstaate wechselnde Ausdruck derselben erscheinen hier nicht mosaikartig aneinander¬
gereiht, sondern zu einer höhern Einheit verschmolzen. Auch sind die Themata
meist edel gehalten und nie auf die Spitze getrieben, wie sonst mitunter von
Meyerbeer bei solchen Gelegenheiten geschehen. Der folgende Gesang des Ober-
Braminen: „Wir schwören bei Brahma, bei Wischnu und Schiwa" ist so edel
gehalten, daß wir bedauern müssen, dies schöne Motiv ohne jede Entwickelung
nur so mi Passant, an uns vorüberrauschen zu hören. Dramatisch wirksam,
obgleich in der Führung der Chorstimmen an die verwandte Scene im vierten
Acte des Propheten erinnernd, ist das Ensemble mit Chor, das den innern
Kampf Ncluscos und die Spannung der Menge schildert, der erbezeugen soll,
daß Vasco, wie Selica verkündete, ihr Gatte. Die nach den geheimnißvoll
tönenden Anrufungen der Götter durch die Braminen folgende große Liebes¬
scene endlich zwischen Selica und Vasco gehört entschieden zum Innigsten und
Leidenschaftlichsten, was Meyerbeer im Erotischen geschrieben. Selbst das große
Duo zwischen Raoul und Valentine im vierten Act der Hugenotten, das man
in dieser Beziehung bisher am höchsten stellte, geht nicht über die genannte
Scene in der Afrikanerin hinaus. Der Unterschied zwischen beiden besteht haupt¬
sächlich darin, daß die Hugenottenscene dramatischer ist und ein erschütterndes
Nebeneinander von Todesgrauen und dem Sinnentaumel trunkener Liebe dar¬
stellt, während hier die Liebe allein durch sich selbst und bei aller Leidenschaft
doch weit inniger und zarter wirkt, wie dort. Die Scene hat überhaupt einen
lyrischen Zauber, der bei Meyerbeer bis dahin der Welt unbekannt geblieben
und daher gewissermaßen eine ganz neue Seite von ihm enthüllt. Reizend
schließt sich der wollüstig neckische Gesang der die Braut beglückwünschenden
und ihr den Schleier bringenden indischen Mädchen an, in welchen das Motiv
der Ballade der Ines aus dem ersten Acte höchst wirksam hineintönt, als Ines,
die todt Geglaubte, Plötzlich an Vasco mit den anderen portugiesischen Frauen
vorüberschreitet, um geopfert zu werden.
Der fünfte Act enthält ein interessantes Duett zwischen den beiden Heldinnen
der Oper, in welchem die Musik trefflich den Uebergang der Rachegefühle Selicas
gegen Ines in die des Mitleids schildert, die sich denn endlich bis zum Herois¬
mus des eigenen Entsagens steigern. Die Sterbescene am Manzanillobaum ist
voller schöner musikalischer Momente, und die Oper klingt mit ihr in einem
unsichtbaren Chor Verklärter sanft und eigentlich wieder ganz lyrisch aus.
Die Afrikanerin ist bis jetzt nur erst in Paris und London gegeben wor-
den, soll aber zum Winter auf allen größeren Bühnen Europas und Amerikas
in Scene gehen.
Der Klnvierauszug, in Deutschland bei Bote und Bock in Berlin, in
Frankreich bei Brandus in Paris herausgekommen, ist soeben veröffentlicht
worden und läßt bezüglich Ausstattung und Deutlichkeit nichts zu wünschen
übrig. Doch möchten wir einige, wenn auch wenige stehen gebliebene Druck¬
Wenn die allgemeine Aufmerksamkeit nicht so aufgeregt dem deutschen
Norden zugewendet wäre, würde, was sich jetzt in Oestreich vollzieht, auch in
Deutschland mit größter Theilnahme beobachtet werden. Denn dort ist die bis¬
herige Verfassung geräuschlos, ohne Widerstand, ja ohne laute Theilnahme des
Volkes nicht aufgehoben, aber unmöglich gemacht worden. Es war vor siebzehn
Jahren eine Todesgefahr des Staates nöthig, um den Regierenden die Er¬
kenntniß zu geben, daß auch ihr Staat in den verhaßten Formen regiert werden
müsse, welche den Leidenschaften einen gesetzlichen Spielraum verschaffen, der
Regierung aber die Möglichkeit, ihre Völker durch die politischen Führer der¬
selben zu leiten. Der künstliche Bau der Februarverfassung war der erste Ver¬
such des Kaiserstaates, sich nach den unabweisbaren Bedürfnissen der Zeit zu
regeneriren. Es gelang nicht, die Gesammtheit der Stämme durch diese Ver¬
fassung zusammenzubinden, nach sechzehn Jahren legt man diesen Versuch bei
Seite, still und mit freundlichem Antlitz, wie man zu Wien dergleichen abthut,
und man denkt auf ein neues Experiment.
Man darf nicht verkennen, daß diese unfertige Verfassung, welche bis jetzt
gegolten, der Regierung die wichtigsten Dienste gethan hat, der Reichsrath hat
ihr Credit verschafft, also die Möglichkeit zu existiren. Die politische Thätigkeit
desselben hat auch eine Presse und die Theilnahme der Völker an ihren größten
Interessen großgezogen, Millionen haben sich als Oestreicher fühlen gelernt,
auch in den Stämmen, welche nach einer Separatstellung innerhalb des Staates
streben, ist die Erkenntniß der Vortheile lebendig geworden, welche der politische
Zusammenhang mit dem Ganzen für sie hat. In sechzehn gefährlichen Jahren
ist außerdem für Besserung der Rechtspflege, der Administration, der Unter¬
richtsanstalten, für die Entwickelung der Industrie und des Landbaues sehr viel
geschehen, wenige Oestreicher werden das frohe Gefühl von sich fern halten,
daß die Entwicklung ihrer Cultur in starkem Fortschritt sei, und daß das Er¬
wachen des politischen Lebens, wie ungenügend seine Formen waren, diesen
Segen über den Staat gebracht habe. Denn nie und nirgend vielleicht ist
das Glück einer Verfassung den Menschen so eindringlich geworden, als gerade
in dem Staat, dessen Konstitution die irrationalste war, welche je ein moderner
Staatskünstler erdacht hat. Freilich auch wer die guten Wirkungen der Ver¬
fassung freudig zugab, konnte die Empfindung nicht los werden, daß sie inner
lich hohl und unhaltbar war. So lange sie unvollständig ausgeführt blieb,
in interimistischen Bestände waren die Rechte des Neichsraths ungenügend, die
Negierung erhielt reichlich Gelegenheit, seinen Beschlüssen ihre Pflicht gegen den
Gesammtstaat vorzuhalten, ja die Wirksamkeit einer solchen Verfassung ver¬
größerte alljährlich die Kluft zwischen den vertretenen und nicht vertretenen
Ländern; wenn wieder diese Verfassung vollständig zur Ausführung kam und
jeder Stamm seine Repräsentanten nach Wien sandte, dann trat die Gefahr
nahe, daß eine Majorität der Magyaren und Slaven die Minorität der Deutschen
tyrannisiren werde, und daß in der deutschen Hauptstadt eine neue Art polnischen
Reichstags auferstehen werde, der vor.aller Welt die deutschfeindlichen Ge¬
sinnungen einer großen Majorität der Staatsbürger offenbare. Das wußte die
Opposition des bisherigen Reichstages sehr gut, das fürchtete wahrscheinlich
auch der Staatsmann, welcher in Oestreich vorzugsweise für den Vertreter der
Idee eines Gcsammtstciates galt. So trieb man fort auf den Wellen, aus
einem Jahr in das andere, und machte sich die Sorge um die Zukunft so leicht
als möglich. An höchster Stelle wurde die Volksvertretung der treuen Lande
wahrscheinlich als eine ungemüthliche Erfindung betrachtet, die man mit dem
besten Anstand zu ertragen wußte, so lange sie die Geldmittel, welche die Ne¬
gierung ohne Einstimmung des Volkes nicht mehr beschaffen konnte, nach einigen
Debatten bewilligte. Herr v. Schmerling galt für den Mann, der allein in
Oestreich im Stande sei, mit Volksvertretern fertig zu werden, darin lag das
Geheimniß seiner Unentbehrlichkeit und der Einfluß, den er in einzelnen Fällen
auf die höchsten Entschlüsse ausübte, ein Einfluß, der im Ausland oft über¬
schätzt wurde. Er war kein Mann des persönlichen Vertrauens, und daß er
zuweilen erklären mußte, nur unter unwillkommenen Bedingungen eine Geld¬
bewilligung durchzusetzen, gab ihm am Hofe die Stellung eines Volkstribunen,
die zuletzt unerträglich erschien. Als die Majorität seiner Abgeordneten sich
unfügsam zeigte und ernsthaft auf große Reductionen der Ausgaben drang,
wurden die Uebelstände einer — halben — Verfassung sehr fühlbar, und die
mehrjährige Arbeit der Hofpartei, ein solches Regiment zu beseitigen, hatte
Erfolge.
Aber auch die äußeren Verhältnisse des Staates machten eine Versöhnung
mit den schmollenden Ungarn wünschenswerth. Seit jener schnelle Versuch des
Kaisers, die deutschen Souveräne in Frankfurt zu einer großen Liga zu ver¬
einen, an dem Widerstande der deutschen Mittelstaaten gescheitert war, hatte
sich Graf Rechberg, der jenem Versuche fremd geblieben, Preußen genähert.
Gemeinsamer Unwille gegen die Mittelstaaten erleichterte den beiden Großmäch,
ten, sich zu verständigen, während beide für die europäischen Verwickelungen
nach einem Alliirten aussahen. Beiden machte der Tod des Königs von Dä¬
nemark und die unerwartete Aufregung in Deutschland schnelles gemeinsames
Handeln wünschenswerth. Selbst als Herr v. Manteuffel gegen den Wunsch
des preußischen Ministerpräsidenten die Armee König Wilhelms in den Krieg
gegen Dänemark zog. ließ man sich in Wien das gern gefallen, es war eine
militärische Action, welche nicht zu kostbare Erfolge wahrscheinlich machte, man
erhielt Gelegenheit, seinen deutschen Beruf auszusprechen und sein Heer durch
Norddeutschland zu führen. Man fand den unerwarteten Trotz der Dänen bald
sehr gelegen, und die preußische Allianz war durch einige Monate erMW eor-
äi'als, was nicht verhinderte, daß .man die unbehilflichen Bestrebungen der
Preußen, sich in den Herzogtümern festzusetzen, mit Argwohn ansah und den
anfänglichen Widerwillen gegen die Kandidatur des augustenburgischen Hauses
überwand, seit man in Wien die Aussicht erhielt, auch auf die Stellung des
künstigen Herzogs zu Preußen einen bestimmenden Einfluß zu üben.
Schon war das gute Verhältniß zu Preußen getrübt, das in Wien geneigt
zu Uebergriffen, begehrlich und unzuverlässig erschien, als Napoleon der Dritte
durch den Septembervertrag mit Italien einen plötzlichen Schrecken hervor¬
brachte, der noch einmal zum Anschluß an den Nachbar trieb. Der Kaiser stellte
im Grafen Mensdorf einen Mann seines persönlichen Vertrauens an die
Spitze der auswärtigen Geschäfte, man war durch einige Wochen überzeugt,
daß man an Preußen große Concessionen machen müsse, um den guten Willen
des Alliirten für Italien zu gewinnen. Und wir fürchten, der preußischen Po¬
litik wird einst mit Recht ein großer Vorwurf gemacht werden, daß sie diese
günstige Lage nicht schnell genug zu benutzen verstand. Denn bald war in
Wien die erste bange Sorge überwunden. Zwar die Temperatur nach Frank¬
reich wurde zunächst kälter, es gelang Herrn von Bach nicht, von der östreichischen
Politik den Vorwurf fernzuhalten, daß sie die Verhandlung Victor Emanuels
mit dem Pabst erschwere, aber die Unbestimmtheit des französischen Vertrages
selbst, die konservative Reaction, welche unter den Bonapartisten gegen den Ver¬
trag Boden gewann, und die Ausfassung, daß der Kaiser Napoleon nicht in der
Lage sei die Chancen eines großen Krieges zu wünschen, beseitigten einen Theil
der italienischen Sorge. Man sah mit Freuden, daß die Preußen unterdeß in
den Herzogtümern vieles gethan hatten, sich die Bevölkerung zu Feinden zu
machen, man hörte wieder wohlwollend auf die Versicherungen des Vertrauens,
welche die Mittelstaaten aussprachen, man erkannte, daß die eigene Position
durch Preußen so günstig als möglich gemacht worden sei. Oestreich stand in
ruhiger Defensive. Es war Mitbesitzer, es begünstigte jetzt offen die augusten¬
burgischen Ansprüche, es war „uneigennützig" bereit, für Preußen in dem deut¬
schen Interesse einige nicht unwesentliche Rechte an den Herzogthümern einzu¬
räumen. Diese Rechte aber waren eine große Concession, welche man dem
Alliirten machte, sie durften in keinem Fall soweit gehn, daß die Souveränetät
des einzusetzenden neuen Bundesfürsten wesentlich dadurch beeinträchtigt wurde.
Man stellte sich auf einen Standpunkt, wo man mit den Mittelstaaten zu¬
sammentraf, indem man betonte, daß seine Stellung als Mitglied des deutschen
Bundes durchaus nicht beeinträchtigt werden dürfe.
Diese Politik war für Oestreich vortrefflich, sie hatte die öffentliche Mei¬
nung des halben Deutschlands für sich, sie machte die Majorität von Frankfurt
für den Fall, daß Preußen nicht nachgeben wollte, zu eifrigen Verbündeten.
Nie seit dem Jahre 1848 hat Oestreich eine so glänzende und für die Gegen¬
wart so unangreifbare Position eingenommen, und wir müssen zugeben, selten
hat es mit solcher Haltung das sichere Gefühl einer guten Stellung empfunden.
Denn immer ist dem Kaiserhause das Herrcnamt über Deutschland als der
werthvollste Erwerb erschienen, nicht nur weil alte Erinnerungen und Familien-
ansprüche unablässig stacheln, noch mehr deshalb, weil von dem festen Halt
in Deutschland die Sicherheit des außerdeutschen Besitzes, im letzten Grunde
die Existenz des Staates abhängt. Nur eines war noch übrig, um die gute
Lage in Deutschland zu sicher» — Friede im Innern. Seit die Möglichkeit,
mit Preußen über Schleswig-Holstein zu zerfallen, in Wien nahe trat, reifte
der Plan, sich mit den Ungarn auf Kosten der Februarverfassung zu versöhnen.
Wie weit das neue Ministerium im Stande sein wird, die Kaiserfahrt nach Pesth
für die Länge fruchtbar zu machen, ist ihm selbst wohl noch verborgen. Unläugbar
aber ist für den Augenblick in Europa ein großer Erfolg durchgesetzt. Oestreichs
Machtmittel erscheinen verstärkt, die Sorge um einen geheimen Feind im Rücken
seiner Heere ist beseitigt. Die Ungarn werden in der Stunde kaiserlicher Ge¬
fahr wahrscheinlich nicht wieder begeistert ausrufen: moriamur pro rsM nostro,
aber sie würden gegenwärtig nicht unwillig Geld und Soldaten liefern. Denn
sie sind eine aristokratische Nation, und ihre Großen haben durch Jahre em¬
pfunden, wie unbequem die isolirte Zurückhaltung ist. die Zollschranke zwischen
Ungarn und Oestreich ist gefallen, das ganze Volk hat schätzen gelernt, welchen
Werth die Verbindung mit Oestreich für den Wohlstand Ungarns hat, für
Agitatoren, wie Kossuth und Klapka, ist gegenwärtig keine Aussicht. Der Kaiser¬
staat steht jetzt nach außen stattlich geschlossen, die alten Farben schwarz und
gelb wehen wieder auf jedem Berggipfel der großen Ländermasse, welche, vom
Norden aus fast unangreifbar, wie eine riesige Festung in Deutschland liegt,
auf seiner schwächsten Seite, dem Donauthal, durch Bayern gedeckt.
Die Politik Oestreichs ist wieder in die alten Bahnen zurückgelenkt, die
man einmal, nicht zu rechter Zeit, in dem dramatischen Spiel eines Fürstcn-
congresses aufgegeben hatte. Es ist eine vornehme, geräuschlose Politik, welche
dem Gegner mit ruhigem Lächeln ins Antlitz schaut, alle scharfen Spitzen ver-
meidet, in unwesentlichen Dingen gefällig nachgiebt, in der Hauptsache unge¬
rührt durch Vernunftgründe und heftige Erklärungen immer wieder auf ihre
alten Sätze zurückkommt, welche ohne geistreiches Wesen, ohne große Ideen,
den Eindruck einer Scherr Einfachheit macht, welche auch ihre innere Unruhe
und Unsicherheit trefflich zu verbergen weiß und so lange als möglich vermeidet
eine Krisis herbeizuführe». Sie hat sich allerdings gewöhnt, nur für das
Nächste zu sorgen, und die letzten Grundlagen sür eine vornehme Haltung
fehlen ihr, die Ueberzeugung nämlich, daß sie auf den Wegen, welche sie wan¬
delt, sicher fortgehn wird. Aber sie verliert keinen Augenblick das aristokratische
Gefühl, daß die Welt um ihretwillen da ist, und daß sie, wo sie zunickt, zu¬
gleich eine hohe Gunst erweist, welche Dankbarkeit heischt.
Man hat im Innern jetzt Rath geschafft für das nächste Jahr. Da Geld
ohne Einwilligung der Völker nicht mehr zu beschaffen ist, wird man etwa
im nächsten Jahre daran denken, einen andern Reichsrath zusammenzurufen.
Man wird sich das nicht zu schwer machen und sich vor allem dabei nicht über
Unzufriedene ereifern. Man wird in der Stille dafür sorgen, daß der neue Reichs-
rath nicht unbequemer wird, als der alte war. Kein Zweifel, die nöthigen
Bewilligungen werden wieder gemacht werden, um das neue Deficit zudecken,
und in neuen Formen wird die alte aristokratische Methode, Geschäfte zu be¬
handeln, werden die alten Ansprüche auf das Principal über Deutschland eben¬
so gleichmüthig, ruhig, selbstzufrieden arbeiten wie bisher.
Was man auch von solcher Politik halten mag, in der gegenwärtigen Lage
Deutschlands ist ihr Sieg über die Ansprüche Preußens auf die Herzogtümer nicht
aufzuhalten. Wir sind so weit gekommen, daß preußische Landeskinder, Journalisten
und Abgeordnete, von Oestreich*) in Schutz genommen werden, und daß Oestreich
Gelegenheit erhalten hat, sich in Deutschland reichlich alle die Sympathien zu er¬
werben, welche ein Schützer gegen Gewaltthat sich unter allen Umständen ver¬
dient. Es liegt ganz im Wesen der östreichischen Politik, daß sie den gereizten
Forderungen Preußens, die Landesregierung in Schleswig - Holstein zu refor-
miren, artig nachgiebt, man weiß in Wien sehr gut, daß unsere Ansprüche an
die Herzogthümer dadurch auch nicht die geringste Förderung erhalten, und daß
die polizeilichen Kraftäußerungen gegen Journalisten und holsteinische Beamte
nur Schläge in trübes Wasser sind, welche den schlagenden selbst am übelsten
zurichten. In der Hauptsache ist auf eine Nachgiebigkeit — außer in Neben¬
punkten — gar nicht mehr zu hoffen, und die Zusammenkunft der Souveräne
in Gastein wird sich gerade so resultatlos erweisen, wie sich frühere persönliche
Unterredungen deutscher Fürsten in schwebenden Geschäften erwiesen haben.
Freilich wenn man den officiösen Federn in Berlin glauben dürfte, wäre
noch eine andere kräftige Lösung der holsteinischen Sache denkbar. Gewisse
schlesische Festungen sind mit neuem Kriegsmaterial versehen, und die darüber
plauderten, sind allerdings in der Lage, ihre Nachrichten aufrecht zu erhalten;
die preußische Regierung hat sich durch eine Finanzoperation mit der Köln-
Mindener Eisenbahn große Geldsummen, vielleicht dreißig, vielleicht vierzig Mil¬
lionen beschafft, kein Zweifel, das hat Großes zu bedeuten. Leider ist dies
heimliche Waffengerciusch hinter der Scene von der Art, daß es durch einen
einzigen kleinen Artikel in einer Zeitung des Kaiser Napoleons zum Schweigen
gebracht wird. Wenn in Preußen selbst dergleichen für wichtig gehalten wird,
so beurtheilt man dort, wie uns scheint, Lage, Stimmungen und persönliche
Einwirkungen der regierenden Kreise durchaus anders, als sie verdienen. Ein
Krieg auf Tod und Leben, der die ganze Volkskraft Preußens entfesseln muß,
ist kein Krieg, den die Regierenden, auch wenn sie davon sprechen sollten, je¬
mals im Ernst wünschen dürfen. Denen aber, welche im patriotischen Zorn
immer noch hoffen, was sie wünschen, soll hier am Schluß durch eine Frage
geantwortet werden, die man nicht für ungehörig und nicht für frivol halten
möge: Die Pickelhauben der preußischen Infanterie haben sich als unbrauch¬
bar für jede Campagne bewiesen, wie kommt es wohl, daß die Absicht aufge¬
geben wurde, dies Monturstück mit einem kriegsmäßigeren zu vertauschen?
Wer diese Frage richtig beantwortet, wird den Gedanken an einen deutschen
Krieg um Schleswig-Holstein ausstreichen. — Es sind freilich nicht die Pickel¬
hauben allein, welche einen Krieg mit Oestreich und Zubehör unthunlich oder
officiös ausgedrückt unelegant machen.
Die Frage aber steht für uns Preußen jetzt so: Krieg oder Olmütz?--
Dieser zweite Band, dem im nächsten Jahre der dritte und letzte folgen soll,
führt die Geschichte der nordamerikanischen Union von der ersten Präsidentschaft
Jeffersons bis zum Ende der zweiten Präsidentschaft Jacksons fort und behandelt
hierbei unter anderem die für Beurtheilung des gegenwärtigen Amerika besonders
wichtigen Fragen der Sklaverei in den Südstaaten und der Ereignisse, aus denen
die Monrocdoctrin hervorging, in ausführlicher Weise. Die Arbeit, mehr Geschichte
der Parteien und der Verfassung Amerikas als Darstellung der großen Actionen,
von denen die kriegerischen nur kurz angeführt sind, hat insofern Verdienst und
Werth, als sie aus Quellen schöpft, die in Europa bis jetzt wenig bekannt oder
doch nicht benutzt worden sind, und als sie infolge dessen über manche Persönlich¬
keiten und Vorgänge neues Licht verbreitet. Indeß wird man sie mit Vorsicht lesen
müssen, da der Verfasser seinen Gegenstand in der Weise der Schlosserschen Schule
behandelt und häusig die Dinge und Menschen nicht wie sie waren, sondern wie sie
seiner Vorliebe für ein bestimmtes politisches System — er ist ein feuriger Verehrer
der demokratischen Republik — und seinem Haß gegen gewisse Parteien erscheinen,
darstellt. Auch gegen die Form läßt sich mancherlei einwenden; namentlich das
häufige, bisweilen zur Redseligkeit ausartende Abspringen von der Erzählung zu
Reflexionen über Dinge, die nicht zu dem betreffenden Gegenstand gehören, das stete
Moralisiren und die geringe Befähigung des Verfassers, uns Personen und Epochen
in zusammengedrängten Charakteristiken plastisch zu vergegenwärtigen, sind Mängel,
die nicht verschwiegen werden dürfen. Mehr Objectivität, mehr Ruhe, mehr künst¬
lerischer Blick in der Gruppirung des Stoffs hätten dieser Partcischrift — denn als
eine solche müssen wir das Buch, obwohl wir in wesentlichen Dingen mit ihm über¬
einstimmen, bezeichnen — sicher einen größeren Wirkungskreis geschaffen, als wir
ihr trotz ihrer Vorzüge voraussagen zu müssen glauben.
Diese Karte, welche die Staaten Delaware, Maryland. Kentucky. Ost- und West-
virginien, Tennessee, Nordcarolina, Südcarolina, Mississippi, Alabama, Georgia, den
District von Columbia nebst Theilen von Missouri, Illinois, Jndiana, Ohio, Penn¬
sylvania, Neuycrscy, Arkansas, Louisiana und Florida, also das Theater des letzten
großen Kriegs umsaßt, ist eine entschiedene Bereicherung unsres geographischen Wissens
von den Vereinigten Staaten. In Washington, wo Herr Lindenkohl Vorstand des
topographischen Bureaus ist, auf Grundlagen der Arbeiten, der U. S. Coast Survey,
der U. S. Land Survey und der Post- und State-Mays sowie mit Benutzung aller
bis December 1864 eingegangenen militärischen Aufnahmen der verschiedenen Armeen
der Union zusammengestellt, unterscheidet sie sich wesentlich von den bisher erschie¬
nenen Karten ähnlicher Art, die sämmtlich auf alten, zum Theil auf solchen Unter¬
suchungen beruhten, welche vor zwanzig und mehr Jahren angestellt worden, und
die daher sehr unvollständig und vielfach ungenau waren. Mit besonderer Genauig¬
keit ist die Küste mit ihren Kaps, ihren Buchten und Häfen angegeben, wobei die
Tiefen von 3, 10, 100 Faden durch Linien angedeutet siud. Ebenso sorgfältig ist
die Behandlung der Gebirgszüge mit ihren Thälern und Pässen, sowie die des Fluß-,
Straßen- und Eisenbahnnetzes. Ferner ist die Lage vieler größerer Städte nach den
1860 vorgenommenen Determinationen corrigirt, was namentlich von Montgomery
und Scina in Alabama, Atlanta, August« und Macon in Georgia und Ralcigh
in Nordcarolina gilt. Endlich bringt die Karte die genaue Abgrenzung des während
des Kriegs geschaffnen neuen Staates Westvirginicn. Die Bezeichnung der Größen-
Verhältnisse der Städte ist nach dem Census von 1860 vorgenommen worden, so
daß auch hierin die Karte das Neueste rcprüscntirt.